Die Psychologie des Totalitarismus 9783958905436

Der Bestseller aus Belgien: Totalitarismus überwinden und persönliche Freiheit finden Totalitarismus ist kein Zufall und

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Die Psychologie des Totalitarismus
 9783958905436

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Titel
INHALT
EINLEITUNG
TEIL I WISSENSCHAFT UND IHRE PSYCHOLOGISCHEN AUSWIRKUNGEN
Kapitel 1. Wissenschaft und Ideologie
Kapitel 2. Wissenschaft und ihre praktischen Anwendungen
Kapitel 3. Die künstliche Gesellschaft
Kapitel 4. Das (un)messbare Universum
Kapitel 5. Die Sehnsucht nach einem Meister
TEIL II MASSENBILDUNG UND TOTALITARISMUS
Kapitel 6. Die Entstehung der Masse
Kapitel 7. Die Lenker der Masse
Kapitel 8. Verschwörung und Ideologie
TEIL III JENSEITS DES MECHANISTISCHEN WELTBILDS
Kapitel 9. Das tote versus das lebendige Universum
Kapitel 10. Materie und Geist
Kapitel 11. Wissenschaft und Wahrheit
DANKSAGUNG
QUELLEN
IMPRESSUM

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DIE PSYCHOLOGIE DES TOTALITARISMUS

MATTIAS DESMET

Aus dem Niederländischen von Arne Braun

INHALT

EINLEITUNG

TEIL I WISSENSCHAFT UND IHRE PSYCHOLOGISCHEN AUSWIRKUNGEN

Kapitel 1. Wissenschaft und Ideologie

Kapitel 2. Wissenschaft und ihre praktischen Anwendungen

Kapitel 3. Die künstliche Gesellschaft

Kapitel 4. Das (un)messbare Universum

Kapitel 5. Die Sehnsucht nach einem Meister

TEIL II MASSENBILDUNG UND TOTALITARISMUS

Kapitel 6. Die Entstehung der Masse

Kapitel 7. Die Lenker der Masse

Kapitel 8. Verschwörung und Ideologie

TEIL III JENSEITS DES MECHANISTISCHEN WELTBILDS

Kapitel 9. Das tote versus das lebendige Universum

Kapitel 10. Materie und Geist

Kapitel 11. Wissenschaft und Wahrheit

DANKSAGUNG

QUELLEN

IMPRESSUM

EINLEITUNG

Ein Buch über Totalitarismus zu schreiben – dieser Gedanke kam mir zum ersten Mal am 4. November 2017. Oder besser gesagt: An diesem Tag tauchte er zum ersten Mal in meinem wissenschaftlichen Tagebuch auf – einem Heft, in das ich alles hineinkritzele, was ich möglicherweise irgendwann einmal für einen Artikel oder ein Buch gebrauchen könnte.

Zu dieser Zeit hielt ich mich im Chalet eines befreundeten Paares in den Ardennen auf. Am frühen Morgen, wenn das aufkommende Licht den Wäldern rings um das Chalet ihre Farben und Klänge zurückgibt, schlage ich dort gern mein Tagebuch auf, um die Gedanken aufzuschreiben, die sich nachts gesponnen haben. Vielleicht war es die Ruhe der mich umgebenden Natur, die mich empfänglicher dafür machte – an jenem Morgen im November nahm ich real und akut einen neuen Totalitarismus wahr, der sich langsam aus seinem Samen löste und das Gewebe der Gesellschaft erstarren ließ.

Man konnte es damals eigentlich schon nicht mehr leugnen: Der Einfluss des Staates auf das Privatleben des Individuums nahm immer mehr zu. Das Recht auf Privacy bröckelte (insbesondere seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001), alternative Stimmen wurden zunehmend zensiert und sanktioniert (vor allem im Kontext der Klimadebatte), die Zahl übergriffiger Aktionen der Sicherheitsbehörden stieg exponentiell usw. Die Initiative ging dabei nicht nur vom Staat aus. Mit dem Aufkommen der Woke-Kultur und der Klimabewegung erhob sich der Ruf nach einem neuen, hyperstrengen Staat auch aus der Bevölkerung selbst. Terroristen, Klimawandel, heterosexuelle Männer und später auch Viren waren zu gefährlich, um ihnen mit antiquierten Mitteln beizukommen. Das technologische »Tracking und Tracing« der Bevölkerung wurde zunehmend für vertretbar und sogar notwendig erachtet. Die von Hannah Arendt beschworene dystopische Zukunftsvision, dass nach dem Fall des Nationalsozialismus und des Stalinismus eine neue Form des Totalitarismus entstehen würde – ein Totalitarismus, der nicht mehr von markanten

»Mobführern« wie Josef Stalin oder Adolf Hitler bestimmt werden würde, sondern von trockenen Bürokraten und Technokraten –, zeichnete sich bereits realistisch am gesellschaftlichen Horizont ab.

An dem bewussten Morgen skizzierte ich den Grundriss eines Buchs, in dem ich die psychologischen Wurzeln des Totalitarismus untersuchen wollte. Ich stellte mir zunächst die Frage: Warum entstand diese radikal neue Staatsform zum ersten Mal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Und: Worin unterscheidet sie sich von den klassischen Diktaturen der Vergangenheit? Der Kern dieses Unterschieds liegt auf psychologischer Ebene. Diktaturen beruhen auf einem primitiven psychologischen Mechanismus, nämlich auf der Furcht, die das aggressive Potenzial des diktatorischen Regimes der Bevölkerung einflößt. Der totalitäre Staat dagegen basiert auf dem beeindruckenden psychologischen Prozess der Massenbildung. Nur eine gründliche Analyse dieses Prozesses erlaubt es, die geradezu verblüffenden Merkmale einer totalitarisierten Bevölkerung zu verstehen, wie die radikale Bereitschaft der Individuen, ihre persönlichen Interessen aus Solidarität mit dem Kollektiv (d. h. mit der Masse) zu opfern, die Intoleranz gegenüber dissidenten Stimmen und die Empfänglichkeit für absurde (pseudowissenschaftliche) Indoktrination und Propaganda.

Massenbildung ist im Grunde eine Form von Gruppenhypnose, die Individuen jeglicher Fähigkeit zu kritischer Distanz und ethischem Bewusstsein beraubt. Dieser Prozess ist schleichend; eine Bevölkerung fällt ihm arglos zum Opfer. Um es mit Yuval Noah Harari zu sagen: Die meisten Menschen würden es nicht bemerken, wenn sich ein totalitärer Staat installieren würde. Wir assoziieren Totalitarismus vor allem mit Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern, aber das ist nur der letzte, erschütternde Schritt in einem langen Prozess.

In den Monaten und Jahren, die jenen ersten Notizen folgten, tauchten mehr und mehr Hinweise auf Totalitarismus in meinem Tagebuch auf. Sie spannen sich zu immer längeren Fäden, die sich organisch mit den anderen Themen meines wissenschaftlichen Interesses verbanden. Das psychologische Problem des

Totalitarismus berührte zum Beispiel die tiefe Krise, die 2005 die Wissenschaften ereilte, ein Thema, das ich in meiner Dissertation ausführlich untersucht habe. Es zeigte sich, dass Nachlässigkeiten, Fehler, forcierte Schlussfolgerungen und sogar regelrechter Betrug in wissenschaftlichen Untersuchungen so weit verbreitet waren, dass ein erschütternd hoher Prozentsatz der Forschungsartikel – in manchen Wissenschaftsgebieten bis zu 85 Prozent – zu völlig falschen Ergebnissen kommt. Und was aus psychologischer Sicht am interessantesten ist: Die meisten Wissenschaftler sind dabei der Überzeugung, mehr oder weniger korrekt zu handeln. Aus irgendeinem Grund begreifen sie nicht, dass ihre Forschungsmethode sie nicht näher an die »Fakten« oder die »Realität« bringt, sondern vielmehr eine fiktive Wirklichkeit kreiert.

Das ist natürlich ein ernstes Problem, zumal für eine Gesellschaft, die blindes Vertrauen in die Wissenschaft hat. Und dieses Problem hängt direkt mit dem Phänomen des Totalitarismus zusammen. Genau das zeigt uns die deutschjüdische Philosophin Hannah Arendt: Die Grundströmung des Totalitarismus ist der blinde Glaube an eine Art statistisch-zahlenmäßig untermauerte »wissenschaftliche Fiktion«, die eine »bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen«¹ aufweist: »Das ideale Subjekt der totalitären Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist, sondern Menschen, für die die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion […] und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch […] nicht mehr existiert.«²

Die mangelhafte Qualität wissenschaftlicher Untersuchungen deckt ein fundamentaleres Problem auf: Mit unserem wissenschaftlichen Weltbild stimmt etwas nicht. Und die Folgen davon reichen weit über die akademische Forschung hinaus. Sie sind auch der Ursprung eines tiefen Unbehagens, das in den letzten Jahrzehnten in der Gesellschaft immer spürbarer wurde. Das Zukunftsbild ist zunehmend von Pessimismus und Perspektivlosigkeit gezeichnet. Wenn unsere Gesellschaft nicht durch die steigenden Meere hinweggespült wird, dann durch den Flüchtlingsstrom. Die Große Erzählung dieser Gesellschaft – die Erzählung der Aufklärung – führt, um es vorsichtig zu formulieren, nicht mehr zu dem Optimismus und Positivismus von einst. Der psychologische Zustand der Gesellschaft zeugt davon. Ein großer Teil der Bevölkerung befindet sich in einer nahezu kompletten sozialen Isolation; die Zahl der Krankschreibungen wegen

psychischer Leiden und der Gebrauch von Psychopharmaka steigen exponentiell; die Diagnose Burn-out nimmt epidemische Formen an und gefährdet das Funktionieren von Betrieben und Behörden.

2019 wurde dieses Dilemma auch in meinem eigenen beruflichen Umfeld deutlich spürbar. Um mich herum fielen so viele Kollegen wegen psychischer Probleme aus, dass der Fortgang der täglichen Arbeit ernsthaft beeinträchtigt war. Beispielsweise kostete es mich in jenem Jahr fast neun Monate, einen Vertrag unterzeichnet zu bekommen, den ich benötigte, um ein Forschungsprojekt starten zu können. In den universitären Dienststellen, die den Vertrag prüfen und bewilligen mussten, war immer irgendjemand wegen psychischer Probleme krankgeschrieben. Alle gesellschaftlichen Stressindikatoren stiegen in dieser Periode exponentiell an. Wer mit Systemtheorie vertraut ist, weiß sehr gut, was das bedeutet: Das System steuert auf einen Kipppunkt zu; es beginnt, sich zu reorganisieren und nach einem neuen Gleichgewicht zu suchen.

Ende Dezember 2019 – in demselben Ardenner Chalet, von dem schon die Rede war – wagte ich vor der anwesenden Runde von Freunden eine kleine Prophezeiung: Wir werden eines nicht fernen Tages in einer anderen Gesellschaft aufwachen. Diese Eingebung verleitete mich sogar dazu, aktiv zu werden. Einige Tage später ging ich zur Bank, um den Kredit für mein Haus abzubezahlen. Ob das nun vernünftig war oder nicht, ist eine Frage der Perspektive. Aus rein wirtschaftlich-steuerlicher Sicht vielleicht nicht, aber darum ging es mir gar nicht so sehr. Ich wollte vor allem meine Souveränität zurück, wollte nicht mehr einem Finanzsystem verpflichtet und an ihm mitschuldig sein, das meiner Auffassung nach mitverantwortlich war für die gesellschaftliche Sackgasse, in die wir zunehmend gerieten. Der Bankdirektor hörte sich meine Geschichte an – er stimmte mir sogar zu. Doch er wollte unbedingt wissen, woher ich die Entschlossenheit nahm, auch zur Tat überzugehen. Selbst ein anderthalbstündiges Gespräch genügte nicht, um die Leere dieser Frage zu füllen. Ich ließ ihn endlich lange nach Schließzeit nachdenklich und grübelnd in seiner Filiale zurück, die kurz darauf dichtgemacht wurde.

Ein paar Monate später – im Februar 2020 – begann das Weltdorf in seinen Grundfesten zu beben. Es kündigte sich eine Krise an, deren Folgen unabsehbar waren. Innerhalb weniger Wochen gerieten alle in den Griff eines Narrativs von einem Virus – einer Erzählung, die zweifellos auf Fakten beruhte. Aber auf welchen? Über Bilder aus China erhaschten wir zum ersten Mal einen Hauch dieser »Fakten«. Ein Virus veranlasste die Regierung dort zu den drastischsten Maßnahmen. Ganze Städte wurden unter Quarantäne gestellt, in Windeseile wurden neue Krankenhäuser gebaut, Gestalten in weißen Anzügen desinfizierten den öffentlichen Raum usw. Hier und da wurden Stimmen laut, dass der totalitäre chinesische Staat überreagiere und das neue Virus nicht schlimmer sei als eine Grippe. Und auch das Gegenteil wurde suggeriert: dass es viel schlimmer sein müsse, als man durchblicken ließ, kein einziger Staat würde doch sonst solch weitreichende Maßnahmen ergreifen. Damals spielte sich alles noch weit entfernt von unserer Haustür ab, und wir gingen davon aus, dass das Narrativ uns die genauen Fakten vorenthalten würde.

Bis das Virus Europa erreichte. Nun fingen wir selbst an, die Zahl der Infizierten und Toten zu registrieren. Es wurden Bilder von überfüllten Notaufnahmen in Italien gezeigt, von Militärkolonnen, die Leichen abtransportierten, von Räumen voller Särge. Die renommierten Wissenschaftler des Imperial College London sagten mit Entschiedenheit voraus, dass es ohne die drastischsten Maßnahmen weltweit Dutzende Millionen von Toten geben würde. Die in Bergamo Tag und Nacht heulenden Sirenen erstickten jede Stimme, die in der Öffentlichkeit Zweifel an den Fakten äußerte. Von diesem Moment an schienen Narrativ und Fakten zusammenzufallen, und Sicherheit trat an die Stelle der Unsicherheit.

Das Unvorstellbare wurde Wirklichkeit: Innerhalb kürzester Zeit entstand eine weltweite gesellschaftliche Basis dafür, dem chinesischen Beispiel zu folgen und einen großen Teil der Weltbevölkerung faktisch unter Hausarrest zu stellen, etwas, wofür der Begriff »Lockdown« erfunden wurde. Eine unwirkliche Stille senkte sich über die Welt – unheimlich und befreiend zugleich. Das Firmament ohne Flugzeuge, die Verkehrsadern ohne rasendes Blut; der Staub der Jagd nach eitlem Verlangen rieselte herab, und in Indien wurde die Luft so sauber, dass an

manchen Orten zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder der Himalaja am Horizont sichtbar wurde.³

Und dabei blieb es nicht. Es fand auch ein regelrechter Machtwechsel statt. Virologen-Experten wurden wie die orwellschen Schweine – die schlausten Tiere des Bauernhofs – aufgefordert, die unzuverlässigen Menschen-Politiker zu ersetzen. Sie sollten die Farm der Tiere in Zeiten der Pest mit korrekten – wissenschaftlichen – Informationen leiten. Doch schon bald zeigte sich, dass auch sie ganz normale, menschliche Schwächen aufwiesen. Sie machten in ihren Statistiken und Grafiken sogar Fehler, die »normale Menschen« nicht so schnell machen würden. Es ging so weit, dass sie irgendwann alle Toten als Coronatote zählten, auch diejenigen, die etwa an einem Herzinfarkt gestorben waren. Und sie hielten nicht immer Wort. Sie versprachen, dass sich die Tore zum Reich der Freiheit nach zwei Impfdosen öffnen würden, doch als es so weit war, tat sich rein gar nichts, und es hieß auf einmal, dass eine dritte Dosis notwendig sei. Und genau wie die Schweine bei Orwell änderten sie mitunter nachts heimlich die Regeln. Zuerst sollten die Tiere die Maßnahmen befolgen, weil die Zahl der Erkrankten die Kapazität des Gesundheitswesens nicht überschreiten durfte (flatten the curve). Aber eines Tages wachten sie auf, und es stand in weißen Buchstaben an der Wand, dass die Maßnahmen verlängert würden, weil das Virus ausgerottet werden müsse (crush the curve). Die Regeln änderten sich im Laufe der Zeit so oft, dass nur die Schweine sie noch zu kennen schienen. Und selbst das war nicht sicher.

Da wurden manche misstrauisch. Wie kann es sein, dass diese Experten Fehler machen, die nicht einmal Laien machen würden? Es sind doch Wissenschaftler, also die Art von Menschen, die uns zum Mond gebracht und uns superschnelles Internet verschafft haben? So dumm können sie doch nicht sein? Worauf wollen die Schweine hinaus? Ihre Politik geht beständig in dieselbe Richtung: Mit jedem neuen Schritt verlieren wir mehr von unseren Freiheiten. Darauf wollen die Schweine hinaus: uns in einem groß angelegten technokratischmedizinischen Experiment auf einen QR-Code zu reduzieren.

Und so waren sich die meisten Menschen am Ende sicher. Sehr sicher. Aber in Bezug auf die unterschiedlichsten Dinge. Manche waren überzeugt, dass wir es mit einem Killervirus zu tun hätten, andere, dass es nichts als eine saisonale Grippe sei, wieder andere, dass das Virus gar nicht existiere und eine weltweite Verschwörung im Gange sei. Und dann gab es auch noch ein paar, die weiterhin eine gewisse Unsicherheit zuließen und sich fragten: Wie können wir adäquat begreifen, was sich in unserer Gesellschaft abspielt?

Die Coronakrise kam keineswegs aus heiterem Himmel. Sie passt in eine Reihe immer krampfhafter und selbstzerstörerischer werdender gesellschaftlicher Reaktionen auf Angstobjekte – auf den Terroristen, die Klimaerwärmung, das Coronavirus. Jedes Mal, wenn ein neues Angstobjekt in der Gesellschaft aufkommt, gibt es in unserem heutigen Denken nur eine Antwort und eine Abwehrstrategie: mehr Kontrolle. Dass das menschliche Wesen nur ein gewisses Maß an Kontrolle verträgt, wird dabei übersehen. Kontrollzwang führt zu Angst und Angst zu Kontrollzwang. So gerät die Gesellschaft in einen Teufelskreis, der unvermeidlich zu Totalitarismus führt. Das heißt zu extremer staatlicher Kontrolle und letztlich zu radikaler Destruktion der psychischen und physischen Integrität des menschlichen Wesens.

Wir müssen die heutige Angst und das psychische Unbehagen als ein Problem an sich betrachten, ein Problem, das sich nicht auf Angst vor einem Virus oder irgendeinem anderen bedrohlichen »Objekt« reduzieren lässt. Die Ursache unserer Angst liegt auf einer völlig anderen Ebene, der Ebene (des Scheiterns) der Großen Erzählung unserer Gesellschaft. Die Große Erzählung unserer Gesellschaft ist die Erzählung der mechanistischen Wissenschaft, in der der Mensch auf einen biologischen »Organismus« reduziert wird. Eine Erzählung, die zudem die psychologische, symbolische und ethische Dimension des menschlichen Wesens total verkennt und dadurch menschliche Beziehungen unmöglich macht. Etwas in dieser Erzählung führt dazu, dass der Mensch von seinem Mitmenschen und von der Natur isoliert wird, etwas darin führt dazu, dass der Mensch nicht mehr mit der Welt um ihn herum resoniert; etwas darin verwandelt das menschliche Wesen in ein atomisiertes Subjekt. In diesem erkannte Hannah Arendt den elementaren Bestandteil des totalitären Staates.

Totalitarismus ist kein historischer Zufall. Im Endeffekt ist er die logische Folge des mechanistischen Denkens und des damit verbundenen wahnhaften Glaubens an die Allmacht des menschlichen Verstandes. Insofern ist er auch das Symptom par excellence der Aufklärungstradition. Verschiedene Autoren haben diese These bereits vertreten, aber eine psychologische Analyse fehlt bis heute.

Das vorliegende Buch will diese Lücke füllen. Wir werden das Symptom des Totalitarismus analysieren und es in die breitere Logik des gesellschaftlichen Prozesses einordnen, zu dem es gehört. In Teil I (Kapitel 1 bis 5) wird untersucht, wie das vorherrschende Menschen- und Weltbild – die mechanistisch-materialistische Ideologie – genau jenen gesellschaftlichpsychologischen Zustand erschafft, in dem Massenbildung und Totalitarismus gedeihen. Teil II (Kapitel 6 bis 8) beschreibt den eigentlichen Prozess der Massenbildung und dessen Zusammenhang mit dem Totalitarismus. Und in Teil III (Kapitel 9 bis 11) wird der Frage nachgegangen, wie wir das heutige Menschen- und Weltbild überwinden können, sodass Totalitarismus als symptomatische Lösung überflüssig wird. Teil I und Teil III verweisen im Grunde nur am Rande auf den Totalitarismus. Der Fokus dieses Buchs liegt schließlich nicht so sehr auf dem, was man für gewöhnlich mit Totalitarismus assoziiert – Konzentrationslager, Indoktrination, Propaganda usw. –, sondern auf dem breiteren kulturhistorischen Prozess, dem er entspringt. So entdecken wir, dass Totalitarismus aus Entwicklungen und Tendenzen hervorgeht, die sich täglich um uns herum vollziehen.

Auf diese Weise tastet dieses Buch auch die Möglichkeiten ab, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, in der unsere Kultur momentan steckt. Die immer heftiger werdenden gesellschaftlichen Krisen vom Beginn des 21. Jahrhunderts sind Ausdruck eines tiefer liegenden psychologischen und ideologischen Umbruchs – einer Verschiebung der tektonischen Platten, auf denen ein Weltbild beruht. Wir erleben den Moment, in dem eine alte Ideologie sich noch ein letztes Mal mit aller Macht aufbäumt, bevor sie definitiv untergeht. Jede Behandlung welchen gesellschaftlichen Problems auch immer, die von der alten Ideologie ausgeht, wird das Problem letztendlich nur verschlimmern. Man kann ein

Problem nicht mit derselben Art zu denken lösen, die es verursacht hat. Die Lösung für unsere Angst und Unsicherheit liegt nicht in immer mehr (technologischer) Kontrolle. Die eigentliche Aufgabe, vor der wir als Individuen und als Gesellschaft stehen, ist, ein neues Menschen- und Weltbild zu konstruieren, eine neue Grundlage für unsere Identität zu finden, neue Prinzipien für das Zusammenleben mit anderen zu formulieren und einer uralten menschlichen Fähigkeit zu neuer Wertschätzung zu verhelfen – dem Sprechen der Wahrheit.

TEIL I

WISSENSCHAFT UND IHRE PSYCHOLOGISCHEN AUSWIRKUNGEN

KAPITEL 1

WISSENSCHAFT UND IDEOLOGIE

Ein Sommertag im Jahre 1582: Ein junger Student namens Galileo Galilei sitzt im Dom zu Pisa – vor ihm steht ein Priester, der eine Predigt hält. Über dem Kopf des Priesters hängt ein Leuchter, der mit einer feinen Kette am Gewölbe des Doms befestigt ist. Jeder Hauch der warmen Sommerluft, die durch die offen stehenden Türen hereinweht, versetzt den Leuchter in Bewegung. Mal schwingt er weit weg von seinem Ruhepunkt über dem Altar, mal weniger weit. Die Stimme des Priesters tritt in den Hintergrund. Galileos Augen folgen dem Leuchter – hin und her, hin und her … Er fühlt seinen Puls und zählt die Herzschläge. Ob der Leuchter nun weit schwingt oder weniger weit, die Pendelbewegung dauert immer exakt gleich lang.

Was sich dort im Dom zu Pisa abspielte, bekam mythische Dimensionen. Es symbolisiert den Kern des kulturellen und gesellschaftlichen Umbruchs, der sich in den darauffolgenden Jahrhunderten vollziehen sollte. Der religiöse Diskurs mit seinem System von aus sakralen Texten abgeleiteten Dogmen verlor an Autorität. Anstatt Erkenntnis und Wissen als etwas außerhalb seiner selbst zu betrachten, das dem Menschen von Gott offenbart wird, wuchs das Vertrauen, dass der Mensch selbst zur Erkenntnis kommen konnte. Er brauchte nur der Methode der Wissenschaften zu folgen, das heißt, die Fakten mit eigenen Augen zu registrieren und mittels seines Verstands logische Zusammenhänge zwischen ihnen herzustellen.

Der religiöse Diskurs hatte den Blick des Menschen Tausende von Jahren nach innen gerichtet, orientiert an der Auffassung vom Menschen als Wesen mit Lüsten und Trieben, das lügt und betrügt und sich in äußerem Schein verliert, das sich auf den Tod vorbereiten muss, der ihn dereinst holen wird. Wenn der

Mensch an der Welt litt, an Gottes Schöpfung, dann lag es an seiner eigenen moralischen und ethischen Unzulänglichkeit, daran, dass er in Sünde lebte. Nicht die Welt musste infrage gestellt werden, sondern der Mensch.

Mit dem Aufkommen der Wissenschaften änderte sich das: Der Mensch glaubte nun, dass er mit der Kraft seines Verstandes die Welt ändern und selbst bleiben könne, wie er war. Er raffte all seinen Mut zusammen und nahm sein Schicksal in die Hand: Er würde sich seines eigenen Denkvermögens bedienen, um die Welt zu verstehen und einer neuen, rationalen Gesellschaft Gestalt zu geben. Allzu lange hatte man ihm den Mund verboten im Namen von Göttern, die niemand je gesehen hatte; allzu lange war die Gesellschaft gebückt gegangen unter Dogmen, die jeglicher rationalen Grundlage entbehrten. Die Zeit war gekommen, die Dunkelheit mit dem Licht der Vernunft zu vertreiben und mutig zu sein, »sich [s]eines eigenen Verstandes zu bedienen«, wie es der deutsche Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant 1784 formulierte (siehe S. 120).

Galilei wagte es – zu denken. Nach der Messe im Dom zu Pisa eilte er in seine Studentenkammer und fing an, mit Pendeln zu experimentieren. Er variierte das Gewicht des pendelnden Objekts, die Kraft, mit der es in Bewegung versetzt wurde, und die Länge der Kette, an der das Objekt aufgehängt wurde. Nur wenige Monate später konnte er die Gesetzmäßigkeit formulieren, die den Bewegungen von Pendeln zugrunde liegt: Lediglich die Länge der Kette (der Pendelarm) hat Einfluss auf die Dauer der Pendelbewegung. Und auch andere brillante Geister, wie Kopernikus und Newton, zogen sich den Schleier der religiösen Dogmen von den Augen und registrierten unvoreingenommen die Welt um sich herum. Sie zeigten, dass sich bestimmte Aspekte der Wirklichkeit erstaunlich treffend und präzise in mathematische und mechanistische Formeln fassen ließen. Es schien offensichtlich: Das Buch des Universums ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.

Doch nicht nur große intellektuelle Leistungen wurden in dieser Zeit vollbracht. Die betreffenden Denker nahmen auch eine einzigartige menschlich-ethische Position gegenüber der Welt und den Dingen ein. Sie hatten den Mut, die

Vorurteile und Dogmen ihrer Zeit – den herrschenden Diskurs – über Bord zu werfen. Sie gestanden ihre Unwissenheit ein und hörten zu, was die Dinge selbst zu erzählen hatten. Und aus diesem ehrlichen Nicht-Wissen wurde ihnen ein neues Wissen zuteil, ein Wissen, für das sie alles gegeben hätten. Sie waren bereit, es mit ihrer Freiheit zu bezahlen, manchmal sogar mit ihrem Leben.

Diese frische Wissenschaft – jenes Wissen im Geburtszustand – wies alle Merkmale dessen auf, was der französische Philosoph Michel Foucault Wahrsprechen nennt.⁴ Wahrsprechen ist eine Form des Sprechens, das einen (gesellschaftlichen) Konsens durchbricht. Wer die Wahrheit sagt, bricht die erstarrte Erzählung auf, in der die Gruppe Zuflucht, Behaglichkeit und Sicherheit sucht. Das macht das Sprechen der Wahrheit auch gefährlich. Es jagt der Gruppe Angst ein, sorgt für Irritation und Aggression.

Wahrsprechen ist gefährlich, aber auch notwendig. Wie fruchtbar ein gesellschaftlicher Konsens in einem bestimmten Moment auch sein mag, wenn er nicht rechtzeitig durchbrochen wird, entartet er zum toten Buchstaben, zu erstickendem Schein und Heuchelei. Die Wahrheit tritt dann als aufrichtige Stimme hervor, die durch den dumpfen Refrain einer etablierten Erzählung dringt und etwas Altes und Zeitloses auf neue Weise erklingen lässt. »Le vrai est toujours neuf« – die Wahrheit ist immer neu (Max Jacob).⁵

Wissenschaft ist dem Wesen nach Offenheit des Geistes. Die ursprüngliche wissenschaftliche Praxis, die Erfahrung, die die Grundlage der Aufklärungstradition bildete, setzte alle Vorurteile in Bezug auf die zu untersuchenden Phänomene erst einmal außer Kraft. Sie war offen für die größtmögliche Diversität von Ideen und Gedanken, Annahmen und Hypothesen. Sie kultivierte den Zweifel und erhob Unsicherheit zu einer Tugend. Sie ließ die Fakten selbst sprechen und entscheiden, mit welcher Gedankenform – mit welcher Theorie – sie sich am liebsten vereinigen würden. So wurden die Fakten im Wort wiedergeboren, als frische, zarte Wahrheiten.

Und nicht nur die Fakten erhielten das Recht, zu sprechen. »Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen«, soll Voltaire laut seiner Biografin Evelyn Beatrice Hall geäußert haben. Der wissenschaftliche Diskurs befreite auch den Menschen aus seiner auferlegten Unmündigkeit. Er durchbrach ein System religiöser Dogmen, das im öffentlichen Leben weitgehend zu Zwang und Unterdrückung, zu erstickendem Schein und Heuchelei, zu Betrug und Lügen verkommen war.

Diese Offenheit des Geistes trug reiche Früchte. Die wissenschaftliche Methode wurde genutzt, um die Bewegung der Himmelskörper zu verstehen und vorherzusagen, die Schwingungen von Pendeln zu beschreiben und die Fallbeschleunigung zu berechnen, aber auch um das Verhalten von Tieren zu studieren, die Gesetzmäßigkeiten des Funktionierens der Psyche zu ergründen, die Struktur der Sprache zu untersuchen und Kulturen miteinander zu vergleichen. An jedes Gebiet und jedes Forschungsobjekt wurde sie flexibel angepasst und überall förderte sie das Sublime zutage. Formen und Farben zeichneten sich in ihrem Licht schärfer ab denn je; Töne klangen in ihrer Stille klarer, als Ohren jemals gehört hatten.

Die Offenheit des Geistes, dieses treue Folgen des Verstandes, um welchen Preis auch immer, führte schließlich über eine Arbeit von mehreren Jahrhunderten zu den sublimsten Einsichten. Überraschenden Einsichten auch. Die großen Physiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewiesen auf die konkreteste Weise, dass der Kern der Materie nicht unabhängig vom beobachtenden Subjekt betrachtet werden kann, dass die Beobachtung eines materiellen Objekts dieses Objekt selbst verändert (»Looking at something, changes it«, Heisenberg). Und man gab die Illusion auf, dass der Mensch jemals Gewissheit erlangen könne. So zeigte Werner Heisenberg mit seiner berühmten Unschärferelation , dass selbst rein materielle »Fakten«, wie die Lokalisierung von Teilchen in Zeit und Raum, nicht eindeutig bestimmbar sind. Die großen Geister, die der Ratio und den Fakten am treuesten folgten, kamen sogar zu dem Schluss, dass der Kern der Dinge letztlich nicht in Logik zu fassen sei. Und Niels Bohr resümierte schließlich, nur mit Poesie könne man etwas Wesentliches über das unter logischen Gesichtspunkten absurde Verhalten von Elementarteilchen sagen: »Wir müssen uns klar darüber sein, daß die Sprache hier nur ähnlich gebraucht

werden kann wie in der Dichtung.«⁷

Und die ganze Idee der Vorhersagbarkeit der Welt und der Dinge – von Laplace einst fanatisch verkündet – wurde von dem amerikanischen Mathematiker und Meteorologen Edward Lorenz für ungültig erklärt. Selbst wenn es möglich ist, ein komplexes und dynamisches Phänomen – worunter die meisten natürlichen Phänomene fallen – strikt in mathematische Formeln zu fassen, wird man, mit diesen Formeln in der Hand, dessen Verhalten keine Sekunde im Voraus vorhersagen können. Und schließlich erwies sich auch das Bild vom Universum als totem und ziellosem (nicht-teleologischem) mechanischem Prozess wissenschaftlich als unhaltbar. Die Chaostheorie zeigte auf wahrhaft revolutionäre Weise, dass sich die Materie unablässig in Formen organisiert – ein Vorgang, der mit mechanistischen Begriffen überhaupt nicht erklärt werden kann. Es stecken Zielgerichtetheit und Willen im Universum. Auf all dies gehen wir im letzten Teil dieses Buchs genauer ein.

Newton sagte es schon im 17. Jahrhundert: Die Gesetze der Mechanik sind nur auf einen sehr begrenzten Teil der Wirklichkeit anwendbar. Und je weiter die Wissenschaft voranschritt, desto deutlicher wurde das – zumindest für diejenigen, die es sehen wollten. Der große Mathematiker René Thom formulierte es im 20. Jahrhundert so: »Der Teil der Realität, der gut mit Gesetzen beschrieben werden kann, die Berechnungen erlauben, ist extrem begrenzt.«⁸ Und das folgende Zitat ist noch wichtiger: »Alle bedeutenden theoretischen Fortschritte sind meiner Meinung nach aus der Fähigkeit ihrer Entdecker hervorgegangen, ›in die Haut der Dinge zu schlüpfen‹, sich in alle Entitäten der externen Welt einfühlen zu können. Es ist diese Art der Identifikation, die ein objektives Phänomen in ein konkretes Gedankenexperiment transformiert.«

Dies wirft ein überraschendes Licht auf das Wesen wissenschaftlicher Forschung. Wir glaubten, Wissenschaft bestehe darin, trockene logische Zusammenhänge zwischen »objektiv« wahrnehmbaren Fakten herzustellen. Aber eigentlich wird sie durch eine Fähigkeit zur Empathie realisiert, eine Art resonierenden Einfühlens in das zu untersuchende Phänomen. Wissenschaft stößt

dabei auf einen Kern, der sich jedem logischen Diskurs entzieht und sich nur in der Sprache der Poesie und der Metaphern beschreiben lässt. Die Berührung mit diesem Kern führt nicht selten zu dem, was wir eine ursprüngliche religiöse Erfahrung nennen könnten – eine religiöse Erfahrung, die jeglicher Form von religiöser Institutionalisierung vorausgeht und nicht durch diese besudelt ist. Max Planck zeugte vielleicht auf die direkteste und auch verletzlichste Weise von dieser Erfahrung: Wissenschaft kommt am Ende dort an, wo Religion einst ihren Ausgang nahm, in einem persönlichen Kontakt mit dem Unsagbaren (vgl. Kapitel 11). Die Physiker des 20. Jahrhunderts begannen, sich aus dieser Erfahrung heraus auch wieder für die großen religiösen und mystischen Schriften, wie die Upanischaden, zu interessieren. Der Inhalt und die Struktur dieser Texte, ihre Bildsprache und Symbolik erfassen die Wirklichkeit besser als jeder logische, rationale Diskurs. Wissenschaft hatte sich von allen Dogmen des religiösen Diskurses befreit, entdeckte jedoch am Ende der Reise die mystischen und religiösen Texte wieder und gab ihnen ihren frischen, ursprünglichen Status zurück: symbolische, metaphorische Texte für dasjenige, was sich dem menschlichen Verstand ewig entzieht.

Wie wir im letzten Teil dieses Buchs besprechen werden, brachte das treue Folgen der Vernunft so seine höchste und erhabenste Leistung hervor: Es zeigte ihre Grenzen auf. Der menschliche Verstand hatte seine eigene Beschränktheit akzeptiert und die letzte Erkenntnis wiederum und endgültig außerhalb seiner selbst situiert. Die ultimative Leistung der Wissenschaft besteht darin, dass sie schlussendlich abdankt, dass sie zu der Einsicht kommt, nicht das richtungweisende Prinzip für den Menschen sein zu können. Nicht die menschliche Ratio ist das Entscheidende, sondern der Mensch als Wesen, das ethische und moralische Entscheidungen trifft, der Mensch in seinem Verhältnis zu seinem Mitmenschen, der Mensch in seinem Verhältnis zum Unsagbaren, das im Kern der Dinge zu ihm spricht.

Am Baum der Wissenschaft wuchs jedoch von Anfang an auch ein Zweig in eine andere Richtung – in die der ursprünglichen wissenschaftlichen Praxis genau entgegengesetzte Richtung sogar. Durch die großartigen Ergebnisse, die die Wissenschaft verbuchte, schlug sie bei manchen von Offenheit des Geistes in Überzeugung um; sie wurde zur Ideologie. Es war vor allem der mechanistischmaterialistische Zweig – die sogenannten harten Wissenschaften –, der die Geister in Entzücken versetzte. Einfach in ihren Grundprinzipien (den Gesetzen der Mechanik), konkret in ihrem Gegenstand (die greifbare, sichtbare Welt) und eindrucksvoll in ihrer praktischen Anwendbarkeit (von der Dampfmaschine über den Fernseher und das Internet bis zur Atombombe) hat diese Wissenschaft alles, um das menschliche Wesen zu verführen. Dank ihr erobert der Mensch das All, durch sie können wir sehen und hören, was am anderen Ende der Welt passiert, und die Gehirnaktivität sichtbar machen; sie verleiht uns die Fähigkeit, uns schneller fortzubewegen als der Schall und mikrochirurgische Eingriffe durchzuführen. Früher warteten wir vergeblich darauf, dass Gott Wunder verrichtete, aber diese Wissenschaft sorgte dafür, dass sie tatsächlich geschehen. Der Mensch hatte die Phase des Glaubens hinter sich gelassen und baute erfolgreich auf das, was er wusste. Das glaubte er zumindest.

Das mechanistische Denken lieferte seit der Aufklärung die einzige noch verbliebene Große Erzählung der westlichen Kultur. Dieser Erzählung zufolge beginnt alles mit einem Urknall, der eine Ausdehnung des Weltalls in Gang setzt und über eine Vielzahl mechanischer Effekte eine immer komplexer werdende Reihe von Phänomenen generiert. Zuerst entsteht Wasserstoff, dann Helium, und danach werden durch abwechselnde Prozesse von Fusion und Explosion alle anderen chemischen Elemente erzeugt. Die Elemente klumpen zusammen und bilden Sterne und Planeten, auf deren einem – der Erde – Wasser existiert. In diesem Wasser entstehen Aminosäuren, die oft als der Ursprung des Lebens betrachtet werden. Von dort aus, in einer durch natürliche Selektion gelenkten Entwicklung von einfachsten Lebensformen hin zu komplexeren, bringt der evolutionäre Prozess den Menschen hervor – den vorläufigen Endpunkt der Evolution. So hat der wissenschaftliche Diskurs seinen eigenen Entstehungsmythos geschaffen.

In einem solchen Menschenbild wird das komplette Register der menschlichen Subjektivität zu einem unbedeutenden Nebenprodukt mechanistischer Prozesse. Der Mensch ist sich dessen vielleicht nicht bewusst, aber seine Menschlichkeit spielt eigentlich keine Rolle, sie ist nichts Wesentliches. Sein Verlangen und sein Begehren, seine romantischen Stoßseufzer und seine oberflächlichsten Bedürfnisse, seine Freude und sein Kummer, sein Zweifel und seine Entscheidungen, seine Wut und Unvernunft, sein Vergnügen und sein Leiden, sein tiefster Abscheu und seine höchste ästhetische Wertschätzung, kurzum: die ganze Dramatik seiner Existenz – all das lässt sich letztendlich auf Elementarteilchen zurückführen, die nach den Gesetzen der Mechanik aufeinander einwirken. Das ist das Credo des mechanistischen Materialismus.

Wer an diesem Credo zweifelt, erklärt sich selbst freiwillig für töricht oder verrückt. Man darf zwar noch zweifeln, aber nur an den »richtigen« Dingen. Dieser Zweig am Baum der Wissenschaft entwickelte sich in die den originalen Trieben genau entgegengesetzte Richtung. Bei ihrer Geburt war Wissenschaft gleichbedeutend gewesen mit Offenheit des Geistes, einer Denkweise, die alle Dogmen über Bord warf und alle Überzeugungen infrage stellte. Doch je mehr sie heranwuchs, desto mehr verkehrte sie sich in Ideologie, Überzeugung und Vorurteil.

So machte die Wissenschaft eine Transformation durch, die jeder Diskurs durchmacht, wenn er dominant wird. Ursprünglich war sie ein Diskurs gewesen, mit dem eine Minderheit einer Mehrheit die Stirn geboten hatte; jetzt wurde sie selbst zum Diskurs der Mehrheit. Damit eignete sie sich nun auch für Zwecke, die den ursprünglichen Zwecken entgegenstanden. Man konnte mit ihr die Masse manipulieren, Karriere machen (je mehr wissenschaftliche Publikationen, desto größer die Chance, Professor zu werden), Produkte an den Mann bringen (»Untersuchungen haben erwiesen, dass unser Waschmittel am weißesten wäscht«), hinters Licht führen (»Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe«, Winston Churchill), andere herabwürdigen und stigmatisieren (»Wer an alternative Heilkunde glaubt, ist ein irrationaler Tor«), ja sogar Segregation und Exklusion verantworten (seit der Coronakrise kein Zugang mehr zum öffentlichen Raum, wenn man das Zeichen der wissenschaftlichen Ideologie nicht trägt). Kurzum: Der wissenschaftliche Diskurs wurde, genau wie

jeder dominante Diskurs, zum privilegierten Instrument von Opportunismus, Lügen, Betrug, Manipulation und Macht.

Je mehr der wissenschaftliche Diskurs zur Ideologie wurde, desto mehr verlor er die Merkmale des Wahrsprechens. Nichts illustriert dies besser als die Krise, die 2005 in der akademischen Welt ausbrach – die sogenannte Replikationskrise. Diese Krise begann mit einer Reihe schwerer Fälle von Wissenschaftsbetrug, die ans Licht kamen. Wissenschaftliche Scans und andere Bildgebungen stellten sich als manipuliert heraus,¹ archäologische Artefakte als gefälscht,¹¹ Klone von Embryos als erfunden;¹² es gab Forscher, die behaupteten, erfolgreich die Haut von Mäusen transplantiert zu haben, aber in Wirklichkeit war der Eingriff nur durch das Einfärben der Haut von Versuchstieren imitiert worden.¹³ Wieder andere bastelten aus Schädelstückchen von Menschen und Affen selbst ein Missing Link zusammen,¹⁴ ja, manche schienen ihre Untersuchungen gar völlig frei ersonnen zu haben.¹⁵

Diese regelrechten Formen von Betrug waren relativ selten und stellten insofern nicht das größte Problem dar. Das lag eher bei milderen Formen fragwürdiger Forschungspraktiken, die wahrhaft epidemische Ausmaße annahmen. Daniele Fanelli führte 2009 eine systematische Untersuchung durch, die ergab, dass mindestens 72 % der Wissenschaftler bereit waren, ihre Forschungsergebnisse in irgendeiner Weise zu verdrehen.¹ Hinzu kam noch, dass es in den Studien von (unbeabsichtigten) Rechen- und anderen Fehlern wimmelte. Ein Artikel in Nature berichtete zu Recht von einer »Tragödie von Fehlern«.¹⁷ Dies alles drückte sich in einem Mangel an Replizierbarkeit wissenschaftlicher Befunde aus. Vereinfacht gesagt, heißt das: Die Ergebnisse wissenschaftlicher Experimente erwiesen sich als nicht stabil. Wenn verschiedene Forscher das gleiche Experiment durchführten, kamen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen. In den Wirtschaftswissenschaften misslang beispielsweise die Replikation in ungefähr 50 % der Fälle,¹⁸ in der Krebsforschung in ungefähr 60 %¹ und in der Biomedizin in sage und schreibe 85 % der Fälle² . Insgesamt war die Qualität wissenschaftlicher Untersuchungen so dramatisch schlecht, dass der weltberühmte Statistiker John Ioannides einen Artikel mit dem vielsagenden Titel »Why Most Published Research Findings Are False«²¹ dazu veröffentlichte. Ironischerweise kamen auch die Studien, die die Qualität der Forschungsarbeiten

untersuchten, zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Das an sich zeigt vielleicht noch am besten, wie fundamental das Problem war.

In den vergangenen Jahrzehnten versuchte die akademische Welt, durch eine Reihe von Initiativen und Maßnahmen die Qualität der Forschung zu verbessern. Man stellte den Publikationsdruck infrage, forderte die Wissenschaftler auf, ihre Ergebnisse öffentlich zugänglich zu machen, nahm die finanziellen Interessen in der Forschung genauer unter die Lupe usw. Doch alles in allem scheinen diese Maßnahmen nicht viel Effekt zu haben. 2021 wurde wieder eine Studie zur Qualität von Forschung durchgeführt, und 50 % der Akademiker gaben anonym zu, dass sie ihre Befunde mitunter tendenziös darstellen. Diese Zahl ist ohnehin schon problematisch hoch, aber laut Fanelli handelt es sich dabei so gut wie sicher noch um eine substanzielle Unterschätzung. Denn auch anonym wagt ein beträchtlicher Prozentsatz der Wissenschaftler nicht, zuzugeben, dass sie sich fragwürdiger Forschungspraktiken bedienen. Die Maßnahmen, wie gut sie in gewissem Sinne auch gemeint waren, haben am Kern des Problems offensichtlich nichts geändert.

Die Replikationskrise zeigt nicht nur einen Mangel an Ernst und Ehrlichkeit in der Forschung auf; sie verweist vor allem auf eine fundamentale epistemologische Krise, das heißt eine Krise der Art und Weise, wie der Mensch Erkenntnis zu erlangen versucht. Unsere Auffassung von Objektivität ist falsch, unter anderem weil sie zu sehr auf der Vorstellung basiert, dass Zahlen das privilegierte Mittel seien, sich Fakten zu nähern. Wenn man betrachtet, in welchen Wissenschaftsgebieten die Probleme am gravierendsten waren, kann man durchaus den Eindruck bekommen, dass die Messbarkeit der Phänomene eine Rolle spielte. In der Chemie und der Physik war es weniger schlimm, in der Psychologie und der Medizin war die Situation jedoch dramatisch. Die beiden letzteren Disziplinen untersuchen typischerweise komplexe und dynamische Phänomene – das körperliche und psychische Funktionieren des Menschen. Solche »Objekte« sind im Grunde nur sehr begrenzt messbar, weil sie nicht auf eindimensionale Merkmale zurückgeführt werden können (siehe Kapitel 4). Und dennoch versucht man allzu oft krampfhaft, sie in Zahlen zu zwängen.

Sowohl in der Medizin als auch in der Psychologie werden Messungen in der Regel anhand diverser Tests durchgeführt, die in numerischen Scores resultieren. Diese Zahlen erwecken den Eindruck, objektiv zu sein, aber das ist (sehr) relativ. Studien zum sogenannten cross-method agreement zeigen uns zum Beispiel, wie problematisch derartige Messungen sind. Diese Studien gehen von einer ebenso einfachen wie interessanten Frage aus: Wenn man dasselbe »Objekt« mittels verschiedener Messverfahren misst, inwieweit werden die Ergebnisse dann übereinstimmen? Bei einigermaßen akkuraten Messverfahren müssten sie normalerweise ungefähr identisch sein. Das ist jedoch nicht der Fall, und zwar bei Weitem nicht. In der Psychologie beispielsweise sind die Korrelationen zwischen Messungen mit verschiedenen Verfahren selten höher als .45. Das ist natürlich eine abstrakte Zahl, deshalb illustriere ich das in meinen Vorlesungen an der Universität gern mit einem konkreten Beispiel. Stellen Sie sich vor, Sie bauen ein Haus, und ein Tischler kommt, um die Fensteröffnungen auszumessen. Er nutzt dafür drei verschiedene Werkzeuge – einen Zollstock, ein Bandmaß und ein Lasermessgerät. Wären die Messungen des Tischlers ebenso unzulänglich wie die eines Psychologen, dann würde er die folgenden Ergebnisse vermelden:

Wir sehen also: Mithilfe des ersten Messinstruments ermittelt der Tischler, dass Fenster 1 180 cm breit ist, mit dem zweiten Messinstrument kommt er für dasselbe Fenster auf 130 cm und mit dem dritten schließlich auf 60 cm. Gleiches gilt für das zweite Fenster: Das erste Instrument zeigt an, dass Fenster 2 100 cm breit ist, das zweite, dass es 200 cm breit ist, und das dritte, dass es 150 cm breit ist. Man braucht sich die Tabelle nur anzusehen. Würde man sich von einem Tischler, der sich solcher Messverfahren bedient, die Fenster für sein Haus anfertigen lassen? Immerhin beträgt die Korrelation zwischen den drei Reihen von Messergebnissen .45, was ungefähr dem Besten entspricht, das man erwarten darf, wenn Psychologen drei verschiedene Messinstrumente gebrauchen. Das bedeutet nicht, dass alle psychologischen Messungen sinnlos sind, aber es relativiert die Vorstellung, sie seien »objektiv«.²² Als ich mich als junger Forscher mit dem Messproblem auseinanderzusetzen begann, glaubte ich, dass nur die Psychologie in diesem Ausmaß damit zu kämpfen habe. Später entdeckte ich, dass es sich genauso in der Medizin stellt (und eigentlich auch in vielen anderen Wissenschaftsgebieten, wie wir in Kapitel 4 sehen werden). Die genutzten Tests und Messinstrumente sind dort – was verwundern mag – durchschnittlich nicht besser als in der Psychologie. In der gründlichen Übersichtsstudie von Gregory Meyer und seinen Kollegen²³ lässt sich das nachlesen.

Durch die manifesten Probleme mit den PCR-Tests während der Coronakrise wurde die Relativität medizinischer Messungen vielleicht zum ersten Mal einem breiteren Publikum bewusst. Es wurde auf einmal deutlich, dass es vielerlei Methoden gibt, den Test abzunehmen, dass die Ergebnisse schwanken, dass das Testergebnis im Prinzip auf unterschiedlichste Weise interpretiert werden kann usw. Schon Goethe sagte: »Das Messen eines Dings ist eine grobe Handlung, die auf lebendige Körper nicht anders als höchst unvollkommen angewendet werden kann.«²⁴ Wenn man das Unmessbare dennoch zu messen versucht, wird Messen zu einer Form von Pseudo-Objektivität. Denn statt den Forscher näher an sein Forschungsobjekt heranzubringen, entfernt das Messverfahren ihn nur weiter davon. Es bewirkt, dass das untersuchte Objekt hinter einem Schirm von Zahlen verschwindet.

Tests und Messverfahren mit geringer Validität sind nicht nur problematisch an sich, sie halten den Forscher auch davon ab, seinen Gegenstand auf eine andere, weniger anspruchsvoll wirkende, aber oft gediegenere Weise zu beschreiben, einfach mit Worten zum Beispiel. Das ist das eigentliche Drama von Fachgebieten wie der Medizin und der Psychologie: Man hat die klassische Forschung, nämlich gründliche Fallstudien, die von erfahrenen Klinikern durchgeführt werden, aufgegeben und gegen eine Forschung eingetauscht, die wissenschaftlich aussieht, es jedoch in Wirklichkeit oft nicht ist. Die Zahlen erwecken zwar den Anschein einer anspruchsvolleren und objektiveren Form der Darstellung, aber sie sagen eigentlich weniger über das untersuchte Phänomen als eine fachkundige Beschreibung mit Worten. Daraus erwachsen zum Teil auch die anderen Probleme, die im Zuge der Wissenschaftskrise zutage traten: die allgegenwärtigen Fehler, Nachlässigkeiten und forcierten Schlussfolgerungen, von denen schon die Rede war. Wer versucht, das Unmessbare in Zahlen zu zwängen, der spürt, dass seine Forschung nur geringen wirklichen Wert hat, und ist womöglich auch weniger motiviert, sorgfältig und pflichtbewusst zu arbeiten.

Die problematische Qualität wissenschaftlicher Untersuchungen ruft eine Reihe von dringlichen Fragen auf, unter anderem auch zum Blind-Peer-ReviewSystem, das in allen wissenschaftlichen Zeitschriften gehandhabt und als eine Art ultimative Garantie für die wissenschaftlichen Qualitäten einer Publikation angesehen wird. Kurz gesagt, bedeutet dies, dass eine Studie, bevor sie veröffentlicht wird, von zwei oder drei unabhängigen einschlägigen Experten gegengelesen und kritisch evaluiert wird. Die Experten sind dabei »blind« in Hinsicht auf die Autoren der Studie; sie wissen nicht, von wem sie stammt. Das nimmt man zumindest an. In Wirklichkeit wissen sie es meistens doch. Sie kennen die anderen Wissenschaftler, die in ihrem Fachgebiet tätig sind, und können anhand spezifischer Merkmale der Studie erraten, wer sie durchgeführt hat. Eine ehrliche Beurteilung durch einen Experten verlangt demnach nicht nur, dass er genügend Zeit und Energie freimachen kann und will – was im heutigen akademischen Klima gewiss nicht auf der Hand liegt –, sondern auch, dass er all seine persönlichen Vorurteile in Bezug auf das Forschungsthema und die Autoren beiseiteschieben kann. Mit anderen Worten: Das ganze Blind-PeerReview-System steht und fällt mit dem ethischen und moralischen Format des Experten, also mit seinen subjektiven menschlichen Eigenschaften.

Damit schließt sich der Kreis dieses Kapitels. Sowohl die große Wissenschaft (die Wissenschaft, die sich die Offenheit des Geistes bewahrt und der Vernunft folgt) als auch die kleine Wissenschaft (die Wissenschaft, die sich in Ideologie verkehrt) werden letztendlich wieder mit dem konfrontiert, was sie ursprünglich aus ihrem Blickfeld verdrängt hatten: dem Menschen als subjektivem und ethischem Wesen. Die erste Art von Wissenschaft geht auf positive Weise damit um: Sie erkennt die Bedeutung dieser Dimension an und lässt sie in ihre Theorien einfließen. Sie begann einst als mutige junge Wissenschaft, die den Blick nach außen richtete, auf die materielle Welt, die Fakten registrierte und logische Zusammenhänge zwischen ihnen herstellte. Sie nahm an – in gewissem Maße zu Recht –, dass dies der Weg zu souveränem Wissen sei. Das menschliche Wesen in seiner psychischen, geistigen, moralischen und ethischen Dimension trat damit zunächst in den Hintergrund. Doch nicht für lange. Man entdeckte, dass der beobachtende Mensch mit seinen subjektiven Eigenschaften einen wesentlichen Einfluss auf die zu beobachtenden Objekte hat. Die Theorien, in denen diese Erkenntnisse verankert wurden, wie die Quantenmechanik und die Theorie komplexer und dynamischer Systeme, müssen zum Höchsten gerechnet werden, was die Menschheit hervorgebracht hat. Im letzten Teil des Buchs kommen wir ausführlicher darauf zurück.

Auch wenn Wissenschaft sich in Ideologie, Überzeugung und Dogma verkehrte, bestätigte sie, dass der Mensch in seiner subjektiven Dimension im Mittelpunkt steht. In diesem Fall tat sie dies allerdings auf eine negative Weise: Sie zeugte davon durch ihr Scheitern. Sie schenkte dem Register der subjektiven Erfahrung immer weniger Beachtung, betrachtete es schließlich als eine Art unbedeutendes, quasi irreales Nebenprodukt materieller, biochemischer Prozesse im Gehirn. Doch damit hörte die subjektive Dimension nicht auf zu existieren. Im Ungesehenen wucherte sie, nahm groteske Formen an und manifestierte sich als eine Sturzflut von Fehlern, Nachlässigkeiten, fragwürdigen Forschungspraktiken und regelrechtem Betrug. Letztendlich reklamierte die menschliche Subjektivität auch auf diesem Pfad den Thron für sich.

Wie wir in Kapitel 3 noch ausführlicher besprechen werden, ist das Auffälligste dabei, dass den Wissenschaftlern selbst in der Regel kaum bewusst ist, dass mit ihrer Forschungspraxis etwas nicht stimmt. Sie halten ihre wissenschaftliche

Fiktion weitgehend für Realität, sie verwechseln ihre Zahlen mit den Fakten, deren verzerrtes Echo sie sind. Und dasselbe gilt für einen großen Teil der Bevölkerung, der dieser Wissenschaftsideologie blind vertraut und nach dem Fall der Religion oft auch keinen anderen ideologischen Zufluchtsort mehr hat. Zahlen und Grafiken, die jemand mit akademischem Prestige in den Massenmedien präsentiert, werden automatisch als Fakten und Realitäten betrachtet. Auf dieser Ebene situiert Hannah Arendt das ideale Subjekt des totalitären Staates: das Subjekt, das den Unterschied zwischen (pseudo)wissenschaftlicher Fiktion und Realität nicht mehr kennt. Noch nie hat es so viele derartige Subjekte gegeben, noch nie sind die Verhältnisse so geeignet gewesen für Totalitarismus wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

KAPITEL 2

WISSENSCHAFT UND IHRE PRAKTISCHEN ANWENDUNGEN

Wissenschaft führt nicht nur zu Erkenntnis und geistiger Entwicklung, sie hat über ihre praktischen Anwendungen auch Auswirkungen auf die Realität. Vor allem die mechanistische Wissenschaft hat in dieser Hinsicht große Ambitionen. Sie will die Welt an den Menschen anpassen, das Leben leicht und komfortabel machen, langfristig Leiden und sogar den Tod ausmerzen.

In gewissem Maße konnte die Wissenschaft diese Ambitionen auch verwirklichen. Galileis Entdeckung der Pendelgesetze erlaubte es Christiaan Huygens fünfzehn Jahre später, eine mechanische Vorrichtung zum Messen der Zeit zu bauen: die Pendeluhr. Zuvor war der Mensch hauptsächlich auf die in der Natur vorkommenden Zyklen angewiesen gewesen, um die Zeit zu messen; jetzt konnte er durch Variation der Länge des Pendelarms selbst künstlich Zyklen jeder beliebigen Dauer erschaffen. So wurde ein Tag in 86 400 identische Pendelsekunden aufgeteilt. Zeit war von einem schwer fassbaren Strom natürlicher Zyklen zu einem in strikt identischen Schritten voranschreitenden mechanischen Prozess geworden.

Wissenschaft führte zu einer schier endlosen Reihe von praktischen Anwendungen: die Dampfmaschine, der Fotoapparat, das Kunstlicht, das Radio, das Fernsehen, das Auto, das Flugzeug, das Internet … In den zwei Jahrhunderten, die Newtons Formulierung der Grundgesetze der Mechanik folgten – ein Wimpernschlag in der Geschichte der Menschheit –, wurde die Gesellschaft auf allen Ebenen mechanisiert und industrialisiert. Tausende von Jahren hatte der Mensch die Welt vor allem erduldet, jetzt zwang er ihr seinen Willen auf. Zum ersten Mal war er imstande, seine ewig missliche Lage

einschneidend zu ändern und das Leben leichter zu machen. Zumindest war das sein Eindruck.

Es gab allerdings auch eine Kehrseite der Medaille. Jedes Stück Bequemlichkeit, das die Mechanisierung der Welt mit sich brachte, hatte seinen Preis. Sie führte beispielsweise dazu, dass die Beziehung des Menschen zu seiner natürlichen und sozialen Umgebung geschwächt wurde. Künstliches Licht unterbrach den Rhythmus, den Sonne und Mond den täglichen Verrichtungen seit jeher auferlegt hatten; die Uhr löste den menschlichen Geist von zyklischen natürlichen Prozessen (sich verabreden, wenn der Tau trocknet, essen, wenn die Sonne an ihrem höchsten Punkt steht, schlafen gehen, wenn die Nacht anbricht usw.); der Kompass entfremdete den Menschen von den Sternen; die Industriearbeit zog ihn fort von Feldern und Wäldern. Den psychologischen Folgen wurde kaum wirklich Bedeutung beigemessen, wenn sie überhaupt wahrgenommen wurden. Sie waren aber zweifellos immens. Vor der Mechanisierung hatte die Erfahrungswelt des Menschen konstant mit der sich beständig wandelnden Formensprache der Natur resoniert, danach wurde er vor allem von einer monotonen, mechanischen Rhythmik absorbiert.

Und auch die sozialen Beziehungen wurden bis zur Unkenntlichkeit transformiert. Die Erfindung von Radio und Fernsehen führte zur Entstehung der Massenmedien, und in der Folge verringerten sich direkte menschliche Kontakte mit rein sozialer Funktion. Abendliche Treffen zwischen Nachbarn, Zusammenkünfte in der Kneipe, Erntefeste, Rituale und Feiern – all dies wurde nach und nach durch das Konsumieren dessen ersetzt, was die Medien boten. Das verleitete zu einer gewissen sozialen Bequemlichkeit; es verlangte nicht die Anstrengung, die der direkte Kontakt zu einem Mitmenschen erfordert. Kein Risiko für Streit, keine Konfrontation mit schmerzlicher Eifersucht, Scham oder Verlegenheit, keine Notwendigkeit, sich zurechtzumachen oder auch nur fortzubewegen. Und es uniformierte auch den sozialen Austausch. Der öffentliche Raum, einschließlich der politischen Sphäre, wurde zunehmend von einer immer kleineren Zahl von Stimmen beherrscht, die über die Massenmedien das Wohnzimmer eroberten.²⁵ Mit anderen Worten: Die sozialen Austauschformen büßten an Diversität und Eigenheit ein.

Auch die Mechanisierung des Arbeitsprozesses sorgte für eine tiefgreifende Transformation der sozialen Strukturen und Beziehungen (eine Dimension, mit der sich der marxsche historische Materialismus beschäftigte). Die Dampfmaschine zum Beispiel konnte eine dermaßen große Zahl von Webstühlen oder anderen Maschinen antreiben und lokal eine dermaßen große Zahl von Menschen mit Arbeit versehen, dass darum herum neue Gesellschaftsformen wie Arbeitersiedlungen entstanden. Diese Gemeinschaften waren rein auf Massenproduktion ausgerichtet, ihr einziger Identifikationspunkt war die kollektive Lohnarbeit. Damit brach die Industrialisierung die festen sozialen Strukturen auf, die durch die Existenz verschiedener Berufe, Ämter und Autoritätspersonen (Priester, Bürgermeister usw.) gebildet wurden. Obwohl diese Strukturen den Menschen jahrhundertelang in seiner Freiheit eingeschränkt oder gar radikal unterdrückt hatten, boten sie ihm doch auch einen psychologischen Halt und Bezugsrahmen. Sie gaben ihm Regeln und Gesetze, Gebote und Verbote, Grenzen für seine Lüste und Triebe, klar umrissene Objekte der Angst, Frustration und Wut. Ihr Wegfallen ließ den Menschen verwirrt im dunklen Wald seiner Existenz zurück; seine Angst und sein Unbehagen geisterten umher, ohne dass er sie einordnen konnte. Wie wir in Kapitel 6 sehen werden, spielt diese ungebundene Angst eine entscheidende Rolle in der Massenbildung und im Totalitarismus.

Die Auswirkungen, die die Mechanisierung der Welt mit sich brachte, machten sich auch auf der Ebene der Sinngebung bemerkbar. Die Einführung der Massenproduktion bewirkte, dass der Sinn der Arbeit weniger direkt zu spüren war. Zuvor hatte der Mensch gearbeitet, um die Dinge herzustellen, die er brauchte, um für seinen eigenen Unterhalt und für den der Menschen um sich herum zu sorgen. Er hatte gearbeitet, um sich zu ernähren, die Wohnung zu heizen, den Körper mit Kleidung gegen raue Bedingungen und Blicke anderer zu schützen. Mit dem Aufkommen der Industrie änderte sich das. Er arbeitete nun mehr und mehr, um Dinge für andere herzustellen. Die Antwort auf die Frage, warum er arbeitete, sprudelte daher nicht mehr spontan aus ihm heraus.

Und der Andere, für den man arbeitete, war zudem weit entfernt und anonym,

wodurch der Effekt der Arbeit auf diesen nicht sicht- oder fühlbar war. Mit dem Verschwinden (eines großen Teils) der Handwerksberufe und der lokalen Kleinbetriebe zerbrach die unmittelbare Beziehung zwischen Produzent und Konsument. Derjenige, der den Gebrauchsgegenstand herstellte, kam meist nicht mehr direkt mit demjenigen in Kontakt, der ihn gebrauchen würde. Bei Ablieferung des Produkts sah man daher die Freude und Dankbarkeit auf dem Gesicht des Anderen nicht mehr. Diese sichtbaren, subtil-physischen Effekte stellen die wichtigste Quelle der menschlichen Befriedigung während des Arbeitsprozesses dar und sind zugleich das direkteste Zeichen, dass die Arbeit sinnvoll ist.

So fiel auch der unbekannte Andere als Quell unmittelbar spürbarer Sinngebung weg. Der Arbeiter wurde mehr und mehr zu einem Rädchen im industriellen Getriebe, das nur noch vom Gedanken an den zu erwartenden Lohn geölt wurde. Arbeit wandelte sich von einer beschwerlichen, aber inhärent sinnvollen, existenziellen Aufgabe zu einer praktisch-utilitaristischen und auch egoistischen Notwendigkeit.

Neben schwindender Sinngebung stellte sich noch ein anderes Problem. Merkwürdigerweise führten die Industrialisierung und Mechanisierung der Arbeit nicht dazu, dass weniger gearbeitet werden musste. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts prophezeite der britische Ökonom John Maynard Keynes, dass wir durch den technologischen Fortschritt gegen Ende des Jahrhunderts nur noch eine 15-Stunden-Woche haben würden.² Das würde genügen, damit die Bevölkerung alles produzieren könne, was sie brauchte. Mit Letzterem hatte er nur allzu recht. Womöglich sind sogar noch weniger Arbeitsstunden nötig, um das zu erreichen. Dennoch erfüllte sich seine Prophezeiung nicht. Am Ende des 20. Jahrhunderts wurden mehr Arbeitsstunden erbracht als je zuvor.

Was Keynes nicht bedachte, war, dass man in unglaublichen Größenordnungen neue sinnlose und nutzlose Jobs schaffen würde. Der britische Anthropologieprofessor David Graeber beschrieb das in seinem inzwischen weithin bekannten Buch Bullshit-Jobs. Er verweist darin unter anderem auf eine

Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov, das eine Stichprobe von Menschen aus der allgemeinen Bevölkerung befragte, ob sie der Meinung seien, dass ihr Job einen sinnvollen Beitrag zur Welt leiste. Ungefähr 37 % verneinten das entschieden, und weitere 13 % waren sich nicht sicher.²⁷ Diese sinnlosen Jobs entstanden vor allem im administrativen und ökonomischen Sektor und in den zahllosen Berufen, die diese Sektoren unterstützen. Der Bericht von Kurt (Pseudonym), der bei einem privaten Subunternehmer der deutschen Bundeswehr beschäftigt ist, illustriert den Grad der Absurdität, der mittlerweile erreicht wurde:

Die Bundeswehr hat einen Subunternehmer, der für die IT zuständig ist. Die ITFirma hat einen Subunternehmer, der sich um ihre Logistik kümmert.

Die Logistikfirma hat einen Subunternehmer für die Personalverwaltung, und für dieses Unternehmen arbeite ich.

Angenommen, der Soldat A zieht in ein Büro um, das auf dem Korridor zwei Türen weiter liegt. Statt einfach seinen Computer dorthin zu tragen, muss er ein Formular ausfüllen.

Der IT-Subunternehmer erhält das Formular, Leute lesen und genehmigen es, und es wird an das Logistikunternehmen weitergeleitet.

Anschließend muss das Logistikunternehmen den Umzug entlang des Korridors genehmigen und fordert bei uns Personal an. Nun tun die Leute im Büro meines Unternehmens irgendetwas, und hier komme ich ins Spiel. Ich erhalte eine EMail: »Finden Sie sich zum Zeitpunkt C in der Kaserne B ein.« Die Kaserne ist in der Regel 100 bis 500 Kilometer von meinem Wohnort entfernt, also erhalte ich einen Mietwagen. Ich hole den Mietwagen ab, fahre zur Kaserne, teile der Verwaltung mit, dass ich angekommen bin, fülle ein Formular aus, ziehe den

Stecker des Computers heraus, verpacke den Computer in einer Kiste, verschließe die Kiste, lasse einen Mitarbeiter der Logistikfirma die Kiste in das nächste Zimmer tragen, öffne dort die Kiste wieder, fülle erneut ein Formular aus, schließe den Computer an, rufe bei der Verwaltung an und teile ihnen mit, wie lange ich gebraucht habe, sammle eine Reihe von Unterschriften ein, fahre mit dem Mietwagen wieder nach Hause, schicke der Verwaltung einen Brief mit dem ganzen Papierkram und werde anschließend bezahlt. Anstatt dass der Soldat also seinen Computer fünf Meter weit trägt, fahren zwei Personen insgesamt sechs bis zehn Stunden lang Auto, füllen ungefähr 15 Blatt Papier aus und vergeuden Steuergelder in Höhe von gut 400 Euro.²⁸

Das ist ein faszinierender Aspekt des Phänomens sinnloser Arbeit: Man würde meinen, dass in privaten Unternehmen, beherrscht vom kapitalistischen Streben und dem Diktat des Gewinns, derartig sinnlose Arbeit nicht vorkommt. Das Letzte, was man dort erwarten würde, ist, dass Geld ausgegeben wird für Arbeitskräfte, die nichts einbringen. Aber diese Vorstellung darf inzwischen ins Reich der Illusion verwiesen werden (siehe Graeber, S. 15)² . Auch in der Privatwirtschaft wimmelt es von sinnlosen Jobs. Wir können das vor allem der veränderten Betriebskultur zuschreiben. Heutige Firmenchefs stehen und fallen nur noch selten juristisch oder finanziell gemeinsam mit ihrer Firma. Sie können es sich leisten, sinnlose Jobs zu schaffen, um etwa Bekannten und Freunden eine Gefälligkeit zu erweisen oder um der Firma durch Einstellung aller möglichen »Experten« ein anspruchsvolles Image zu verleihen, notfalls auch nur, um die Arbeitsplatzstatistik zu optimieren. Wenn die Firma pleitegeht, sind sie sowieso schon längst irgendwo anders CEO.

Doch es spielt noch mehr hinein. Letztlich ist die Ursache für den Wildwuchs des administrativen und ökonomischen Sektors bei viel fundamentaleren psychologischen Tendenzen in unserer Gesellschaft zu suchen. Endlose Wucherung von Regeln, Prozeduren und Administration erwächst meist aus zwischenmenschlichem Misstrauen und der Unfähigkeit, Unsicherheit und Risiken zu ertragen. Sowohl der Staat als auch die Bevölkerung verlangen zunehmend, dass bei jedem Schritt, den man im Leben macht, nachgewiesen werden kann, dass alles korrekt zugegangen ist. Es braucht immer mehr verfahrensrechtliche Bestimmungen, in denen unter anderem festgelegt ist, wer

finanziell und juristisch haftet, wenn irgendwo etwas schiefgeht. Wie wir in Kapitel 5 ausführlicher besprechen werden, ist der heutige Regel- und Kontrolldrang ein krampfhafter Versuch, der ständig wachsenden Angst in der Gesellschaft Herr zu werden.

Wenn die menschlichen Beziehungen von einem fundamentalen Misstrauen gezeichnet sind, wird das Leben hoffnungslos kompliziert, und eine Gesellschaft verschwendet ihre Energie damit, diverse »Sicherheitsmechanismen« zu erschaffen, die das Misstrauen letztlich nur anfachen und vor allem psychologisch erschöpfend sind. Das Phänomen der Bullshit-Jobs ist daher auch direkt mit der Epidemie von Burn-outs verbunden, von der das Personal heimgesucht wird. Was Arbeit unerträglich macht, ist in der Regel nicht deren Schwere, sondern die Unmöglichkeit, Sinn und Befriedigung darin zu finden, die Arbeit als schöpferischen Akt zu erfahren. Setz jemanden in ein Büro und zahl ihm ein großzügiges Gehalt dafür, dass er alle zehn Minuten vollkommen sinnlos auf einen Knopf drückt. Befreit so ein Job von den Lasten des Lebens oder macht er das Leben unerträglich leicht?

Am Ende entsteht etwas Paradoxes: eine Art Neid und Rachegefühle gegenüber jenen, die einen sinnvollen Beruf ausüben. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass es hauptsächlich die Menschen sind, die unmittelbar sinnvolle Tätigkeiten verrichten – wie Pflegepersonal, Müllmänner, Handwerker, Landwirte usw. –, die von Entlassungsrunden getroffen oder so erbärmlich bezahlt werden, dass sie an der Armutsgrenze entlangschrammen oder auf Beihilfen angewiesen sind (wie z. B. Landwirte, die mit Nahrung immerhin das notwendigste materielle Gut überhaupt produzieren). Wohingegen die Jobs, die gemeinhin als die sinnlosesten gelten, wie Verwaltungsjobs, stetig an Zahl zunehmen und vergleichsweise immer fürstlicher entlohnt werden. Die (unbewusste) Argumentation scheint in etwa zu sein: »Wer das Glück hat, einen sinnvollen Job zu haben, muss nicht auch noch wollen, dass er gut dafür bezahlt wird.« So endet man schließlich in einer Situation, in der es fast töricht erscheint, sich für sinnvolle Arbeit zu entscheiden.

Das Aufkommen der sinnlosen Berufe zeigt uns vor allem, dass das wahre Problem der Menschheit auf der Ebene der menschlichen Beziehungen liegt und es weniger der Kampf mit den Naturelementen oder die Schwere der Arbeit sind, die die Conditio humana beeinträchtigen. Einfach gesagt, heißt das: In einer Gesellschaft, in der die menschlichen Beziehungen Befriedigung schenken, wird das Leben erträglich sein, selbst wenn sie nur über primitive Produktionsmittel verfügt. Und in einer Gesellschaft, in der die menschlichen Beziehungen verarmt und toxisch sind, wird es schwierig und unerträglich werden, wie fortschrittlich sie auf mechanisch-technologischem Gebiet auch sein möge.

Fassen wir noch einmal zusammen: Wissenschaft führte zu einer ungeheuren Fähigkeit, die Welt durch Industrialisierung und Mechanisierung zu verändern, aber das brachte auch Probleme mit sich, insbesondere auf der Ebene der menschlichen Beziehungen. Und wir müssen noch eine Reihe von Problemen hinzufügen, die dadurch verursacht werden, dass Wissenschaft – oder was dafür gilt – nicht immer »richtig« und verlässlich ist.

Im vorigen Kapitel haben wir beschrieben, dass die Qualität der Studien nirgendwo problematischer ist als in der Medizin. Fehler, Nachlässigkeiten und Betrug sorgen dafür, dass 85 % der medizinischen Studien zu fragwürdigen Ergebnissen kommen. Das erlaubt uns unter anderem zu verstehen, warum Medikamente, die in der Forschung für sicher befunden werden, in der Praxis dennoch Tausende Todesopfer fordern oder weitreichende Nebenwirkungen hervorrufen können. Das bekannteste Beispiel ist vermutlich die sogenannte Contergan-Affäre. Contergan oder Thalidomid wurde 1958 als Mittel gegen Schwangerschaftsübelkeit auf den Markt gebracht. 1961 fand man heraus, dass es bei mindestens 10 000 Föten zu schweren Missbildungen geführt hatte, hauptsächlich fehlenden oder unterentwickelten Gliedmaßen. Das Erschütterndste an dem Fall war, dass Pharmaunternehmen das Mittel danach noch jahrelang weiterproduzierten und es in manchen Ländern (darunter Belgien) noch bis 1963 in Apotheken frei verkäuflich war und erst 1969 ganz aus dem Handel genommen wurde (!). Die Rechtfertigung der betroffenen Gesundheitsminister macht einen sprachlos: Man wollte erst ganz sicher sein, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Medikament und den fetalen Missbildungen gab …

Ein anderes dramatisches Beispiel betrifft das künstliche Hormon Diethylstilbestrol (DES), das zwischen 1947 und 1976 vielfach verabreicht wurde, um Fehlgeburten vorzubeugen. Um 1976 stellte sich heraus, dass man sich furchtbar geirrt hatte. Es verhinderte keine Fehlgeburten, hatte aber eine Reihe von schweren Nebenwirkungen, die sich über Generationen manifestierten.³ Bei den Frauen, die es selbst eingenommen hatten, gab es ein erhöhtes Risiko für Brustkrebs. Bei der ersten Generation weiblicher

Nachkommen entdeckte man Anomalien der Gebärmutterschleimhaut, Schwangerschaftsprobleme, Deformationen der Geschlechtsorgane und ein erhöhtes Risiko auf Gebärmutterhals-, Brust- und Vaginalkrebs. Bei der ersten Generation männlicher Nachkommen verursachte es Knötchen an den Nebenhoden und bei der zweiten Generation männlicher Nachkommen wurden Anomalien der Harnleiter beobachtet. Niemand weiß, ob und in welcher Generation die Fehlbildungen infolge von DES aufhören werden.

Die Contergan- und die DES-Affäre sind vielleicht die bekanntesten medizinischen Skandale, aber gewiss nicht diejenigen, welche die meisten Opfer forderten. 2019 begann ein Prozess gegen verschiedene Pharmaunternehmen wegen der Schäden, die durch Opiate verursacht wurden. Diese starken Schmerzmittel sollen in den letzten 20 Jahren für nicht weniger als 400 000 Todesopfer verantwortlich sein und Millionen von Leben in den USA zerrüttet haben. Selbst langjähriger und weitverbreiteter Gebrauch von Medikamenten garantiert also offenbar nicht, dass sie sicher sind. Manchmal werden nach Dutzenden von Jahren noch mehr oder weniger zufällig schwere Nebenwirkungen entdeckt. Zum Beispiel fand man erst 2021 heraus, dass Paracetamol, das populärste Schmerzmittel, das schon seit Mitte des vorigen Jahrhunderts auf dem Markt ist, krebserregende Stoffe enthält und fruchtschädigend sein kann.

Aber Medikamente werden doch ausführlich auf Wirkung und Nebenwirkungen untersucht und getestet, bevor sie auf den Markt kommen? Wie ist es dann möglich, dass all diese schädlichen Nebenwirkungen nicht entdeckt werden? Der Punkt ist der: Phänomene wie »Gesundheit« oder »Reaktion auf ein Medikament« sind komplexe und dynamische Phänomene, die nie in ihrer Gesamtheit gemessen werden können. Ein Forscher kann nur eine sehr begrenzte Zahl ihrer Aspekte registrieren und beobachten (z. B. die Wirkung auf das Symptom, die Wirkung auf Blutdruck oder Atmung usw.). Über alles andere bleibt er größtenteils im Ungewissen. Hinzu kommt, dass Studien immer nur über einen bestimmten Zeitraum laufen. Die Nebenwirkungen, die sich nach diesem Zeitraum manifestieren, etwa in späteren Generationen wie bei Contergan, können überhaupt nicht eingeschätzt werden. Und schließlich können Nebenwirkungen auch zu subtil sein, um sie unmittelbar wahrzunehmen, aber

langfristig dennoch schwerwiegend (wie eine Verringerung der allgemeinen Immunität).

Die Wirkung von Medikamenten vorherzusagen wird zudem dadurch erschwert, dass auch psychologische Faktoren eine große Rolle spielen. Die Existenz von Placeboeffekten (bei denen eine Behandlung positive Effekte hat, nur weil der Patient an deren Wirksamkeit glaubt) und Noceboeffekten (bei denen eine Behandlung negative Effekte hat, weil der Patient sie für schädlich hält) ist wissenschaftlich allgemein anerkannt. Und es handelt sich nicht um kleine Effekte, wie mitunter gedacht wird. Manche Forscher (wie Shapiro³¹ und Wampold³²) meinen, dass bis zu 90 % der Wirkungen medizinischer Behandlungen psychologischen Faktoren zuzuschreiben sind. Wenn das stimmt, sind die meisten medizinischen Behandlungen eigentlich (nicht als solche anerkannte) Formen von Psychotherapie.

Diese Zahlen dürfen wir, genau wie die meisten Zahlen in wissenschaftlichen Untersuchungen, nicht als absolute Wahrheiten sehen. Dass jedoch der Einfluss psychischer Faktoren erstaunlich groß ist, steht fest (Kapitel 10 ist ausschließlich diesem Aspekt gewidmet). Daher sind die Wirkungen von Medikamenten nur sehr schwer vorhersehbar und können sich beispielsweise auch substanziell ändern, wenn sich der gesellschaftliche Diskurs über dieses Medikament ändert. Der veränderte Diskurs führt zu veränderten Erwartungen hinsichtlich des Medikaments und damit auch zu veränderten Wirkungen. Das erklärt zum Teil die »mysteriösen« Beobachtungen, dass Medikamente ihre anfängliche Wirksamkeit verlieren, wenn sie eine Weile auf dem Markt sind. Eine neue Therapie weckt oft hohe Erwartungen, und das sorgt für einen starken Placeboeffekt. Nur aus einem naiven mechanistischen Denken heraus kann man glauben, dass sich die Wirkungen medizinischer Interventionen durch Experimente objektiv bestimmen ließen.

Die miserable wissenschaftliche Qualität eines Großteils der medizinischen Studien stellt uns auch vor dringliche ethische Fragen. Sie rückt zum Beispiel den gnadenlosen Experimentiertrieb unserer Aufklärungsgesellschaft in ein noch

grelleres Licht. Jedes Jahr steigt die Zahl der Versuchstiere, die für medizinische Experimente genutzt werden.³³ Und sie steigt schnell. 2005 wurden weltweit ungefähr 100 Millionen (!) Tiere gebraucht, 2020 waren es schon knapp 200 Millionen (!). Das Los der Tiere ist grausam, oft zu grausam für Worte. Wenn wir bedenken, dass 85 % der medizinischen Studien fehlerhaft, tendenziös oder sogar betrügerisch sind (siehe Kapitel 1), müssen wir resümieren, dass dieses Inferno tierischen Leids in der übergroßen Zahl der Fälle auch noch komplett sinnlos ist. Wo genau liegt die Grenze zwischen Experiment und Folter? Wenn in einer Gesellschaft eine derartige Praxis ein derartiges Ausmaß und einen derartigen Grad der Absurdität erreicht, kann es jedenfalls nur eine Schlussfolgerung geben: Diese Gesellschaft ist ernsthaft krank.

Das mechanistische Denken gab dem Menschen eine enorme Fähigkeit, die physische Wirklichkeit zu manipulieren, aber in Kombination mit der ihm inhärenten (Selbst-)Destruktivität brachte ihn das in die heikelste Situation, in der er sich je befunden hatte. Mit Fischereimethoden, die die Fischbestände der Weltmeere erschöpften, und einer Maschinerie, mit der man den kompletten Regenwald abholzen konnte, war er zum ersten Mal in der Lage, die Natur, mit der er unlösbar verbunden war, zu zerstören. Und mit der Industrialisierung und Mechanisierung des Krieges trat das destruktive Potenzial des mechanistischen Denkens offen und direkt zutage. Die Millionen von Opfern der in den Weltkriegen eingesetzten Zerstörungsmaschinen sind stille Zeugen davon. Und auch danach richtete die unheilvolle Ehe zwischen Wissenschaft und Todestrieb eine Verwüstung an, neben der das Kriegselend von einst verblasste. Um nur ein Beispiel zu nennen: Monsanto produzierte 76 Millionen Liter Agent Orange, das in Vietnam versprüht wurde, um die Bäume zu entlauben und den Vietcong aus dem Dschungel zu vertreiben. Millionen von Vietnamesen und auch amerikanische Soldaten erkrankten schwer (in vielen Fällen an Tumoren und Krebs), und mindestens 150 000 Kinder wurden mit Fehlbildungen geboren.

Die mechanistische Wissenschaft suchte die Conditio humana zwar zu kontrollieren und komfortabler zu machen, doch sie machte sie in vielerlei Hinsicht auch gefährlicher. Der Mensch sah sich zunehmend von den Kräften bedroht, die er selbst in der Natur entfesselt hatte. Und diese Kräfte gerieten weitgehend in die Hände einiger weniger. Durch die Verindustrialisierung,

Vermechanisierung und Vertechnologisierung der Welt nahm die Zahl derjenigen, die über die Produktionskapazitäten, die ökonomische Macht (durch die Zentralisierung des Bankensystems) und die psychologische Macht (durch die Massenmedien) verfügten, immer mehr ab. Die Aufklärungstradition hatte dem Menschen Autonomie und Freiheit versprochen, brachte ihm aber in gewisser Weise mehr (Erfahrungen der) Abhängigkeit und Machtlosigkeit als je zuvor. Mit dieser Machtlosigkeit wuchs das Misstrauen gegenüber den vermeintlich Mächtigen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts schwand das Gefühl der Menschen, dass die politischen Führer wirklich ihre Stimme im öffentlichen Raum vertraten und ihre Interessen in der Gesellschaft verteidigten. Der Mensch fiel dadurch auch aus den sozialen Klassen heraus, die von den Politikern vertreten wurden, und blieb heimatlos zurück, nicht mehr mit der Gesamtgesellschaft verbunden, nicht mehr einer festen gesellschaftlichen Gruppe zugehörig.

Obwohl die Tradition der Aufklärung ihren Ausgang in dem optimistischen und energischen Streben des Menschen genommen hatte, die Welt zu verstehen und zu beherrschen, führte sie also in vielerlei Hinsicht zum Gegenteil, nämlich zu der Erfahrung, dass ihm die Kontrolle entglitt. Das menschliche Subjekt fand sich in einem Zustand der Einsamkeit wieder, abgeschnitten von seinem natürlichen Kontext und aus sozialen Strukturen und Beziehungen herausgerissen, kraftlos durch das Gefühl der Sinnlosigkeit, unter Wolken lebend, die von einem in früheren Zeiten undenkbaren destruktiven Potenzial geschwängert waren, psychologisch und materiell abhängig von den Happy Few, denen es nicht vertraut und mit denen es sich nicht identifizieren kann. Dieses Subjekt, das von Hannah Arendt als atomisiertes Individuum bezeichnet wurde, ist es, in dem wir in späteren Kapiteln den elementaren Bestandteil des totalitären Staates erkennen werden.

KAPITEL 3

DIE KÜNSTLICHE GESELLSCHAFT

Was hat die mechanistische Ideologie mit der Gesellschaft und der Welt vor? Um diese Frage zu beantworten, kehren wir zunächst noch einmal zurück in den Dom zu Pisa. Die Augen des kaum 17-jährigen Galileo Galilei folgten dort einem pendelnden Leuchter. In ihrer jugendlichen Offenheit und Neugier sahen sie etwas, das den unzähligen Augen, die vor ihm ein Pendel beobachtet hatten, entgangen war: Ob das Pendel nun eine lange oder eine kurze Bewegung vollführt, die Zeit, die es dafür braucht, ist immer genau gleich. Bei näherer Betrachtung ist das eigentlich logisch. Lange Bewegungen starten von einem höheren Punkt und kurze von einem niedrigeren. Je weiter oben ein pendelndes Objekt seine Abwärtsbewegung beginnt, desto größer ist die Beschleunigung auf seinem Weg; je weiter unten es ansetzt, desto weniger kann es beschleunigen. So ist die Geschwindigkeit, mit der das Pendel seinen Weg zurücklegt, direkt proportional zur Länge des Bogens, den es beschreibt, und die Pendelbewegung somit immer exakt gleich lang.

Galileis Entdeckung war zweifellos genial. Doch sie stimmte nicht ganz. Christiaan Huygens machte beim Bauen seiner Pendeluhren eine erstaunliche Beobachtung. Wenn er verschiedene Uhren an derselben Wand befestigte, fingen deren Pendel nach einer Weile an, sich in perfektem Gleichtakt zu bewegen.³⁴ Das konnte nur bedeuten, dass die Uhren auf irgendeine Weise miteinander kommunizieren. Huygens nahm an – zu Recht, wie sich später herausstellte –, dass die Schwingungen der Pendelbewegungen durch die Wand übertragen werden und so für kleine Abweichungen in deren Dauer sorgen, die, auf eine schwer verständliche Weise, schließlich dazu führen, dass sich die Bewegungen synchronisieren.

Pendel sind also viel komplexer, als die von Galilei entdeckte Gesetzmäßigkeit vermuten lässt. Sie können ihre Bewegungen offenbar unter Einfluss ihrer Umgebung anpassen. Präzisionsmessungen der Dauer von Pendelbewegungen bestätigen Christiaan Huygens inzwischen: Im Gegensatz zu Galileis Auffassung dauern Pendelbewegungen tatsächlich nicht immer gleich lang. Manchmal braucht ein Pendel etwas länger, manchmal etwas weniger lang, um seine Bewegung zu vollenden.³⁵ Anfangs tat man diese Abweichungen als eine Form unbedeutenden »Rauschens« ab. Man ging davon aus, dass die Unregelmäßigkeit in der Pendelbewegung die Folge einer Reihe rein zufällig auftretender mechanischer Faktoren sei, wie Änderungen des Luftwiderstands oder die Reibung des Seils bzw. der Kette, an denen das pendelnde Objekt hängt.

Es dauerte bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bis man entdeckte, dass das nicht stimmt. All diese scheinbar zufälligen Abweichungen in der Dauer der Pendelbewegung bilden ein Muster – ein Muster, das mit einer mathematischen Formel beschrieben werden kann und dennoch komplett unvorhersagbar ist (Pendel weisen die Merkmale des deterministischen Chaos auf, die wir in Kapitel 9 erläutern werden). Und darüber hinaus ist dieses Muster absolut einzigartig für jedes individuelle Pendel. Man hatte Pendel immer als langweilige mechanische Phänomene betrachtet, die brav den Gesetzen Galileis folgten, doch diese elementaren mechanischen Vorrichtungen sind kreativ und eigensinnig zu Ungehorsam imstande. In seinem verdienstvollen Buch Chaos formuliert James Gleick es folgendermaßen: »Wissenschaftler, die sich mit chaotischer Dynamik befaßten, machten die Entdeckung, daß dem unregelhaften Verhalten einfacher Systeme ein kreativer Prozeß zuzuordnen war. Er brachte die Komplexität hervor: hochorganisierte Muster, die manchmal stabil und manchmal instabil waren, manchmal endlich und manchmal unendlich, die jedoch stets die Faszination besaßen, die lebende Objekte haben.«³

Das Verhalten des Pendels auf Galileis Gesetzmäßigkeit zu reduzieren hieße also, es seiner »sozialen« Merkmale und auch seiner Eigenheit und Kreativität zu berauben. Würde man in einem Computerprogramm ein virtuelles Pendel kreieren, das sich strikt an Galileis Gesetzmäßigkeit hält, so würde dieses virtuelle Pendel einem echten zwar sehr ähneln, aber es wäre ein totes Phänomen, dem die lebendige Kreativität eines echten Pendels fehlt.

Galileis Pendel illustriert eine universelle Gesetzmäßigkeit: Logisch-rationale Erklärungen eines natürlichen Phänomens – wie gelungen sie auch sein mögen – sind immer eine Abstraktion dieses Phänomens. Theoretische Modelle erfassen nie alles, es bleibt immer ein unerklärter Rest. Und dieser Rest ist nicht einfach nur eine unbedeutende, zufällige Form von Rauschen, wie die mechanistische Ideologie gern glaubt, sondern sie ist die Essenz des Objekts, seine lebendige Komponente.

Das sieht man unter anderem am Unterschied zwischen »natürlichen« und »künstlichen« Produkten. Ob es sich nun um genmanipulierte Pflanzen, Fleisch aus dem 3-D-Drucker, durch Impfungen erzeugte Immunität oder HightechSexpuppen handelt – jedes Mal, wenn man von einer logisch-rationalen Analyse ausgehend ein natürliches Phänomen künstlich reproduziert, zeigt sich, dass das künstliche Phänomen nicht mit dem natürlichen identisch ist. Der Verlust, der mit der künstlichen Reproduktion einhergeht, ist nicht immer gleichermaßen sichtbar, mitunter sogar so gut wie gar nicht. Und dennoch ist er entscheidend für den Menschen, sowohl auf körperlichem als auch auf psychischem Gebiet. Die Digitalisierung der menschlichen Interaktionen – das Ersetzen »echter«, natürlicher Interaktionen zwischen Menschen durch digitale – ist ein dankbares Beispiel dafür.³⁷

Mit der Coronakrise machte der Trend zur digitalen Gesellschaft einen großen Schritt voran. Homeoffice wurde zur Norm, das Studentenleben spielte sich online ab,³⁸ der Aperitif und der Kaffee wurden vor dem Bildschirm getrunken,³ ja sogar das sexuelle Spiel wurde zunehmend über technologische Maschinerie vermittelt⁴ und die Todesstrafe aus sicherer digitaler Distanz vollzogen.⁴¹ Zunächst sah man dies vor allem als Notwendigkeit und auch als Vorteil an. Man fühlte sich sicher vor dem Virus, sparte Zeit, brauchte nicht im Stau zu stehen, verringerte den ökologischen Fußabdruck usw.

Es kommen jedoch immer mehr Meldungen, dass die drastische Umstellung auf Online-Gespräche zu Erschöpfung und Burn-out führt – in einem Maße, dass

manche sogar von einer digitalen Depression berichten.⁴² Der Kern des Problems liegt möglicherweise hierin: Während eines Gesprächs werden nicht nur Informationen übertragen, es findet auch ein subtiler körperlicher Austausch statt, und der wird durch die Digitalisierung gestört. Dieser körperliche Aspekt des Sprechens ist von vitaler Bedeutung. Er macht Sprache zu Liebe und Lust, aufgeladen mit einer subtilen erotisierenden Kraft; er sorgt dafür, dass wir uns nach einer Online-Arbeitswoche nach einem normalen Gespräch sehnen.

Ein digitales Gespräch ist nicht dasselbe wie ein echtes Gespräch. Bei Säuglingen sieht man das vielleicht noch am besten. In den ersten sechs Monaten lernen sie in einem verblüffenden Tempo, Sprachlaute voneinander zu unterscheiden, aber – und das ist der springende Punkt – nur wenn sie einem physisch Anwesenden zuhören, nicht wenn sie einer Audio- oder VideoAufnahme lauschen (siehe die Experimente von Kuhl⁴³). Der frühe Spracherwerb ist untrennbar an die körperliche Anwesenheit des Anderen gebunden. Das Kind übernimmt die (Körper-)Sprache der Mutter, während es seinen Hunger und Durst an ihrem Leib stillt und sich an ihrer Wärme labt. Es fixiert atemlos das Antlitz der Mutter und ahmt ihr Mienenspiel nach; es lauscht mit gespannter Aufmerksamkeit den Geräuschen, die sie macht, und übernimmt schon in seinem frühesten Schluchzen und Schreien die melodischen und klanglichen Merkmale ihres Sprechens.

Mehr noch: Diese Synchronisation findet auch schon vor der Geburt statt, in der Gebärmutter. Die Experimente von Murphy Paul – bekannt unter dem Titel »What babies learn before they’re born«⁴⁴ – zeigen, dass das Weinen eines Kindes unmittelbar nach der Geburt bereits melodische Übereinstimmungen mit der Muttersprache aufweist. Und wenn man ein Neugeborenes beim Saugen an der linken Brust über einen Kopfhörer die Stimme der Mutter hören lässt und beim Saugen an der rechten Brust die Stimme von jemand anderem, wird es deutlich mehr an der linken Brust zu saugen beginnen. Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Das Kind ist schon in der Gebärmutter mit der Mutterstimme in Fühlung gekommen; das Leben dort hat es dazu bestimmt, mit dieser spezifischen Stimme zu resonieren.

Nach der Geburt setzt das Kind diese Ur-Resonanz aktiv fort. Und es tut dies nicht einfach so. Es stellt durch seine kreativen Imitationen ihrer Geräusche und Gesichtsausdrücke eine Art Symbiose mit der Mutter her; es fühlt dadurch, was sie fühlt. Während es den lachenden Gesichtsausdruck der Mutter übernimmt, spürt es auch ihre Freude; wenn es ihren traurigen Gesichtsausdruck übernimmt, erbt es auch ihre Niedergeschlagenheit. Und etwas Ähnliches gilt für den Austausch von Geräuschen: Im Klingklang der Sprache der Mutter schwirrt das Wohl und Wehe ihres Wesens, und das Kind, das diese Sprache nachahmt, schwingt auf derselben psychischen Wellenlänge mit.

Diese frühe Resonanz zwischen Kind und (sozialer) Umgebung führt so zu einem einzigartigen Phänomen. Während der zahllosen Imitationen wird der Körper des jungen Kindes mit einer Reihe von Schwingungen und Spannungen »aufgeladen«, die sich bis in die tiefsten und feinsten Fasern seines Leibes festsetzen. Sie bilden eine Art »Körpergedächtnis«, das nicht nur die Funktion der Muskulatur, der Drüsen, der Nervenbahnen und der Organe vorprogrammiert, sondern das Kind auch für typische psychische Erkrankungen prädisponiert.

Der menschliche Körper ist im konkretesten Sinne des Wortes ein Saiteninstrument. Die Muskeln, die das Skelett überspannen, und auch die anderen Fasern des Körpers werden in der frühen Kindheit durch imitierenden sprachlichen Austausch in eine gewisse Spannung versetzt. Diese Spannung bestimmt, mit welchem (sozialen) Phänomen man resoniert; sie bestimmt die Frequenzen, für die man im späteren Leben empfänglich sein wird. So können bestimmte Menschen und bestimmte Ereignisse bei jemandem buchstäblich eine empfindliche Saite treffen – sie berühren den Körper (und insofern auch die Seele). Deshalb kann die Stimme den Körper krank machen oder – umgekehrt – Krankheiten heilen.

Daher ist die Stimme auch von im wahrsten Wortsinn vitaler Bedeutung, besonders in frühester Jugend. Fehlt sie, ist dies zweifellos tödlich für das junge Kind. Der österreichische Psychiater René Spitz untersuchte zwei Gruppen von

Kindern, deren biologische Bedürfnisse (Essen, Trinken, Kleidung, Unterkunft usw.) auf dieselbe Weise befriedigt wurden, von denen die eine Gruppe jedoch eine stabile psychische Bindung zu einer Mutterfigur hatte und die andere nicht. Er fand heraus, dass die Sterblichkeitsrate in letzterer Gruppe signifikant höher war.

Diese subtil-physische Dimension sprachlichen Austauschs bleibt auch im späteren Leben wichtig. Während des Sprechens spiegeln Erwachsene, genau wie junge Kinder, ohne sich dessen bewusst zu sein, ständig den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung des Gesprächspartners (siehe die Forschungen zu den sogenannten Spiegelneuronen⁴⁵). Das geschieht durch eine Art innere Imitation, durch leichtes Ansteigen der Muskelspannung, das meist nicht äußerlich wahrnehmbar ist. Aber das genügt vollkommen, um in einer unmessbar kurzen Zeitspanne die Erfahrungswelt des Anderen zu registrieren – dass er Schmerzen hat, traurig oder froh ist oder eventuell nur so tut als ob usw. – und mehr oder weniger zu übernehmen.

Das führt zu einer erstaunlich direkten Verbindung zwischen Gesprächspartnern. Ich beschäftige mich schon seit 15 Jahren beruflich mit der detaillierten Analyse von (psychotherapeutischen) Gesprächen und konnte mich ganz konkret davon überzeugen. Um nur einen Aspekt herauszugreifen: Menschen reagieren in Gesprächen unwahrscheinlich schnell aufeinander. Wenn die eine Person aufhört zu sprechen, übernimmt die andere gewöhnlich innerhalb von weniger als 0,2 Sekunden (zum Vergleich: Die Reaktionszeit im Straßenverkehr ist durchschnittlich fünfmal länger). Und das geschieht sogar, wenn der Gesprächspartner seinen Satz nicht beendet, man also anhand der Satzstruktur überhaupt nicht vorhersagen kann, wann er aufhören wird zu reden.

Menschen, die miteinander sprechen, haben durch Wahrnehmung kleinster Änderungen in Intonation, Stimmtimbre, Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Sprechtempo usw. ein sehr feines Gespür füreinander. Sie bilden, wie schwärmende Stare, gleichsam einen Organismus. Sie sind durch eine psychische Membran verbunden, die die geringste Kräuselung in Körper und

Seele auf den Anderen überträgt. Bei jedem Austausch von Worten – wie banal auch immer – erweisen sich Menschen als perfekte Tanzpartner, die sich zur zeitlosen Musik der Sprache subtil physisch miteinander vereinigen. Wir betreiben die Liebe häufiger, als wir ahnen.

Dieses komplexe Phänomen erfährt eine wesentliche Verarmung, wenn es digitalisiert wird. Digitale Interaktionen sind immer mit einer gewissen Verzögerung verbunden. Sie schließen bestimmte Aspekte des Kontakts aus (z. B. Wärme und Geruch), sind selektiv (man sieht nur das Gesicht), unterliegen der ständigen unangenehmen Bedrohung, dass die Verbindung unterbrochen werden könnte usw. Sie werden daher nicht nur als gebremst und zäh empfunden, sie geben uns auch das Gefühl, den Anderen nicht wirklich (physisch) spüren zu können. In den Worten Gianpiero Petriglieris: »In digitalen Interaktionen wird unser Geist dazu verleitet zu glauben, dass wir zusammen sind, aber unsere Körper wissen, dass wir es nicht sind; das Erschöpfende an digitalen Gesprächen ist, ständig in der Anwesenheit der Abwesenheit des Anderen zu sein.«⁴

Von hier aus sehen wir einen direkten Zusammenhang zwischen Digitalisierung und dem Phänomen Depression. Depression ist in der klassischen psychoanalytischen Theorie mit der frustrierenden Erfahrung der Hilflosigkeit verbunden, ausgelöst durch Passivität oder Abwesenheit eines geliebten Anderen (in erster Linie meist ein Elternteil).⁴⁷ Das zahlt man diesem Anderen – und dem Anderen im Allgemeinen – sozusagen mit gleicher Münze heim: Man wird selbst passiv (d. h., man fühlt sich depressiv). Digitale Kontakte führen zu einer ähnlichen Dynamik: Man fühlt sich hilflos gegenüber einem als unerreichbar und abwesend erfahrenen Anderen und reagiert mit Frustration und Passivität (d. h., man fühlt sich erschöpft).

Digitalisierung entmenschlicht ein Gespräch. Das geschieht meist verborgen und schleichend, manchmal zeichnet es sich aber auch haarscharf ab. Ein jüngeres Beispiel aus meiner psychotherapeutischen Praxis: Eine Frau Anfang 40, die die Schwangerschaft, nach der sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hat, eines

Nachts mit blutigen Händen in einer Fehlgeburt enden sieht, bittet mich schluchzend um ein Gespräch – ein echtes Gespräch. Jeder spürt in einer solchen Situation, dass die digitale Mauer nicht durchdringbar ist für die Worte, in denen die Dramatik ihren Ausdruck sucht. Sofern es nicht wirklich keine andere Möglichkeit gibt, klingt das Anbieten eines digitalen Gesprächs in so einer Situation tatsächlich geradezu unmenschlich.

Ähnliche Beispiele finden sich im Unterricht (die Begeisterung der Lehrkraft, die in einem Klassenzimmer fast physisch spürbar in der Luft hängt, verträgt die Reise durch ein Glasfaserkabel nur schlecht), am Arbeitsplatz (der tragende Einfluss eines Projektleiters verwässert in einem Online-Meeting), im Liebesleben (versuch mal, eine wacklige Beziehung mit aller verbalen Peinigung, die dazugehört, via Online-Kommunikation zu retten) und darüber hinaus in allen Situationen, in denen man sein Gewicht als Mensch in die Waagschale werfen muss.

Wenn das alles stimmt, warum ist Sprechen auf digitalem Wege dann so verlockend? Warum haben wir dann lange vor der Coronakrise schon mit Freuden das Plauschen und Klönen gegen das Chatten eingetauscht? Digitale Gespräche kann man auch mit Menschen führen, die weit entfernt sind, und sie kosten weniger Anstrengung (z. B. keine Fortbewegung), das ist wahr, aber es spielt auch noch ein anderer, psychologischer Faktor eine Rolle. Unsicherheit ist das Merkmal par excellence der menschlichen Erfahrung – kein Tier wird so vom Zweifel verfolgt oder stellt sich existenzielle Fragen –, und das gilt insbesondere für unser Verhältnis zum Anderen. Wie kann ich dem Anderen Gutes tun? Mag er mich? Findet er mich attraktiv? Bedeute ich ihm etwas? Was will er von mir?

Bei einem digitalen Gespräch, bei dem der Andere buchstäblich auf Distanz gehalten wird, aber dennoch erreichbar ist, stellen sich diese ewigen Fragen und die damit verbundene Unsicherheit und Angst weniger akut. Das Gefühl der Kontrolle ist größer; es ist leichter, selektiv bestimmte Dinge zu zeigen und andere zu verbergen. Kurz: Man fühlt sich psychologisch sicherer und

komfortabler hinter einer digitalen Mauer und zahlt dafür arglos den Preis eines Verlusts an Seele. Damit stoßen wir auf ein Thema, das in diesem Buch wiederholt zurückkehrt: Die Mechanisierung der Welt führt dazu, dass der Mensch den Kontakt zu seiner Umgebung verliert und zu einem atomisierten Subjekt wird, der Art von Subjekt, in dem Hannah Arendt den elementaren Bestandteil des totalitären Staates erkannte.

Wissenschaft passt ihre Theorie der Wirklichkeit an, Ideologie passt die Wirklichkeit der Theorie an. Das gilt auch für die mechanistische Ideologie: Sie wollte die Wirklichkeit ihrer theoretischen Fiktion anpassen. Sie wollte die Natur und die Welt optimieren. Wir haben bereits auf genmanipulierte Pflanzen und Tiere, Fleisch aus dem 3-D-Drucker und noch eine Reihe anderer künstlicher Produkte verwiesen, aber es geht noch (viel) weiter. Manche sind der Meinung, dass die Menstruation nur eine überflüssige Unannehmlichkeit sei; sie plädieren dafür, sie mit künstlichen Hormonen auszuschalten und den weiblichen Zyklus in eine gleichförmige, flache Linie zu verwandeln.⁴⁸ Und nach jahrelangem Experimentieren mit dem »Züchten« von Rinderund Hundeföten in einer künstlichen Gebärmutter⁴ – einer Art Plastiktüte – finden manche, es sei nun an der Zeit, auch für menschliche Föten den Mutterleib durch eine Kunststoffkugel zu ersetzen.⁵

Das Einzige, was noch fehlt, um solche Praktiken ganz den Zuchtprogrammen in Aldous Huxleys Brave New World anzugleichen, ist, dass die Mutterstimme – jenes Phänomen, von dem schon die Rede war –durch die monotone Wiederholung konditionierender Botschaften ersetzt wird. Die melodiösen Echos der Mutterstimme wären dann nicht mehr im kindlichen Weinen wiederzufinden, aber das Baby käme »sozial angepasst« zur Welt. Und auch die anderen Vorteile dieses Zuchtprogramms sind nicht zu unterschätzen. Die zukünftigen Eltern können während der neun Monate der »Schwangerschaft« ihr Leben normal weiterführen.⁵¹ Ob das Kind mit seiner Anwesenheit doch noch eine Rolle in ihrem Leben spielen darf, nachdem die Kunststoff-Gebärmutter sich geöffnet hat und das Kind »geboren« wurde, ist noch nicht ganz klar.

Der »Bottling Room« ist weniger weit entfernt, als wir denken. Um eine Gesellschaft, die von der mechanistischen Ideologie ergriffen ist, dazu zu überreden, braucht es nur noch eines: eine Schar von »Experten«, die täglich anhand von Statistiken und Zahlen in den Nachrichten zeigen, dass künstliche Gebärmütter den Fötus ein paar Prozent besser gegen allerlei Viren und andere Wesen beschützen, die im lebendigen Mutterleib herumschwirren. Innerhalb dieser Logik ist, wer sich für eine natürliche Schwangerschaft entscheidet, eines Kindes unwürdig – er setzt es schon vor seiner Geburt unnötigen Risiken aus. Ob die Gegenstimmen eine derartige Logik übertönen können, ist noch die Frage. Das Leben lässt sich nur mit Metaphern und Poesie verteidigen, und die erklingen gewöhnlich weniger laut als das Dröhnen der mechanistischen Argumente.

Die besprochenen Tendenzen passen in eine breitere Sicht auf die ideale Gesellschaft. Institutionen, die sich gern mit der Gesellschaft der Zukunft beschäftigen, wie das Weltwirtschaftsforum (WEF), gehen unbesehen davon aus, dass wir uns hin zu einem Digikosmos entwickeln werden – einer »Gesellschaft«, in der sich das menschliche Leben größtenteils online abspielt. Die Umweltbewegung des 21. Jahrhunderts folgt erstaunlicherweise weitgehend diesem Trend. Sofern sie den »ökomodernistischen« Weg einschlägt, will sie die Natur retten, indem sie den Menschen von ihr isoliert. Innerhalb dieser Ideologie ist es ein Verbrechen, auf dem Land zu wohnen, genau wie einen Holzofen zu heizen und ein Stück echtes – das heißt nicht im Labor erzeugtes – Fleisch zu essen. Das ideale Leben wird in einer solchen Logik womöglich größtenteils im Haus und an einer Infusion verbracht. Dass Mensch und Natur eine mystische Einheit bilden und in Harmonie existieren können, wird als eine romantische und unrealistische Vorstellung betrachtet, die angesichts der Dringlichkeit der Klimalage sogar geradezu gefährlich ist.

Diese Sicht auf die Gesellschaft vermischt sich gern mit dem sogenannten Transhumanismus. Das ist eine zeitgenössische Version der mechanistischen Ideologie, die es für wünschenswert und sogar notwendig erachtet, dass der Mensch in der Zukunft körperlich und geistig mit technologischer Apparatur verschmilzt. Sie möchte die Gesellschaft, dieses Chaos wimmelnder Leiber, durch ein streng technologisch kontrolliertes Internet of Bodies ersetzen. Dafür

sollen die Körper mit Mikrochips versehen und über ein leistungsstarkes Internet überwacht werden. So wird man nicht nur die Kriminalität und unerwünschte Intimitäten bekämpfen können wie nie zuvor, sondern man wird durch das Sammeln biometrischer Daten auch in der Lage sein, effizient genetische Korrekturen durchzuführen und Präventivmedizin zu betreiben, beispielsweise indem man die natürliche Abwehr des Körpers durch mittels Impfstoffen erzeugte künstliche Immunität ersetzt. Und selbst der menschliche Geist wird davon profitieren. Elon Musk kündigte 2020 an, dass wir innerhalb von fünf Jahren keine unbeholfene menschliche Sprache – die Quelle ewiger Missverständnisse – mehr brauchen würden; er würde einen Mikrochip entwickeln, der ins Gehirn eingebaut werden könne und dem Menschen erlauben würde, über digitale Signale fehlerlos zu kommunizieren.⁵²

Und es mag nicht verwundern: In dieser Utopie will man auch die ewig unbeherrschbaren Wetterverhältnisse – seit Menschengedenken Gegenstand des Klagens und Jammerns von Bauern – radikal mechanisch-technologisch unter Kontrolle bringen. Die Klimaerwärmung nötigt dazu. Und man glaubt, über probate Mittel zu verfügen. Man kann beispielsweise die Sonne verdunkeln, indem man technologisch manipulierbare Spiegel zwischen Erde und Sonne platziert, mit Raketen Sulfatwolken erzeugen oder Kreidebomben in der Stratosphäre explodieren lassen.⁵³ Die mechanistische Ideologie lebt immer auf Kredit. In der Zukunft, wenn das Wissen komplett und die Technologie perfekt sein werden, wird sie die Mensch-Maschine ins Paradies bringen. Aber vorläufig wird man vor allem krank und depressiv davon.

Es klingt immer ein Misston in der triumphalen Musik der mechanistischen Ideologie. Die erlangte »Bequemlichkeit« hat ihren Preis. Und das zeigt sich in der Regel erst, wenn es zu spät ist. Die Fluorverbindungen in Antihaftbeschichtungen von Pfannen und die PFAS-Verbindungen in wasserabweisenden Regenjacken stellten sich als krebserregend heraus,⁵⁴ genau wie das Ethylenoxid, das in Hunderten Alltagsgegenständen verarbeitet ist.⁵⁵ Der Zusammenhang zwischen Chemikalien und Zivilisationskrankheiten ist im Prinzip allgemein bekannt,⁵ aber das scheint kein Hindernis zu sein, immer wieder auf dieselbe Weise weiter zu »zivilisieren«. Je größer der Impact der mechanistischen Wissenschaft auf die Welt, desto klarer wird auch, dass

Probleme geschaffen werden, für die man kaum eine Lösung sieht. Die immer dicker werdende Plastiksuppe in den Ozeanen und der nukleare Abfall, der Hunderttausende von Jahren aktiv bleibt, sind nur einige Beispiele dafür. Diese Probleme waren im Grunde von Anfang an offensichtlich für den, der sie sehen wollte. Der britische Maler und Dichter William Blake zum Beispiel hatte schon im 18. Jahrhundert ein sehr genaues Gespür für den destruktiven und entmenschlichenden Charakter der Mechanisierung der Welt. In gewissem Sinne kommt dies in seinem ganzen Werk zum Ausdruck. Doch leider war er eine Ausnahme.

Warum lässt sich der Mensch so massenhaft von der mechanistischen Ideologie verführen? Das liegt unter anderem an der Illusion, man könne die Beschwerlichkeiten des Lebens beseitigen, ohne sich selbst als Mensch infrage stellen zu müssen. Die klassische mechanistische Medizin ist das beste Beispiel dafür. Die Ursache für Krankheit und Leiden wird typischerweise auf einen mechanischen »Fehler« im Körper oder ein externes Wesen wie ein Bakterium oder Virus zurückgeführt. Sie wird an einem bestimmten Punkt festgemacht, als etwas betrachtet, das unabhängig vom Menschen – in seiner psychischen, ethischen und moralischen Komplexität – beherrschbar und manipulierbar ist. »Eine Pille hilft dir, dich von deinen Krankheiten und Problemen zu befreien.« »Plastische Chirurgie erlöst dich von deinen Komplexen, ohne dass du den Ursprung deiner Scham und Verlegenheit ergründen musst.« Darum geht es in diesem Kapitel: Während die praktischen Anwendungen der mechanistischen Wissenschaft das Leben leichter machen, entgleitet uns die Essenz des Lebens immer mehr. Dieser Prozess spielt sich größtenteils unter der Oberfläche des Bewusstseins ab, aber die deutliche Zunahme psychischer Erkrankungen ist ein unmissverständliches Zeichen über der Oberfläche.

In gewisser Weise konnte der Aufklärungsmensch auch kaum anders, als sich an einen utopischen Fortschrittsoptimismus zu klammern. Im 19. Jahrhundert läutete die Industrialisierung der Welt das Verschwinden der Stände- und Klassengesellschaft und der lokalen sozialen Strukturen ein. Der Mensch fiel aus seinem sozialen und natürlichen Kontext heraus, und die mit diesem Kontext verbundene Sinngebung verschwand (siehe Kapitel 2). In dieser »entzauberten«, mechanistischen Welt (Max Weber),⁵⁷ in der das Leben per definitionem sinnlos

und ateleologisch ist (die Maschine des Universums läuft ohne Sinn und Ziel), ging zudem auch das religiöse Bezugssystem verloren. Angst und Unbehagen, einst an Unterdrückung und Disziplinierung durch Adel und Klerus gekoppelt, geisterten unbestimmt und unbezähmbar in der menschlichen Seele umher. Frustration und Aggression, einst durch die Furcht vor der Hölle und dem Jüngsten Gericht im Zaum gehalten, waren immer leichter mobilisierbar. Die Aussicht auf das Jenseits schwand dahin, und ein Ersatz dafür konnte kaum anderswo gesucht werden als im Glauben an ein künstlich geschaffenes, mechanistisch-wissenschaftliches Paradies.⁵⁸

Auf dieser Ebene situieren wir mit Hannah Arendt die Grundströmung des Totalitarismus: den naiven Glauben, dass man aus einer wissenschaftlichen Theorie heraus den idealen Menschen und eine ideale Gesellschaft hervorbringen könne.⁵ Die auf Eugenik und Sozialdarwinismus basierende nationalsozialistische Idee, einen rassereinen Supermenschen zu erschaffen, und das auf dem historischen Materialismus basierende stalinistische Ideal der proletarischen Gesellschaft sind prototypische Beispiele dafür, genau wie der gegenwärtig aufkommende Transhumanismus. Wenn wir von solchen Ideologien hören, glauben wir gern, dass sie das Produkt gestörter Geister seien. Das ist jedoch ein Irrtum. Platon, zum Beispiel, hielt Eugenik für eine lobenswerte Praxis, die in seinem idealen Staat ihren Platz hatte. Und das 20. Jahrhundert lehrte uns, dass diese Praxis durchaus gewisse »Erfolge« erzielen kann. Die systematische Abtreibung von Föten mit genetischen Anzeichen für Thalassämie führte in Zypern dazu, dass diese erbliche Blutkrankheit so gut wie vollständig von der Insel verschwand.

Wir müssen uns diese Frage ernsthaft stellen: Warum sollten wir den Prinzipien der Eugenik nicht folgen? Eugenik als gesellschaftliche Strategie kann man aus rein menschlich-ethischen Gründen verwerfen, aber es ist entscheidend, dass wir dies auch auf rationaler Basis tun können. Rational betrachtet, liegt der Kern der Sache vielleicht hier: Eugenik führt »lokal«, auf dem Gebiet der »Bekämpfung unerwünschter Merkmale«, manchmal zu erwünschten Ergebnissen, aber global bringt sie mehr Nachteile als Vorteile. Die staatliche Regulierung der Intimsphäre führt zu psychischer Zerrüttung und letztlich auch zu einem Verfall der physischen Gesundheit (in den letzten Kapiteln gehen wir genauer auf dieses

Thema ein). Selbst innerhalb einer Ideologie, die die physische Gesundheit zu ihrem obersten Ziel machen würde, wäre Eugenik eine zweifelhafte Strategie, die die Komplexität und Subtilität des menschlichen Wesens ignoriert.

Totalitarismus, sagt Hannah Arendt, ist letztlich die logische Verlängerung der allgemeinen Wissenschaftsbesessenheit, des Glaubens an ein künstlich geschaffenes Paradies: »Wissenschaft [ist] zum Götzen geworden […], der magisch alle Übel des Lebens beseitigen und die Natur des Menschen selbst verändern wird.« ¹ Im folgenden Kapitel werden wir eines der Kernmerkmale sowohl des mechanistischen als auch des totalitären Diskurses genauer betrachten: den naiven Glauben an die Messbarkeit der Wirklichkeit und den inflationären Ge- und Missbrauch von Zahlen und Statistiken.

KAPITEL 4

DAS (UN)MESSBARE UNIVERSUM

Im vorigen Kapitel haben wir das (utopische) Ziel der mechanistischen Ideologie kritischen Betrachtungen unterzogen. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit ihrer Erkenntnismethode. Das Universum ist eine Maschine, und deren Bestandteile können gemessen werden – das ist eine der Grundannahmen der mechanistischen Ideologie. Messungen und Berechnungen sind das Fundament ihrer Art und Weise, Erkenntnisse zu gewinnen. Und dieser epistemologische Ausgangspunkt hat Folgen für das gesellschaftliche Idealbild, das an diese Ideologie gekoppelt ist und sich in etwa so beschreiben lässt: Die Gesellschaft wird idealiter von Experten-Technokraten geführt, die auf der Grundlage objektiver, zahlenmäßiger Informationen Entscheidungen treffen. Mit der Coronakrise kommen wir einer solchen Gesellschaft plötzlich sehr nahe. Diese Krise ist daher auch ein prädestinierter Fall, um das Vertrauen in Messungen und Zahlen einer kritischen Analyse zu unterwerfen.

Bisher wurden Gesellschaften weniger auf der Basis zahlenmäßiger Informationen geführt als vielmehr auf der Basis von Erzählungen, zuerst mythischen und religiösen und später politischen Erzählungen. Die mechanistische Ideologie muss dagegen natürlich ihre Bedenken haben. Diese Erzählungen sind im Wesen irrational und subjektiv; sie sagen in gewissem Sinne mehr über denjenigen, der sie erfindet, als über die sogenannte objektive Wirklichkeit. Erzählungen bestehen aus Worten, Worten, die alles Mögliche bedeuten können, die kein festes, rationales Verhältnis zu den Fakten haben.

Und ohne rationale Grundlage gerät der Mensch ins Treiben – so glaubt diese Ideologie. Die Großen Erzählungen gereichen gewöhnlich demjenigen zum Vorteil, der sie erfindet – man denke an die Ablässe des Klerus und die Pöstchen

der Politiker. Wir sollten das nicht zu leicht nehmen. Letztlich führen sie zu himmelschreiendem Machtmissbrauch und grotesken Gräueln. Die rituell verbrannten Witwen in Indien und die ertränkten Hexen in Europa sind nur einige stille Zeugen aus einer endlosen Reihe. So geriet die Gesellschaft in der Vergangenheit vom Regen in die Traufe: Erzählungen – Subjektivität – Irrationalität – himmelschreiendes Unrecht – absurde Gräuel.

In dieser Hinsicht bietet die Coronakrise unerwartet ein window of opportunity für diese Ideologie: Die Unsicherheit und die Angst vor dem Virus schufen die Basis, um eine Gesellschaft zu verwirklichen, in der Entscheidungen auf der Grundlage von Zahlen getroffen werden. Jetzt betrifft das noch »einfache« Zahlen über Infektionen, Hospitalisierungen und Todesfälle, aber in Zukunft könnten hochtechnologische, biometrische Daten hinzukommen, die nahezu jeden Aspekt der körperlichen Funktionen exakt erfassen. Im Gegensatz zu Worten bilden Zahlen eine objektive Basis, um transparente und rationale Entscheidungen zu treffen. Als solche sind sie ein Gegengift zu Machtmissbrauch und absurden Gräueln. Und darüber hinaus bieten sie die Gelegenheit, durch Präventivmedizin menschliches Leiden auf ein Minimum zu reduzieren. Dies ist der Weg zur rationalen Gesellschaft der Zukunft: Zahlen – Objektivität – Rationalität – Korrektheit – Minimierung von Leiden. Corona könnte also buchstäblich die Krone des Werks der Menschheit werden. So ungefähr lautet … die Erzählung.

Abbildung 1

Betrachten wir Abbildung 1. Wenn man die Länge der Küste Großbritanniens mit einer Messeinheit von 200 km misst, dann ist sie 2400 km lang; misst man mit einer Einheit von 50 km, ist sie 3400 km lang. Je kleiner die Messeinheit, desto länger die Küste Großbritanniens; das steigert sich bis ins Unendliche. Der brillante Mathematiker Benoît Mandelbrot zeigte so auf einfache und anschauliche Weise, dass Messungen immer relativ sind, abhängig von einer Reihe subjektiver Entscheidungen, die der Messende trifft, wie die Wahl einer bestimmten Messeinheit. ²

Und selbst wenn Messungen an sich als korrekt und quasi objektiv betrachtet werden können (wie z. B. das Messen der Länge streng eindimensionaler Objekte oder das Zählen von Mitgliedern diskreter Kategorien), bleibt immer noch ein wichtiger subjektiver Faktor auf der Ebene von deren Interpretation. Ein Beispiel, das in der Statistik als Simpson-Paradoxon ³ bekannt ist, soll dies illustrieren. Die Zahlen in Tabelle 1 repräsentieren die Zahl der wegen Mordes verhängten Todesstrafen in Florida, getrennt nach weißen und schwarzen Tätern. Die Schlussfolgerung scheint eindeutig: Weiße werden häufiger zum Tode verurteilt als schwarze Täter. Für die Forscher, die diese Zahlen untersuchten, stand fest, dass das Vorurteil, Schwarze würden benachteiligt, nicht stimmen könne – bis ein Statistiker dieselben Zahlen leicht anders präsentierte. Er unterschied nicht nur die Hautfarbe der Täter in Weiß und Schwarz, sondern auch die der Opfer (siehe Tabelle 2) und kam auf diese Weise zu einem gegenteiligen Ergebnis: Schwarze erhalten häufiger die Todesstrafe, wenn sie einen Weißen ermorden, als Weiße, wenn sie einen Schwarzen ermorden. Und auch hier haben wir wieder die Neigung, uns sicher zu sein und zu glauben, dass dies die endgültige Analyse sei, aber die Zahlen können zweifellos auch noch anders dargestellt werden und würden dann wiederum zu einem anderen Ergebnis führen.

Tabelle 1:

Tabelle 2:

Zahlen haben einen einzigartigen psychologischen Effekt. Sie erschaffen eine quasi unwiderstehliche Illusion von Objektivität, eine Illusion, die zudem noch verstärkt wird, wenn Zahlen anhand von Grafiken als visuelle Formen dargestellt werden. Wer Zahlen sieht, glaubt Objekte oder Fakten zu sehen. Und diese Illusion macht den Menschen blind für die dennoch evidente Tatsache, dass Zahlen immer relativ und mehrdeutig sind, dass sie aus einer ideologisch und subjektiv gefärbten Erzählung heraus konstruiert und produziert werden. Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen nur den Fakten treu zu sein, aber bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sie sich sklavisch jeder Erzählung anpassen.

In Kapitel 1 sahen wir, dass die Krise, die 2005 in den Wissenschaften ausbrach – die sogenannte Replikationskrise –, im Grunde nie gelöst wurde. Wissenschaft hatte auch danach, und bis heute, mit einer Epidemie von Fehlern, Nachlässigkeiten, forcierten Schlussfolgerungen und Betrug zu kämpfen. Die Coronakrise war in gewissem Sinne eigentlich einfach eine Fortsetzung dieser Krise, aber diesmal fand das Schauspiel nicht innerhalb der akademischen Welt statt, sondern in aller Öffentlichkeit. Vor den Augen der Bevölkerung, in den Massenmedien, spielten sich alle Probleme ab, die ein Jahrzehnt zuvor in der Replikationskrise zutage getreten waren. Viele Menschen konnten ihren Augen und Ohren kaum trauen, als sie miterlebten, wie Wissenschaftler sich selbst und einander widersprachen, Rechen- und Zählfehler machten, die nicht einmal normale Menschen machen würden, launisch ihre Meinung änderten, sich in ihren wissenschaftlichen Äußerungen deutlich von finanziellen Interessen leiten ließen, ja, wie manche Wissenschaftler sogar öffentlich zugaben, dass sie die Bevölkerung bewusst getäuscht hatten.

Zahlen spielten dabei eine entscheidende Rolle. Im Prinzip ging es in der Coronakrise um das Beziffern relativ einfacher Phänomene, wie beispielsweise die Zahl der Infektionen, Krankenhausaufnahmen und Todesfälle. Und dennoch war für jeden, der es sehen wollte, klar, dass die Zahlen alles andere als sonderlich »objektiv« waren. Die Zahl der Infektionen wurde in der Regel anhand der PCR-Tests bestimmt, was nicht unproblematisch war. ⁴ Der PCRTest wurde entwickelt, um herauszufinden, ob RNA-Sequenzen eines Virus im

Körper vorhanden sind oder nicht. Diese RNA-Sequenzen können von einem lebenden, virulenten Virus, aber auch von einem toten Virus stammen. Menschen können dadurch Monate nach einer Infektion (und somit lange nach der Phase, in der sie ansteckend sind) immer noch positiv getestet werden. Und das war nur eine der (vielen) Grenzen dieses Tests.

Auch die Entwicklung der Inzidenzen auf der Grundlage der Anzahl positiver Tests zu schätzen erwies sich als sehr problematisch. Die Experten, die in den Medien über den (geschätzten) Verlauf der Infektionszahlen berichteten, weigerten sich zum Beispiel hartnäckig, ihre Statistiken und Grafiken um die Zahl der durchgeführten Tests zu korrigieren (technisch ausgedrückt: Man vermeldete die absolute Anzahl positiver Tests statt der Positivitätsrate). Der Virologe und ehemalige Rektor der Universität Lüttich Bernard Rentier erhielt im Sommer 2020 nach langem Tauziehen Einsicht in die Rohdaten über die sogenannte Sommerwelle der Coronainfektionen (die damals noch zweite Welle genannt wurde). Er unterzog sie einer kritischen Analyse und kam zu dem Ergebnis, dass die geschätzte Zahl der Infektionen nach Korrektur um die Zahl der durchgeführten Tests zwischen 20- und 70-(!)mal niedriger war als die Schätzungen, die in den Medien vermeldet wurden. ⁵ Und wer glaubte, dass man solche Fehler nur einmal machen würde, der sah sich getäuscht. Im Sommer 2021 wiederholte sich das Ganze. Zwar wurde nun hier und da auch mal die Positivitätsrate erwähnt, aber im Wesentlichen beruhten die Berichte über eine Sommerwelle doch wieder auf Grafiken, die die absoluten Infektionszahlen darstellten.

Die Hospitalisierungszahlen erwiesen sich ebenfalls als außerordentlich relativ. Während der Krise wurde jeder Patient, der bei Aufnahme in ein Krankenhaus positiv getestet wurde, als COVID-19-Patient betrachtet, ganz gleich, ob er sich mit COVID-19-Symptomen oder beispielsweise einem gebrochenen Bein angemeldet hatte. Die schottische Regierung beschloss zu einem bestimmten Zeitpunkt, anders zu zählen und nur noch diejenigen als Coronapatienten zu registrieren, die positiv getestet wurden und sich mit den typischen COVID-19Symptomen vorstellten. Bei dieser Zählweise blieben noch 13 % der ursprünglichen Zahl von COVID-19-Patienten übrig.

Und das war nicht der einzige Faktor, der die Zahl der Aufnahmen verzerrte. Jeroen Bossaert von der belgischen Tageszeitung Het Laatste Nieuws präsentierte im Frühjahr 2021 eines der wenigen Beispiele für gründlichen Investigativjournalismus in der Coronakrise. Er deckte auf, dass Krankenhäuser und andere Pflegeeinrichtungen aus einem Streben nach finanzieller Optimierung die Zahl der Todesfälle und COVID-19-Hospitalisierungen künstlich erhöht hatten. ⁷ An sich ist das nicht verwunderlich, derartige Methoden werden in Krankenhäusern schon lange angewandt. Was uns aber doch erstaunen lässt, ist die Tatsache, dass man sich in der Coronakrise weigerte zuzugeben, dass Gewinnmotive eine Rolle spielten und Einfluss auf die Zahlen hatten. Der komplette Gesundheitssektor wurde plötzlich heiliggesprochen. Und das obwohl zuvor allgemein über die ökonomische Logik geklagt worden war, aus der heraus das Gesundheitswesen und Big Pharma organisiert wurden (vgl. z. B. Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität von Peter Gøtzsche ⁸).

Auch die Zahlen zu den Todesfällen – vielleicht die elementarste Variable in dieser Krise – waren alles andere als eindeutig. Ungefähr 95 % der registrierten Coronatoten hatten eine oder mehrere Vorerkrankungen. Auf der Internetseite der amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention konnte man sehen, dass kaum 6 % der offiziellen Todesfälle übrig bleiben, wenn man nur die Menschen zählt, bei denen COVID-19 die einzige Erkrankung war, an der sie zu ihrem Todeszeitpunkt litten. Hinzu kommt, dass die Coronaopfer meist hochbetagt waren, in Belgien während der ersten Welle im Durchschnitt 83 Jahre und damit sogar ein paar Monate älter als die mittlere Lebenserwartung. Es ist eine gute Frage: Wie bestimmt man, wer an Corona stirbt? Wenn jemand im gesegneten Alter mit labiler Gesundheit »das Coronavirus bekommt« und stirbt, stirbt er dann an diesem Virus? Ist der letzte Tropfen mehr für das Überlaufen des Fasses verantwortlich als der erste?

Die Basiszahlen in der Coronakrise sind also keine objektiven Daten, sie werden auf der Grundlage einer Reihe von subjektiven Annahmen und Vereinbarungen konstruiert. Und abhängig davon, wie diese Vereinbarungen getroffen werden, unterscheiden sich die Zahlen leicht um einen Faktor 15 oder gar 20. In diesem

»Wald der Subjektivität« folgt jeder, bewusst oder unbewusst, den eigenen Vorurteilen, und man greift sich meist die Zahlen heraus, die die eigenen subjektiven Überzeugungen bestätigen. Manche schließen daher aus den Daten, dass wir es mit einem Problem vom Ausmaß der Spanischen Grippe zu tun hätten, andere, dass es keinen Grund zur Aufregung gebe. Und diese beiden gegensätzlichen Meinungen lassen sich bei Bedarf jeweils mit »objektiven Zahlen« untermauern.

Die Zahlen der dominanten Coronaerzählung neigen dazu, die Gefährlichkeit des Virus (stark) zu überschätzen. Und diese Neigung finden wir auch in den epidemiologischen Modellen wieder, auf denen die dominante Erzählung beruht. Die Entscheidung für die Lockdown-Strategie wurde vor allem auf der Grundlage der Modelle des Imperial College in London getroffen. Diese Modelle sagten bis Ende Mai 2020 weltweit 40 Millionen Tote voraus, wenn keine weitreichenden Maßnahmen ergriffen würden, um die Pandemie einzudämmen. Verschiedene renommierte Forscher – wie z. B. Michael Levitt, Chemie-Nobelpreisträger, und John Ioannidis, eine Koryphäe der medizinischen Statistik – protestierten nachdrücklich. Sie wiesen darauf hin, dass die Modelle des Imperial College auf falschen Annahmen beruhten und dazu führten, die Gefährlichkeit des Virus stark zu überschätzen.

Ende Mai 2020 zeigte sich unwiderleglich, dass diese Kritiker recht hatten. In keinem einzigen der Länder, ob sie nun in den Lockdown gingen oder nicht, wurden auch nur annähernd so viele Tote gezählt, wie die Modelle prophezeit hatten. Schweden ist in dieser Hinsicht vielleicht das interessanteste Beispiel. Dieses Land sollte den Modellen des Imperial College zufolge Ende Mai 80 000 Tote zu beklagen haben, wenn es nicht in den Lockdown ging. Es waren jedoch kaum 6000. Und um auf diese Zahl zu kommen, bedurfte es noch der oben beschriebenen »enthusiastischen« Zählmethoden.

Das Interessanteste an dieser Frage ist: Rein logisch würde man erwarten, dass die öffentliche Erzählung und die Maßnahmen korrigiert (in diesem Fall also deutlich gemildert) werden würden, wenn sich zweifelsfrei herausstellt, dass die

Modelle, auf denen sie beruhen, grundfalsch sind. Doch weit gefehlt! Es änderte sich nichts. Aus irgendeinem Grund reagierte die Gesellschaft weiterhin genauso krampfhaft, als ob sie ein dringendes psychologisches Bedürfnis danach hätte. In Kapitel 6 werden wir dieses psychologische Phänomen genauer betrachten.

Die begrenzte Validität der Basisdaten in der Coronakrise – der Infektions-, Hospitalisierungs- und Todeszahlen – hat direkte Konsequenzen für die anderen epidemiologischen Statistiken. Die Infection Fatality Rate, die Case Fatality Rate, die Mortalität, die Positivitätsrate und die Reproduktionszahl – sie alle beruhen auf diesen Basisdaten. Wenn diese Zahlen um einen Faktor 20 variieren, dann variieren die darauf beruhenden Statistiken um denselben Faktor. Mit anderen Worten: Der epidemiologisch-statistische Diskurs klingt hochwissenschaftlich und sieht beeindruckend aus mit seinen Akronymen, Berechnungen bis vier Stellen hinter dem Komma und mathematischen Modellierungen des Verlaufs der Pandemie, ist aber vor allem eine eindrucksvolle Demonstration von Scheinexaktheit und Pseudoobjektivität.

Manche werden sicher einwenden, dass man die Zahlen doch nicht endlos relativieren könne. In einigen Punkten seien sie zugegebenermaßen vielleicht diskussionswürdig, aber es gebe doch auch Dinge, an denen kein Zweifel besteht, Dinge, die die Gefahr des Virus und den Sinn der Maßnahmen eindeutig beweisen.

Sind beispielsweise die Intensivstationen denn nicht tatsächlich mit Coronapatienten überlastet? Das stimmt. Aber wie wir diese Tatsache interpretieren müssen, ist eine andere Frage. Die Überlastung der Intensivstationen scheint weniger ein Indikator für die außergewöhnliche Gefährlichkeit des Coronavirus zu sein als vielmehr die Folge der Kombination zweier Tendenzen während der letzten Jahrzehnte: 1. ein starker Anstieg des Bevölkerungsanteils, der anfällig für die Entwicklung ernster Symptome bei viralen Lungenerkrankungen ist (insbesondere durch die Zunahme von Übergewicht und Diabetes), und 2. der systematische Abbau von Intensivbetten. Die steigende Linie der Zahl der Risikopatienten und die fallende Linie der Zahl

der Intensivbetten mussten einander unvermeidlich kreuzen. Und das taten sie eigentlich schon lange vor der Coronakrise. Zu Überlastungen der Intensivstationen kam es beispielsweise auch bei Grippeepidemien in früheren Jahren. Auch damals mussten andere Behandlungen bereits verschoben werden.

Die Überlastung der Krankenhäuser kann demnach als Beweis für die Gefährlichkeit des Virus interpretiert werden, aber ebenso gut als Symptom einer falschen Politik (progressiver Abbau von Krankenhausbetten), als Folge einer schlechten Allgemeingesundheit (Übergewicht und Diabetes)⁷ oder als Folge der Maßnahmen (Zustrom ängstlicher Menschen, Zunahme psychosomatischer Beschwerden usw.). Abhängig von der Interpretation ergeben sich unterschiedliche Vorgehensweisen.

Und noch etwas ist bemerkenswert: Während die begrenzte Kapazität der Intensivstationen die erste und wichtigste Rechtfertigung für die drastischen und in wirtschaftlicher und psychologischer Hinsicht auch sehr destruktiven Maßnahmen war, wurden während der ganzen Krise keine neuen Intensivbetten geschaffen. Ja, es wurde nicht einmal der Versuch unternommen, das zu tun. Genau wie Individuen ziehen offenbar auch Gesellschaften einen gewissen Krankheitsgewinn aus ihren psychologischen Symptomen, weshalb sie diese aufrechterhalten.

Auch die schweren Lungensymptome, mit denen COVID-19 bei manchen Patienten einhergeht, sind ein Faktor, der jeder Diskussion über Zahlen Einhalt zu gebieten scheint. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass diese Symptome real sind. Aber die Frage, wie viel stärker sie ausgeprägt sind im Vergleich zu einer normalen Grippe, ist ebenfalls schwieriger zu beantworten, als man denkt. Bei Grippepatienten wurden kaum Lungenscans durchgeführt, insofern ist der Vergleich nicht einfach. Und wenn er doch gemacht wird, führt das mitunter zu überraschenden Resultaten. Ende 2020 erschien eine Studie, die die seltenen Lungenscans von Grippepatienten mit den Lungenscans von COVID-19-Patienten verglichen hatte.⁷¹ Das Ergebnis war, dass es keinen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Reihen von Lungenscans gab.

Ob diese Studie ein korrektes Bild skizziert, ist nicht sicher. Seit der Replikationskrise (siehe Kapitel 1) wissen wir, dass wir nicht ohne Weiteres davon ausgehen können. Und dass das Coronavirus sich besonders negativ auf die Lunge auswirkt, ist aufgrund der Zeugnisse von Pflegepersonal und Patienten durchaus wahrscheinlich.

Der dritte Faktor, der gewöhnlich als unerschütterlicher Beweis für den Ernst des Coronavirus betrachtet wird, ist die Übersterblichkeit. Die Zahlen zu Infektionsfällen, Krankenhausaufnahmen und Coronatoten mögen vielleicht subjektiv sein, aber am Ende können wir ja überprüfen, ob die Sterblichkeit in der Coronakrise höher war als in anderen Zeiträumen. Auch hier sieht man jedoch über die den Zahlen immanente Subjektivität hinweg. Wie die Genter Psychologin und Statistikerin Els Ooms zeigte, kann Übersterblichkeit auf unterschiedlichste Weise berechnet werden.⁷² Allein schon die Bestimmung der Referenzperiode (des Zeitraums, mit dem man die Sterblichkeit während der Krise vergleicht), kann zu substanziellen Unterschieden in der Bestimmung der Übersterblichkeit führen.

Und nachdem man die Zahlen zur Übersterblichkeit ermittelt hat, kommt eine noch viel schwierigere Aufgabe: deren Interpretation. Übersterblichkeit ist nicht notwendigerweise ein Indikator für die Mortalität des Virus. Sie kann auch eine Folge der Kollateralschäden der Maßnahmen (sinkende Immunität, aufgeschobene Behandlungen, psychische Leiden, Armut, Hunger usw.) sein oder womöglich gar der Mortalität der Behandlung. Beispielsweise sind 2020 allein in niederländischen Seniorenheimen vermutlich Tausende alte Menschen durch Einsamkeit und Vernachlässigung während der Lockdowns gestorben.⁷³ Und eine deutsche Studie suggerierte, dass die hohe Mortalität auf Intensivstationen während der ersten Welle etwa zur Hälfte den massenhaften Intubationen (Beatmungen) zuzuschreiben gewesen sei.⁷⁴ Ob die Zahlen so stimmen, ist schwer zu sagen, aber es steht fest, dass diese Behandlung wegen ihrer Kontraproduktivität ab Mitte 2020 nicht mehr angewandt wurde. Es ist eine gute Frage: Wie tödlich würde das Virus aussehen, wenn die Sterbegrafiken um diese Faktoren korrigiert würden?

Das ist vielleicht die unbequemste Wahrheit in dieser Krise: dass wir das Unheil, das so lang und breit in den Medien dramatisiert wurde, in erheblichem Maße selbst über uns heraufbeschworen haben, dass die Therapie selbst die Ursache eines Großteils der Misere war. Ganz am Anfang der Coronakrise, im März 2020, schrieb ich bereits in einem Meinungsbeitrag, dass Angst meist nur bis zu einem gewissen Grade realen Gefahren entspringt, dafür aber reale Gefahren erschafft.⁷⁵ Die radikale Isolation alter Menschen und die Anwendung invasiver Beatmungsmethoden bei Intensivpatienten könnten gute Beispiele dafür sein.

Die Impfkampagnen gehören möglicherweise in dieselbe Reihe. Auf der ganzen Welt ging man dazu über, Impfstoffe zu verabreichen, die nur begrenzt untersucht worden waren oder deren Wirkungen man doch zumindest viel weniger gründlich und lange erforscht hatte als bei anderen Impfstoffen. Auch auf diesem Gebiet sieht man, dass die Zahlen viele Fragen aufwerfen, sowohl hinsichtlich der Wirksamkeit der Impfstoffe als auch hinsichtlich ihrer Nebenwirkungen. In der dominanten Erzählung wird ein überwiegend positives Bild gezeichnet, aber aus dem enormen Zustrom von Zahlenmaterial könnte man ebenso gut eine Auswahl treffen, die ein negatives Bild zeichnet. Wer hat in den Medien etwas von der Studie der Universität Harvard gehört, die in Bezug auf den Verlauf der Pandemie keine Unterschiede zwischen Ländern mit hoher und niedriger Impfquote feststellen konnte?⁷ Wer hat in den Medien etwas über die Studie erfahren, die herausfand, dass die Zahl der Fehlgeburten bei geimpften Schwangeren achtmal höher ist als normal?⁷⁷ Ob diese Studien ein zutreffendes Bild zeichnen, wissen wir nicht genau. Aber das wissen wir auch nicht bei den Zahlen, die in den Medien erscheinen und das dominante Coronanarrativ bestätigen. Erzählungen machen die Zahlen, eher als Zahlen die Erzählungen. Darum geht es hier.

Damit sind wir bei einem anderen Schwachpunkt des zahlenmäßigen Herangehens in der Coronakrise angelangt: Es ließ die Kollateralschäden der Maßnahmen – immerhin ein entscheidender Faktor – größtenteils außer Betracht. Es wurden kaum Daten und Statistiken über die Zahl der Opfer von aufgeschobenen Behandlungen, Selbstmord, Impfung, zunehmendem Hunger und der Zerrüttung von Ökonomien präsentiert. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass vom Anfang der Krise an regelmäßig wissenschaftliche

Artikel⁷⁸ und Pressemitteilungen erschienen, die auf die Risiken hinwiesen. So warnten Oxfam⁷ , die WHO⁸ und die UNO⁸¹ bereits zu Beginn des ersten Lockdowns, dass die Zahl der Hungertoten in Entwicklungsländern infolge von Lockdowns wahrscheinlich höher sein würde als die der Opfer, die das Virus selbst im schlimmstmöglichen Szenario fordern würde, wenn man keinerlei Maßnahmen treffen würde.

Dieselbe merkwürdige Außerachtlassung war auf der Ebene der mathematischen Modelle zu beobachten, die konstruiert wurden, um den Verlauf der Krise zu simulieren. Zu keinem Zeitpunkt wurde ein mathematisches Modell entworfen, in dem neben den möglichen Opfern des Virus auch die möglichen Opfer der Maßnahmen erfasst wurden. Als Experten, die solche Modelle konstruiert hatten, bei einer Anhörung vor dem britischen House of Commons gefragt wurden, warum sie die Kollateralschäden der Maßnahmen nicht berücksichtigt hätten, antworteten sie – entwaffnend ehrlich –, dass dies außerhalb ihrer Expertise als Epidemiologen liege. Es sei nicht ihre Aufgabe, die Kollateralschäden zu beziffern und auf diese hinzuweisen.⁸² Wir erkennen hier nicht nur die Grenzen des Experten- und Spezialistenmodells, wir stoßen auch auf eine äußerst merkwürdige psychische Blindheit. Eine ganze Gesellschaft kann also tatsächlich arglos über die zweifellos elementarste Frage bei der Behandlung welchen Gesundheitsproblems auch immer hinweggehen: Sind wir sicher, dass die Therapie nicht schlimmer ist als die Krankheit? In Kapitel 6 werden wir sehen, dass diese Verengung des Aufmerksamkeitsbereichs eine Auswirkung des gesellschaftlich-psychologischen Prozesses der Massenbildung ist.

Auch der Evaluierung der Wirksamkeit der drakonischen Maßnahmen wurde merkwürdig wenig Beachtung geschenkt. Und sofern dies doch geschah, unterstrich es vor allem die Botschaft dieses Kapitels, nämlich dass die Interpretation von Zahlen alles andere als eindeutig ist. Der Fall Schwedens – des Landes, das sich im Gegensatz zu fast allen anderen westeuropäischen Ländern entschied, nicht in den Lockdown zu gehen, und das auch generell mildere Maßnahmen ergriff – illustriert dies vielleicht am besten. Zuerst verglich man in den Medien die Zahl der Todesfälle in Schweden mit Ländern wie Belgien und den Niederlanden. Schweden hatte weniger Opfer zu beklagen; also schloss man, dass strenge Maßnahmen sinnlos seien. Dann begann man

Schweden mehr und mehr mit seinen Nachbarländern Norwegen und Finnland zu vergleichen in der Annahme, dass diese beiden Länder die »normalen« strengeren Maßnahmen eingeführt hätten. In Schweden gab es mehr als doppelt so viele Todesopfer, woraus man folgerte, die strengen Maßnahmen seien doch sinnvoll. Darauf erschien eine Studie, die argumentierte, man habe die Maßnahmen in Norwegen und Finnland falsch eingeschätzt: Sie seien eigentlich noch milder als die in Schweden.⁸³ Und so ging das Pendel wieder in die andere Richtung: Strenge Maßnahmen bringen am Ende doch nichts. Ob das der letzte Schluss sein wird, ist noch die Frage. Sicher ist aber, dass die Zahlen sich auch hier geschmeidig und leichtfüßig den gegensätzlichsten Erzählungen anpassen.

Der Vergleich zwischen den verschiedenen amerikanischen Bundesstaaten stellt uns vor dasselbe Problem. Vergleiche hinsichtlich des Verlaufs der Pandemie und der absoluten Zahlen der Coronatoten zeigen kaum einen Unterschied zwischen den 25 Bundesstaaten, die maximale, und den 25 Bundesstaaten, die minimale Maßnahmen ergriffen haben, während ein etwa zur selben Zeit durchgeführter Vergleich zwischen den zehn (in Bezug auf die Maßnahmen) strengsten und den zehn mildesten Staaten wiederum doch einen Unterschied zugunsten der strengeren Staaten ergab. Die in den Medien präsentierte Erzählung interpretiert die Zahlen auch bei solchen Vergleichen fröhlich in ihrem Sinne. Wenn ein Land, das wenige Maßnahmen verhängt hat, wenige Opfer zählt, dann schreibt man das so gut wie immer einem externen Faktor zu (z. B. dem Klima oder der dünnen Besiedlung). Dieses Land hat dann Glück gehabt. Wenn ein Land, das strenge Maßnahmen verhängt hat, viele Opfer zählt, dann liegt das auch an externen Faktoren. Dieses Land hat dann Pech gehabt, es wurde außergewöhnlich schwer vom Virus getroffen. Aber wenn ein Land, das wenige Maßnahmen verhängt hat, viele Opfer zu beklagen hat, dann ist es seine eigene Schuld. Es hätte eben mehr Maßnahmen verhängen müssen! Und wenn ein Land, das strenge Maßnahmen verhängt hat, wenige Todesopfer meldet, dann erntet es die Früchte seiner Tatkraft. Mit anderen Worten: Wie es auch ausgeht, in der dominanten Erzählung hat die dominante Erzählung immer recht.

Neben Vergleichen zwischen Ländern gibt es auch verschiedene Analysen, die die Reaktion der Infektionskurven auf die Einführung verschiedener Maßnahmen untersuchen (z. B. Beginn der Maskenpflicht, Beginn des Social

Distancing, Inkrafttreten von Lockdowns, Ausrollen von Impfkampagnen). Wenn solche Analysen von Vertretern des dominanten Narrativs präsentiert werden, zeigen sie in der Regel, dass die Kurve prompt auf die Maßnahmen reagiert und nach deren Einführung nach unten geht. Wenn jedoch die gleichen Analysen von einem coronakritischen Wissenschaftler durchgeführt werden, kommt dieser für gewöhnlich triumphierend zu dem Ergebnis, dass sich die Kurve nicht um die Maßnahmen schert.

Vielleicht gilt dies alles ja für Coronazahlen in den Medien, aber nicht für die Zahlen in renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften? Leider doch. Ob es nun um die Herkunft des Virus geht (Fledermaus oder Labor), die Wirksamkeit von Hydroxychloroquin, die (Neben-)Wirkungen von Impfstoffen, den Nutzen von Masken, die Validität der PCR-Tests, die Rolle von Kindern und Schulen bei der Verbreitung des Virus oder die Effektivität des schwedischen Herangehens – wissenschaftliche Studien führen zu den gegensätzlichsten Ergebnissen. Der deutsche Physiker Heisenberg bekam für seine Unschärferelation den Nobelpreis. Es ist nicht die Frage, lehrt sie uns, dass wir jetzt noch nicht sicher sind; der Punkt ist, dass wir nie sicher sein können. Aber wir wollen es nicht glauben. Wenn die Zahlen jetzt noch keine Gewissheit bringen, dann sammeln wir eben noch ein paar mehr. Und so starren wir als Gesellschaft auf die endlose Prozession von Zahlen und kommen in der Coronakrise nicht zum Kern der Sache: einer offenen Debatte über die verschiedenen subjektiven und ideologischen Bezugsrahmen, von denen aus wir die Zahlen interpretieren. Es sind die unausgesprochenen Spannungen, Ängste und Meinungsverschiedenheiten auf ideologischer Ebene, die dafür sorgen, dass die Zahlen nicht zur Ruhe kommen und sich die Gesellschaft darum herum polarisiert. Die Art von Fragen, die wir uns stellen müssen, ist die: Betrachten wir den Menschen als biochemische Maschine, die technologisch überwacht und pharmazeutisch justiert werden muss, oder als Wesen, das in mystischer Resonanz mit dem Anderen und mit der ewigen Formensprache der Natur seine Bestimmung findet?

Dieses Kapitel begann mit einer Reihe einfacher Beispiele, die einen naiven Glauben an die Objektivität von Zahlen entkräften. Das Beispiel der Vermessung der Grenzen Großbritanniens zeigt uns, dass Messungen immer relativ sind und

abhängig von der gebrauchten Messeinheit; das Simpson-Paradoxon demonstriert, dass sogar dieselben korrekten Zahlen zu gegensätzlichen Interpretationen führen können. Was für diese einfachen Zahlen gilt, gilt a fortiori für den wilden Tanz der Zahlen in der Coronakrise: Jeder kann Zahlen selektieren, die seinen eigenen Vorurteilen entsprechen, jeder kann sie so interpretieren, dass sie seine subjektive »ideologische Fiktion« bestätigen. Die quasi unwiderstehliche Illusion, dass Zahlen Fakten repräsentieren, führt zu der immer fester werdenden Überzeugung, die eigene Fiktion sei die Realität.

Die Zahlen sorgen dafür, dass wir uns in der Krise zu wenig bewusst machen, dass das, worauf wir reagieren, weniger die Fakten an sich sind als vielmehr Erzählungen, die um Fakten herum konstruiert werden. Diese Erzählungen werden von Pflegekräften konstruiert, die aufrichtig ihr Bestes geben, um zu helfen, von Menschen, die ihre Mitmenschen nicht leiden sehen wollen, von Politikern, die die richtigen Entscheidungen treffen wollen, von Akademikern, die möglichst objektive Informationen liefern wollen. Doch sie werden auch von Politikern konstruiert, die unter dem Druck der öffentlichen Meinung stehen und sich genötigt fühlen, tatkräftig aufzutreten, von Führern, die die Kontrolle über die Gesellschaft verloren hatten und nun durch das Virus die Zügel wieder in die Hand bekommen können, von Experten, die ihre Unwissenheit verbergen müssen und die Flucht nach vorn wählen, von Akademikern, die eine Gelegenheit sehen, sich Geltung zu verschaffen, vom dem Menschen inhärenten Hang zu Hysterie und Dramatik, von Pharmaunternehmen, die eine goldene Chance wittern, von Medien, die von Sensationsgeschichten leben, von Ideologien, die in einem technokratischen totalitären System die einzige Lösung für die scheinbar unlösbaren Probleme unserer Zeit sehen.

Der Einfluss der Subjektivität bei der Konstruktion und Interpretation von Zahlen ist so stark, dass sogar Wissenschaftler – deren Beruf es doch ist, objektiv zu sein – ihr zum Opfer fallen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Psychotherapieforschung war schon länger bekannt, dass die letztendlichen Resultate der Untersuchungen meist die subjektiven Vorlieben der betreffenden Forscher bestätigen. Ein Psychoanalytiker findet in der Regel, dass Psychoanalyse am effektivsten sei, ein Verhaltenstherapeut hält Verhaltenstherapie für die beste Methode, ein Systemtherapeut würde

Systemtherapie bevorzugen. Man nennt dies den Allegiance-Effekt, den Effekt der Loyalität des Forschers gegenüber einer bestimmten Theorie. Und um es deutlich zu sagen: Dieser Effekt tritt gleichermaßen in streng kontrollierter, experimenteller Forschung auf und auch in anderen Wissenschaftsbereichen, wie der Erforschung der Wirksamkeit von Medikamenten.

Das Interessanteste dabei ist, dass dieser Effekt sich größtenteils manifestiert, ohne dass es den Forschern bewusst ist. Wie Wanderer, die ohne Karte und Kompass unterwegs sind, laufen sie im Kreis und kommen genau dort wieder an, wo sie losgegangen sind: bei ihren eigenen subjektiven Vorurteilen. Das ist natürlich ein ernstes Problem, denn Sinn und Zweck der ganzen wissenschaftlichen Methode ist es doch gerade, objektiv zu urteilen und subjektive Vorlieben auszuschalten.

Wie ist es möglich, dass Forscher sich so selbst zum Opfer fallen? Die Erklärung liegt unter anderem darin: In jedem Untersuchungsverfahren müssen zahllose Entscheidungen getroffen werden, für die es keine rein logischen Gründe gibt. Welches Messinstrument verwende ich? Auf welche Weise interpretiere ich die Messungen? Wie gehe ich mit fehlenden Daten um? Und so weiter. In diesem Wald von Möglichkeiten wählen Wissenschaftler offenbar unbewusst Optionen, die dafür sorgen, dass die Studie Ergebnisse bringt, die ihnen wünschenswert erscheinen.

Der fanatische Glaube an die Objektivität von Messungen und Zahlen, der charakteristisch ist für die mechanistische Ideologie, ist nicht nur unbegründet, sondern er ist auch gefährlich. Es entsteht eine Art wechselseitige Verstärkung zwischen subjektiven Vorurteilen und Zahlen: Je stärker die Vorurteile, desto mehr selektiert man Zahlen, die die Vorurteile bestätigen. Und je mehr die Zahlen die Vorurteile bestätigen, desto stärker werden wiederum die Vorurteile. Auf die Coronakrise angewandt: Eine von Angst und Unbehagen durchdrungene Gesellschaft wählt aus dem Meer von Zahlen genau jene, die ihre Angst bestätigen, und diese Zahlen verstärken dann wiederum die Angst. So reagiert man letztendlich komplett disproportional mit allen sich daraus ergebenden

Folgen: auf ökonomischem Gebiet die Rezession und der Bankrott zahlloser Firmen und kleiner Gewerbetreibender, auf sozialem Gebiet eine bleibende Schädigung der (physischen) Bindung zwischen Menschen, auf psychologischem Gebiet noch mehr Angst und Depression und ja, auf körperlichem Gebiet, als Auswirkung des psychologischen und sozialen Stresszustands, ein Zusammenbruch der Immunität und der physischen Gesundheit (siehe Kapitel 10). Und wir dürfen noch hinzufügen: auf politischem Gebiet das Aufkommen des totalitären Staates. Denn wenn man der festen Meinung ist, dass die eigene subjektive Fiktion die Realität ist, hält man sie auch für der Fiktion von anderen überlegen und ist am Ende überzeugt, dass man sie diesen mit allen denkbaren – rhetorischen und anderen – Mitteln auferlegen könne.

Zu Beginn des Kapitels haben wir beschrieben, dass die mechanistische Ideologie eine technokratische Gesellschaft anstrebt, die auf der Grundlage »objektiver« zahlenmäßiger Informationen geführt wird und in der subjektive Vorlieben und Machtmissbrauch ausgeschaltet werden. Am Ende dieses Kapitels kommen wir jedoch zu dem Schluss, dass der naive Glaube an die Objektivität von Zahlen zum genauen Gegenteil führt. Die dominante Ideologie präsentiert in den Massenmedien immer wieder Zahlen, die ihr eigenes Narrativ bestätigen, und kreiert eine weitgehend fiktive Realität, an die ein großer Teil der Bevölkerung felsenfest glaubt. Die Realitätswahrnehmung wird wieder und wieder von Zahlen bestimmt, die sich ein paar Monate später als sehr relativ oder gar regelrecht falsch oder trügerisch erweisen. Unterdessen werden sie jedoch fortwährend dazu genutzt, die weitreichendsten Maßnahmen zu verhängen und alle Grundprinzipien der Menschlichkeit beiseitezuschieben: Alternative Stimmen werden von einem veritablen Wahrheitsministerium, bevölkert mit »Faktencheckern«, stigmatisiert, durch verschiedene Formen der (Selbst-)Zensur wird das Recht der freien Meinungsäußerung eingeschränkt, durch aufgezwungene Impfstrategien wird das Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten und findet eine zuvor undenkbare soziale Exklusion und Segregation statt.

Im Coronadiskurs erkennen wir so eine ganze Reihe von Merkmalen des Diskurstyps wieder, der zum Aufkommen der großen totalitären Regimes des 20.

Jahrhunderts führte: der inflationäre Gebrauch von Zahlen und Statistiken, die eine »bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen«⁸⁴ aufweisen, das Verwischen der Grenze zwischen Fakt und Fiktion,⁸⁵ eine fanatische ideologische Überzeugung, die Täuschung und Manipulation rechtfertigt und alle ethischen Grenzen übersteigt.⁸ Diese Merkmale werden wir in den Kapiteln 6 und 7 ausführlich beschreiben. Aber zunächst beschäftigen wir uns im folgenden Kapitel mit der gesellschaftlichen Situation, die dazu führt, dass eine Gesellschaft sich an jene durch Zahlen erzeugte Scheinsicherheit klammert, die wir gerade besprochen haben. Wir werden sehen, dass die Flucht in Scheinsicherheit eine logische Folge der psychologischen Unfähigkeit ist, mit Unsicherheit und Risiken umzugehen, einer Unfähigkeit, die sich schon seit Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten in unserer Gesellschaft aufgebaut hat.

KAPITEL 5

DIE SEHNSUCHT NACH EINEM MEISTER

Nachdem wir gezeigt haben, wie Wissenschaft sich von Offenheit des Geistes in Dogma und Überzeugung verkehrte (Kapitel 1), wie ihre praktischen Anwendungen die Menschen voneinander und von der Natur isolieren (Kapitel 2), wie ihr utopisches Streben nach einem künstlichen und rational kontrollierbaren Universum einer Zerstörung der Essenz des Lebens gleichkommt (Kapitel 3) und wie ihr Glaube an Objektivität und Messbarkeit der Welt zu absurder Willkür und Subjektivität führt (Kapitel 4), beschäftigen wir uns nun mit dem Schicksal einer anderen großen Ambition der Wissenschaft: den Menschen von seinen Ängsten und Unsicherheiten und von moralischen Geboten und Verboten zu befreien.

Der religiöse Diskurs verdunkelte die menschliche Seele jahrhundertelang mit irrationaler Angst vor Hölle und Verdammnis. Er stellte Leiden und Krankheit als Strafe Gottes dar, betrachtete körperlichen Verfall als etwas, womit man sich abfinden müsse, vergällte fleischlichen Genuss durch das Stigma der Sünde, erstickte das Zusammenleben durch harsche Gebote und Verbote.

Irgendwann im 17. Jahrhundert erschien der Stern des menschlichen Verstandes am Firmament. Der Mensch richtete den Blick nach außen – weder Gott noch Teufel zeigten sich seinem rationalen Auge. Die Angst, die der religiöse Diskurs einflößte, wurde für unbegründet erklärt; man sah keinen Grund mehr, den sozialen Kontrakt, den der Klerus der Gesellschaft aufzwängte, zu akzeptieren. Der Mensch erforschte die ihn umgebende Welt, studierte den menschlichen Körper und die Ursachen für Krankheit und Leiden. Die Lage des Menschen musste nicht hingenommen werden – sie musste verbessert werden. Drei Jahrhunderte lang herrschte ein energischer Optimismus vor – mit der Kraft des

menschlichen Verstandes würde man das menschliche Dasein angenehm gestalten und Krankheit und Leiden heilen.

Die Gebote und Verbote von einst wurden für überflüssig erklärt; man brauchte sie nicht, um die Gesellschaft in gute Bahnen zu lenken. Eine immer lockerere Moral sollte den Menschen letztendlich mit den fleischlichen Lüsten versöhnen, die früher als Bedrohung erfahren worden waren. Die erstickende Zensur von allem, was im Widerspruch zum religiösen Diskurs stand, verschwand. Freie Meinungsäußerung wurde zu einem Grundrecht, Bildung allgemein zugänglich, jeder erhielt das Recht auf juristischen Beistand, die Liebe wurde befreit von der Pflicht, zu heiraten und Kinder zu bekommen, die Sexualität wurde rehabilitiert und ihre Verbannung an den Ort der Sünde und des Verderbens aufgehoben.

Doch auf irgendeine Weise verkehrte sich dieser Prozess in sein Gegenteil. Die Idealisierung des menschlichen Verstandes führte letztlich eher zu einer Intensivierung der Angst vor Krankheit und Leiden, die zwischenmenschlichen Beziehungen wurden immer mehr von Unsicherheit und Verwirrung geprägt. Die alten Gebote und Verbote wurden schließlich durch ein Wirrwarr von Regeln und Regelchen und eine hyperstrenge Moral ersetzt. Wie ist das alles psychologisch zu verstehen?

Wie sehr das Wissen über die mechanistischen Aspekte des menschlichen Körpers auch zunahm und wie viel Geld auch für das Gesundheitswesen ausgegeben wurde (in westeuropäischen Ländern können es schnell 10 % des Bruttosozialprodukts sein), die Angst vor Krankheit und Leiden verschwand keineswegs. Die Schlagzeilen der letzten Jahre lassen keinen Zweifel daran bestehen: Jugendliche mit dem Moped in die Schule fahren zu lassen ist unverantwortlich,⁸⁷ vom Baden in Flüssen oder Teichen bei warmem Wetter ist wegen drohender bakterieller Infektionen abzuraten,⁸⁸ von Oralsex kann man Kehlkopfkrebs bekommen,⁸ einander die Hand zu schütteln ist zu gefährlich, da Viren übertragen werden könnten, ja, selbst neben einem Raucher zu sitzen, der nicht raucht, kann gesundheitsschädlich sein. ¹ Das ist nur eine kleine Auswahl aus dem endlosen Strom von Medienberichten, die illustrieren, wie sehr das Leben des Menschen im 21. Jahrhundert von der Angst vor körperlichem Ungemach beherrscht wird.

Leiden ist – per definitionem – nicht angenehm, aber fest steht, dass es Zeiten gegeben hat, da der Mensch es besser ertragen konnte. Als Jesuiten im 17. Jahrhundert die unbekehrbaren Ureinwohner Nordamerikas mithilfe des Scheiterhaufens doch vom Christentum zu überzeugen versuchten, merkten sie zu ihrer großen Enttäuschung, dass diese keineswegs beeindruckt waren. Im Laufe der Zeit schlugen die Eingeborenen sogar selbst andere, viel schmerzhaftere Foltermethoden vor. »Warum immer nur der Scheiterhaufen?«, fragten sie die Missionare. ²

Nicht nur der Gedanke an physisches Leiden wurde unerträglicher, der Mensch ertrug Risiken überhaupt immer schlechter. Der Versicherungswahn, der in den letzten Jahrhunderten um sich griff, zeigt das vielleicht am besten. Es begann verdienstvoll mit der sukzessiven Einführung und Institutionalisierung von Unfall- und Feuerversicherungen im 19. und 20. Jahrhundert, weitete sich aus auf Lebens-, Krankenhaus-, Reise- und Rücktrittsversicherungen und endete mit Versicherungen für nahezu alles. Heute werden nicht nur Bäume, Pflanzen, Hunde und Katzen, ³ sondern auch die Beine von Cristiano Ronaldo, das Hinterteil von Jennifer Lopez, die Brüste von Taylor Swift, das Lächeln von

Julia Roberts und das Sperma von David Lee Roth ⁴ für Millionen von Euro gegen Schaden versichert. Ganz zu schweigen von den Versicherungen gegen Liebeskummer, Meteoriteneinschläge, von Geistern und Gespenstern verursachte Schäden sowie Entführung durch Außerirdische. ⁵ Und so verwundert es auch nicht, dass man heutzutage sogar seine Versicherung versichern lassen kann (bei Lloyds in London zum Beispiel).

Der krampfhafte Versuch, jedes Risiko zu vermeiden, fordert jedoch seinen Tribut. Und nicht nur den, der an die Versicherungsvertreter zu entrichten ist. Die medizinischen Maßnahmen, die das Leiden beheben sollten, werden mehr und mehr selbst zur Quelle von Übel. Der weitverbreitete Konsum von Psychopharmaka, Schmerzmitteln und anderen pharmazeutischen Produkten führte zu Millionen von Abhängigen und unzähligen Toten (man denke an die Beispiele aus Kapitel 2), das allgemeine Screening zur Früherkennung von Krebs und anderen Krankheiten ist nicht nur selbst schädlich, sondern sorgt auch für immer mehr überflüssige, schädliche Eingriffe (wie unnötige Brustamputationen und Chemotherapie mit ihren Nebenwirkungen). Hinzu kommt, dass die Präventivmedizin das Leben steril und unmenschlich zu machen droht. Die Coronapolitik ist ein gutes Beispiel dafür: Das manische Vermeiden von Infektionen führte zu einer unüberschaubaren Zunahme von Leid durch aufgeschobene Behandlungen, häusliche Gewalt, psychische Zerrüttung und Hunger in der Dritten Welt. ⁷ Mit anderen Worten: Der krampfhafte Versuch, jede Gefahr zu vermeiden, ist paradoxerweise selbst sehr gefährlich geworden.

Die Auswirkungen des hartnäckigen Hangs zur Kontrolle gehen weit über den fatalen Einfluss auf unsere physische Gesundheit hinaus. Auch die Freiheiten und Rechte des Individuums werden dadurch schwer beeinträchtigt. Der weltweite »Krieg gegen den Terror« führte zu Beginn des 21. Jahrhunderts beispielsweise zu einer massiven Verletzung der Privatsphäre der Bevölkerung. Insofern passte er in ein in den letzten Jahrhunderten stetig zunehmendes Bestreben, »gefährliche Elemente« in der Gesellschaft zu kontrollieren und zu isolieren. Die Tradition der Aufklärung führte – entgegen ihrer bewussten Intention – zu dem, was Foucault »le grand renfermement« (»die große Einsperrung«) nannte: ⁸ Immer mehr »gefährliche« Gruppen werden eingesperrt.

Im 19. Jahrhundert betraf es »nur« psychiatrische Patienten, Prostituierte und Kriminelle; im 21. Jahrhundert betrifft es alles und jeden. Die Tiere werden in Käfige gepfercht wegen der Vogelgrippe, die komplette Weltbevölkerung bekommt Hausarrest wegen des Coronavirus. Mensch und Tier – potenzielle Krankheitsüberträger – sind zu gefährlich füreinander, um sie frei herumlaufen zu lassen.

Das Wachsen von Angst und Unsicherheit in der Gesellschaft führt zu zwei weiteren psychologischen Phänomenen: Narzissmus und etwas, das ich »Regeldrang« nenne. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, brauchen wir wieder ein wenig (Entwicklungs-)Psychologie. Zunächst wollen wir den Zusammenhang zwischen menschlicher Unsicherheit und Narzissmus betrachten.

In Kapitel 3, in dem es um den Unterschied zwischen digitalen und »realen« Gesprächen ging, haben wir beschrieben, wie das Kind über den Austausch früher (Körper-)Sprache symbiotisch mit der Mutter resoniert und so das Urverlangen nach Verschmelzung mit dem Anderen verwirklicht. Und doch hat dieses frühe Paradies ein Manko. In gewissem Sinne existiert das Kind dort kaum als autonomes psychisches Wesen. In den ersten Lebensmonaten, bevor es sich im Spiegel erkennt, kann ein Kind sich kein mental-visuelles Bild seines eigenen Körpers machen. Dadurch weiß es nicht, wo sein Körper aufhört und wo die es umgebende Welt beginnt; und so lokalisiert es seine Wahrnehmungen nicht nur in seinem eigenen Körper, sondern ebenso in den Menschen und Objekten um es herum (Animismus). Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Wenn das Kind eine Spritze in den Arm bekommt, schaut es nicht speziell auf seinen Arm, weil ihm nicht bewusst ist, dass sich die Schmerzempfindung an dieser Stelle befindet. Und das Umgekehrte gilt auch: Das Kind spürt die Wahrnehmungen von anderen direkt in seinem eigenen Körper. Wenn es zum Beispiel sieht, wie jemand geschlagen wird, erscheint dieselbe Grimasse auf seinem Gesicht, und es weint, als ob es selbst geschlagen würde (Transitivismus).

In dieser symbiotischen, aber auch chaotischen Erfahrungssuppe muss das Kind mental erfassen, was den Kern seiner Existenz ausmacht: Es muss durch Interaktionen mit der Mutterfigur herausfinden, was es tun soll, um sich ihrer Fürsorge und Nähe zu versichern. In diesem Punkt ist es interessant, den Vergleich zu einem jungen Tier zu ziehen. Auch junge (Säuge-)Tiere sind abhängig von ihrem Muttertier und versuchen, sich seiner Fürsorge zu versichern. Allerdings gibt es dabei einen entscheidenden psychologischen Unterschied zum Menschenkind, einen Unterschied, der sich auf der Ebene des Kommunikationssystems befindet.

Ein Tier stellt die Bindung zu einem anderen Tier durch den Austausch von Zeichen her. Die Zeichen – typische Schreie, Körperhaltungen, Bewegungen usw. – stehen in einem festen Zusammenhang mit demjenigen, worauf sie verweisen. Das eine Zeichen verweist auf Gefahr, das andere sagt, dass Futter naht, wieder ein anderes deutet auf sexuelle Verfügbarkeit, Untertänigkeit oder Dominanz. Ob ein tierisches Zeichensystem nun einfach oder komplex ist, ob dessen Kenntnis nun angeboren ist oder über einen Lernprozess von Generation zu Generation weitergegeben wird, die Zeichen werden im Allgemeinen als eindeutig und »selbstverständlich« erfahren. Ihr Austausch kann unter bestimmten Umständen heftige Auseinandersetzungen hervorrufen – man denke zum Beispiel an den Kampf zwischen männlichen Stichlingen, wenn ihr roter Bauch anzeigt, dass sie sich fortpflanzen wollen –, aber er wird in der Regel nicht zu hartnäckigem Zweifel oder Unsicherheit führen.

Beim Menschen ist das anders. Menschliche Kommunikation ist von Unklarheiten, Missverständnissen und Zweifel geprägt. Das hängt damit zusammen, dass die Zeichen – oder genauer gesagt: die Symbole – der menschlichen Sprache abhängig vom Kontext auf eine unendliche Zahl von Dingen verweisen können. Das Lautbild Son zum Beispiel verweist in der Lautfolge Sonnenschein auf etwas ganz anderes als in der Lautfolge Sonderling. Jedes Wort bekommt also erst durch ein anderes Wort (oder eine Reihe von anderen Wörtern) eine Bedeutung. Und dieses andere Wort braucht wiederum auch ein anderes Wort, um eine Bedeutung zu bekommen. Und so weiter bis ins Unendliche – es fehlt immer ein anderes Wort, um die Bedeutung von Wörtern definitiv festzulegen. Sprache als rationales System – als System, in dem

Wörtern gesetzmäßig Bedeutungen zugeordnet werden – hat also einen immanenten, unbehebbaren Mangel. Selbst die Versicherung-der-Versicherung kann den Menschen nicht von seiner sprachlichen Unsicherheit erlösen.

Das hat direkte Folgen für den Austausch zwischen Menschen. Der Mensch kann seine Botschaft nie eindeutig übermitteln, und der Andere kann nie deren definitive Bedeutung bestimmen. Und es geht sogar noch weiter: Der Mensch kennt auch seine eigene Botschaft nicht. Er weiß nie genau, was er sagen will, einfach weil sein internes mentales System – seine Gedanken – ebenfalls mit Worten arbeitet und auch auf dieser Ebene also immer ein Wort fehlt. Deshalb muss er so oft nach Worten suchen, ringt er so oft mit der Unfähigkeit, das auszudrücken, was er sagen will, hat er so oft das Gefühl, etwas zu sagen, das er eigentlich nicht sagen wollte, oder etwas genau anders gemeint zu haben. Von all dem keine Spur bei Tieren: Ihr kommunikatives Verhalten kennt dieses Stocken und Zögern nicht.

Wir haben die Neigung zu denken, dass Menschen sich von Tieren durch ein größeres Bewusstsein und größeres Wissen unterscheiden; der charakteristischste Unterschied besteht jedoch vielmehr darin, dass sie im Gegensatz zu Tieren ständig von einem Mangel an Wissen geplagt werden. Die zentralen Fragen in einem Menschenleben, jene, die sich auf seine Position im Verlangen des Anderen beziehen, erhalten daher nie eine definitive Antwort. Was denkt der Andere über mich? Mag er mich? Findet er mich attraktiv? Bedeute ich ihr etwas? Was erwartet der Andere von mir? Was verlangt er von mir? Um diese Fragen kreist letztlich jede menschliche Begegnung und darüber hinaus die gesamte menschliche Existenz. Nichts davon bei Tieren: Man wird ein Tier nie auf einem Sofa über den Sinn des Lebens grübeln sehen oder darüber, was es einem anderen Tier bedeutet.

Diese Unbestimmtheit der menschlichen Symbolwelt zeigt sich erstaunlicherweise schon ganz am Anfang des Menschenlebens, zu einem Zeitpunkt, da die Sprache noch äußerst rudimentär ist und noch nicht auf Objekte verweist. Der große französische Entwicklungspsychologe Henri

Wallon notierte, dass man im Gesicht von Kindern, die mit ihren Betreuungspersonen interagieren, von Beginn an etwas sieht, das man bei keinem einzigen anderen Lebewesen beobachtet. Wenn ein neugeborenes Kind die Gesichtsausdrücke der Mutter fixiert und imitiert, spielt schon ein subtiler Anflug von Frage auf seinem Gesicht, als ob es selbst in diesem frühesten Stadium seiner Existenz bereits mit etwas konfrontiert würde, das in der Formensprache des Anderen fehlt.

Ein Menschenkind befindet sich also, im Gegensatz zu einem Jungtier, in einer quälenden Unsicherheit über die Botschaften seiner Mutter. Und das macht es schwierig, mentale Kontrolle über sie zu erlangen. Was will sie von mir? Was muss ich tun, um mich ihrer Anwesenheit zu versichern? Wie undifferenziert das mentale System in diesem Moment auch sein mag, diese Fragen spielen durchaus bereits in den frühesten Lebensmonaten eine Rolle. Das erklärt eines der erstaunlichsten Phänomene, das in der Entwicklung eines Kindes zu beobachten ist. Mit etwa sechs bis neun Monaten erkennt ein Kind sich selbst zum ersten Mal im Spiegel, typischerweise während die Mutter begeistert auf das Spiegelbild zeigt. Das an sich ist nicht einzigartig für Menschen – auch Delfine und höhere Affenarten sind dazu problemlos imstande. Aber wie schon Charles Darwin notierte, geht das Erkennen bei einem Menschenkind mit etwas einher, das bei keinem anderen Lebewesen vorkommt: Das Kind jubelt vor Freude.

Was macht dieses Erkennen im Spiegel so lustvoll für das Kind, während es andere Lebewesen vollkommen gleichgültig lässt? Die Erklärung ist einfach im Licht des oben erläuterten Unterschieds zwischen menschlichen und tierischen Kommunikationssystemen: Im Gegensatz zum Tier leidet das Menschenkind unter einer ständigen Spannung infolge der ewigen Ungreifbarkeit der Symbolwelt, in die es von seinen ersten Momenten an eingetaucht worden war. Und das vor allem in Bezug auf die zentralste Frage: Was will meine Mutter von mir? Diese Spannung fällt mit einem Schlag von ihm ab, wenn es dort im Spiegel, vor seinen Augen, ein Bild sieht, mit dem es zusammenfällt und auf das die Mutter voller Begeisterung zeigt. Dieses Bild sagt ihm mit einem Mal, wer es ist und sein muss, um das Objekt des Verlangens der Mutter sein zu können. Dieses Bild im Spiegel scheint, plötzlich und in aller Konkretheit, eine Antwort

zu bieten, die Sprache nie bieten kann, und ein Gefühl triumphierender »Makellosigkeit« zu erwecken: Ich bin Es für den Anderen. Diese Erfahrung ist der Archetyp der narzisstischen Erfahrung. Sie ist so überwältigend, dass manche sie im späteren Leben obsessiv zu wiederholen suchen in dem Bemühen, die Konfrontation mit dem Defizit und der Unsicherheit in den menschlichen Beziehungen zu vermeiden.

Doch diese Erfahrung fordert auch einen Tribut, und zwar sowohl auf der Ebene der Beziehungen als auch auf der Ebene des Subjekts selbst. Um das Wiederauftauchen der zugrunde liegenden Unsicherheit zu verhindern, muss es einen aggressiven, rivalisierenden Kampf mit jedem anderen aufnehmen, dem die Mutter (oder ein späteres Liebesobjekt) ebenfalls Aufmerksamkeit schenkt: Nur einer kann das Objekt der Mutter sein. Je mehr der Mensch versucht, seine Unsicherheit durch die Identifikation mit dem Spiegelbild zu bezwingen, desto mehr muss er andere also übertreffen, erniedrigen oder gar vernichten – kurz, desto mehr büßt er an Menschlichkeit ein.

Die Entmenschlichung wird noch dadurch verstärkt, dass die Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild das Einfühlungsvermögen verringert. Durch das Erkennen verfügt das Kind zum ersten Mal über ein visuelles Gesamtbild seines Körpers (oder ein Substitut davon bei blinden Kindern), und es kann zum ersten Mal – buchstäblich – eine Linie/Grenze um seinen eigenen Körper ziehen. Bis zu einem gewissen Grade ist das notwendig, um eine stabile Ego-Struktur aufzubauen. Bei übermäßigem Narzissmus jedoch wird die mental-visuelle Grenze zwischen dem Subjekt und dem Anderen so dick und prononciert, dass das Subjekt, wiederum buchstäblich, mental in diesem Selbstbild eingeschlossen wird. Das visuelle Selbstbild zieht dann die psychische Energie und Aufmerksamkeit dermaßen an sich, dass das Bild des Anderen in der mentalen Erfahrung nicht mehr »aufleuchtet«. Man kann sich daher auch nicht mehr in den Anderen und die Welt »einfühlen« oder einleben. Mit anderen Worten: (Exzessiver) Narzissmus geht auf Kosten des Einfühlungsvermögens. Er vermindert die Fähigkeit, mit anderen und der Welt zu resonieren, er isoliert und vereinsamt ein Subjekt.

Übermäßiges Investieren in das Spiegelbild ist also eine Überkompensation der Unsicherheit, die die menschliche Sprache in den zwischenmenschlichen Beziehungen hervorruft. Aber diese Lösung ist in extremis immer eine Scheinlösung. Man versucht, sich über das Spiegelbild der Symbiose mit dem Anderen zu versichern, endet jedoch in psychischer Isolation und der Zerstörung des Anderen. Und auch in Selbstzerstörung. Man stellt sich das am besten konkret-visuell vor: Alle Energie, die im Menschen steckt, wird von der äußeren Hülle absorbiert und aus dem Inneren des Systems gesaugt. Menschen, die stark um äußeren Schein bemüht sind, sagen in einer Psychotherapie nicht zufällig häufig, dass sie sich leer fühlen.

In den letzten Jahrzehnten sehen wir, dass parallel zu der oben besprochenen Zunahme von Angst und Unsicherheit auch der Narzissmus zunimmt. Es ist ein Klischee geworden, zu behaupten, dass unsere Gesellschaft sich immer mehr an einem äußeren Idealbild orientiert, aber da ist unleugbar auch etwas dran. Die Zahl chirurgischer Eingriffe, die den Körper in Richtung eines solchen Ideals korrigieren, nimmt allmählich überhand; der Konsum von Steroid- und Proteincocktails, um die Körpermaschine auf ein visuelles Idealbild zu trimmen, stieg in den letzten Jahrzehnten spektakulär; das Erstellen von Selfies gehört zum eingebürgerten Repertoire (a)sozialen Verhaltens; Häuser und Gärten gleichen mehr und mehr eingefrorenen Fotos aus Architekturmagazinen; Werbespots und -tafeln präsentieren permanent stilisierte visuelle Idealbilder von Autos, Frisuren und Kleidung etc. Im Grunde läuft dieser Trend darauf hinaus, immer mehr auf imaginär-visuelle Scheinlösungen zu setzen in dem Versuch, die unüberwindbaren Unsicherheiten auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen doch zu überwinden. Und gleichzeitig beobachten wir – logischerweise – auch eine starke Zunahme der psychologischen Phänomene, die mit der exzessiven Investition in das äußere Idealbild verbunden sind: Erfahrungen von Einsamkeit und innerer Leere sowie das Gefühl, von einem erschöpfenden Wettbewerb mit anderen verzehrt zu werden (das sogenannte Rattenrennen in der heutigen Gesellschaft).

Neben Narzissmus gibt es noch ein zweites gesellschaftliches Phänomen, das direkt an das Wachsen von Angst und Unsicherheit gekoppelt ist: die enorme Zunahme der Zahl der Regeln, im Volksmund mitunter »Regulitis« genannt.

Dieser Regeldrang lässt sich zunächst ganz einfach in die oben begonnene entwicklungspsychologische Argumentationslinie einordnen.

Das Erkennen seines Spiegelbilds sorgt dafür, dass das Kind sein eigenes Wesen (seinen Körper) psychisch von der es umgebenden Welt abgrenzen kann. Eigentlich erst in diesem Moment beginnen für das Kind tatsächlich einzelne externe Objekte zu existieren. Und das führt dazu, dass sich die Funktion der Sprache verändert. Die Wörter fangen nun an, auf diese externen Objekte zu verweisen (d. h., sie erhalten eine referenzielle Funktion) und bekommen damit auch eine Bedeutung. Zuvor war das kaum der Fall gewesen. Die Äußerungen des Kindes waren vor allem physische, triebhafte »Handlungen« gewesen, die körperlichen Empfindungen Ausdruck verliehen und dazu dienten, eine symbiotische Resonanz mit dem Anderen herzustellen.

In dem Moment, da Wörter Bedeutung bekommen, wird auch das Verhältnis zum Anderen auf eine neue Ebene gehoben. Das Kind versucht nun obsessiv, die Wörter zu verstehen, die der Andere benutzt, um seine Wünsche zu äußern. Was bedeutet es genau, »brav« zu sein? Was muss ich tun, um »ein tapferes Mädchen« zu sein? Es will, einfach gesagt, die Regeln kennen, die es befolgen muss, um geliebt zu werden. In bestimmten Momenten nimmt das die Form eines wahren Regeldrangs an – wie gut eine Regel auch definiert ist, sie ist immer noch zu unklar, und es entsteht unvermeidlich das Bedürfnis nach zusätzlichen Erklärungen. Und da die Wörter, mit denen die Regeln formuliert werden, nur durch andere Wörter Bedeutung bekommen, fragt das Kind sich eigentlich bei jedem Wort, was es bedeutet.

Mit etwa dreieinhalb Jahren kulminiert die Obsession für die Bedeutung von Wörtern in der sogenannten Warum-Phase. Ein Kind fragt die Erwachsenen in seiner Umgebung dann pausenlos »Warum?«. »Warum ist das ein Esel?« »Weil er iah schreit.« »Warum schreit er iah?« »Weil er böse ist.« »Warum ist er böse?« usw. Das Kind sieht die Eltern in dieser Phase als allwissende Meister an, und obwohl es sich mitunter mit äußerster Trotzigkeit gegen den Zustand des Unterworfenseins widersetzt, verlangt es von den Eltern auch, dass sie diese

Position einnehmen. Sie müssen alles wissen. Wenn die Eltern nicht definieren können, was sie wollen, weiß das Kind auch nicht, was es tun soll, um ihren Wünschen zu entsprechen. Das ist der Punkt, an dem es mit der menschlichen Urunsicherheit konfrontiert und von der menschlichen Urangst befallen wird: vom Anderen (in erster Linie der Mutter) zurückgelassen zu werden, weil es nicht geliebt wird.

Die Bemühungen des Kindes, die Regeln eindeutig und schlüssig zu machen, sind zum Scheitern verurteilt, da, wie wir oben erläutert haben, die Wörter der menschlichen Sprache nie eine definitive Bedeutung bekommen können. Je hartnäckiger das Kind durch das Befragen der Eltern versucht, die Regeln eindeutig zu machen, desto mehr verliert es sich unvermeidlich in endlos komplexen und widersprüchlichen Bedeutungszuschreibungen. Bei Kindern mit einer zwanghaften Struktur ist das sehr ausgeprägt mit der Folge, dass sie in einer nahezu kompletten Verkrampfung enden, verstrickt in einem endlosen Streben nach mentaler Perfektion, in dem sie sich immer mehr festfahren. Wir werden im Weiteren sehen, dass Kinder, wenn sie schließlich akzeptieren, dass es die definitive Antwort auf die Frage nach dem Gewünschten nicht gibt, von ihrem Regeldrang erlöst werden.

Dieses entwicklungspsychologische Schema lässt sich nahtlos auf die gesellschaftliche Ebene übertragen. Es ist nicht zu übersehen, dass sich auch die Gesellschaft immer mehr in endlosen Wucherungen von Regeln festfährt. Diese Regeln werden einerseits von der Regierung auferlegt, andererseits wird aber auch in der Bevölkerung selbst der Ruf nach mehr Regeln – nach einer hyperstrengen Moral – laut. Genau wie Narzissmus ist das eigentlich ein krampfhafter Versuch, die starke Zunahme von Angst und Unsicherheit in den menschlichen Beziehungen einzudämmen. Dies wollen wir genauer betrachten.

Es ist in der Tat ein auffallendes Phänomen: Aus dem Bauch der Aufklärungsgesellschaft erhebt sich seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts eine neue Moral, die sich in verschiedener Hinsicht als strenger, launischer, irrationaler und scheinheiliger erweist als die religiöse Moral, von der die

Aufklärung den Menschen erlösen wollte. Mit dem Aufkommen der WokeKultur wurde die Gesellschaft einem impliziten und expliziten Regelwerk unterworfen, das jedes Detail des menschlichen Austauschs heikel machte. Im Gefolge der #MeToo-Affäre wurde Studenten beigebracht, wie sie legal und regelkonform flirten können, wurden für Studententaufen immer strengere Regeln festgelegt,¹ führte Schweden ein Gesetz ein, das besagt, dass Sex nur noch legal ist, wenn die beteiligten Parteien vorab mittels eines unterzeichneten Vertrags ihre Zustimmung geben,¹ ¹ durften Nacktfiguren auf den Gemälden flämischer Meister nicht mehr in den sozialen Medien gepostet werden¹ ² und führte Netflix eine Regel ein, die bestimmt, dass Augenkontakt zwischen Mitarbeitern nicht länger als fünf Sekunden dauern darf und dass diese einander nicht um ihre Telefonnummern bitten dürfen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, darum bitten zu dürfen(!).¹ ³ Die neue Norm ist sogar so scharf eingestellt, dass schon das Suggerieren, es gebe einen körperlichen Unterschied zwischen Mann und Frau, als Verletzung der sexuellen Integrität erfahren wird.¹ ⁴

Auch die Black-Lives-Matter-Bewegung trug ihren Teil dazu bei. Unter ihrem Einfluss verstärkte sich die zuvor schon bestehende Tendenz zu immer schärferen Normen in Bezug auf Rassismus: Eine Folge von Monty Python, in der das Wort Nigger auf humoristische Weise gebraucht wird, musste aus dem Netz genommen werden; Statuen von Personen, die direkt oder indirekt mit Kolonialismus assoziiert werden, müssen vom Sockel geholt werden; ein Kind, das Lieder über Zwarte Piet singt, ist ein zukünftiger Rassist usw. Die Chance, dass die narzisstische Destruktivität gegenüber Menschen mit einem anderen Äußeren sich durch solche Regeln überwinden lässt, ist gering.

Mit der Klimabewegung entstand eine neue Kategorie von Kriminalität: Umweltverbrechen. Holzöfen zu heizen, Fleischmahlzeiten zu sich zu nehmen und in der Natur zu wohnen fallen in diese Kategorie (siehe auch Kapitel 3). Die Umweltideologie verkehrte sich so in das Gegenteil dessen, wonach sie ursprünglich gestrebt hatte – »Zurück zur Natur«. Und was ihre Strenge angeht, erweist sie sich als eher selektiv und inkonsistent. Zum Beispiel ist sie in ihrer Obsession, den ökologischen Fußabdruck zu vermindern, erstaunlich milde gegenüber dem Energieverbrauch durch Internetnutzung (der genauso hoch ist

wie der für den gesamten Flugverkehr zusammen) und das »Schürfen« virtueller Währungen (der Energieverbrauch von Bitcoins ist allein schon so groß wie der eines durchschnittlichen westeuropäischen Landes). Und auch die Umweltschäden, die der Abbau von Erzen für Batterien von Elektroautos verursacht, werden selten ins Visier genommen. Die Umweltbewegung war ursprünglich eine dissidente Stimme, aber mit ihrer Wendung zum »Ökomodernismus« hat sie sich klar in die dominante, mechanistische Ideologie eingefügt.

Der Regeldrang ist auch im öffentlichen Raum direkt sichtbar. Von meinem Büro in der Universität schaue ich auf eine große Kreuzung, und ich konnte beobachten, wie sich diese Kreuzung in einem Zeitraum von zwanzig Jahren verwandelt hat: von einer Asphaltfläche mit ein paar spärlichen weißen Linien in ein Mosaik von Linien und farbigen Flächen, die anzeigen, wo Radfahrer, Fußgänger und Autos sich bewegen dürfen oder auch nicht, umgeben von einem Wald von Verkehrszeichen und Ampeln mit immer mehr Aufbauten. Und es hört nicht bei Kreuzungen auf. In Bahnhöfen muss man ein Ticket lösen, um Zugang zu den Toiletten zu bekommen, zeigen gelbe Vierecke an, wo Raucher ihrer gefährlichen Sucht frönen dürfen, und wer sein Auto parkt, darf dies nur brav innerhalb der markierten Parkflächen und für eine bestimmte und bezahlte Dauer tun. In der Coronakrise erreichte dieses Phänomen seinen vorläufigen Höhepunkt – mit einem schier unendlichen Spektrum von Pfeilen, die angeben, wo man in welche Richtung zu laufen hat, Schildern, die darauf hinweisen, dass ein Mund-Nasen-Schutz vorgeschrieben ist, Boxen aus Absperrgittern, die verhindern, dass bei Festivals und Kulturveranstaltungen die eine Blase mit der anderen in Berührung kommt, roten und grünen Punkten auf Stühlen, die anzeigen, wo man im Theater sitzen darf und wo nicht. Der Moment, an dem die Regeln abgeschafft werden können, wird endlos hinausgezögert oder auch nie kommen, wenn es nach den Vertretern der derzeitigen Herangehensweise geht. Denn werden ein paar Hunderttauend Tote durch ein »normales« Grippevirus nicht Grund genug sein, in Zukunft ähnliche Maßnahmen zu verhängen?

Der Wirrwarr von Regeln, die angesichts der vielfältigen Bedrohungen aktiviert werden, wechselt zudem von Ort zu Ort. In der Coronakrise können Bürgermeister die Vorschriften in ihrem Zuständigkeitsgebiet nach eigenem

Ermessen anpassen. Und die Regeln ändern sich auch im Laufe der Zeit. Bei Unwetter, Terrorismus und Viren schaltet man flott zwischen den Alarmstufen Grün, Gelb, Orange oder Rot hin und her. Auf die Dauer werden die Regeln oft so »detaillistisch«, dass man sich nur noch darüber ärgern oder totlachen kann: Im Sommer 2020 war auf Hochzeiten zwar ein Eröffnungstanz erlaubt, aber keine Polonaise.¹ ⁵ Das Coronavirus kennt sich offenbar mit Tänzen aus. Die Übersicht über die Regeln zu behalten wird immer mehr zu einer unmöglichen Aufgabe, die die verantwortlichen Behörden selbst in einen Zustand hoffnungsloser Verwirrung bringt. Auf der Website des belgischen Gesundheitsministeriums war während des zweiten Lockdowns 2020 zu einem bestimmten Zeitpunkt zu lesen, dass es getrennt lebenden Partnern erlaubt sei, einander zu besuchen, die Polizei dafür jedoch ein Bußgeld verhängen könne (sic!).

Es ist vollkommen legitim, dass die Neue Moral die genannten Probleme anprangert. Sexismus und Rassismus sind Symptome eines Kulturverfalls, der Mensch muss für die Natur Sorge tragen, und Solidarität mit Corona- und anderen Opfern ist ein Zeichen der Menschlichkeit. Doch die vorgeschlagenen Lösungen sind deshalb noch lange nicht legitim. Sie sind in vielerlei Hinsicht maßlos, inkonsistent und kontraproduktiv. Im MeToo-Diskurs verschwimmen die Grenzen zwischen ungeschicktem Flirten und Vergewaltigung; im BlackLives-Matter-Diskurs wird jeder Verweis auf die Hautfarbe ein Eiertanz; die Klimabewegung entfremdet den Menschen noch mehr von der Natur; in der Coronakrise wird Gesundheitsfürsorge zu einem Anschlag auf das Leben. Und die repressive Art der neuen Moral sorgt nach einem bekannten freudschen Schema für eine verstärkte Wiederkehr des Verdrängten: Zwischen 2015 und 2020 verdoppelte sich in den sozialen Medien sexistischer Sprachgebrauch, rassistischer und drohender Sprachgebrauch verdreifachten sich.¹ Wir nehmen das zur Kenntnis, wenn auch mit den Vorbehalten, die wir immer gegenüber Zahlen und Statistiken haben.

Die neue Moral wird auch immer aggressiver durchgesetzt, sowohl von der Regierung als auch von der Bevölkerung selbst. In einem alarmierenden Tempo hat der Rückhalt für freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, künstlerische Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung abgenommen. Joanne K. Rowling

wäre fast gelyncht worden, als sie sich abfällig über einen Pressebericht äußerte, der in bestem Woke-Stil von »people who menstruate« statt von »Frauen« sprach;¹ ⁷ deutsche Versicherer wollen ein Alkoholschloss in jedem Neuwagen;¹ ⁸ der Meinungschef der New York Times wurde entlassen, weil er einen Kommentar eines rechten Politikers zum Tod von George Floyd publiziert hatte;¹ eine Folge der legendären Serie Fawlty Towers wurde aus dem Netz genommen, weil darin das Wort niggers benutzt wurde;¹¹ Statuen von Personen, die auf irgendeine Weise mit Rassismus assoziiert werden konnten (wie unter anderem Kolumbus), wurden vom Sockel geholt;¹¹¹ in Australien wurde ein Mann offiziell zum Volksfeind Nummer eins erklärt und von Polizei und Armee gejagt, weil er nach einem positiven Coronatest seine Quarantäne nicht einhielt.¹¹²

Nun könnte man im Prinzip noch zweifeln, ob die oben skizzierten maßlosen, absurden und inkonsistenten Regeln typisch sind für die heutige Gesellschaft. Gab es früher wirklich weniger Regeln? Und waren die Regeln früher weniger absurd? Die 613 Gebote und Verbote des jüdischen Religionsgesetzes (der Halacha) existieren schon seit Tausenden von Jahren. Jeder Moment des Lebens orthodoxer Juden wird darin bis ins kleinste Detail Regeln unterworfen. Und die Juden sind selbst die Ersten, die zugeben, dass diese nicht immer logisch sind. Neben den Regeln, die durchaus nachvollziehbar sind (die Mischpatim), unterscheiden sie jene, die dazu dienen, das Band zwischen dem Menschen und dem Ewigen aufrechtzuerhalten, und die nicht logisch verständlich sind (die Chukim, worunter die Speisegesetze und die Beschneidung fallen). Aber auch bei den sogenannten primitiven Völkern gab es Regeln zuhauf. Die totemistischen Stammesgesellschaften kennen oft ein komplexes System von Umgangsregeln, Lebensregeln und Tabus, die das tägliche Leben in erheblichem Maße seiner Spontaneität berauben. Bestimmte Gegenstände wie Waffen und Kleidung dürfen in bestimmten Situationen nicht berührt werden, bestimmte Nahrung ist verboten (unter anderem das Fleisch des Totemtiers), bestimmte Fußspuren dürfen nicht verfolgt werden (bei den Eingeborenen von Leper Island zum Beispiel meiden Bruder und Schwester gegenseitig ihre Spuren) usw.¹¹³ Und im Gegensatz zu dem, was eine naiv-romantische Sicht auf tribale Gesellschaftsformen gern glaubt, kann in der Wildnis von freier Liebe und Sexualität keine Rede sein. Bei den australischen Aborigines zum Beispiel war ein Stamm in zwölf Clans unterteilt, und sowohl flüchtige als auch dauerhafte sexuelle Beziehungen waren nur mit Personen erlaubt, die drei speziellen

anderen Clans angehörten. Für einen Mann waren drei von vier Frauen also von vornherein tabu. Zuwiderhandlungen wurden mit nicht weniger als der Todesstrafe geahndet. Der Stamm der Ta-Ta-thi in New South Wales war etwas milder. Dort wurde nur der Mann getötet. Die Frau wurde »lediglich« geschlagen und auf einen Pfahl gespießt, bis sie fast tot war.¹¹⁴

Der Vergleich religiöser, primitiver und moderner Regelsysteme übersteigt den Rahmen dieses Buchs, aber es gibt zweifellos Unterschiede. Sowohl religiöse als auch primitive Regelsysteme waren zum Beispiel im Allgemeinen kategorisch und insofern klar. Und noch ein wichtiger Unterschied: Sie waren auch stabil. Die heutigen, modernen Regelsysteme sind das nicht. Sie ändern sich schnell und unvorhersehbar. Wenn man sich heute ein Auto kauft, kann es sein, dass man im nächsten Jahr damit nicht mehr in die Stadt fahren darf, weil es nicht die richtige Euronorm hat. Und die Regeln nehmen auch ständig an Umfang zu. So zeigen Daten beispielsweise, dass proportional immer mehr Zeit und Energie für die Formulierung, Einhaltung und Anwendung von Regeln aller Art aufgewendet werden muss. Auf politischer Ebene sehen wir, wie der Regeldrang, historisch betrachtet, durch eine stetige Zunahme bürokratischer Verwaltungsformen voranschritt, zuerst im Imperialismus des späten 19. Jahrhunderts (als logische Folge des Kolonialismus, der an sich dem Wesen nach noch nicht bürokratisch war), dann im rohen Banden-Totalitarismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Typ Nationalsozialismus und Stalinismus) und schließlich im aufkommenden technokratischen Totalitarismus vom Beginn des 21. Jahrhunderts. All diese Staatssysteme waren durch immer komplexere und immer absurder werdende Vorschriften gekennzeichnet.

Die wachsende Regulierung der Gesellschaft lässt sich an der spektakulären Zunahme von Verwaltungsjobs im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts ablesen. Zwischen 1840 und 2010 stieg die Zahl der Beschäftigten in Verwaltung, Management und Dienstleistung von 20 % auf 80 % aller Beschäftigten.¹¹⁵ Das Verwaltungspersonal an amerikanischen Universitäten hat sich in einem Zeitraum von dreißig Jahren mehr als verdoppelt.¹¹ Es ist übrigens nicht nur die Zahl der Verwaltungsjobs, die zunimmt, sondern auch die Zahl der Verwaltungsaufgaben überhaupt nimmt zu, selbst in Berufen, die von Natur aus wenig oder nichts mit Verwaltung zu tun haben. Ob es sich nun um

Ladenbesitzer, Landwirte oder Lehrkräfte handelt, sie alle sehen sich mit immer mehr Regeln konfrontiert und werden gezwungen, immer mehr Zeit für Verwaltung aufzuwenden.¹¹⁷

Der Regeldrang trägt in all seiner Maßlosigkeit und Absurdität erheblich zu den psychischen Problemen unserer Zeit bei. Die Widersprüchlichkeit und Unklarheit der Regeln führt zu einem neurotischen pawlowschen Effekt, und ihr exzessiver Charakter nimmt dem Leben die Befriedigung, Spontaneität und Freude. Die Zunahme der Regeln sorgt dafür, dass immer weniger Raum für subjektive Entscheidungen und Freiheit bleibt. Um ein Beispiel zu nennen: Auf den ersten Blick hat das Reißverschlussverfahren im Straßenverkehr nur Vorteile. Doch es gibt durchaus einen heimlichen und versteckten (psychologischen) Nachteil. Indem es gesetzlich vorgeschrieben wird, hört das Reißverschlussverfahren auf, eine subjektive Entscheidung zu sein, und die Situation, in der jemand einem anderen die Vorfahrt gewährt, ist nicht länger eine menschliche Begegnung. Der andere lässt einem nicht mehr die Vorfahrt, weil er es tun will, sondern weil er es tun muss. Es mag nebensächlich erscheinen, aber das ist es nicht. Es sind genau diese Momente menschlicher Begegnung, die das soziale Band von innen nähren. Ohne diese Momente schrumpft das soziale Gewebe, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Gesellschaft in eine lose Sammlung atomisierter Individuen zerfällt.

Wie erstickend das Übermaß an Regeln ist, fällt am meisten auf, wenn es plötzlich wegfällt. Wenn man zum Beispiel in einem kleinen französischen Dorf ankommt, wo es noch keine weißen Linien auf den Straßen gibt, die einem genau sagen, wo man fahren soll, und wo man noch einfach sein Auto am Straßenrand abstellen kann, ohne zu bezahlen und solange man möchte. Oder in einem ländlichen Bahnhof, wo man auf dem Parkplatz nicht an einem Parkscheinautomaten vorbeimuss, wo man die Toiletten frei benutzen darf und die Bahnsteige frei zugänglich sind. Es erinnert ein wenig an das Rauschen der Lüftung im Büro. Man merkt nicht, dass es einen belastet, aber wenn es um sechs Uhr plötzlich aufhört, überkommt einen eine selige Ruhe.

Die Überreglementierung ist Stück für Stück vorangeschritten, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, und sie übt auch ihren erstickenden Einfluss aus, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Jedes Mal, wenn die Regelmaschine schärfer gestellt wird, verschwindet etwas Raum für unsere Existenz als Subjekt. Auf diese Weise entsteht eine Art Teufelskreis: Um das Unbehagen und die Frustration im sozialen Raum einzudämmen, schaffen wir immer mehr Regeln, Protokolle und Verfahren. All diese Regeln sorgen dann wiederum für mehr Unbehagen und Frustration. Darauf reagieren wir mit noch mehr Regeln usw. Und je dichter das Regelgewebe wird, desto weniger Sauerstoff bekommt das menschliche Wesen. Wenn sich die Tendenz zu einer hyperregulierten Gesellschaft fortsetzt, dann ist ein exponentieller Anstieg der Zahl der Selbstmordversuche eine logische Folge. Die Suizidkapsel – ein Sarg, in dem man sich selbst mit Stickstoff schmerzlos vom Leben erlösen kann – ist in diesem Zusammenhang die letzte Konsequenz des mechanistischen Denkens.

Regeldrang, wie er sich in bürokratischen Verwaltungssystemen zeigt, versucht, soziale Interaktionen rational und logisch zu machen, indem er sie in feste Formen presst. In dieser Hinsicht ist der ideale Bürokrat mit einem Computer identisch: Er hält sich strikt an die Logik seines Systems, ohne sich »ablenken« zu lassen von der Eigenheit der Menschen, denen er »hilft«. Ein bürokratisches System erweckt daher genau dieselbe Frustration wie ein Computer: Wir werden darin mit einem maschinellen Gegenüber konfrontiert, das nicht im Geringsten für unsere Eigenheit als Mensch empfänglich ist. Ein Computer ist kein unehrliches oder ungerechtes Gegenüber; er ist ein Gegenüber, das einem eine knallharte Logik auferlegt. Er wird kein bisschen williger sein, nur weil in fünf Minuten unsere Versammlung anfängt und wir dringend noch einen Bericht ausdrucken müssen (computer says no). In dieser Hinsicht gleicht der Computer dem idealen totalitären Führer: dem Führer, der der Bevölkerung rücksichtslos seine Logik aufzwingt. Auch davon wird in Teil II dieses Buchs die Rede sein.

Narzissmus und Regeldrang sind also Scheinlösungen für die Unsicherheit und die Angst, die die Sprache in den menschlichen Beziehungen hervorruft. Sie führen zu sozialer Isolation und sind letztlich selbstzerstörerisch. Doch es gibt auch echte Lösungen. Wir kehren noch einmal zur Entwicklungspsychologie zurück.

Wir waren bei der Warum-Phase stehen geblieben, der Phase, in der ein Kind nicht aufhört, seine Eltern (und darüber hinaus mitunter alle Erwachsenen in seiner Umgebung) nach dem »Warum« zu fragen. Das Ergebnis dieser hartnäckigen Befragung der Eltern ist, dass das Kind schließlich etwas zu erspüren beginnt, das von entscheidender Bedeutung ist: Wenn es immer weiter »warum« fragt, müssen die Eltern schlussendlich die Begrenztheit ihres Wissens zugeben. In dieser Phase endet (bei den meisten Kindern) die Annahme, dass seine Eltern allwissend und allmächtig seien. Das ist, nach dem Erkennen des eigenen Spiegelbilds, die zweite große Revolution in der psychologischen Entwicklung.

Von nun an versteht das Kind intuitiv, dass auch seine großen Meister die Bedeutung der Wörter nicht gänzlich kennen und die Unsicherheit nie aufgehoben werden wird. An diesem Punkt gibt es zwei mögliche Reaktionen: Angst oder Kreativität. Soweit die Angst überwiegt, kann das Kind sich an Narzissmus und Regeldrang klammern. Doch die Einsicht in das Unvermeidliche führt auch zu einer anderen Erkenntnis: Da niemand die definitive Bedeutung der Wörter kennt – Was heißt »brav« sein? Was bedeutet es, ein »tapferes Mädchen« zu sein? usw. –, darf und muss ich ihnen selbst eine Auslegung geben. Das ist der Punkt, an dem das Kind sich vom Diskurs seiner Eltern emanzipieren und auf kreative Weise Individualität und Persönlichkeit entwickeln kann.

Einerseits muss das Kind seine Chance ergreifen und sich in dem so entstehenden Raum kreativ verwirklichen, andererseits spielen auch die Eltern eine wichtige Rolle in diesem Prozess. Sie können das Kind in seinen

Bemühungen, sein Leben nach und nach selbst zu gestalten und eigene Entscheidungen zu treffen, bestätigen und unterstützen. Oder sie können auf offene oder eher verdeckte Weise versuchen, ihren Status der Allwissenheit zu bewahren, und auch weiterhin die Lebensentscheidungen für das Kind treffen. Im ersten Fall wird der Weg zur Individualität für das Kind vermutlich reibungslos verlaufen, im zweiten Fall ist die Chance groß, dass er über Krisen und Abgründe führt. Was am Ende das originellste Resultat hervorbringt, ist schwer vorauszusagen.

Mit der Erkenntnis, dass auch der Diskurs der elterlichen Götter nicht ganz korrekt ist, sehen wir in der Entwicklung eine zarte Empfänglichkeit für einen Diskurs entstehen, der gar nicht die Absicht hat, vollkommen korrekt zu sein – Fiktion und Poesie. Das Kind ist in dieser Periode vor allem hungrig nach Geschichten über seine Eltern und Großeltern, Geschichten, die in ihrer Dichtung und Wahrheit dem Kind eine Grundlage für seine Identität verschaffen und ihm Prinzipien vermitteln, wie es sich verhalten soll (»Ein echter Spross unserer Familie ist höflich, arbeitet viel, isst und trinkt gern« usw.). Diese Prinzipien unterscheiden sich psychologisch radikal von den starren Regeln, die bis dahin galten: Es sind lockere Richtlinien, die in jeder neuen Situation, mit der das Kind konfrontiert wird, treu, aber flexibel befolgt werden. Diese Prinzipien sind es, die das Kind von dem wuchernden Regeldrang erlösen.

Die lockerere Handhabung von Sprache und Wörtern, nicht auf definitive Bedeutungszuweisung gerichtet, trägt die Fähigkeit in sich, etwas von der ungreifbaren Eigenheit des Kontexts mitschwingen zu lassen, in dem sich ein Kind befindet: eine Mutter, ein Vater, ein Elternpaar, eine Familie. Auf diese Weise findet das Kind, nachdem es den langen Umweg über das Erwerben eines Selbstbilds im Spiegelstadium und die Periode des erwachenden logischrationalen Denkens gemacht hat, in Geschichten und Poesie Echos und Gerüche des verlorenen Mutterparadieses seiner allerersten Lebensmonate wieder.

Die Schaffung von Individualität durch den Übergang von einem logischrationalen zu einem kreativen Sprachgebrauch ist also eine dritte mögliche

Reaktion auf die fundamentale Unsicherheit des menschlichen Daseins. Das ist nicht gleichzusetzen mit einem Verfallen in Irrationalität – darauf kommen wir ausführlich in Kapitel 9 zurück. Doch auch das bisher Gesagte zeigt bereits, dass dieser kreative Akt – im Gegensatz zu Narzissmus und Regeldrang – durchaus eine echte Lösung ist für die Unsicherheit, die den menschlichen Beziehungen und der menschlichen Existenz im Allgemeinen innewohnt. Sie verbindet den Menschen mit dem Anderen und führt zu Resonanz mit den (Liebes-)Objekten statt zu psychischer Isolation und (Selbst-) Destruktivität. Und zugleich verwirklicht sie auf kreative Weise auch Individualität und psychische Souveränität.

Kehren wir noch einmal zu den Fragen zurück, die wir uns am Anfang dieses Kapitels gestellt haben. Wie kommt es, dass die Aufklärungstradition zu mehr Angst und Unsicherheit führte und schließlich auch zu einer hyperstrengen Moral? Intendierte sie nicht ausdrücklich das Gegenteil? Das gerade skizzierte entwicklungspsychologische Schema macht die Antwort relativ einfach. Die Aufklärungstradition, die Ideologie der Vernunft, war ein hartnäckiger Versuch, das Leben in Logik und Theorien zu zwängen. Sie rückte alle Symbolik, Mystik, Fiktion und Poesie an die zweite Stelle – das komplette Register der Sprachformen also, das die Fähigkeit in sich trägt, auf die Unsicherheit des Lebens mit Kreativität und Individualität zu reagieren und Worte zu finden, die mit dem Anderen resonieren.

Unsicherheit verkehrte sich dadurch in Angst, und die einzigen verfügbaren psychologischen Mittel, um diese Angst zu bekämpfen, waren Narzissmus und ein endlos wuchernder Regeldiskurs. Vor allem Letzterer ist hier von Bedeutung. Je mehr das Subjekt die Angst und Unsicherheit durch Rationalität und Regeln zu überwinden versucht, desto mehr wird es mit dem Scheitern dieses »Lösungsversuchs« konfrontiert. Erinnern wir uns, was wir oben über die Struktur der Sprache gesagt haben: Das letzte Wort, das definitive Sicherheit bringen und die Unsicherheit aufheben würde, existiert nicht. Sowohl logisch (aus der entwicklungspsychologischen Perspektive, die wir in diesem Kapitel erörtert haben) als auch historisch betrachtet (siehe die folgenden Kapitel), ist es evident, dass es genau dieser Punkt ist, an dem der Mensch sich dem Gegenteil dessen zuwendet, wonach er in seinem Freiheitsdrang gestrebt hatte: dem absoluten Meister – dem totalitären Führer –, dem Führer, der behauptet, dieses letzte Wort zu haben.

Das wirft ein anderes Licht auf gesellschaftliche Phänomene wie #MeToo, Black Lives Matter, die Klimabewegungen und die Coronakrise. Sie knüpfen an reale Probleme an, aber diese Probleme sind nicht ihr eigentlicher Existenzgrund. Sie entspringen vor allem dem dringenden Bedürfnis der Bevölkerung nach einer autoritären Instanz, die ihr die Richtung weist, ihr die Last der Freiheit und die damit einhergehende Unsicherheit von den Schultern nimmt.¹¹⁸ Und der Staat ist

gern bereit, diese Leerstelle zu füllen. Stück für Stück schränkt er die Wahlfreiheit des Individuums ein und trifft Entscheidungen an seiner statt: Er verhängt Tabak-, Zucker- und Fettsteuern, er bestimmt, wie Gesundheit und Immunität erreicht werden sollen (ohne Impfung kein Zugang zum öffentlichen Raum und zum Arbeitsplatz), er legt fest, wie viel Alkohol man trinken darf, wenn man in Coronaquarantäne ist (sechs Bier am Tag in Australien), er verbannt religiöse Symbole aus dem öffentlichen Raum und schreibt die Zeichen seiner Ideologie vor (ohne QR-Code gehen die Türen nicht mehr auf). Ja, das Individuum verliert schließlich sogar das Recht, über sein eigenes Leben zu verfügen. Wenn Patienten Selbstmordgedanken äußern, stehen Therapeuten unter Druck, sie einweisen zu lassen; Selbstmord muss unter allen Umständen verhindert werden. Doch wenn der Staat es genehmigt, kann man bei psychischen Leiden Sterbehilfe bekommen. Sprich: Von jetzt an bestimmt der Staat, wann man sterben darf. Die erzieherische und disziplinierende Funktion des Staates wird jeden Tag komplexer, und es bedarf daher eines effizienten Systems. Das Sozialkreditsystem schien zunächst etwas zu sein, das nur im kommunistisch-totalitären China möglich ist, aber Australien schickt sich an, ein ähnliches System¹¹ einzuführen, und manche Gemeinden in Belgien nutzen bereits eine eigene virtuelle Währung, die man sich durch »vorbildliches Verhalten« verdienen kann¹² (ich nehme an, ein nicht gewählter Technokrat wird festlegen, was wir darunter zu verstehen haben). Müssen wir fürchten, dass Menschen bald auch hier, wie in China, auf der Grundlage eines orwellschen Computeralgorithmus in Umerziehungslager gesteckt werden, wenn sie zu viele Minuspunkte gesammelt haben?¹²¹ Der Staatsmoloch – unpersönlich, aber durchtrieben – hat jedenfalls schon antizipiert, dass ungezogene Kinder einen gewissen Raum für Individualität einfordern könnten: Er hat die Bevölkerung im Voraus entwaffnet und sich das Machtmonopol gesichert.

Letztlich ist die Position des totalitären Führers unmöglich, einfach weil auch er, trotz seines megalomanen Glaubens und seines ideologischen Fanatismus, der Struktur der Sprache unterworfen ist. Er kann lediglich so tun, als ob er das letzte Wort hätte. Dieses Wort schwebt ungreifbar in den klingenden Räumen von Poesie, Fiktion und Symbolik – das heißt, in den Räumen eines Diskurses, der eingesteht, dass er nicht total ist. Wer dennoch die Position des absoluten Meisters einnehmen will, verfällt in Fehler und Widersprüchlichkeiten und schließlich sogar in regelrechte Lügen und Betrug. Wir haben dieses Phänomen schon in den Kapiteln 1 und 4 besprochen, wo es um die Krise in den

Wissenschaften ging, aber wir sehen es gleichermaßen auf der Ebene des öffentlichen Diskurses.

Das ganze Streben nach Transparenz und Hyperkorrektheit verkehrt sich auch dort in sein Gegenteil, nämlich in Schein und Betrug. Man braucht nur die Medienberichterstattung zu verfolgen: Staatliche Qualitätssiegel sind oft unzuverlässig;¹²² der Staat verbietet Pestizide, schickt dann aber Beamte los, die den Bauern erklären, wie sie die Tests umgehen können, die diese Pestizide nachweisen sollen (treffend beschrieben in Isabelle Saportas Vino Business);¹²³ die Verschlüsselungsfirmen, deren Software man erwirbt, um seine privaten Daten zu schützen, wurden, wie sich herausstellte, von staatlichen Geheimdiensten aufgekauft.¹²⁴ Und auch die Bemühungen, das Gesundheitswesen transparenter und korrekter zu machen – immerhin eine der wichtigsten Aufgaben des Staates im 21. Jahrhundert –, laufen letztendlich auf ihr Gegenteil hinaus. Elektronische Patientenakten werden massenhaft ohne Zustimmung des Patienten geteilt,¹²⁵ sie können gehackt werden (wie es in Finnland mit Zehntausenden Akten geschah),¹² und Versicherungsärzte lesen einfach mit.¹²⁷

Die rationalistische Betrachtung des Lebens führte so zu einer Unfähigkeit, fruchtbar mit Angst und Unsicherheit umzugehen – Narzissmus und Regeldrang verstärkten das Problem, dessen Lösung sie zu sein schienen. Letztendlich resultiert das in einer psychologisch erschöpften Bevölkerung, die sich nach einem absoluten Meister sehnt. Sie sucht diesen Meister, dem dominanten Menschen- und Weltbild entsprechend, in der mechanistischen Ideologie, das heißt in der Ideologie, die das Problem verursacht hat, die mit ihren eindrucksvollen Manipulationen der Materie die Geister verführt und mit ihren Zahlen und Statistiken die Fakten auf ihrer Seite zu haben scheint. Es ist dieser Zustand der Bevölkerung – ängstlich, sozial atomisiert und sich nach Richtung und Autorität sehnend –, der der perfekte Nährboden für das Aufkommen einer speziellen sozialen Gruppe ist, die sich im Laufe der Aufklärungstradition immer kraftvoller manifestierte und die die psychologisch-gesellschaftliche Basis des totalitären Staates bildet: der Masse.

TEIL II

MASSENBILDUNG UND TOTALITARISMUS

KAPITEL 6

DIE ENTSTEHUNG DER MASSE

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen […] Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«¹²⁸

Immanuel Kant

Mit diesen Worten fasste der große deutsche Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant 1784 zusammen, was für ihn die Essenz der Aufklärungstradition war. Doch anderthalb Jahrhunderte später entfaltete sich in der Aufklärungsgesellschaft ein grauenerregendes Phänomen – die Aufklärungstradition hatte zum genauen Gegenteil dessen geführt, was Kant vor Augen gehabt hatte. Im Schoße der Wissenschaft wurden Erzählungen geboren, die schlichtweg absurd waren, und die Bevölkerung folgte ihnen in blindem Enthusiasmus und Fanatismus ohne jede Fähigkeit zu kritischer Reflexion und bis zur radikalen Selbstzerstörung.

In Deutschland brachte eine Rassentheorie, propagiert von einem fanatischen Demagogen, einen großen Teil der Bevölkerung in einen merkwürdigen Zustand. Menschen denunzierten Verwandte, Freunde und Kollegen, von denen sie zu Recht oder zu Unrecht glaubten, dass sie dem deutschen Volk und seinem Führer nicht bedingungslos treu seien; sie akzeptierten, dass Mitmenschen, deren Körper von der Natur mit einem Makel gezeichnet worden war, vernichtet wurden wie Ungeziefer; sie nickten zustimmend, als der Führer die Eliminierung

aller Deutschen mit Herz- und Lungenproblemen langfristig für notwendig erachtete; sie stimmten, lauthals oder stillschweigend, einer industrialisierten Vernichtung »minderwertiger Rassen« zu.

In Russland führte eine ebenso wissenschaftliche Erzählung zu derselben fanatischen Ekstase: Die ganze Geschichte, der ganze »historischmaterialistische Prozess« sei auf die Verwirklichung einer Gesellschaft ohne Privateigentum gerichtet, in der »das Proletariat« die Macht hätte. Und auch hier waren Säuberungen notwendig. Zuerst fanden diese noch nach einer gewissen »Logik« statt, später konnte ihnen willkürlich jeder zum Opfer fallen. Dutzende Millionen Menschen wurden in die Gulags deportiert, wo die Mehrzahl von ihnen elendig umkam. Schließlich wurde auch die Hälfte (!) der Mitglieder der kommunistischen Partei liquidiert, meist ohne dass auch nur im Geringsten von Untreue oder Verrat die Rede sein konnte. Und das Verblüffendste war, dass die Opfer keinerlei Anstrengungen unternahmen, die unbegründeten Anschuldigungen zu widerlegen, ja, sie sogar unzweideutig bestätigten und willig das Schafott bestiegen.

Mit dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine völlig neue Staatsform, die gewöhnlich mit dem Terminus Totalitarismus bezeichnet wird. Der Unterschied zu Demokratien zeigt sich direkt an ihrem Einparteiensystem und ihrer Missachtung demokratischer Grundprinzipien wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Selbstbestimmungsrecht. Aber auch von diktatorischen Staatsformen unterscheidet sich der totalitäre Staat radikal, sowohl hinsichtlich seiner Struktur (seiner internen Organisation) als auch hinsichtlich seiner Dynamik (seines prozesshaften Verlaufs). In ihrem monumentalen Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft situiert Hannah Arendt die Essenz dieses Unterschieds auf der psychologischen Ebene. Während Diktaturen im Wesen auf dem Einflößen von Angst vor physischer Aggression beruhen – einer Angst, die so groß ist, dass der Diktator (oder das diktatorische Regime) der Bevölkerung einseitig einen sozialen Vertrag oktroyieren kann –, basiert der totalitäre Staat auf dem gesellschaftlich-psychologischen Prozess der Massenbildung.¹²

Wir müssen diesen Prozess berücksichtigen, um die geradezu verblüffenden psychologischen Merkmale einer totalitarisierten Bevölkerung verstehen zu können: die Bereitschaft der Individuen, ihre persönlichen Interessen blind dem Kollektiv zu opfern, radikale Intoleranz gegenüber dissidenten Stimmen, eine paranoide Denunziantenmentalität, die dafür sorgt, dass staatliche Kontrolle bis ins Innerste des Privatlebens reicht, die erstaunliche Empfänglichkeit für absurde (pseudowissenschaftliche) Indoktrination und Propaganda, das blinde Folgen einer unheimlichen Logik, die alle ethischen Grenzen überschreitet (was Totalitarismus unvereinbar macht mit Religion), der Verlust jeglicher Diversität und Kreativität (was Totalitarismus zum Feind von Kunst und Kultur macht) und die Selbstdestruktivität, die dazu führt, dass totalitäre Systeme sich am Ende immer selbst aufheben.

Die Analyse des psychologischen Prozesses der Totalitarisierung ist außerordentlich aktuell. Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, dass eine neue Art von (technokratischem) Totalitarismus im Entstehen ist: ein exponentieller Anstieg der Zahl übergriffiger Aktionen von Sicherheitsbehörden in den letzten beiden Jahren (Öffnen von Post, Durchsuchen von Informationssystemen, Installation von Abhöranlagen, Anzapfen von Telefonen usw.);¹³ der allgemeine Vormarsch der Überwachungsgesellschaft;¹³¹ der wachsende Druck auf das Recht auf Privacy (vor allem seit den Anschlägen vom 11. 9. 2001);¹³² die starke Zunahme von Bürgern, die einander über staatlich organisierte Kanäle anschwärzen;¹³³ die vermehrte Zensur und Sanktionierung alternativer Stimmen in den letzten Jahrzehnten und insbesondere während der Coronakrise;¹³⁴ das Schwinden des Rückhalts für demokratische Grundprinzipien;¹³⁵ die Einführung des QR-Codes und ein daran gekoppeltes experimentelles Impfprogramm als Bedingung, um Zugang zum öffentlichen Raum zu erhalten usw. Der Moment, den Hannah Arendt schon 1951 antizipierte, scheint nahe zu sein – das Aufkommen eines neuen totalitären Systems, das von trockenen Bürokraten und Technokraten geführt wird statt von »Mobführern« à la Stalin und Hitler.¹³

Bisher haben wir beschrieben, wie die Entstehung des mechanistischen Weltbilds die Gesellschaft der vergangenen Jahrhunderte in einen speziellen psychologischen Zustand brachte. Sie wurde immer mehr von einer fanatischen,

mechanistischen Ideologie ergriffen, die zu Dogma und blinder Überzeugung entartet war. Erfahrungen der Sinnlosigkeit und sozialen Isolation nahmen überhand, man setzte die Hoffnung zunehmend auf eine utopische, technologische Lösung für die Probleme, die der menschlichen Existenz innewohnen. Der öffentliche Raum wurde mehr und mehr von einem pseudowissenschaftlichen Diskurs der Zahlen und Statistiken beherrscht, der die Grenze zwischen Fakten und wissenschaftlicher Fiktion komplett verwischte, und epidemische Angst und Unsicherheit weckten die Sehnsucht der Bevölkerung nach einem absoluten Meister. In diesem Kapitel wollen wir schildern, wie sich aus diesem Zustand heraus die sozial zerfallene Bevölkerung durch den Prozess der Massenbildung plötzlich wieder zu einer Einheit verbindet.

Eine Masse ist eine spezifische Art von Gruppe. Ihr unterscheidendes Merkmal ist, dass eine weitgehende »Uniformierung« von Individuen stattfindet. In der Masse werden alle gleich, man denkt »zusammen«, man neigt dazu, sich mit denselben Idealbildern zu identifizieren. Gustave Le Bon – der französische Soziologe und Psychologe, der 1895 mit Psychologie der Massen eines der wichtigsten Werke über Massenbildung publizierte – formulierte, dass in der Masse die individuelle Seele vollständig von der »Kollektivseele« übernommen werde.¹³⁷ Diese Uniformierung gehe mit einem nahezu absoluten Verlust des rationalen Denkvermögens und der Fähigkeit zu kritischer Distanz einher, sogar bei Menschen, die unter »normalen« Umständen äußerst intelligent und zu fundierter Kritik in der Lage sind,¹³⁸ sowie mit einer starken Neigung, sich Impulsen hinzugeben, die man unter normalen Umständen als radikal unethisch betrachten würde.

Massenbildung ist so alt wie die Menschheit selbst und kennt vielfältige Formen. Historische Beispiele zeugen von dieser Verschiedenheit: die kurzzeitige Massenbildung während der Bartholomäusnacht gegenüber der lang anhaltenden Massenbildung der Französischen Revolution; die vollkommen unstrukturierte Masse der Tanzwut in Straßburg gegenüber den organisierten Massen, denen wir in Armee und Kirche begegnen; die religiösen Massen der Kreuzzüge gegenüber den pseudowissenschaftlichen Massen des 20. und 21. Jahrhunderts; die gigantischen Massen des Nationalsozialismus und Stalinismus gegenüber der

überschaubaren Massenbildung, die in Geschworenenjurys zu beobachten ist, usw.

Das letzte Beispiel – die Massenbildung in Geschworenenjurys – ist interessant, weil sie in ihrer Überschaubarkeit gut untersucht werden kann. Immer wieder zeigt sich, dass Jurys in ihrem endgültigen Urteil kaum oder gar nicht von den argumentativen Qualitäten eines Plädoyers beeinflusst werden. Ein Anwalt, der eine perfekt mit Fakten untermauerte und rational gut strukturierte Message vorträgt, wird wenig Wirkung bei der Jury erzielen. Jurys sind nahezu ausschließlich für die häufige Wiederholung simpler emotionaler Botschaften und eindringlicher visueller Bilder (inklusive grafisch dargestellter Zahlen) empfänglich.¹³ Man lasse nur erfolgreiche Verteidiger vor seinem geistigen Auge vorüberziehen – genau so bauen sie ihre Plädoyers auf.

Massen existieren seit Menschengedenken, aber Le Bon bemerkte, dass sie vom 19. Jahrhundert an stetig an Kraft gewannen.¹⁴ Während sie früher lediglich einen kurzzeitigen Einfluss hatten, der von den Führern der Gesellschaft gezügelt und unterdrückt wurde, wurden sie seit der Aufklärung immer dauerhafter, und ihre Wirkung auf die Politik nahm zu. Das veranlasste Le Bon 1895, davor zu warnen, dass die Masse Macht über die Gesellschaft bekommen und so eine neue Staatsform entstehen könnte.¹⁴¹ Er verfügte durchaus über prophetische Gaben, denn genau das geschah dreißig Jahre später mit der Entstehung der totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts.

Wie kam es zu dieser Intensivierung des Phänomens der Massenbildung? Sie war eine logische Folge der Auswirkungen der Rationalisierung und Mechanisierung der Welt. Immer mehr Individuen gerieten in einen Zustand »sozialer Atomisiertheit«, und sobald deren Zahl eine kritische Grenze übersteigt, beginnt ein Prozess der Massenbildung. Massenbildung ist ein komplexes und dynamisches Phänomen, das man mit der Art und Weise vergleichen kann, wie Konvektionsmuster in Wasser oder Gas entstehen, wenn diese erwärmt werden. Zuerst steigt die Hitze in den individuellen Wassermolekülen, ohne dass sie sich bewegen. Dann bilden sich lokal kleine

bewegliche Muster, die schnell wieder verschwinden, dann immer größere und langlebigere Muster, und schließlich entstehen Muster, die den größten Teil des Wasservolumens permanent in Bewegung versetzen. Die Konvektionsmuster verändern das Verhalten der individuellen Wassermoleküle dabei komplett, sie bringen sie in einen ganz neuen Bewegungszustand. Auf genau dieselbe Weise bringt Massenbildung individuelle Menschen in einen neuen psychologischen »Bewegungszustand«. Und genau wie bei der Entstehung von Konvektionsmustern in Wasser und Gas sind die Muster zuerst klein und kurzlebig, versetzen später jedoch immer größere gesellschaftliche »Volumina« über immer längere Zeiträume in Bewegung. Die mittelalterlichen Massenbildungen waren in der Regel lokal begrenzt und von kurzer Dauer, die Massenbildungen der Französischen Revolution waren schon großräumiger und andauernder, die des Stalinismus und Nationalsozialismus wiederum noch um einiges umfangreicher und dauerhafter, und mit der Coronakrise haben wir zum ersten Mal in der Geschichte den Punkt erreicht, an dem die komplette Weltbevölkerung über einen langen Zeitraum von ein und derselben Massendynamik ergriffen wird.

Es sind insbesondere vier Bedingungen, die in einer Gesellschaft erfüllt sein müssen, damit Massenbildung im großen Maßstab stattfinden kann. Diese vier Bedingungen waren vor der Entstehung des Nationalsozialismus und des Stalinismus erfüllt, und sie sind es auch heute. Alle vier haben wir bereits als Folgen der mechanistischen Ideologie erwähnt. Wir fassen sie hier noch einmal übersichtlich zusammen:

Die erste Bedingung ist ein Zustand allgemeiner Einsamkeit, sozialer Isolation und fehlender sozialer Bindungen in der Bevölkerung. Die Tradition der Aufklärung ist durch eine stetige Zunahme dieses Phänomens gekennzeichnet. In letzter Zeit wurde das Ausmaß des Problems der Vereinsamung so groß, dass der U.S. Surgeon General die Alarmglocke läutete und von einer loneliness epidemic sprach und Theresa May in Großbritannien einen Minister für Einsamkeit (Minister of Loneliness) ernannte.¹⁴² Nicht unwichtig im Kontext dieses Buchs ist, dass das Maß der Einsamkeit signifikant mit der Nutzung von sozialen Medien und Kommunikationstechnologie verknüpft ist¹⁴³ (wir erinnern uns an die Auswirkung der Digitalisierung von Gesprächen). Das Problem ist in

Industrieländern am größten¹⁴⁴ – was den Zusammenhang mit der mechanistischen Ideologie noch einmal illustriert. Ungefähr 30 % der Menschen dort berichten über chronische Erfahrungen der Einsamkeit und Isolation, und dieser Prozentsatz steigt Jahr für Jahr. Wir stimmen Hannah Arendt zu, dass diese erste Bedingung die zentralste ist: »Das Hauptmerkmal der Individuen in einer Massengesellschaft ist nicht Brutalität oder Dummheit oder Unbildung, sondern Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein.«¹⁴⁵

Der Verfall sozialer Bindungen führt zur zweiten Bedingung: ein Mangel an Sinngebung im Leben. Diese zweite Bedingung folgt im Wesentlichen aus der ersten. Der Mensch, als soziales Wesen par excellence, lebt für den Anderen. Geht die Bindung zum Anderen verloren, wird das Leben als sinnlos erfahren. Wir haben in Kapitel 2 beschrieben, wie der Arbeit durch die Mechanisierung der Welt viele Formen unmittelbarer Sinngebung genommen wurden, unter anderem durch den Wegfall der direkten Beziehung zwischen demjenigen, der die Dinge produziert, und demjenigen, für den sie bestimmt sind. Überdies führte das mechanistische Weltbild auch ganz unmittelbar zu Sinnlosigkeit: Die Maschine des Universums, samt der darin inbegriffenen kleineren MenschMaschine, läuft ohne Ziel oder Sinn. Die materiellen Teilchen interagieren miteinander nach den Gesetzen der Mechanik, aber sie bezwecken nichts damit. Wer das Leben so betrachtet – zu Recht oder zu Unrecht –, macht es unvermeidlich zu einer sinnlosen Gegebenheit. Das Phänomen der Bullshit-Jobs (siehe Kapitel 2) illustriert das Ausmaß der Sinngebungsproblematik vielleicht noch am besten: Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hielt die Hälfte der Menschen ihren Job für sinnlos.¹⁴ Ein Gallup World Poll ergab 2013, dass nur 13 % der Menschen weltweit in ihrem Job wirklich engagiert waren; 63 % bezeichneten sich als nicht engagiert (sie schlafwandeln durch ihre Arbeit und stecken Zeit, aber keine Leidenschaft hinein) und 24 % gaben sogar an, »actively disengaged« zu sein, sprich: Kollegen negativ zu beeinflussen und zu demotivieren.¹⁴⁷ Das will etwas heißen.

Die dritte Bedingung ist das Vorhandensein von viel frei flottierender Angst und psychischem Unbehagen in der Bevölkerung. Frei flottierende Angst ist eine Form der Angst, die nicht an eine Vorstellung gebunden ist (im Gegensatz zu Angst, die an eine konkrete Vorstellung wie Gewitter, Schlangen, Krieg usw.

gebunden ist). Eine solche Angst ist mental schwer beherrschbar und droht ständig, in Panik umzuschlagen, was vielleicht der aversivste psychische Zustand für den Menschen ist. Aus diesem Grund versucht ein Mensch in diesem Zustand, die Angst an ein Objekt zu koppeln. Die frei flottierende Angst ist im Wesentlichen auf die ersten beiden Bedingungen zurückzuführen. Ein Mensch, der die Bindung zum Anderen verloren hat und keinen Sinn erfährt, empfindet typischerweise ein unbestimmtes Gefühl des Unbehagens und der Angst. Auch diese Bedingung war in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts in hohem Maße gegeben. Die WHO berichtet zum Beispiel, dass bei jedem fünften Menschen weltweit eine Angststörung diagnostiziert wurde. Im Wissen darum, dass noch weit mehr Menschen von Angst betroffen sind, wiegen diese Zahlen schwer. Und die Häufigkeit psychischer Leiden im Allgemeinen (also auch der nicht diagnostizierten) ist natürlich noch höher. Das lässt sich unter anderem am enormen Verbrauch von Psychopharmaka ablesen. Allein von Antidepressiva werden in einem kleinen Land wie Belgien mit 11 Millionen Einwohnern nicht weniger als 300 Millionen (!) Dosen pro Jahr konsumiert.

Die vierte Bedingung geht wiederum aus den ersten dreien hervor: viel ungebundene Frustration und Aggression. Der Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Reizbarkeit ist logisch und wurde auch empirisch nachgewiesen.¹⁴⁸ Der Mensch, gequält von sozialer Abstumpfung, Mangel an Sinngebung, unbestimmter Angst und Unbehagen, fühlt sich in der Regel zunehmend reizbar, frustriert und/oder aggressiv und sucht nach Objekten, an denen er seine Angst abreagieren kann. Die starke Zunahme von rassistischem und drohendem Sprachgebrauch in den sozialen Medien während des letzten Jahrzehnts ist ein treffendes Beispiel dafür. Was Massenbildung beschleunigt, sind nicht so sehr die Frustration und die Aggression, die tatsächlich abreagiert werden, sondern es ist vielmehr das Potenzial an nicht abreagierter Aggression, das in der Bevölkerung vorhanden ist, der Aggression, die noch auf der Suche nach einem Objekt ist.

Auf welche Weise genau führen diese Bedingungen zu Massenbildung? Der Anlass ist jeweils eine Suggestion im öffentlichen Raum.¹⁴ Wenn unter den genannten Umständen über die Massenmedien eine suggestive Erzählung

verbreitet wird, die ein Objekt der Angst benennt – zum Beispiel die Aristokratie unter dem Stalinismus, die Juden unter dem Nationalsozialismus, das Virus und später die Impfgegner während der Coronakrise – und gleich auch eine Strategie mitliefert, wie mit diesem Objekt der Angst umzugehen ist, dann besteht eine reelle Chance, dass sich alle frei flottierende Angst an dieses Objekt koppelt und eine breite gesellschaftliche Basis dafür entsteht, die Strategie anzuwenden, um dieses Objekt der Angst zu kontrollieren.

Dieser Prozess bringt einen psychologischen Gewinn. Erstens wird die Angst, die zuvor unbestimmt in der Gesellschaft waberte, nun an eine konkrete Ursache gekoppelt und durch die in der Erzählung vorgeschlagene Strategie mental beherrschbar. Zweitens findet die auseinanderfallende Gesellschaft durch den gemeinsamen Kampf gegen »den Feind« wieder zu minimalem Zusammenhalt, Energie und rudimentärer Sinngebung. Der Kampf gegen das Objekt der Angst wird dadurch zu einer mit Pathos und Gruppenheroik geladenen Mission (siehe die von der belgischen Regierung initiierte Kampagne: »1 Team von 11 Millionen«, das gegen das Coronavirus zu Felde zieht). Drittens kann in diesem Kampf alle latent schwelende Frustration und Aggression abreagiert werden – insbesondere an der Gruppe, die sich der Erzählung und der Massenbildung nicht anschließen will –, was eine enorme Entladung und Befriedigung mit sich bringt, die sich die Masse nicht so leicht nehmen lässt.

So schwenkt ein Individuum von einem höchst aversiven und schmerzlichen psychologischen Zustand der sozialen Isolation um in die maximale Verbundenheit, die in der Masse existiert. Das sorgt für eine Art Rausch, der die eigentliche Motivation ist, dem massenbildenden Narrativ zu folgen. Bei den lang andauernden Massenbildungen, die zur Entstehung totalitärer Staaten führten, war dieser Rausch oft nur latent anwesend, aber manchmal manifestiert er sich auch an der Oberfläche. Man denke zum Beispiel an eine Masse, die zusammen singt oder Losungen skandiert (etwa in einem Fußballstadion). Die Stimme des Individuums löst sich dabei in der überwältigend vibrierenden Gruppenstimme auf; das Individuum fühlt sich von der Masse getragen und »erbt« ihre flirrende Energie. Was genau gesungen wird, spielt keine Rolle; was zählt, ist, dass man es zusammen singt. Und auf kognitiver Ebene gilt entsprechend: Was man denkt, spielt keine Rolle, was zählt, ist, dass man es

zusammen denkt. Auf diese Weise wird die Masse dazu gebracht, selbst die absurdesten Ideen für wahr zu halten oder doch zumindest so zu handeln, als ob sie wahr wären.

Das Wesen der Massenbildung lässt sich so zusammenfassen: Eine Gesellschaft, durchdrungen von Individualismus und Rationalismus, vollzieht plötzlich die Wende hin zu einem diametral entgegengesetzten Zustand, zu einem radikal irrationalen Kollektivismus. Um es mit Nietzsche auszudrücken: Dionysos stürzt mit einem Schlag die Diktatur Apollos und ergreift die Macht in der Gesellschaft. Das zeigt sich auch ganz direkt daran, dass in allen großen Massenbildungen das wichtigste Argument, sich zu beteiligen, die Solidarität mit dem Kollektiv ist. Und wer nicht mitmacht, bekommt typischerweise den Vorwurf zu hören, dass es ihm an Bürgersinn und Solidarität mangele. Das ist einer der Gründe, warum die absurden Elemente in einer Erzählung für die Masse keine Rolle spielen: Die Masse »glaubt« an die Erzählung, nicht weil sie wahr ist, sondern weil sie ein neues Gefühl der Verbundenheit erzeugt. Die Strategie für den Umgang mit dem Objekt der Angst hat voll und ganz die Funktion eines Rituals. Rituelles Verhalten dient dazu, einen Gruppenzusammenhalt herzustellen. Es ist ein symbolisches Verhalten, dessen Ziel es ist, das Individuum der Gruppe zu unterwerfen. Insofern hat es am besten so wenig praktischen Nutzen wie möglich und verlangt eine Aufopferung des Individuums. Man denke an die rituellen Opfer von Speisen, Tieren und Menschen in primitiven Gesellschaften. Das ist genau der Grund, warum die Absurdität der Coronamaßnahmen bei einem bestimmten Teil der Bevölkerung auf keinerlei Widerstand stößt. In gewissem Sinne kann man sogar sagen: Je absurder die Maßnahmen sind und je mehr sie einem abverlangen, desto besser erfüllen sie die Funktion eines Rituals und desto enthusiastischer werden diese Menschen ihnen folgen (man denke nur an die Tatsache, dass manche eine Maske tragen, wenn sie allein im Auto sitzen).

Die rituelle Funktion von Massenverhalten ist immer gegeben. Auch in der heutigen Zeit. Die Experten der Coronakrise waren sich dessen auch mehr oder weniger bewusst, und gelegentlich entfiel es ihnen, dass die Maßnahmen eigentlich kaum praktischen Nutzen hätten. Im März 2020 teilte ein Experte/Virologe mit, dass die Lockdowns die Zahl der Toten kaum reduzieren

würden;¹⁵ im August 2020 behauptete ein Experte/Virologe, dass die Mundschutzmasken größtenteils eine »symbolische« Funktion hätten;¹⁵¹ im Oktober 2020 sagte der belgische Gesundheitsminister dasselbe über die Schließung von Kneipen und Restaurants¹⁵² (was implizierte, dass zahllose Selbstständige ihr Lebenswerk also aus »symbolischen Gründen« zugrunde gehen sahen). Die Botschaft ist deutlich: Das Individuum muss in jedem Moment zeigen, dass es sich dem Interesse des Kollektivs unterwirft, indem es ihm auferlegte symbolische (rituelle) Verhaltensweisen an den Tag legt.

Die Gründe, warum Individuen sich an der Massenbildung beteiligen, sind letztlich so gut wie nie rationaler Art. Experten mit hochtrabenden Titeln rechtfertigen das Vorgehen oft im nationalen Fernsehen, wodurch der Eindruck erweckt wird, dieses Vorgehen sei allgemein akzeptiert. Das genügt vielen Menschen als Beweis seiner Richtigkeit: »Unsere Experten werden doch wohl wissen, was sie tun.« »Es kann doch nicht sein, dass sie alle falschliegen.« »Sie würden es doch nicht sagen, wenn da nichts dran wäre.« usw. Mit anderen Worten: Das argumentum ad populum und das argumentum ad auctoritatem, seit der Antike als Scheinargumente bekannt, sind für die meisten Menschen ausreichend, um die Erzählung zu akzeptieren. An allem spürt man, dass die zugrunde liegende Motivation, der Erzählung zu folgen, die Gruppenbildung und der Gruppendruck sind und nicht (in erster Linie) die Richtigkeit der Erzählung.

Das bekannte Konformitätsexperiment von Asch¹⁵³ zeigt auf sehr überzeugende Weise, welch enorme Wirkung die Massenbildung auf das Urteilsvermögen des Individuums hat. Asch führte sein Experiment kurz nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Er tat dies in dem Versuch, zu verstehen, wie die Mehrheit der Bevölkerung derart unter den Einfluss der oft absurden Theorien des Nationalsozialismus und des Stalinismus geraten konnte, und so Einblick in das psychologische Rätsel der Massenbildung und des Totalitarismus zu bekommen.

Abbildung 2

Betrachten wir Abbildung 2. Welche der Linien A, B oder C ist genauso lang wie Linie 1? Das war die Frage, die Asch den Teilnehmern seines Experiments über Gruppenzwang stellte. In jeder Gruppe von acht Testpersonen saßen sieben Mitarbeiter von Asch, die alle den Auftrag hatten, ohne mit der Wimper zu zucken, »Linie B« zu antworten. Der achte Teilnehmer – die einzige echte Testperson – gab daraufhin meist dieselbe Antwort wie seine Vorgänger. Nur 25 % sprachen unbeirrbar aus, was selbst ein Blinder sehen konnte: Nicht Linie B, sondern Linie C ist genauso lang wie Linie 1. Nach dem Experiment berichteten manche Testpersonen, dass sie durchaus die richtige Antwort gewusst, aber nicht gewagt hätten, sich gegen die Gruppe zu stellen. Noch interessanter ist, dass andere zugaben, sie hätten unter dem Druck der Gruppe an ihrem eigenen Urteil zu zweifeln begonnen und schließlich das absurde Gruppenurteil für wahr gehalten.

Diesen drei Gruppen begegnen wir bei Massenbildung immer wieder. Es gibt immer eine Gruppe, die von der Massenbildung erfasst ist und die Erzählung »glaubt« (diese Gruppe bildet den totalitarisierten Teil der Bevölkerung), eine zweite Gruppe, die nicht wirklich daran glaubt, sich aber still verhält und mit der Masse mitläuft (oder zumindest nicht gegen sie angeht), und dann eine dritte Gruppe, die nicht an die massenbildende Erzählung glaubt und das auch ausspricht oder in Handlungen auszudrücken versucht. Diese drei Gruppen durchziehen typischerweise alle zuvor existierenden sozialen Gruppierungen. Historische Beispiele großer Massenbildungen zeigen das immer wieder,¹⁵⁴ und es zeigte sich auch in der Coronakrise. Zu Beginn der Krise zeichneten sich im Eiltempo neue »Lager« in der Gesellschaft ab, die alle früheren Lager durchzogen – man folgte der Viruserzählung oder man folgte ihr nicht. Links oder rechts im politischen Spektrum, Hautfarbe und sozialer Status, Beruf oder Hobby: All diese Grenzen verwischten – was zählte, war, was man über das Virus dachte.

Die drei Gruppen sind sehr divers, aber aus bestimmten Gründen ist diese Diversität in der Gruppe am sichtbarsten, die laut gegen die Masse protestiert. In der Masse selbst verschwindet die Diversität unter dem typischen uniformierenden Effekt der Masse (die Masse macht alle Individuen gleich), und die stille »Mittelgruppe« fällt sowieso nicht auf. Die dritte, nonkonformistische Gruppe erwacht jedoch zum Leben, und jedes Individuum äußert sich auf seine eigene Weise, wodurch die Diversität besonders ins Licht gerückt wird.

Wie Gustave Le Bon schon 1895 bemerkte, ist der Effekt der Massenbildung mit dem der Hypnose identisch.¹⁵⁵ Sowohl Hypnose als auch Massenbildung werden in hohem Maße durch eine Stimme verursacht, buchstäblich, durch die physischen Vibrationseigenschaften der Stimme. Totalitäre Führer erkennen das – manchmal intuitiv, manchmal bewusst – sehr genau. Das totalitäre System wird immer primär durch systematische Indoktrination und Propaganda aufrechterhalten, die der Bevölkerung tagtäglich über die Massenmedien injiziert werden (ohne Massenmedien wäre eine derart lang anhaltende Massenbildung wie jene, die die Grundlage für Stalinismus und Nationalsozialismus bildete, undenkbar). Auf diese Weise wird die Bevölkerung einerseits buchstäblich auf der Schwingungsfrequenz der Stimme des totalitären Führers gehalten, andererseits wird jede andere Stimme systematisch eliminiert. Das Erste, was totalitäre Führer tun, ist, dafür zu sorgen, dass ihre Stimme die einzige ist, die noch ertönt. Klassische Diktatoren tun das im Prinzip auch, aber sie beschränken das Monopol auf die Stimme auf den öffentlichen Raum. Sie machen die politische Opposition mundtot. Totalitäre Systeme gehen in diesem Punkt »gründlicher« zu Werke. Es gelingt ihnen für gewöhnlich, auch in der Privatsphäre alternative Stimmen zu zensieren. Das geschieht einerseits »spontan« durch eine paranoide Denunziantenmentalität, mit der Massenbildung einhergeht (und die im Grunde die Folge einer typischen Intoleranz gegenüber alternativen Meinungen ist, auf die wir noch zurückkommen werden). Andererseits säubert der Totalitarismus die Privatsphäre auch von alternativen Stimmen, indem er eine weitgehende soziale Fragmentierung und Isolierung herbeiführt. Totalitäre Systeme sorgen dafür, dass es Menschen nahezu unmöglich wird, in größeren Gruppen zusammenzukommen, und sind bestrebt, alle sozialen und familiären Bindungen zu zerbrechen und durch die einzige zulässige Bindung zu ersetzen: die zwischen dem Individuum und dem totalitären System (das heißt dem Kollektiv). In der Sowjetunion wurde dieser Prozess viel systematischer vorangetrieben als in Nazideutschland, was auch der

Grund dafür war, warum sich die Totalitarisierung in der Sowjetunion viel weiter durchsetzte.¹⁵

Um auf die Parallele zwischen Hypnose und Massenbildung zurückzukommen: In beiden Fällen wird die Aufmerksamkeit durch eine suggestive Äußerung oder eine suggestive Erzählung (durch eine Stimme) auf einen sehr begrenzten Aspekt der Realität gerichtet. Man könnte es mit dem Lichtkreis einer Lampe vergleichen, der kleiner wird und alles, was aus dem Kreis herausfällt, in der Dunkelheit verschwinden lässt (siehe Abb. 3). Diese Verengung des Aufmerksamkeitsbereichs ist ein zusätzlicher Faktor – neben der rituellen Funktion des Massenverhaltens –, der dazu führt, dass die befolgte Logik geradezu absurde Merkmale aufzuweisen beginnt.

In der Coronakrise sieht man die Verengung des Aufmerksamkeitsbereichs unter anderem hieran: Opfer der Maßnahmen (wie z. B. Todesfälle durch emotionale und physische Vernachlässigung während der Lockdowns in Seniorenheimen, Nicht-Coronapatienten, deren Behandlung aufgeschoben wurde, Opfer häuslicher Gewalt, Menschen, die von Impfnebenwirkungen betroffen sind, usw.) bekommen im Vergleich zu Coronaopfern kaum Aufmerksamkeit oder haben zumindest erstaunlich wenig Gewicht im Entscheidungsprozess. Und was auch sehr auffällig ist: Diese Kollateralschäden werden zwar mitunter erwähnt, aber sie werden so gut wie nie zahlenmäßig-visuell dargestellt.

Das ist von entscheidender Bedeutung, denn wie wir in Kapitel 4 gesehen haben: Was in Zahlen und Grafiken ausgedrückt wird, hat den Effekt, (fälschlicherweise) als Fakt empfunden zu werden. Insofern scheint der psychologische Prozess der Massenbildung also dafür zu sorgen, dass sich die Massenmedien (intuitiv) dafür entscheiden, die Massenbildung aufrechtzuerhalten, indem sie nur die Informationen grafisch darstellen, die die Erzählung unterstützen.

Abbildung 3

Die Verengung des Aufmerksamkeitsbereichs betrifft auch die emotionale Ebene: Die Opfer der Maßnahmen erwecken erstaunlich wenig Empathie (über diese Opfer findet man keine täglichen Statistiken, Fallbeschreibungen, Zeugnisse von Angehörigen; siehe auch die Aussage eines Virologen, dass ein Junge, der während einer Polizeikontrolle bei einer sogenannten LockdownParty zu Tode kam, »null Mitleid« verdiene).¹⁵⁷ Sie fallen aus dem Lichtkreis heraus, sowohl auf kognitivem als auch auf emotionalem Gebiet.

Diese emotionale Unempfindlichkeit für Leiden, das außerhalb des Aufmerksamkeitskreises liegt, darf keinesfalls mit ordinärem Egoismus verwechselt werden. Le Bon notierte, dass sowohl Massenbildung als auch Hypnose dazu führen, dass Individuen ihre egoistischen Bestrebungen, ja sogar ihren eigenen Schmerz, radikal ignorieren können.¹⁵⁸ Die hypnotisierende Erzählung fokussiert die Aufmerksamkeit dermaßen auf einen kleinen Aspekt der Realität, dass alles, was sich außerhalb dessen befindet – auch der eigene Schmerz und, weiter gefasst, die eigenen Interessen –, unbeachtet bleibt. Mit einem einfachen hypnotischen Verfahren kann man Patienten so betäuben, dass bei Operationen problemlos Schnitte gemacht werden können (siehe auch Kapitel 10). Auf die gleiche Weise akzeptiert ein großer Teil der Bevölkerung in der Coronakrise mit erstaunlicher Leichtigkeit Maßnahmen, die tief in ihre Freude, ihre Freiheit und ihren Wohlstand »einschneiden«.

Und genau das war auch für die Chronisten des Totalitarismus im 20. Jahrhundert die mit Abstand verblüffendste Beobachtung: die nahezu grenzenlose Toleranz der Bevölkerung hinsichtlich des enormen persönlichen Schadens, den sie durch die betreffenden Regimes erlitt. Der totalitarisierte Teil des deutschen Volkes war Hitler zum Beispiel devot dankbar, dass er einen Plan hatte für den Fall, dass ihre Große Mission scheiterte: den Gnadentod – sprich: die Gaskammer – für jeden Deutschen.¹⁵

Das Phänomen der Massenbildung hat nicht nur profunde Auswirkungen auf die kognitive und emotionale Ebene, sondern mitunter auch auf die sinnliche Wahrnehmung. Unter bestimmten Umständen manifestieren sich unter dem Einfluss der Massenbildung kollektive Halluzinationen, die eine Herausforderung für das Verständnisvermögen jeder modernen Psychologie darstellen. Ein bekanntes historisches Beispiel ist die Erscheinung des heiligen Georg auf den Stadtmauern von Jerusalem, die von einem ganzen Heer von Kreuzfahrern wahrgenommen wurde.¹ Ein anderes Beispiel – aus jüngerer Vergangenheit – ist das Floß mit Schiffbrüchigen, das von einer Mannschaft von Marinesoldaten am helllichten Tag beobachtet und von jedem von ihnen bis ins Detail auf dieselbe Weise beschrieben wurde. Bei näherer Betrachtung handelte es sich lediglich um ein paar mit Seetang bedeckte Äste.¹ ¹ Der Einfluss der Massenbildung auf das mentale Funktionieren des Menschen ist quasi unbegrenzt. Sie steuert die Realitätswahrnehmung des Individuums in einem solchen Maße, dass die Frage berechtigt ist: Gibt es für ein von Massenbildung ergriffenes Individuum noch eine Realität außerhalb der von dem Massenphänomen geschaffenen?

Den bereits genannten problematischen psychologischen Eigenschaften der Massenbildung müssen wir noch ein weiteres wichtiges Merkmal hinzufügen: Die Masse ist radikal intolerant gegenüber anderen Meinungen und hat einen starken Hang zu Autoritarismus. Dissidente Stimmen erscheinen der Masse:

1.asozial und unsolidarisch, weil sie sich weigern, an der Verbundenheit teilzuhaben, die die Massenbildung erzeugt;

2.vollkommen unbegründet, weil die kritischen Argumente in dem verengten Aufmerksamkeitskreis der Masse kein kognitives und emotionales Gewicht erhalten;

3.äußerst aversiv, weil durch sie der Rausch durchbrochen und die Masse auf diese Weise wieder mit dem negativen Zustand konfrontiert werden könnte, der der Massenbildung vorausging (Mangel an sozialer Bindung und Sinngebung, unbestimmte Angst und Unbehagen);

4.außerordentlich frustrierend, weil sie ihr die Möglichkeit zu nehmen drohen, latente Aggressionen abzureagieren (siehe die vierte Bedingung für Massenbildung).

All dies sorgt dafür, dass die Masse überzeugt ist von ihren überlegenen ethischen und moralischen Absichten und von der Verwerflichkeit eines jeden, der ihr widersteht: Wer nicht mitmacht, ist ein Verräter des Kollektivs. Denunzieren ist denn auch gang und gäbe (die Bevölkerung selbst ist der wichtigste Zweig der Geheimpolizei).¹ ² In Kombination mit dem vierten Faktor – der Möglichkeit, die Massenbildung bietet, Frustration und Aggression grenzenlos abzureagieren – führt das zu einem bekannten Phänomen: Die Masse neigt zu Grausamkeiten gegen jene, die ihr widerstehen, und verübt diese typischerweise, als wäre es eine ethische, heilige Pflicht. Historische Beispiele sind das Deus lo volt und das Gott mit uns, mit denen die Kreuzfahrer bzw. die Nazis ihre Grausamkeiten begingen, die bolschewistische Überzeugung, man übe ultimative Gerechtigkeit, als man die Romanows und alle anderen vermeintlichen Feinde des Proletariats hinmordete, der Schlächter, der in der Französischen Revolution einen Orden für Vaterlandsliebe verlangte, nachdem er dem wehrlosen (und unschuldigen) Direktor der Bastille mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten hatte,¹ ³ die Septembristen der Französischen Revolution, die pflichtgetreu dafür sorgten, dass alle Citoyens die Hinrichtungen der Geistlichen und Adligen aus nächster Nähe mit ansehen konnten.¹ ⁴

Autoritarismus und Intoleranz sind nach Le Bon Wesensmerkmale der Massenbildung.¹ ⁵ Auch diese Merkmale können wir in der Coronagesellschaft in immer stärkerem Maße beobachten. Je mehr sich die Coronakrise entrollt, desto autoritärer drängt sich der dominante Diskurs der Gesellschaft auf und zensiert und sanktioniert immer radikaler alternative Stimmen. In sozialen

Medien werden Artikel, die nicht dem dominanten Narrativ entsprechen, blockiert, selbst wenn sie in führenden medizinischen Zeitschriften wie The Lancet veröffentlicht wurden; verschiedene Ärzte und Wissenschaftler, die sich kritisch über die Coronamaßnahmen äußern, werden von ihren Instituten entlassen; die belgische Ärztekammer erließ Anfang 2021 eine allgemeine Regel, dass jeder Arzt, der Zweifel an der Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe sät, exkommuniziert werden würde; seit November 2021 darf man Restaurants, Kneipen und noch eine Reihe von anderen Orten ohne QR-Code nicht mehr betreten usw. Das ist letztendlich der Unterschied zwischen der Solidarität der Masse und liebevoller Verbundenheit: Erstere geht auf Kosten einer bestimmten Gruppe, Letztere nicht.

KAPITEL 7

DIE LENKER DER MASSE

Im vorigen Kapitel haben wir das Phänomen der Massenbildung – die psychologische Basis des Totalitarismus – als eine Form der Hypnose beschrieben. Und doch gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen Massenbildung und klassischer Hypnose. Bei der Hypnose ist nur das Bewusstseinsfeld des Hypnotisierten verengt; derjenige, der die hypnotisierende Erzählung ausspricht (der Hypnotiseur), ist »wach«. Bei Massenbildung dagegen ist gewöhnlich auch derjenige, der die Erzählung artikuliert, mental von ihr ergriffen.¹ Mehr noch: Der Aufmerksamkeitsbereich des Lenkers ist meist noch verengter als der der Masse, denn er glaubt in der Regel fanatisch an die ideologische Grundlage der Erzählung, welche die Masse beherrscht.

Gegenüber den Lenkern der Masse entstehen leicht zwei gegensätzliche psychische Haltungen: Entweder vertraut man ihnen blindlings (und geht in der Masse auf), oder man misstraut ihnen komplett und sieht sie als Menschen, die willentlich einen bösen Plan verfolgen (d. h. als Verschwörer). Beide extremen Sichtweisen beruhen in gewisser Weise auf einem ähnlichen Missverständnis: Sie schreiben den Lenkern quasi absolutes Wissen (und absolute Macht) zu, die erste Gruppe in positivem Sinne, die zweite in negativem.

Weitere Missverständnisse sind, dass die Lenker primär von Geld getrieben seien (follow the money und cui bono? sind verlockende Erklärungspfade, aber sie bilden nicht den Kern der Sache) oder von sadistischem Genuss (d. h. eine psychopathische oder perverse Persönlichkeitsstruktur hätten). Auch diese Deutungen werden von der historischen Forschung nicht wirklich bestätigt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Spitze der NSDAP zeigte durchweg eine ablehnende Haltung gegenüber unerlaubtem Geldgewinn, und Persönlichkeiten

mit der Neigung zu Perversion und Psychopathie wurden von der Rekrutierung systematisch ausgeschlossen.¹ ⁷ Im Gegensatz zum klassischen Kriminellen, der einen inneren Genuss dabei empfindet, soziale Regeln mit Füßen zu treten, liegt die Kriminalität dieser Gruppe eher im kritiklosen und gedankenlosen Befolgen eines Regelapparats, selbst als er schlichtweg unmenschlich wurde. Daher Hannah Arendts berühmter Ausdruck, Totalitarismus sei eine wahre Demonstration der Banalität des Bösen.¹ ⁸ Totalitarismus kennzeichnet sich durch das rücksichtslose Befolgen einer ideologischen Regel und Logik, auch wenn diese alle ethischen Grenzen überschreitet. In der Anfangsphase des Totalitarisierungsprozesses erfasst eine solche Logik zunächst die Bevölkerung. Sie (oder zumindest ein großer Teil von ihr) wird von bestimmten ideologischen Überzeugungen durchdrungen, die sie typischerweise nicht mehr von der Realität unterscheiden kann. Die aufkommenden Massenbewegungen des Panslawismus und des Pangermanismus in Russland und Deutschland in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind gute Beispiele dafür. Die Deutschen gelangten zu der Überzeugung, dass sie als Rasse anderen überlegen seien und dass die Stigmatisierung und Unterdrückung von beispielsweise Polen oder Juden sich mit den »Fakten« rechtfertigen ließe. Etwas Ähnliches sehen wir in der Coronakrise, wo in einem bestimmten Segment der Bevölkerung die Überzeugung wächst, dass die Fakten es rechtfertigen, Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, sozial zu diskriminieren. Die Zahlen zeigen doch, dass sie das Virus verbreiten, oder etwa nicht?

Aus solchen Dynamiken gehen langsam die totalitären Parteien und die totalitären Führer hervor, die diese Logik nach und nach institutionalisieren und der Gesellschaft auferlegen. Und das geschieht in der Regel auf eine fanatische, blinde und gnadenlose Weise. Hitler glaubte, seine Kraft entspringe seiner Fähigkeit zu »eiskalter Logik«, und Stalin war überzeugt, das Geheimnis seines Erfolgs liege in seiner »gnadenlosen Dialektik«.¹ »Lebensuntaugliche« Rassen und »sterbende Klassen« wurden unter Rechtfertigung durch diese Logik mit chirurgischer Entschiedenheit aus der Gesellschaft entfernt. Was die Lenker der Masse kennzeichnet, ist also nicht Geldsucht oder Sadismus, sondern ihre morbide ideologische Getriebenheit: Die Realität muss und wird der ideologischen Fiktion angepasst werden.

Und diese Getriebenheit führt zu einer mentalen und emotionalen Blindheit, die wahrlich verblüffende Dimensionen annimmt. Nichts illustriert dies wohl besser als die Art und Weise, wie Adolf Eichmann – Nazigröße und eine der zentralen Figuren bei der praktischen Umsetzung des Holocaust – während seines Prozesses in Jerusalem schilderte, wie er die Deportation in die Konzentrationslager organisierte. Noch beim Prozess war er so von der Überzeugung erfüllt, letztlich nur das Beste für alle gewollt zu haben, dass er mit Stolz beschrieb, wie er die Juden zur Mitarbeit an seinem »Projekt« ermutigt habe. Damit der Holocaust reibungslos verlaufen konnte, stimulierte er in den besetzten europäischen Städten die Gründung von Judenräten, bestehend aus Juden, die innerhalb der jüdischen Gemeinschaft eine soziale Schlüsselposition einnahmen. Er hielt es für normal, dass die Opfer – in der Nazidoktrin als lebensunwert betrachtet – ihren eigenen Untergang praktisch regelten. Eichmann beschrieb seine Haltung gegenüber diesen Judenräten mit folgenden Worten:

»Der Judenrat, wie er sich zusammensetzte und … wie sie sich verteilten und welche Geschäfts-, sagen wir mal, Sektoren die einzelnen übernahmen, das war dem Judenrat überlassen. Aber die Leitung, wer der Leiter ist, das selbstverständlich [hing von uns ab].

Aber wie gesagt … es ist nicht in Form einer, sagen wir mal, diktatorischen Entscheidung vorgegangen worden, sondern man hat das mit diesen Funktionären, mit denen man dauernd zu tun hatte, hatte man das mehr oder weniger, wie soll ich sagen, wie eine – ein Spiel mit rohen Eiern behandelt, um es mal so auszudrücken … es wurde also nicht angeordnet, aus dem ganz einfachen Grund, Herr Hauptmann, wenn bei den Spitzenfunktionären irgend etwas, sagen wir mal gesagt würde, so in der Form – du mußt, du hast, usw. usw. – dann ist ja damit die Sache – der Sache auch nicht gedient. Denn wenn es nicht – nicht –, wenn der Betreffende es nicht – nicht gern macht, dann leidet ja die gesamte Arbeit darunter … es wurde alles irgendwie versucht mundgerecht zu machen.« (Aussage Eichmanns vor Less).¹⁷

Die Nazis waren in vieler Hinsicht durchaus von ihren guten Absichten

überzeugt – dieser Tatsache ins Auge zu sehen ist ein Zeichen von Reife und zweifellos wichtig, wenn man etwas aus der Geschichte lernen will. Aber das ist psychologisch kein Argument, um ihre Untaten zu beschönigen. Der Massenmensch weiß in gewissem Sinne vielleicht nicht, was er tut, doch das heißt nicht, dass man es ihm einfach so vergeben darf. Auch in einem Zustand der Massenbildung oder Hypnose bleibt dem Menschen immer noch die Möglichkeit, ethische Entscheidungen zu treffen. Es ist hinlänglich bekannt, dass man Menschen unter Hypnose zwar Dinge tun lassen kann, über die sie bei normalem Bewusstsein zutiefst beschämt wären (sich ausziehen, lächerliche Tanzschritte vollführen usw.), und sie zu körperlichen Leistungen bringen kann, zu denen sie normalerweise keineswegs in der Lage wären (z. B. steif wie ein Brett zwischen zwei Stühlen zu liegen), dass es jedoch nicht gelingen wird, sie dazu zu bewegen, ethische Grenzen zu überschreiten, die sie in »wachem« Zustand respektieren. Die Anonymität, die die Masse bietet – das Individuum verschwindet in der Masse und fühlt sich unbeobachtet –, bildet im Grunde nur einen Vorwand und einen Deckmantel, um den eigenen Trieben freien Lauf zu lassen. Wer in der Masse Verbrechen begeht, zeigt damit vor allem, dass er sich unter normalen Umständen nur aus taktischen und nicht aus ethischen Gründen beherrscht. Die Erklärung für die bekannte Immoralität der Masse¹⁷¹ bedeutet nicht, dass Massenbildung das normalerweise vorhandene ethische Bewusstsein aufhebt, sondern dass sie das Verbergen seines Fehlens zeitweilig aussetzt. Auf diese Weise offenbart die Masse das wahre ethische Niveau des Menschen.

Eichmann stand nicht allein mit seiner bemerkenswerten ideologischen »Güte«. Der ganze Diskurs der Nazis über die Vernichtungslager zeugte davon. Sie nannten den Tod in den Gaskammern »Gnadentod«, die schmerzloseste Lösung für Menschen, die ihrer Meinung nach tot besser dran waren als lebendig. Der Führer hatte denselben Tod übrigens auch für das ganze deutsche Volk vor Augen, falls Deutschland den Krieg verlieren würde: Er versprach bei seinem Ehrenwort, eine ausreichende Menge Gas für dieses Szenario gesichert zu haben. Selbst bei den Nürnberger Prozessen sprachen die führenden Nationalsozialisten noch arglos über diesen Tod wie über einen »medizinischen Akt« – einen präzisionstherapeutischen Eingriff, um die Gesellschaft zu »heilen«.

Hannah Arendt notiert, dass eines noch erstaunlicher gewesen sei als der

wohlwollende Aufruf zur Mitarbeit, den Eichmann an die Juden richtete: dass er diese Mitarbeit auch bekam. »Die Judenräte wurden von Eichmann oder seinen Leuten darüber informiert, wie viele Juden man für die jeweils bewilligten Züge benötigte, und sie stellten danach die Listen der zu Deportierenden auf. Und die Juden ließen sich registrieren, sie füllten zahllose Formulare aus, beantworteten unendlich ausführliche Fragebogen über ihren Besitz, damit die Beschlagnahme ohne Komplikationen erfolgen konnte, und dann fanden sie sich pünktlich an den Sammelstellen ein und kletterten in die Güterwagen. Die wenigen, die sich zu verbergen oder zu entfliehen suchten, wurden von besonderen jüdischen Polizeitruppen ausfindig gemacht. Eichmann sah nur, daß keiner protestierte, daß alles klappte, weil alle ›zusammenarbeiteten‹. ›Immerzu fahren hier die Leute zu ihrem eigenen Begräbnis‹, schrieb eine Berliner Jüdin im Jahre 1943. Sie wußten alle Bescheid.«¹⁷²

Die Judenräte machten bei Eichmanns »Projekt« mit, »bis sie selbst auch deportiert wurden, immerhin gewöhnlich ›nur‹ nach Theresienstadt oder BergenBelsen, wenn sie aus Mittel- und Westeuropa kamen, jedoch nach Auschwitz, wenn es sich um Ostjuden handelte« (Hannah Arendt)¹⁷³. Mitunter gab es heldenhaften Widerstand, und die grausame Weise, wie dieser niedergeschlagen wurde, wird sicher sehr zu seiner Entmutigung beigetragen haben. Man denke nur an die 425 jungen holländischen Juden, die nach dem Kampf einer jüdischen Widerstandsgruppe mit der deutschen Polizei monatelang in Buchenwald gefoltert wurden, bis der Tod eintrat.¹⁷⁴ Aber in welchem Maße die Opfer sich in einer Reihe von Punkten den Plänen der Nazihenker fügten, darf aus psychologischer Perspektive nicht ignoriert werden – offenbar war auch ein Großteil von ihnen durch die Massenbildung verblendet.

Und die Juden waren in ihrer Positionierung als Opfer keineswegs die Ausnahme. Die Deutschen selbst blieben Hitler bei seinen Plänen treu, obwohl diese beinhalteten, dass auch unter ihnen große Säuberungen durchgeführt werden würden (geplant war die Eliminierung von Deutschen mit Herz- und Lungenproblemen, danach von jenen mit anderen Defiziten jeglicher Art – Pläne, die nicht umgesetzt wurden, weil der Verlauf des Krieges dem zuvorkam). Und auch in der Sowjetunion warteten alle geduldig, bis sie an der Reihe waren, verhaftet und in die Gulags gebracht zu werden (wie man in Archipel Gulag von

Solschenizyn¹⁷⁵ nachlesen kann). Ich habe selbst mit Bestürzung eine Frau, die in der Sowjetunion aufgewachsen war und ihren Vater und ihren Onkel an die Gulags verloren hatte, schulterzuckend sagen hören, das System habe eben »seine Vor- und Nachteile« gehabt. Von Massenbildung werden also sowohl Opfer als auch Täter erfasst.

Dass sich die totalitären Führer selbst in einer Form von Hypnose befinden, wird auch treffend durch ihre psychologische Reaktion illustriert, wenn sie aus der Masse entfernt werden. Wenn führende Nazis längere Zeit in Ländern stationiert waren, die sich als gegen die Massenbildung immun erwiesen, wie Dänemark oder Bulgarien, geschah etwas Typisches: Sie begannen, an der Sache, der sie dienten, zu zweifeln, und das Naziregime konnte sich nicht mehr auf sie verlassen.¹⁷ Mit anderen Worten: Sie wachten auf. Das zeigt, dass die Führer nicht nur von ihrer Ideologie hypnotisiert sind, sondern auch von der Masse. Der Führer gerät selbst in Verzückung durch die immensen Effekte, die er in der Masse hervorruft. Zwischen dem psychologischen Zustand der Masse und dem ihrer Führer besteht eine Art zirkuläre Kausalität: Sie hypnotisieren sich gegenseitig.

Dass der totalitäre Führer selbst unter Hypnose und blind ist, bedeutet nicht, dass er alles glaubt, was er der Bevölkerung erzählt. Im Gegenteil. Man sollte es korrekter so formulieren: Er glaubt blindlings an die Ideologie, die er zu oktroyieren versucht, aber nicht an den Diskurs, den er benutzt, um diese Ideologie zu promoten. Er glaubt so fanatisch an seine Ideologie, dass er es für gerechtfertigt erachtet, unbegrenzt zu manipulieren, zu lügen und zu betrügen, um sie zu verwirklichen. Man ist auf dem Weg zur besten aller Welten, und deshalb kann man sich alles erlauben.

Das zeigt sich deutlich am Umgang des Nationalsozialismus und des Stalinismus mit Zahlen und Statistiken. Beide machten in ihrer Propaganda reichlich Gebrauch davon, was den wissenschaftlichen Allüren ihrer Erzählung (und der Erzählung jedes totalitären Systems) entsprach. Im Laufe der Zeit wies das Zahlenwerk zunehmend eine radikale »Verachtung für Fakten« auf, in dem

Maße, wie die Fakten angepasst wurden, um die Zahlen stimmen zu lassen. In der Sowjetunion war es nicht ungewöhnlich, am Ende der Woche willkürlich auf der Straße »Verräter« aufzugreifen, wenn die vorher festgelegten Quoten noch nicht erreicht waren.¹⁷⁷ So wurden die Wissenschaftler, die sich vom Totalitarismus hypnotisieren ließen, innerhalb kurzer Zeit zu »Scharlatanen«.¹⁷⁸ Sie endeten schließlich typischerweise in einem Diskurs, der sich nicht einmal mehr die Mühe machte, seinen betrügerischen und manipulativen Charakter zu verhüllen.¹⁷

Die Masse ist erstaunlicherweise immer wieder bereit, ihren Führern zu vergeben. Jeder unleugbare Beweis von Manipulation und Lügen wird mit Sätzen wie »Es mag vielleicht gemein sein, aber es ist doch schlau« oder »Letztendlich tun sie es für unser Wohlergehen« schöngeredet: »Totalitäre Führer haben ihre gesamte Propaganda auf die psychologisch richtige Annahme gegründet, daß dieselben Menschen heute dazu gebracht werden können, die unglaublichsten Märchen zu akzeptieren, und morgen, wenn sie sich von der Unrichtigkeit der Märchen überzeugt haben sollten, dazu gebracht werden können, zynisch zu behaupten, sie hätten die Lügen von vornherein durchschaut und seien stolz darauf, Führer zu haben, die so souverän andere Leute an der Nase herumzuführen verstünden.«¹⁸

Genau wie die Bevölkerung (siehe Kapitel 6) sind auch die »Lenker der Masse« zu fanatischer Selbstverleugnung imstande.¹⁸¹ Eine der verblüffendsten Beobachtungen bei den Hinrichtungen der verurteilten führenden Vertreter der kommunistischen Partei während der Moskauer Prozesse war die reuige Akzeptanz, die sie zeigten¹⁸² (auch meisterhaft von George Orwell in Farm der Tiere beschrieben).¹⁸³ Obwohl sie meistens hinsichtlich der ihnen zur Last gelegten Verbrechen vollkommen unschuldig waren, nahmen sie ihre Strafe demütig an und bekannten sich schuldig. Mehr noch: Sie lieferten oft eifrig selbst Beweise für ihre Schuld und trugen zu ihrer eigenen Verurteilung bei, wenn sie nur sicher sein konnten, dass ihr Status als Parteimitglied bestehen blieb.¹⁸⁴ Sie zogen es vor, die Hypnose bis in den Tod aufrechtzuerhalten. Kurz davor aufzuwachen wäre vielleicht auch sehr schmerzhaft gewesen.

Das führte zu einer befremdlichen Dynamik, bei der Parteimitglieder, ohne mit der Wimper zu zucken, Freunde, Kollegen und jeden anderen in ihrer Umgebung der absurden Grausamkeit des Systems auslieferten, bis sie selbst vom Monster des Totalitarismus verschlungen wurden: »Die da an der Macht standen, waren – die Mehrzahl – bis zum Augenblick der eigenen Verhaftung mit dem Einsperren anderer unbarmherzig zur Hand; willfährig und denselben Instruktionen folgend, vernichteten sie ihre Mitmenschen, lieferten jeden gestrigen Freund oder Kampfgenossen nach Belieben dem Henker aus.«¹⁸⁵

Das zeigt uns erneut: Das Wesen des Totalitarismus ist nicht utilitaristisch oder auf egoistischen Vorteil bedacht. Geld und Macht sind nur Zwischenziele. Das Endziel ist die Verwirklichung einer ideologischen Fiktion, und dafür opfert der totalitäre Führer seine eigenen Interessen blindlings auf.¹⁸ Darauf zielt Le Bon, wenn er konstatiert, dass die Führer der Masse selbst auch geführt werden, vor allem durch die Ideologie, an die sie fanatisch glauben.¹⁸⁷

Der antiutilitaristische Charakter zeigt sich auch in der Unerschrockenheit, mit der totalitäre Regimes ihre eigene Wirtschaft zerstörten. Ihre Unternehmungen liefen immer wieder auf ökonomische Verwüstungen hinaus. So könnte man meinen, dass es bei den Arbeitslagern um billige Arbeitskräfte und Gewinn ging, aber nichts ist weniger wahr.¹⁸⁸ ¹⁸ ¹ Sie waren so organisiert, dass sie überhaupt nichts einbrachten, ja sich kaum selbst trugen. Die Lager waren primär Experimentierräume, Pilotprojekte für eine ideale Gesellschaft, wo eine Elite lernte, wie sie eine Bevölkerung willenlos ihrer Ideologie unterwerfen konnte.¹ ¹ Experimente an Menschen sind eine prototypische Aktivität des Totalitarismus, die ultimative Unterwerfung der Realität unter die pseudowissenschaftliche ideologische Fiktion.

Das alles bedeutet nicht, dass der totalitäre Führer ein klassischer Idealist ist. Von diesem unterscheidet er sich durch seine radikale, fanatische Blindheit und zweifellos auch durch eine bemerkenswerte Prinzipienlosigkeit und eine Abneigung gegen Gesetze. Er regiert zum Beispiel typischerweise per Dekret, das heißt auf der Grundlage zeitweiliger »Regeln«, die man willkürlich ändern

kann.¹ ² Das einzige Gesetz, dem er wirklich huldigt, ist, dass es keine Gesetze gibt (siehe z. B. Arendt¹ ³ und Solschenizyn¹ ⁴). Diese Gefahr laufen wir übrigens auch mit dem Pandemiegesetz: dass es ein Gesetz wird, das alle Gesetze und Rechte abschafft. In einer Pandemie gibt es kein Demonstrationsrecht, keine Notwendigkeit mehr für die Regierung, ihre Aktionen vom Parlament billigen zu lassen, keine Notwendigkeit mehr, Privateigentum zu respektieren usw. In Kombination mit der Tatsache, dass es durch die Testpraxis möglich ist, die pandemische Notlage quasi in jedem Moment auszurufen, bedarf es keiner weiteren Erörterung, welchem Risiko die Gesellschaft ausgesetzt ist.

Jedes Gesetz ist ein Hindernis bei der Durchsetzung der eisernen Logik der totalitären Theorie. »Wenn wir das Endziel der Geschichte verwirklichen wollen – die Herrschaft des Proletariats, die Erschaffung einer Superrasse usw. –, dann müssen wir alle Aristokraten und Bauern eliminieren, müssen wir Behinderte und Juden ausrotten usw.« Aber auch: »Wenn wir die Überlastung der Intensivstationen verhindern wollen, dann müssen wir in den Lockdown gehen und die ganze Gesellschaft stilllegen, alten Menschen verbieten, ihre Enkel zu sehen, dann dürfen wir bei Unfällen keine Erste Hilfe mehr leisten, dürfen Frauen, die gerade entbunden haben, ihr neugeborenes Baby nicht mehr im Arm halten, darf nicht mehr demonstriert werden, dürfen Ungeimpfte nicht mehr reisen und nicht mehr in der Pflege arbeiten usw.« Hätte jemand vor der Coronakrise eine solche Argumentation zum Besten gegeben, hätte man sich voller Mitleid gefragt, wie es um seine mentale Gesundheit bestellt sei. Nun scheint es für viele eine unerschütterliche Wahrheit zu sein. »Wer A gesagt hat, muß auch B sagen […] und so weiter bis zum Ende des mörderischen Alphabets«, schrieb Hannah Arendt.¹ ⁵ Wenn man einmal den Ausgangspunkt der Logik akzeptiert hat, dann ergibt sich alles Weitere unvermeidlich daraus.¹ Jedes logische Gegenargument wird systematisch aus dem Aufmerksamkeitsbereich verdrängt und »unschädlich« gemacht, und Schritt für Schritt werden alle normalen ethischen Grenzen überschritten.

Der frenetische Drang des Totalitarismus, der Gesellschaft eine basale Logik aufzuerlegen, zeigt sich auch in der Obsession für Zeichen, mal als unterscheidendes Merkmal für die Elite genutzt (Uniformen, Orden, Abzeichen

usw.),¹ ⁷ mal als Stigma für die »objektiven Feinde« des Regimes, das notfalls ins Fleisch gebrannt wird (man denke an die tätowierten Nummern in Auschwitz, aber auch in den Gulags hatte jede Gruppe ihre Zeichen). Mit seinem Zeichensystem versucht der Totalitarismus, dem Realen seine Logik aufzuprägen, sie fest mit den Objekten zu verbinden. Das Zuweisen von Zeichen und Stigmata ist dabei gewöhnlich der erste Schritt im Vernichtungsprozess.¹ ⁸

An diesem Punkt können wir den psychologischen Kern des Totalitarismus genau bestimmen: Totalitarismus ist ein Versuch, die Mehrdeutigkeit der menschlichen Sprache auf die Eindeutigkeit eines Zeichensystems zu reduzieren. Wie wir in Kapitel 5 besprochen haben, liegt der Unterschied zwischen Mensch und Tier primär im verwendeten Kommunikationssystem. Tiere benutzen Zeichen, die in einer festen und relativ unveränderlichen Beziehung zu demjenigen stehen, worauf sie verweisen (der silberweiße Bauch des Stichlingsweibchens signalisiert sexuelle Empfänglichkeit, gleichbleibend, über alle Individuen, Kontexte, Zeitalter und Orte hinweg); Menschen benutzen Symbole oder Wörter (Signifikanten), die abhängig vom Kontext, in dem sie erscheinen, ganz unterschiedliche Bedeutungen haben können. Diese Eigenschaft der menschlichen Sprache bringt Reichtum und Abwechslung in die menschliche Erfahrung und Kultur, endlose Möglichkeiten zur Schaffung neuer Ausdrucksformen und Identitäten. Doch sie führt auch zu einer fundamentalen Unsicherheit, die die größte Pein des Menschen ist. Kein anderes Lebewesen wird von Fragen gequält wie »Wer bin ich?«, »Was will ich?«, »Was bedeute ich dem Anderen?«.

Totalitarismus ist der ultimative Versuch, sich von dieser Unsicherheit zu befreien durch den Rückzug in eine (pseudo)wissenschaftliche Sicherheit und gnadenlose Logik, durch das Bemühen, Symbole auf Zeichen zu reduzieren und die Vielfalt in den kulturellen Ausdrucksformen zu beseitigen. Totalitarismus löscht diese Verschiedenheit auf jede nur denkbare Weise aus.¹ Die systematisierte und industrialisierte Deportation, Ausbeutung und Ermordung von Bevölkerungsgruppen in den Arbeitsund Vernichtungslagern sind historische Beispiele, die in unsere Netzhaut gebrannt sind.

Die Logik eines totalitären Systems ist fortwährend in Bewegung und wird typischerweise immer absurder. Der Existenzgrund eines totalitären Systems ist unter anderem, Angst zu kanalisieren, und deshalb muss es auch permanent neue Objekte der Angst benennen. Wenn es die Angst nicht mehr an ein Objekt koppeln kann, hat das System keinen Existenzgrund mehr. Sowohl der Nationalsozialismus als auch der Stalinismus restrukturierten sich immer wieder; der Kern des Phänomens des Totalitarismus ist dessen Dynamik. Die Richtlinien und Dekrete ändern sich ständig, es sind immer neue Reaktionen auf neue Bedrohungen nötig. Man denke an die Schweine in der Farm der Tiere,² die nachts neue Regeln an die Wand schrieben.

Auch in unserer Gesellschaft sehen wir in den letzten Jahrzehnten in immer schnellerem Tempo Objekte der Angst auftauchen, die zu immer mehr Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten führen: Terrorismus, Klimawandel, Coronavirus. Vor allem in der Coronakrise werden wir ständig mit neuen Bedrohungen und der Notwendigkeit neuer Aktionen konfrontiert (siehe die endlose Reihe von Virusvarianten, die immer wieder neue Maßnahmen erforderlich machen). Die Art und Weise, wie sich die Erzählung entwickelte, war im Übrigen durch merkwürdige, schrille Änderungen gekennzeichnet: Zuerst wurden die Lockdowns mit dem Flatten-the-Curve-Prinzip gerechtfertigt. Das Virus würde sich sowieso verbreiten, es gehe nur darum, die Verbreitung zu verlangsamen. Dann ging man zum Crash-the-Curve-Prinzip über: Auf einmal ging es nicht mehr darum, die Verbreitung zu verlangsamen, sondern darum, die Zahl der Infektionen auf null zu bringen – etwas, das man anfangs als unmöglich bezeichnet hatte. Und als die Infektionen so gut wie verschwunden waren, begann man immer mehr Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu verhindern (man schaltete sozusagen auf das Prevent-the-Curve-Prinzip um). Mit der Zeit änderten sich die Regeln so schnell, dass niemand sie mehr zu kennen schien und man mehr und mehr passiv akzeptierte, dass man fortan für alles mit einem Bußgeld belegt werden konnte, ohne dass es wirklich ein Gesetz gab, das einen gegen diese Willkür schützte.

Während dieses ganzen Prozesses zeigt sich die Erzählung immun gegen Kritik und bestätigt sich selbst bis ins Absurde. Auf paradoxe Weise werden zum Beispiel die Opfer, die durch die Maßnahmen entstehen (etwa durch Einsamkeit

in Seniorenheimen), als Argument für die Maßnahmen gebraucht. Man zählt sie einfach zur allgemeinen Übersterblichkeit hinzu und benutzt sie so, um die Maßnahmen zu rechtfertigen. Im gleichen Sinne warnte die UNO, dass Hungersnöte infolge der Lockdowns bald Millionen von Opfern fordern könnten.² ¹ Wir laufen Gefahr, dass auch diese zu Unrecht zu den Coronaopfern gezählt werden und dass die Angst und damit auch der Rückhalt für strengere Maßnahmen exponentiell zunehmen. Und dasselbe Problem droht mit den Nebenwirkungen und den Opfern der Impfkampagne. Auf diese Weise kann die Gesellschaft in einen Teufelskreis geraten: Je strenger die Maßnahmen, desto mehr Opfer; je mehr Opfer, desto strenger die Maßnahmen.

Dass all dies eher als Phänomen der Massenpsychologie denn als böswillige, vorsätzliche Täuschung (d. h. als Verschwörung; siehe Kapitel 8) verstanden werden muss, macht es nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil. Der Mangel an kritischer Reflexion, die ungerechte Verteilung der Empathie und die Bereitschaft eines Teils der Bevölkerung, große persönliche Verluste zu akzeptieren, sind ein extrem gefährlicher Cocktail. Die Art und Weise, wie Ungeimpften der Zugang zu Teilen des sozialen Raums versagt wird, ja sogar ein Rückhalt dafür entsteht, ihnen den Zugang zu Läden und Krankenhäusern zu verwehren, ruft die unangenehmsten Reminiszenzen wach und kann durchaus der erste Schritt zu einem infernalischen Zyklus der Entmenschlichung werden.

Wir dürfen nicht unterschätzen, wohin das in Zukunft führen kann. Und nicht nur für die Menschen, die gegen das System opponieren. Die während der Coronakrise geäußerte Idee, infizierte Individuen in Isolationszentren unterzubringen, wird jetzt noch als »unrealistisch« und »unverhältnismäßig« betrachtet, aber innerhalb einer unheimlichen virologischen Erzählung wäre das durchaus ein logischer nächster Schritt. Sofern man nicht außerhalb dieser Erzählung zu denken vermag, braucht es also bloß eine Zunahme der Angst, um auch diese Idee als »notwendig für die Volksgesundheit« zu erachten. In Kombination mit der Manipulierbarkeit von Coronatests und einer feudalen Umverteilung der Macht (Bürgermeister und Gouverneure werden aufgrund der Sackgasse, in die die internationale Politik geraten ist, mit nie da gewesener Macht ausgestattet) sieht man, was am Horizont erscheint: die willkürliche Festnahme, Isolierung und »Behandlung« »infizierter« Menschen.

Gesellschaftssysteme, die zum Totalitarismus tendieren, führen alle zu ungefähr demselben Phänomen, wie unterschiedlich ihre Erzählungen inhaltlich auch sein mögen.

Der Teufelskreis, in dem Massenbildung und Totalitarismus in der Regel enden, ist auf zynische Weise auch »beruhigend«: Massenbildung und Totalitarismus vernichten sich mit logischer Notwendigkeit selbst.² ² Sie sind inhärent selbstzerstörerisch. Den zugrunde liegenden Mechanismus der Selbstdestruktivität kann man unter anderem so verstehen: Massenbildung nährt sich von Angst und Aggression; ohne Angst und die Aussicht auf Befriedigung der Aggression kommt die Massendynamik zum Stillstand. Den Führern der Masse ist bewusst: Wenn das passiert, wird die Masse aufwachen und erkennen, welchen Schaden sie erlitten hat; daraufhin wird sie sich auf letale Weise gegen sie wenden. Folglich haben die Führer keine andere Wahl, als immer wieder neue Objekte der Angst zu benennen und neue Maßnahmen einzuführen, um diese Objekte zu vernichten. Und der totalitarisierte Teil der Bevölkerung folgt ihnen dabei bereitwillig aus den im vorigen Kapitel beschriebenen Gründen: So bleibt die Angst an ein Objekt gekoppelt, können die Menschen ihre Frustration und Destruktivität abreagieren und das neue soziale Band über neue Rituale des Todes immer wieder herstellen. Das ist die Art und Weise, wie der selbstzerstörerische Teufelskreis des Totalitarismus (und der Massenbildung) funktioniert.

Die Selbstdestruktivität totalitärer Systeme erreicht ihren Höhepunkt typischerweise in dem Moment, da es dem System gelingt, jede Gegenstimme zum Schweigen zu bringen und die Opposition mundtot zu machen. In der Sowjetunion war dieser Punkt um 1930 erreicht (als Stalin quasi unbegrenzte Macht erlangt hatte und mit seinen absolut willkürlichen und absurden »Großen Säuberungen« begann) und in Nazideutschland um 1935. Auch hier sieht man einen radikalen Unterschied zu Diktaturen, die fast immer ihre Aggression mildern, wenn sie die Macht erst einmal fest in den Händen haben. Der klassische Diktator benutzt in diesem Moment im Grunde nur seinen gesunden Menschenverstand: Wenn ich an der Macht bleiben will, muss ich die Bevölkerung überzeugen, dass es zu ihrem Besten wäre. Da der totalitäre Führer durch seine Ideologie und die damit einhergehende Massenbildung verblendet

ist, fehlt ihm dieser gesunde Menschenverstand. Sobald er die Macht hat, folgt er dem Wahnsinn seiner Logik einfach bis zum Äußersten. Während die Gegenstimme also für das von Massenbildung erfasste Individuum höchst aversiv ist, ist sie für ihn buchstäblich lebenswichtig – eine bittere Medizin, der er mit aller Kraft zu entkommen versucht, ohne die er jedoch dem Tode geweiht ist. Ohne eine Gegenstimme, die die massive Resonanz der Massenerzählung durchbricht, verfällt ein totalitäres System in radikale Selbstdestruktivität, wird die Hypnose komplett. Der totalitäre Staat wird in diesem Moment zu einem »Monster, das seine eigenen Kinder zu verschlingen beginnt«.² ³

Wer wissen will, wie unberechenbar und absurd eine solche Destruktivität werden kann, der lese Solschenizyns Bericht über die verschiedenen Wellen der Verfolgungen und Genozide unter Stalin.² ⁴ Immer wieder neue Bevölkerungsgruppen wurden als »objektive Feinde« bezeichnet – Menschen, die keine einzige feindliche Tat begangen hatten, aber aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit für dazu fähig gehalten wurden. Die neuen Feinde wurden dann jedes Mal isoliert und eliminiert.² ⁵ ² Zunächst ließ sich in den »Großen Säuberungen« noch eine gewisse Logik entdecken: Sie begannen mit der Deportation der Bourgeoisie; es folgten die Offiziere, die aus dem Ausland zurückkehrten (die waren zu sehr von kapitalistischer Logik indoktriniert), dann alle, die auch nur irgendetwas mit Religion zu tun hatten (die waren nicht zum Kommunismus zu bekehren), dann alle Personen, die Gold besitzen konnten (Zahnärzte, Uhrmacher, Juweliere usw.), dann die Bauern, die ein klein wenig wohlhabender waren als andere, und schließlich schlicht alle Bauern. All dies waren Menschen, die als zu »kleinbürgerlich« galten oder womöglich durch zu viel Kontakt mit Kapitalisten angegriffen waren. Doch später – als all diese Gruppen deportiert oder vernichtet worden waren – musste das System seinen Zerstörungstrieb auch weiterhin ausleben, und so wurden vollkommen willkürlich »kriminelle« Bevölkerungsgruppen zum Objekt der Zerstörung.² ⁷ Die wirbelnde, destruktive Dynamik totalitärer Systeme kam auch in Deutschland zum Tragen, konnte sich dort aber nicht bis zum Ende entfalten.² ⁸ Nachdem Juden, Sinti und Roma in die Konzentrationslager deportiert worden waren, hatte Hitler nicht nur die Ukrainer und Polen im Visier, sondern auch alle Deutschen mit Herz- und Lungenproblemen. Der Krieg sorgte schließlich dafür, dass diese Pläne nicht verwirklicht werden konnten.

Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass Totalitarismus seinen Ausgang in megalomanen, aber doch auch »guten« Absichten nimmt. Er strebt nicht weniger als eine totale Transformation der Gesellschaft in Richtung eines ideologischen Idealbilds an (z. B. die rassereine Gesellschaft des Nationalsozialismus, die Herrschaft des Proletariats im Stalinismus), aber die Erschaffung des Paradieses endet typischerweise in einem Inferno. Die Geschichte des Stalinismus illustriert das auf besonders bittere Weise. Die Bolschewiki traten mit dem festen Willen an, die Missstände im zaristischen Russland zu beseitigen. Unter den Zaren wurden zum Beispiel ungefähr 17 Todesstrafen pro Jahr vollstreckt. Die kommunistischen Revolutionäre fanden das skandalös. Sie schrien Zeter und Mordio: Die Todesstrafe müsse abgeschafft werden. Es stand allerdings eine kleine Fußnote im Vertrag: Anfangs würde es weiterhin Todesstrafen geben, solange dies nötig sei, um den Kommunismus selbst als System zu installieren. In der ersten Zeit nach der Russischen Revolution von 1917 kam man auf 540 Todesstrafen pro Jahr; nach ein paar Jahren waren es bereits 12 000 pro Jahr und zwischen 1937 und 1938 mehr als 600 000 pro Jahr.²

Und fast noch erschütternder als die Zahl der Opfer war die vollkommene Willkür, mit der die Menschen verurteilt wurden. Jede Stadt und jede Region bekamen eine wöchentliche und monatliche Quote auferlegt, wie viele »Verräter« inhaftiert werden sollten. Wenn die lokalen Mandatsträger am Ende der Frist konstatierten, dass die vorgeschriebene Zahl noch nicht erreicht war, dann zog man los und nahm auf der Straße nahezu wahllos jeden Beliebigen fest: »Die Organe verfügten meist über keine fundierte Motivierung für die Auswahl der zu Verhaftenden, der auf freiem Fuß zu Belassenden, sie hatten ja einzig und allein die Sollziffer zu erreichen. Die Erzielung der vorgegebenen Zahl konnte nach bestimmten Richtlinien erfolgen, ein andermal aber auch völlig zufällig sein.«²¹

Die Revolutionäre behaupteten nicht nur, die Todesstrafe abschaffen zu wollen, sie wollten auch jede Form der Sklaverei abschaffen. Aber auch das lief anders als erwartet. Solschenizyn präsentiert einen erschütternden Vergleich zwischen den Lebensbedingungen des »Proletariats« unter den Zaren und unter Stalin. Er beschreibt dort unter anderem, wie die Leibeigenen unter den Zaren im Winter maximal sieben und im Sommer zwölf Stunden arbeiten durften. Bei der

Zuteilung von Aufträgen und Arbeiten wurden die körperlichen Grenzen des Arbeiters immer berücksichtigt. Die Arbeitslager waren alles in allem auch vergleichsweise erträglich. Dostojewski beschrieb sie als so angenehm, dass die Adligen befürchteten, sie könnten ihren Schrecken verlieren. Unter dem Stalinismus änderte sich das Schicksal der Gefangenen tatsächlich tiefgreifend, leider zum Negativen. Ein konkreter Vergleichspunkt: Unter den Zaren mussten sie 3 Pud Erz am Tag abbauen, unter den Kommunisten wurden es 800(!) Pud.²¹¹

Ein weiterer guter Vorsatz der Bolschewiki war, das Schicksal der Bauern zu verbessern, aber auf der Strecke besann man sich anders. In ihrer Verbundenheit mit ihrem Land und ihren Tieren waren die Kulaken zu »kleinbürgerlich«,²¹² nicht geeignet, den Moloch des kommunistischen Staates leidenschaftlich zu lieben. Die Kommunisten beschlossen per Dekret, dass die Bauern als Klasse ausgerottet werden sollten. Innerhalb kürzester Zeit startete man eine Deportationspolitik, die in der Geschichte in vielerlei Hinsicht ihresgleichen sucht. Dutzende Millionen Bauern wurden in sogenannte Sondersiedlungen getrieben,²¹³ wo sie aufgrund der vollkommen unmenschlichen Bedingungen oft bis zum letzten Mann starben. Sie wurden also wieder zu Leibeigenen gemacht, Leibeigenen, denen es in nahezu jeder Beziehung wesentlich schlechter ging als unter den Zaren.

»Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung«, sagte Gustave Le Bon.²¹⁴ Sie streben nach dem höchsten Gut und stellen Solidarität über alles, sie glauben an ein ideologisches Paradies, aber das Ergebnis ist immer das gleiche: ein Inferno. Die Masse und ihre Lenker werden blind in dem destruktiven Mahlstrom mitgerissen, bis zur äußersten Konsequenz getrieben von der Logik, in der ihr Geist befangen ist, der mechanistischen Logik des toten, entseelten Universums. Wie wir im nächsten Kapitel vertiefen werden, sind die eigentlichen Herren der Lage nicht die Lenker, sondern die Erzählungen und die ihnen zugrunde liegende Ideologie; diese Ideologien ergreifen von allen Besitz und gehören niemandem; jeder spielt eine Rolle darin, keiner kennt das komplette Skript.

KAPITEL 8

VERSCHWÖRUNG UND IDEOLOGIE

»Wenn es nur so einfach wäre! – daß irgendwo schwarze Menschen mit böser Absicht schwarze Werke vollbringen und es nur darauf ankäme, sie unter den übrigen zu erkennen und zu vernichten. Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?«

Alexander Solschenizyn²¹⁵

Versuchen Sie einmal Folgendes: Zeichnen Sie drei Punkte weit voneinander entfernt auf ein Blatt Papier. Zeichnen Sie dann noch einen vierten Punkt auf das Blatt, egal wo. Nehmen Sie anschließend ein Lineal und teilen Sie den Abstand zwischen diesem vierten Punkt und einem beliebigen der anderen drei Punkte durch zwei; zeichnen Sie dort einen neuen Punkt. Teilen Sie den Abstand von diesem neuen Punkt zu wiederum einem beliebigen der drei Eckpunkte abermals durch zwei und zeichnen Sie dort noch einen Punkt. Wiederholen Sie diesen Vorgang einige Hundert Mal, und Sie werden Zeuge eines verblüffenden Phänomens. Aus dem Nebel der Punkte wird langsam ein sogenanntes Sierpinski-Dreieck entstehen – eine Fraktalfigur, die von ihrer globalen Form bis ins winzigste Detail dasselbe Muster aufweist (ein Dreieck mit einem einbeschriebenen Dreieck, Abb. 4).

Abbildung 4

Man kann diesen Vorgang getrost mit zehn oder hundert oder noch mehr Menschen durchführen, die reihum einen Punkt auf dem Blatt hinzufügen. Man wird dann gemeinsam diese Figur erschaffen, indem jeder für sich jeweils dieselbe einfache Regel anwendet. Und das ist wichtig für das, was wir in diesem Kapitel besprechen werden: Für einen naiven Zuschauer würde unvermeidlich der Eindruck entstehen, dass die Menschen, die die Punkte zeichnen, detaillierte Vorkenntnisse über diese Figur haben und planmäßig und koordiniert zusammenarbeiten. Aber die Wirklichkeit ist anders: Niemand braucht die Figur zu kennen oder auch nur jemals gesehen zu haben. Es genügt, wenn alle unabhängig voneinander dieselben einfachen Regeln befolgen, während sie ihre Punkte zeichnen. Behalten Sie dieses Sierpinski-Dreieck im Hinterkopf, wenn Sie dieses Kapitel lesen. Sie werden sehen, dass es hier und da in dem Besprochenen mitschwingen wird.

Sind die Lenker der Masse Verschwörer? Kann man Massenbildung und Totalitarismus als etwas betrachten, das anhand eines ausgeklügelten großen Plans in Gang gesetzt wird, der von einigen wenigen aus dem Verborgenen koordiniert wird? Das ist eine legitime Frage. Hannah Arendt hat sie sich zum Beispiel in ihrem Werk über Totalitarismus wiederholt gestellt.

Eins steht fest: Die Lenker der Masse wurden im Laufe der Geschichte oft als Verschwörer angesehen. Während die Masse im 19. und 20. Jahrhundert an Kraft und Intensität zunahm, kamen auch Verschwörungstheorien in Schwang. Sie wurden dabei typischerweise genutzt, um komplexe gesellschaftliche Prozesse und Massenbildungen zu erklären. Die Mutter aller Verschwörungstheorien sind ohne Zweifel die Protokolle der Weisen von Zion. In diesem Pamphlet – das laut Henri Rollin²¹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur von der Bibel an Popularität übertroffen wurde – geht es, kurz gesagt, darum, dass es eine Art geheime jüdische Weltregierung gebe, die die nationalen Regierungen lenke und in der Hand habe.

Auf wie viel Beifall die Protokolle auch rechnen konnten, sie waren doch eine Erfindung. Ihr fiktiver Ursprung steht außer Frage. Sie beruhen auf einem Text, der 1864 von dem französischen Anwalt Maurice Joly unter dem Titel Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu²¹⁷ veröffentlicht wurde und eine Art Streitschrift war, in der der Autor den Machthunger Napoleons III. anprangerte. Der Text wurde Ende des 19. Jahrhunderts vom russischen Geheimdienst Ochrana bearbeitet und umgeformt, um den Antisemitismus in Russland anzufachen. Man behielt dabei ungefähr die Hälfte des Originaltexts bei, fügte hier und da ein paar Abschnitte hinzu und ersetzte »Frankreich« konsequent durch »Welt« und »Napoleon III.« durch »Juden«. Auf diese Weise fabrizierte man einen Text, in dem Theodor Herzl – der Begründer des Zionismus – an der Spitze einer jüdischen Verschwörung stand, die die Weltherrschaft anstrebte. 1905 wurde das durch diese Fälschungsarbeit entstandene Pamphlet publiziert und sofort eifrig von russischen Konservativen und Orthodoxen genutzt, um ihre antisemitische Agenda zu rechtfertigen. Von dort fand es seinen Weg ins Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in den Nahen Osten, wo es bis heute außerordentlich populär ist.

Die Neigung, große Massenbildungen auf Machenschaften einer böswilligen Elite zurückzuführen, besteht jedoch schon länger, mindestens seit dem Beginn der Aufklärung. Chevalier de Malet berichtete bereits 1817 von üppig wuchernden Theorien, die behaupteten, die Helden der Französischen Revolution seien in Wirklichkeit alle Geheimagenten von Freimaurerlogen gewesen, die wiederum zu einer größeren »revolutionären Sekte« gehörten, deren Ziel es sei, die öffentlichen Machthaber aus dem Verborgenen wie Marionetten zu manipulieren.²¹⁸ Diese Theorie wiederum beruhte auf den Monita Secreta,²¹ einer noch älteren Schrift, die eine Verschwörung von Jesuiten beschrieb und eine regelrechte Hetzkampagne gegen die gefestigte Ordnung war. Sie wurde 1614 erstmals publiziert und bis weit ins 20. Jahrhundert auf Büchermärkten überall in Europa verkauft.

Die oben genannten Theorien sind tatsächlich waschechte

Verschwörungstheorien. Aber heutzutage wird dieser Terminus bei passender und unpassender Gelegenheit verwendet, auch wenn es sich um Theorien handelt, bei denen von Verschwörung eigentlich keine Rede sein kann. Daher empfiehlt es sich, zunächst eine gewisse konzeptuelle Strenge anzustreben und den Begriff Verschwörung zu definieren. Bei Wikipedia finden wir: »Eine Verschwörung ist eine geheime Zusammenarbeit mehrerer Personen zum Nachteil Dritter.« Diese Definition zeigt, dass zumindest drei Kernmerkmale vorhanden sein müssen, um eine Aktivität als Verschwörung bezeichnen zu können:

1.Es muss sich um ein bewusstes, vorsätzliches und planmäßiges Streben handeln.

2.Dieses Streben muss einen verborgenen, geheimen Charakter haben.

3.Das Streben muss darauf gerichtet sein, Schaden zuzufügen (d. h., es muss eine gewisse Böswilligkeit gegenüber jemandem im Spiel sein).

In seiner heutigen Verwendung bezeichnet der Begriff jedoch ein breites Spektrum von Theorien. Manchmal wird er korrekt gebraucht, wenn es um Theorien über globale Schattenregierungen (wie die Illuminati, die Cabal usw.) geht, die die gesamte Weltgeschichte steuern sollen, oder – noch etwas exotischer – um Eliten außerirdischen Ursprungs, die mehr Reptil als Mensch sind und die Welt in ihrer Gewalt haben (siehe z. B. den QAnon-Diskurs). Doch gegenwärtig wird der Begriff – fälschlicherweise – auch verwendet, um intellektuell fruchtbare Beschreibungen und Analysen von Machtstrukturen in Bankwesen, Politik, Industrie, Ökonomie und Medien zu bezeichnen.

Der Begriff ist auf diese Weise zu einem Stigma geworden – einem diskursiven Mittel, mit dem der dominante Diskurs sich gegen kritische Reflexion schützt.

Das zeigt sich auch daran, dass er so gut wie nie auf Theorien angewendet wird, die auf einer Linie mit der dominanten Erzählung liegen und dennoch echte Verschwörungstheorien sind. Man denke beispielsweise an die Mutmaßungen, dass Russland die amerikanischen Wahlen zu beeinflussen versuche, dass die chinesische Regierung hinter Cyberangriffen stecke, dass Steve Bannon heimlich Berichte zirkulieren lasse, das Virus stamme aus einem Labor in Wuhan, dass Russland anarchistische Zeitungen aller Art in der westlichen Welt finanziere usw. Ob diese Mutmaßungen nun stimmen oder nicht, im Grunde sind sie reine Verschwörungstheorien. Dass sie nicht als solche stigmatisiert werden, liegt einzig und allein daran, dass sie zum dominanten gesellschaftlichen Diskurs gehören, wie er tagtäglich durch die Mainstreammedien konstruiert wird.

Nachdem das geklärt ist, kehren wir zur Frage zurück: Müssen wir Massenbildung als Folge einer Verschwörung betrachten? In der Masse wird die individuelle Seele durch eine gemeinsame Kollektivseele ersetzt, ließ Gustave Le Bon notieren.²² Die Masse handelt koordiniert und bedient sich derselben Parolen. Sie verwendet typische Gedanken und Ausdrucksweisen, die sich blitzschnell in ihren Reihen verbreiten (Le Bon sprach in diesem Zusammenhang von der »Ansteckungskraft« von Gedanken in einer Masse)²²¹. Jedes Segment der Gesellschaft ist an dieser pensée unique beteiligt – Politiker, Akademiker, mündliche und schriftliche Medien, Experten aller Art, Richter und Polizei. Auf diese Weise erweckt die Masse automatisch den Eindruck, ein in hohem Maße organisiertes Phänomen zu sein, und wer selbst aus irgendeinem Grund für Massenbildung nicht empfänglich ist und dieses gesellschaftliche Phänomen »von außen« beobachtet, ist nicht selten geneigt zu konstatieren: Hier muss eine massive bewusste und planmäßige Lenkung im Spiel sein.

In Kapitel 6 haben wir Massenbildung im Wesentlichen als Ergebnis eines Prozesses erklärt, bei dem Individuen von einem gemeinsamen Narrativ ergriffen werden, das sie in einem heroischen Kampf gegen ein Objekt der Angst vereint. Ob sich das Phänomen der Massenbildung damit vollständig erklären lässt, ist noch die Frage. So scheint es zum Beispiel zwischen Individuen, die eine Masse bilden, ein real-körperliches Gespür füreinander zu geben, das nicht nur mit dem Teilen desselben Narrativs erklärt werden kann. Das Phänomen weist direkte Parallelen zu der Art und Weise auf, wie komplexe und dynamische Systeme

sich in der Natur organisieren. Ein bekanntes Beispiel ist das Schwarmverhalten von Staren. In der Abenddämmerung kommen die Stare aus allen Richtungen zusammen und beginnen, sich in einem harmonischen Muster zu bewegen, so perfekt, dass der Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen den Schwarm als »Superindividuum« bezeichnete,²²² eine Art überwölbende Einheit, in der alle Individuen wie Zellen ein und desselben Körpers miteinander verbunden sind. Sie haben dabei ein feines Gespür füreinander, ohne dass sich irgendeine Form von Kommunikation beobachten ließe.

Die Verbindung zwischen den Individuen in einer Masse kommt auf ähnliche Weise zustande. Das zeigt sich insbesondere, wenn Massen physisch zusammenkommen. Elias Canetti beschreibt es folgendermaßen: »Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plötzlich da ist, wo vorher nichts war. Einige wenige Leute mögen beisammengestanden haben, fünf oder zehn oder zwölf, nicht mehr. Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden. Plötzlich ist alles schwarz von Menschen. Von allen Seiten strömen andere zu, es ist, als hätten Straßen nur eine Richtung. Viele wissen nicht, was geschehen ist, sie haben auf Fragen nichts zu sagen; doch haben sie es eilig, dort zu sein, wo die meisten sind. Es ist eine Entschlossenheit in ihrer Bewegung, die sich vom Ausdruck gewöhnlicher Neugier sehr wohl unterscheidet. Die Bewegung der einen, meint man, teilt sich den anderen mit, aber das allein ist es nicht: Sie haben ein Ziel. Es ist da, bevor sie Worte dafür gefunden haben: Das Ziel ist das schwärzeste – der Ort, wo die meisten Menschen beisammen sind.«²²³.

Die Masse ist also nicht nur durch dieselben Gedanken, Überzeugungen und Verhaltensweisen vereint, sie scheint auch eine Art physische Einheit zu bilden. Auch das trägt zu dem überwältigenden Eindruck bei, sie sei das Produkt eines imposanten, planmäßigen Entwurfs.

Es ist jedoch nicht nur das Maß an Koordiniertheit der mentalen und körperlichen Bewegungen der Masse, das dazu führt, dass sie leicht als Produkt einer Verschwörung angesehen wird. Auch ihr (be)drohender Charakter trägt

dazu bei. Die Masse versucht typischerweise, der Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen; sie strebt nach Kontrolle über die Gesellschaft. Das ist schon immer so gewesen, aber seit die Massen langlebiger geworden sind und einen beständigen Einfluss auf die Struktur der Gesellschaft ausüben, ist das vielleicht noch spürbarer. Die moderne Masse drängt immer in dieselbe Richtung: die hyperkontrollierte Gesellschaft. Mit jedem neuen Objekt der Angst – Terrorismus, Klimaprobleme oder Viren – erhebt sich aus ihrem Bauch der Ruf nach mehr technologischer Kontrolle. Und diese Kontrolle kann scharfe und unerwartete Wendungen nehmen. Nach den Terroranschlägen von 2016 wurden im jüdischen Viertel von Antwerpen überall Kameras aufgehängt, um einen besseren Schutz gegen Terroristen zu gewährleisten, aber in der Coronakrise wurden diese Kameras genutzt, um zu kontrollieren, ob die Juden etwa die Synagoge besuchten.²²⁴ So kann sich das Blatt wenden.

Der Coronapass (mit QR-Code) fügt sich ebenfalls in diesen Trend zu immer mehr Kontrolle ein. Es entspricht perfekt der Logik der mechanistischen Ideologie, ihn langfristig (oder auch kurzfristig) durch ein ausgeklügelteres System zu ersetzen, das effizienter und fälschungssicherer ist. Eine belgische Ministerin ließ schon 2021 die Bemerkung fallen, dass ein elektronisches Armband eigentlich besser wäre (warum keine Fußfessel?). Der Teil der Bevölkerung, der von der mechanistischen Ideologie erfasst ist, wird ihr darin bestimmt folgen. Und die Technologie bietet zweifellos Aussicht auf noch effizientere »Lösungen« für dieses Problem. Am Horizont dieses Prozesses steht eine Gesellschaft, wie sie unter anderem der israelische Historiker Yuval Noah Harari beschreibt, in der Sensoren unter der Haut den Zustand unseres Bluts permanent überwachen und man nicht nur Krankheiten in einem frühen Stadium entdecken kann, sondern auch wissen wird, ob wir uns traurig, wütend oder ruhig fühlen.²²⁵

Wer nicht von der Massenbildung mitgesogen wird, befindet sich also zunächst in einer äußerst diffusen Situation, die er nicht versteht – das Phänomen Massenbildung wirkt auf Menschen, die nicht selbst davon erfasst sind, befremdlich und absurd – und in der er sich von der kontrollierenden Haltung der Masse und ihrer charakteristischen Intoleranz gegenüber jenen, die nicht dazugehören (siehe Kapitel 6), bedroht fühlt. In diesem Zustand entsteht bei dem

verwirrten Zuschauer typischerweise ein intensives Bedürfnis nach einem einfachen Schema, mit dem man die Komplexität mental beherrschen und die Angst und andere starke Emotionen einordnen und kontrollieren kann. Eine Interpretation als Verschwörung kommt diesem Bedürfnis entgegen. Sie führt die enorme Komplexität des Geschehens auf ein einfaches Schema zurück: Alle Angst wird an ein Objekt (eine Gruppe von Menschen, die vorsätzlich täuscht, die vermeintliche »Elite«) gekoppelt und so mental beherrschbar gemacht. Alle Schuld kann von sich abgeschoben und dem Anderen zugewiesen werden, und schließlich können dann auch alle Frustration und Wut auf dieses eine Objekt gerichtet werden. Damit zeugt fanatisches Verschwörungsdenken von der schier unwiderstehlichen Neigung des Menschen, bei Widrigkeiten jemanden zu finden, den man verantwortlich und folglich auch zum Objekt der Aggression machen kann. Es ist vielleicht eine allgemeine Regel: Je mehr Wut Menschen empfinden, desto mehr vorsätzliche Boshaftigkeit meinen sie wahrzunehmen.

Verschwörungsdenken – das Denken, das das ganze Weltgeschehen auf eine einzige große Verschwörung reduziert – hat also in gewissem Sinne dieselbe Funktion wie Massenbildung. Genau wie bei Massenbildung erfüllt dieser Prozess den Menschen mit einer Art Enthusiasmus. Die Kopplung der Angst, der Wut und der Unzufriedenheit an ein paar simple Vorstellungen führt dazu, dass sich ein stark negativer Zustand in einen (symptomatisch) positiven verkehrt. Alles ist nun anhand eines einfachen Schemas erklärbar; die Welt ist nicht mehr absurd, sondern logisch; man weiß, wo der Feind steht, und hat einen Punkt, auf den man seine Frustration und seine Wut richten kann; man kann sich von jeder Verantwortung freisprechen und braucht sich selbst nicht infrage zu stellen. Die Verschwörungsideen bekommen so eine enorme psychische Bedeutung. Durch die Vielzahl der Affekte, die damit verbunden sind, saugen sie sich an wie ein psychischer Magnet und drängen sich schließlich als Erklärung für nahezu alles auf, was geschieht.

Aus den eben genannten Gründen wird Verschwörungsdenken verführerisch. Die Verschwörungslogik hat daher die Neigung, immer weiter abzugleiten und schließlich im Absurden zu enden, selbst bei hochintelligenten Menschen. Letztlich entsteht ein so fundamentales Misstrauen, dass man automatisch davon ausgeht, dass das, was »der Mainstream« für richtig erachtet, falsch sein muss:

Wenn die Mainstreamerzählung zum Beispiel sagt, dass die Erde rund ist, dann muss sie flach sein. Verschwörungsdenken führt auch regelmäßig zur Entmenschlichung einer bestimmten Gruppe. (Dabei muss »Entmenschlichung« mitunter wörtlich genommen werden: Die Elite besteht aus Reptilien oder außerirdischen Wesen.) Die Elite ist das reine Böse; sie macht uns vorsätzlich krank durch giftige Substanzen in unserer Nahrung und in der Umwelt; sie ist seit Menschengedenken verantwortlich für die Gehirnwäsche von Kindern im Unterricht usw. Das Wissen und die Macht der Eliten werden dabei gern überschätzt. Die Eliten ringen nicht mit dem Mangel an Wissen, der für das menschliche Wesen so typisch ist, sie zweifeln oder zögern nicht, sie stoßen nicht auf unerwartete Wendungen, sie verrechnen sich nicht. Sie haben das ganze Weltgeschehen in der Hand. Verschwörungsdenken bläst so die Größe des perzipierten Feindes bis ins Unendliche auf, sodass man sich gegenüber diesem Giganten letztendlich nur ohnmächtig fühlen kann. Auf diese Weise trägt auch Verschwörungsdenken etwas Selbstzerstörerisches in sich.

Zu Verschwörungsdenken kommt es oft mehr der psychologischen »Vorteile« wegen als aus Liebe für die Fakten (was natürlich für viele Formen des Denkens gilt). Es hat nicht selten eine starke innere Logik, aber die Theorien neigen dazu, den Kontakt mit den Fakten zu meiden. Wenn man beispielsweise die Personen, die Gegenstand einer Verschwörungstheorie sind, näher kennenlernt, verliert die Theorie meist spontan jegliche Überzeugungskraft. Ein Beispiel aus der Coronakrise: Die Coronaexperten weckten bei vielen Menschen die Überzeugung, dass sie die Bevölkerung vorsätzlich täuschten, weil sie systematisch grobe statistische und andere Fehler machten. Es konnte doch nicht sein, dass Experten so dumm sind! Wenn man die betreffenden Experten jedoch näher kennenlernt, spürt man meist sofort, dass man ihre Fehler nicht in das einfache Schema klarer Manipulationsversuche zwingen kann. Im Juli 2021, kurz vor dem Sommerurlaub, hatte ich eine Versammlung mit ein paar Statistikern; sie waren an der Konstruktion von Modellen beteiligt, die den Verlauf der Infektionszahlen darstellten. Einer von ihnen äußerte seine Besorgtheit: Die Inzidenzen würden wieder steigen. Ich entgegnete sofort: »Zurzeit verreisen viele Menschen, die sich alle testen lassen. Hast du den Einfluss der höheren Testzahlen auf die Zahl der positiven Tests berücksichtigt?« Er schaute verzweifelt zu seinen Kollegen und wandte ein: »Nein, aber das tut niemand bei der Schätzung der Infektionszahlen.« »Und die Vorhersagen anhand dieser Modelle folgen doch der Zahl der Krankenhausaufnahmen.« »Wir haben

doch voriges Jahr gesehen, was im Herbst passiert ist, als wir den Modellen nicht gefolgt sind.« Und so weiter. Dass all seine Argumente Musterbeispiele von Scheinargumenten waren (argumentum ad populum, argumentum ad auctoritatem, false consensus etc.), entging diesem intelligenten Mann gänzlich. Nichts konnte ihm begreiflich machen, dass mehr Tests selbstverständlich zu mehr positiven Tests führen. Erinnern wir uns an das Experiment von Asch, das wir in Kapitel 6 besprochen haben – Massenbildung macht blind, und das gilt in gleichem Maße für intelligente wie für weniger intelligente Menschen. Man braucht also wirklich nicht Teil einer Verschwörung zu sein, um systematisch die dümmsten Fehler zu machen.

Auch die Einseitigkeit, mit der in den Mainstreammedien über die Coronakrise berichtet wird, scheint zunächst stark auf eine vorsätzliche und planmäßige Manipulation der Berichterstattung hinzuweisen. Warum kommen kaum »dissidente« Stimmen zu Wort? Wie kann man dieselben Falschinformationen ständig wiederholen? Und doch kenne ich verschiedene »coronakritische« Journalisten, die mir offen und ehrlich erklärten, dass es keine systematische, planmäßige Lenkung der Berichterstattung gebe. Es werde manchmal impliziter Druck auf die Medienwelt ausgeübt, das stimme. Zum Beispiel von Politikern, die suggerierten, dass es nicht die Zeit sei, durch Kritik an der Politik Verwirrung zu säen. In gewissem Sinne sei das eine undemokratische Beeinflussung der Presse – Journalisten sei bewusst, dass Politiker ihnen weniger Scoops gönnen würden, wenn sie zu viele kritische Stimmen zu Wort kommen ließen –, aber es bleibe doch eher Selbstzensur als Zensur.

Auch bei meinen Kontakten zu Politikern hatte ich denselben Eindruck: Es handelt sich in der Regel um Menschen, die zweifeln, die sich fragen, inwieweit sie es sich erlauben können, von den Maßnahmen abzuweichen, die andere Länder ergreifen, die Angst haben, für eventuelle Coronaopfer verantwortlich gemacht zu werden, falls sie weniger strenge Maßnahmen verhängen, die der Forderung der Masse entsprechen, entschlossen gegen Dissidenten aufzutreten. Und es gibt tatsächlich auch einige, die die Chance sehen, der Gesellschaft ihre Ideologie aufzuerlegen. Die meisten jedoch folgen letztlich einfach der Erzählung, ohne dass sie dies in »geheimen« Versammlungen verabreden müssten.

Ich hatte übrigens selbst auch das Privileg, zum Gegenstand einiger Verschwörungstheorien gemacht zu werden. Wie vielen Menschen, die sich auf irgendeine Weise kritisch äußern, wurde mir regelmäßig vorgeworfen, sogenannte controlled opposition zu sein (d. h., heimlich an der Coronapolitik mitzuwirken). Ich würde mit meinen psychologischen Theorien lediglich versuchen, die Opposition ruhig zu halten. Manche gingen noch weiter und glaubten, ich sei ein Satanist. Ich hatte in einigen Interviews ein paar mehr oder weniger korrekte Vorhersagen über den Verlauf der Coronakrise gemacht, zum Beispiel dass die Maßnahmen nach der Impfung der Bevölkerung nicht aufgehoben werden würden. Es war offensichtlich: Ich war in den Plan eingeweiht, der ausgerollt werden sollte. Und ganz im Stil von Teufelsanbetern hatte ich das Unheil, das uns bevorstand, im Voraus angekündigt. Ich bin mir bis zum heutigen Tage keiner Mitgliedschaft in irgendeiner sinistren Gesellschaft bewusst und glaube, dass es für meine »Vorhersagen« ganz einfache Gründe gibt. Ich fand in der Psycho-Logik der Coronaerzählung keinen Hinderungsgrund dafür, die Maßnahmen nach der Impfung weiter fortzusetzen. Die Angst war schon vor der Coronakrise vorhanden gewesen und würde mit der Impfung nicht verschwinden, unabhängig davon, ob der Impfstoff nun wirksam war oder nicht. Ich bin der Meinung, dass ich in dieser Angelegenheit durchaus mitreden kann, aber ich verstehe trotzdem, dass Satanismus als Erklärung für manche reizvoller ist.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich: Auch Menschen, die sich mit der dominanten Erzählung identifizierten, sahen in mir mitunter einen Verschwörer. Ich würde mitnichten an meine eigene Theorie über Massenbildung glauben, diese sei nur eine durchtriebene Form der Manipulation, um den gesellschaftlichen Rückhalt für die Maßnahmen zu schwächen; ich würde bloß eine Position in irgendeiner rechten Partei anstreben. Ich kann nur sagen: Ich wäre selbst höchst verwundert, meinen Namen bei den nächsten Wahlen auf den Stimmzetteln wiederzufinden.

Wird also überhaupt nicht gesteuert und manipuliert? Mit Sicherheit doch. Und mit den Mitteln, die den heutigen Massenmedien zur Verfügung stehen, sind die

Möglichkeiten dazu geradezu phänomenal. Aber diese Steuerung geschieht nicht primär durch Personen; die fundamentalste Steuerung ist unpersönlicher Art. Was steuert, ist in erster Linie eine Ideologie – eine Denkweise. Ideologien organisieren und strukturieren eine Gesellschaft progressiv und organisch. Wie wir in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich beschrieben haben, ist die dominante Ideologie mechanistisch. Diese Ideologie bezieht ihre Anziehungskraft aus dem utopischen Zukunftsbild eines künstlichen Paradieses (siehe Kapitel 3). Mensch und Welt sind Maschinen und können als solche verstanden und manipuliert werden. Die Störungen der Maschine, die Leiden verursachen, können mechanistisch »repariert« werden. Ja, selbst der Tod kann auf lange Sicht ausgeschaltet werden. Und all das ist möglich, ohne dass der Mensch seinen eigenen Anteil an seiner misslichen Lage zu untersuchen braucht, ohne dass er sich als moralisches und ethisches Wesen infrage stellen muss. Diese Ideologie macht das Leben kurzfristig bequemer; der Preis für die Bequemlichkeit wird nachträglich gezahlt (siehe Kapitel 5).

Auf dieser fundamentalen Ebene müssen wir die »geheimen« Kräfte situieren, die Individuen überwiegend in dieselbe Richtung lenken und letztlich die ganze Gesellschaft ordnen. Genau wie beim Zeichnen des Sierpinski-Dreiecks folgen alle denselben Regeln, und im Ergebnis entstehen streng regelmäßige Muster in der Gesellschaft. Wie Eisenspäne, die im Kraftfeld eines Magneten ausgestreut werden, formieren sich alle Individuen unter Einfluss dieser Kräfte zu einem perfekten Muster. Der Mensch ist den oben genannten »Verführungen« schon immer zum Opfer gefallen – der Illusion von rationalem Verständnis und Kontrolle, dem Widerwillen, sich selbst als Mensch kritisch zu befragen, dem Streben nach kurzfristiger Bequemlichkeit usw. Im religiösen Diskurs wurden diese Verführungen für gefährlich erachtet, aber mit der Entstehung des mechanistischen Denkens änderte sich das. Fortan wurden sie in der dominanten Erzählung verankert und zugleich von ihr gerechtfertigt. Führer und Geführte waren im Bann der unbegrenzten Möglichkeiten, die der menschliche Verstand zu bieten schien. Die ganze Evolution hin zu einer hyperkontrollierten technologischen Gesellschaft – der Überwachungsgesellschaft – ist schlicht unvermeidlich, solange der menschliche Geist in dieser Logik gefangen bleibt und (großenteils unbewusst) von diesen Attraktoren beherrscht wird. Es ist diese Ideologie, die die Gesellschaft umgestaltete, die neue Institutionen erschuf und neue Autoritätsfiguren erwählte. Der Übergang von einer Demokratie zu einer totalitären Technokratie, bei dem die Coronakrise ein »Großer Sprung« nach

vorn war, lag im Grunde von Anfang an in der Logik der mechanistischen Ideologie. In einem mechanistischen Universum ist es unvermeidlich der technische Experte, der aufgrund seines überlegenen mechanistischen Wissens das letzte Wort hat.

Aus dieser Ideologie heraus wurden Institutionen geschaffen, die Pläne machen, wie die zukünftige Gesellschaft aussehen und wie diese ideale zukünftige Gesellschaft mit Krisensituationen umgehen soll. Das Lockstep-Szenario der Rockefeller Foundation,²² das berühmte Event 201 der Bill-und-Melinda-GatesStiftung (in Zusammenarbeit mit dem Johns Hopkins Center for Health Security und dem Weltwirtschaftsforum)²²⁷ sowie das Buch COVID-19: Der große Umbruch von Klaus Schwab und Thierry Malleret²²⁸ sind Beispiele dafür. Für viele Menschen sind diese Dinge der Beweis dafür, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen, die wir jetzt erleben, alle geplant und das Produkt einer Verschwörung sind. Diese »Pläne« beschrieben schon im Voraus, dass die Gesellschaft im Falle einer Pandemie in den Lockdown gehen würde, dass ein biometrischer Pass eingeführt werden würde, dass Menschen mittels subkutaner Sensoren getrackt und getraced werden würden usw.

Wenn wir uns die Definition einer Verschwörung noch einmal vor Augen halten – ein geheimer, zielgerichteter, vorsätzlicher und böswilliger Plan –, dann fallen uns sofort zwei Dinge auf: Von geheim kann kaum die Rede sein, denn all die genannten »Pläne« sind offen und unverhüllt im Internet zu finden. Und ob diese Pläne durch gezielte Instruktionen den Diskurs und das Auftreten von Experten steuern, ist zumindest zweifelhaft. Die Kommunikation der Experten ist voll von Widersprüchen und Inkonsistenzen, Widerrufen und Korrekturen, ungeschickten Formulierungen und durchschaubaren Fehlern. Das sieht nicht nach der reibungslosen Ausführung eines vorab entworfenen Plans aus. Wenn das Verschwörer sind, dann sind es die miesesten aller Zeiten. Auch psychologische Kriegsführung kann natürlich Verwirrung und verwirrende Botschaften nutzen, was aber nicht dazu führt, dass Experten am nächsten Tag mit sichtlichem Unbehagen ihre Fehler vom Vortag zu berichtigen versuchen.

Nur in einem ist der Expertendiskurs konsistent: Die Schlussfolgerungen gehen immer in die Richtung einer technologisch und biomedizinisch kontrollierten Gesellschaft, mit anderen Worten: in die Richtung der Verwirklichung der mechanistischen Ideologie. Wir sehen damit in der Coronakrise exakt dieselben Probleme, wie sie die Replikationskrise in der akademischen Forschung offenbarte: ein Wirrwarr von Fehlern, Nachlässigkeiten und forcierten Argumentationen, mit denen die Forscher unbewusst ihre ideologischen Ausgangspunkte bestätigen (der sogenannte Allegiance-Effekt, siehe Kapitel 4).

Im ganzen Prozess der Machtausübung – des Gestaltens der Welt nach den ideologischen Überzeugungen – sind in der Regel nur wenige geheime Pläne und Verabredungen vonnöten. Wie schon Noam Chomsky schrieb: Wenn man jemandem sagen muss, was er tun soll, dann hat man die falsche Person gewählt.²² Mit anderen Worten: Die dominante Ideologie bestimmt, wer in Schlüsselpositionen gelangt. Jemand, der die Ideologie nicht teilt, ist gewöhnlich weniger erfolgreich in einer Gesellschaft, von einigen Ausnahmen abgesehen. Mithin folgen alle Menschen in Machtpositionen in ihrem Denken und Verhalten automatisch denselben Regeln und werden von denselben (oben beschriebenen) Attraktoren angezogen. Sie machen auch alle dieselben Denkfehler und verfallen in dasselbe absurde Verhalten, weil sie alle – unabhängig voneinander oder doch zumindest ohne dafür in geheimen Versammlungen zusammenkommen zu müssen – derselben verqueren Logik folgen. Man könnte es mit Computern vergleichen, die mit demselben falschen Programm laufen: Ihr »Verhalten« und ihr »Denken« werden alle die gleichen Abweichungen aufweisen, ohne dass sie untereinander »kommunizieren«. Es ist genau das, was uns das SierpinskiDreieck zeigt: Schwindelerregend exakte und regelmäßige Muster können entstehen, indem Individuen in ihrem Verhalten unabhängig voneinander dieselben einfachen Regeln befolgen, von demselben Set von Attraktoren angezogen werden. Der ultimative Meister ist die Ideologie, nicht die Elite.

Die Pläne und Zukunftsvisionen werden der Bevölkerung auch gar nicht so sehr »aufgedrängt«. In vielerlei Hinsicht geben die Lenker der Masse – die sogenannte Elite – der Bevölkerung das, was sie wollte. In Angst will die Bevölkerung eine kontrolliertere Gesellschaft, die Lockdowns waren für viele Menschen eine Befreiung aus dem unerträglichen und sinnlosen Trott des

Arbeitslebens, die Menschen hatten das dringende Bedürfnis nach einem gemeinsamen Feind usw. Die »Pläne« der genannten Institutionen gehen den Entwicklungen eigentlich nicht so sehr voraus, wie eine Verschwörungslogik es gern darstellt. Sie folgen ihnen eher. Die Lenker der Masse sind nicht wirklich »Führer« in dem Sinne, dass sie bestimmen würden, wohin die Masse gehen soll. Sie spüren vielmehr, wonach sich die Menschen sehnen, und passen ihre Pläne auf opportunistische Weise dementsprechend an. Sie sonnen sich gern im Narzissmus desjenigen, der das ganze Geschehen kontrolliert und lenkt, dabei gleichen sie eher einem Kind, das am Bug eines Schiffs sitzt und an einem Spielzeugsteuerrad dreht, sobald der Tanker seine Richtung ändert. Oder denken wir an König Knut, der sich bei Ebbe vor das Meer stellte, den Wellen befahl, sich zurückzuziehen, und sich narzisstisch in die Brust warf, weil dies auch wirklich geschah. Es geht sogar so weit, dass manche dieser Institutionen vorab produzierte Filme im Nachhinein anpassten und so den Eindruck erweckten, die Zukunft vorhersagen zu können (der Film Digi-Kosmos²³ beispielsweise wurde während der Coronakrise so abgeändert, dass er exakt den Verlauf der Krise zu prophezeien schien). Ironischerweise bestätigt Verschwörungsdenken die Lenker der Masse in ihrem Narzissmus, indem es sie ernst nimmt und glaubt, dass sie wirklich das Schiff steuern und die Wellen veranlassen würden, sich zurückzuziehen.

Es gibt zahllose andere Beispiele, die auf einen großen Plan, der ausgeführt wird, hinzuweisen scheinen, wie die Tatsache, dass die Definition von Pandemie kurz vor der Coronakrise angepasst wurde, dass die Definition von Herdenimmunität während der Krise dahingehend geändert wurde, dass diese nur noch durch Impfstoffe erreichbar zu sein scheint, dass die Zählmethode für die Coronatoten von der WHO so feinjustiert wurde, dass die Zahlen höher ausfallen mussten als bei der Grippe, dass die Registrierung der Zahl von Impfnebenwirkungen zu einer deutlichen Unterschätzung führen musste (unter anderem dadurch, dass Nebenwirkungen, die in den ersten 14 Tagen auftreten, nicht als impfstoffbezogen betrachtet werden), dass alle politischen Schlüsselpositionen von Politikern besetzt wurden, die TechnokratieBefürworter waren, als die Krise begann (alles Menschen, die die Global-YoungLeaders-Ausbildung des WEF absolviert hatten) usw.

Auch das sind eher Beispiele dafür, wie eine Ideologie von der Gesellschaft Besitz ergreift, als für eine Verschwörung. Solche Dinge kommen bei jeder großen Umstrukturierung vor, beispielsweise auch auf der Ebene eines Großbetriebs oder einer staatlichen Institution. Wer die Umstrukturierung durchführen möchte und auf dem richtigen Stuhl dafür sitzt, wird hier und da versuchen, die Regeln ein wenig anzupassen, sodass sie der Umstrukturierung förderlich sind; er wird sein Bestes geben, die richtigen Menschen auf die richtigen Positionen zu bringen, und er wird versuchen, durch informelle und formelle Beeinflussung jeglicher Art die Geister für die Umstrukturierung reif zu machen. Wer das in einem Betrieb oder einer Institution aus der Nähe erlebt, wird diesen Vorgang vermutlich nicht als Verschwörung empfinden. Man könnte sogar sagen, dass jeder Organismus in der Natur sich so verhält: Er versucht, seine Umgebung in die gewünschte Richtung anzupassen.

Die genannten Praktiken können an bestimmten Punkten jedoch in etwas übergehen, das durchaus die Struktur einer Verschwörung hat. Große Institutionen nutzen sehr wohl diverse zweifelhafte Strategien, um der Gesellschaft ihr Idealbild aufzuerlegen, und die Mittel dazu haben in den letzten Jahrhunderten spektakulär zugenommen. Die ganze Mechanisierung, Industrialisierung, »Vertechnologisierung« und »Vermedialisierung« der Welt hat die Macht stark zentralisiert, und kein vernünftiger Mensch kann leugnen, dass diese Macht ohne viel ethische und moralische Skrupel angewandt wird. Es ist gut dokumentiert: Ob es sich nun um Staaten, die Tabakindustrie oder die Pharmalobby handelt, es wird bestochen, manipuliert und betrogen. Wer das nicht tut, kann sich im Übrigen schwer an der Spitze halten.

In ihrem Bestreben, der Gesellschaft ihr Idealbild aufzuerlegen, überschreiten Institutionen und Menschen durchaus ethische Grenzen, und wenn das weit genug geht, können ihre Strategien tatsächlich die Form einer veritablen Verschwörung annehmen: eines geheimen, vorsätzlichen, planmäßigen und bösartigen Projekts. Es ist auch eine bekannte Tatsache, dass das totalitäre Regime mit dem Fortschreiten der Totalitarisierung immer mehr wie eine wahre »Geheimgesellschaft« organisiert wird.²³¹ So kam der Holocaust in einem erschütternden Prozess der Massenbildung zustande, der sowohl die Täter als auch die Opfer blind machte und in einer infernalischen Dynamik mitriss (siehe

Kapitel 7). Aber auf einer bestimmten Ebene war durchaus ein vorsätzlicher Plan im Spiel, dessen Ziel es war, durch systematische Sterilisierung und Eliminierung aller unreinen Elemente die Rassereinheit zu optimieren. Es waren etwa fünf Personen, die den ganzen Holocaust-Vernichtungsapparat fein säuberlich geplant und vorbereitet hatten und denen es gelang, alle anderen lange Zeit in totaler Blindheit daran mitwirken zu lassen. Und wer doch sah, was los war – nämlich dass die Konzentrationslager in Wirklichkeit Vernichtungslager waren –, dem wurde vorgeworfen, ein … Verschwörungsdenker zu sein (vgl. z. B. den Brief einer Berliner Jüdin).²³²

Solche Pläne zu entwickeln und auszuführen war keineswegs das Privileg totalitärer Regimes. Unter der Eugenik-Doktrin wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts weltweit heimlich große Gruppen von Männern und Frauen sterilisiert, deren genetisches Material man für »minderwertig« erachtete. Um 1972 hatte der Begriff Eugenik einen zu negativen Beiklang bekommen und wurde durch »Sozialbiologie« ersetzt, aber die Praxis blieb dieselbe und wurde bis ins 21. Jahrhundert fortgeführt (vgl. die Sterilisation von Gefangenen in Kalifornien ohne Informed Consent).²³³ Wie viel Grund haben wir zu glauben, dass Machthaber sich erst in den letzten Jahren nicht mehr solcher Praktiken schuldig machen würden?

Dass es im heutigen gesellschaftlichen Klima kaum noch Raum gibt, um diese Entartungen auf der Ebene der Machtausübung anzuprangern, ist geradezu gefährlich. Das ist genau der fatale Einfluss der Entstehung der Masse: Sie ist so radikal intolerant gegenüber abweichenden Meinungen, dass sie jede Analyse gefährlicher Einflüsse von Institutionen, Firmen usw. zu Unrecht als »Verschwörungsdenken« abstempelt. La passion de l’ignorance floriert wie nie zuvor. Und in gewissem Sinne trägt fanatisches Verschwörungsdenken paradoxerweise eher zu diesem Problem bei. Es führt dazu, dass differenziertere Analysen der Dimension der Macht weniger sichtbar werden und leichter der Stigmatisierung zum Opfer fallen (durch guilty by association-Mechanismen).

Das macht es für alle schwierig einzuschätzen, in welchem Ausmaß von

böswilliger Manipulation die Rede ist. Entweder wird sie völlig verkannt, oder man sieht sie überall. Der Reiz dieser beiden Gegenpole liegt in erster Linie jeweils auf affektivtriebhafter Ebene, beide interferieren mit einer authentischen, aufrichtigen intellektuellen Leidenschaft, wissen zu wollen. Es ist letztlich meist nur eine kleine Gruppe, der es gelingt, diesen Kräften zu entkommen und eine Analyse vorzunehmen, die von Nuancierung und Subtilität zeugt.

Auf diese Weise entsteht in der Gesellschaft eine Polarisierung in zwei Lager: einer großen Gruppe (der Masse), die alles schluckt, was in den Mainstreammedien erscheint, wie absurd es auch sein mag, und einer anderen Gruppe, die derselben Erzählung vollständig misstraut. Genau wie bei der berühmten Zeichnung von Rubin (siehe Abb. 5), in der man entweder eine Vase oder zwei Gesichter erkennen kann, aber nie beides zugleich, sehen diese beiden Gruppen in den sozialen Entwicklungen unterschiedliche Figuren, unterschiedliche Gestalten und können sich nicht vorstellen, dass die andere Gruppe eine andere Figur darin sieht.

Abbildung 5

Das Risiko einer gewalttätigen Konfrontation zwischen diesen beiden Gruppen ist durchaus gegeben. Verschwörungsdenken kann nämlich an sich auch zur Entstehung eines Massenphänomens führen. Im Grunde waren die berühmten Hexenverfolgungen des Mittelalters – bei denen in manchen Dörfern und Städten kaum eine Frau am Leben gelassen wurde – Beispiele dafür. Und auch für das Aufkommen der antisemitischen Massen im Nahen Osten und in Nazideutschland spielten Verschwörungstheorien wie Die Protokolle der Weisen von Zion eine wichtige Rolle. Die Nazipropaganda war in vielerlei Hinsicht eine Kopie davon, und Himmler und Hitler kannten sie auswendig.²³⁴ Die Nazis übernahmen von diesem Pamphlet die kausale Zuschreibung allen Leids an eine kleine jüdische Elite. War diese kausale Argumentation an sich schon monströs, so führte die der Masse eigene Absurdität dazu, dass es weniger die Angehörigen der jüdischen Elite als vielmehr Millionen normaler Juden waren, die ihr zum Opfer fielen.

Verschwörungsdenken kann also eine Reaktion auf Massenbildung sein, eine Interpretation davon. Es kann allerdings auch selbst zum Auslöser von Massenbildung werden. Jedoch ist nicht zu erwarten, dass Verschwörungsnarrative in unserer Zeit zu großen Massenbildungen führen werden. Hannah Arendt ahnte schon 1951, dass die Masse der Zukunft eher trocken bürokratischer und technokratischer Natur sein würde.²³⁵ Bestimmte Verschwörungstheorien wie QAnon können auch heute noch kleinere Massenbildungen hervorrufen, wie wir es zum Beispiel in gewissem Grade bei der Erstürmung des amerikanischen Capitols erlebt haben. So kann es dazu kommen, dass eine kleine Masse einer großen gegenübersteht. Die kleinere Masse wird in einer physischen Konfrontation jedoch den Kürzeren ziehen. Sie zeugt damit auf ihre Weise von der Blindheit und vor allem auch der Selbstdestruktivität, die der Massenbildung innewohnt. Wenn man die große Masse bremsen will, dann muss man das primär auf psychischem Wege tun (siehe unten). Physische Gewalt dagegen wird die große Masse hauptsächlich aufhetzen und in ihrer fanatischen Überzeugung stärken, dass sie im Recht und

es ihre heilige Pflicht sei, die Minderheit zu verfolgen und zu vernichten.

Verschwörungsdenken ist also sowohl in intellektueller als auch in ethischer und pragmatischer Hinsicht etwas, womit man vorsichtig sein sollte. Es entsteht oft als Erklärung für das Phänomen der Massenbildung, aber es hat die Neigung, in Theorien abzugleiten, die sich immer weiter von einer differenzierten Sicht auf die Realität entfernen und auf psychologischer Ebene häufig zu simplifizierenden und karikaturistischen Auffassungen führen. Hannah Arendt gab eine moderate und in jeder Hinsicht vernünftige Antwort auf die Frage, in welchem Maße Massenbildung und Totalitarismus auf eine Verschwörung zurückzuführen seien: Die meisten gesellschaftlichen Umwälzungen enthalten eine gewisse Verschwörungsdimension – Machthaber haben vielleicht sogar kaum eine andere Wahl, als das eine oder andere hinter verschlossenen Türen zu deichseln –, doch sie wird leicht überschätzt. Wenn etwas aus dem Verborgenen regiert, dann sind es weniger Geheimgesellschaften als vielmehr Ideologien. Es gibt also durchaus eine steuernde und organisierende Instanz, aber diese besteht nicht primär in einer verschwörerischen Elite, die planmäßig und koordiniert die Welt lenkt, sondern in einer typischen Denkweise, einer Ideologie. Um es mit den Worten zu sagen, mit denen Charles Eisenstein eine einseitige Interpretation im Sinne einer Verschwörung verwarf: »Die Ereignisse werden tatsächlich in Richtung mehr und mehr Kontrolle arrangiert, aber die tonangebende Kraft selbst ist ein Zeitgeist, eine Ideologie … ein Mythos [und keine Verschwörung].«²³ Eine solche Sicht verortet die Ursache gesellschaftlicher Dynamiken nie in nur einem Punkt. Die ganze Gesellschaft hat auf irgendeine Weise Anteil an ihrem Entstehen; jeder Mensch trägt Verantwortung dafür. Daher ist diese differenzierte Erklärung meist auch unbefriedigend für jene, die nach Sicherheit dürsten und ihre Wut und Frustration durch die Benennung eines großen Schuldigen abzureagieren suchen.

In den letzten drei Kapiteln haben wir die Psychologie von Massenbildung und Totalitarismus theoretisch erörtert; nun sollten wir uns fragen: Können wir mit dieser Theorie auch in der Praxis etwas anfangen? Unsere Analyse hob vor allem die Komplexität des Phänomens hervor – mit einer Erklärung als groß angelegter Verschwörung kommt man nicht weit. Das Problem lässt sich deshalb auch nicht durch das gewaltsame Beseitigen einer böswilligen Elite lösen. Das Wesen des Totalitarismus liegt in einer enormen Massendynamik. Das Ausschalten der totalitären Führer würde daher nichts bringen: Sie sind in hohem Maße austauschbar. »Der totalitäre Führer ist wirklich nichts als ein Exponent der von ihm geführten Massen; er ist nicht ein machthungriges Individuum, das seinen Untertanen einen willkürlichen Willen tyrannisch auferlegt. Als Exponent ist er jederzeit ersetzbar und hängt von dem ›Willen‹ der Massen, die er verkörpert, genauso ab wie die Massen von ihm, ohne den sie ›körperlos‹ bleiben würden.«²³⁷ Der Führer bildet gleichsam nur die Spitze der Pyramide der Massenbewegung, und wenn er gewaltsam ausgeschaltet wird, so wird er ersetzt, ohne dass das System an Stabilität verliert.

Gewalt als Reaktion gegen Massenbildung und Totalitarismus ist natürlich effektiv, wenn sie von äußeren Feinden eines totalitären Systems angewandt wird – wie zum Beispiel beim Kampf der Alliierten gegen Nazideutschland –, aber für internen Widerstand bietet sie wenig Perspektiven und ist in der Regel kontraproduktiv. Die Masse sieht meist nur einen Rechtfertigungsgrund und Freibrief darin, um ihrem ohnehin schon enormen Potenzial an Frustration und Aggression freien Lauf zu lassen und sie an jenen abzureagieren, die sie als ihre Feinde betrachtet (an denjenigen also, die sich der Neuen Solidarität nicht anschließen).

Hannah Arendt merkte an, dass gewaltloser Widerstand hingegen in Bezug auf Totalitarismus erstaunlich erfolgreich sein kann.²³⁸ Zu dieser Schlussfolgerung kommt sie anhand historischer Beobachtungen – beispielsweise der Wirksamkeit der entschiedenen Weigerung der dänischen Regierung und Bevölkerung, die antisemitischen Maßnahmen mitzutragen, die die Nazis ihnen aufzuerlegen versuchten –, aber sie bietet keine psychologische Erklärung dafür. Auf der

Grundlage unserer bisherigen Darstellung der psychologischen Zusammenhänge können wir diese Erklärung in gewissem Grade geben. Und wir können außerdem die Idee des »gewaltlosen Widerstands« noch etwas differenzierter beschreiben.

Sowohl die Massen als auch ihre Lenker sind von einer ideologisch gefärbten Erzählung erfasst: Erstere sind hypnotisiert, Letztere stehen unter einer Art Selbsthypnose. Beide befinden sich sozusagen im Griff einer Stimme (siehe die Bedeutung von Indoktrination und Propaganda durch die Massenmedien, wie in Kapitel 6 beschrieben). Massenbildung, als Form von Hypnose, ist ein Phänomen, bei dem Individuen von der Resonanz einer Stimme – dem Lenker der Masse – beherrscht werden, aber nicht die ganze Bevölkerung fällt diesem Prozess zum Opfer. Wir haben in Kapitel 6 drei Gruppen unterschieden, die sich bilden, wenn eine Masse entsteht: die Masse selbst, die der Erzählung wirklich folgt und »hypnotisiert« ist (in der Regel etwa 30 %); eine Gruppe, die nicht hypnotisiert ist, es aber vorzieht, sich nicht gegen die Masse zu stellen (meistens zwischen 40 und 60 %) und eine Gruppe, die nicht hypnotisiert ist und sich der Masse aktiv widersetzt (zwischen 10 und 30 %).

Die erste und wichtigste Richtlinie für diese dritte Gruppe ist, dass sie ihre Stimme erklingen lassen muss, und zwar so aufrichtig wie möglich. Das ist notwendig, um die Resonanz der dominanten, hypnotisierenden Stimme nicht absolut werden zu lassen. Auf welche Weise dies geschehen kann, variiert im Laufe des Prozesses der Totalitarisierung (die dissidente Stimme wird nach und nach immer mehr zensiert und aus den Massenmedien und dem öffentlichen Raum verbannt), aber die Möglichkeit dazu fehlt nie ganz. Das Erklingen einer abweichenden Stimme hat stets eine Wirkung auf die anderen beiden Gruppen. Wie Gustave Le Bon schon im 19. Jahrhundert beschrieb, wird es gewöhnlich nicht gelingen, die Hypnose der ersten Gruppe zu durchbrechen, aber die Hypnose wird dadurch weniger tief, und es verhindert, dass die Masse zu Grausamkeiten übergeht. Dieser Effekt tritt auch bei den Führern auf, wie wir im vorigen Kapitel im Zusammenhang mit dem »Aufwachen« von Nazifunktionären beschrieben haben, die in Dänemark oder Bulgarien stationiert waren. Die Stimme sollte dabei auf eine möglichst ruhige und respektvolle Weise erklingen, nicht aufdringlich, immer feinfühlig für die Irritation und Wut,

die hervorgerufen werden könnten (siehe die typische Intoleranz der Masse gegenüber alternativen Stimmen), aber dennoch entschlossen und beharrlich. Obwohl die dissidente Stimme in der Regel Ablehnung und unter bestimmten Umständen auch Aggression hervorruft, sollte man sich vor Augen halten, dass die Masse sie auch braucht, um sich nicht selbst zum Opfer zu fallen. Wenn die Opposition schweigt, wird das totalitäre System zu einem Monster, das seine eigenen Kinder verschlingt (siehe auch Kapitel 7). Es ist daher eine Illusion zu glauben, dass Schweigen die beste Option für wen auch immer sei.

Die dissidente Stimme hat auch eine Wirkung auf die zweite Gruppe, diejenige, die gefügig ist, aber nicht hypnotisiert. Im Gegensatz zur ersten Gruppe ist diese Gruppe durchaus empfänglich für die Qualität rationaler Argumente. Daher ist es wichtig, dass die dissidente Stimme die Indoktrination und Propaganda der totalitären Erzählung so fundiert und klar wie möglich analysiert und widerlegt. In gewissem Sinne ist das auch gar nicht schwierig, da der totalitäre Diskurs, insbesondere in seinem typischen inflationären Gebrauch von Zahlen und Statistiken, meist schlichtweg absurd ist. Es ist also an der Opposition, wieder und wieder über die (begrenzten) dafür zur Verfügung stehenden Kanäle das Netz des Scheins zu zerreißen und, so gut es geht, aufzuzeigen, in welcher Hinsicht ein falsches Bild geschaffen wird. Dabei ist es wichtig anzumerken, dass die Gegenargumentation nie darauf gerichtet sein darf, den Prozess der Massenbildung umzukehren und zu dem Zustand zurückzukommen, der davor existierte (»dem alten Normal«). Die Masse bildete sich ja gerade aus einem tiefen psychologischen Unbehagen und Leiden heraus, wie wir in Kapitel 6 beschrieben haben (die vier psychologischen Voraussetzungen für Massenbildung). Menschen davon überzeugen zu wollen, dorthin zurückzukehren, ist vollkommen unsinnig und wird den gegenteiligen Effekt hervorrufen: Wer von der Massenbildung erfasst ist, wird sich noch hartnäckiger am Massennarrativ festklammern. Generell sollte das Formulieren von Gegenargumenten diszipliniert und organisiert erfolgen, und zwar über eine zu diesem Zweck errichtete Struktur von auf bestimmte Themen und Gegenstände spezialisierten Arbeitsgruppen. Das bietet zugleich auch ein Gegengift gegen einen der fatalsten Effekte von Totalitarismus: die Vernichtung jeder sozialen Bindung und Struktur.

Die dritte Gruppe spricht schließlich auch für sich selbst. Diese Gruppe wird meist mehr oder weniger stark zum Objekt der Frustration und Aggression der Masse (siehe Kapitel 6). Sie wird typischerweise entmenschlicht, als menschlich minderwertige Kreatur dargestellt. Wenn diese Gruppe aufhört zu sprechen, bestätigt sie dieses Stigma. Sprechen und rational Argumentieren sind das, was Menschen von Tieren unterscheidet; das Sprechen einzustellen macht den Weg frei für Entmenschlichung. Das an sich zeigt schon, wie bedeutsam es ist, sich immer und immer wieder so ruhig und vernünftig wie möglich zu äußern. Doch es gibt noch einen anderen wichtigen Grund, das zu tun. Sprechen führt zu Erfahrungen von Sinn und Existenz, zumindest wenn derjenige, der spricht, seine subjektive Wahrheit so aufrichtig und ehrlich wie möglich zu formulieren versucht. Das dissidente Sprechen sollte daher nicht primär taktischer oder rhetorischer Art sein, sondern ein authentisches Wahrsprechen (siehe auch Kapitel 11). Selbst wenn das Sprechen lange Zeit wenig oder keinen Effekt auf den Anderen erzielt, wird es doch immer noch etwas für einen selbst erbringen. In diesem Akt des Wahrsprechens wird die Absurdität des Totalitarismus am Ende sinnvoll: Die Menschen, die dem kollektiven Wahnsinn nicht folgen und ruhig und aufrichtig eine Gegenstimme bieten, werden dadurch allmählich auf eine höhere Stufe der Menschlichkeit gehoben. Man lese beispielsweise das ergreifende Zeugnis Solschenizyns darüber, welche Wirkung seine anhaltenden Versuche, während seines achtjährigen Aufenthalts in den Gulags auf menschliche Weise weiter zu sprechen und zu schreiben, auf ihn selbst hatten.²³

Die erste und vornehmste Aufgabe im Hinblick auf Massenbildung und Totalitarismus ist es, immer weiter zu sprechen. Alles steht und fällt mit dem Akt des Sprechens. Das ist im Interesse aller Parteien. Wo das Sprechen genau stattfindet – in Büchern, Artikeln oder Interviews, vor den Kameras, in Läden oder am Küchentisch, in kleiner oder großer Runde –, ist weniger wichtig; jeder, der auf seine Weise etwas Wahrheit erklingen lässt, trägt wesentlich zur Heilung vom Übel des Totalitarismus bei. Dabei braucht die Zahl der Menschen, die sich über diese Art des Sprechens vereinigen müssen – die eine soziale Gruppe bilden müssen –, gar nicht besonders groß zu sein. Die Masse (der totalitarisierte Teil der Bevölkerung) besteht gewöhnlich nur aus ungefähr 30 % der Gesamtbevölkerung, die 40 oder 50 %, die sich ihr gegenüber gefügig verhalten, tun dies vor allem, weil sie der größte zusammenhängende Block ist und als lauteste Stimme auch am überzeugendsten wirkt. Aber die Absurdität des Diskurses der Masse gereicht ihr auch zum Nachteil. Wenn es den übrigen 10 bis

20 % der Menschen gelingt, eine Gegengruppe zu bilden (ohne selbst eine Masse zu werden!) und auf vernünftige Weise eine alternative Stimme erklingen zu lassen, dann darf man davon ausgehen, dass diese Gruppe in der Lage ist, die Massenbildung rückgängig zu machen oder die Gesellschaft zumindest aus ihrem Griff zu befreien. Überdies sollte sich die nonkonformistische Gruppe stets vor Augen halten, dass die Masse (ebenso wie das totalitäre System) inhärent selbstdestruktiv ist und sich auf Dauer immer selbst vernichtet (siehe Kapitel 7). Das totalitäre System muss also nicht besiegt werden, man muss es gewissermaßen zu überleben versuchen, bis es sich selbst zerstört.

Eine strategischere Möglichkeit, um die Massenbildung zu durchbrechen, könnte ebenfalls erwogen werden: das Ersetzen eines Objekts der Angst durch ein anderes. Massenbildung entsteht, indem sich freischwebende, ungebundene Angst an ein Objekt der Angst heftet (siehe Kapitel 6). Diese Verbindung kann wieder gelöst werden, wenn ein anderes Objekt präsentiert wird, das noch mehr Angst einflößt. Man könnte zum Beispiel versuchen, eine alternative Erzählung zirkulieren zu lassen, die das totalitäre Regime selbst als Objekt der Angst lanciert (die also die grausamen Folgen von Totalitarismus heraufbeschwört). Wenn man dann in derselben Erzählung auch eine Strategie für den Umgang mit diesem neuen Angstobjekt mitliefert, kann man tatsächlich eine dauerhaftere Neuorientierung der Angst bei den Individuen bewirken. Das kann bis zu einem gewissen Grade funktionieren. Wenn man es maßvoll anwendet, läuft dies darauf hinaus, dass man aus guten Gründen vor einer realen Gefahr warnt. Wenn man es aber zur primären Strategie macht und sich vollkommen auf das Einflößen von Angst fokussiert, überschreitet man ethische Grenzen und verfällt in dieselbe Entmenschlichung, wie sie der Massenbildung eigen ist.

Damit haben wir ein paar konkrete Richtlinien für den Widerstand gegen den psychologischen Mechanismus der Massenbildung gegeben, aber diese Richtlinien sind an sich nur oberflächlich. Das Aufkommen der Masse und des Totalitarismus liegt letztendlich im mechanistischen Denken begründet. Wir müssen also die mechanistische Ideologie überwinden, um eine gründliche gesellschaftlich-kulturelle Lösung zu realisieren. In den letzten drei Kapiteln dieses Buchs werden wir uns mit der Frage beschäftigen, wo in der mechanistischen Ideologie sich Öffnungen bieten, die Aussicht auf ein anderes

Menschen- und Weltbild gewähren.

TEIL III

JENSEITS DES MECHANISTISCHEN WELTBILDS

KAPITEL 9

DAS TOTE VERSUS DAS LEBENDIGE UNIVERSUM

Die kausale Argumentation, die wir in diesem Buch präsentiert haben, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Die mechanistische Ideologie brachte immer mehr Individuen in einen von sozialer Isolation, mangelnder Sinngebung, frei flottierender Angst und Unbehagen sowie latenter Frustration und Aggression geprägten Zustand. Diese Bedingungen führten zu großen und dauerhaften Massenbildungen, und diese Massenbildungen führten wiederum zur Entstehung totalitärer Staatssysteme.

Massenbildung und Totalitarismus sind also im Grunde Symptome der mechanistischen Ideologie. Genau wie ein individuelles körperliches oder psychologisches Symptom signalisieren diese gesellschaftlichen Symptome ein tiefer liegendes Problem, in diesem Fall, dass ein Großteil der Menschen sich sozial isoliert fühlt und mit intensiven Erfahrungen der Angst und Sinnlosigkeit zu kämpfen hat. Und genau wie ein individuelles Symptom generieren sie einen Krankheitsgewinn. So transformieren sie zum Beispiel die Erfahrungen sozialer Isolation und Angst in einen Rausch der Verbundenheit. Und ebenfalls in Übereinstimmung mit einem individuellen Symptom generieren sie diesen Krankheitsgewinn, ohne dass sie das zugrunde liegende Problem selbst lösen.

Was wir brauchen, ist also eine Analyse des zugrunde liegenden Problems beziehungsweise der Ursache des Symptoms, nämlich der mechanistischen Ideologie. Es sind in erster Linie Ideen, von denen Gesellschaften heimgesucht werden. Die fundamentalste Veränderung, die wir als Gesellschaft anstreben müssen, ist keine Veränderung auf praktischer Ebene, sondern eine Veränderung auf der Ebene des Bewusstseins. Im ersten Teil dieses Buchs haben wir die psychologischen Probleme, die durch die mechanistische Ideologie verursacht

werden, ins Visier genommen, im letzten Teil fragen wir uns, wie wir diese Ideologie überwinden können.

Zunächst beschäftigen wir uns mit einem der Kernmerkmale der mechanistischen Ideologie. Diese Ideologie betrachtet das Universum als einen logisch erfassbaren, vorhersagbaren, kontrollierbaren und ungerichteten mechanischen Prozess. Und vor allem betrachtet sie das Universum auch als leblose und sinnlose Gegebenheit, als die blinde, mechanistische Interaktion von toten Elementarteilchen. Während eine solche Sicht auf die Welt und die Dinge sich als die einzig wissenschaftliche aufdrängt, lehrt uns eine eingehendere Untersuchung, dass dieses Weltbild wissenschaftlich eigentlich überholt ist.

Das mechanistische Weltbild ist im Grunde so alt wie der Mensch selbst oder existierte zumindest schon zu einer Zeit, die wir gewöhnlich als den Beginn der westlichen Zivilisation betrachten. Im alten Griechenland, um 400 v. Chr., verteidigten Atomisten wie Leukipp und Demokrit bereits die Vorstellung, dass das Universum mit allem, was dazugehört, im Wesen eine Ansammlung von mechanisch miteinander interagierenden materiellen Teilchen sei. Man nannte diese Teilchen damals schon »Atome«, was so viel wie »unteilbar« oder wörtlich »un-zerschneidbar« (a-tomos) bedeutet.

Es dauerte jedoch bis zur Aufklärung, bis das mechanistische Denken dominant wurde und die einzige noch verbliebene Große Erzählung der westlichen Kultur erschuf. Diese Ideologie lieferte sogar eine Art Entstehungsmythos (siehe auch Kapitel 1): Alles beginnt mit einem Urknall, der die Maschine des Universums in Bewegung versetzt und über eine Reihe mechanistischer Effekte zuerst verschiedene anorganische Elemente erzeugt und anschließend auch Lebewesen. In diesem Gedankengang ist die Welt ein toter mechanistischer Prozess, eine enorme Kettenreaktion von Zusammenstößen von Elementarteilchen, die sich endlos fortsetzt, ohne Zweck und Ziel, und irgendwo auf der Strecke unabsichtlich das Leben und den Menschen hervorgebracht hat. Dieser ganze Prozess wird als streng vorhersagbar angesehen. Der französische Mathematiker Laplace drückte es vielleicht am klarsten aus: »Wir müssen also den

gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren Zustandes und andererseits als die Ursache dessen, der folgen wird, betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte, von denen die Natur belebt ist, sowie die gegenseitige Lage der Wesen, die sie zusammen setzen, kennen würde, […] würde in derselben Formel die Bewegungen der grössten Weltkörper wie die des leichtesten Atoms ausdrücken: nichts würde für sie ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit ihr offen vor Augen liegen.«²⁴

Dass die meisten Philosophen ein solches Weltbild für naiv hielten, ist bekannt. Bertrand Russell zum Beispiel stellte anhand seines Russell-Paradoxons²⁴¹ die These auf, dass es nie eine Instanz geben könne, wie viel Rechenleistung sie auch besitze, die über ein vollständiges Wissen verfügt. Eine solche Instanz würde auch über ein vollständiges Wissen über sich selbst verfügen müssen und auch über ein vollständiges Wissen über sich selbst als Besitzer eines vollständigen Wissens über sich selbst, und so weiter bis ins Unendliche. Im 20. Jahrhundert wies Heisenberg auch ganz konkret nach: Man kann über Elementarteilchen nicht in Begriffen der Gewissheit sprechen. Je genauer man ihre Position in der Zeit bestimmt, desto unsicherer wird ihre Lokalisation im Raum. »Das Universum ist nicht nur seltsamer, als wir denken, es ist auch seltsamer, als wir denken können.« (vgl. Heisenbergs Unschärferelation²⁴²).

Diese elementaren Bausteine des Weltalls – die Atome – erwiesen sich als komplexer und ungreifbarer als gedacht. Je fester die Hand des Forschers sich darum zu schließen versuchte, desto mehr schlüpften sie ihm durch die Finger. Statt der kleinen massiven Kugeln, die die alten Griechen vor Augen hatten, sind es, wie die Physik des 20. Jahrhunderts zeigte, wirbelnde, energetische Systeme, eher Schwingungsmuster als feste Materie. Ja, in der finalen Analyse schienen sie nicht einmal materielle Phänomene zu sein, sondern eher zur Kategorie des Bewusstseins zu gehören. Die großen Physiker des 20. Jahrhunderts glaubten, dass sie reine Gedankenformen seien, mentale Phänomene, die auf das Bewusstsein von Forschern reagieren (wie wir im nächsten Kapitel genauer erörtern werden).

Wir könnten hier natürlich tiefer auf die Erkenntnisse der Quantenmechanik eingehen, um die Vorstellung eines mechanistischen Universums weiter zu relativieren. Aber die Phänomene, über die die Quantenmechanik spricht, sind in einer Dimension angesiedelt, zu der die meisten Menschen nie Zugang haben werden. Wer wird je einen direkten Einblick in die subatomare Welt bekommen? Was das betrifft, gibt es ein anderes Wissenschaftsgebiet, das bessere, konkretere Perspektiven bietet, nämlich die Theorie komplexer dynamischer Systeme sowie die Chaostheorie. Diese Theorien beschäftigen sich mit Phänomenen, die jeder im Prinzip mit seinen eigenen Sinnen wahrnehmen kann und die die Grenzen der mechanistischen Sichtweise mindestens genauso überzeugend illustrieren.

Als Benoît Mandelbrot – ein brillanter Mathematiker, der als einer der Begründer der Chaostheorie gilt – anfing, bei IBM zu arbeiten, wurde er dort mit dem Problem des Rauschens konfrontiert, das Computersignale stört, die über Telefonleitungen übertragen werden.²⁴³ Dieses Rauschen kam durch eine Reihe von äußeren Faktoren zustande – wie Luftfeuchtigkeit, Unregelmäßigkeiten im Material der Leitungen, kleine elektromagnetische Störungen usw. –, die die Übertragung der Signale auf eine zufällige und unberechenbare Weise störten. Man würde vermuten: All diese Faktoren wirken unorganisiert und unabhängig voneinander auf die Übertragung ein, sodass es normalerweise auch keinerlei Regelmäßigkeit im Rauschen der Telefonleitungen geben kann.

Aber Mandelbrot glaubte nicht gern, was alle glaubten. Er war kühn genug anzunehmen, dass es doch ein Muster in dem Rauschen geben könnte. Nur weil es nicht logisch ist, heißt das nicht, dass es nicht existieren kann, so meinte er. Und er bekam recht. Er fand ein bekanntes mathematisches Muster darin, das als Cantor-Menge geläufig war. Jeder kann dieses Muster ganz leicht selbst reproduzieren, indem er ein Liniensegment wiederholt in drei Teile teilt und jedes Mal das mittlere Stück entfernt.

Die große Frage ist natürlich: Wie ist es möglich, dass eine Reihe sich unabhängig voneinander manifestierender, zufälliger Faktoren zu einem derart regelmäßigen Muster führt? Warum in aller Welt sollte beispielsweise der

Schaden, den ein Schraubenzieher an einem Kabel verursacht hat, Teil desselben Musters werden wie die magnetischen Störungen eines Gewitters? Es war, als ob alle zufälligen, mechanischen Störungen in ein stabiles und streng mathematisch geordnetes Feld gezogen würden, um dort jeder Zufälligkeit entledigt zu werden. James Gleick formulierte es so: »Leben saugt Ordnung aus einem Meer von Unordnung.«²⁴⁴ Das Rauschen in Telefonleitungen schien sich selbst zu organisieren. Bei lebenden Organismen empfinden wir diese Eigenschaft der Selbstorganisation – zu Unrecht – als normal. Lebewesen atmen, essen und trinken, und aus all diesen disparaten Elementen ergibt sich das geordnete Muster ihres Körpers. Wenn sich dieses Phänomen jedoch in der anorganischen Welt manifestiert, empfinden wir es als geradezu befremdlich und dem gängigen Weltbild zuwiderlaufend (was es auch ist).

Ein anderes Beispiel ist die von Robert Shaw²⁴⁵ demonstrierte Regelmäßigkeit, die beim Tropfen von Wasserhähnen auftritt, ein Phänomen, das wir jeden Tag selbst beobachten können. Ein relativ einfaches mathematisches Verfahren genügt, um zu zeigen, dass auch die Zeitspanne zwischen dem Fallen der Tropfen eine mathematische Regelmäßigkeit aufweist, die, wenn sie visuell dargestellt wird, prächtige organische Muster ergibt. Auch hier stoßen wir auf das merkwürdige Paradox, dass der Moment des Fallens der Tropfen einerseits durch eine Reihe zusammenhangloser externer Faktoren bestimmt wird – die Oberflächenspannung des Wassers, die Temperatur, die Schwingungen im Raum, die Beschaffenheit des Wasserhahnrands usw. –, andererseits aber dennoch einem strengen Muster zu folgen scheint. Warum all diese voneinander unabhängigen Faktoren zu einem festen Muster führen, ist innerhalb eines mechanistischen Weltbilds schwer oder gar nicht zu erklären. Natürlich kann dieses Muster durch bestimmte Interventionen – zum Beispiel durch das Abdichten der Hahnöffnung mit dem Finger – gestört werden. Doch nach dem Ende dieser Interventionen – von denen sich schwer sagen lässt, auf welche Weise sie sich von den anderen externen Faktoren unterscheiden – kehrt das System zu seinem spontanen Gleichgewicht zurück, und das Muster stellt sich wieder her.

Gleick sagt Folgendes dazu: »Wissenschaftler, die sich mit chaotischer Dynamik befaßten, machten die Entdeckung, daß dem unregelhaften Verhalten einfacher

Systeme ein kreativer Prozeß zuzuordnen war. Er brachte die Komplexität hervor: hochorganisierte Muster, die manchmal stabil und manchmal instabil waren, manchmal endlich und manchmal unendlich, die jedoch stets die Faszination besaßen, die lebende Objekte haben.«²⁴ Man beachte die Attribute kreativ und lebend. Dieser Aspekt des Schöpferischen und Lebendigen in der Materie wurde von der klassischen wissenschaftlichen Betrachtungsweise übersehen.

Mehr oder weniger im Einklang mit diesen Beispielen zeigte die Fraktaltheorie (ein Untergebiet der Chaostheorie) eine unerwartete mathematische Determiniertheit von Reihen natürlicher Formen wie die von Blättern, Pflanzen, Bäumen, Seeschwämmen, Algen usw. Die bekanntesten Beispiele sind vielleicht die Muster auf den Schalen von Meeresschnecken, die von Hans Meinhardt²⁴⁷ untersucht wurden, die Mandelbrot-Menge sowie die von der Fibonacci-Folge determinierten Spiralformen. Diese letztere Determinierung ist so einfach, dass sie sogar für Nichtmathematiker leicht verständlich ist. Die Fibonacci-Folge besteht aus einer Reihe von Zahlen, die man erhält, indem man mit 0 und 1 beginnt und dann jeweils eine Zahl hinzufügt, die der Summe der beiden vorangehenden Zahlen entspricht (also 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8 usw.). Diese Zahlenreihe bestimmt die Kurven einer Spirale, die man überall in der Natur wiederfindet. Der berühmte Ausspruch Galileis (1623) »Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben«²⁴⁸ kann offenbar wörtlich genommen werden.

Abbildung 6 Das chaotische Wasserrad – ein Modell für das Lorenz-System

Betrachten wir ein Beispiel etwas näher. Das sogenannte chaotische Wasserrad von Lorenz ist eine mechanische Vorrichtung (siehe Abb. 6), die Bewegungen ausführt, welche direkte Übereinstimmungen mit der Dynamik von Konvektionsmustern in Flüssigkeiten und Gasen aufweisen. Das Wasserrad wurde 1972 von Willem Malkus entworfen, um eine Reihe von Aspekten des Werks von Edward Lorenz zu erläutern, einem Mathematiker und Meteorologen, der als einer der Begründer der Chaostheorie gilt. Es besteht aus einem rotierenden Rad, an dem kleine Eimer mit einem Loch im Boden befestigt sind. Oben befindet sich ein Hahn, aus dem Wasser in den obersten Eimer fließt. Bei einem sehr geringen Zufluss bewegt sich das Rad nicht, einfach weil das Wasser schneller durch das Loch im Boden abläuft, als es zufließt. Nimmt der Zufluss zu, füllt sich der Eimer, und das Rad setzt sich in Bewegung, manchmal in die eine Richtung, manchmal in die andere. Sobald das Rad sich für eine bestimmte Richtung entschieden hat, ist sein Verhalten regelmäßig und vorhersagbar und korreliert direkt mit dem Zufluss des Wassers: Je größer der Zufluss, desto schneller dreht sich das Rad.

Wenn der Zufluss jedoch eine bestimmte Grenze überschreitet, tritt eine Reihe von komplexen Effekten auf, die dazu führen, dass das Rad sich unregelmäßig zu verhalten beginnt. Der oberste Eimer wird anfangs gut gefüllt und versetzt das Rad in eine schnelle Bewegung. Durch die hohe Geschwindigkeit haben die den Zulauf passierenden Eimer jedoch kaum noch Gelegenheit, sich zu füllen, wodurch das Rad abgebremst wird, eventuell zeitweilig zum Stillstand kommt, sich dann wieder weiterdreht, in dieselbe Richtung oder auch in die entgegengesetzte Richtung. Dieser Prozess wiederholt sich in zahllosen Varianten; das Rad bewegt sich mal schnell, mal langsam, mal lange in dieselbe Richtung, mal ständig die Richtung wechselnd. Die Unregelmäßigkeit erwies sich in der chaotischen Phase als total. Das heißt, in den Bewegungen des Rads sind keinerlei sich (streng) wiederholende Muster oder Perioden erkennbar.

So chaotisch die Bewegungen auch sind, so scheinen sie überraschenderweise doch streng determiniert zu sein. Sie können mithilfe eines mathematischen Modells beschrieben werden, das aus drei rekursiven Differenzialgleichungen mit drei Unbekannten besteht (die an sich im Grunde eine Vereinfachung der viel komplexeren Navier-Stokes-Konvektionsgleichungen sind). Konform mit dem chaotischen Verhalten des Rads weist auch die (unendliche) Reihe von Lösungen dieser Gleichungen keinerlei Periodizität auf. Oder anders gesagt, in der Reihe von Werten für die Unbekannten, die durch die Gleichungen generiert werden, ist kein einziges wiederkehrendes Muster zu entdecken.

Damit zeigt die Dynamik des Rads strenge Übereinstimmungen mit der Struktur irrationaler Zahlen, wie der Zahl Pi, bei denen die Ziffern nach dem Komma ebenfalls keinerlei Periodizität aufweisen. Die Qualifizierung solcher Zahlen als »irrational« bezieht sich in erster Linie darauf, dass sie sich nicht als Bruch – als ratio – darstellen lassen. Aber auch die alltägliche Bedeutung – »irrational« im Sinne von nicht rational – ist nicht falsch. Solche Zahlen kann man sich tatsächlich nicht rational vorstellen. In einem logisch geordneten, rationalen Weltbild werden sie daher als störend empfunden. Das erfuhr auch Hippasos, der als ihr Entdecker gilt. Die Legende will, dass er zusammen mit weiteren Pythagoreern auf einem Schiff saß und prompt über Bord geworfen wurde, als er die Vermutung äußerte, dass es irrationale Zahlen geben könnte. Die Grenzen der Ratio führen zunächst immer zu Unsicherheit, Angst und Aggression.

In der Kombination von chaotischem Verhalten und Determiniertheit ist das Wasserrad ein Beispiel für das faszinierende Phänomen des deterministischen Chaos.²⁴ Das bedeutet: Selbst mit den Formeln des Wasserrads in der Hand kann man keine Sekunde im Voraus vorhersagen, wie es sich verhalten wird. Der Grund dafür ist ganz einfach: Um vorhersagen zu können, wie sich das Wasserrad zukünftig verhalten wird, muss man seinen gegenwärtigen Bewegungszustand messen und in die Formeln eingeben. Aber durch die Beschaffenheit des Rads können selbst unmessbar kleine Unterschiede im gegenwärtigen Bewegungszustand zu radikalen Unterschieden im zukünftigen Verhalten führen (man nennt das in der Systemtheorie die sensitive Abhängigkeit

von den Anfangswerten). So bleibt die Zukunft des Rads ewig ein Mysterium.

Das Faszinierendste an der Geschichte vom lorenzschen Wasserrad ist jedoch Folgendes. Eines Tages hatte Lorenz die Idee, die sukzessiven Werte der drei Größen in den Gleichungen in ein dreidimensionales orthogonales Koordinatensystem (in der Chaostheorie auch Phasenraum genannt) zu übertragen. Erstaunlicherweise erschien nicht einfach nur eine zufällige Punktwolke – wie man bei einem sich chaotisch verhaltenden System zunächst erwarten würde –, sondern eine sehr regelmäßige Figur mit bemerkenswerten ästhetischen Eigenschaften, die seitdem als Lorenz-Attraktor bekannt ist (siehe Abb. 7).

Abbildung 7 Der Lorenz-Attraktor

Wie Gleick sagte: »Abbildungen physikalischer Systeme im Phasenraum zeigten Bewegungsmuster, die auf andere Weise nicht sichtbar waren, vergleichbar der Infrarotaufnahme einer Landschaft, die Muster und Details zutage fördern kann, die jenseits unserer Wahrnehmung liegen.«²⁵ Lorenz wies also als Erster nach, dass bestimmte sich chaotisch manifestierende Verhaltensweisen doch von einer strengen (und sublimen) Ordnung bestimmt werden und im Phasenraum visuell dargestellt werden können. Unter dem scheinbaren Chaos der oberflächlichen Erfahrung des Rads liegt eine ästhetisch wunderbare Ordnung universaler Formen verborgen, die in vielerlei Hinsicht an Platons ideale Welt erinnert. Auf anderem Wege gelangten übrigens auch die Quantenphysiker zu Platons berühmter idealer Welt. Heisenberg drückte es vielleicht am deutlichsten aus: »Ich glaube, die moderne Physik hat an dieser Stelle definitiv für Plato entschieden. Denn die kleinsten Einheiten der Materie sind tatsächlich nicht physikalische Objekte im gewöhnlichen Sinn des Wortes; sie sind Formen, Strukturen oder – im Sinne Platos – Ideen«.²⁵¹

Das ist zweifellos die wichtigste Lektion, die das Wasserrad uns lehren sollte: Man kann das spezifische Verhalten des Wasserrads nicht vorhersagen (zumindest nicht in seiner chaotischen Phase), aber man kann sich mit den Prinzipien vertraut machen, nach denen es sich verhält, und lernen, die sublimen ästhetischen Figuren zu erspüren, die sich unter der Oberfläche dieses Verhaltens verbergen. Auf diese Weise gibt es keine rationale Vorhersagbarkeit, aber ein gewisses Maß an intuitiver Vorhersagbarkeit. Henri Poincaré argumentierte schon 1908, dass nicht immer logisches Verständnis nötig sei, um intuitiv zu begreifen und Vorhersagen zu treffen.²⁵² Man kann die Globalität der tiefer liegenden Struktur eines Phänomens – zum Beispiel den Lorenz-Attraktor – korrekt erfühlen, ohne irgendein nennenswertes logisches Verständnis dieses Phänomens zu haben. Poincaré ging sogar noch einen Schritt weiter und sagte, dass das Streben nach logischer Erkenntnis des Phänomens von einem

bestimmten Punkt an kontraproduktiv sein kann. In der Konfrontation mit dem irrationalen Aspekt eines Phänomens wird das fortwährende Streben nach rationalem Verständnis verhindern, dass man dazu übergeht, auf der Grundlage eines unmittelbareren Einfühlens zu urteilen.

Die Art und Weise, wie man das Rad als Zuschauer empfindet, wird stark von der Ebene abhängen, auf die man seine Aufmerksamkeit richtet. Wenn man jede isolierte Bewegung oder Reihe von Bewegungen an sich betrachtet, dann wirken die Bewegungen chaotisch und disparat. Das Rad gleicht einer Kakofonie von hin und her gehenden, abrupt unterbrochenen Bewegungen. Wenn man sich aber in das Rad einfühlen kann und ein Gespür für die tiefere Rhythmik bekommt, die in der Verschiedenartigkeit der Bewegungen liegt (wie sie in der Figur des Lorenz-Attraktors repräsentiert wird), dann erfährt man die zeitlose, kreative Harmonie, die unter der Verschiedenartigkeit der oberflächlichen Bewegungen vorhanden ist, und das Rad wird zu einem beruhigenden Phänomen.

Insofern lehrt das Rad uns etwas, das viel breiter anwendbar ist: auf den Menschen, die Gesellschaft, das Leben und die Natur. Die meisten Phänomene in der Natur sind komplex und dynamisch, und in ihrer Komplexität ist ihr Verhalten genau wie das des Rads eigentlich unvorhersagbar. Aber genau wie bei dem Rad folgt das Leben dennoch bestimmten Prinzipien, und unter der chaotischen Oberfläche sind sublime Figuren verborgen. Und das ist vielleicht die größte Aufgabe des Menschen: in all der Komplexität des Daseins die zeitlosen Prinzipien des Lebens zu entdecken. Je besser wir diese Prinzipien erspüren, desto mehr haben wir das Gefühl, etwas von der Essenz des Lebens zu begreifen und mit dem größten ordnenden Prinzip, das aus dem ganzen Universum spricht, in Verbindung zu stehen. Und je mehr wir uns an Prinzipien halten – auch wenn uns dies kurzfristig eher Nachteile zu bringen scheint –, desto realer werden diese Prinzipien im Leben und desto mehr entwickeln wir als Mensch ein Gefühl von Existenz und Rückgrat. Zu opportunistisch im Leben zu stehen und Prinzipien immer wieder aufzugeben, weil eine »schlaue« Analyse der Lage suggeriert, dass dies von Vorteil sein könne, führt nicht selten zu einem Verlust an Individualität und Erfahrungen der Sinnlosigkeit. Wenn man sich zu sehr auf die oberflächlichen Erscheinungsformen des Lebens konzentriert und die Fühlung mit den darunterliegenden Prinzipien und Figuren verliert, wird das

Leben, genau wie das Lorenz-Wasserrad, mehr und mehr als ein sinnloses Chaos erfahren.

Dasselbe gilt auf gesellschaftlicher Ebene: Eine Gesellschaft muss primär in Fühlung mit einer Reihe von Prinzipien und Grundrechten bleiben, wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung, dem Selbstbestimmungsrecht und dem Recht auf Weltanschauungsfreiheit. Wenn eine Gesellschaft diese fundamentalen Rechte des Individuums nicht respektiert, wenn sie zum Beispiel die Angst so weit eskalieren lässt, dass jede Form von Individualität, Intimität, Privatsphäre und persönlicher Initiative als unzulässige Bedrohung des »kollektiven Wohls« betrachtet wird, dann wird sie in Chaos und Absurdität verfallen. Der Glaube an die mechanistische Natur des Universums und die damit verbundene Überschätzung der Fähigkeiten des menschlichen Verstandes, die typisch ist für die Aufklärung, gingen mit der Tendenz einher, die Gesellschaft immer weniger prinzipiengeleitet zu führen. Innerhalb eines rein mechanistischen Denkens ist es außerordentlich schwierig – um nicht zu sagen unmöglich –, ethische Prinzipien zu etablieren. Warum sollte eine Mensch-Maschine in einer UniversumMaschine sich in ihren Beziehungen zu anderen an Prinzipien und ethische Regeln halten? Geht es nicht letztlich darum, beim Kampf ums Überleben der Fitteste zu sein? Und sind Ethik und Prinzipien dabei nicht eher von Nachteil als von Vorteil? Im Endeffekt kam es für den Aufklärungsmenschen nicht mehr so sehr darauf an, sich an Gebote und Verbote oder ethische und moralische Prinzipien zu halten, sondern darauf, sich auf der Grundlage »objektiven Wissens« über die Welt im Überlebenswettkampf so effizient wie möglich zu bewegen. Das kulminierte in totalitären und technokratischen Regierungsformen, bei denen Entscheidungen nicht auf der Basis allgemeingültiger Gesetze und Prinzipien getroffen werden, sondern auf der Basis der Analyse von »Experten«. Insofern bevorzugt es der Totalitarismus immer, die Gesetze abzuschaffen oder nicht anzuwenden und »per Dekret« zu regieren. Das heißt, für jede neue Situation werden wieder neue Regeln formuliert auf der Grundlage einer (pseudo)rationalen Einschätzung dieser Situation. Die Geschichte bietet Beispiele zuhauf, dass dies zu launisch und absurd wechselnden Regeln führt, die letztendlich jede Menschlichkeit in der Gesellschaft vernichten.

Das ist vielleicht die direkteste und konkreteste Illustration von Hannah Arendts These, Totalitarismus sei im Grunde das Symptom eines naiven Glaubens an die Allmacht der menschlichen Ratio. Das Gegengift gegen Totalitarismus ist daher eine Lebenshaltung, die sich nicht nur auf das rationale Verständnis der oberflächlichen Erscheinungsformen des Lebens fixiert, sondern Fühlung mit den Prinzipien und Figuren sucht, die unter diesen Erscheinungsformen verborgen liegen.

Die Chaostheorie und die Theorie komplexer dynamischer Systeme eröffnen eine atemberaubende neue Perspektive auf das Universum. In seinem allseits geschätzten Buch Chaos stellt Gleick²⁵³ die These auf, dass die Chaostheorie die dritte große wissenschaftliche Revolution des 20. Jahrhunderts sei (nach der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik). Die mechanistischmaterialistische Wissenschaft ging von der Annahme aus, die Welt sei logisch und vorhersagbar und im Wesen ein toter mechanischer Prozess. Wissenschaft strebte danach, das Lebendige – das Organische, das Bewusstsein usw. – auf das Tote zurückzuführen (zum Beispiel auf mechanische oder chemische Prozesse). Quantenmechanik und Chaostheorie bringen dieses Weltbild ins Wanken. Sie setzen zu einer Gegenbewegung an und tendieren viel mehr zum Weltbild des Vitalismus. Sie zeigen, dass in den verschiedensten Phänomenen, die wir zuvor als tote, mechanische Prozesse betrachtet hatten, Leben und Bewusstsein ist. Denken wir an das Rauschen in Telefonleitungen: Es ist nicht der passive Effekt diverser mechanischer Faktoren, sondern es ist selbstorganisierend – es steckt Zielgerichtetheit und Gefühl für Ästhetik darin.

Das vielleicht Revolutionärste an der Chaostheorie ist, dass ihre Beobachtungen uns in die Lage versetzen zu erkennen, dass in der Natur durchaus eine Zweckund eine Formursache wirksam sind. Diese Begriffe stammen aus der Kausalitätstheorie von Aristoteles und sind für das Nachdenken über Ursächlichkeit unentbehrlich. Kurz zusammengefasst, besagt diese Theorie, dass es vier Arten von Ursachen gibt: die Stoffursache, die Wirkursache, die Formursache und die Zweckursache. Aristoteles illustrierte den Unterschied zwischen diesen vier Arten oft anhand eines anschaulichen Beispiels: der Herstellung einer Statue. Die Stoffursache der Statue ist das Material, aus dem sie hergestellt wird (ohne dieses Material keine Statue). Die Wirkursache sind

die Bewegungen des Bildhauers, der mit Meißel und Hammer den Stein in eine Statue transformiert. Die Formursache ist die Idee oder die Form der Statue, die dem Bildhauer vorschwebt und bestimmt, wie er seine Bewegungen lenken wird. Die Zweckursache ist die Intention, eine Statue zu erschaffen (beispielsweise weil jemand bei dem Bildhauer eine Statue bestellt hat). Es versteht sich, dass ein mechanistisches Weltbild lediglich von der Existenz einer Stoff- und einer Wirkursache ausgeht. Einstmals hatte sich das mechanistische Universum, als Ansammlung materieller Teilchen, in Gang gesetzt und aus der initialen Bewegung der Teilchen war alles andere gefolgt. Die Teilchen an sich sind also die Stoffursache, ihre Bewegungen, die Effekte aller Art hervorbringen, die Wirkursache. In einem solchen Weltbild ist es jedoch undenkbar anzunehmen, dass bestimmte »Formen« oder »Ideen« (z. B. von bestimmten Organismen) im Vorhinein bestehen könnten, die einen Einfluss darauf ausüben würden, wie sich der materielle Prozess entfaltet.

Die Chaostheorie beweist gleichwohl, dass solche Formen existieren und dass sie auf koordinierende Weise operieren. Was für das Rauschen in Telefonleitungen und das Tropfen von Wasserhähnen demonstriert wurde, ist von viel weitreichenderer Gültigkeit. Die Chaostheorie zeigt uns, dass die Berglandschaft, die uns in atemlose Bewunderung versetzt, nicht einfach die Folge eines toten mechanistischen Prozesses ist – zufällige mechanistische Vorgänge zwischen tektonischen Platten, Erosion, Lavaeruptionen usw. –, sondern dass eine zeitlose und sublime Idee die zahllosen mechanischen Prozesse koordiniert hat, die an ihrer Entstehung beteiligt waren. Vielleicht noch mehr als die Quantenmechanik läutet die Chaostheorie daher ein neues Zeitalter ein, das Zeitalter, das historisch und logisch der Aufklärung folgt: ein Zeitalter, in dem das Universum wieder mit Sinn erfüllt ist.

KAPITEL 10

MATERIE UND GEIST

Die erste Grundannahme des mechanistisch-materialistischen Weltbilds ist, dass das Universum eine maschinell-mechanistische Größe ist, die vollständig logisch erfasst werden kann. Nachdem wir die Relativität dieser These erörtert haben, werden wir uns nun mit der zweiten großen Annahme des mechanistischen Materialismus beschäftigen: Alles auf der Ebene des Bewusstseins und der Psyche ist eine Folge des Materiellen – matter over mind: Die Materie dominiert den Geist.

Der gegenwärtige öffentliche Diskurs weist eine gewisse Zwiespältigkeit auf, wenn es um die psychische Dimension des Menschseins geht. Einerseits misst man dem psychischen Wohl entscheidende Bedeutung bei. Man geht davon aus, dass sich Stress negativ auf die Gesundheit auswirkt; man erkennt an, dass Placeboeffekte bei medizinischen Interventionen eine große Rolle spielen; es ist mehr oder weniger Gemeingut geworden, dass es wichtig ist, »über unsere Probleme zu sprechen«, usw.

Andererseits ist die Welt jedoch noch immer fest im Griff des mechanistischen Menschen- und Weltbilds. Vielleicht sogar fester denn je. Innerhalb dieser Ideologie wird alles, was zur Kategorie des Bewusstseins und des psychischen Erlebens gehört, letztendlich als unbedeutendes Nebenprodukt der Biochemie des Gehirns betrachtet. Des Menschen Verlangen und Begehren, seine romantischen Stoßseufzer und seine oberflächlichsten Bedürfnisse, seine Freude und sein Kummer, sein Zweifel und seine Entscheidungen, sein Vergnügen und sein Leiden, sein tiefster Abscheu und seine höchste ästhetische Wertschätzung, kurzum: seine ganze subjektive Erfahrungswelt – all das wird auf Elementarteilchen in seinem Gehirn zurückgeführt, die nach den Gesetzen der

Mechanik aufeinander einwirken.

Es ist evident, dass eine solche Sicht der Dinge jede psychologische Betrachtungsweise des Lebens – und darüber hinaus auch jede geistliche, religiöse oder spirituelle Praxis – als Form von Irrationalität ansehen muss. Und jeder therapeutischen Anwendung solcher Konzepte kann bestenfalls der Wert eines zeitweiligen Behelfs zuerkannt werden, eines marginalen Herumdokterns, das unter Umständen toleriert werden kann, bis eine echte, biologische Behandlung entdeckt wird, die die echte, biologische Ursache des menschlichen Leidens anpackt. Eine Depression kommt aus dem Gehirn, und wenn wir gut genug suchen, werden wir irgendwann glasklar zeigen können, durch welchen mechanischen Fehler sie verursacht wird, und die Störungen der Maschine auch mechanistisch reparieren können.

In einem solchen Weltbild geht man implizit oder explizit von einer Hierarchie der Wissenschaften aus. Die fundamentalste Ebene ist die der Physik, der mechanistischen Interaktionen zwischen den Elementarteilchen, und alles andere geht im Grunde daraus hervor. Die Physik bestimmt die anorganische Chemie; die anorganische Chemie bestimmt die organische Chemie; die organische Chemie bestimmt die Anatomie und die Physiologie; die Anatomie und die Physiologie bestimmen die Psychologie; die Psychologie bestimmt die Ökonomie, die Politik und die Soziologie (siehe Abb. 8). Letztlich ist also alles auf Physik und Chemie zurückzuführen.

Wie weit verbreitet dieses Weltbild auch ist und wie überzeugend es in all seiner Simplizität auch sein kann, wissenschaftlich ist es eigentlich überholt. So zeigte die Quantenmechanik als Wissenschaft von den elementaren materiellen Teilchen, dass es nicht möglich ist, die Ebene des Bewusstseins vollständig auf der Grundlage der materiellen Ebene zu erklären. Elementarteilchen werden in gewissem Maße nämlich selbst durch die Ebene des Bewusstseins bestimmt, zum Beispiel durch den mentalen Akt des Wahrnehmens bei Experimenten. Wie unvorstellbar dies auch sein mag, dasselbe Teilchen scheint, wenn zwei Menschen es gleichzeitig beobachten, an zwei Orten zugleich sein zu können.

Abbildung 8 Hierarchische Ordnung der Wissenschaften innerhalb eines streng mechanistisch-materialistischen Denkens

Und nicht nur die momentane Lokalisierung des Teilchens wird von der Beobachtung beeinflusst, sondern auch die ganze Strecke, die es in den Milliarden von Jahren, die dem Moment der Beobachtung vorausgingen, zurückgelegt hat.²⁵⁴ Erst im Moment der Beobachtung wird diese Strecke bestimmt: »Die Entscheidung [eines Teilchens], den einen oder den anderen Pfad zu wählen, wäre in diesem Fall schon Jahrmilliarden zuvor getroffen worden – noch vor Entstehung der Erde oder vielleicht sogar der Sonne –, und doch würde sich unsere Beobachtung im Labor auf diese Entscheidung auswirken.«²⁵⁵ Diese Einsichten widersprechen der Art und Weise, wie wir Zeit, Raum und Materie erfahren und zu verstehen glauben, in einem solchen Maß, dass der menschliche Geist sie kaum erfassen kann. Niels Bohr formulierte das Befremdliche an den Beobachtungen der Quantenmechanik wie folgt: »Denn wenn man nicht zunächst über die Quantentheorie entsetzt ist, kann man sie doch unmöglich verstanden haben.«²⁵

Wir sehen also, dass die oben erwähnte Hierarchie der Wissenschaften, bei der das Materielle – die Ebene der Physik – die Ebene der Psychologie bestimmt, nicht allgemeingültig ist: Der Mensch als psychisches Wesen bestimmt auch die Ebene der materiellen Objekte. Wir müssen also zumindest von einer gegenseitigen Beeinflussung oder zirkulären Kausalität zwischen Bewusstsein und Materie ausgehen (Abb. 9).

Abbildung 9 Zirkuläre Kausalität zwischen den verschiedenen Wissenschaftsgebieten

Die Begründer der Quantenmechanik gingen jedoch noch ein Stück weiter und betrachteten das Materielle als im Wesen der Kategorie des Bewusstseins zugehörig: »[D]ie kleinsten Einheiten der Materie sind tatsächlich nicht physikalische Objekte im gewöhnlichen Sinn des Wortes; sie sind Formen, Strukturen oder […] Ideen.«²⁵⁷ Auch der logisch-positivistische Philosoph Bertrand Russell war übrigens derselben Meinung: »Alle unsere Daten, sowohl die der Physik als die der Psychologie, sind psychologischen Kausalgesetzen unterworfen[…] In dieser Hinsicht steht die Psychologie dem wirklich Existierenden näher.«²⁵⁸

Das mechanistische Weltbild beruht vollständig auf der Vorstellung von materiellen Teilchen als soliden, absoluten, »objektiven« Gegebenheiten, woraus sich alles andere ableiten lässt. Die Quantenmechanik zeigt uns nun etwas gänzlich anderes. Je feinmaschiger man die Materie untersucht, desto mehr beeinflusst der Akt des Beobachtens selbst die Wahrnehmungen und desto subjektiver wird die Wahrnehmung. Ganz im Sinne von Heisenbergs Unschärferelation können wir daher konstatieren, dass die Materie – die einst als das felsenfeste Fundament des mechanistischen Materialismus betrachtet wurde – im Grunde ein subjektives Phänomen zu sein scheint. Was ist Materie eigentlich? Niemand weiß es.

Ein vollständiges Verständnis der Materialität des Gehirns wird daher nie zu einem vollständigen Verständnis des Bewusstseins führen. Jede Erforschung des Gehirns, als materieller Grundlage des Bewusstseins, stößt an einem gewissen Punkt an eine absolute Grenze, jenseits derer das Bewusstsein selbst die Materie zu bestimmen beginnt. Das zeigt, dass das psychische Leben eine eigenständige Kategorie ist, die keinesfalls auf die Kategorie des Physischen, des Chemischen oder des Biochemischen zurückgeführt werden kann. Auf therapeutischem

Gebiet bedeutet dies gleichzeitig auch, dass psychologische Behandlung also durchaus eine ganz und gar ursächliche Behandlung sein kann.

Die Quantenmechanik ist vielleicht die fundamentalste Entkräftung der Illusion mechanistisch-materieller Bestimmtheit der psychischen Erfahrung, aber sie ist nicht die konkreteste. Es gibt Beobachtungen, die auf direktere Weise zeigen, dass die Psyche schwerlich oder nicht auf einen mechanistisch arbeitenden Gehirnapparat reduziert werden kann.

Abbildung 10

Vergleich der Scans eines Menschen mit intaktem Hirngewebe (rechts) und eines Menschen, bei dem das Hirngewebe nahezu vollständig abgestorben ist (links), der aber dennoch mental perfekt funktioniert. Der schwarze Fleck im Schädel zeigt, dass sich der durch das Absterben des Hirngewebes frei gewordene Raum mit Flüssigkeit gefüllt hat (Feuillet et al., 2007).

So gibt es zum Beispiel Menschen, bei denen fast das gesamte Hirngewebe abgestorben ist, denen mitunter weniger als 5 % verblieben sind, die aber dennoch mental völlig normal funktionieren und beispielsweise einen Intelligenzquotienten von über 130 aufweisen. Um es deutlich zu sagen: Ich spreche hier nicht von obskuren Behauptungen, sondern von wissenschaftlichen Beobachtungen, über die in Zeitschriften wie The Lancet oder Science (z. B. Feuillet u. a., 2007²⁵ ; Lewin, 1980² ) berichtet wurde. Bildgebung und Autopsie zeigten dabei eindeutig, dass die Schädelhöhle bei solchen Menschen fast vollständig mit Flüssigkeit gefüllt war (siehe Abb. 10).

Diese Beobachtungen schließen im Prinzip eine biologische Determinierung des Bewusstseins nicht aus. Sie zeigen nur, dass eine solche Determinierung, sollte sie bestehen, außerordentlich komplex sein muss und dass das Gehirn zumindest – um in Begriffen komplexer und dynamischer Systeme zu sprechen – die Eigenschaft der Selbstorganisation und Selbstreorganisation besitzen muss. Das wenige noch verbliebene Hirngewebe scheint spontan die Funktionen des abgestorbenen Teils übernommen zu haben. Eine solche Reorganisation setzt jedoch an sich schon eine gewisse Form von Bewusstsein und Intention im Hirngewebe voraus. Dadurch gerät die Hypothese, das Bewusstsein werde streng vom materiellen Substrat des Gehirns bestimmt, in einen Zirkelschluss: Das Bewusstsein ist ein Effekt der materiellen Wirkung des Gehirns, die materielle Wirkung des Gehirns ist (bis zu einem gewissen Grad) ein Effekt des Bewusstseins.

Hieran knüpfen auch die Experimente zur sogenannten Neuroplastizität an. Mentales Training (z. B. Rechen- oder Gedächtnistraining) führt sogar relativ kurzfristig zu beobachtbaren Veränderungen in der Biochemie und Architektur des Gehirns.² ¹ ² ² Auch das zeigt uns, dass der kausale Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Gehirn keine Einbahnstraße ist.

Wir könnten auch auf eine Reihe von Beobachtungen verweisen, die alle unmittelbar verdeutlichen, dass das Psychische die Ursache des Körperlichen sein kann, und zwar eher als umgekehrt. Solche Beobachtungen begegnen uns im täglichen Leben auf Schritt und Tritt. Die alltäglichste ist natürlich, wie bestimmte Emotionen unseren Körper affizieren oder wie das Haar eines Menschen unter Einfluss von beispielsweise intensiver Angst oder großem Kummer innerhalb weniger Stunden vollständig ergrauen kann. Oder wir könnten in positivem Sinne auf Ereignisse verweisen, bei denen Menschen eine nahezu unvorstellbare Kraft entwickeln, wenn sie damit einen geliebten Menschen retten können. Bekannt ist die Geschichte von Laura Schultz, einer 63-jährigen Großmutter aus Florida, die 1977 das Vorderrad eines Schulbusses mit einer Hand anhob, um mit der anderen Hand ihr Enkelkind darunter hervorzuziehen.

Solche Beispiele sollten uns eigentlich schon die Augen öffnen und uns überzeugen, dass viel größere Anstrengungen unternommen werden müssten, um die psychische Erfahrung besser zu verstehen. Doch merkwürdigerweise ist der Mensch oftmals blind für solch direkte Evidenz aus seiner eigenen Erfahrung und lässt sich leichter von dem überzeugen, was »ein Wissenschaftler« »beobachtet« hat, auch wenn er in diesem Fall viel mehr auf »blinden Glauben« angewiesen ist. Aber es ist nun mal nicht anders, und ich präsentiere gern einige wissenschaftliche Erkenntnisse darüber.

Das Gebiet der sogenannten Psychoneuroimmunologie erlaubt uns, die Rolle, die Angst und Stress beim Verlauf viraler Infektionen spielen, zu beurteilen (was natürlich für die Coronakrise nicht ohne Relevanz ist). Verschiedene Studien

berichten, dass Mäuse durch experimentell erzeugten Stress ein um 40 % höheres Risiko haben, an Virusinfektionen zu sterben.² ³ Der Wirkmechanismus ist bekannt: Der Stress führt zu einer Verringerung der Immunität (vor allem durch Veränderungen in den Konzentrationen von weißen Blutkörperchen und Hormonen) und somit zu größerer Anfälligkeit für Viren. 2016 bestätigte eine Studie, dass dieselben Mechanismen auch bei Menschen wirksam sind und einen erheblichen Einfluss auf die Mortalität bei einer Vielzahl schwerer körperlicher Erkrankungen haben.² ⁴ Wichtig für die Coronakrise ist ein Bericht von 2008, der besagt, dass Stress vor allem bei viralen Lungenerkrankungen zu einer höheren Sterblichkeit führt und dass dieser Effekt bei Männern bedeutend größer ist als bei Frauen.² ⁵ Das korrespondiert mit der schwer erklärbaren Beobachtung, dass in der Coronakrise mehr männliche als weibliche Todesopfer zu beklagen sind.

Aber auch in anderen Wissenschaftsgebieten gibt es Beobachtungen, die weder Statistik noch Tierversuche benötigen, um uns von der Tödlichkeit von Angst zu überzeugen. In der Anthropologie ist es eine bekannte Tatsache, dass in sogenannten primitiven Gesellschaften Menschen sterben können, nachdem ein Schamane einen Fluch über sie verhängt hat. Herbert Basedow beschreibt den typischen Ablauf bei den Aborigines in Australien: »Ein Mensch, der entdeckt, daß er von einem Feind ›boned‹ wird, bietet einen bedauernswerten Anblick. Er steht entgeistert da, die Augen starr auf den hinterlistigen ›Schützen‹ gerichtet, mit erhobenen Händen, als wolle er das todbringende Fluidum abwehren, von dem er glaubt, es dringe in seinen Körper ein. Die Wangen werden totenbleich, die Augen werden glasig, der Gesichtsausdruck wird schrecklich verzerrt, wie der eines Menschen, der von einer Lähmung befallen wird. Er versucht zu schreien, aber gewöhnlich erstickt der Ton in seiner Kehle, und man sieht nur, daß er Schaum vor dem Mund hat. Der Körper beginnt zu zittern und die Muskeln beginnen unwillkürlich zu zucken. Er schwankt rückwärts und fällt zu Boden. Kurze Zeit scheint er bewußtlos zu sein, aber bald darauf fängt er an, sich wie im Todeskampf zu winden und zu stöhnen, wobei er sein Gesicht mit den Händen bedeckt. Nach einer Weile faßt er sich wieder ein wenig und kriecht zu seinem ›Wurley‹. Von nun an wird er immer kränker, quält sich, verweigert die Nahrung und zieht sich von den täglichen Angelegenheiten des Stammes zurück. Wenn nicht rechtzeitig Hilfe durch einen Gegenzauber eintrifft (der von einem Nangarri oder Medizinmann ausgeführt werden muß), tritt der Tod schon nach relativ kurzer Zeit ein.«²

Derartige Todesfälle wurden vielfach beobachtet und sind in der Literatur als »psychogener Tod« bekannt. Henri Ellenberger führt präzisierend an, dass es wichtig sei, dass die ganze Gemeinschaft, zu der Schamane und Opfer gehören, an die Autorität des Schamanen glaubt. Wir kommen später noch einmal darauf zurück.

Vielleicht gilt das ja für einen irrationalen Primitiven, der dem magischen Denken noch nicht entwachsen ist, aber doch nicht für einen rationalen westlichen Menschen im 21. Jahrhundert? Nichts ist weniger wahr. Es gibt zahlreiche Beobachtungen, die zeigen, dass der westliche Mensch in seinem körperlichen Funktionieren solchen Phänomenen ebenso unterworfen ist. Prof. Marie-Elisabeth Faymonville, Anästhesistin an der Universitätsklinik Lüttich, führt schon seit Dutzenden von Jahren Operationen unter Hypnose durch. Das Verfahren – das einmal in einem Dokumentarfilm im belgischen Fernsehen demonstriert wurde – sieht erstaunlich einfach aus. Faymonville spricht dem Patienten, der auf dem OP-Tisch liegt, beruhigend zu, nimmt ihn mit in eine entspannende mentale Erlebniswelt und gibt dann dem Chirurgen unauffällig ein Zeichen, dass er mit der Operation beginnen darf. Dieser kann nun problemlos, ohne dass der Patient es merkt, die erforderlichen Schnitte am Körper vornehmen und die vorgesehenen medizinischen Handlungen durchführen. Und um es deutlich zu sagen: Es betrifft nicht nur leichte Eingriffe, es geht auch um Eingriffe wie die operative Entfernung der Schilddrüse, das Einsetzen von Brustprothesen oder die Entfernung von Tumoren.² ⁷

Aber im Grunde spielen sich solche Prozesse täglich und massenhaft in der medizinischen Praxis ab, und zwar in Form des Phänomens, das als Placeboeffekt bekannt wurde. Dieser Begriff kam nach merkwürdigen Beobachtungen auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs in Schwang. Als den Ärzten das Morphium ausging, kam einer von ihnen auf die Idee, Soldaten kurz vor einer Amputation doch ein wenig zu beruhigen, indem er ihnen eine Injektion mit Kochsalzlösung verabreichte. Zu ihrer Verwunderung bemerkten die Ärzte, dass die meisten Soldaten genauso gut betäubt waren wie mit Morphium. Seither gibt es eine stetig wachsende Menge von Untersuchungen,

die nachweisen, dass Placebos tatsächlich zu den erstaunlichsten körperlichen Effekten in der Lage sind, vom Öffnen der Herzkranzarterien bei Angina Pectoris bis zur Reaktivierung abgestorbener Hirnareale. Wie bereits erwähnt, vermuten Experten auf diesem Gebiet wie Arthur Shapiro und Bruce Wampold, dass der Placeboeffekt für den Löwenanteil (oft mehr als 80 %) der Wirkungen medizinischer Eingriffe verantwortlich ist. Manche Forscher – vernünftig oder nicht – plädieren daher auch für einen quasi allgemeinen Gebrauch von Placebos statt echter Medikamente. Dazu muss erwähnt werden, dass andere Forscher auf der Grundlage statistischer Untersuchungen zu substanziell niedrigeren Werten kommen (manche berichten nur von einem 10%igen Placeboeffekt).² ⁸ Vielleicht müssen wir auch in diesem Punkt vor allem konstatieren, dass zahlenmäßige Untersuchungen sehr relativ sind. Die einfachen Fallbeschreibungen über Sedierung durch Hypnose und Betäubung mit Salzwasser sind in wissenschaftlicher Hinsicht letztlich wertvoller und lassen keinen Zweifel daran: Die Wirkung psychischer Faktoren auf den Körper ist – zumindest unter bestimmten Umständen – enorm.

Der Placeboeffekt zeigt uns also die immense Bedeutung der subjektiven Bewertung der therapeutischen Maßnahmen durch den Patienten. Wenn jemand der Maßnahme positiv gegenübersteht, dann ist das an sich schon ein wichtiger Teil der Heilung. Aber auch das Umgekehrte gilt: Wenn jemand der Behandlung negativ gegenübersteht, dann kann das fatale Folgen haben. Dieses Phänomen ist als Noceboeffekt bekannt. Es gibt eine umfangreiche Literatur, die nahelegt, dass ein breites Spektrum von Krankheiten durch diesen Effekt zustande kommen kann.² Der oben besprochene psychogene Tod ist im Grunde ein extremes Beispiel dafür und beweist, dass auch diese Effekte außerordentlich stark sein können. Das zeigt uns, dass es neben einem ethischen Grund auch ein pragmatisch-intellektuelles Argument gibt, Behandlungen nie vorzuschreiben und auf diesem Gebiet das Selbstbestimmungsrecht strikt zu wahren.

Der Mechanismus beim psychogenen Tod, bei der hypnotischen Sedierung und bei Placebos ist, näher betrachtet, immer derselbe: Eine Autoritätsfigur erweckt eine starke mentale Vorstellung beim adressierten Individuum. Diese Vorstellung kann positiv (z. B. Heilung) oder negativ (z. B. sterben, krank werden …) sein, aber sie muss lebendig und klar im Erleben präsent sein und sie muss die

Aufmerksamkeit von allen anderen Vorstellungen abziehen. Daraufhin »schmilzt« der Körper gleichsam in diese Vorstellung hinein; er nimmt die Form oder den Zustand dieser Vorstellung an, das heißt, er wird gesund, er stirbt, er wird krank usw.

Der erstaunliche, weitreichende Einfluss mentaler Vorstellungen auf den Körper wurde vielleicht am überzeugendsten von Biologen nachgewiesen. Harrison Matthews zeigte in wiederholt replizierten Experimenten, dass der Eierstock weiblicher Tauben nicht reift, wenn die Taube nie das Bild eines Artgenossen zu sehen bekommt (insbesondere wenn sie in völliger Isolation in einem Käfig aufwächst).²⁷ Und Nachfolgeexperimente zeigten, dass es genügt, einen Spiegel in den Käfig der Taube zu hängen, damit sie fruchtbar wird (wenn auch etwas weniger, als wenn sie in Anwesenheit eines realen Artgenossen aufwachsen würde). Chauvin führte ähnliche Experimente mit Heuschrecken durch mit noch weitreichenderen Effekten: Genau wie bei den Tauben ließen sich starke Einflüsse auf die Funktion der Organe beobachten, aber auch die Schilde hatten andere Farbmuster (es fehlten grüne Streifen) und die Anatomie der Hinterbeine wies systematische Unterschiede auf.²⁷¹ Diverse Variationen dieser Experimente wurden durchgeführt, und alle kamen zu demselben Schluss: Der entscheidende Faktor ist die An- oder Abwesenheit visueller Vorstellungen in der Erlebniswelt des betreffenden Tieres.

Wichtig für die Coronakrise ist Folgendes: Verschiedene Autoren (z. B. Gustave Le Bon) haben darauf hingewiesen, dass Überzeugungen in einer Masse (der Gruppe von Individuen, die sich miteinander identifizieren) denselben Einfluss auf den Körper haben wie Hypnose. Wenn die Gesellschaft massenhaft von Angst und den damit einhergehenden Vorstellungen von Krankheit und Tod ergriffen ist, dann werden diese Vorstellungen an sich zu einem ursächlichen Faktor. Wie oben beschrieben, geschieht dies zum Teil dadurch, dass psychische Zerrüttung das biologische »Milieu«, in das das Virus gerät, drastisch verändert und seiner Widerstandsfähigkeit beraubt. Man denke etwa an den Ausspruch von Antoine Béchamp, den auch Louis Pasteur am Ende seines Lebens beherzigte: »Die Mikrobe ist nichts, das Milieu ist alles.«

Wir haben in diesem Kapitel vor allem auf den Einfluss hingewiesen, den visuelle Vorstellungen auf den Körper haben können. Doch diese Vorstellungen sind selbst in einem noch wichtigeren psychischen Register befangen: dem Register der Erzählungen und Ideologien, dem symbolischen Register. Die Art und Weise, wie Narrative Mensch und Gesellschaft beherrschen, ist geradezu verblüffend und wird weitgehend verkannt. Wie wir in den Kapiteln 3 und 4 bereits beschrieben haben, wird jedes Kind von frühester Jugend an in sprachliche Prozesse eingebunden. Es wächst innerhalb eines Narrativs auf, das ihm die Eltern vermitteln, das aber meist von größeren sozialen Gruppen und letztendlich einer gesamten Gesellschaft geteilt wird. Diese Erzählung nimmt im Kern immer die Form eines Mythos an, der eine symbolische Antwort auf die unbeantwortbaren Fragen gibt. Sie liefert eine bestimmte Sicht auf das Leben, sagt, was wichtig und weniger wichtig ist, legt fest, was Ruhe bringt und was Angst macht. Und sie bestimmt, wie uns Ethnografen wie Marcel Mauss²⁷² zeigten, sogar noch viel mehr. Sie bestimmt, was man schmackhaft finden wird und was abstoßend (Fischaugen sind im Kongo eine Delikatesse, werden in Europa aber meist als abstoßend empfunden), wie sich der Körper bewegt (vgl. den Gang von Japanern mit dem von Afrikanern), welche basalen Reflexe wir bei Schmerz zeigen (das Zurückziehen der Hand bei Schmerz unterscheidet sich zum Beispiel zwischen den Kulturen) usw. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass unser Körper von der mythischen Erzählung, in der wir aufgewachsen sind, vollständig absorbiert und kolonisiert wird.

Das ist der Grund, warum eine medizinische Praktik, die nur oder vor allem mit Worten und Erzählungen arbeitet, so enorme Wirkungen auf den Körper haben kann. Man lese Texte wie L’efficacité symbolique²⁷³ des großen belgischfranzösischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss, um sich ein Bild zu verschaffen, welch immensen Einfluss symbolische Strukturen auf Gesellschaften und die Individuen, die ihnen angehören, haben. Sowohl die mentalen als auch die körperlichen Funktionen werden bis in die tiefsten Details von ihnen gesteuert. Lévi-Strauss beschreibt zum Beispiel, wie Schamanen im brasilianischen Regenwald bei Komplikationen während der Entbindung die Geburt mittels eines Rituals auslösten, das sich eines festen Textes bediente. Dieser wurde der in den Wehen liegenden Frau auf ritualisierte Weise vorgelesen oder vorgesungen. In dem Text trat eine Reihe von Gestalten aus der Mythologie der Stämme auf, und es wurde erzählt, wie einige gute Geister sich einen Weg durch einen engen Gang bahnten, der in eine Grotte führte, wo böse Geister das Baby

gefangen hielten. Die guten Geister verhandelten mit den bösen, bis diese bereit waren, das Kind gehen zu lassen. Wenn der Gesang diesen Punkt in der Geschichte erreichte, setzte die Geburt ein. Lévi-Strauss zeigte, dass die Gesänge den Körper der Frau zurück »zur Ordnung riefen«, das heißt, dass sie den gestörten Körper wieder mit dem Mythos verbanden, in dem die Frau aufgewachsen war, und ihn auf diese Weise, über den Mythos, in die gewünschte Richtung bewegen konnten. Lévi-Strauss betonte, dass diese Methode seines Wissens immer erfolgreich war. Und das Erstaunlichste: Die Schamanen führten ihre Handlungen intuitiv aus, ohne sich wirklich bewusst zu sein, dass ihre Effekte auf der Wirkung von deren symbolischem Rahmen (dem Mythos) beruhten.

Der westliche Mensch des 21. Jahrhunderts unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von den Indigenen, von denen Lévi-Strauss spricht. Auch der Aufklärungsmensch ist in einem Mythos erzogen worden, einer Erzählung, die etwas über seine Herkunft berichtet, die ihm eine bestimmte Sicht auf das Leben vermittelt und seine negativen und positiven Emotionen und Affekte an spezielle Stimuli koppelt. Dieser Mythos ist die Erzählung vom mechanistischen Universum, von der großen Maschine, die durch den Urknall in Gang gesetzt wurde und in die der Mensch als kleine Maschine integriert ist. Wenn es um Krankheit und Gesundheit geht, ist die Autorität in dieser Erzählung dann nicht der Schamane, sondern der medizinische Experte. Und dieser Experte führt, genau wie der Schamane, ein Ritual durch, mit dem er die Körper der Patienten zur Ordnung ruft. Und ja, genau wie der Schamane hat auch der heutige Arzt nur ein sehr begrenztes Bewusstsein davon, welch immensen Einfluss der symbolische Rahmen, innerhalb dessen er operiert, auf seine Behandlungen hat, und glaubt nur allzu oft, dass Psychologie nichts mit den Heilungen zu tun hat, die er in seiner Praxis geschehen sieht. Der enorme Beitrag des Placeboeffekts zeigt uns nicht nur, wie sehr die medizinische Praxis auf der Wirkung visueller Vorstellungen beruht, sondern vor allem auch, wie sehr sie auf symbolischen Effekten beruht.

Wie stark und wie direkt wahrnehmbar der Einfluss des Psychischen auf das Körperliche auch ist, der Mensch – und vielleicht insbesondere der westliche Mensch – hat die üble Angewohnheit, all seine Aufmerksamkeit auf die

materiell-biologische Dimension des Lebens zu richten und die psychologische Ebene als Nebensächlichkeit zu betrachten. Und ich empfinde mich in dieser Hinsicht nur teilweise als Ausnahme. Dennoch, das Leugnen eines wichtigen ursächlichen Faktors für das Zustandekommen eines Problems führt in der Regel nur zu einer Eskalation des Problems.

Die gute Nachricht dieser Geschichte darf jedoch nicht unbeachtet bleiben. Die oben erwähnten Erkenntnisse über Placebos und Hypnose zeigen eindeutig, dass nicht nur negative Vorstellungen den Körper affizieren: Positive Vorstellungen haben einen vergleichbaren, allerdings umgekehrten Einfluss. Ob wir von Placebos und Hypnose an sich allzu viel erwarten dürfen, wage ich zu bezweifeln. Beide haben etwas ethisch Fragwürdiges: Placebos, weil sie im Grunde auf einer Form von Täuschung beruhen, und Hypnose, weil der Geist des Hypnotisierten der Suggestion des Hypnotiseurs unterworfen wird.

Von größerer Bedeutung sind vielleicht die Beispiele von Menschen, die, indem sie sich strikt an ethische Prinzipien hielten, die erstaunlichste physische Widerstandsfähigkeit an den Tag legten. Solschenizyn beschreibt in Archipel Gulag unter anderem die bewegende Geschichte von Grigorij Iwanowitsch Grigorjew, einem Gefangenen, der erst Jahre in den Nazi-Konzentrationslagern verbracht hatte und dann unter dem Stalinismus in den Gulags landete. Er fiel jedem durch seine legendäre Ehrlichkeit und sein nobles Verhalten auf. Er weigerte sich, Aufträge auszuführen, die er für unethisch hielt, auch wenn er dafür schwer bestraft wurde, lehnte es ab, sich an der unter Gefangenen weitverbreiteten Gewohnheit zu beteiligen, sich gegenseitig das Essen zu stehlen, wenn sich die Gelegenheit ergab, hielt sich generell strikt an die ethischen Regeln, die er für richtig erachtete. Solschenizyn beschreibt den Einfluss seiner geistigen Reinheit auf seinen Körper wie folgt:

»Mehr noch: Dank der wunderbaren Wirkung, die der lautere, makellose Geist eines Menschen auf seinen Körper hat (an eine solche Wirkung wird heute nicht mehr geglaubt, man versteht dieses Phänomen nicht mehr), kräftigte sich der Organismus des nicht mehr jungen (er war gegen fünfzig) Grigorij Iwanowitsch

im Lager. Seinen Gelenkrheumatismus wurde er völlig los, und nach einem überstandenen Typhus fühlte er sich besonders gesund: Im Winter trug er Papiersäcke, in die er Löcher für Kopf und Arme geschnitten hatte – und erkältete sich nicht!«²⁷⁴

Eines steht fest: Die breitere Erforschung und Nutzung der Möglichkeiten, die eine psychologischere Betrachtungsweise des Menschen bietet, als Alternative zur biologisch-reduktionistischen Betrachtungsweise, ist ohne Zweifel eine der großen Herausforderungen der Zukunft. Wenn wir diese Herausforderung nicht annehmen, ist die Chance gering, dass wir eine dauerhafte Lösung für heutige und zukünftige Krisen finden.

Dass wir dazu neigen, die oben beschriebenen wissenschaftlichen Beobachtungen zur psychischen Kausalität als seltsam und unglaublich zu empfinden, kann nur aus der Tatsache erklärt werden, dass wir letztlich alle in hohem Maße mechanistisch-materialistischen Illusionen unterliegen. Die Wissenschaft zwingt uns dennoch durchaus nicht, die psychische Erfahrung als dem Materiellen passiv unterworfen zu betrachten. Im Gegenteil, die Vorposten der Wissenschaft – wie die erwähnten Zitate von Heisenberg, Bohr oder Planck beweisen – sind eher zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen gelangt. Der Weg zu einem besseren Verständnis von Biologie und Materie wird zweifellos über das Verständnis der Struktur unseres psychischen Lebens verlaufen. Die Wissenschaft muss es daher als eine ihrer fundamentalsten Aufgaben ansehen, die Struktur der psychischen Erfahrung zu analysieren, ihre Gesetzmäßigkeiten zu erklären und zu untersuchen, welche Möglichkeiten dieses Zugangstor zum menschlichen Wesen dem Menschen und der Gesellschaft eröffnet.

Ich betone dabei, dass Dinge wie der Placeboeffekt vornehmlich wissenschaftlich untersucht werden sollten. Sie dürfen keinen Anlass dazu bieten, sich einer Esoterik hinzugeben, die im Widerspruch zum Verstand steht. Claude Lévi-Strauss zeigte mit seiner strukturellen Anthropologie, dass die Wirkungen von Erzählungen und Vorstellungen durchaus weitgehend rational beschrieben werden können. Seine Beschreibung ist in wissenschaftlicher

Hinsicht atemberaubend rigoros und zugleich radikal antimechanistisch. Das ist es, wo wir hinmüssen: zu einer Wissenschaft, die sich nicht von der mechanistischen Ideologie verblenden lässt, sondern die rationale Analyse der Wirklichkeit bis zum Äußersten vorantreibt, bis zur absoluten Grenze des rational Erkennbaren, bis zu dem Punkt, wo die Ratio sich selbst überholt.

KAPITEL 11

WISSENSCHAFT UND WAHRHEIT

Totalitarismus ist der Glaube, dass der menschliche Verstand das richtungsweisende Prinzip in Leben und Gesellschaft sein kann. Er strebt nach einer utopischen, künstlichen Gesellschaft, geführt von Technokraten oder Experten, die auf der Grundlage technischen Wissens die Maschine der Gesellschaft optimal laufen lassen. Das Individuum wird dabei dem Kollektiv völlig untergeordnet, auf ein Rädchen in der Gesellschaftsmaschine reduziert (siehe dazu auch Bertrand Russell in Wissenschaft wandelt das Leben).²⁷⁵ Das Ideal der technokratischen Gesellschaft war der Aufklärungstradition inhärent, insbesondere deren positivistischem Zweig. Positivistische Denker wie Henri de Saint-Simon und Auguste Comte brachten ihren fanatischen Glauben an eine humanistisch-technokratische Gesellschaft zum Ausdruck, in der Wissenschaftler und Technokraten den Platz von Päpsten und Priestern einnehmen würden.²⁷ Nicht Gott, sondern die menschliche Vernunft sollte verherrlicht werden. Das sei der Weg zu einer utopischen Gesellschaft ohne Krieg oder Konflikt, einem Reich der Freiheit.

Der Nationalsozialismus und noch mehr der Stalinismus sind, historisch betrachtet, die am weitesten vorangetriebenen Versuche, die totalitäre Ideologie in die Praxis umzusetzen. Sie wollten das Paradies realisieren, und dafür war jedes Mittel recht: Ausschluss, Stigmatisierung und schließlich auch die industrielle Ausrottung jeder Bevölkerungsgruppe, die nicht ins Idealbild passte. In beiden historischen Beispielen sollte die utopische neue Gesellschaft durch die rücksichtslose Anwendung einer knallharten Logik geschaffen werden (siehe Kapitel 7).

Es wäre jedoch ein kapitaler Fehler, das Phänomen des Totalitarismus nur in

totalitären Regimes zu erkennen. Es gibt eine permanent vorhandene totalitäre Unterströmung, die in einem fanatischen Streben besteht, das Leben auf der Grundlage technisch-wissenschaftlicher Kenntnisse weitgehend zu steuern und zu kontrollieren. Der technokratische Gedanke ruht immer auf zwei Säulen. Einerseits verlockt er durch ein positives Bild eines künstlichen Paradieses, mit dem er vorgibt, dass der Mensch von allem Ungemach und Leiden erlöst werden könne. Andererseits drängt er sich auch aus Angst auf, als Notwendigkeit, Probleme zu lösen. Mit jedem »Objekt der Angst«, das in den letzten Jahrzehnten in unserer Gesellschaft auftaucht – Terrorismus, die Klimaproblematik, das Coronavirus –, macht dieser Prozess einen Sprung nach vorn. Die Drohung des Terrorismus macht einen Überwachungsapparat erforderlich und unsere Privatsphäre zu einem unverantwortlichen Luxus; um die Klimaprobleme unter Kontrolle zu bekommen, müssen wir auf Fleisch aus dem 3-D-Drucker, Elektroautos und eine Online-Gesellschaft umsteigen; um uns vor dem Coronavirus zu schützen, müssen wir unsere natürliche Immunität durch eine mit mRNA-Impfstoffen erzeugte künstliche Immunität ersetzen.

Die vierte industrielle Revolution, in der der Mensch physisch mit Technologie verschmelzen soll – das transhumanistische Ideal –, wird je länger, je mehr als unvermeidliche Notwendigkeit angesehen. Die ganze Gesellschaft wird sich in ein Internet of Bodies verwandeln müssen, in dem der menschliche Körper von einem technokratischen Staat digital überwacht, getrackt und getraced wird. Nur auf diese Weise werden wir die Probleme der Zukunft meistern. Es gibt keine Alternative (There is no alternative.). Wer die technologische Lösung nicht mitträgt, ist naiv und unwissenschaftlich.

Totalitarismus und Technokratie profilieren sich gern als der Inbegriff von Ratio und Wissenschaftlichkeit. Das technokratische Paradies wird die Bevölkerung glücklich und gesund machen – oder doch zumindest die größte Chance dafür bieten. Mit Sensoren unter der Haut kann man jede biochemische Veränderung registrieren und melden. Jeder, der Anzeichen von Krankheit zeigt, kann dann sofort untersucht und behandelt werden. Um das effizient umzusetzen, muss alles permanent und gleichförmig in das künstliche Licht von Monitoring und staatlicher Kontrolle getaucht sein. Dass das menschliche Wesen eine Blume ist, die nur blüht, wenn sie von Zeit zu Zeit im Schatten der Intimität verweilen

kann, wird in einer technokratischen Sicht als Nebensächlichkeit betrachtet. Und wer das System nicht mitträgt, dem mangelt es an Bürgersinn, der hält sich selbst für wichtiger als das Kollektiv. Gesundheit ist keine reine Privatsache, manche Krankheiten sind ansteckend. Aber selbst in einer objektivierenden biologischreduktionistischen Sicht zeigt sich seit Jahrzehnten deutlich, dass zu viel (staatliche) Kontrolle an sich gesundheitsschädlich ist. Um das Beispiel einer Virusinfektion zu benutzen: Kontrolle führt zu Stress, und Stress führt wiederum zu einer stark verminderten körperlichen Widerstandsfähigkeit bei Virusinfektionen (siehe dazu auch Kapitel 10). Auf der Grundlage einer biologisch-reduktionistischen Analyse zu handeln ist in Wirklichkeit ein Rezept für das Scheitern, selbst auf rein körperlichem Gebiet. Man kann den Verlauf einer Virusinfektion nicht anhand der mechanistischen Prozesse verstehen, die man in dem kleinen Lichtkreis eines Mikroskops sieht – der gesamte psychologische, soziologische und ökonomische Kontext spielt eine wesentliche Rolle. »Das Wahre ist das Ganze«,²⁷⁷ wusste schon Hegel. Das ist es vor allem, was uns die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts auf verblüffende Weise gezeigt hat: Das Kleine und das Große sind miteinander verbunden, alles ist Teil eines überwölbenden, komplexen und dynamischen Systems.

Um den Verlauf einer Viruserkrankung – und im weiteren Sinne: Gesundheit und Glück – zu verstehen, muss man Mensch und Gesellschaft in Augenschein nehmen und die Prinzipien der Natur beachten. Auf diese Weise drängen sich die großen Fragen des Lebens – von der mechanistischen Ideologie in die zweite Reihe verwiesen – wieder nach vorn: Wer sind wir als verlangende Wesen? Wie verhalten wir uns zu anderen Menschen, zu unserem Körper, zu Genuss, zur Natur, zum Tod? Was ist unser Platz in der Natur? Auf diese Fragen gibt es nie eine definitive Antwort. Die Antworten darauf müssen in jeder neuen Situation von jedem Menschen aufs Neue formuliert werden und können nie endgültig rational bestimmt werden (siehe Kapitel 9). Der Endpunkt der Wissenschaft liegt nicht in perfektem rationalem Verständnis und vollkommener Kontrolle über die Wirklichkeit; er liegt vielmehr in der definitiven Akzeptanz, dass es Grenzen der menschlichen Ratio gibt, dass das Wissen nicht dem Menschen gehört, sondern in dem größeren System verortet werden muss, dessen Teil der Mensch ist.

Wir stoßen hier auf ein interessantes Spannungsfeld. Einerseits kann man die

Entwicklung der Wissenschaft als stetige Zunahme rationaler Erkenntnis ansehen. Tatsächlich erschließen sich uns immer mehr Gesetzmäßigkeiten, denen bestimmte Phänomene gehorchen. Andererseits kann man jedoch den Verlauf der Wissenschaft auch als Prozess ansehen, der zu einem arationalen Kern in den Dingen führt, zu etwas, das sich dem menschlichen Verstand entzieht. Und dieses Etwas ist nicht nur ein vernachlässigbarer kleiner Aspekt der Dinge, es ist die Essenz des Lebens (siehe Kapitel 3). Das ist die Ebene, auf der wir verstehen können, dass der Mensch, je mehr die Rationalisierung der Welt zunimmt, auch immer mehr das Gefühl hat, dass ihm die Essenz des Lebens entgleitet, und dass er immer mehr mit Erfahrungen von Sinnlosigkeit, Angst, psychischem Unbehagen und Frustration konfrontiert wird.

Es steht zu erwarten, dass die Reihe von Krisen, die wir erleben, die Inkonsistenzen der mechanistischen Ideologie und das Scheitern der daran anknüpfenden pseudorationalen Rezepte immer deutlicher sichtbar machen wird und dass eine bestimmte Gruppe von Menschen immer klarer erkennen wird, was auch die Begründer der Wissenschaft schon erkannten: Das Wesen der Dinge ist nicht rational erfassbar, und die Wirklichkeit lässt sich nicht auf mechanistische Schemata reduzieren. Dann können wir die Essenz des Lebens endlich dort suchen, wo sie wirklich zu finden ist: in dem, was der Rationalisierung und Mechanisierung immer wieder entgleitet, in dem, was aus einem Gespräch verschwindet, wenn man es digitalisiert, im Unterschied zwischen dem Mutterschoß und einer künstlichen Plastikgebärmutter, im Unterschied zwischen der Wärme einer Elektroheizung und der eines Holzofens usw.

Der Weg der Wissenschaft endet weniger in einem überlegenen Wissen als in einer Art sokratischer Bescheidenheit. Ein Mensch, der ihn weit genug zurückgelegt hat, begreift besser – er weiß –, dass jede rationale Erkenntnis relativ ist und der Essenz des Objekts, das er zu be-greifen versucht, fremd bleibt. Am Ende des Wegs wartet eine Begegnung mit etwas, das nicht mit Logik und Ratio zu fassen ist. Die großen Geister der Wissenschaft haben diese Begegnung auf verschiedenste Weise bezeugt. Einstein sprach gern von dem ungreifbaren Mysterium, das er überall im Universum vorfand, und von dem »wunderbaren Bau des Seienden«,²⁷⁸ Niels Bohr verstand, dass Dichtung der

Realität besser gerecht wird als Logik,²⁷ und Max Planck sagte, dass alle Materie auf einem bewussten und intelligenten Geist beruhe, der das Schicksal der Welt und jedes Menschen in seiner allmächtigen Hand halte:

»[A]ls Physiker, also als Mann der sein ganzes Leben der nüchternsten Wissenschaft, der Erforschung der Materie diente, […] sage ich Ihnen nach meinen Erforschungen des Atoms dieses: Es gibt keine Materie an sich! Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Atoms zusammenhält. Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente noch eine ewige Kraft gibt […] so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewußten intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie.«²⁸

»Wenn also beide, Religion und Naturwissenschaft, zu ihrer Betätigung des Glaubens an Gott bedürfen, so steht Gott für die eine am Anfang, für die andere am Ende alles Denkens. Der einen bedeutet er das Fundament, der anderen die Krone des Aufbaues jeglicher weltanschaulicher Betrachtung.«²⁸¹

»Der religiöse Mensch beantwortet die Frage dahin, daß Gott existiert, ehe es überhaupt Menschen auf der Erde gab, daß er von Ewigkeit her die ganze Welt, Gläubige und Ungläubige, in seiner allmächtigen Hand hält und daß er auf seiner aller menschlichen Fassungskraft unzugänglichen Höhe unveränderlich thronen bleibt, auch wenn die Erde mit allem, was auf ihr ist, längst in Trümmer gegangen sein wird. Alle diejenigen, die sich zu diesem Glauben bekennen und sich, von ihm durchdrungen, in Ehrfurcht und hingebendem Vertrauen unter dem Schutz des Allmächtigen vor allen Gefahren des Lebens gesichert fühlen, aber auch nur diese, dürfen sich zu den wahrhaft religiös Gesinnten rechnen.«²⁸²

Es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass die Begründer der Wissenschaft ein rationalistisches Weltbild hinter sich lassen. Ihre mehr weltanschaulichen Werke zeugen davon – Einstein, Heisenberg, Schrödinger, Louis de Broglie, Max Planck, Niels Bohr, Wolfgang Pauli, Sir Arthur Eddington, Sir James Jeans, sie

alle teilten eine mystische Weltsicht, die in der Tatsache begründet war, dass sie in ihren Forschungsobjekten mit einem unauflösbaren Mysterium konfrontiert wurden.²⁸³ Das bedeutet keineswegs eine Minimalisierung der Bedeutung von Ratio und Logik. Es bedeutet, dass die Ratio nicht die Endbestimmung des Menschen ist. Die Menschheit muss ihre Füße fest auf jede logische Stufe setzen, um schließlich die Ratio zu übersteigen.

Große Wissenschaftler haben den logisch-faktischen Diskurs der Wissenschaft hinter sich gelassen und auf aufgeklärte Weise auf die Art von Diskurs zurückgegriffen, die von der Aufklärung zunächst als sekundär betrachtet worden war: einen poetischen oder mystischen Diskurs, einen Diskurs, der von echtem Respekt und aufrichtiger Ehrfurcht vor dem Unsagbaren zeugt, vor dem, was sich dem menschlichen Verstand immer wieder entzieht. Hier sehen wir etwas Interessantes: Die Strecke, die die Wissenschaft zurückgelegt hat, ist strukturell dieselbe wie die Strecke, die jedes Menschenkind (oder zumindest die meisten) während der Subjektwerdung zurücklegt. Wir wiederholen die entwicklungspsychologische Argumentationslinie, die wir in Kapitel 5 vorgestellt haben, noch einmal, um sie nun in einen breiteren Kontext zu stellen.

Jedes Kind beginnt das Leben in einer symbiotischen Resonanz mit dem Mutterwesen, die über die frühe (Körper-)Sprache hergestellt wird. Mit dem Spiegelstadium endet diese direkte Resonanz. Das Kind versucht von nun an hartnäckig, logisch zu bestimmen, welches Wort auf welches Objekt verweist. Das ultimative Objekt, das es auf diese Weise zu erfassen versucht, ist immer das Verlangen des Anderen. Was will der Andere? Die Getriebenheit, den Diskurs des Anderen zu verstehen, entspringt letztlich immer dem Drang, dieses Objekt des Verlangens für den Anderen zu werden. Diese Position eröffnet einerseits die Aussicht auf narzisstischen Genuss, andererseits stürzt sie in Abhängigkeit und Angst. Die beharrlichen Versuche, die Bedeutung der Wörter zu fixieren, nehmen diesen die Fähigkeit, Symbiose herbeizuführen; die Fixierung ihrer Bedeutung sorgt dafür, dass die Wörter ihre resonierende Kraft verlieren und die Laute nicht mehr die Verbindung herstellen können, die sie in den ersten Lebensmonaten bewirkt haben. So sehen wir einen Zusammenhang zwischen einer Reihe von Elementen: fanatischem Streben nach logisch-rationalem Verständnis, Narzissmus, Abhängigkeit, Angst, sozialer Isolation.

Mit etwa dreieinhalb Jahren findet eine zweite (nach dem Spiegelstadium) enorme Revolution in der subjektiven Erfahrung des Kindes statt. Es beginnt zu begreifen, dass Wörter keine endgültige Bedeutung bekommen können – es erkennt, dass die menschliche Sprache mit einem unbehebbaren Mangel behaftet ist und dass es nie definitive Sicherheit geben kann. Die narzisstische Illusion, das ultimative Objekt des Verlangens für den Anderen zu werden, gerät dadurch ins Wanken, und das Kind wird zunächst unvermeidlich mit der Urangst im narzisstischen Universum konfrontiert: zurückgelassen zu werden wie ein Wegwerfobjekt, das den Anforderungen des Anderen nicht genügt. Das Kind kann sich an diesem Punkt zwischen zwei möglichen Wegen entscheiden. Beim ersten Weg schreckt es vor der narzisstischen Angst zurück und versucht, die Unsicherheit aufzuheben, indem es sich noch hartnäckiger an Narzissmus und (Pseudo-)Rationalität klammert. So gleitet es unweigerlich in eine immer isoliertere Existenz hinein und schließlich auch in immer mehr Angst und Unbehagen.

Die andere Option ist, dass das Kind in der Unsicherheit die Möglichkeit erkennt, sein Leben kreativ zu gestalten und Individualität zu verwirklichen: Nicht mehr das Objekt des Anderen sein zu müssen eröffnet den Raum, man selbst sein zu dürfen und eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Das angestrebte Ziel ist nun weniger der Genuss, das Objekt des Anderen zu sein, als vielmehr geliebt zu werden in seiner Individualität als Mensch, in seiner eigenen, singulären Art und Weise, Entscheidungen zu treffen und sich als Mensch anderen Menschen gegenüber zu verhalten. Auf diesem Pfad wird man immer empfänglicher für nichtfaktischen und nichtlogischen Sprachgebrauch, einen Sprachgebrauch, der von Individualität und Kreativität zeugt. Genau in dieser Art von Sprachgebrauch findet das Kind die resonierende Funktion der Sprache und die Vereinigung mit dem Anderen teilweise wieder. Die Unbestimmtheit, die Tatsache, dass nicht jedes Wort auf eine Bedeutung festgelegt werden muss, ermöglicht es, dass mit dem Austausch von Lauten etwas von der logisch ungreifbaren Individualität der Gesprächspartner aufeinander übertragen wird. Das Sprechen verwandelt sich an diesem Punkt von einem Vehikel zur Vermittlung von Wissen in (subjektive) Wahrheit.

Das Kind vollzieht auf diesem Pfad in jeder Hinsicht den Übergang von der narzisstischen Position von his majesty the baby, von dem Kind, das es normal findet, dass der Andere jederzeit bereitsteht, zu der eines Menschen unter Menschen. In diesem Prozess emanzipiert es sich auch. Es ist nicht mehr auf die Eltern angewiesen, um in jeder neuen Situation zu wissen, was erlaubt ist und was nicht, was sich gehört und was nicht, und es bekommt ein Bewusstsein für die breiten Prinzipien, die die menschlichen Beziehungen regeln und die es selbst in gewissem Grade mit Inhalt füllen muss. Auch hier sehen wir einen Zusammenhang zwischen einer Reihe von Elementen: der Fähigkeit, Unsicherheit zu ertragen, der Empfänglichkeit für resonierende Sprache, der Menschlichkeit, Individualität, Souveränität, Verbindung mit dem Anderen.

Diese Revolution vollzieht sich bei jedem Kind in unterschiedlichem Maße, und sie ist nie definitiv. In gewissem Sinne besteht das ganze Leben in einem Versuch, im Verhältnis zu anderen Raum für sich selbst zu finden. Manche Menschen streben stark danach, andere weniger, aber niemand kann sich dieser existenziellen Aufgabe im Leben entziehen. Je vollständiger der Mensch diesen Prozess durchläuft, desto mehr Energie und kreative Kraft wird ihm zuteil. Welches Potenzial auf diesem Pfad letztlich realisiert werden kann, ist unklar, doch der enorme Einfluss des Psychischen auf den Körper, den wir im vorigen Kapitel besprochen haben, zeigt, dass die Möglichkeiten dazu außergewöhnlich sind. Das ist der Pfad, auf dem die Zukunft der Menschheit liegt, nicht auf dem mechanistisch-transhumanistischen Pfad.

Die Wissenschaft und die auf ihr basierende Aufklärungsgesellschaft stehen im Grunde am selben Scheideweg wie jedes Kind, wenn es mit der fundamentalen Unsicherheit seiner Existenz und seiner Position in den Beziehungen zum Anderen konfrontiert wird. Wir können als Gesellschaft vor der Angst zurückschrecken und die Unsicherheit leugnen, oder wir können unserer narzisstischen Angst trotzen und die Unsicherheit akzeptieren. Ersteres bedeutet, dass wir die Lösung in noch mehr (pseudo-) wissenschaftlicher Ideologie, Scheinrationalität, Scheinsicherheit und technologischer Kontrolle suchen; auf diese Weise geraten wir in noch mehr Angst, Depression und (soziale) Isolation. Und darauf reagieren wir, indem wir noch hartnäckiger das Unkontrollierbare zu kontrollieren versuchen, was noch mehr Zerrüttung zur Folge hat. In diesem

Buch haben wir gezeigt, dass der logische Endpunkt dieses Teufelskreises Massenbildung und Totalitarismus sind, das heißt: die radikale Destruktion jeder menschlichen Kreativität, Individualität und Diversität und jeder Form von sozialer Bindung (mit Ausnahme der Bindung zwischen Individuum und Staatskollektiv). Wir sehen, wie sich dieser Prozess in jeglicher Hinsicht auf seine Grenze zuentwickelt. Zum ersten Mal in der Geschichte ist das ganze Weltdorf vom selben Prozess der Massenbildung erfasst, und die VerTechnologisierung und Ver-Mechanisierung der Welt sind so weit fortgeschritten, dass die Kontrolle bis in den Kern der Intimität und der Privatsphäre reicht. Wir erleben damit den Endpunkt eines Zyklus, den Moment, an dem eine herrschende Ideologie bis zu ihrer äußersten Konsequenz getrieben wird, sich noch einmal mit aller Kraft aufbäumt und so auch endgültig ihre Ohnmacht zeigt.

Entscheidet sich die Gesellschaft für den anderen Pfad, so trotzt sie ihrer Angst und erkennt, dass Unsicherheit der Conditio humana inhärent und eine notwendige Bedingung ist für das Entstehen von Kreativität, Individualität und menschlicher Bindung. Auf diesem Pfad wird die Gesellschaft ein Raum, in dem Verbundenheit und individuelle Unterschiede sich gegenseitig verstärken – im Gegensatz zu totalitären Systemen, in denen das Individuum radikal dem Kollektiv geopfert wird und jede Diversität verschwindet und durch eine monotone Staatsidentität ersetzt wird. Die Große Wissenschaft ist uns auf diesem Pfad vorangegangen – sie folgte der Vernunft bis zu ihrer absoluten Grenze und eröffnete die Aussicht auf eine neue Form der Erkenntnis, eine neue Form der Verbindung mit dem Anderen und auf eine menschliche Existenz nach anderen Prinzipien.

Der Weg, der sie dahin führte, ist strukturell derselbe wie bei einem jungen Kind. Auch junge Wissenschaft geht von dem Glauben aus, dass das zu untersuchende Objekt vollständig logisch verstanden werden kann. Fakten sind logisch – was sollten sie sonst sein? Aber je weiter die logische Analyse des untersuchten Phänomens fortschreitet, desto klarer zeichnet sich ein Kern ab, der immanent unlogisch und für den menschlichen Verstand unerreichbar ist. Und genau wie bei einem Kind eröffnet sich in diesem Moment ein Bewusstsein für die Relativität jeder Logik sowie eine Empfänglichkeit für Sprachformen, die

nicht so sehr nach logischem Verständnis streben, sondern zu einem unmittelbareren Einfühlen, zu Resonanz mit dem Objekt führen (Poesie, Mystik usw.)

Wir haben dieses Buch mit der These begonnen, dass die Entstehung des mechanistischen Menschen- und Weltbilds eine Revolution auf dem Gebiet der Erkenntnis der Welt bedeutete. In einem religiösen Weltbild wurde Erkenntnis dem Menschen von Gott offenbart. Die Quelle allen Wissens lag also außerhalb des Menschen. In einem mechanistischen Weltbild änderte sich das: Der Mensch verortete die Quelle der Erkenntnis in sich selbst. Durch die Beobachtung von Fakten und logisches Nachdenken darüber könne er selbst zur Erkenntnis gelangen. Doch am Ende der Reise kommt auch die Wissenschaft wieder zu dem Schluss, dass das Wissen außerhalb des Menschen liege (siehe hierzu beispielsweise die oben erwähnten Zitate von Max Planck).

Das ultimative Wissen befindet sich außerhalb des Menschen. Es schlummert in den Dingen. Und der Mensch empfängt es, indem er wie eine Saite auf der Frequenz der Dinge mitschwingt. Und je mehr der Mensch Vorurteile und Überzeugungen beiseiteschieben kann, desto reiner kann er mit den ihn umgebenden Dingen mitschwingen und neues Wissen empfangen. Das ist eine mögliche Interpretation von René Thoms These,²⁸⁴ dass große Wissenschaftler weniger über ein enormes logisches Denkvermögen verfügen als vielmehr über eine außergewöhnliche Fähigkeit, sich in die Dinge, die sie erforschen, einzufühlen (siehe Kapitel 1).

Wissenschaft ist nur einer der Wege, die zu diesem Einfühlen führen. Das Erlernen eines Handwerks führt auch dazu. Man geht aus von einem logisch kohärenten Wissen über das Objekt, das hergestellt werden soll, und über das handwerkliche Verfahren, dies zu tun. Und während man lernt, diese Kenntnisse praktisch anzuwenden, entwickelt sich ein Gespür für das Werkzeug und die Materialien, das jede logische Erkenntnis übersteigt. Genau das macht das Wesen eines Handwerkers aus, dass er ein Gespür hat – Fachkenntnis, Können –, das man nur durch langes und diszipliniertes Üben erwerben kann. Und deshalb

reicht es nicht, nur theoretisches Wissen anzuhäufen, um ein Fachmann zu werden.

Auch das Erlernen einer Kunst kann als Beispiel dienen. Zuerst erlernt man ein logisch kohärentes Set von Regeln, und nach endlosem Üben entsteht eine Art Gespür, das alle Regeln übersteigt. Mehr noch: Die Regeln werden zu einem Ballast, den man über Bord werfen muss. In Japan gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass man die Regeln einer Kunst lange genug hüten müsse, um sie letztendlich zu brechen. Hatsumi Masaaki, 34. Großmeister der Togakure-RyuNinjutsu-Schule, sagte, dass die Techniken seiner Kampfkunst erlernt werden müssten, um sie schließlich wieder zu vergessen. Die Techniken wieder hinter sich zu lassen, nachdem deren Übung den Körper geschult und kultiviert hat, ist schwieriger, als sie zu erlernen. Doch es ist entscheidend. Wer auf dem Schlachtfeld an Technik denkt, stirbt. Vom selben Großmeister stammt auch die Aussage, dass langjähriges Praktizieren der Kampfkünste zu der Erkenntnis führe, dass Waffen einen eigenen Willen haben und man sie sich nie zum Sklaven machen dürfe. Jedes Schwert hat einen eigenen Charakter, will sich auf eine bestimmte Weise bewegen; nur wenn man spürt, wo es hinwill, wird es einem bringen, was man von ihm erwartet.

Die Fähigkeit, sich einzufühlen, spielt auch im Verhältnis zum eigenen Körper eine Rolle. Unser Körper ist uns im Grunde fremd. Er reagiert auf Reize aller Art – Ernährung, andere Menschen, verschiedenste Situationen – und tut dies autonom, ohne unser Wissen und unseren Willen. Wir können im Laufe unseres Lebens lernen, uns in ihn einzufühlen, zum Beispiel durch bestimmte Bewegungskünste oder Meditation, indem wir die Effekte unterschiedlichster Faktoren (Ernährung, Bewegung usw.) auf unseren Körper aufmerksam beobachten, eventuell in einer psychoanalytischen Kur unsere körperlichen Empfindungen über einen längeren Zeitraum immer wieder in Worte fassen. Wer auf seinen Körper hört und seine Sprache zu verstehen lernt, hat den Schlüssel zur Gesundheit in der Hand. Das Gespür für den eigenen Körper ist wichtiger als jede Medizin und auch wichtiger als »objektives« rationales Wissen über zum Beispiel gesunde Ernährung.

Auf dieselbe Weise muss der Mensch sich auch als psychisches Wesen kennenlernen, als Knotenpunkt subjektiver Erfahrungen, Gedanken, Gefühle, insbesondere wie sie in den Beziehungen mit anderen aufwallen. Die Fähigkeit, sich in die eigene Erfahrung einzufühlen, sie in Worte zu fassen und dem Anderen gegenüber auszusprechen, ist es, was den Kern unserer Existenz als Mensch ausmacht. Ganz im Sinne dessen, was wir in Kapitel 3 besprochen haben, existieren wir als Mensch in dem Moment, da wir durch ein volles Sprechen – ein Sprechen, in dem etwas von dem Menschen, der wir sind, schwingt und resoniert – einem anderen etwas von unserer Individualität vermitteln können. Durch die Kunst des guten Sprechens – eine Kunst, die beispielsweise in einer psychoanalytischen Kur erlernt wird – stellen wir einen echten Kontakt mit den anderen und der Welt um uns herum her (ohne uns selbst dabei zu verlieren).

Durch diese Kunst können wir uns als Mensch, und im weiteren Sinne als Kultur und Gesellschaft, auch anders zum Tod verhalten. In einem mechanistischen und biologisch-reduktionistischen Menschenbild können Leiden, Verfall und Tod nur sinnlos sein, sie können nicht als etwas gesehen werden, das uns als Mensch etwas zu sagen und zu lehren hätte. Das ist vielleicht das größte Problem an der Großen Mechanistischen Erzählung: Der ultimative Meister im Irdischen – der Tod – hat keine akzeptable Rolle darin bekommen. Und das passt ihm nicht. Verbannt aus der Geschichte, jagt er uns Angst und Schrecken ein und sorgt für krampfhafte Reaktionen auf jede Bedrohung – ob es sich nun um Terrorismus oder Viren handelt –, die letztlich schädlicher sind als das Problem selbst. Weniger durch den Glauben an eine neue Große Erzählung kann unsere Kultur dem Tod einen neuen Platz geben als vielmehr dadurch, dass sie die Kunst des guten Sprechens kultiviert und Kontakt mit dem Objekt herstellt. Die Verbundenheit mit dem Anderen und der Welt, das Resonieren mit dem größeren Ganzen, hebt die Begrenztheit des Egos auf. Buchstäblich: Je mehr man sich mit dem, was sich außerhalb seiner selbst befindet, verbinden kann, desto mehr übersteigt man seine Grenzen, und die eigene Erfahrungswelt erweitert sich zu einer Existenz, die sich in Zeit und Raum unendlich erstreckt. Die Resonanz mit dem Größeren bewirkt, dass man an der Zeitlosigkeit des Universums teilhat, dass man schwankt wie Ried in der ewigen Luft des Lebens.

Im Kern der Dinge steckt etwas, das sich nie definitiv mit den Kategorien der Logik fassen lässt und daher jedes Mal aufs Neue formuliert werden muss. Jeder Versuch, es zu formulieren, ist vorläufig; jede neue Begegnung bringt neue Wörter hervor, Wörter, die direkt aus dem Kontakt mit dem Objekt geboren werden. »Das Wahre ist immer neu« (»Le vrai est toujours neuf«),²⁸⁵ sagte Max Jacob. Die Begegnung mit dem Objekt produziert Wahrheit, ein sich immer wieder erneuerndes Sprechen, dessen Kernmerkmal es weniger ist, logisch korrekt zu sein, als vielmehr, dass es frisch und aufrichtig mit demjenigen resoniert, worum es geht. Poesie – aus logischer Sicht mitunter total unsinnig – kann einen viel höheren Wahrheitsgehalt haben als ein streng aus Syllogismen aufgebauter Diskurs.

»Wahrheit« ist ein unzeitgemäßes Konzept geworden – es klingt altmodisch. In Der Mut zur Wahrheit²⁸ macht der französische Philosoph Michel Foucault eine interessante Unterscheidung zwischen Rhetorik und Wahrheit. Jemand, der sich der Rhetorik bedient, versucht in einem Anderen Vorstellungen und Überzeugungen zu erwecken, die er selbst nicht teilt. Für jemanden, der wahr spricht, gilt das Gegenteil. Er versucht aufrichtig, eine Idee oder Erfahrung, die in ihm selbst lebt, durch sein Sprechen auf den Anderen zu übertragen, etwas, das er in sich selbst fühlt, in einem Anderen resonieren zu lassen.

Der öffentliche Raum wurde in den letzten Jahrhunderten, und insbesondere in den letzten Jahrzehnten, mehr und mehr mit Rhetorik gefüllt. Von Politikern waren wir das schon gewohnt. Niemand erwartete mehr, dass sie auch nur versuchten, ihre Wahlversprechen während ihrer Legislaturperiode zu erfüllen. Die Bevölkerung akzeptierte es auf die Dauer einfach: Der Wahldiskurs eines Politikers dient nur dazu, zu überzeugen. Und von Werbespots waren wir es im Grunde auch gewohnt. Nur ein Idiot glaubt, dass sie ein korrektes Bild des angepriesenen Produkts wiedergeben. Und in der Coronakrise lernten wir, dass es bei Menschen, die sich als Wissenschaftler profilieren, nicht wirklich anders ist. Was sie heute sagen, wird morgen garantiert widerrufen.

Die wirkliche Wende und Revolution, die sich in der Gesellschaft vollziehen

muss, ist die Wende von der Rhetorik zur Wahrheit als Leitprinzip. Foucault unterschied vier Formen des Wahrsprechens: die Prophezeiung, die Weisheit, die techne und die parrhesia (d. h. die freimütige Rede).²⁸⁷ Jede der vier hat mit dem Vermögen zu tun, mit einem Objekt zu resonieren, diese Resonanz in einem aufrichtigen Sprechen erklingen zu lassen und auf andere zu übertragen.

Prophezeiung ist eine vorhersagende Fähigkeit, die nicht logischem Verständnis entspringt, sondern – in Übereinstimmung mit der Vermutung des großen französischen Mathematikers und Wissenschaftsphilosophen Henri Poincaré – dem gefühlsmäßigen Erfassen der Erzählung, in deren Griff sich die Wirklichkeit befindet. Weisheit ist die Fähigkeit, die Stille zu bewahren und den Anderen so seine eigenen Worte hören zu lassen. Die techne ist die Fähigkeit, technisch korrekt zu sprechen, das heißt, einen logisch-faktischen Diskurs zu produzieren, der die Struktur des Objekts, auf das er verweist, adäquat erfasst. Und die parrhesia schließlich bezieht sich auf den Mut, jene Worte im öffentlichen Raum erklingen zu lassen, die den Scheindiskurs der Gesellschaft durchbrechen. Die neue Wertschätzung des Phänomens des Wahrsprechens wird der Gradmesser dafür sein, in welchem Ausmaß sich die Revolution vollzieht, die notwendig ist, um die Tendenz zum Totalitarismus, die der Aufklärungstradition innewohnt, zu überwinden.

Wir können uns am Ende fragen: Ist es nicht gefährlich, Rationalität als Ideal aufzugeben? Diese Frage veranlasst mich zu einer kleinen Denkübung, die nur wegen ihres ernsten Gegenstands nicht banal ist. Täglich sterben 35 000 Kinder an Hunger. Warum bringt das die Masse nicht in Aufruhr, ein Virus dagegen schon? Warum retten wir aus unserem rationalen Menschenbild heraus nicht diese jungen, verlangenden Leben statt der vom Coronavirus bedrohten, mit viel geringeren Kosten, ohne das Risiko des Verlusts bürgerlicher Freiheit und ohne die Gefahren, die mit experimentellen medizinischen Interventionen verbunden sind? Kein Mensch gerät in Panik wegen eines Kindes, das am anderen Ende der Welt krepiert. Das ist die unbequeme Wahrheit. Die Rationalität und der Humanismus der Aufklärung sind in vielerlei Hinsicht Masken und Feigenblätter. Nimm dem Menschen diese Masken ab, und du blickst in die Augen der Irrationalität; schau hinter das Feigenblatt der Ratio, und du findest die uralten menschlichen Untugenden.

Ein rationales Weltbild hindert uns nicht, dem Irrationalen freien Lauf zu lassen. Im Gegenteil, es hindert uns, die Irrationalität zu erkennen. Und insofern bekommt sie groteske Ausmaße. Ein Mensch dagegen, dem die Grenzen seines Verstandes bewusst sind, wird gewöhnlich weniger hochmütig und menschlicher, fähiger, das Andere anders sein zu lassen. Wenn sein Verstand aufhört zu schreien, hört er, dass die Dinge des Lebens ihre eigene Geschichte murmeln. Er begreift, dass er auch selbst das Recht auf eine eigene Geschichte hat. Das Wissen, dass keine einzige Logik absolut ist, ist die Bedingung für mentale Freiheit. Die Lücke in der Logik eröffnet buchstäblich einen Raum für einen eigenen Stil und für Schöpferdrang. »Erschaffend wurde ich gesund«²⁸⁸ – so beschrieb Heinrich Heine seine Medizin gegen die Krankheit, die das Leben ist. Ob das vielleicht auch bei einer Virusinfektion hilft?

Dieses Mittel bewirkt jedenfalls, dass wir das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Selbstbestimmungsrecht hochhalten können, ohne uns voneinander bedroht zu fühlen. Es trägt die Fähigkeit in sich, Angst, Unbehagen, Frustration und Aggression zu lindern, ohne dass wir dafür einen Feind benötigen. Das ist der Punkt, an dem wir uns nicht mehr in der Masse verlieren müssen, um Sinn und Verbundenheit zu erfahren, das ist der Punkt, an dem der Winter des Totalitarismus einem Frühling des Lebens weicht.

DANKSAGUNG

Wo Worte herkommen, können wir nicht mit Worten beschreiben. Aber wir wissen, wo Worte hingehen – sie sind immer auf dem Weg zu einem Anderen. Der Mensch ist ein schmaler Durchgang, den Worte auf ihrer Reise von der Quelle zum Anderen passieren.

Die Worte, die in diesem Buch einen Platz fanden, ruhten jahrelang in Kritzeln und Notizen. Es war die Coronakrise, die mich letztendlich dazu bewog, sie in die Welt zu schicken. Während der Krise erwuchs ein Anderer, nach dem diese Worte verlangten. Ich danke hiermit den Menschen, die offen waren für das, was ich in Meinungsbeiträgen, Podcasts und Interviews zu sagen hatte. Es waren ihre menschlichen Reaktionen – wie ich sie über soziale Medien, E-Mails oder Briefe empfing –, die die Worte in mir aufblühen ließen und mir Lust machten, weiter zu sprechen und zu schreiben.

Ich danke den vielen Menschen, die mir ein Forum boten, mich zu äußern. Ich denke insbesondere an Marlies Dekkers und Ad Verbrugge. Das Studio von De Nieuwe Wereld fühlt sich mittlerweile vertraut an – das gesellige Beisammensein bei einem Glas Wein nach den Aufnahmen ist wie nach Hause kommen. Die Umstände, unter denen dieses Buch geschrieben wurde, machten Sprechen und Schreiben zu einer delikaten Angelegenheit – einem Akt, der unter großem gesellschaftlichen Widerstand ausgeführt werden musste. Ich danke den Menschen, die die Erfahrung, gegen diesen Widerstand anzugehen, mit mir teilten und die auf diese Weise unerwartet in mein Leben kamen und Freunde wurden. Ihr seid zu viele, um euch hier aufzuzählen, aber ihr wisst alle, jeder Einzelne von euch, dass ich mit diesen Worten an euch denke. Ihr habt für immer einen speziellen Platz in meinem Herzen und meinen Gedanken.

Im August 2021 nahm ich tatsächlich den Stift zur Hand und begann, am Text

dieses Buchs zu schreiben. An einen von meiner Verlegerin Nancy Derboven streng vorgegebenen Schreibplan gebunden – danke dafür! –, sammelte ich die vielen Gedanken und Überlegungen zum Totalitarismus aus meinem wissenschaftlichen Tagebuch, aus Meinungsbeiträgen und Artikeln und ließ sie zum Text dieses Buchs verschmelzen. Ich danke den Menschen, die während des Schreibprozesses die vorläufigen Kapitel dieses Buchs gelesen und kommentiert haben: Debora Desmet, Liesje Breyne, Nathalie De Neef, Steven Wouters und Tineke De Cock. Ohne den Resonanzboden, der ihr wart, wäre der im Entstehen begriffene Text nie zur Reife gekommen. Debora, meine jüngere Schwester, ich danke dir dafür, dass du mich immer wieder dazu brachtest, die Zeitformen der Verben noch einmal zu überdenken, und mir Nietzsches zehn Stilgebote in Erinnerung riefst; Liesje, du fandest immer einfachere Ausdrucksweisen, wo die Worte zähe Knoten bildeten; Nathalie, deine amüsanten Kommentare und dein Ansporn zu Mäßigkeit und Milde hielten mich auf dem richtigen Kurs; Steven, danke für deine Hinweise auf entscheidende zusätzliche Quellen und für deine Korrekturen; Tineke, vielen Dank dafür, dass du dem Text zu einem höheren Niveau verholfen hast, indem du bis zuletzt jeden Satz und jeden Buchstaben kritisch hinterfragtest und gnadenlos logische Klarheit fordertest. Und schließlich: Valerie – ich danke dir für das Probelesen, aber vor allem dafür, dass du in den Monaten vor der Geburt dieses Buchs meine Zerstreutheit und kurzen Nächte ertrugst und immer wieder ein Ohr für endlose Grübeleien und Gedankenimprovisationen hattest.

Mattias Desmet, November 2021, Meigem

QUELLEN

EINLEITUNG

1Arendt, H. (1955) [1986]. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München: Piper, S. 742.

2Arendt, H. (1951) [2017]. The Origins of Totalitarianism. London: Penguin Books, S. 622 [Ü.: F.L.]

3Schwering, M. (2020). Himalaya voor her eerst in dertig jaar zichtbaar door schonere lucht. Knack, 08. 04. 2020. https://weekend.knack.be/lifestyle/reizen/himalaya-voor-het-eerst-in-dertig-jaarzichtbaar-door-schonere-lucht/

KAPITEL 1

4Foucault, M. (1983/84) [2010]. Der Mut zur Wahrheit – Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Aus dem Frz. v. Jürgen Schröder. Berlin: Suhrkamp Verlag.

5Jacob, M. (1917). Le Cornet à dés. Paris: Max Jacob.

6Heisenberg, W. (1927). Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik. Zeitschrift für Physik, 43, S. 172–198.

7Bohr, N. (1922). Mitgeteilt von Werner Heisenberg in: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München: Piper 1969, S. 63.

8Thom, R. (1991) [2010]. Interviews with Emile Noël. Translation from the French, of Prédire n’est pas expliquer. Conversations on Mathematics, Science, Catastrophe Theory, Semiophysics, and Natural Philosophy. Ins Engl. übers. v. Roy Lisker (IHES edition), S. 93. [U.: A. B.].

9Thom, a. a. O., S. 126. [U.: A. B.]

10Bik, E. M., Casadevall, A., Fang, F. C. (2016). The Prevalence of Inappropriate Image Duplication in Biomedical Research Publications. mBio, 7(3): e00809-16. https://doi.org/10.1128/mBio.00809-16

11Jarus, O. (2018). Famed Archaeologist ›Discovered‹ His Own Fakes at 9,000Year-Old Settlement. https://www.livesciences.com/61989-famed-archaeologistcreated-fakes.html

12Souza, I. M. d. A., Caitité, A. M. L. (2010). The amazing story of the fraudulent cloned embryos and what it tells us about science, technology, and the media. História Ciências Saúde-Manguinhos, 17(2), S. 471–493. https://doi.org/10.1590/S0104-59702010000200012

13Hixson, J. R. (1976). The Patchwork Mouse. Garden City, New York: Anchor Press.

14De Groote, I., Flink, L. G., Abbas, R., Bello, S. M., Burgia, L., Buck, L. T. et al. (2016). New genetic and morphological evidence suggests a single hoaxer created ›Piltdown man‹. Royal Society Open Science, 3(8): 160328. http://dx.doi.org/10.1098/rsos.160328

15Vogel, G. (2011). Psychologist Accused of Fraud on ›Astonish Scale‹. Science, 334(6056), S. 579. https://doi.org/10.1126/science.334.6056.579

16Fanelli, D. (2009). How Many Scientists Fabricate and Falsify Research? A Systematic Review and Meta-Analysis of Survey Data. PLoS ONE, 4(5): e5738. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0005738

17Allison, D. B., Brown, A. W., George, B. J., Kaiser, K. A. (2016). Reproducibility: A tragedy of errors. Nature, 530, S. 27–29. https://doi.org/10.1038/530027a

18Begley, C. G., Ellis, L. M. (2012). Raise standards for preclinical cancer research. Nature, 483(7391), S. 531–533. https://doi.org/10.1038/483531a

19Chang, A. C., Li, P. (2015). Is Economics Research Replicable? Sixty Published Papers from Thirteen Journals Say ›Usually Not‹. Finance and Economics Discussion Series 2015-083. Washington: Board of Governors of the Federal Reserve System, http://dx.doi.org/10.17016/FEDS.2015.083

20Begley, C. G., Ioannidis, J. P. A. (2015). Reproducibility in Science: Improving the Standard for Basic and Preclinical Research. Circulation Research, 116(1), 116-126. https://doi.org/10.1161/CIRCRESAHA.114.303819

21Ioannidis, J. P. A. (2005). Why Most Published Research Findings Are False. PLoS Med, 2(8): e124. https://doi.org/10.1371/journal.pmed.0020124

22Desmet, M. (2018). The Pursuit of Objectivity in Psychology. Gent: Borgerhoff & Lamberigts.

23Meyer, G. J., Finn, S. E., Eyde, L. D., Kay, G. G., Moreland, K. L., Dies, R. R. et al. (2001). Psychological testing and psychological assessment: A review of evidence and issues. American Psychologist, 56(2), S. 128–165. https://psycnet.apa.org/doi/10.1037/0003-066X.56.2.128

24Goethe, J. W. (1784/85) [¹³2002]. Studie nach Spinoza. In: Werke, Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 13: Naturwissenschaftliche Schriften I. München: Beck, S. 7.

KAPITEL 2

25Kidd, B. (1918). The Science of Power. New York/London: G. P. Putnam’s Sons, S. 18 f.

26Graeber, D. (2018). Bullshit-Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Aus d. Engl. v. Sebastian Vogel. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 13.

27Graeber, a. a. O., S. 22 f.

28Graeber, a. a. O., S. 29 f.

29Graeber, a. a. O., S. 15.

30Giusti, R. M., Iwamoto, K., Hatch, E. E. (1995). Diethylstilbestrol Revisited: A Review of the Long-Term Health Effects. Annals of Internal Medicine 122(10), S. 778–788. https://doi.org/10.7326/0003-4819-122-10-19950 515000008

31Shapiro, A. K., Shapiro E. (1997). The Powerful Placebo: From Ancient Priest to Modern Physician. Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press.

32Wampold, B. E. et al. (2005). The Placebo Is Powerful: Estimating Placebo Effects in Medicine and Psychotherapy from Randomized Clinical Trials. Journal of Clinical Psychology, 61(7), S. 835–854. https://doi:10.1002/jclp.20129

33Gaia (2020). Nieuwe cijfers: wereldwijd 79,9 miljoen dierproeven. Gaia, 24. 04. 2020. https://www.gaia.be/nl/nieuws/wereldproefdierendag-nieuwe-cijferswereldwijd-799-miljoen-dierproeven

KAPITEL 3

34Gleick, J. (1987) [1988]. Chaos – die Ordnung des Universums. Vorstoß in Grenzbereiche der modernen Physik. Aus dem Amerik. v. Peter Prange. München: Droemer Knaur. S. 406.

35Gleick, a. a. O., S. 63 ff.

36Gleick, a. a. O., S. 67.

37Desmet, M. (2020). Waarom digitale gesprekken zo uitputtend zijn. Knack, 05. 06. 2020. https://www.knack.be/nieuws/wetenschap/waarom-digitalegesprekken-zo-uitputtend-zijn/

38Hautekeet, A. (2020). Online leven is schadelijker dan coronavirus. De Standaard, 26. 05. 2020. https://www.standaard.be/cnt/dmf20200525_049 71253

39De Kock, C. (2020). Om echt te kletsen moet je kunnen klinken. De Standaard, 27. 05. 2020. https://www.standaard.be/cnt/dmf20200527_04972524

40Cabenda, P. (2020). Met slimme seksspeeltjes kun je - heel veilig - van elkaar genieten. De Volkskrant, 25. 05. 2020 https://www.volkskrant.nl/cultuurmedia/met-slimme-seksspeeltjes-kun-je-heel-veilig-van-elkaargenieten~ba3ad200/

41JCA (2020). Maleisiër via Zoom ter dood veroordeeld. De Standaard, 20.

05.2020. https://www.standaard.be/cnt/dmf20200520_04966951

42Kelepouris, S. (2020). »De slinger van het thuiswerken is doorgeslagen«: experte ergonomie Veerle Heermans. De Morgen, 21. 05. 2020. https://www.demorgen.be/nieuws/de-slinger-van-het-thuiswerken-is-doorgeslagen-experte-ergonomie-veerle-hermans~bc2fcac7/

43Kuhl, P. (2007). Is speech learning ›gated‹ by the social brain? Developmental Science, 10(1), S. 110–120. https://doi.org/10.1111/j.1467-7687.2007. 00572.x

44Murphy Paul, A. (2010). Origins: How the Nine Months Before Birth Shape the Rest of Our Lives. New York/London/Toronto/Sydney: Free Press.

45Di Pellegrino, G., Fadiga, L., Fogassi, L., Gallese, V., Rizzolatti, G. (1992). Understanding motor events: a neurophysiological study. Experimental Brain Research, 91(1), S. 176-180. https://doi.org/10.1007/BF00230027

46Petriglieri, G. (2020). https://twitter.com/gpetriglieri/status/1246221849018720256

47Desmet, M. (2013). Some preliminary notes on an empirical test of Freud’s theory on depression. Frontiers in Psychology, 4: 158, S. 1–7. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2013.00158

48Vanslembrouck, M. (2020). Nooit meer die tijd van de maand: volgens deze artsen is menstrueren ›compleet nutteloos‹. De Morgen, 19. 07. 2020.

https://www.demorgen.be/tech-wetenschap/nooit-meer-die-tijd-van-de-maandvolgens-deze-artsen-is-menstrueren-compleet-nutteloos~bc76aebc/

49Partridge, E. A. et al. (2017). An extra-uterine system to physiologically support the extreme premature lamb. Nature Communications, 8: 15112. https://doi.org/10.1038/ncomms15112

50Tech Insider (2017). Concept Incubator Would Grow Your Babies At Home. https://www.youtube.com/watch?v=cgmdF9l7K9o

51Tech Insider, a. a. O.

52PVZ (2020). Volgens Elon Musk hebben we binnen 5 jaar geen menselijke taal meer nodig. De Morgen, 09. 05. 2020. https://www.demorgen.be/techwetenschap/volgens-elon-musk-hebben-we-binnen-5-jaar-geen-menselijke-taalmeer-nodig~b35bc439/

53De Jong, S. (2010). Geo-engineering als laatste redmiddel. Nemo Kennislink, 08. 01. 2010. https://www.nemokennislink.nl/publicaties/geo-engineering-alslaatste-redmiddel/

54Van Hal, G. (2020). Wetenschappers binden strijd aan met anti-aanbaklaag en waterafstotende regenjas. De Morgen, 01. 07. 2020. https://www.demorgen.be/tech-wetenschap/wetenschappers-binden-strijd-aanmet-anti-aanbaklaag-en-waterafstotende-regenjas~b79d1f20/

55Schepens, W., Neirynck, T. (2021). Supermarkten halen opnieuw tientallen producten uit winkelrekken door ethyleenoxide, wat is er aan de hand? VRT NWS, 22. 09. 2021. https://www.vrt.be/vrtnws/nl/2021/08/06/ethyleenoxideterugroepingsactie/

56Martin, M. (2019). Waarschuwing voor directe link tussen chemicaliën en de ›wildgroei‹ aan beschavingsziekten: zo zit het. De Morgen, 07. 08. 2019. https://www.demorgen.be/nieuws/waarschuwing-voor-directe-link-tussenchemicalien-en-de-wildgroei-aan-beschavings-ziekten-zo-zit-het~bd2839f3/

57Weber, M. (1919). Wissenschaft als Beruf. In: Geistige Arbeit als Beruf. Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. München/Leipzig: Duncker & Humblot. https://de.wikisource.org/wiki/Wissenschaft_als_Beruf

58Arendt, H. (1951) [2017]. The Origins of Totalitarianism. London: Penguin Books, S. 584 f.

59Arendt, H. (1955) [1986]. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München: Piper, S. 811.

60Platon. Politeia (Der Staat). 458b–461e.

61Voegelin, E. (1948). The Origins of Scientism. Social Research: An International Quarterly, 15(4), S. 462-494 (zitiert in Arendt, 1955, S. 736).

KAPITEL 4

62Mandelbrot, B. (1967). How Long Is the Coast of Britain? Statistical SelfSimilarity and Fractional Dimension. Science, 156(3775), S. 636–638. https://www.science.org/doi/10.1126/science.156.3775.636

63Simpson, E. H. (1951). The Interpretation of Interaction in Contingency Tables. Journal of the Royal Statistical Society, Series B, 13(2), S. 238–241. http://math.bme.hu/~marib/bsmeur/simpson.pdf

64Peeters, C. et al. (2020). Drie wetenschappers: de coronatest is onbetrouwbaar en het testbeleid faalt. HP/De Tijd, 27. 09. 2020. https://www.hpdetijd.nl/202009-27/drie-wetenschappers-de-coronatest-is-onbetrouwbaar-en-het-testbeleidfaalt/

65Gochel, L. (2020). Le Liégeois qui a fait plier les experts. Sudinfo La Meuse, 12. 08. 2020. https://www.sudinfo.be/art/619193/article/2020-08-12/le-liegeoisqui-fait-plier-les-experts

66Scottish Government (2020). Counting people in hospitals with COVID-19, 15. 09. 2020. https://blogs.gov.scot/statistics/2020/09/15/counting-people-inhospital-with-covid-19/

67Bossaert, J. (2021). Sjoemelen ziekenhuizen met coronacijfers? Documenten wijzen op ›financiële optimalisatie‹. HLN, 14. 05. 2021. https://www.hln.be/binnenland/hln-onderzoek-sjoemelen-ziekenhuizen-metcoronacijfers-documenten-wijzen-op-financiele-optimalisatie~ef036 27/

68Gøtzsche, P. C. (2013) [2014]. Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Aus dem Engl. v. Martin Rometsch. München: Riva.

69Centers for Disease Control and Prevention (2020). Weekly Updates by Select Demographic and Geographic Characteristics: Provisional Death Counts for Coronavirus Disease 2019 (COVID-19), National Center for Health Statistics, 26. 08. 2020. https://stacks.cdc.gov/view/cdc/92550

70Redactie (2021). Studie: ›90% coronadoden valt in landen met veel obesitas‹. De Morgen, 06. 03. 2021. https://www.demorgen.be/nieuws/studie-90coronadoden-valt-in-landen-met-veel-obesitas~ba1823fc

71Lin, L. et al. (2021). CT Manifestations of Coronavirus Disease (COVID-19) Pneumonia and Influenza Virus Pneumonia: A Comparative Study. American Journal of Roentgenology, 216(1), S. 71–79. https://www.ajronline.org/doi/epdf/10.2214/AJR.20.23304

72Ooms, E. (2021). Wetenschap in haar blote kont: de illusie van de zekerheid der cijfers. De speurtocht naar Sciensano’s 108.000 verwachte doden. https://elsooms.wordpress.com/2021/03/03/wetenschap-in-haar-blote-kont-deillusie-van-de-zekerheid-der-cijfers-de-speurtocht-naar-sciensanos-108-000verwachte-doden/

73Bonneux, L. (2020). De slechtst georganiseerde ouderenzorg van de EU. De Standaard, 12. 06. 2020. https://www.standaard.be/cnt/dmf20200611_ 04988858

74Schneider, C. (2020). Zu hohe Sterblichkeit durch Intubation. Lungenarzt: »Frühe künstliche Beatmung ist größter Fehler im Kampf gegen Corona«. Focus,

23. 12. 2020. https://www.focus.de/gesundheit/news/bis-zu-50-prozent-sterbendaran-lungenarzt-fruehe-kuenstliche-beatmung-ist-groesster-fehler-im-kampfgegen-corona_id_12787476.html

75Desmet, M. (2020). De angst voor het coronavirus is gevaarlijker dan het virus zelf. VRT NWS, 25. 03. 2020. https://www.vrt.be/vrtnws/nl/2020/03/25/angst-voor-het-virus/

76Subramanian, S. V., Kumar, A. (2021). Increases in COVID-19 are unrelated to levels of vaccination across 68 countries and 2947 counties in the United States. European Journal of Epidemiology, 36, S. 1237–1240. https://doi.org/10.1007/s10654-021-00808-7

77Brock, A. R., Thornley, S. (2021). Spontaneous Abortions and Policies on Covid-19 mRNA Vaccine Use During Pregnancy. Science, Public Health Policy, and the Law, 4 (2021), S. 130–143. https://www.publichealthpolicyjournal.com/_files/ugd/adf864_ed413dccc2b5463dae23025690

78Kampf, G., Kulldorf, M. (2021). Calling for benefit-risk evaluations of COVID-19 control measures. The Lancet, 397: 10274, S. 576–577. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(21)00193-8

79Redactie Knack (2020). Oxfam: ›Honger kan eind 2020 dodelijker worden dan coronavirus zelf‹. Knack, 09. 07. 2020. https://www.knack.be/nieuws/wereld/oxfam-honger-kan-eind-2020-dodelijkerworden-dan-coronavirus-zelf/

80World Health Organization (2020). Impact of COVID-19 on people’s

livelihoods, their health and our food systems. 13. 10. 2020. https://www.who.int/news/item/13-10-2020-impact-of-covid-19-on-people%27slivelihoods-their-health-and-our-food-systems

81World Food Programme (2020). Global Report on Food Crises 2020. 20.04.2020. https://www.wfp.org/publications/2020-global-report-food-crises

82House of Commons (2020). Science and Technology Committee. Oral evidence: UK science, research and technology capability and influence in global disease outbreaks, HC 136, 16. 04. 2020. https://committees.parliament.uk/oralevidence/289/pdf/

83Miltimore, J. (2020). How Finland and Norway Proved Sweden’s Approach to COVID-19 Works. FEE Stories, 13. 11. 2020. https://fee.org/articles/howfinland-and-norway-proved-sweden-s-approach-to-covid-19-works/

84Arendt, H. (1955) [1986]. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München: Piper 1986, S. 742.

85Arendt, H. (1951) [2017]. The Origins of Totalitarianism. London: Penguin Books, S. 622.

86Arendt (1955), S. 968 ff.

KAPITEL 5

87Geusens, S., Vancaeneghem, J. (2020). Bromfiets gevaarlijkst voor schoolverkeer: »Puber op brommer naar school in de spits is vragen om problemen«. De Standaard, 12. 02. 2020. https://www.standaard.be/cnt/dmf20200212_04845714

88MTM (2019). Een verfrissende duik in de rivier of vijver de komende dagen? Geen goed idee: »Te gevaarlijk, doe het niet«. Het Nieuwsblad, 23. 06. 2019. https://www.nieuwsblad.be/cnt/dmf20190623_04475442

89BELGA (2014). Orale seks veroorzaakt meer keelkanker bij Belgen. VRT NWS, 08. 05. 2014. https://www.vrt.be/vrtnws/nl/2014/05/08/orale_seks_veroorzaaktmeerkeelkankerbijbelgen1-1961069/

90Temmerman, M. (2020). Is elkaar de hand schudden voorgoed verleden tijd? »Ik hoop het een beetje«, zegt viroloog Marc Van Ranst. VRT NWS, 16. 06. 2020. https://www.vrt.be/vrtnws/nl/2020/06/16/elkaar-de- hand-schuddenvoorgoed-verleden-tijd/

91EVDG (2020). Zelfs naast een roker zitten die níet rookt, kan schadelijk zijn voor de gezondheid. De Standaard, 07. 03. 2020. https://www.standaard.be/cnt/dmf20200306_04879315

92Thoreau, H. D. (1854) [1999]. Walden. Ein Leben mit der Natur. Aus d. Engl. v. Erika Ziha. Ergänzt u. überarbeitet v. Sophie Zeitz. München: dtv, S. 84.

93Wellens, A. (2018). Onweersschade? Verzekeringsmaatschappij legt uit wat je moet doen. HLN, 08./09. 08. 2018. https://www.hln.be/binnenland/onweersschade-verzekeringsmaatschappij-legtuit-wat-je-moet-doen~a61148aa/

94Van der Kolk, D. (2015). Sterren verzekeren hun benen, kont en… sperma. Metro, 10. 03. 2015. https://www.metronieuws.nl/entertainment/2015/03/sterrenverzekeren-hun-benen-kont-en-sperma/

95Haegens, D. (2014). 10 gekste verzekeringen! YouTube, 14. 09. 2014. https://www.youtube.com/watch?v=KNpc6jHjXQA

96Snoekx, K. (2019). Proffen stellen screening borstkanker in vraag: ›Niet minder kans om kankerpatiënt te worden, integendeel‹. De Standaard, 16. 03. 2019. https://www.standaard.be/cnt/dmf20190316_04261562

97Schippers, M. C. (2020). For the Greater Good? The Devastating Ripple Effects of the Covid-19 Crisis. Frontiers in Psychology, 11:577740. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2020.577740

98Foucault, M. (1961) [1969]. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus d. Frz. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

99Dupont, M. (2020). Universiteit Gent leert studenten »legaal flirten«: »Ik heb nog geen klacht gehad, dus ik flirt wel goed«. VRT NWS, 23. 01. 2020. https://www.vrt.be/vrtnws/nl/2020/01/23/universiteit-gent-leert- studentenlegaal-flirten-ik-heb-nog/

100Martin, M. (2021). Studentendopen liggen meer dan ooit onder vuur: ›Meisjes kregen een banaan om te tonen wat ze ermee konden. Vreselijk‹. De Morgen, 15. 09. 2021. https://www.demorgen.be/nieuws/studenten dopenliggen-meer-dan-ooit-onder-vuur-meisjes-kregen-een-banaan-om-te-tonen-watze-ermee-konden-vreselijk~b1e908633/?referrer= https% 3A%2F%2Fwww.google.com%2F

101Fransen, A. G. (2018). Pas als het sekscontract getekend is, mogen de Zweden vrijen. De Morgen, 30. 06. 2018. https://www.demorgen.be/nieuws/pasals-het-sekscontract-getekend-is-mogen-de-zweden-vrijen~b5b55 230/

102Van Tyghem, P. (2018). Zijn blote borsten gevaarlijker dan de Holocaust ontkennen? De Standaard, 23. 07. 2018. https://www.standaard.be/cnt/dmf20180722_03627256

103MVO (2018). Netflix legt vreemde regels op tegen misbruik: »Iemand niet langer dan 5 seconden aankijken«. HLN, 14. 06. 2018. https://www.hln.be/showbizz/netflix-legt-vreemde-regels-op-tegen-misbruikiemand-niet-langer-dan-5-seconden-aankijken~af8736b6/? referrer=https%3A%2F% 2Fwww.google.com%2F

104Boudry, M. (2019). Ook links omarmt ontkenners. De Standaard, 11. 05. 2019. https://www.standaard.be/cnt/dmf20190510_04390639

105Winckelmans, W. (2020). Nieuwe coronaregels eindelijk bekend: openingsdans kan, polonaise liever niet. De Standaard, 30. 06. 2020. https://www.standaard.be/cnt/dmf20200630_94008414

106Cools, S. (2020). Online zingt het vogeltje ranziger dan ooit tevoren. De Standaard, 17. 06. 2020. https://www.standaard.be/cnt/dmf20200616_049 92948

107Madani, D. (2020). J.K. Rowling accused of transphobia after mocking ›people who menstruate‹ headline. NBC News, 07. 06. 2020. https://www.nbcnews.com/feature/nbc-out/j-k-rowling-accused-transphobiaafter-mocking-people-who-menstruate-n1227071

108TTR (2020). Duitse verzekeraars willen alcoholslot in alle nieuwe auto’s in Europese Unie. HLN, 26. 01. 2020. https://www.hln.be/buitenland/duitseverzekeraars-willen-alcoholslot-in-alle-nieuwe-auto-s-in-europeseunie~a12f69c7/?referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com %2F

109Persson, M. (2020). Opiniechef New York Times sneuvelt na rechts opruiend stuk. De Morgen, 11. 06. 2020. https://www.demorgen.be/politiek/opiniechefnew-york-times-sneuvelt-na-rechts-opruiend-stuk~b1ea2933/

110TIB (2013). ›Fawlty Towers‹ te racistisch voor BBC. Het Nieuwsblad, 26. 01. 2013. https://www.nieuwsblad.be/cnt/dmf20130126_022

111BELGA (2020). San Francisco verwijdert standbeeld Columbus. De Morgen, 19. 06. 2020. https://www.demorgen.be/nieuws/san-francisco-verwijdertstandbeeld-columbus~b72c5c3e/

112GHO (2021). Man besmet met coronavirus slaat op de vlucht: Australië opent jacht op ›volksvijand nummer één‹. HLN, 24. 08. 2021.

https://www.hln.be/buitenland/man-besmet-met-coronavirus-slaat-op-de-vluchtaustralie-opent-jacht-op-volksvijand-nummer-een~ad-5c8afa/

113Freud, S. (1912/13) [³1961]. Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. In: Gesammelte Werke IX: Totem und Tabu. Frankfurt a. M.: S. Fischer, S. 20.

114Frazer, J. G. (1910). Totemism and exogamie: a treatise on certain early forms of superstition and society. London: Macmillan and Co. https://archive.org/details/ totemismexogamyt01fraz

115Graeber, D. (2018). Bullshit-Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Aus d. Engl. v. Sebastian Vogel. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 221 ff.

116Graeber, a. a. O., S. 241.

117Graeber, a. a. O., S. 59 f.

118Fromm, E. (1941) [1990]. Die Furcht vor der Freiheit. Aus dem Amerik. v. Liselotte u. Ernst Mickel. München: dtv.

119Anthony, J. (2021). Australian government plans Chinese-style ›social credit‹ system for social media users. The Post Millennial, 02. 09. 2021. https://thepostmillennial.com/watch-australian-government-plans-chinese-stylesocial-credit-system-for-social-media-users

120Verstichel, M. (2021). Sint-Niklaas heeft vanaf 2022 een eigen digitale stadsmunt: »125 handelaars doen al mee«. VRT NWS, 15. 06. 2021. https://www.vrt.be/vrtnws/nl/2021/06/15/betalen-mensen-hun-brood-in-2022met-een-digitale-stadsmunt-in-s/

121Andersen, R. (2019). Opgepakt door het algoritme: hoe China met orwelliaanse technologie massaal burgers vastzet. De Morgen, 26. 11. 2019. https://www.demorgen.be/politiek/opgepakt-door-het-algoritme-hoe-china-metorwelliaanse-technologie-massaal-burgers-vastzet~b1b6aa682/

122Santens, T., Paelinck, G. (2018). Peeters en De Block: «Dit is alarmerend. Label voor rundvlees moet onderzocht worden«. VRT NWS, 16. 11. 2018. https://www.vrt.be/vrtnws/nl/2018/11/16/peeters-over-onbetrouwbaarkwaliteitslabel-rundsvlees-zeer-ala/

123Saporta, I. (2015). Vino Business: The Cloudy World of French Wine. New York: Grove Press.

124MV, VHN, LOB (2020). Rubicon, de geheime ›inlichtingencoup van de eeuw‹. De Standaard, 12. 02. 2020. https://www. standaard.be/cnt/dmf20200211_04844292

125Galle, C. (2019). Patiënten klagen over privacy e-dossiers: ›Data worden gedeeld zonder toestemming‹. De Morgen, 24. 12. 2019. https://www.demorgen.be/nieuws/patienten-klagen-over-privacy-e-dossiers-dataworden-gedeeld-zonder-toestemming~b0eba24c/

126Galle (2019), a. a. O.

127Galle, C. (2020). Verzekeringsartsen kunnen meekijken in uw medisch dossier. De Morgen 23. 01. 2020. https://www.demorgen.be/nieuws/verzekeringsartsen-kunnen-meekijken-in-uwmedisch-dossier~bbcbb6c3/

KAPITEL 6

128Kant, I. (1784). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift, Dezember-Heft 1784, S. 481–494.

129Arendt, H. (1955) [1986]. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München: Piper, S. 658.

130Comité P. (2019). Jaarverslag 2019. Vast Comité van Toezicht op de politiediensten. https://comitep.be/document/jaarverslagen/2019NL_act.pdf

131Verbergt, M. (2021). Camera’s in joodse wijk controleren nu synagogegangers. De Standaard, 13. 03. 2021. https://www. standaard.be/cnt/dmf20210312_98151173

132Clerix, K. (2021). Op den duur zijn we niet meer veraf van Chinese toestanden. Knack, 03. 02. 2021. https://www.knack.be/nieuws/privacy-incoronatijden-op-den-duur-zijn-we-niet-meer-veraf-van-chinese-toestanden/

133Pater, M. (2020). Je buren verklikken als ze zich niet aan de anderhalve meter houden, het kan. NPO Radio 1, 10. 04. 2020. https://www.nporadio1.nl/binnenland/22996-je-buren-verklikken- als-ze-zichniet-aan-de-anderhalve-meter-houden-het-kan

134Collectief van academici (2021). Zonder tegenspraak kan van wetenschappelijke vooruitgang geen sprake zijn. Knack, 09. 04. 2021. https://www.knack.be/nieuws/zonder-tegenspraak-kan-van-wetenschappelijkevooruitgang-geen-sprake-zijn/

135International Institute for Democracy and Electoral Assistance (2020). Nobelprijswinnaars en wereldleiders: ›Coronacrisis bedreigt democratie‹. Knack, 25. 06. 2020. https://www.knack.be/nieuws/wereld/nobelprijswinnaars-enwereldleiders-coronacrisis-bedreigt-democratie/

136Arendt (1955), S. 703.

137Le Bon, G. (1895) [2017]. Psychologie der Massen. OK Publishing, S. 26.

138Le Bon, a. a. O., S. 36.

139Le Bon, a. a. O., S. 155 ff.

140Le Bon, a. a. O., S. 15 f.

141Le Bon, a. a. O., S. 17.

142Murthy, V. (2017). Work and the Loneliness Epidemic. Harvard Business Review, 26. 09. 2017. https://hbr.org/2017/09/work-and-the-loneliness-epidemic

143DesHarnais Bruce, L. et al. (2019). Loneliness in the United States: A 2018 National Panel Survey of Demographic, Structural, Cognitive, and Behavioral Characteristics. American Journal of Health Promotion, 33(8), S. 1123–1133. https://doi.org/10.1177/0890117119856551

144DesHarnais Bruce, a. a. O.

145Arendt (1955), S. 682.

146Graeber, D. (2018). Bullshit-Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Aus d. Engl. v. Sebastian Vogel. Stuttgart: Klett-Cotta.

147Crabtree, S. (2013). Worldwide, 13% of Employees Are Engaged at Work. Gallup World Poll, 08. 10. 2013. https://news.gallup.com/poll/165269/worldwide-employees-engaged-work.aspx

148DesHarnais Bruce, a. a. O.

149Le Bon, a. a. O., S. 39–46.

150VRT (2020). De Afspraak, 22. 03. 2020.

151Willems, F. (2020). Virologe Vlieghe: »Mondmasker verplichten creeert bewustzijn dat virus er nog is«, De Block: «Discussie niet gesloten«. VRT NWS, 28. 06. 2020. https://www.vrt.be/vrtnws/nl/2020/06/28/erika-vlieghe-overmondmaskers-creeren-awareness-dat-virus-nog/

152KVE (2020). De Wever (N-VA) haalt uit naar premier en minister Vandenbroucke: »Als je middenstanders te gronde wil richten, dan moet je het zo aanpakken«. HLN, 29. 11. 2020. https://www.hln.be/binnenland/de-wever-nva-haalt-uit-naar-premier-en-minister-vandenbroucke-als-je-middenstanders-tegronde-wil-richten-dan-moet-je-het-zo-aanpakken~a808260d

153Asch, S. E. (1951). Effects of group pressure upon the modification and distortion of judgments. In: H. Guetzkow (Hg.), Groups, leadership and men; research in human relations. Pittsburgh, PA: Carnegie Press, S. 177–190.

154Arendt (1955), S. 260–263.

155Le Bon, a. a. O., S. 33.

156Arendt (1955), S. 696 ff.

157Torck, L. (2021). Marc Van Ranst na tragisch weekend: «Onfortuinlijk, maar nul compassie voor feestende jongeren. Het Nieuwsblad, 12. 04. 2021. https://www.nieuwsblad.be/cnt/dmf20210412_92686979

158Le Bon, a. a. O., S. 56 f.

159Arendt (1955), S. 739 f.

160Le Bon, a. a. O., S. 41.

161Félix, J. (1860). Courants et révolutions de l’athmosphère et de la mer. Paris: Lacroix et Baudry, zitiert in: Le Bon (1895), S. 42.

162Arendt (1955), S. 892 f.

163Aubry, P. (1888). La contagion du meurtre: étude d’anthropologie criminelle. Paris: Alcan.

164Taine, H. (1893). Les origines de la France contemporaine: La Revolution (tome IIV). Paris: Hachette.

165Le Bon, a. a. O., S. 52 f.

KAPITEL 7

166Le Bon, G. (1895) [2017]. Psychologie der Massen. OK Publishing, S. 110.

167Arendt, H. (1963) [1990]. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Aus dem Amerik. v. Brigitte Granzow. Leipzig: Reclam, S. 204.

168Arendt (1963).

169Arendt, H. (1955) [1986]. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München: Piper, S. 978.

170Arendt (1963), 228 f.

171Le Bon, a. a. O., S. 55–58.

172Arendt (1963), S. 217 f.

173Arendt (1963), S. 220.

174Arendt (1963), S. 82.

175Solschenizyn, A. (1973) [2008]. Archipel Gulag. Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band. Aus dem Russ. v. Anna Peturnig und Ernst Walter. Frankfurt a. M.: S. Fischer.

176Arend (1963), S. 291 f.

177Solschenizyn, a. a. O., S. 15–37.

178Arendt (1955), S. 734.

179Arendt (1955), S. 909 f.

180Arendt (1955), S. 802.

181D’Alquen, G. (1939). Die SS. Geschichte, Aufgabe und Organisation der Schutzstaffeln der NSDAP. Berlin: Junker und Dünnhaupt.

182Arendt (1955), S. 660 f.

183Orwell, G. (1945) [1982]. Farm der Tiere. Ein Märchen. Aus d. Engl. v. Michael Walter. Zürich: Diogenes.

184Arendt (1955), S. 660 f.

185Solschenizyn, a. a. O., S. 99 f.

186Arendt (1955), S. 940.

187Le Bon, a. a. O., S. 110–114.

188Bettelheim, B. (1946). On Dachau and Buchenwald. In: Nazi Conspiracy and Aggression, vol. VII. US Government Printing Office, District of Columbia, S. 818–839. https://tile.loc.gov/storageservices/service/ll/llmlp/2011525363_NT_Nazi_VolVII/2011525363_NT_Nazi_Vol-VII.pdf

189Dallin, D. J. (1964). From Purge to Coexistence: Essays on Stalin’s & Khrushchev’s Russia. Chicago: Henry Regnery Company.

190Kogon, E. (1946). Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München: Karl Alber.

191Arendt (1955), S. 905, 908, 936, 940 f.

192Arendt (1955), S. 516–519.

193Arendt (1955), S. 825 ff.

194Solschenizyn, a. a. O., S. 90 ff.

195Arendt (1955), S. 970.

196Arendt (1955), S. 965 f.

197Arendt (1955), S. 927.

198Arendt (1963), S. 349.

199Arendt (1955), S. 931 f.

200Orwell, a. a. O.

201World Food Programme (2020). Global Report on Food Crises 2020. 20. 04. 2020. https://www.wfp.org/publications/2020-global-report-food-crises

202Arendt (1955) [2017], S. 978.

203Arendt, H. (1951). The Origins of Totalitarianism. London: Penguin Books, S. 402. [Ü.: A. B.].

204Solschenizyn, a. a. O., Kap. 2.

205Arendt (1955), S. 897 f.

206Solschenizyn, a. a. O., S. 15–37.

207Solschenizyn, a. a. O., S. 584–587.

208Arendt (1955), S. 726–813.

209Solschenizyn, a. a. O., S. 187–191.

210Solschenizyn, a. a. O., S. 24.

211Solschenizyn, a. a. O., S. 296 f. u. S. 305–308.

212Solschenizyn, a. a. O., S. 572.

213Solschenizyn, a. a. O., S. 579.

214Le Bon, a. a. O., S. 19.

KAPITEL 8

215Solschenizyn, A. (1973) [2008]. Archipel Gulag. Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band. Aus dem Russ. v. Anna Peturnig und Ernst Walter. Frankfurt a. M.: S. Fischer S. 115.

216Rollin, H. (1939). L’apocalypse de notre temps. Les dessous de la propagande allemande d’après des documents inédits. Paris: Gallimard, S. 40.

217Joly, M. (1864) [1948]. Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu. Aus d. Frz. v. Hans Leisegang. Hamburg: Richard Meiner.

218Chevalier de Malet (1817). Recherches politiques et historiques qui prouvent l’existence d’une secte révolutionnaire. Paris: Gide fils.

219Zahorowski, H. (1614). Monita Secreta Societatis Jesu. https://www.gutenberg.org/ebooks/59382

220Le Bon, G. (1895) [2017]. Psychologie der Massen. OK Publishing, S. 26.

221Le Bon, a. a. O., S. 115–121.

222Tinbergen, N. (1946) [1955]. Tiere untereinander. Soziales Verhalten bei Tieren insbesondere Wirbeltieren. Ins Dt. übertr. v. Otto Koehler. Berlin/Hamburg: Parey.

223Canetti, E. (1960) [³⁴2017]. Masse und Macht. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, S. 14 f.

224Verbergt, M. (2021). Camera’s in joodse wijk controleren nu synagogegangers. De Standaard, 13. 03. 2021. https://www.standaard.be/cnt/dmf20210312_98151173

225Harari, Y. N. (2015) [2017]. Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen. Aus d. Engl. v. Andreas Wirthensohn. München: C.H.Beck.

226Khan, Z. (2020). Innovating for a Bold Future. https://www.rockefellerfoundation.org/blog/innovating-for-a-bold-future/

227Event 201. https://www.centerforhealthsecurity. org/event201/

228Schwab, K., Malleret, T. (2020). COVID-19: Der große Umbruch. Genf:

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229Chomsky, N. (1989). Necessary Illusions: Thought Control in Democratic Societies. Boston: South End Press.

230Departement MOW Vlaamse Overheid (2020). Vlaamse mobiliteitsvisie 2040: Digi-kosmos. https://www.youtube.com/watch?v=mfN3EJMVOQ4

231Arendt, H. (1955) [1986]. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München: Piper, S. 858 f. u. 901.

232Arendt, H. (1963) [1990]. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Aus dem Amerik. v. Brigitte Granzow. Leipzig: Reclam, S. 217 f.

233Stern, A. (2013). Sterilization Abuse in State Prisons: Time to Break With California’s Long Eugenic Patterns. The Huffington Post, 23. 07. 2013. https://www.huffpost.com/entry/sterilization-california-prisons_b_36 31287

234Arendt (1955), S. 760.

235Arendt (1955), S. 703.

236Eisenstein, C. (2020). Der Verschwörungs-Mythos. Aus d. Engl. v. Stephan Pfannschmidt, Christoph Peterseil u. Nikola Winter. https://charleseisenstein.org/essays/der-verschworungs-mythos/

237Arendt (1955), S. 701.

238Arendt (1963), S. 282.

239Solschenizyn, a. a. O.

KAPITEL 9

240Laplace, P. S. (1814) [1886]. Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten. Aus d. Frz. v. Norbert Schwaiger. Leipzig: Duncker & Humblot, S. 4.

241Russell, B. (1902). Brief an Frege vom 16. Juni 1902. In: Gottlob Frege: Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell, hrsg. v. G. Gabriel, F. Kambartel, C. Thiel, Hamburg 1980, S. 59 f.

242Heisenberg, W. (1927). Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik. Zeitschrift für Physik, 43, S. 172–198.

243Gleick, J. (1987) [1988]. Chaos – die Ordnung des Universums. Vorstoß in Grenzbereiche der modernen Physik. Aus dem Amerik. v. Peter Prange. München: Droemer Knaur, S. 135 f.

244Gleick, a. a. O., S. 414.

245Gleick, a. a. O., S. 363-371.

246Gleick, a. a. O., S. 67.

247Meinhardt, H. (1995) [1997]. Wie Schnecken sich in Schale werfen. Muster tropischer Meeresschnecken als dynamische Systeme. Aus d. Engl. v. Isolde Hummel. Berlin/Heidelberg: Springer.

248Galilei, G. (1623). Il saggiatore. (Dt.: Der Prüfer mit der Goldwaage). https://it.wikisource.org/wiki/Il_Saggiatore/6

249Lorenz, E. N. (1963). Deterministic Nonperiodic Flow. Journal of the Athmospheric Sciences, 20(2), S. 130–141. https://doi.org/10.1177/0309133308091948.

250Gleick, a. a. O., S. 199.

251Heisenberg, W. (1964) [1971]. Das Naturgesetz und die Struktur der Materie.

In: Schritte über Grenzen. Gesammelte Reden und Aufsätze. München: Piper, S. 236.

252Poincaré, H. (1908) [1914]. Wissenschaft und Methode. Aus d. Frz. v. F. u. L. Lindemann. Leipzig/Berlin: B. G. Teubner. http://archive.org/details/scienceetmthod00poin

253Gleick, a. a. O.

KAPITEL 10

254Hawking, S., Mlodinow, L. (2010). Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums. Aus d. Engl. v. Hainer Kober. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 81.

255Hawking/Mlodinow, a. a. O., S. 82.

256Bohr, N. (1952). Mitgeteilt von Werner Heisenberg in: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München: Piper 1969, S. 280.

257Heisenberg, W. (1964) [1971]. Das Naturgesetz und die Struktur der Materie. In: Schritte über Grenzen. Gesammelte Reden und Aufsätze. München: Piper, S. 236.

258Russell, B. (1921) [2000]. Die Analyse des Geistes. Aus d. Engl. v. Kurt Grelling. Hamburg: Meiner, S. 395.

259Feuillet, L., Dufour, H., Pelletier, J. (2007). Brain of a white-collar worker. The Lancet, 370 (9583), S. 262. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(07) 611271

260Lewin, R. (1980). Is Your Brain Really Necessary? Science, 210 (4475), S. 1232–1234. https://doi.org/10.1126/science.7434023

261Scholz, J., Klein, M. C., Behrens, T. E. J., Johansen-Berg, H. (2009). Training induces changes in white-matter architecture. Nature Neuroscience, 12, S. 1370–1371. https://doi.org/10.1038/nn.2412

262Kelly, A. M. C., Garavan, H. (2005). Human functional neuroimaging of brain changes associated with practice. Cerebral Cortex, 15(8), S. 1089–1102. https://doi.org/10.1093/cercor/bhi005

263Wieduwild, E. et al. (2020). β2-adrenergic signals downregulate the innate immune response and reduce host resistance to viral infection. Journal of Experimental Medicine, 217(4): e20190554. https://doi.org/10.1084/jem.20190554

264Prior, A. et al. (2016). The Association Between Perceived Stress and Mortality Among People With Multimorbidity: A Prospective Population-Based Cohort Study. American Journal of Epidemiology, 184(3), S. 199–210. https://doi.org/10.1093/aje/kwv324

265Nielsen, N. R. et al. (2008). Perceived stress and cause-specific mortality among men and women: results from a prospective cohort-study. American Journal of Epidemiology, 168(5), S. 481–491. https://doi.org/10.1093/aje/kwn157

266Ellenberger, H. F. (1970) [1973]. Die Entdeckung des Unbewussten. Aus d. Engl. v. Gudrun Theusner-Stampa. Bern/Stuttgart/Wien: Hans Huber, S. 70.

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268Hróbjartsson, A., Gøtzsche, P. C. (2001). Is the Placebo Powerless? – An Analysis of Clinical Trials Comparing Placebo with No Treatment. The New England Journal of Medicine, 344, S. 1594–1602. https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/nejm200105243442106

269Hahn, R. A. (1997). The Nocebo Phenomenon: Concept, Evidence, and Implications for Public Health. Preventive Medicine, 26(5), S. 607–611. https://doi.org/10.1006/pmed.1996.0124

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272Mauss, M. (1923/24) [1968]. Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Aus d. Frz. v. Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

273Lévi-Strauss, C. (1949). L’efficacité symbolique. Revue de l’histoire des religions, 135(1), S. 5–27.

274Solschenizyn, A. (1973) [2008]. Archipel Gulag. Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band. Aus dem Russ. v. Anna Peturnig und Ernst Walter. Frankfurt a. M.: S. Fischer S. 431.

KAPITEL 11

275Russell, B. (1952) [1953]. Wissenschaft wandelt das Leben. Aus d. Engl. v. Hanns von Krannhals. München: Paul List Verlag.

276Fox, J. (2021). Covid-19, Utopianism, and the Reimagination of Society. Collateral global, 17. 10. 2021. https://collateralglobal.org/article/covid-19utopianism-and-the-reimagination-of-society/

277Hegel, G. W. F. (1807) [1986]. Phänomenologie des Geistes. In: Werke in 20 Bänden mit Registerband. Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 24.

278Einstein, A. (1934) [2021]. Mein Weltbild. Hg. v. Carl Seelig. München: Europa Verlag, S. 14.

279Bohr, N. (1922). Mitgeteilt von Werner Heisenberg in: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München: Piper 1969, S. 63.

280Planck, M. (1944). Das Wesen der Materie. Vortrag in Florenz 1944. Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. Va, Rep. 11, Nr. 1797.

281Planck, M. (1937) [2001]. Religion und Naturwissenschaft. In: Vorträge. Reden. Erinnerungen, hg. v. Hans Roos u. Armin Hermann. Berlin/Heidelberg: Springer, S. 170.

282Planck (1937), a. a. O., S. 162.

283Wilber, K. (1984). Quantum Questions: Mystical Writings of the World’s Greatest Physicist. Boulder: Shambhala, S. 16.

284Thom, R. (1991) [2010]. Interviews with Emile Noël. Translation from the French, of Prédire n’est pas expliquer. Conversations on Mathematics, Science, Catastrophe Theory, Semiophysics, and Natural Philosophy. Ins Engl. übers. v. Roy Lisker (IHES edition), S. 126.

285Jacob, M. (1917). Le Cornet à dés. Paris: Max Jacob.

286Foucault, M. (1983/84) [2010]. Der Mut zur Wahrheit – Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Aus dem Frz. v. Jürgen Schröder. Berlin: Suhrkamp.

287Foucault, a. a. O., S. 45.

288Heine, H. (1844) [²1972]. Schöpfungslieder VII. In: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin/Weimar: Aufbau, S. 269.

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel De psychologie van totalitarisme bei Pelckmans Uitgevers nv © 2022, Mattias Desmet en Pelckmans Uitgevers nv pelckmans.be Brasschaatsteenweg 308, 2920 Kalmthout, Belgien

Dieses Buch wurde mit Unterstützung von Flanders Literature (www.flandersliterature.be) herausgegeben.

1. eBook-Ausgabe 2023 © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 Europa Verlag in der Europa Verlage GmbH, München Bildnachweis: Wikimedia Commons, Benutzer: Acadac S. 69; Wikimedia Commons, Benutzer: Kku, S. 205; bei der Zusammenstellung haben wir Abbildungen entlehnt, deren Quelle wir nicht zurückverfolgen konnten; potenzielle Inhaber von Urheberrechten können sich an den Verlag wenden. Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich Übersetzung: Arne Braun, Leipzig Redaktion: Franz Leipold Layout & Satz: Robert Gigler, München Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-543-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

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