Faschismus und Nationalsozialismus [1 ed.] 9783428470082, 9783428070084

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Faschismus und Nationalsozialismus [1 ed.]
 9783428470082, 9783428070084

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Faschismus und Nationalsozialismus

Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 1

Faschismus und Nationalsozialismus

Herausgegeben von

Karl Dietrich Bracher Leo Valiani

Duncker & Humblot · Berlin

Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient Faschismus und Nationalsozialismus 20. Studienwoche Leiter der Studienwoche Karl Dietrich Bracher Leo Valiani Italienische Ausgabe Fascismo e nazionalsocialismo (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quademo 21) il Mulino, Bologna 1986 Übersetzung der italienischen Texte: Friederike C. Oursin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Faschismus und Nationalsozialismus I hrsg. von Kar! Dietrich Bracher; Leo Valiani. [Übers. der ital. Texte: Friederike C. Oursin].- Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient; Bd. 1) ( ... Studienwoche I Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient; 20) Einheitssacht.: Fascismo e nazionalsocialismo (dt.) ISBN 3-428-07008-9 NE: Bracher, Kar! Dietrich [Hrsg.]; EST; Istituto Storico ItaloGermanico (Trento): Schriften des Italienisch-Deutschen ... ; Istituto Storico Italo-Germanico (Trento): ... Studienwoche

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 3-428-07008-9

Inhaltsverzeichnis

Kar/ Dietrich Bracher Einführung ..........................................................................................................................

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Leo Valiani Der Faschismus: Konterrevolution und Revolution

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Kar/ Dietrich Bracher Der Nationalsozialismus in Deutschland. Probleme der Interpretation ... .... .... .... .......... .... .. ... .... .......... ........ .. ...... .. ...... ........ ......... ... .. .... ....... .. ... ... .............

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Dino Cofrancesco Faschismus: rechts oder links? ................................................................................

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Wolfgang Altgeld Die Ideologie des Nationalsozialismus und ihre Vorläufer ................... 107 Adam Wandruszka Nationalsozialistische und "gesamtdeutsche" Geschiehtsauffassung ........................................................................................................................................ 137

Manfred Hinz "Der Arbeiter" von Ernst Jünger. Die philosophischen Voraussetzungen der politischen Romantik ................................................................... 151 Paolo Pombeni Die besondere Form der Partei vom Faschismus und Nationalsozialismus

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Emilio Gentile Partei, Staat und Duce in der Mythologie und der Organisation des Faschismus ................................................................................................................ 195 Wolfgang Schieder Zwei Generationen im militärischen Widerstand gegen Hitler .......... 217 Jens Petersen Vorspiel zu "Stahlpakt" und Kriegsallianz: das deutsch-italienische Kulturabkommen vom 23. November 1938 .................................... 243

Einführung Von Kar! Dietrich Bracher

Ich freue mich besonders und fühle mich geehrt, nach dem Altmeister der italienischen Zeitgeschichte, Senator Leo Valiani, ebenfalls einige einleitende Worte sprechen zu können. Sehr lebhaft erinnere ich mich noch des glänzenden Vortrags, den Professor Valiani schon vor zwei Jahrzehnten bei uns an d er Universität Bonn (zur Geschichte des Sozialismus) gehalten hat. Keiner ist mehr berufen als er, auch dem Thema Faschismus-Nationalsozialismus zu präsidieren: und zwar sowohl als der bedeutende wissenschaftliche Historiker wie zugleich als der politisch aktiv mitlebende Zeitgenosse und Repräsentant des Widerstands gegen die Diktatur - und das seit über einem halben Jahrhundert in Forschung und Lehre, in Theorie und Praxis. Ich selbst war ein sehr viel jüngerer Zeitgenosse: seit Ende 1941, als ich zum Krieg nach Nordafrika und dann 1943 in die amerikanische Kriegsgefangenschaft kam (wo ich Adam Wandruszka kennengelernt habe). Aber nach meiner Promotion in alter Geschichte (1948) - für mich die Basis historischen Denkens - bin ich nun doch auch schon seit 40 Jahren dabei, die Entwicklungen und Verirrungen unseres Jahrhunderts zu untersuchen: mit den Arbeiten über die Auflösung der Weimarer Republik (1955) und die NS-Machtergreifung 0960), die Deutsche Diktatur (1969) und die Krise Europas 0976), schließlich über dieses unser Zeitalter der Ideologien (1982 und 1984); die letzteren drei Bücher sind auch in italienisch erschienen. Wir blicken nun auf vier Dekaden der Zeitgeschichtsforschung zurück, die sich ganz wesentlich unterscheiden: Ansätze und Richtung, Methoden und Fragestellungen wandeln sich mit der politischen Erfahrung und mit dem Zeitgeist der Generationen. Denn der wissenschaftliche Fortschritt hängt nicht nur von der Fülle des Quellenmaterials ab, das seit 1945 erschlossen werden konnte und zu genauerer Darstellung und immer neuer, vertiefter Weitere Auslegungen und bibliographische Hinweise finden sich in meinen Arbeiten: La dittatura tedesca. Origini, struttura, conseguenze del nazionalsocialismo in Germania, 2. Auf!., Bologna 1984; La crisi dell'Europa 1917-1975, Milano 1978; 11 Novecento. Secolo delle ideologie , 2 Auf!., Roma/ Bari 1985; "Totalitarismo", in: Enciclopedia del Novecento, VII, 1984, S. 718-726.

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Kar! Dietrich

Br.~eher

Deutung des Faschismus und Nationalsozialismus geführt hat. Das große Werk von Renzo de Felice ist ein herausragendes Beispiel für diesen Fortschritt, und jetzt auch die neue ausführliche Behandlung der Ideologie des Faschismus durch Emilio Gentile; wir Deutschen sind dankbar, dieser modernen Faschismusforschung hier begegnen zu können. Dies umso mehr, als die Erforschung und Deutung des Nationalsozialismus ja von Anfang an auf engste mit der Literatur und den Interpretationen des Faschismus zusammenhängt. Es sind vor allem sechs Stufen der Interpretation, die sich bis heute überkreuzen und bekämpfen. Sie zeigen zugleich die verschiedenen Schichten, die immer wieder hochkommen, für neu oder tot erklärt werden: frühe Faschismus-Theorien vor und nach 1933; neue analytische Ansätze der 40er Jahre (E. Fraenkel, S. Neumann, F. Neumann); -

die systemvergleichende Totalitarismusforschung vor und nach 1945 (H. Arendt, C.J. Friedrich, L. Schapiro, J.L. Talmon); empirische und Strukturforschung zum Nationalsozialismus seit den SOer Jahren (K.D. Bracher, G. Schulz, W. Sauer); philosopisch-soziologische und neomarxistische Interpretationswellen der 60er Jahre (E. Nolte, Kritische Theorie, verallgemeinernde Faschismustheorien); Kontroversen der 70er Jahre um Faschismus und Totalitarismus, um rechte und linke Komponenten (Tradition und Revolution), Revolutionsbegriff und Widerstand, Strukturen und Personen, um eine ideologisch und soziologisch motivierte Unterschätzung des "National-Sozialismus" einst wie jetzt.

Der Faschismus: Konterrevolution und Revolution Von Leo Valiani

Zu verneinen, daß der Faschismus und der Nationalsozialismus mit Hilfe eines großen Teils der konservativen Kräfte, darunter nicht weniger schlicht reaktionären, an die Macht kamen, hieße die Evidenz der Tatsachen verneinen. Doch hatten diese Kräfte nicht die Gründung einer Einheitspartei vorhergesehen oder angestrebt: einer Partei totalitärer Ideologie, die das Versprechen einer radikalen, politischen, sozialen, ethischen und psychologischen Revolution beinhalten sollte. Oft hatten sie jedoch, so in Deutschland, schon vor 1914, die Auflösung einiger Parteien (der Sozialdemokratie im besonderen) und selbst aller Parteien verlangt, zwecks Errichtung einer Diktatur militärischen oder bürokratischen Stils. Die Voraussetzungen für das Regime sowie für die faschistische Ideologie und für jene unter einigen Gesichtspunkten gänzlich unterschiedliche des Nationalsozialismus, finden sich in Strukturen, Bewegungen und Denkern verschiedener Art. So fehlt der Totalitarismus auch keinesfalls in der Kirchengeschichte. Jedoch ist der Unterschied Qffensichtlich zwischen dem Totalitarismus irgendeiner Kirche in ihrer Ausrichtung auf Transzendenz, und dem Totalitarismus einer politischen Partei in ihrem Bemühen, das irdische Leben zu revolutionieren, mit Resultaten, die hier auf Erden ausreifen sollen. Der einzige Präzedenzfall ist die bolschewistische Partei, nicht etwa in ihrer Form von 1917 oder noch 1918, sondern so, wie sie nach dem Bürgerkrieg wurde - mit der totalitären Konsolidierung oder, wenn man so möchte, mit der totalitären Involution des politischen Regimes der Sowjetunion. Das heißt aber nicht, den grundlegenden Unterschied zwischen dem Bolschewismus, auch nach seiner Stalinisierung, und dem Faschismus oder Nazismus zu unterschätzen. Ohne diesen grundsätzlichen Kontrast wären weder Mussolini noch Hitler bevorzugt oder auch nur akzeptiert worden von den wirtschaftlich und sozial führenden Klassen der jeweiligen Länder, die wirklich konterrevolutionär waren, insofern als sie eine kommunistische Revolution stark fürchteten und diese um jeden Preis verhindern wollten. Der Bolschewismus zielte, wie jede radikal sozialistische Partei oder Bewegung, auf die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und, im Unterschied zum größten Teil dieser Parteien, hielt er die Zeit hierfür reif.

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Diese allgemeine Enteignung vollzog sich im sowjetischen Rußland relativ schnell - zwar nicht im Sinne Lenins, sondern so wie zuerst die Umstände und dann der Machthunger Stalins sie mit sich brachten. Der Faschismus und der Nationalsozialismus (bis auf einige kleine, extremistische und utopistiche Splittergruppen) zögerten nicht, sie kategorisch abzulehnen. Die kommunistische Behauptung von der konterrevolutionären Natur des Faschismus und des Nazismus ist daher gänzlich logisch - auch wenn der Stalinismus selbst, nicht zu unrecht, von den Trotzkisten als konterrevolutionär bezeichnet wurde, und ebenso der Leninismus und der Trotzkismus von den Anarchisten. Weniger logisch ist diese Behauptung, wenn sie von jenen Sozialisten aufgestellt wird, die schrittweise Veränderungen vorziehen und nicht mehr an die Realisierbarkeit oder Zweckmäßigkeit einer universalen Sozialisierung glauben. Sie verfechten, wenigstens einstweilen, nur partielle Sozialreformen und zu diesem Zweck das Eingreifen des Staates in die Wirtschaft - all dies Dinge, die wir genauso in Ideologie und Praxis des Faschismus und Nazismus finden. Nicht unter dem Gesichtspunkt der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, wohl aber unter dem der Verteidigung der politischen, pluralistischen Demokratie liberaler Natur verhalten sich diese Sozialisten konsequent, wenn sie den Faschismus als konterrevolutionär bezeichnen. Und nicht nur unter diesem Gesichtspunkt, sondern auch unter dem der geistigen und bürgerlichen Gleichheit der Menschen aller Rassen, müssen sie den Nazismus für konterrevolutionär halten. Umgekehrt ist, aus der Perspektive des politischen Totalitarismus, sei dieser nun bolschewistischer, faschistischer oder nazistischer Natur, die Überwindung der Mehrparteiendemokratie revolutionär - konterrevolutionär ihre Erhaltung. Jacob Talmon hat in seinen anfechtbaren, aber dennoch größte Aufmerksamkeit verdienenden Werken die Existenz einer totalitären Demokratie hervorgehoben, welche er auf Rousseau, Robespierre, Babeuf, Blanqui, Marx und Lenin zurückführte. In Wirklichkeit kannte aber Rousseau weder die totalitäre Einheitspartei noch sah er sie vor, und auch die jakobinische Partei war keine solche bis zum Äußersten, denn sogar während des Terrors behielt der Nationalkonvent die Macht, wie man am 9. Thermidor sah. Weder Babeuf noch Blanqui und nicht einmal Marx sahen ihre Partei als Instrument zur Ausübung einer totalitären Diktatur bis zur Erreichung aller ihrer historischen Ziele - die Diktatur, welche sie sich vorstellten, sollte provisorisch sein und nur bis zur vollständigen Niederlage der Reaktion dauern. Die geistige Bewegung, die von Rousseau und, mehr noch, von den Theoretikern des Kommunismus im 18. Jahrhundert zu Lenin führt, ist dennoch nicht imaginär - diesbezüglich hat Talmon nicht Unrecht - und sie umfaßt gewiß Babeuf, Blanqui und Marx, wenn auch nicht Robespierre, der Befürworter des Privateigentums war und an ein höchstes Wesen glaubte. Renzo De Felice konstatiert, daß diese Tendenz nicht einmal Mussolini fremd war. Der junge Mussolini sah sicherlich als Sozialist und sogar noch als interventionistischer Sozialist in Blanqui einen Vorläufer.

Konterrevolution und Revolution

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Gerhard Ritter macht genau im Nationalsozialismus, neben anderen Vorlagen, die Vorlage des Jakobinertums der extremsten Terroristen aus und der fanatisierten Massen, welche diesen anfänglich zujubelten. Dies sind korrekte Beobachtungen, nur daß der Erfolg des Faschismus und des Nazismus weit mehr davon abhing, daß sie anti-vertragstheoretische Ideologien gerühmt und entwickelt hatten, beide mit der Herausstellung des charismatischen Duce resp. Führer: der Faschismus die Ideologie eines autoritären Regierungssystems (welches Gentile und Alfredo Rocco unterschiedlich begründen konnten, aber immer in Gegensatz zur Vertragstheorie Rousseaus), der Nazismus die Ideologie der rassischen Überlegenheit. Mir scheint auch nicht, daß jene Faschisten, die - wie Emilio Gentile feststellt - dem existenten autoritären Faschismus den totalitären Faschismus in .fieri gegenüberstellten, sich auf die Vertragstheorie beriefen. Ugo Spirito, zum Beispiel, der von einer extrem faschistischen Ausgangsposition bis zum Kommunismus gelangte, lehnte die Vertragstheorie immer ab. Es versteht sich, daß auch Marx sie als Hegelianer ablehnte, sie aber als Förderer der zukünftigen Abschaffung des Staates implizit aufwertete. Es ist nicht zu sehen, wie und warum die Intellektuellen und selbst die Massen, welche Mussolini und Hitler folgten und ihnen als von der Vorsehung bestimmten Führern zujubelten, sich für das Jakobinerturn begeistern sollten, welches sowohl in der italienischen wie in der deutschen Tradition für fremden Ursprungs gehalten wurde und in Mißkredit geraten war, da es schon einmal zu einer machtlosen Demokratie geführt hatte. Anders war es im Falle Rußlands, wo viele Intellektuelle während der Zarenherrschaft eine jakobinische, eine demokratisch-liberale oder bereits eine sozialistische Revolution herbeiwünschten. Daß dann auch Stalin (nicht so Lenin, der dem immer ablehnend gegenüberstand) den Kult des allmächtigen und allwissenden Führers pflegte (sogar stärker als Mussolini und nicht in geringerem Maße als Hitler), erklärt sich, abgesehen von den persönlichen Elementen, aus der Unmöglichkeit, eine totalitäre Demokratie auf die Dauer in Betrieb zu halten, ohne eine kontinuierliche polizeistaatliche Säuberungsaktion, welche diese Demokratie schließlich zerstören wird - schon im Frankreich der Jahre 1793-94, und mehr noch, wenn dieser Demokratie, wie in der UDSSR, die restlose Verstaatlichung der Produktionsmittel zu Grunde liegt. Sicherlich ist das Jakobinerturn von 1793 für die gesamteuropäische Geschichte von Bedeutung. Aber schon sein Testamentsvollstrecker in der internationalen Politik, Napoleon Bonaparte, hatte neben der vertragstheoretischen Inspiration gegenteilige Eingebungen älterer und neuerer Art. In Italien und in Deutschland traf jede Demokratie, und nicht nur ihre jakobinische Form, auf heftigen Widerstand, auch weil in diesen Ländern die Demokratie von feindlicher Hand, napoleonisch und plündernd, eingeführt worden war und den größten Teil sowohl der traditionellen Führungselite als auch der Massen der Landbevölkerung gegen sich hatte. Die Ideologen des Faschismus und des Nazismus wußten dies - ihre Politiker erkannten es intuitiv.

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Im Gegensatz zu Hitler, der von der extremen Rechten kam und sich trotzdem in einer sogenannten nationalsozialistischen Arbeiterpartei verwirklichte (so hatte auch schon vor 1914 ihr österreichischer Vorläufer gehießen und so bezeichnete sie sich, da sie vorhatte, den marxistischen Parteien die Volksmassen zu entziehen) kam Mussolini von der extremen Linken. In ihren Reihen war er wirklich ein Jakobiner, auch wenn er sowohl ihre anarchistischen Ursprünge, von beträchtlichem Ausmaß in seiner Romagna und in einigen anderen Regionen Italiens, als auch den offiziell marxistischen Sozialismus vor Augen hatte - nun nicht mehr jakobinisch, sondern parlamentarisch - welcher inzwischen nicht nur in ihren reformistischen Fraktionen, sondern im gesamten West- und Mitteleuropa das stärkste Gewicht hatte. Die Aktion, welche Mussolini zwischen 1910 und 1914 durchführte und welche sehr gut von De Felice analysiert worden ist, war politisch eine eher jakobinische Aktion, oder besser gesagt, von einem revolutionären politischen Willen beseelt, welcher bestimmter war, als jener irgendeines anderen sozialistischen Anführers West- und Mitteleuropas jener Jahre, abgesehen von Rosa Luxemburg und ihren vertrautesten Genossen in Deutschland. Diese Aktion war es, weil (anders als in Osteuropa) nicht einmal in Frankreich, wo die Blanquisten, die Guesdisten und die Gewerkschaftler der Mehrheit der GGT ideologisch und gefühlsmäßig Revolutionäre blieben, eine konkret revolutionäre Situation nicht mehr voraussehbar war- wenn nicht nach einem großen Krieg. Wenn der Krieg nicht noch 1914 ausgebrochen wäre, kurz nach dem Mißerfolg der "roten Woche", ist anzunehmen, daß Mussolini sich der unzureichenden Tiefe des revolutionären Charakters der italienischen Krise selbst bewußt geworden wäre. Fest steht, daß es Mussolinis politischen Werdegang vom Militanten zum Anführer förderte, daß er sich bis zur "roten Woche" als Jakobiner verhielt, aber nicht das originellste Merkmal seines Denkens war. Das war vielmehr die Aufmerksamkeit, die er den Ideen Sorels und Prezzolinis widmete - vor allem denen Sorels, gekennzeichnet von einem anti-jakobinischen, anti-aufklärerischen , nicht rationalistischen Voluntarismus. Ich stimme jedoch mit Dino Cofrancesco darin überein, daß auch eine Fraktion des Antifaschismus - Salvemini, Amendola, Gobetti, Parri - Prezzolini einige Anregungen verdankte. Sofort nach dem Krieg wird Sore! Lenin zujubeln, aber - so würde er hervorheben - aus Haß auf die Demokratien der Entente, welche auf das Erbe von 1789 Anspruch erhoben und seiner Meinung nach doch nur Eroberung und Ausbeutung zum Ziel hatten. Er wünschte sich deren Demütigung, die er von den Arbeitergewerkschaften erhofft hatte und nun von Lenin. Zu Beginn des Jahres 1922 schrieb Mussolini, aber sicherlich dachte er es schon seit mindestens einem Jahr, daß der um die Demokratie geführte Krieg, dem er noch als Jakobiner 1914-15 zugestimmt hatte, trotzdes Sieges von 1918, nun im Begriff sei, den Verfall eben dieser Demokratie zu verursachen. Die drei dynamischsten Nationen - Deutschland, Rußland, Italien so schrieb er in jenem Artikel, gingen nach rechts. Es traf ins Schwarze. Die

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Niederlage der sozialistischen und kommunistischen Linken in Deutschland und Italien in den Jahren 1919-20 und das Ende des Kriegskommunismus im Rußland, nach dem Mißerfolg der Roten Armee im Krieg mit Polen, führten diese drei Länder nach rechts, auch wenn der aufkommende Stalinismus, in seiner Anstrengung die UDSSR zu kollektivieren, lange Zeit viel weiter links bleiben sollte als der Faschismus und der Nazismus. Diese realistische Feststellung Mussolinis von Anfang 1922 über den europäischen Rechtsruck umfaßt einen der Gründe für die Erfolge, welche er in Italien und Europa bis 1939 erzielte. Links und rechts sind natürlich konventionelle Ausdrücke des politischen Sprachgebrauchs. Revolutionär können sich beide erklären. Die Konterrevolution wird immer von rechts verkündet. Aber es kann sich dann auch aus ihrer Mitte ein revolutionärer Flügel entwickeln gleichwohl wie in der revolutionären Linken eine konterrevolutionäre Tendenz überwiegen kann (Stalins Regime war hierfür der sensationellste Beweis, aber nicht der einzige), welche in der Tat der extremen Rechten ähnelt, so heftig jene dies auch leugnen mag. Im übrigen gibt es kein allgemeines Kriterium, welches beweist, daß die Linke immer besser ist als die Rechte oder umgekehrt. Man kann aber behaupten (und ich behaupte dies sicherlich), daß die politische Freiheit besser ist als der monarchische oder diktatorische Absolutismus (abgesehen von den beträchtlichen Unterschieden zwischen diesen beiden Systemen) und daß die Marktwirtschaft besser funktioniert als die Zwangswirtschaft. Die Geschichte zeigt uns aber liberale und nicht liberale Rechte, liberale und nicht liberale Linke, marktwirtschaftliche Systeme, die atrophieren und zwangswirtschaftliche Systeme, welche über Jahrhunderte hinweg funktionieren. Was mir jedoch für den Faschismus und den Nazismus typisch scheint (ich wiederhole, trotz der großen Unterschiede zwischen beiden Systemen) ist, daß beide sowohl eine konterrevolutionäre wie eine revolutionäre Haltung nötig haben. Mussolini selbst sah dies klar und deutlich seit 1921 und sagte es, wenn ich mich recht erinnere, aus Anlaß seines Parlamentsdebuts. Ich gehe kurz darauf ein, daß ich aus Fiume stamme, einer ethnisch italienischen Stadt, welche damals zu Österreich-Ungarn, genauer zum Königreich Ungarn gehörte. Das Unternehmen D'Annunzios von Fiume im Jahre 1919 fällt sicherlich in die Vorgeschichte des Faschismus, auch wenn es, wie eben Oe Felice in seinen Studien geklärt hat, nicht faschistisch war. Ich möchte hier auf meine Kenntnis der ungarischen Sprache zurückgreifen, die in den Schulen Fiumes unterrichtet wurde, um kurz auf das Faschismusproblem im Ungarn zwischen den beiden Weltkriegen abzuschweifen, welches die neuere madjarische Geschichtsschreibung mit einer für ein kommunistisches Land seltenen Freiheit leidenschaftlich diskutiert hat. Ungarn, ein Land welches seit Jahrhunderten von aristokratischen Großgrundbesitzern regiert wurde, aber seit Beginn des 20. Jahrhunderts industrialisiert wurde und ein parlamentarisches Regime mit beschränktem Zensuswahl-

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recht und öffentlicher Abstimmung hatte, erlebte im Herbst 1918, als Folge der militärischen Niederlage und scharfer ethnischer und sozialer Auseinandersetzungen, eine demokratisch-republikanische Revolution. Anders als in Deutschland führte diese im März 1919 zur Diktatur des Proletariats (sozialistisch und kommunistisch, da sich die sozialdemokratische Mehrheit an diesem Experiment beteiligte), welche sich wenig mehr als vier Monate hielt und nach einem offenen Krieg vom rumänischen Heer niedergeschlagen wurde. Gruppen von Berufsoffizieren, die sich offen konterrevolutionär erklärten, beteiligten sich, angeführt vom zukünftigen Reichsverweser Horthy, an ihrem Sturz. Der ungarische Kommunismus hatte sich freilich noch vor seiner Niederlage teilweise: mit der Unfähigkeit, die Versorgung der Städte zu gewährleisten, und mit der Einführung des, wenn auch vergleichsweise zurückhaltenden, roten Terrors nach sowjetischem Model diskreditiert. Darüber hinaus war der größte Teil seiner Anführer jüdischer Abstammung. Auf seinen Sturz folgte eine Zeit ungehemmten weißen Terrors, welcher grausamer war als jener der vorhergegangen Diktatur des Proletariats. Er richtete sich gegen die Kommunisten, die Sozialisten und die Juden. Der Großteil des Landes erklärte sich konterrevolutionär. Der Ausdruck wurde sofort zur Ehrenbezeichnung, so wie es jener des Revolutionärs zwischen Herbst 1918 und Frühjahr 1919 gewesen war, und eine Ehrenbezeichnung blieb er für mehr als ein Jahrzehnt. Die sichtbare Mehrheit der Nation, oder zumindest ihrer politischen Vertreter, war nach rechts gerückt. Innerhalb der Volksmassen, die der Konterrevolution zujubelten, sowohl Bauern als auch armes Kleinbürgertum, durch den Krieg weiter verarmt (das Proletariat in den Städten, wo es freie Gewerkschaften gab, blieb sozialdemokratisch), entwickelte sich eine präfaschistische und eine pränazistische Tendenz. Sie war pränazistisch, da ihre Verfechter eine rassistische Ideologie vertraten, virulent antisemitisch und auch antiwestlich: sie verherrlichte die besondere, turanische Abstammung der madjarischen Rasse. Sie war präfaschistisch, da sie nicht nur die Revolution von 1918-19, sondern auch das relativ liberale politisch-soziale System von vor dem ersten Weltkrieg verurteilte. Nicht nur auf Grund ihrer Massenbasis, sondern auch wegen der Forderungen nach Sozialreformen, hatte aber diese Bewegung revolutionäre Implikationen, welche denen der faschistischen und nazistischen Linken nicht unähnlich waren. Sie erklärte sich extrem rechts, da es politisch unklug war, sich im konterrevolutionären aber auch antikapitalistischen und antiaristokratischen Umfeld links zu nennen. Sie wurde, anders als Faschismus und Nazismus, von dem besiegt, was ihr fehlte. Schließlich konnte sie es sich nicht anmaßen, viel nationalistischer zu sein, als die Konservativen, welche der Reichsverweser Horthy (er war österreichisch-ungarischer Admiral gewesen und gehörte, wenn nicht der Aristokratie, so doch zumindest dem Landadel an) wieder an die Macht gebracht hatte. In dem auf ein Drittel seine Fläche verstümmlten Ungarn war die große Mehrheit der Madjaren nationalistisch gesonnen. Die Konservativen waren es am allermeisten. Sie

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schürten die Hoffnung auf eine militärische oder politische Revanche, wenigstens einen Teil der verlorenen Gebiete zurückzuerobern, um die Aufmerksamkeit von den akuten sozialen Problemen im Inneren abzulenken: dem Fehlen einer politischen Demokratie, der enormen Last des Großgrundbesitzes, der elenden Existenz der Landarbeiter ohne Land und der Rückständigkeit der Sozialgesetzgebung. Die extreme Rechte nahm genau dieses Problem revolutionärer Natur wahr, konnte sich aber nicht revolutionär nennen. Sie mußte den Mythos der Konterrevolution akzeptieren. Außerdem fehlte ihr die Organisation in einer Partei. Sie war in der regierenden christlichnationalen Einheitspartei, sowie innerhalb und außerhalb anderer Parteien präsent. Sie führte nach faschistischer Art eine Polemik gegen die alten Parteien, aber sie hatte sich nicht zu einer eigenen "AntiPartei" Partei zusammengeschlossen. Außerdem fehlte ihr das Instrument, des allgemeinen Wahlrechts, zur Mobilisierung der Massen. Nach den Wahlen Anfang 1920, welche, begleitet vom weissen Terror, zu früh für eine neue Parteigründung abgehalten wurden, wurde das allgemeine Wahlrecht und geheime Wahlen von der von Horthy eingesetzten Regierung wieder abgeschafft. (Die Siegerparteie n waren 1920 die christlichsoziale Partei. und die der kleinen Grundbesitzer, in denen, bis auf die Linksströmungen, alle anderen Tendenzen vertreten waren). Man kehrte 1922 zum beschränkten Wahlrecht und zur öffentlichen Abstimmung zurück, was nun nicht mehr wie vor 1914 die aristokratischen Großgrundbesitzer begünstigte, welche in oppositionell gewordene Habsburgtreue und opportunistische Regierungsanhänger zerfielen, sondern eher die mittleren Landbesitzer. Schließlich hatte n die Konservativen in Graf Bethlen einen politisch hoch begabten Anführer. Er wußte 1926 einen Freundschaftsvertrag mit dem faschistischen Italien abzuschließen, ohne daß Mussolini die Aufhebung des Mehrparteienparlamentarismus und der Pressefreiheit forderte (was er 1933 von Dollfuß verlangen würde). So konnten diese mit gewissen Einschränkungen weiterexistieren. Auch die extreme Rechte besaß einen Exponenten von bemerkenswertem politischen Talent: Gömbös. Von Seite n der militärischen Konterrevolution kommend, wagte er dennoch keinen Frontalangriff auf das bestehende Regime. Er nahm als Frondeur daran teil. Nach dem Ende der zehnjährigen Regierung Bethlen kam Gömbös so 1932 an die Macht. Er gab vor, tiefgreifende politische und soziale Erneuerungen zu wollen, weckte großartige Illusionen, sogar bei denjenigen, die inzwischen zu demokratischen Ideen übergetreten waren, aber er wagte es nicht, viel zu verändern. Er unternahm große Anstre ngungen, um sowohl bei Mussolini als auch bei Hitler Unterstützung zu finden, in der Hoffnung auf eine radikale Revision der Friedensverträge zum Vorteil der madjarische n Forderungen. Sein vorzeitiger Tod gab die Regierungsgeschäfte zurück in die Hände der Konservativen. Ungarn blieb ein parlamentarisches Land, beherrscht von einer begrenzten Oligarchie. Die Massen radikalisierten sich von neuem, auch auf Grund der Weltwirtschaftskrise. Nun wurden sie offe n nazi-freundlich- eine ungarische Nazipartei wurde gegründet: revolutionär, antisemitisch, rassistisch, gesellschaftlich und politisch extre mistisch, jener von Codreanu in

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Rumänien ähnlich. Sie gewann auch unter den Arbeitern rasch an Boden, da viele die zu lange Zeit machtlos gebliebene Sozialdemokratie verließen. Sie hane jedoch weder Intellektuelle, da diese - egal ab Rechte oder Linke auf der Suche nach einer neuen Demokratie waren, noch einen charismatischen Anführer, nicht einmal vom Schlage Codreanus. So gelangte sie erst 1944 mit der deutschen Besetzung Ungarns an die Macht. Das Beispiel Ungarns beweist meiner Meinung nach, daß zur Ausformung einer erfolgreichen faschistischen oder nazistischen Bewegung weder die wirtschaftlich-gesellschaftliche Krise, die in Ungarn, sowohl in den Nachkriegsjahren als auch in den dreißiger Jahren, akuter war als in Italien und nicht weniger akut als in Deutschland, noch die Niederlage des demokratischen Liberalismus und der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung ausreicht, weder die Existenz einer parafaschistischen oder paranazistischen Massenbewegung, noch die Existenz einer extremistischen Ideologie, welche in Ungarn existierte und erklärtermaßen nazistisch war. Es bedarf auch einer regelrechten Bewegung oder Partei faschistischer/ nazistischer Natur, welche sich revolutionär zu nennen weiß und sich dennoch der Zustimmung der konterrevolutionären wirtschaftlichen, bürokratischen und militärischen Kräfte gewiß ist und einen mutigen, charismatischen, festentschlossenen Führer hat. Es bedarf der Anhängerschaft zahlreicher Intellektueller und der Möglichkeit den äußersten Flügel des Nationalismus zu vertreten. Vor allem aber ist es dafür notwendig, daß der alte Staat im Begriff ist, politisch machtlos zu werden. In Ungarn geschah dies im Herbst 1918 und führte zu dem Heraufkommen einer proletarischen, sozialistischen und kommunistischen Macht. Nach ihrem Fall aber erwachte der alte Staat zu neuem Leben (mit einem nationalistischen. Reichsverweser an Stelle des habsburgischen Königs) und trotz seines offensichtlichen Anachronismus (oder vielleicht gerade deswegen - da es sich um einen parlamentarischen, aber autoritär-oligarchischen Staat handelte und nicht um eine freiheitliche Demokratie) sah er sich bis 1944 nicht gefährdet. Der italienische Staat war in Folge eines Krieges gefährdet, der die Massen mobilisiert hatte und versucht hatte sie einer parlamentarischen Demokratie zuzuführen, welche aber ihrerseits nicht in der Lage war, diese Massen zu organisieren. So wurde er genau dann machtlos, als es nötig gewesen wäre, die Freiheit mit Effizienz und Autorität in Einklang zu bringen. Die Gefahr einer kommunistischen Revolution, falls sie je bestanden hatte, war noch vom alten Giolitti gebannt worden, aber die einmal geweckte Angst lebte weiter. Der Regierung gelang es nicht, den Nationalismus, den der verstümmelte Sieg ("vittoria mutilata") heraufbeschworen hatte, zu beschwichtigen. Die Arbeiterorganisationen hatten viele äußerst fortschrittliche Forderungen durchgesetzt, welche auch zu Lasten der mittleren und unteren Bevölkerungsschichten und nicht nur der Oberschicht gingen. Das Verhältniswahlrecht machte die Bildung einer einheitlichen und dauerhaf-

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ten Regierung unmöglich. Die laizistischen, liberal-demokratischen Parteien fanden die Zusammenarbeit mit der katholischen Volkspartei schwierig, während die Reformsozialisten sich nur zögernd von den Radikalen trennten. Der Faschismus hatte einen außergewöhnlichen Führer sowie politisch und gewerkschaftlich erfahrene Kämpfer, fähig zu militärischen Initiativen in Wehrverbänden, welche ihre Gegner völlig unvorbereitet trafen. Der Nationalismus hatte ihm, übrigens schon in der Vorkriegszeit, den Weg bereitet - mit seiner Ausbreitung im Heerwesen, im Staatsapparat, in der Diplomatie, an den Universitäten, im Journalismus; und all das kraft seiner int~itiven Behauptung - welche vom Umschwung der revolutionären Gewerkschaftsbewegung herrührte (in der die meisten der frühen Faschisten, bis zum Kriege von 1915, aktiv waren) - daß der Klassenkampf in einen Kampf zwischen proletarischen und plutokratischen Nationen übergehen würde. Der Nationalismus trug auch dazu bei, zusammen mit den wirtschaftlich privilegierten Klassen und der Monarchie, dem Faschismus die Straffreiheit für die Aktionen der Wehrverbände, einschließlich dem Marsch auf Rom, zuzusichern. Die Integration des Nationalismus in die faschistische Partei gewährleistete umgekehrt, daß diese letztere auf der Rechten keine Konkurrenten mehr hatte und sich darum weiterhin als revolutionär proklamieren konnte, auch wenn sie mit der Regierung und dann mit der unangefochtenen Diktatur Mussolinis Partei eines Staates wurde, in welchem die Revolution sich auf den politischen Bereich allein beschränkt hatte und angesichts des Fortdauerns der Monarchie nicht einmal eine totale war. Zusammen mit dem Organisations- und Propagandamonopol verhalf das Versprechen einer sozialen Revolution dem Faschismus zu der wachsenden Anhängerschaft der Massen, deren alte Parteien und Gewerkschaften verboten worden waren. Wir haben hier nur einige Aspekte des Verhältnisses zwischen Revolution und Konterrevolution im Faschismus aufgezählt. Es existieren noch viele weitere - solche die gut bekannt sind oder die in den Vorträgen dieser Tagung hervorgehoben werden. Es ist nicht meine Aufgabe, jetzt die Ähnlichkeiten und Unterschiede, in Bezug auf den Nazismus, hinsichtlich des Verhältnisses Revolution/Konterrevolution hervorzuheben. Ein deutscher Wissenschaftler, dem sicherlich keine nazistischen Sympathien nachgesagt werden können, schreibt jedoch in einem unlängst erschienenen Werk: "Die NSDAP war eine Volkspartei, eine Jugendbewegung, ein fast religiöses Phänomen, vor allem eine Krisenerscheinung - in einer Krise allerdings, die wesentlich tiefer reichte als der Einbruch der wirtschaftlichen Konjunktur, die vor allem eine Sinn-, eine Wertekrise war" 1 • Dies verhinderte keineswegs, daß der Nazismus (und zwar der Nazismus in seiner Gesamtheit, nicht nur Hitler und Himmler) aus Rassismus die ungeheueren, unmenschlichen Verbrechen beging, die er begangen hat. Ja, es erlaubte ihm sogar, sie in der H. Schulze, Deutschland 1917-1933, Berlin 1982, S. 344.

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fanatischen Überzeugung zu begehen, hierzu das historische Recht innezuhaben. Die grundsätzliche Ähnlichkeit in den Ursachen des Faschismus und des Nazismus liegt darin begründet, daß es sich in beiden Fällen um Probleme handelt, die vom Weltkrieg herrühren, auch wenn sie teilweise schon vorher existierten. Sowohl in Italien als auch in Deutschland geriet der Staat durch den Krieg - auf Grund des enttäuschenden Sieges oder der Niederlage - in eine Krise. Er wurde zwar demokratisiert, aber nicht mit dem neuen Ansehen bekleidet, welches sowohl von den wirtschaftlich und militärisch führenden Schichten als auch von der breiten Volksmasse-von der Unter- und Mittelschicht bis zum Proletariat - anerkannt worden wäre. Das Phänomen hatte Anknüpfungspunkte in der Vorkriegszeit: die zu skrupellose Drohung mit militärischer Macht, unter Bismarck und hauptsächlich nach Bismarck; der Übergang vom Freihandel zum Protektionismus und auch zum Überwiegen von Monopolen und Oligopolen; die Tendenz, die Staatsgewalt zu stärken, um das Aufbegehren der Massen zu absorbieren; der deutsche, russische, französische, italienische Nationalismus und derjenige anderer erwachender Völker, wobei die kleineren nicht weniger virulent waren; die Am.breitung des Nationalismus von den führenden Schichten auf die Massen; die Verherrlichung des Irrationalismus; die Zerrüttung und die Korruption der parlamentarischen Regime, aber auch der monarchischen Autokratien. All diese Krisenerscheinungen trafen bei Entfesselung des Krieges zusammen. Ausgebrochen war dieser jedoch auf Grund des Wettrüstens, gerade auch im maritimen Bereich; wegen der akuten Differenzen zwischen Österreich-Ungarn und dem Schützling der Russen Serbien; auf Grund der Einkreisungspsychose und dem Hegemoniestreben Deutschlands und auf Grund des Automatismus von formell zwar defensiver, aber de facto präventiver Militärbündnisse. Es war ein absurder Krieg, da die europäischen Nationen inzwischen gewinnbringend hätten zusammenarbeiten müssen, um ihre eigene Stellung in einer Welt zu sichern, welche sich nicht mehr damit abfand, von ihnen dominiert zu werden. Eine friedliche Lösung der Probleme wäre möglich gewesen, während der Krieg sie verschärfte und eine Lösung unmöglich werden ließ. Der Sieg der Demokratien bekam der Demokratie dort gut, wo sie schon länger im Sattel war. Er schwächte sie dort, wo es ihr nicht rechtzeitig gelungen war, sich zu konsolidieren und zu akklimatisieren. Paolo Pombeni hat mit seiner Behauptung recht, daß der Faschismus und der Nazismus politische Antworten der Nachkriegszeit auf konstitutionelle Krisen waren, welche in Italien und Deutschland seit vor dem Krieg heranreiften2 • Ich möchte außerdem die psychologische Dimension der Schützeugräbengeneration hervoi'streichen, welche den Parlamentarismus in den Vgl. P . Pombeni, Demagogia e tirannide. Uno studio sulla forma-partito del fascismo, Bologna 1984, S. 493.

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besiegten - oder wie im Falle Italiens, in den nicht genügend siegreichen Ländern nur schlecht verkraftete. Charakteristisch sind so zum Beispiel die Briefe des Historikers und damaligen Philosophen Adolfo Omedeo und des Rechtsgelehrten Piero Calamandrei von der Front - welche Montecitorio verabscheuten, ohne die antiparlamentarische Diktatur vorherzusehen, der sie sich dann entgegenstellen sollten. Ihr kritischer Sinn hat sie, aber nicht viele andere (!), vom Glauben an die Mythen bewahrt, die schon in der Vorkriegszeit gegärt hatten, sich nach dem Krieg ausbreiteten und zur Dauer des Faschismus beitrugen (und letztendlich auch zu seinem Verlust des Sinnes für Grenzen), so wie es Emilio Gentile dargelegt hat. Andererseits teile ich nicht das Urteil Pombenis, welcher Rußland aus der Zahl der Länder ausschließt, in denen die Nachkriegsdiktatur die Antwort auf die konstitutionelle Krise war. Sicherlich war die Krise in Rußland auf Grund der Rückständigkeit des Landes - vel tiefer als in Italien und in Deutschland. Der Zusammenbruch des Zarentums war gleichbedeutend mit dem Zusammenbruch der gesamten Gesellschaft, angefangen bei genau den Grundlagen der Wirtschaft, nämlich auf jenen Sektoren, die sich produktionsmäßig schon vom reinen Minimum entfernt hatten, und der militärischen und zivilen Administration. Eine parlamentarische Demokratie hatte es in Rußland nie gegeben, auch nicht rr.it der 1906 eingeführten Duma, und die provisorische Regierung von 1917 kam nicht dazu, sie einzuführen. Der darauffolgende Bolschewismus war gänzlich revolutionärer Natur und verlangte weder den Konsens der vorherigen Machteliten, noch hätte er ihn je erlangen können. Es reichte ihm, die Friedensbedingungen Deutschlands zu akzeptieren, welches selbst wenige Monate später besiegt wurde. Kurz und gut: eine totale Revolution an Stelle des Kompromisses zwischen Konterrevolution und Revolution, welche dem Faschismus und dem Nazismus inhärent ist. Dies machte die kommunistische Revolution nach Ablauf der ersten Phase wirklich sowjetisch, totalitärer und nicht weniger totalitär als jede andere Diktatur. Sicher, Totalitarismus ist kein Konzept von eindeutiger Stichhaltigkeit. Auch auf dem Höhepunkt des stalinistischen Totalitarismus, als jede, auch die absurdeste Verrücktheit des Diktators unanfechtbares Gesetz war und ein Befehl vom ihm ausreichte, Massen auszurotten, sowie die Spitzen der Administration, der Partei, der Armee und derselben Geheimpolizei, welche die blutigen Säuberungsmaßnahmen unternahm, mit genauso verleumderischen wie unglaublichen Anklagen zum Tode zu verurteilen, wurde die UDSSR nicht von Stalin allein regiert. Tausende kleiner Despoten handelten auf jeder Ebene gemäß ihren Privatinteressen, welche Stalin unmöglich kontrollieren oder auch nur kennen konnte - während viele andere Sowjetbürger sich im Interesse des Landes um eine Einschränkung der Missetaten bemühten. Aber den Konzepten der politischen Wissenschaften fehlt, trotz der Fortschritte, die sie in diesem Jahrhundert vorzuweisen haben, nicht nur die Gültigkeit derjenigen der exakten Wissenschaften - sie sind immer geprägt von wechselnden historischen Erfahrungen. Auch die Demokratie ist ein labiles Konzept. Es genügt, die Grenze zwi-

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sehen Italien und der Schweiz zu passieren, um zu sehen, daß es sich um zwei verschiedene Demokratien handelt. Das Konzept des Totalitarismus entsprang in den zwanziger Jahren den Köpfen der Faschisten und der Nazis und einiger Ideologen der kommunistischen Linken, als Selbstlob ihrer jeweiligen Ideale. Er wurde ein Vereidigungsmittel der Demokratie, nachdem diese sich zur Verteidigung entschlossen hatte. Sicherlich waren die sozialen Inhalte des kommunistischen Totalitarismus, noch während der stalinistischen Kollektivierung, völlig verschieden von dem faschistischen und dem nazistischen Totalitarismus, welche ihrerseits ebenfalls voneinander verschieden waren, auf Grund der divergierenden Ideologien und auf Grund der ungleichen Beziehungen zwischen Staat und Partei (man müßte außerdem die verschiedenartigen Beziehungen zwischen Kirche und Staat ansprechen), welche Pombeni auf vortreffliche Weise in seinem Buch analysiert. Aber es ist nicht vertretbar zu behaupten, daß zu den Ursachen der russischen Revolution jener Druck auf Änderung der Verfassung nicht zu zählen sei, welcher jedoch in Italien und Deutschland existierte. Im Gegenteil: die Notwendigkeit, in Rußland eine zufriedenstellende verfassungsmäßige Ordnung einzuführen und das Fehlschlagen aller daraufhin ausgerichteter Versuche, trieben Rußland auf die radikale Revolution zu. Die Agrarreform nach Beseitigung des Zarentums hätte von jener konstituierenden Generalversammlung eingeführt werden können, die drei oder vier Generationen russischer Revolutionäre sich erwünscht hatten. Rußland wurde nach Überschreitung der Schwelle zur revolutionären Diktatur totalitär, weil die Partei, welche sie wohl oder übel ausübte, nicht mehr zurück konnte, wollte sie nicht an den Galgen der Konterrevolutionäre enden. Die faschistische Partei lief diese Gefahr weit weniger. Dennoch geriet auch sie nach dem Mord an Matteotti in gewisser Weise in diese Gefahr. Dies war auch das Argument, welches es den Milizkonsuln erlaubte, Mussolini Ende des Jahres 1924 zu dem Maß von Diktatur mit totalitärer Tendenz zu bewegen, welche die italienische Situation erlaubte. Pombeni gibt jedoch ehrlicherweise zu, daß seine Quellen der russischen Geschichte bescheidener Natur sind. So ist in der Tat das von ihm zitierte Werk Carrs für einige Aspekte auch äußerst informationsreich, aber für andere ganz unkritisch. Zu behaupten, daß es sich im Fall von Faschismus und Nazismus um demagogische Tyrannenherrschaften handelte und in der UDSSR nicht, ist reines Wunschdenken. In der UDSSR ist heute noch eine demagogische Tyrannenherrschaft an der Macht, was nunmehr zweifelsfrei dokumentiert ist. Sie legt jedoch eine Beständigkeit an den Tag, die Faschismus und Nazismus nicht besaßen. Dies beruht auch auf der Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft (welche dazu führte, daß auch heute noch der Lebensstandard in der UDSSR niedriger ist als der in der italienischen oder deutschen Diktatur vor Kriegsbeginn) und auf Stalins Gerissenheit im Gegensatz zu Hitlers Größenwahn und Mussolinis Leichtfertigkeit. Er hatte sich der Triebkraft einer so universalen Idee, wie des Kommunismus bedient und hatte den Vorteil, sie nicht in Eile realisieren zu

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müssen, da es sich hier um eine Idee handelt, die in keiner Weise an das Leben ihres Begründers geknüpft ist. Das schließt aber nicht aus, daß Stalin das Führerprinzip bewußt aufgenommen hat (und er ließ es 1934-35 von allen Parteien der kommunistischen Internationale annehmen) nachdem er dessen Wirksamkeit in Hitlers Deutschland erkannt hatte. Er imitierte auch, nur weitaus großflächiger, das Massaker einer Anzahl der Führer und Militanten der eigenen Partei, nachdem er festgestellt hatte, wie dies Hitler am 30. Juni 1934 gestärkt hatte. Der russische Sozialdemokrat Woytinsky, der mit Lenin an der Revolution von 1905 teilgenommen hatte, erzählt in seinen auch auf Italienisch erschienen Memoiren, daß er, seit 1922 im italienischen Exil, noch vor dem Marsch auf Rom, sofort feststellte, wie der Faschismus die bolschewistische Organisation des Aufstandes nachahmte, freilich in einem gänzlich andersartigen sozialen Umfeld. Der Bolschewismus, als marxistischer Kommunismus den russischen Umständen angepaßt, reicht auf die Zeit vor dem ersten Weltkrieg zurück, auch wenn er nur mit dessen Hilfe siegen konnte. Seine Feinde sind der Kapitalismus und die Überbleibsel des Feudalismus oder jedenfalls der präkapitalistischen Gesellschaft. Die Demokratie und die Autokratie sind für ihn nur ein Überbau. Die Feinde des Faschismus und des Nazismus sind die parlamentarische Demokratie und die kommunistischen Parteien, die freilich, wissentlich oder blind, dieser Demokratie Kräfte entziehen und ihr Ersetzen durch revolutionäre Diktaturen von rechts erleichtern. Solange die Demokratien und die kommunistische Diktatur unversöhnlich bleiben, machen der Faschismus und der Nazismus Fortschritte, unter Mithilfe oder Passivität der Demokratien. Sogar Stalin wird dem Nazismus 1939 durch den Pakt mit Hitler weiterhelfen, aufgrund seines Mißtrauens gegen der Kollaboration mit den Demokratien, die er 1935 mit den Bündnissen mit Frankreich und der Tschechoslowakei begonnen hatte und die sich mit der Kapitulation von München 1938 als nutzlos erwiesen hatte. Die Koexistenz von Konterrevolution und Revolution im Nazismus, die Sprungfeder seines Aufstiegs sowie der persönliche Charakter Hitlers Diktatur - ge bunden an das Leben eines Menschen, der (genau wie Mussolini) jene Koexistenz weder institutionalisieren wollte noch konnte, (während die Verstaatlichung der Wirtschaft die kommunistische Diktatur in Rußland institutionalisierte) wurde die Quelle seines Untergangs. Dies zwang ihn zur Abrechnung sowohl mit den Demokratien als auch mit der UDSSR. Dieser erklärte er den Krieg, da er trotz Stalins Treue dem abgeschlossenen Pakt gegenüber ihre zukünftige Leistungsfähigkeit fürchtete; jenen, da er ihre Fähigkeiten einer baldigen Revanche nach so vielen Kapitulationen unterschätzte. Er rechnete nicht damit, daß die liberalen Demokratien - hervorgegangen aus inzwischen lang vergangeneo Revolutionen - sich in der Stunde der größten Gefahr mit revolutionärer Energie zum Handeln aufraffen können, wenn auch nicht mehr im Frankreich der Dritten Republik, die doch noch 1914-1918 dazu fähig gewesen war, so doch in England und den Vereinigten Staaten und ebenso in den Widerstandsbewegungen des alten Kontinents.

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Auch Mussolini sah dies nicht. Sein Fehler war besonders absurd, da für ihn die Alternative zu einem gleichzeitig geführten Krieg gegen die einen und die anderen nicht darin bestand, zuerst die einen und zu einem späteren Zeitpunkt die anderen zu schlagen, sondern einfach die Neutralität im Stil General Francos gewesen wäre. Das katastrophale Ausmaß der Fehler Hitlers und Mussolinis ist untrennbar mit den Widersprüchlichkeilen ihrer Regime verbunden. Alle Menschen irren, und je mächtiger sie sind, um so schwerwiegendere Folgen haben ihre Fehler. Je mehr ihnen die Macht zu Kopfe steigt, umso weniger sind sie in der Lage, einmal begangene Fehler wiedergutzumachen. In einem relativ stabilen System können leitende Personen, die Fehler begehen, ersetzt werden, bevor es zu spät ist. Natürlich können auch leitende Personen ersetzt werden, die keine Fehler begehen - oft geschieht dies zum Nachteil des Systems. Der Faschismus und der Nazismus gaben sich nicht mit einer relativen Stabilität zufrieden, sie wollten die absolute Stabilität. Gerade dadurch verurteilten sie sich selbst im entscheidenden Augenblick zur Instabilität. Die absolute Stabilität setzte den totalen Gehorsam gegenüber dem Diktator voraus, der dennoch nicht dafür garantieren konnte, daß sein Nachfolger ihn sich in gleichem Maße verschaffen könne. Er konnte es um so weniger garantieren, da er ein Revolutionär war, dessen Aufstieg mit Hilfe konterrevolutionärer Kräfte gewährleistet worden war. Die revolutionäre Antriebskraft, welche sich im Inneren nur bis zu einer gewissen Grenze auswirken konnte, suchte sich außerhalb ein Ventil. Für Hitler hatte die Revolution ihre Mission in der deutschen Kolonialisierung Ost-Europas. Stalin begann in entgegengesetzter Richtung. Er tobte sich, wenn auch tyrannisch und über alle Vernunft als Revolutionär im eigenen Land aus, im Wissen daß die Revolution nicht zu exportieren sei. Dann exportierte er sie, mit Eroberungen, die er auf napoleonische Art erreichte, nur mit mehr fanatischer Grausamkeit. Das in der UDSSR in Kraft befindliche System war aber nicht von ihm geschaffen worden sondern von seinem Vorgänger und war in kein Weise an seine Person gebunden, was ihn nur blutrünstiger als notwendig machte und, geben wir es zu, fähiger zu verwegenen Initiativen. Ein Jahrzehnt war es ein kohärentes, restlos revolutionäres System gewesen. Als solches blieb es sehr schwach, weil ein integraler Sozialismus ohne die Unterstützung einer totalitären Diktatur nicht sogleich zu verwirklichen war. So wurde gerade mit Stalin auch das bestehende System der UDSSR eine Mischung aus Revolution und Konterrevolution, aber bis zum Sieg über Hitler überwog die Revolution. Die Revolutionen und Konterrevolutionen in ein und dem selben historischen Zeitabschnitt müssen aus einer globaler Perspektive betrachtet werden, welche freilich weder die grundsätzlichen Unterschiede noch die effektiven Gemeinsamkeiten vernachlässigt. Faschismus und Nazismus sind zu betrachten hinsichtlich ihrer Beziehungen und Unterschiede zueinander und ebenso zum Kommunismus und

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den Demokratien. Sie sind unter allen besonderen Aspekten einer gewissen Wichtigkeit ihrer Geschichte zu betrachten, und die hier anwesenden italienischen Autoren, von denen nur zu sagen wäre, daß sie weitaus gründlichere Kenner der Materie - des Faschismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen - sind, als ich es bin, haben dies ausgezeichnet zustande gebracht. Der Faschismus und der Nazismus entstanden aus der Schwierigkeit, die Demokratie am Leben zu erhalten, im Gegensatz zum Bolschewismus, welcher aufgrund der Schwierigkeit siegte, die Demokratie einzuführen. Sie waren weder das Werk von Supermännern oder Dämonen sondern von resoluteren, gewalttätigeren und geschickteren Politikern, als es ihre Rivalen oder Gegner waren. Sie waren das Produkt einer Epoche - was aber nicht heißt, daß eine Wiedergeburt in anderer Form und Zeit a priori ausgeschlossen werden kann. Auch heute funktioniert die Demokratie nicht immer so, wie sie sollte. Die Schwächung des Staates kann erneut zum Zusammenbruch der Demokratie führen. Dieses Mal könnte der Kommunismus, wie es schon in verschiedenen Ländern geschehen ist, davon profitieren, aber genauso gut könnte es eine neue Diktatur von rechts sein. Man könnte uns vorwerfen, nur ideologische und politische Geschichte und nicht auch sozialwirtschaftliche vorgetragen zu haben. Es ist evident, daß ich, als Mitdirektor einer Studienreihe der Wirtschaftsgeschichte, diese sehr schätze. Ich wäre erfreut an einem Kongreß teilzunehmen, der die gründlichen Untersuchungen von "La transizione dall'economia di guerra all'economia di pace in Italia e in Germania, dopo Ia Prima guerra mondiale" , herausgegeben von Peter Hertner und Giorgio Mori in "Annali deii'Istituto storico italo-germanico in Trento, Quademo 11" fortsetzt, sie auf den Zeftraum inklusive des 2. Weltkrieges ausweitet, die Auswertung der inzwischen zahlreichen Analysen der sozialen Komposition der faschistischen und nationalsozialistischen Parteien einbezieht und, besser noch, sie der Analyse der sozialen Komposition der prä- und postfaschistischen und der prä- und postnazistiebe n Parteien gegenüberstellt. Aber man kann nicht alles auf einmal machen. Und wenn es möglich wäre, wären die Historiker schnell arbeitslos. Also ist es besser schrittweise vorzugehen.

Der Nationalsozialismus in Deutschland. Probleme der Interpretation Von Kar! Dietrich Bracher

I.

Der Nationalsozialismus war wie der Faschismus nach eigenem Selbstverständnis eine Erscheinungsform totalitären Herrschaftsanspruchs, bestimmt sowohl durch einen militanten Antikommunismus wie durch den prinzipiellen Gegensatz zur rechtsstaatlich-pluralistischen, zur liberalen und parlamentarischen Demokratie. Wissenschaftlich fragwürdig bleibt jedoch die weitverbreitete Tendenz, ihn mit allen antikommunistisch-autoritären Bewegungen und Systemen unter den Begriff des Faschismus zu fassen. Diese Ausweitung zum Gattungsbegriff verwischt den Eigencharakter national-antidemokratischer Regime in Spanien (Franco), Portugal (Salazar), Ungarn (Horthy), Polen (Pilsudski), Rumänien (Antonescu), Österreich (Dollfuß-Schuschnigg), und Südamerika (Peron). Vor allem aber sind italienischer Faschismus und deutscher Nationalsozialismus trotz Ähnlichkeiten und Wechselbeziehungen nach Ursprung, Erscheinungsform und Zielen primär nationalgebunden und gerade in ihrer Eigenart und Verschiedenheit erst voll zu erfassen. Wie alle totalitären Bewegungen ein Produkt des 20. Jahrhunderts und konkret des Ersten Weltkrieges, ist der Nationalsozialismus aus spezifischen politischen, sozio-ökonomischen und geistigen Bedingungen der deutschen und italienischen Modernisierungsgeschichte entstanden; seine herrschaftspolitische Verwirklichung vollzog sich in dem Faschismus vergleichbaren, doch graduell und qualitativ verschiedenartigen Formen; die politisch-ideologischen Ziele divergierten ebenfalls weitgehend. Der italienische Faschismus erstrebte eine Totalisierung des Staates und die (eher traditionalistische) Wiedergewinnung des "Impero Romano". Es war die Mobilisierung von Bedürfnissen und Sehnsüchten nach etwas, was man nicht hatte: im Faschismus das Ziel, einen seit dem Ende des Römischen Reiches schwachen Staat stark zu machen, um wieder Rom zu sein. Im Nationalsozialismus hingegen dominierte der geopolitisch und biologisch begründete Drang zur völkischen Einheit, um einen schon starken Staat einzusetzen als Instrument einer überstaatlichen, revolutionär verstandenen, rassistischen Expansions- und Lebensraumidee, die über alle traditionellen Staats- und Herrschaftsgrenzen hinausging.

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II.

Der Aufstieg des Nationalsozialismus war durch die Probleme der demokratischen Entwicklung in einem starken Obrigkeitsstaat, durch die Empörung gegen die Niederlage von 1918 und den Versailler Friedensvertrag sowie durch den zur Lebensraumidee gesteigerten großdeutschen Reichsgedanken geprägt. Die politisch-sozialen Krisen der Weimarer Republik ermöglichten den charismatisch stilisierten Aufstieg eines "Führers", des vom Österreichischen Antisemitismus und Antislawismus, zugleich von Bewunderung der preußisch-deutschen Machtpolitik geprägten Kriegsveteranen Adolf Hitler (1889-1945), der das rassistische Herrschaftsprinzip über einen autoritären Staatsbegriff hinaus zum totalitären Ziel erhob. Ganz anders als im Falle des italienischen Faschismus oder verwandter Regime geschah dies in einem hochindustrialisierten, zwar sozial und konfessionell zerklüfteten, doch ökonomisch und militärisch potenten Land, in dem die Furcht eines breiten Bürgertums vor dem Absinken ins Proletariat, die antibolschewistische Bollwerkspropaganda und das politisch-soziale Ordungsdenken besondere Wirkung entfalten konnten. Das Programm des "nationalen Sozialismus" (1920) bot schon im Begriff, der die Synthese der beiden stärksten Tendenzen der Epoche verhieß, eine große integrierende Weltanschauung - im Unterschied zum Faschismusbegriff, dessen Anwendung auf den Nationalsozialismus seit jener eher bagatellisierend wirkt und jedenfalls dessen "substantiellen" Anspruch, die revolutionäre Anziehungskraft und die von der Linken heftig bestrittene antibürgerliche, sozialistische Komponente nicht zum Ausdruck bringt. Die Bezeichnung des Nationalsozialismus als "deutscher Faschismus" wird denn auch vor allem von marxistischen Agitatoren und Theoretikern, freilich unter erheblichem Einfluß auf die weitere wissenschaftliche Diskussion zumal der letzten 20 Jahre, mit geradezu fanatischem Nachdruck propagiert; sie dient der Verfemung des Totalitarismusbegriffs und verhindert den unliebsamen Blick auf revolutionäre oder sozialistische Komponenten: entsprechend dem Monopolanspruch der Linken auf die Revolutions- und Sozialismusparole, die der Nationalsozialismus so empfindlich durchkreuzt. Die Ideologie des Nationalsozialismus, wie der Bolschewismus eine Form politischer Religion, suchte den Aufstieg einer klassenlosen, antiparteilichen Sammelbewegung durch ebenso umfassende wie radikale Kampf- und Ordnungsvorstellungen zu begründen, die verschiedensten Interessen und Bedürfnissen Erfüllung versprachen: die Versöhnung der Arbeitermassen mit dem modernen Nationalismus; durch sozial-imperiale Verheißungen die totale Einigung in einer "Volksgemeinschaft" anstelle des demokratischen Pluralismus und des Klassenkampfes als Lösung der politisch-sozialen Probleme des Massenzeitalters; die ambivalente Verbindung von romantischrückwärtsgewandten und technisch-modernistischen Motiven; militärisches und rassistisches Denken zur Mobilisierung und zum Zusammenschweißen der "Blutsnation" gegen alle fremden, "minderwertigen" Elemente; der po-

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puläre Kampf gegen Versail!es, gesteigert vom Revisionismus zum Expansionismus, zur Forderung nach größerem "Lebensraum" für die angeblich rassisch überlegenen Deutschen, Germanen, Arier, der globalen Endvision des Nationalsozialismus; schließlich Führerprinzip und Führerkult als zentrales Strukturprinzip, der biologische Antisemitismus als die vom Religiösen ins Politische und Soziale übersetzte absolute Feindvorstellung, wie sie totalitäre Bewegungen zur Lenkung und Ablenkung der mobilisierten Aggressivität brauchen: Rassenfeind statt Klassenfeind. Die Machteroberung des Nationalsozialismus und der Aufbau des "Dritten Reiches" haben sich als pseudodemokratische Machtergreifung, die im paradoxen Begriff der "legalen Revolution" Traditionelles und Revolutionäres verband, ungleich schneller vollzogen als im Faschismus. Schon nach fünf Monaten (Juli 1933) war das Einparteisystem, ein Jahr später die Omnipotenz des Führerstaates mit der Unterwerfung aller Bereiche des sozialen und geistigen Lebens besiegelt. Zwar blieb ein Dualismus zwischen Partei und Staat, zahlreiche Rivalitäten und Kompetenzkonflikte dauerten fort. Aber deshalb von bloßer Improvisation oder a narchischer "Polykratie" zu sprechen und die totalitäre Grundstruktur zu leugnen, verkennt die zentrale Rolle Hitlers, dessen Stellung als oberste Instanz und Abgott des Systems dadurch noch gestärk: wurde. An die Stelle jeder staatlichrechtlichen Ordnung trat schließlich der Führerbefehl, der überstaatliche SS-Staat, und im Unterschied zum Faschismus stand auch eine friedliche Ablösung Hitlers nie zur Debatte, blieb allein das (am 20. Juli 1944 gescheiterte) Attentat und die totale militärische Niederlage. Von den verbliebenen Organisationen haben sich nur die Kirchen zeitweilig der vollen Gleichschaltung entzogen. Neben der fast lückenlosen "Erfassung" der Bevölkerung durch NS-, Partei- und Berufsgliederungen entstand im Eliteverband der SS ein Machtapparat, der in der perfektionistischen Verfolgungs- und Vernichtungspraxis (SS-Staat) der Konzentrationslager wie in expansiver Germanisie rungspolitik die totale Verwirklichung des nationalsozialistischen Idealreiches nach dem "Endsieg" sicherstellen sollte. Dem entsprach der kriegerische Angriff, der seit 1938 zuerst revisionistische, dann imperialrassistische Ziele verfolgte, mit dem Höhepunkt der Herrschaft über den Großteil von Europa (1942) und der brutalen "Endlösung der Judenfrage". Vorhandene Widerstandsbewegungen wurden erst wirksam, als das totalitä re System militärisch von außen zerbrochen wurde.

111. Am wechselnden Verhältnis von Innen- und Außenpolitik, von Ideologie und Herrschaftspraxis werden die charakteristischen Züge des Nationalsozialismus und seiner Verwirklichung im "Dritten Reich" besonders deutlich. Im Auf und Ab der Geschichte treten beide Aspekte immer wieder gleicher-

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maßen hervor. Die Agitation Hitlers und seiner Bewegung war zuerst stark außenpolitisch orientiert: der Kampf gegen Versailles beherrschte die Gründungsphase der Partei nach dem Ersten Weltkrieg. Aber ihr Vorläufer in Böhmen, die deutsche Arbeiterpartei (DAP) von 1904, war von deutschsozialistischen, antitschechisch-gewerkschaftlichen Triebkräften bestimmt, die neben dem Antislawismus vor allem die antikapitalistische und antibürgerliche Stoßrichtung betonten. Das Wechselverhältnis von Innen- und Außenpolitik kennzeichnet auch den Kampf um die Macht: radikaler Revisionismus gegen die internationale Ordnung verbindet sich mit der innenpolitischen Revolutionierung im Kampf sowohl gegen Kommunismus und Marxismus wie zugleich gegen die parlamentarische Demokratie; dabei ist dem Rechts- wie dem Linksextremismus die antiliberale Position gemeinsam. Sehr deutlich hat Hitler schon in Januar 1932 in einer Rede vor dem Industrieclub Düsseldorf die Verzahnung von innen- und außenpolitischer Machtpolitik hervorgehoben und unmittelbar nach seiner Regierungsübernahme vor der militärischen Führung wiederholt (3. Februar 1933): zuerst diktatorische Gleichschaltung, dann Expansion. Die innere Konsolidierung der Machtergreifung 0933/34) diente der Vorbereitung der Expansion. Hitlers Weltanschauungsziele wurden in allen wesentlichen Zügen (Lebensraum, Judenverfolgung und -Vernichtung, Herrschaft der stärkeren über die schwächere "Rasse") konsequent verfolgt: der Primat der Ideologie blieb bis zum Ende bestimmend. Dabei tritt auch die innenpolitische Bedeutung der Lebensraumpolitik zunehmend hervor. In den weiteren Planungen war nach der Phase der Expansion eine neue Periode des inneren Herrschaftsausbaus vorgesehen, der die endgültige Verwirklichung des Herren- und "Sklavenstaates" (A. Speer) zum Ziel hatte. Die zeitgenössische Unterschätzung solcher Planungen und Strategien sollte heute nicht wiederholt werden, wozu die Anhänger der Polykratie- und Improvisationsthese neigen. Ohne Führerprinzip und totalitäre Ideologie ist die Revolutionäres und Traditionelles verbindende Durchschlagskraft des Hitler-Regimes nicht zu erklären. IV.

Betrachten wir nun also diesen besonderen Charakter des Nationalsozialismus etwas näher, so stellen wir fest: Die Geschichte des Nationalsozialismus ist die Geschichte seiner Unterschätzung. Dieser Erfahrung der zwanziger und dreißiger Jahre kommt auch heute, im Zeichen einer fast hektisch aktualisierten Faschismus-Diskussion wieder besondere Bedeutung zu. Unterschätzt oder verkannt wird dabei nicht zuletzt die Tatsache, daß der Nationalsozialismus in seinem Grundcharakter wie in seinen verschiedenen Aspekten und Erscheinungsformen von einer Reihe durchgängiger und fundamentaler Ambivalenzen bestimmt ist, die zuweilen die Form von Antinomien annehmen. Alle Versuche der Zeitgenossen wie der späteren Kriti-

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ker und Analytiker, das Phänomen Nationalsozialismus auf eine eindeutige Formel und unter ein einziges, einheitliches Kriterium der Beurteilung zu bringen, sind unbefriedigend und zu Recht umstritten geblieben. Das gilt auch für die neubelebte Diskussion der letzten Jahre: besonders für die "neu-linke" und marxistische Dogmatik einer pauschalen Faschismus-Interpretation, die einseitig von der reaktionären, konterrevolutionären Natur und Funktion eines mißverständlich so genannten "deutschen Faschismus" ausgeht. Es trifft aber auch auf neuere revisionistische Interpretationen zu, die sich gegen die "altliberale" Totalitarismusforschung wenden und einer relativierenden, die "improvisatorische" Macht- und Herrschaftspolitik des Nationalsozialismus betonenden Deutung das Wort reden. Sie möchten die Schuld- und Verantwortungsfragen zugunsten einer angeblich moderneren, realistischen Analyse hinter sich lassen, geraten dabei aber in die Gefahr einer neuerlichen Unterschätzung und Bagatellisierung des Nationalsozialismus selbst, wie sie auf andere Weise auch das linke Allerwehsgerede von Faschismus und Reaktion mit sich bringt. Beide Richtungen, Marxisten wie Relativisten, sind je von ihrem Standpunkt um Originalität bemüht, doch führt ihre betont neue Interpretation in die Nähe jener alten Muster, die um 1933 einer mißdeutenden Verkennung der Vorgänge von links und rechts V:::>rschub leisteten: der antikapitalistischen Verschwörungstheorie oder den Zähmungs- und Normalisierungskonzepten, die sämtlich Hitler nicht ernst nahmen. Während die einen die marxistischen Thesen vom bürgerlich-liberalen und reaktionären Charakter des "Faschismus" insgesamt erneuern, betonen die anderen seine Inhaltslosigkeit und sprechen in Verkennung der damaligen politisch-moralischen Prioritäten von einer fast schon normal anmutenden, keineswegs planvollen Machtpolitik im Dritten Reich: sie erwarten von der Ausblendung der historischen Schuldfrage geradezu eine neue Epoche der NationalsozialismusForschung. Damit aber schrumpft die ideologische und totalitäre Dimension des Nationalsozialismus so zusammen, daß die Barbarei von 1933-45 als moralisches Phänomen verschwindet. Es könnte fast scheinen, als bahne sich eine neue Welle der Verharmlosung oder gar Apologetik an. Für beide Richtungen ist jedenfalls charakteristisch, daß sie das Eigengewicht und den zutiefst ambivalenten Charakter des Nationalsozialismus zu wenig ernst nehmen. Die modische Kritik an der bisherigen Forschung, mit der sie der angeblich allzu rationalen und moralisierenden Deutung in der Literatur der vierziger bis sechziger Jahre eine realistische "Normalisierung" der Nationalsozialismus-Forschung entgegenstellten, stößt überdies ins Leere. Nicht zuletzt im Zeichen der vorschnell so viel gescholtenen Totalitarismus-Interpretation hat die wissenschaftliche Forschung und auch die ernsthafte politische Publizistik seit langem den vielgestaltigen, oft in sich widersprüchlichen Charakter des Nationalsozialismus und seiner Herrschaft zur Kenntnis genommen, ja als einen wesentlichen Ansatz der Interpretation entwickelt. Ausgehend von grundlegenden, noch immer gültigen Werken aus der Frühzeit des Nationalso zialismus-Forschung, wie Ernst

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Fraenkels Dual State (1941), ist gerade auch in der Periode intensiver Totalitarismus-Forschung die Diskrepanz zwischen dem monolithischen Herrschaftsanspruch und den dualistischen oder polykratischen, vom anarchischen Kompetenzwirrwarr eines "gelenkten Chaos" bestimmten Herrschaftsstrukturen erkannt und analysiert worden. Nun ist mit Recht bemerkt worden, die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den polykratischen Grundzug des Dritten Reiches ließen sich nicht ohne weiteres auf das außenpolitische Gebiet übertragen, wo Hitler stets an seinen Grundzielen der Rasse- und Lebensraumpolitik festhielt Aber auch dort gab es beträchtlichen Kompetenzwirrwarr. Auch wäre nach wie vor zu fragen, ob der Hinweis auf den polykratischen, oft anarchisch anmutenden Charakter nationalsozialistischer Innenpolitik wirklich das Wesentliche trifft und nicht eher Unvollkommenheiten der "Durchführung" - sofern es sich nicht überhaupt um die überall praktizierte Herrschaftstechnik des divide et impera handelt. An dieser Frage scheint sich mir die Beurteilung zu entscheiden und nicht an der doch immer schon augenfälligen, nie ernsthaft bestrittenen Feststellung eines Herrschaftswirrwarrs im Inneren des "Dritten Reiches" und einer stärkeren Geradlinigkeit des außenpolitischen Konzepts. Das heißt aber wiederum nichts anderes, als daß die Ambivalenz des Nationalsozialismus von Anfang an und in allen ihren Konsequenzen ernst zu nehmen ist, daß sie nicht nur verstanden wird im Sinne und als Folge eines geschickten Machiavellismus Hitlers, sondern geradezu als das Wesen eines unverrückbar festgehaltenen Programms, oder besser einer ideologischen Fixierung, die durchaus Widersprüchliches einschloß, ohne von dem Ziel der radikalen Verwirklichung abzulassen. In der Tat sagt der variierende taktische Gebrauch der Mittel für sich noch gar nichts über die letztendliche Konsequenz bei der Verfolgung der Ziele aus. Dies scheint mir von all denen übersehen zu werden, die das Improvisatorische und Opportunistische in Hitlers Politik als bloßen "Machiavellismus" ohne Rücksicht auf die Zielsetzung interpretieren und ihn einen "Mann der Improvisation, des Experimentierens und der Augenblickseingebung" nennen. Es handelt sich dabei um eine Verwechslung von Taktik und Strategie, von Machtpolitik und Zielverwirklichung. Wiederum: es geht hier nicht um die Frage nach dem Primat von Innen- oder Außenpolitik, sondern um nichts mehr und nichts weniger als die Feststellung, daß Widersprüche und Ambivalenzen im Verhältnis von monolithischer und dualistischer oder polykratischer Herrschaftsform wie in der Verfolgung der Endziele zum NS-System selbst gehören, daß sie aber nichts besagen gegen den definitiven und letztlich auch konsequenten Willen Hitlers und seiner Politik, diese Ziele mit allen Mitteln anzustreben - nicht um der bloßen Machtausübung willen, sondern gegebenenfalls auch auf das Risiko des Krieges und der Gefährdung aller bisherigen "Erfolge" hin, wie dies hesonders in den Entscheidungen von 1937-1940 sichtbar wird. Es kommt noch hinzu, daß eine Trennung von Innen- und Außenpolitik in dem klaren Sinne der Unterscheidung zwischen Planung und Improvisation auch

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deshalb nicht möglich erscheint, weil gerade ihre unauflösliche Verflechtung und Wechselbeziehung zu den Grundzügen des Regimes gehört. Im übrigen dürfte auch kaum zu klären sein, ob solche Grundpositionen wie der Rassismus stärker außen - oder innenpolitisch begründet sind und ob sie eher für die Expansionspolitik oder für die innere Konsolidierung relevant werden.

V. Gegenüber der alten Streitfrage nach dem Verhältnis von Planung und Improvisation, von politischem Willen und zufälligem Reagieren in der nationalsozialistischen Diktatur verdient das Problem einer durchgängigen Ambivalenz von traditionellen und revolutionären Elementen im Nationalsozialismus weit mehr Aufmerksamkeit als bisher. Es ist bislang zumeist im Zusammenhang mit der Frage nach Kontinuität und Bruch in der NSAußenpolitik erörtert worden. Andere Ambivalenzen wären zu nennen, die von ebenso großer Bedeutung für Verständnis und Beurteilung des Nationalsozialismus und seiner Herrschaftswirkung sind. Zu den Begriffspaaren, denen.unter diesem Gesichtspunkt nachzugehen wäre, zählen etwa: Ideologie - Effizienz, Irrationalität - Rationalität, militärisches - ziviles Politikverständnis, autokratische - plebiszitäre Herrschaftstechnik, innere - äußere Politikziele. Auch wird die Ambivalenz in paradoxen Formeln zur Bezeichnung der widersprüchlichen Strukturverhältnisse deutlich: z.B. legale Revolution (1933), gelenktes Chaos, autoritäre Anarchie. Das Begriffspaar Tradition - Revolution ist aus diesen und anderen Teildefinitionen der Nationalsozialismus-Ambivalenz kaum herauszulösen. Sie alle sind Aspekte der grundlegenden Tatsache, daß man es beim Nationalsozialismus - wie bei anderen (programmatischen) Ideologien, die über Herrschaft durchgesetzt werden wollen, also mehr als bloße Theorie sind nicht mit einem geschlossenen System zu tun hat, sondern mit einer Reihe von Zielvorstellungen, die gerade durch ihre Vielseitigkeit politische Wirkung erreichen. Das gilt übrigens durchaus auch für die kommunistische Ideologie, deren Ziel- und Zukunftsvorstellungen im Widerspruch zum marxistischen Anspruch erhebliche Ambivalenzen aufweisen, ganz zu schweigen von ihrer tiefen Widersprüchlichkeit in und mit der politischen Praxis. Wie man das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Antinomien interpretieren kann, so sind auch die daraus stammenden Bewegungen geprägt von den Spannungen zwischen den nationalen, imperialen, internationalen Ideologien, die in der Epoche der Weltkriege mit neuer Intensität aufbrechen. Bei unserer Frage haben wir es im Grunde mit zwei Problemen zu tun. Zum einen handelt es sich um die Feststellung der tiefer liegenden Widersprüchlichkeit zwischen alten und neuen, zwischen retrospektiven und "progressiven" Motiven des Nationalsozialismus im Rahmen der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Zum anderen ist es der Revolu-

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tionsbegriff selbst, an dem sich die Kontroversen entzünden. Aber selbst wenn der revolutionäre Anspruch des Nationalsozialismus geleugnet, seine revolutionäre Wirkung bestritten wird, bleibt das Problem der Definition insofern bestehen, als dann der Nationalsozialismus als gegenrevolutionär, seine Herrschaft als Konterrevolution qualifiziert wird. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden. Das eine sind die unbestreitbar weltgeschichtlichen Konsequenzen der nationalsozialistischen Politik, die jedenfalls einer revolutionierenden Wirkung gleichkommen: für Deutschland wie für Europa, die bipolare Welt und die Dekolonisation. Das andere ist die Frage nach der revolutionären "Qualität" der nationalsozialistischen Ideologie und Herrschaft selbst, die seit dem Aufkommen des marxistischen und kommunistischen Faschismusbegriffs in den zwanziger Jahren und wieder mit seiner Renaissance in den sechziger Jahren weithin und selbstverständlich, doch zu Unrecht als entschieden gilt. Das Dilemma, vor dem sich hier auch die ernsthafte Literatur über Faschismus und Nationalsozialismus sieht, liegt natürlich vor allem auch in der Tatsache begründet, daß der Revolutionsbegriff geprägt und besetzt ist durch den Mythos von der "guten Revolution" - durch die Erbschaft des französischen (und des amerikanischen) Modells. Man glaubt den Begriff aus guten moralischen und intellektuellen Gründen nicht auf den Typus der nationalsozialistischen Machtergreifung anwenden zu können, selbst wenn man den marxistischen und kommunistischen Alleinanspruch auf die gute oder echte Revolution nicht akzeptiert, mit dem noch heute simplifizierend zwischen Putsch und Revolution unterschieden wird. Gewiß haben die Nationalsozialisten selbst sich als den großen Gegenschlag gegen die Französische Revolution gesehen, und 1933 hat Goebbels emphatisch ausgerufen: Mit dieser Machtergreifung werde .,das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen". Man unterliegt hier aber einem ähnlichen Denkfehler wie bei dem Versuch, eine Kritik an der Totalitarismustheorie mit dem Hinweis auf die tiefen Unterschiede zwischen dem linken und dem rechten Totalitarismus zu begründen. Die Behauptung eines qualitativen Unterschieds in intellektueller oder gar moralischer Hinsicht bedeutet keinen entscheidenden Einwand, sofern die Form der Herrschaft und ihre Auswirkung auf die Beherrschten und Betroffenen vergleichbar ist. Ähnlich steht es um die Anwendung des Revolutionsbegriffs. Man mag ihn wegen der Vagheit der Bestimmung und der Disparität der Phänomene im Vergleich, zugleich wegen des agitatorischen Mißbrauchs als eines polemischen Kampfbegriffs überhaupt für den wissenschaftlichen Gebrauch ablehnen. Man mag erwägen, nur noch im neutralen und positivistischen Sinne von Machtergreifungen, power seizures, zu sprechen. Hält man am Gebrauch fest, weil er ohnehin nicht mehr zu unterbinden ist, dann bleiben nur zwei Möglichkeiten: entweder den alten Revolutionsbegriff trotz allen Unterschieden (gegenüber dem französischen .Modell") auf sämtliche tiefergreifenden politischen Umwälzungen anzuwenden, mögen diese nun im Zeichen "linker" oder .,rechter", sonstiger oder keiner Ideologien erfolgen

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und mit verschieden starken sozialen Veränderungen einhergehen; oder ihn noch weiter zu fassen und auch groge, langfristige Änderungsprozesse einschneidender Art als Revolutionen (industrielle, soziale, Entwicklungs- oder Modernisierungs-Revolutionen) zu bezeichnen, wie dies ja weithin geschieht. In beiden Fällen der Begriffsbestimmung wird man dem Nationalsozialismus revolutionäre "Qualitäten" nicht bestreiten können. Er hat eine Machtergreifung und Gewaltordnung durchgesetzt, wie sie rascher und umfassender in der Praxis kaum zu bewerkstelligen ist. David Schoenbaum hat sie als Revolution der neuen Ziele und Mittel beschrieben, Joachim Fest das Hitler-Phänomen als die Form einer deutschen Revolution gedeutet. Als Machtergreifung neuen Typs besitzt die des Nationalsozialismus geradezu typologische Bedeutung, wenn man die verschiedenen Stufen des Prozesses von 1933/34 revolutions-soziologisch untersucht und mit der faschistischen, aber auch der Leninschen Machtergreifung vergleicht. In allen diesen Fällen handelt es sich um revolutionäre Vorgänge des 20. Jahrhunderts, die bewußt und betont mit neuartigen Mitteln des Terrors, der Kommunikation, der Kontrolle und des Zwanges arbeiten. Als eine Revolution älteren Typs im Sinne der klassischen Revolutionssoziologien etwa Cranc Brintons oder Hannah Arendts erscheint allenfalls die Februarrevolution von 1917, während die sogenannte Oktoberrevolution bei restriktiver Terminologie viel eher als Machtergreifung neuen Typs zu bezeichnen wäre. Auch im Falle des zweiten, weiteren Revolutionsbegriffs ist die Anwendung nicht nur auf Sozialismus und Kommunismus, sondern auch auf Faschismus und Nationalsozialismus durchaus zu begründen, wenn man deren epochale Wirkung und Nachwirkung bedenkt. Gerade Ernst Nolte, der die Renaissance eines generellen, im wesentlichen konterrevolutionär verstandenen Faschismusbegriffs (noch in der nichtmarxistischen Form) eingeleitet hat, spricht ja von der "Epoche des Faschismus". Daran stört zwar der Allgemeinbegriff des Faschismus, weil er allzu unversehens den Nationalsozialismus einschliegt und damit eigentlich - als "deutschen Faschismus" bagatellisiert. Doch bleibt die Epochenbetonung selbst durchaus richtig, und dies heißt denn auch, den weiteren Revolutionsbegriff auf diese rechtsdiktatorischen Bewegungen ebenso anzuwenden wie auf die Linksdiktaturen. In formaler Hinsicht mag also die Machtergreifung und die Weltwirkung des Nationalsozialismus als revolutionär bezeichnet werden, sofern dieser zugegeben vage und migbräuchliche Begriff heute, zwei Jahrhunderte nach seiner sehr konkreten Ausprägung in Amerika und Frankreich (mit grogen Unterschieden auch dort) überhaupt noch brauchbar erscheint, weil er wie Faschismus, Emanzipation, Demokratisierung usw. zu den Allerwehsbegriffen mit wesentlich emotional-polemischer Bedeutung zählt. Dann bleibt freilich noch eine zweite große Frage zu beantworten, die auf die eingangs erörterte Ambivalenzstruktur des Nationalsozialismus zurückführt. Es ist die Frage nach dem revolutionären Gehalt des Nationalsozialismus. Welche Elemente der Ideologie, Programmatik, Zielstruktur des Nationalsozialismus sind ne-

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ben der Herrschaftstechnik und in ihrer Umsetzung in Herrschaftspolitik als revolutionär zu bezeichnen, falls dieser Begriff aus heuristischen Griinden beibehalten wird? Schon für den Hitler von "Mein Kampf" und für seine Ideologie- und Programmbildung war es von Anfang an ein ganz wesentlicher Leitgedanke, daß im Gegensatz zu den linken Kritikern und den rechten Konkurrenten der nichttraditionelle, nicht-konservative, nicht-bürgerliche Ansatz und Gehalt dieser Bewegung eine wichtige, vielleicht die eigentliche Kraftquelle und schließlich auch das Geheimnis ihres Erfolgs über die "Massen" darstellte. VI.

Für jede Erörterung der revolutionären "Qualität" des Nationalsozialismus gilt nach alledem die Einsicht: sie kann weder Innen- und Außenpolitik noch Ideologie und Praxis getrennt betrachten. Es ist die enge Verflechtung, die charakteristisch für die Wirkung erscheint, welche der Nationalsozialismus einerseits in traditionellen, andererseits in radikalisierten Kreisen erzielt. Dabei kann offenbleiben, wieviel Bedeutung man dem Anspruch auf "legale Revolution" oder "nationale Revolution" beimißt -diesem zweifellos ungemein wichtigen Manöver zur Täuschung aller Gruppen von rechts bis links. Charakteristisch ist die ambivalente und zugleich unlösliche Wechselbeziehung und Wechselwirkung beider Haltungen und Überzeugungen, die fast immer gleichzeitig und auch in den meisten Führerpersonen des Nationalsozialismus gekoppelt auftreten. Nicht die klare Unterscheidung, sondern die fast dialektisch zu nennende Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik, von Theorie und Praxis, von Traditions- und Revolutionsanspruch macht das Neue, so ungemein Attraktive und Effektive der nationalsozialistischen (und in geringerem Maße der faschistischen) Politik im Zeitalter des Übergangs von der liberalen Honoratioren- zur demokratischen Massengesellschaft aus. Wir nennen stichwortartig einige Zusammenhänge, in denen diese nun auch inhaltlich wichtige, so charakteristische Verflechtung und Verschränkung traditioneller und revolutionärer Elemente auftritt. 1. Die Hauptparole eines nationalen Sozialismus, die Versöhnung von Arbeiterschaft und Nationalstaat, trifft in die Mitte der Zeitproblematik und hat ihre epochale Bedeutung bis heute behalten, wenn man an den "Sozialismus" der Entwicklungsländer und den immer von neuem propagierten "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus denkt.

2. Der Grundgedanke einer rassistischen Gliederung und Stufung der Menschheit stellt eine radikale Alternative nicht nur zur liberal-humanitären Idee der Weltzivilisation, sondern auch zur gängigen Nationalstaatsidee dar. Es ist die Überzeugung von der Rolle des Rassismus als eines weltrevolutionären Prinzips, das den traditionellen Nationalismus ablösen und die ge-

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schichtliehe Bewegung entsprechend dem Recht des rassisch überlegenen Volkes auf Lebensraum bestimmen wird: darin wurzelt der universal-weltpolitische Sendungsgedanke für die nationalsozialistische Innen- wie Außenpolitik. 3. Der sozialdarwinistische Ansatz, der in diesen nationalsozialistischen Grundprinzipien enthalten ist, wirkt wiederum in beiden Richtungen. Als Behauptung vom überlegenen Recht des Stärkeren entspricht er einer eher konservativen Theorie der Politik, die hinausläuft auf die Lehre von den Männern, die Geschichte machen. Aber der pessimistische Grundton der Sozialdarwinisten, der ja auch den Antisemitismus mit seiner Beschwörung eines angehlieh drohenden Untergangs durch "Überfremdung" bestimmt, wird bei der Umsetzung der "Lehre" in politisch aktive Ideologie geradezu umgekehrt und dadurch revolutioniert: zur Antriebskraft für totalitäre Machtpolitik und rassistische Herrschaftsausweitung. 4. Die nationalistischen Vorstellungen zur Struktur der Gesellschaft enthalten eine eigentümliche Verbindung von konservativer Kultur-Romantik und ökonomisch-technischem Progressivismus, deren Gegensätzlichkeit charakteristisch ist auch für die Begründung und den Vollzug der praktischen Kultur-, Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in verschiedenen zeitlichen Perioden und sachlichen Bereichen. Auch hier kamen der Nationalsozialismus-Ideologie verführerische Tendenzen der Zeit entgegen: die Industrialisierung und Technisierung als neue Romantik zu preisen oder den Arbeiter (wie damals in Ernst Jüngers gleichnamigem Buch) als Inbegriff einer neuen Volksgemeinschaft zu glorifizieren. Natürlich lief dies auf eine groteske Verzeichnung der Klassenstruktur im modernen Industriestaat hinaus, aber als Alternative zu der ja auch keineswegs realistischen Klassenkampfideologie hat es doch sehr wirkungsvoll sowohl zur Bändigung wie zur Mobilisierung der Bevölkerung beigetragen. 5. Geradezu plakativ tritt diese Kombination des Gegensätzlichen in Erscheinung, wenn die modernste Handhabung der Massenmedien und der Technik der Massenversammlung z.B. für so traditionalistische, agrarromantische Veranstaltungen wie den Reichsbauerntag auf dem Bückeberg eingesetzt werden. Hierher gehören auch die virtuose Gestaltung einer Massen-Liturgie, überhaupt der Charakter und die Wirkung einer "politischen Religion": mit fanatischen Gläubigen und einem pseudogermanischen oder auch pseudochristlichen Führerkult. Die von Fritz Stern betonte Fundierung des Nationalsozialismus in antimodernistischen, antiindustriellen Strömungen des 19. Jahrhunderts wird gleichsam wieder aufgehoben, ja, überholt durch den Kult des Technischen und Effizienten, der in den betont avantgardistischen Unternehmungen der Autobahnen, des Volkswagens, des Volksempfängers, in der durchaus geplanten Nationalisierung und Mobilisierung der Massen (George Mosse) unter virtuoser Regie des öffentlichen Lebens Ausdruck findet.

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Im Bereich des Militärischen, einem zentralen Bestandteil des außenpolitischen Denkens und Handelns, tritt dieser Modernismus besonders deutlich hervor: Hitlers viel bewunderte Kenntnisse und das oft gepriesene Verständnis für geradezu revolutionär neue Formen der Kriegführung stehen freilich unmittelbar neben traditionellsten Auffassungen über Krieg und Außenpolitik. Das Widersprüchliche, der rasche Wechsel von der einen zur anderen Perspektive - dies erscheint als das eigentliche Problem, aber auch als ein Erfolgsgeheimnis des Nationalsozialismus, der damit Einschätzungen und Erwartungen bei Freund und Feind immer wieder über den Haufen warf und sogar bis zum heutigen Tage ein klares Urteil behindert. 6. So werden eine mystische Politik-Religion und die Anbetung des technischen Erfolgs, werden altdeutsche Bauernromantik und die moderne Massenschau oder der sozialistische 1. Mai und die nationalsoziale Arbeiterromantik zusammengefügt, und beide erfüllen ihre Funktion in der Verbindung des Gegensätzlichen, in der Ausstrahlung nach beiden Seiten. Und so enthält auch z.B. das in Hitlers Rede auf der Ordensburg Sonthofen am 23. November 1937, also kurz nach der kriegsvorbereitenden Führerbesprechung vom 5. November entwickelte Konzept von dem "Germanischen Reich deutscher Nation" jene charakteristische Ambivalenz. In dieser Geheimrede Hitlers über die deutsche Geschichte und das deutsche Schicksal vor dem politischen Führernachwuchs werden die alten und durchgängigen Zielvorstellungen des Rassismus und der Lebensraumideologie zusammengefaßt; sie münden in einen historisch drapierten, diametral verschiedene Elemente verschmelzenden Herrschaftsentwurf von Weltdimensionen, dem man die revolutionäre Qualität so wenig absprechen kann wie einst 150 Jahre zuvor dem nationalstaatliehen Ansatz der Staatsumwälzung und der Veränderung der internationalen Beziehungen. Das zutiefst Traditionalistische mag man in der geradezu mystischen Überhöhung des Reichsbegriffs erblicken. Doch eignete sich dieser verschwommene Begriff, so ambivalent er schon in der Geschichte des Zweiten Reiches zwischen altdeutsch-konservativem und imperialistischem Verständnis des Reichsgedanken pendelte, vorzüglich auch für die weltherrschaftliehen Pläne und Träume, die auf eine Zerschlagung des bisherigen Staatensystems und neue Formen politischen Lebens und politischer Organisation hinausliefen, wie sie Hitler schließlich in den Tischgesprächen von 1941/ 42 vorgestellt hat: Auch hier in der Form der charakteristischen, oft sehr banalen, aber offenbar so wirkungsvollen Vermischung gegensätzlicher, alter und neuer, innen- und außenpolitischer Argumente, wobei die Bedeutung der politischen Terminologie auch im Reichsbegriff so wie in den Revolutions- und Faschismusbegriffen hervortritt. Wo immer man in den Zeugnissen des Denkens, Planens und Handeins suchen mag, die der Nationalsozialismus in so verwirrender Masse hinterlassen hat: immer wird man auf jenen Grundzug stoßen, der es unmöglich macht, mit einer simplen Formel das Problem der Einordnung zu lösen und eine einfache Antwort auf die Frage: traditionell oder revolutionär,

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konterrevolutionär oder modernistisch, improvisiert oder planvoll, zu geben. Auch eine allgemeine Faschismustheorie, sei sie marxistisch orientiert oder nicht, vermag dem Wesen des Nationalsozialismus nicht gerecht zu werden. Sie verkennt die tiefen Unterschiede der einzelnen "Faschismen", die oft so wichtig erscheinen wie die Ähnlichkeiten. Die Bezeichnung "faschistisch" wird auch deshalb mit Vorliebe von der Linken für alle rechten Bewegungen benutzt - und zuweilen sogar für unliebsame Linke -, weil sie nichts über ihren Inhalt und Anspruch aussagt, sobald sie über den konkreten Zusammenhang der italienischen Geschichte und Terminologie hinausgreift. Dagegen enthält der Begriff des "nationalen Sozialismus" eine substantielle Aussage, die durchaus ernst zu nehmen wäre, auch in den nichtdeutseben Ausprägungen: diese Kampfansage und Konkurrenz gegenüber dem "Sozialismus" wird eher verdrängt als bewältigt, wenn man inhaltslos von Faschismus oder auch Nazismus statt von Nationalsozialismus spricht. Aber auch prinzipiell ist es von entscheidender Bedeutung, ob der (italienische) Faschismus den möglichst starken und großen "totalen" Staat im Sinne römischer Vergangenheit als Ziel anstrebt oder der (deutsche) Nationalsozialismus im Staat nur das technisch perfektionierte Instrument zur Organisation eines höherwertigen, die Weltpolitik revolutionierenden Rasse-Imperiums der Zukunft sieht. Im einen Fall hat man es mit traditionellen Machtstaatsambitionen im Stile des Vorkriegsimperialismus, im anderen Falle mit dem revolutionären Anspruch auf Durchsetzung und Erfüllung eines neuen Weltprinzips zu tun. Wie ernst dieser revolutionäre Anspruch zu nehmen sei, mag umstritten bleiben - nicht aber, daß er ungeahnte Potenzen mobilisiert und nie erwartete Realisierungen erreicht hat, die in die furchtbarsten Fanatismen und Zerstörungen der Geschichte geführt haben. Auch das zeigt die Grenzen einer allgemeinen Faschismustheorie auf, in die ausgerechnet der mächtigste "Fall", der Nationalsozialismus, nicht paßt. Diese Theorie verstummt gerade vor jenen Positionen und Widersprüchen, die erst die riesige Wirkung des Nationalsozialismus und seine äußerste Brutalität ausmachen: vor den revolutionären Aspekten des Rassismus, der Lebensraumidee, des totalitären Herrschafts- und Führerideals. Hier liegt denn auch nach wie vor die Berechtigung und Bedeutung einer Totalitarismusforschung, die - gewiß modifizierend und weiterentwickelnd - an die wegweisenden Pionierarbeiten von Hannah Arendt, Ernst Fraenkel, C.J. Friedrich, J.L. Talmon, Sigmund und Franz Neumann, George Mosse, Robert Tucker, Leonard Schapiro und anderen anknüpfen kann. VII.

Man muß sich jedenfalls auch im Zusammenhang der jüngsten Diskussionen immer aufs neue vergegenwärtigen, daß die Geschichte des Nationalsozialismus ganz wesentlich die Geschichte seiner Unterschätzung war:

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zuerst in der innenpolitischen Vorgeschichte der Machtergreifung die Illusionen aller deutschen Parteien und Politiker, dann in der außenpolitischen Vorbereitung der Expansion die Selbsttäuschungen der europäischen Mächte und Staatsmänner. Diese Unterschätzung beruhte ganz wesentlich auf einer Verkennung nicht nur der weitreichenden, die traditionelle Machtpolitik und auch die Kontinuität deutschen Großmachtstrebens transzendierenden Herrschafts- und Expansionsziele, sondern mehr noch der radikalen Konsequenz, mit der sie verfolgt wurden. Hinzu kam die abschätzige Meinung, daß weder NS-Ideen noch NS-Personal nach Qualität und Stil den Titel "revolutionär" verdienten. Man sträubte sich damals wie heute, den vermeintlichen Agenten des Großkapitals (so die Linke) oder den "böhmischen Gefreiten" (so Hindenburg und die Rechte) in die Reihe der Revolutionäre zu stellen. Aber die entscheidenden Attribute besaß er: die Fixierung auf radikal verändernde Ideen, die Entschlossenheit, diese zu realisieren, koste es, was es wolle, und die Fähigkeit, dafür die Mittel und Massen zu mobilisieren. Auch im letzten Viertel des Jahrhunderts sind solche "gewöhnlichen" Revolutionen, die im Tarnmantel der Tradition daherkommen mögen, nach wie vor ebenso denkbar wie sozio-ökonomische Katastrophen und die Manipulierung von Massenwahn. Die klassisch-liberale wie die marxistische Revolutionstheorie haben sie nicht in ihrer vollen Tragweite erkannt, vor allem wenn sie in der Diskussion eines Revolutionsbegriffs steckenbleibt, der die Erkenntnis hindert, daß die Machtergreifungen und Umwälzungen unseres Jahrhunderts nicht länger an den romantischen oder ideologischen, jedenfalls mif~bräuchlichen und irreführenden Vorstellungen von der guten, also linken Revolution und der schlechten, also rechten Konterrevolution gemessen werden können. Die Behauptung, dag Revolutionen allein von links möglich seien, ist naiv nicht nur im Blick auf symptomatische historische Slogans, wie Hans Freyers Buch "Revolution von rechts" (1931), oder auf das Phänomen der "linken Leute von rechts" in der Weimarer Republik, aber auch der rechten Leute von links im "Faschismus": vom Sozialisten Mussolini über den "Antikapitalisten" Strasser bis zum Exkommunisten Doriot (in Frankreich). Sie verkennt auch die unveränderte Kraft nationalistischer, nationalimperialer, auch rassistischer Ideen und die fortdauernde Möglichkeit pseudodemokratisch-plebiszitärer, antikapitalistisch-sozialistisch stilisierter Massenherrschaft mit oder ohne charismatischen Führer. Man könnte zu dem Schlug kommen, daß nicht eigentlich Hitler und der Nationalsozialismus, sondern erst sein Scheitern die "deutsche Revolution" im Sinne der Modernisierung bedeuteten. Daran ist gewig soviel richtig, daß erst 1945 eine verhängnisvolle Richtung und Möglichkeit der deutschen und auch europäischen Geschichte wohl endgültig ab absurdum geführt worden ist - was 1918 die Dolchstoßlegende verhinderte. In diesem Sinne wäre auch die bekannte These Ralf Dahrendorfs zu modifizieren oder zu er-

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gänzen. Historisch wichtiger als die sozialen Wandlungen im Dritten Reich und die kurzfristige Machtentfaltung ist die totale Niederlage mit ihren tief einschneidenden Konsequenzen auch für die innere Modernisierung eines Landes der verpaßten oder mißlungenen Revolutionen. VIII.

Die Renaissance eines allgemeinen Faschismusbegriffes und seine Anwendung auf den Nationalsozialismus seit den sechziger Jahren geschieht vor allem im Zeichen der neomarxistischen Welle. Dies bleibt wissenchaftlich fragwürdig und bedeutet politisch eine Abschwächung des Diktaturvorwurfs an den Kommunismus. Antikommunismus wird hier nicht mehr als Totalitarismuskritik, sondern geradezu als Kriterium des Faschismus, als potentieller Faschismus verstanden. Zwar ist gelegentlich auch vom "Linksfaschismus" die Rede, sogar bei westlich-marxistischen Autoren, aber das scheint eher polemisch als wissenschaftlich gemeint. Sollte auf diese Weise der Faschismusbegriff den Totalitarismusbegriff ersetzen, dann müßte die linke Komponente auch im Faschismus und Nationalsozialismus sehr viel ernster genommen werden, und somit gerade die Selbstbezeichnung "nationaler Sozialismus". Darin sieht freilich zu mal die Linke eine Entweihung des Sozialismusbegriffs. Sie nennt vielmehr alle jene Bewegungen "faschistisch", weil mit dem Begriff nichts Inhaltliches ausgesagt wird, soweit er über den konkreten historisch-politischen Zusammenhang des italienischen Faschismus hinausgeht. Dagegen enthält der Begriff "nationaler Sozialismus" jene substantielle Aussage, die auch in ihren nichtdeutseben historischen und aktuellen Ausprägungen bei den Diktatoren der Dritten Welt zu beachten ist. Oie Konkurrenzlage gegenüber dem "Sozialismus", die ungeheure Attraktion der Formel von der Verbindung der beiden großen Zeitströmungen des Nationalen und Sozialen, wird aber bewußt oder nachlässig verkannt, wenn man inhaltlos von Faschismus allgemein und betont vom "deutschen Faschismus" statt von Nationalsozialismus spricht, wie es leider heutige Sprachmode auch vieler Wissenschaftler ist. Die großen Unterschiede in den Voraussetzungen und Erscheinungsformen der italienischen und deutschen Diktatur zwischen den Kriegen markieren von vornherein die Grenzen eines allgemeinen Faschismusbegriffs, den ausgerechnet der mächtigste Fall, der totalitäre Nationalsozialismus, mit seinen rassistischen, transstaatlichen, lebensraumideologischen Positionen sprengt. Hinzu kommt die revolutionäre und progressistische Komponente, die den Nationalsozialismus in einem hochentwickelten Industriestaat von den Imitationen des italienischen Faschismus im unterentwickelten Südeuropa weit unterscheidet. Auch vorsichtige Befürworter eines allgemeinen Faschismusbegriffs räumen ein, daß wir von einer brauchbaren Theorie, die die marxistischen

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Simplifizierungen vermeidet, nach wie vor weit entfernt sind. Was hierzu an empirischen Begründungen vorliegt, ist überdies meist auf den deutschen Fall bezogen, wo die Forschung am weitesten gediehen ist. Die üppige Literatur zu Faschismustheorien, die in den letzten Jahren hervorgeschossen ist, spricht einfach von dem Faschismus, obwohl sie meist nur vom Nationalsozialismus handelt, ohne mit anderen Diktaturen einen wirklichen Vergleich zu führen, der empirisch gesehen noch ganz am Anfang steht und die Begrifflichkeit nicht rechtfertigt. Auch wenn im Namen eines ehrlich verstandenen, nicht marxistisch akkupierten "Antifaschismus" nach einem einheitlichen Faschismusbegriff verlangt wird, so ist dies allenfalls ein politisches, kein wissenschaftliches Argument. Ein antifaschistischer Begriff des Politischen aber, der vor dem antitotalitären Verständnis rangiert, lenkt in Wahrheit von kommunistischer Diktatur ab und kann den kommunistischen Demokratieanspruch sanktionieren. Trotz neuer wissenschaftlicher Versuche (Ernst Nolte, Wolfgang Schieder) bleiben die Bedenken gegen einen Faschismusbegriff, der als italienische Eigenbezeichnung zur typologischen Generalisierung wenig leistet und dem unbegre nzten Klischeegebrauch ausgeliefert ist: Weder das Wort Faschismus noch die darin unterstellte Identität so verschiedener Phänomene sind sachgerecht. Als Allgemeinbegriff enthält der "nationale Sozialismus" mehr inhaltliche Bestimmung, ist eine Klassifizierung nach links- oder rechtsdiktatorischen kollektivistischen Bewegungen und Regimen treffender. Wenn trotzdem heute wiede r oder noch immer vom "deutschen Faschismus" oder "Hitler-Faschismus" gesprochen und damit der Eindruck einer gesicherten Begrifflichkeit erweckt wird, so wiederholt man den Fehler jener Politiker und Theoretiker aus der Zeit um 1933, die Hitler und den Nationalsozialismus verhängnisvoll unterschätzt und dadurch noch zu seiner Stabilisierung beigetragen haben.

Faschismus: rechts oder links ? • Von Dino Cofrancesco

"Im übrigen gibt es kein allgemeines Kriterium, welches beweist, daß die Linke immer besser ist als die Rechte oder umgekehrt. Man kann aber behaupten (und ich behaupte dies sicherlich), daß die politische Freiheit besser ist als der monarchische oder diktatorische Absolutismus (abgesehen von den beträchtlichen Unterschieden zwischen diesen beiden Systemen) und daß die Marktwirtschaft besser funktioniert als die Zwangswirtschaft. Die Geschichte zeigt uns aber liberale und nicht liberale Rechte, liberale und nicht liberale Linke, marktwirtschaftliche Systeme, die atrophieren und zwangswirtschaftliche Systeme, welche über Jahrzehnte hinweg funktionieren ." Leo Valiani

1. Für einen kritischen Gebrauch der Begriffe ,rechts' und ,links'. Rückkehr zu einer Klassifikationstheorie "Il est certain" - schrieb der anonyme Verfasser des Stichworts Gauche des "Dictionnaire politique", 1848 von Pagnerre herausgegeben- "que, depuis Je commencement de Ia Revolution jusqu'a ces derniers temps, !es hommes qui siegeaient sur !es bancs de Ia Gauche se sont montres les defenseurs vigilants du principe de Ia liberte, tandis qu'a l'extremite opposee, les membres de Ia droite defendaient plus particulierement le principe du pouvoir" 1 • Es ist die allgemein herrschende Meinung von Historikern und Erforschern der politischen Theorien und Phänomene, daß die Begriffe ,rechts' und ,links' auf die Französische Revolution zurückzuführen sind. Die Polarisierung der Vertreter von Ordnung und Autorität (pouvoir) auf der einen, und der unversöhnlichen Gegner von status- und ständebedingten Privilegien (libert€) auf der anderen Seite, wurde infolge des großen Bruchs von 1789 in kohärente und organische "politische Philosophie" umgesetzt, begründet in einer Geschiehtsauffassung und einer Vorstellung der Stellung des Menschen tendenziell dichotomischer Natur. Jedoch wurde im Laufe Altiero Spinelli gewidmet, der im Herzen die Werte der Aufklärung trug und im Sinn die harten Lektionen der Realpolitik hatte. Dictionnaire politique. Encyclopedie du Iangage et de Ia science politique, 3. Auf!., S. 425

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der Zeit die Möglichkeit in Zweifel gezogen, konstante und grundlegend unveränderte Inhalte im feindlichen Paar rechts/ links auszumachen. Und schon im oben zitierten "Dictionnaire" konnte man lesen: "mais depuis quelques temps, sans doute par un effet de cette anarchie intellectuelle et morale qui divise !es esprits et !es coeurs, ces anciennes divisions ont beaucoup perdu de leur valeur. Il y a sur !es banc de Ja Droite aussi bien que sur ceux de Ja Gauche des zelateurs de Ia liberte, et il ne serait pas bien difficile de trouver dans Je sein de Ja Gauche un assez grand nombre d'hommes qui sont plus preoccupes de se hisser au pouvoir que de sauvegarder !es libertes publiques".

Die Differenzen in Bezug auf die Bedeutsamkeil der Kategorien rechts/links haben sich allmählich gesteigert und scheinen heute so gut wie total. Besonders im angelsächsischen und im deutschen Raum ist man dazu geneigt, den betreffenden Gegensatz als gänzlich veraltet einzustufen, - der es verdient, gemeinsam mit hunderlen von Symbolen und politischen Ideen, die uns als Erbe des 18. und 19. Jahrhunderts hinterlassen wurden, auf den Friedhof der Ideologien verbannt zu werden. So ist es beispielsweise von Bedeutung, dag gerade die deutsche Kultur - einst so zerrissen von ideologischen Radikalismen - Begriffen wie rechts und links nicht mehr die geringste Bedeutung beimißt Sie werden nicht mehr angeführt; weder im "Handlexikon zur Politikwissenschaft", herausgegeben von Axel Goerlitz, noch im "Kleinen Politischen Wörterbuch" der DDR 2 , um nur zwei bekannte Lexika zu zitieren. Was die englische und nordamerikanische politische Publizistik anbelangt, so tritt die Belanglosigkeit von Begriffen wie rechts und links, wenigstens heutzutage, fast überall zutage. So schreibt Elie Kedourie in seinem Essaye über den Nationalismus: "Left und right are concepts which arose in the course of struggle between aristocracy, middle dass and working dass in European countfies in the nineteenth and twentieth centuries, and are unintelligible apart from this particular history" 3 •

Für die Wissenschaftler des romanischen Raums - und besonders des französischen - bezeichnet die Unterscheidung rechts/ links keine spezifischen und unabänderlichen ethisch-politischen Inhalte, aber deshalb ist sie längst nicht nutzlos. In Frankreich haben sich zuweilen auch bedeutende Intellektuelle an eine Geschichte der Rechten - siehe Rene Remond, Charles Handlexikon zur Politikwissenschaft, München 1972; Kleines politisches Wörterbuch , Berlin 1967. Es handelt sich hier um nicht-scholastische Lexika, die ein bedeutendes intellektuellens Engagement von Seiten der Herausgeber und Mitarbeiter verlangt haben. E. Kedourie, Nationalism (Praeger University Series), 2. Auf!., New York 1962, S. 89. Freilich gibt es bezeichnende Ausnahmen. Die Begriffe /eft und rigbt analysiert R. Scruton nicht ohne Scharfsinn in: A Dictionary of Political Thought, London 1982. Einzigartig ist das Fehlen beider Stichworte in: Dizionario di Politica, hrsg. von N. Bobbio I G. Pasquino, 2. Auf!., Torino 1988. In diesem Zusammenhang verweise ich auf meinen Artikel: Un'analisi de l Dizionario di Politica, in: II Politico, XLIII (1978), S. 106-138, wo ich die erste Auflage - begrenzt auf den Teil, der der Geschichte der politischen Doktrinen gewidmet ist - dieses dennoch sehr wichtigen Werkes analysiert habe.

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Petitfils 4 - sowie der Linken - Georges Lefranc, Jean Touchard 5 - gewagt und im alltäglichen politischen Sprachgebrauch werden die beiden Regriffe weiterhin öfter gebraucht als Konservativismus/Progressismus, welche in den angelsächsischen Ländern gebräuchlicher sind. Für nicht wenige Wissenschaftler haben die Begriffe Rechts und Links eine unersetzliche kl a ss i f i z i er ende Bedeutung: sie ermöglichen es, politischer Phänomene und Bewegungen entsprechend einfachen Grundmustern einzuordnen, welche Vergleiche zwischen den verschiedenen Systemen erlauben und die Möglichkeit bieten, ihre Funktionsfähigkeit im Zusammenhang mit den sich gegenüber stehenden politischen Akteueren zu beurteilen, sowie Mutmaßungen über ihre Vitalität und Beständigkeit zu wagen. Rechts und links sind selbstverständlich nur Hüllen, Etikette, wenn man so will; zu verschiedenen Zeiten bezeichnen sie verschiedene und oft nicht auf eine Grundform zurückführbare Dinge. Und dennoch sind sie t empor e II keine leeren Hüllen: die "issue-Pakete", die sie von Mal zu Mal enthalten, sind unentbehrlich für denjenigen, der die Entstehung der Differenzierungen innerhalb eines politischen Systems und die Art des Konflikts zu dem es dort kommt, verstehen möchte. Die Haltung von Giovanni Sartori ist in Rezug auf diese Angelegenheit beispielhaft. In den beiden Essaybänden "Teoria dei partiti e caso italiano" und "Parties and Party Systems" bekräftigt der Hauptvertreter der italienischen Politikwissenschaft, daß die Unterscheidung rechts/links, wenigstens für die Gesamtheit der europäischen Länder, "wichtig und von Bedeutung" sei. Besonders für die komplexe politische Systeme, schreibt er, "positionperceptions become more useful and, at the Iimit, unavoidable the more the number of parties increases". Dem ist hinzuzufügen, daß die Erfassung der Politik unter dem Gesichtspunkt rechts/links dort noch nützlicher wird, wo "we pass from pragmativ to ideological parties" 6 "Ein Vorteil der Variablen rechts/ links liegt in deren ,Reiselust' und relativer Vergleichbarkeit. Es ist klar, daß in jedem Land die eigenen Standortbestimmungen der Art rechts/links relativ sind, und zwar relativ in Bezug auf das eigene Umfeld. Dies benimmt aber nicht die Tatsache, daß rechts/ links noch immer die ,über-

R. Remond, Les droites en France, 4. Auf!., Paris 1982; C. Petiifils, La Droite en France. De 1789 a nos jours, Paris 1973. Hier handelt es sich um zwei Beispiele unter den vielen, einer Geschichtsschreibung, die hauptsächlich darum bemüht ist, das Objekt der Untersuchung zu begreifen. Was die .Rechte" betrifft, verweise ich für eine erste Auflistung wichtiger Texte (die inzwischen überarbeitet werden müßte) auf: Destra e Sinistra. Per un uso critico di due termini-chiave, Verona 1984. G. Lefranc, Les gauches en France, Paris 1973; j. Touchard, La gauehe en France depuis 1900, hrsg. von R. Remond IM. Winock, Paris 1977. Auch hier führe ich nur zwei Texte an, Beispiele einer Geschichte der politischen Ideen von höchstem Niveau . Eine Liste der Aufsätze, die der gesamten Linken gewidmet ist, fiele weitaus spärlicher aus, als jene bezüglich der gesamten Rechten. Die Sieger von 1789 teilten sich in eine Vielfalt ideologischer familien, die keine Entsprechung in der "Welt de r Besiegten" fand. G. Sartori, Parties and Party Systems. A Framewerk for Analysis, Cambridge 1976, Bd. 1, S. 341.

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setzbarste' von allen Variabeln ist und in diesem Sinn die von Land zu Land am besten vergleichbarste" 7

Für uns ist es hier nicht von Interesse, Sartoris Demo n s trat i o n der Nütz I i c h ke i t dieses "räumlichen Archetyps" zum Zweck der empirischen Forschung zu verfolgen. Hingegen lohnt es sich, zu unterstreichen, mit welchem Nachdruck er die absolute Nutzlosigkeit einer "semantischen Verankerung" bei der Gegenüberstellung der Begriffe rechts/links betont. Sartori verhehlt sich nicht die Wichtigkeit des "war of words with which political battles are fought", aber seine (uneingestandene) politische Philosophie, inspiriert von aufgeklärt konservativer Haltung, läßt ihn dazu geneigt sein, den Gegenstand der Untersuchung unter dem Gesichtspunkt unglückverheißender kollektiver Verblendung zu betrachten, die außerstande ist, auf der Ebene des menschlichen Zusammenlebens auch nur den Grundstein zu irgend etwas Solidem und Dauerhaftem zu legen. Die Niederlage der faschistischen Systeme - der "rightist regimes" - , das Verschwinden der Religion (welche Christus zur Rechten Gottes sitzend darstellt) und andere mehr oder weniger wichtige Faktoren haben links mit "Demokratie", "Zukunft", ,Jugend" in Zusammenhang gebracht. Dennoch bedeutet dieser mit Leichtigkeit, fast ohne Blutvergießen errungene Sieg nur, daß "the emotional element of these Iabels overcomes their cognitive function. Therefore, this victory brings about what may be called the purely ideological use of left und right" 8 . Aber welche r e a I e n Inhalte sind heute in den Glasampullen dieser wechselhaften ideologischen Formeln enthalten? Sartori deutet verschiedene Unterscheidungsmerkmale zwischen rechts und links an: das wirtschaftliche (Kollektivwirtschaft kontra Markt und Privateigentum), das sozioökonomische (das Fördern oder Blockieren von "welfare palides and levellig"), das auf "non economic issues" gegründete (bürgerliche Rechte, bürgerliche Freiheit, babeas corpus, "due process", "privacy" usw.), das konstitutionelle (welches den beiden systemfeindlichen Extremen von Rechts und Links eine konstitutionelle Rechte und Linke gegenüberstellt, die sich voneinander darin unterscheiden, wie "equal laws relate to social inequalities") und letztendlich flexiblere Kriterien wie Veränderung/ Erhaltung (letzteres für Sartori i n t e r a I i a von den starren Arbeitspraktiken linker Gewerkschaften wie den Trade Unions aufs Spiel gesetzt) oder Populismus/ elitäres Bewußtsein (wonach den Massen, den Arbeitern, den Randgruppen die wohlhabenden und privilegierten Schichten gegenübergestellt werden). In Wirklichkeit legt Sartori mit der Identifizierung dieser Kriterien keine Beweise von jener analytischen Strenge vor, die er dem Studium der "party systems" zukommen läßt, auch weil das Thema - klassische Kontroversen eher "philosophisch-politischer" als "politikwissenschaftlicher" Natur - ihn nicht interessiert. Man erhält den Eindruck, da8 die beiden in FraG. Sartori, Teoria dei partiti e caso italiano, Milano 1982, S. 255-256. G. Sartori, Parities and Party Systems, S. 335.

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ge kommenden ideologischen Inhalte, wenn auch als Maßstab des Po I ar i s a t i o n s grades politischer Systeme von Wert, rein zufällig diesen oder jenen Inhalt, diesen oder jenen Wert beherbergen. Es ist weniger wichtig festzulegen, was man an den beiden Polen der politischen Lager will, als festzusetzen, ob das was die sich gegenüberstehenden Seiten wollen, mehr oder weniger v e r e i n b a r ist mit zufriedenstellenden Leistungen des Systems und im besonderen der liberalen Demokratie. In der Faschismusforschung führt eine solche Haltung zwangsläufig zu dem intellektuellen Divertissement, die Mobilmachungsformeln, die Glaubensbekenntnisse, die praktische Politik der Partei und der Regierung danach zu durchforsten, in welchem Maß politische Legitimationsreserven der Linken einen Beitrag leisten (und wieterhin leisten sollten), und andererseits, wieviel von Anfang an genuin rechtes Gedankengut war (und weiterhin sein würde). In der Tat scheinen sich die Karten des ideologischen Spiels im Falle von totalitären Regimen schlecht zu mischen. Schon E. Shils stellte 1954 beiläufig in Zusammenhang mit seiner Studie über "Tradition" 9 fest, daß Faschismus und Bolschewismus die Unterscheidung rechts/ links deutlich erschwert hätten, indem sie Symbole und Werte des einen und des anderen Begriffs vermischten. In der Tat werden zum ersten Mal zur Verteidigung des Privateigentums Antiserr.itismus, Ungleichheit, Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten (natürlich seitens der totalitären Regime von rechts) verbunden, während sich eine geschlossene politische Oligarchie, das Einparteiensystem, die Verfolgung jeglichen politischen Dissenses (deutlich der Hinweis auf den Stalinismus) der welfare legislation angeschlossen hatte. Shils Analyse weist wahrhaftig auf nicht leicht zu umgehende Schwierigkeiten hin: die Tatsache, daß die Hauptursache der inzwischen nicht mehr rückgängig zu machenden semantischen Abnutzung der Dichotomie rechts/links mit einem präzisen historischen Datum (der Erste Weltkrieg) in einen inneren Zusammenhang gebracht wird, ist auf jeden Fall ein sicheres Zeichen für einen Approach, der in der Lage ist, reale Probleme zu erfassen. Besonders wenn man diesen Ansatz mit der Leichtfertigkeit von Historikern wie Noel O'Sullivan vergleicht, die - betroffen von der Schwierigkeit heute rechts und links zu unterscheiden - die Irrelevanz dieser beiden Begriffe dem gesamten 19. Jahrhundert zusprachen. Wie man in "Fascism" lesen kann: "Die gesamte politische Tradition des modernen Europa ist so zweideutig, daß Etikette wie rechts und links nichts mehr bedeuten. Sie dienen nur dazu, die Quellen der Gefahren, die auf uns zukommen, zu verschleiern" 10

Bei näherem Hinsehen scheinen vor allem im romanischen Raum politische engagierte Kreise, besonders die Linke, weiterhin einen fortdauernE Shits, Tradition, Chicago 1981 . N. O 'Sullivan, Fascism, London I Melbourne 1983. Einige Anmerkungen zu diesem nicht uninteressanten Aufsatz, die sich an dieses Thema anschließen, finden sich in D . Cofrancesco, Per un analisi critica d ella destra rivoluzionaria, Genova 1984, S. 205 ff. 10

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den Sinn und gedanklichen Gehalt des Gegensatzes rechts/links aufrecht erhalten zu wollen. Und genau die Linke hat folgendes Schlagwort geprägt: Zu behaupten, dafS rechts und links keinerlei Bedeutung hätten, heißt, zu bekunden, daß man r e c h t s eingestellt ist. Es handelt sich hier natürlich um eine boutade, welche ohne nähere Spezifikationen die Analyse um kein Haar voranbringt. Und dennoch, jenseits der mehr oder weniger nebensächlichen Polemiken, jenseits des praktisch bewährten Wertes der hier untersuchten Dichotomie, hat diese weiterhin eine l imitierte, aber r e a I e p o 1 i t i s c h e Trag we i t e , besonders beim Studium jenes politischen Phänomens, welches gewöhnlich das Bravourstück für all diejenigen darstellt, die in festem Gegensatz zu ihm stehen - ich denke hier an erster Stelle an Zeev Sternhell - und nämlich des Phänomens des Faschismus. Ich habe die Absicht, dies in meinem Vortrag darzulegen. Wie hinreichend bekannt ist, war die historiographische Kontroverse um den Faschismus nach dem Zweiten Weltkrieg -artikuliert in den drei klassischen Lagern: liberal, marxistisch und radikal - besonders intensiv um die Gen es e dieses totalitären Phänomens bemüht. Die Interpretationen waren verschieden und oft auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen, aber in einem Punkt war man sich fast immer einig: der Faschismus (und mehr noch der Nationalsozialismus) war eine zur Rechten gehörende Bewegung, auch wenn dieses Etikett für einige liberale Autoren, die ihre atavistische Gewif~heit und irrationale Dimension ausdrücklich betonten, letztendlich nicht von Bedeutung war. Diese Sicherheit ist später aus verschiedenen historischen und politischen Gründen, die hier zu analysierten mir die Zeit fehlt, stark abgeschwächt worden. Jene - vielleicht - ausschlaggebende kann aber nicht verschweigen werden: der schlagartige Einsturz des Mythos der kommunistischen Staaten in den Augen der westlichen politischen Kultur. Die Praxis des "realen Sozialismus" und die wachsende Kluft zwischen Worten und Taten, zwischen ideologischen Formeln und effektiven policies vor Augen, hat man sich gefragt, aus welchem Grund linke autoritäre und totalitäre Regimes an den Vers p r e c h u n g e n und der Geisteshaltung (die Gleichheit, das Ende zwischenmenschlicher Ausbeutung) zu messen seien, während die rechts stehenden an den Resultaten und effektiv erreichten politischen Zielen (die Repression der Opposition, das bargaining mit den alten führenden Schichten, der Eroberungskrieg usw.) zu messen seien. Ebensowenig konnten gewisse, schon in den dreißiger und vierziger Jahren betonte Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Regimen noch länger verborgen bleiben, die von den Beurteilungen einer ideologisch engagierten Geschichtsschreibung mit Vorliebe verdrängt worden waren (vgl. staatlicher Dirigismus, die "Revolution der Manager", der Drang zur Modernisierung usw.). Keineswegs rein zufällig ist eine revisionistische Grundeinstellung, besonders in Italien, unter Intellektuellen aus dem marxistischen Lager herangereift: aufs tiefste vom realen Kommunismus enttäuscht und bei liberaldemokratischen Werten gelandet, vertraten sie diese oft mit dem tragischen Bewu8tsein ihrer Gebrechlichkeit in einer mass society. Der Revisionsprozeß ist zu einem Umschlagen traditioneller ideo-

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logischer Symbole geworden und ist zweifelsohne bisweilen über das Ziel hinausgeschossen. So sind Mussolini und Nenni, um ein treffendes Beispiel anzuführen, in der Abhandlung "Mussolini socialfascista" eines so hervorragenden Geschichtsjournalisten wie Giorgio Bocca "die getrennten Brüder eines Sozialismus, der jakobinisch, aber zugleich familial, revolutionär, aber zugleich melodramatisch, internationalistisch, aber zugleich ländlichprovinziell ist" n Um nicht von den verschiedenen Interpretationen des Faschismus, unter dem Aspekt eines n a t i o n a I e n Sozi a I i s m us zu sprechen, wobei - in diesem Fall - das Substantiv das Adjektiv erdrückt. Die in den letzten Jahren erfolgte Einordnung Mussolinis in die Linke sowie seine Jahre zurückliegende Einordnung in die Rechte, sind keine historiographisch wertfreien Operationen. Und zu behaupten, daß der Faschismus politisch links steht (oder wenigstens genausoweit links wie rechts) bedeutet besonders in Italien die Legitimierung des Widerstandes erneut zur Debatte zu stellen, den Bogen des konstitutionellen Antifaschismus, - von den Kommunisten bis hin zu den Liberalen - der die Grundlage der republikanischen Institutionen bildet. Nichtsdestoweniger, das Problem besteht weiter: ist der Faschismus rechts oder links einzuordnen und wenn es sich bei dem Phänomen um eine Synthese aus beiden handelt, aus welchem Grund hat es diese seine Charakteristik so schwer, sich die gebührende Anerkennung zu verschaffen. Meiner Meinung nach handelt es sich um Fragen, die Aufmerksamkeit verdienen, da, trotz aller Identifikationsschwierigkeiten: a) rechst und links n o c h h e u t e von prägnanter Bedeutung sind; b) es auf keinen Fall eine eitle Frage ist, ob der Faschismus hierhin oder dorthin gehört (genausowenig wie es übrigens mügig ist, zu ermitteln ob er "religiös" oder "heidnisch", "bürgerlich" oder "anti-bürgerlich", akommunistisch oder antikommunistisch war: dort wo politisch ethische Werte die Gemüter beeinflussen und das Handeln lenken, ist es kein Zeitverlust aufzuweisen, ob eine Bewegung oder ein Regime auf der einen oder der anderen Seite steht); c) eine vernünftige Definition nicht nur einen Gewinn für ein kritisches Lexikon der Politik bedeutet, sondern auch vor dem Risiko bewahrt, die Reichweite neuer sozialer Phänomene zu verschleiern, indem sie sie in schon vorhandene klassifizierende Schubladen einordnet (z.B.: den Faschismus dort zu sehen, wo keiner ist und umgekehrt, seine Erscheinungsformen in der heutigen Welt, sei es auch unter anderen Bezeichnungen, nicht zu erkennen). Was die p o I i t i s c h e Bedeutung von rechts und links anbelangt, so ist es nicht nötig, viele Worte zu verlieren. Sartori selbst würde den Überlegungen von Paolo Flores d'Arcais beipflichten, für den wir nicht vor einem 11 G. Bocca, Mussolini socialfascista, Milano 1983, S. 75. Wie pamphletistisch der Band Boccas auch sein mag, die bitterböse Rezension von F. Ciafaloni hat er nicht verdient. Vgl. F. Ciafaloni, In soccorso del vincitore, in : Rivista di storia contemporanea, VI (Oktober 1983). Die Zeit der Exkommunizierungen sollte eigentlich schon seit längerem vorbei sein.

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"spitzfindigen Zeitvertreib" stehen, da "die Eroberung eines Wortes oder auch eines Symbols für eine politische Macht oft bedeutet, eine ausschlaggebende strategische Position zu erobern, von der sie dann nur noch schwer verscheucht werden kann. " 12• Erst wenn es sozusagen um die p h i 1 o so p h i s c h e Bedeutung der beiden Ausdrücke geht, dann ist für einen Großteil der Gelehrten der Streit nicht zu schlichten. Auch weil es in der Vergangenheit starke, ob j e kt iv ist i s c h e Definitionen gegeben hat, die auf die vexata quaestio den Schatten der Metaphysik, oder wenn man so will, der sozialen Poesie geworfen haben. Die Charakterisierung von Giacomo Devoto in einem Artikel des Jahres 1973 möge für alle gelten: "Ich bewahre für rechts und links die traditionellen Werte bezüglich der beiden Momente der Natur, das Überleben und das Erzeugen. In der Natur ist die Rechte verwurzelt, verankert und allem Anschein nach immobil; sie offenbart sich im Instinkt des Überlebens. Die Linke ist ungestüm, zufällig, nur mit Unterbrechungen sichtbar. Aber jeder Keimling, jedes neue Leben ist ihr ein regelmäßiges Zeugnis. Diese Gegenüberstellung gilt nicht nur für die organischen Wesen. Sie offenbart sich - wenn auch mit einem sehr langsamen Rhytmus - genauso in der anorganischen Welt, in den Begebenheiten der Meere, der Felsen der Himmel" n

Eine gegensätzlichere Haltung, im Vergleich zu der oben angeführten Sartoris, kann man sich kaum vorstellen: auf der eine Seite werden rechts und links auf kapriziöse und veränderliche "issue-Pakete" reduziert; auf der anderen werden sie fast zu Systole und Diastole des Herzen des Universums; für den Politikwissenschaftler sind sie bloße Hinweisschilder, welche die Stätten des politischen Konflikts und deren jeweilige Entfernung angeben; für den Sprachwissenschaftler hingegen definieren sie die Logik selbst des Lebenden. Es kann nicht verneint werden, daß sich Devotos Definition nicht geringer Kritik aussetzt, besonders dort, wo er in poetischem Höhenflug die "Begebenheiten der Meere, der Felsen, der Himmel" in den Zeugenstand ruft. Außerdem ist die scheinbare Immobilität der Rechten unverständlich, wenn man sich die rechten totalitäre Regime unserer Zeit vor Augen führt - Regime welche die bürgerlichen Gesellschaften erschüttert haben, alteingesessene "führende Schichten" zerstört haben, einen Anschlag auf jahrhundertalte religiöse Werte verübt haben, usw. Auch ist die Iibido generandi der Linken nicht immer unumstößlich, wenn man an die (versteckte) Philosophie bestimmter Umweltschutzgruppen denkt, an die geforderte Geburtenbeschränkung usw. (laßt uns das schon existente Leben respektieren, anstatt neues zu kreieren - lautet ihre implizite Logik). Und dennoch, ein vorschnelles Räume n der objektivistischen Position, könnte dazu führen, mit dem Bade das berühmte Kind auszuschütten. Die Natur enthält die Rechte und die Linke nicht auf die Art wie sie Licht und Dunkel, Masse und Leere, Gleichbleiben und Sichverändern usw. enthält; aber ge12 P. Hores d'Arcais, Che cosa e di destra, ehe cosa e di sinistra?, in: L'Espresso, 21. Januar 1979, S. 46. 13 G. Devoto, Destra e Sinistra, in: Corriere della Sera, 10. September 1973, S. 3.

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nausowenig kann man behaupten, daß frei im menschlichen Raum umherschweifende politische Werte sich einmal um einen ideologischen Pol herum gruppieren und dann um einen anderen anthithetischen. Welches ist in Wirklichkeit die Anziehungskraft, die die vielfältigen issues in den verschiedenen Momente der modernen und zeitgenössischen Geschichte dazu bringt, sich auf der einen oder der anderen Seite zu gruppieren. Im Unterschied zu den Objektivisten glaube ich nicht, daß diese in rerum natura liegt, aber ich glaube auch nicht, daß es sich nur um ein jlatus vocis handelt. Meiner Meinung nach verweisen rechts und links auf zeitlich konstante g r u n d I e g e n d e E i n s t e II u n g e n , auf A r t u n d W e i s e , wie man sich gesellschaftlichen Fragen stellt, auf Intentionalitäten verwandelt in Instinkte, welche sich in dieser oder jener Institution wiedererkennen, in diesem oder jenem wirtschaftlichen Modell, allerdings ohne sich je für i m m e r an die eine oder andere fest gebunden zu fühlen. In diesem Sinn haben wir keine Schwankungen von Werten, die bald rechst bald links stehen, sondern rechte und linke in n er e Ne i g u n g e n , die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Werte verkörpern. Um nur ein bezeichnendes Beispiel anzuführen, hat im Grunde die nämliche "Ordnung" - e in rechter Wert par excellence - im rationalistischen und planerischen Sinn an der Schwelle zum modernen Staat den Abbruch aller jener "natürlicher", lokaler Autoritätszentren bedeutet, in denen die verworrene Welt des ancien regime zusammengefaßt war. Wie können sich jedoch diese geistigen Veranlagungen definieren? Um es etwas vereinfachend darzustellen 1\ rechts und links beziehe n sich grundsätzlich auf die Art und Weise, wie die menschlichen und besonders die politischen Beziehungen wahrgenommen werden. Wenn der Mensch in einer Welt überleben will, wo der struggle of life den Ton angibt, muß er seine Kräfte vereinen, Langzeitverpflichtungen eingehen, sich organisieren und folglich Beziehungen von Befehl/ Gehorsam aufnehmen. Nur Dank einer immer intensiveren "sozialen Zusammena rbeit" können die Kinder der Erde den Zustand der Unterlegenheit aufhebe n , in den sie - "ungefiederte Zweifüßer" - von der Natur gestellt wurden. Die sozialen Bande schützen einerseits die Freiheit jedes einzelnen, andererseits schränken sie sie ein und außerdem schaffen sie Privilegien, gebunden an den Besitz von cbances persönliche Qualitäten, erworbene oder geerbte Mittel usw. -auf der Seite der politischen oder kulturellen Machthaber, oder besser derjeniger, die die soziale Zusammenarbeit beginnen, Aufgaben zuweisen, Unterstützungen verteilen, Kontroversen abwenden, für symbolische Gratifikationen sorgen, usw. Die Rechte und die Linke sehen die Angelegenheit mit grundsätzlich unterschiedlichen Augen und Herzen, Hoffnungen und Ängsten. Die Rechte ist dazu geneigt, die positive Seite der sozialen Bande zu sehen; die Linke die negative und degenerative Seite. Die eine sieht in der Autorität den Vater; die andere den Gebieter; die eine sieht in den assoziativen Bestrebungen 14 Siehe hierzu ebd., sowie G. Devoto, Per un'uso critico dei termini "destra" e "sinistra", in: J.a Cultura, 0975), S. 397-414.

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Schutz, Halt, den sicheren Hafen; die andere eine gewaltige und furchtbare Kraft, notwendig um das Gewicht der natürlichen Knechtschaft zu verringern, die aber leicht zum Instrument der Ausbeutung werden kann. Mit anderen Worten - um schon verwendete Metaphern erneut aufzugreifen - die sozialen Bande, die für die Rechte Wurz e I n sind, laufen Gefahr, sich für die Linke in FesseI n zu verwandeln. Die erste sieht in der Gesellschaft den Baum , der aus sich selbst wächst, je älter desto kräftiger und üppiger. Die zweite sieht darin das Se i I , um an die Spitze zu gelangen - ohne Wert an und für sich, ein Instrument des kollektiven Aufstiegs. Es folgt daraus: wo die Wertschätzung der Wurzeln intensiver ist und die sozialen Bande als der natürlichen Ordnung der Dinge entsprechend angesehen werden, dort ist die Rechte; wo andererseits die Bestrebungen stärker sind, soziale Bande und Verpflichtungen - die Macht des Menschen über den Menschen - einzuschränken, zu kontrollieren, neu auszuhandeln, dort ist die Linke. Die Rechte ist Apologie der Verwurzelung, die Linke Apologie der Emanzipation, aber im ältesten Sinne des Etymons, das auf den Akt verweist, den Griff der zupackenden Hand zu lockern. Am Ende des historisch-idealen Verlaufs der einen liegt die Anarchie - oder besser - die Zerstörung jedweder Macht: sowohl jener, die auf der Ebene der "Zivilgesellschaft" in den Zentren von Produktion und Handel entsteht, als auch jener, die aus der Kontrolle der "öffentlichen Sphäre" entspringt. (Es darf nicht vergessen werden, daß der Marxismus und der Marxismus-Leninismus, heute Symbole bürokratischer Übermacht - besonders der zweite -, weiterhin die Zerstörung des Staates auf ihre Fahnen schreiben, auch wenn sie eine einstweilige Verstärkung des repressiven Apparates verlangen, um den - zwar im Untergang begriffenen, aber noch gut gerüsteten - bürgerlichen sozialen Kräften die Stirn zu bieten; kurz und gut, um Selbstmord zu begehen, muß der Staat erst überstark werden!). Am Ende des historisch-idealen Verlaufs der anderen Seite liegt die P a n a r c h i e , der politische Organismusgedanken, ein dichtes Netz von Kräften und Pflichten, das am Ende alle menschlichen Beziehungen umhüllt. Auch wenn die Linke eine Philosophie des Krieges gegen die Privilegien ist - und nicht zufällig hat sie in Spartakus ihr privilegiertes Symbol -, wird sie deshalb nicht (immer) Philosophie der Modernisierung: der Industrialisierungsprozeß, die Fortschritte in Wissenschaft und Technik können die Zerstörung der alten herrschenden Kasten begünstigen, aber sie können genausogut neue erzeugen: nicht rein zufälliger Weise gibt es eine sozusagen b u ko I i s c h e Linke, die die soziale Gerechtigkeit an das jakobinische Konzept der pauvrete bindet und eine s z i e n t i s t i s c h e Linke, die davon überzeugt ist, daß- um einen berühmten Ausspruch Lenins zu paraphrasieren - der Sozialismus Arbeiterräte plus Elektronik sei. Wenn die Rechte Philosophie der Verwurzelung ist, bedeutet dies andererseits nicht, daß sie in all ihren Bestandteilen dazu geneigt ist, die alten

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hierarchischen Strukturen wertzuschätzen. Der Nationalsozialismus verabscheute zum Beispiel alles, was an die Dynastie der Habsburger mit ihren gebrechlichen übernationalen Aristokratien erinnerte und forderte bedingungslose Treue nur der Rasse gegenüber- egal welche die Staatswappen in den Pässen ihrer Mitglieder waren. Unter einem gewissen Aspekt kann man auch mit den Objektivisten sagen, daß die rechte Treue dem Sein gegenüber bedeutet und die Linke Eloge des Werdens, aber nur in einem übertragenen und metaphorischen Sinn. Die Rechte ist im Sinne des Sc h i c ks a 1s Treue dem Sein gegenüber: die Gemeinde, in der ich geboren wurde, die Heim a t im starken Sinn, bestimmt meine innerste Persönlichkeit; ich kann sie nicht abwerfen wie ein Gewand, sie gehört mir und ich gehöre ihr; Kraft meiner Geburt bin ich ihr gegenüber Verpflichtungen eingegangen, denen ich mich nicht entziehen kann und deshalb muß ich die Pflichten erfüllen, die sie mir auferlegt, auch wenn ich nicht gänzlich überzeugt sein sollte ( right or wrang my country !). Die Linke ist Ausdruck des Werdens, aber nur als menschlicher und sozialer Fortschritt a II er: nicht die Veränderung als solche ist ihre Sorge - jene ausdruckslose Veränderung, die schlußendlich die einzige in der Natur feststellbare ist - sondern die Veränderung in Sachen Status, Würde, Kontrolle der Produktionsmittel, die jedesmal zu bemerken ist, wenn die Hochburgen des Privilegs und der Diskriminierung zerschlagen werden. Für den Menschen der Rechten nimmt das Glück als innerer Erfüllungszustand Gestalt an. Es erwächst daraus, sich Teil eines ausgedehnten und komplexen Organismus zu fühlen, aus dem Stolz auf die Zugehörigkeit, der Entdeckung von Charakterzügen und persönlichen Eigenschaften (und auch körperlichen Verfassungen), die schon die Vorfahren besaßen und die in den Nachkommen aufgespürt werden können (vgl. den alten volkstümlichen Spruch: Blut ist dicker als Wasser). Andererseits bedeutet Glück für den Menschen der Linken Befreiung von Verpflichtungen, die die Vernunft nicht zu rechtfertigen weiß, und über die eigene Existenz verfügen zu können, ohne von den Verpflichtungen anderer abhängig zu sein (vivre sa vie), die Möglichkeit der vollen und totalen Selbstverwirklichung zu haben, ohne mit der Knappheit der Mittel oder der Unzugänglichkeiten entstanden durch Reichtum, Macht und Prestige anderer - rechnen zu müssen. Der Wert, der der Soziabi I i t ä t beigemessen wird, verbindet unter einem historischen und kulturellen Gesichtspunkt nicht wenige Familien der Rechten und der Linken. Aber Achtung! Während für die Rechte die assoziativen Bestrebungen mit der Gemeinschaft gleichzusetzen sind und sich - bewußt oder unbewußt - nach der Familie und dem attributiven Prinzip richten, sind sie für die Linke gleichbedeutend mit der Gesellschaft und beziehen sich immer auf eine Kooperation, frei gewählt und so verstanden, daß sie es jeder Partei erlaubt, die eigenen Werte mit d er H i I f e a II er zu verfolgen, auf der Basis eines Prinzips von Leistung und Gegenleistung im weitesten Sinn (do ut des).

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servoir der Ausgeschlossenen", oder besser noch den Überbleibseln des kleinbürgerlichen Umstürzlerturns aus der Zeit vor dem Marsch auf Rom, verschiedentlich vom Regime aufgeopfert und deshalb in die Opposition zurückgeströmt: es sind die J:.x-Sansepolcristi •, die Ex-Dannunziani, die Ex-Arditi ••, die Exfuturisten, die J:.x-Squadristi, die Exdissidenten usw., diejenigen, die Oe Felice - nach Lanaro zu unrecht - links einordnen würde; 2) den Förderem der zweiten revolutionären Welle, oder besser den unermüdlichen Liebhabern der agitatorischen Praxis und der "kontinuierlichen Revolution": es handelt sich hier um die blutrünstigen Populisten, die Traditional-Partikularisten, die Gegner des 20. Jahrhunderts, die ruralistischen und antiindustriellen Umstürzler; 3) den Korporativisten, hauptsächlich rekrutiert aus der mittleren Generation und der GUF [Gruppo Universitario Fascista]: für "links" wird ihre Militanz ausschließlich aufgrund des biographischen Werdegangs zahlreicher Faschisten gehalten, die in den späten dreißiger Jahren dem heimlichen antifaschistischen Kampf und dann dem Widerstand beitreten werden. Die einzige seriöse Linke sei hingegen von den Gewerkschaften vertreten, die dem Korporativismus ablehnend gegenüberstehen. "Eine faschistische Linke existiert und ist in dem Ausmaß tätig, wie es ihr gelingt, einen Funken von Klassenkampf im Ir.neren der italienischen Gesellschaft zu zünden oder wenn sie Menschen und Gruppen darstellt, die in der Lage sind vielleicht im Namen des ,wirklichen Fa~chismus' - der national-protektionistischen, populistschen und totalitären Linie, die nach 1925-1926 eingeschlagen wurde, eine eigene politische und politisch-wirtschaftliche Alternative positiv entgegenzustellen"21. Lanaros Ansicht kann nicht gebilligt werden. Und nicht allein weil man in Verlegenheit gerät, wenn der "Linken" das Monopol auf die soziale Konfliktfähigkeit, den Antiprotektionismus und den Antipopulismus zugesprochen wird, sondern aus einem triftigeren Grunde, der die im Syntagma enthaltene Methodenwahl an sich betrifft. In dem Aufsatz werden tatsächlich die ideologischen Beteuerungen, die praktischen Orientierungen, die daraus entwachsen und der Grad an Kongruenz hinsichtlich der praktischen Optionen des Regimes unter Mussolini nicht berücksichtigt, sondern nur die objektive Funktion - positiv oder negativ - der politisch und kulturell engagierten Gruppen. Wobei das Positive und das Negative mit einer relativ entwickelten Industriegesellschaft in Beziehung treten, deren progressivste sozialen Komponenten für den Tag funktionsfähig gehalten werden, an dem sie- nach dem Fall der (Klassen-) Diktatur- ihre Position als aktive Protagonisten des politischen Kampfes wiederaufnehmen müssen. Dies ist, wenn man genau darüber nachdenkt, ein sonderbares Verständnis der LinAls Sansepolcristi wurden im Faschismus die Teilnehmer der Versammlung zur Gründung der "Fasci italiani di combattimento" auf der Piazza San Sepolcro in Mailand (23 März 1919) bezeichnet (d. Übers.]. Ziel der 1921 gegründeten militanten Organisation "Arditi del popolo" war es, sich den faschistischen Gewalttaten zu widersetzen (d. Übers.]. 21 Il regime fascista, S. 368.

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ken, als nunmehr sinnendehrte Hülle und sie et sempliciter reduziertes Synonym für den Fortschritt. Untersuchen wir Lanaros Klassifizierung einmal von der anderen Seite, jener der faschistischen Rechten als Linke verkleidet, in der oben angeführten Reihenfolge fortschreitend: a) An Lanaros "Hof der Wunder" gab es zweifellos geistige Verwirrung, finstere Rachegelüste und leidenschaftliche Ressentisments typisch für die "Ausgeschlossenen". Und dennoch, enthält nicht die Anklage gegen die Partei, sich zu kompromittieren durch die Verständigung mit den alten herrschenden Klassen, mit den Kriegsgewinnlern, mit den Verlierern von 1922 Echos - wenn auch schwache - von Kämpfen gegen die Hochburgen des sozialen Privilegs und eine rebellische Neigung, die freilich bei den traditionellen Rechten nicht oft vorkommen? b) Der "umstürzlerische und antiindustrialistische Ruralismus" von Zeitschriften wie "Il Selvaggio", "II Bargello", .L'Universale" steht dem ideologischen Erbgut des wisse nschaftlichen Sozialismus (Marx - Engels) gänzlich fremd gegenüber, aber steht e r anderen einflußreichen, doktrinären Komponenten der historischen Linken ebenso fremd gegenüber? Nicht ganz zu unrecht bezeichnet Lanaro die Einstellung von Malaparte, von Berto Ricci, von Maccari als Po pul i s m u s, aber ist solch ein Etikett wirklich selbstverständlich ein rechtes? In einem interessanten Artike l, der in der Zeitschrift . Rivista italiana di scienza politica" erschienen ist, zögert Michael Curtis nicht, den Populismus links einzuo rdnen - polemisch gegen die developmental Thesen von Alexander Gerschenkron. "Die populistische Kritik an den Folgen der Modernisierung nimmt die heute weit verbreitete Idee vorweg, daß die industrielle Entwicklung in großem Umfang hohe soziale Kosten und gro ße Opfer für die Landwirtschaft bedeutet, der das zur Modernisierung notwendige Kapital entzogen werden muß" 22

Abe r auch Curtis' Position ist nicht einwandfrei: der Populismus ist ein issue, das zwischen rechts und links schwankt, je nach den .grundsätzlichen Neigungen", mit welchen die Strukturen ihn zur Bildung eines Ganzen zwingen. Auf jeden Fall erscheint es mir nicht als korrekt, eine ausschlaggebende Komponente der faschistischen Bewegung als "falsche Linke" zu definieren, nur auf der Grundlage von Werten, Gefühlen, Ängste n (ausgelöst von der gesellschaftlichen Entwurzelung und der Herausbildung neuer sozialer, wirtschaftlicher und politischer Privilegien) für die weder die Rechte noch die Linke das copyrigbt besitzen. c) Die technokratischen und saint-simonistischen Komponenten, die Lanaro in Ugo Spiritos Theorie ausmacht, sind real, aber warum sollten sie

22

M . Curtis, Po pulismo: destra o sinistra?, in: Rivista italiana di scienza politica, XV

(1985), 3, s. 464.

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als solche einen politisch rechten Stellenwert ausfüllen 23 ? In Spirito gab es eine starke antibürgerliche und philo-proletarische Komponente (in einem unveröffentlichten Text aus dem Jahre 1940 sprach er sogar von aufsteigenden Arbeiterklassen ... ), die über das Regime hinwegging ohne Spuren zu hinterlassen - abgesehen vielleicht von der sozialistisierenden Ideologie von Salo. Aber, fragt man sich, ist es legitim, die Gegner in erster Linie nach dem Realisierten zu bewerten, um dann - nicht selten versehentlich - die Freunde nach den Intentionen zu beurteilen? Die Hindernisse, die das Reale fortwährend denen in den Weg legt, die reformatorische - wenn es sich um politische Bewegungen handelt, die den eigenen Vorstellungen nahestehen- Entwürfe kultivieren, werden zur Nahrung eines nachsichtigen und realistischen Historizismus; wenn man es mit verhaßten Regimen zu tun hat, verfallen sie zu reinen Ausreden, die von den Machthabern vorgebracht werden, um den reaktionärsten Immobilismus zu rechtfertigen. Wenn der Korporativismus schon in den frühen dreißiger Jahren erlischt, so kann dasselbe meiner Meinung nach nicht von dem sentimentalen Feuer gesagt werden, das ihn nährte und das später versuchen sollte, ihn von a u 8 e n auf der Welle aufregender kollektiver Abenteuer neu zu beleben (la battaglia del grano, die Schaffung des Impero, der Eintritt in Hitlers Krieg zum Zeitpunkt der "unwiderruflichen Entscheidungen" usw.) . Spiritos Theorie steht nicht links - wie Lanaro korrekterweise hervorhebt - aber sie ist auch keine reine Ideologie der politisch-kulturellen Bekehrung der herrschenden Klassen, die im Anblick der neuen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen der zwanziger und dreißiger Jahre jenes bißeben an Liberalismus und Freihandel über Bord werfen, das sie in der Ära Giolittis wenigstens mit Worten unterstützt hatten. Es handelt sich um einen r ev o I u t i o n ä r e n Vorschlag - abgesehen davon, ob und wie anmaßend -, darauf ausgerichtet, die "Waffen des Achill" an eine neue Rechte zu liefern, die inzwischen nicht mehr zurückführbar ist auf jene, in Erwartung des "Untergang~ des Abendlandes" , kulturell in sich selbst ver~chlossene , die um die Jahrhundertwende in den Vordergrund gerückt war.

Den Faschismus ausschließlich auf eine Reaktion der bürgerlichen Rechten zu reduzieren - ganz unabhängig von der Komplexität der nach und nach vorgeschlagenen Interpretationshypothesen, die gebunden ist an die historische Analyse, die vom Bürge rtum und seinen Absichten ge macht wird - , he ißt abe r in Wirklichkeit sich eine r Reihe von Wide rsprüchlichkeiten aussetzen, die sich nach Popper nur durch immer neue ad hoc Hypothesen lösen lassen. Wenn geschrieben wird, daß "die verschiedenen 23 Vgl. hierzu 5. Agapitides, Saint-Sirnon et le corporatismc fasciste, in: Revue d'histoire economique et sociale, (1936-1937), 23, S. 101-109. Ein interessanter Beweis der Schwierigkeiten die Technokratie auf de r einen oder anderen Seite der Trennlinie zwischen rechts und links einzuordnen, finde t sich in: L. Damerie, Tecnocrazia punto d 'incontro della sovversione, Milano 19HS. Der Autor ist ein Vertreter der katholisch-reaktionären extremen Rechten.

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konstitutiven Elemente der faschistischen ,Revolution' ... sich grundsätzlich auf ein Paar zurückführen lassen: den Ausweg der Revolution zu überwinden und die Arbeiterklasse zu schlagen" 24 . Wenn der Faschismus tout courtals "antibolschewistische Revolution" definiert wird und seine Machtergreifung als "der Sieg - nicht nur der bürgerlichen Klasse sondern des bürgerlichen Staates überhaupt" 25 , dann hat man den Eindruck, in einem ideologischen Babel zu versinken, wo die klassischen Ausdrücke der politschen Überlegung jeden präzisen Begriffsinhalt verlieren: nicht nur "rechts" und "links", sondern auch Staat, Bürgertum, bürgerlicher Staat usw. So verhält es sich im Falle des Bandes von Angelo D'Orsi "La rivoluzione antibolscevica", dessen schlappe Wendungen an die alte Geschichtsschreibung des "Bürgerkrieges" erinnern. Um sich eine Idee vom Diskurs über die Methode zu machen, der ihn inspiriert, reicht die Aufforderung, Mussolinis Leitartikel in "Popolo d'Italia" vom 18. März 1919 zu lesen, der die Gründung der Fasci di Combattimento ankündigte. Es handle sich um ein Manifest, so der Autor, "das wärmstens jenen zu empfehlen sei, die heute so reden wie andere gestern davon, von einer Aufstellung der jungen Bewegung in der extremen Linken des politischen Panoramas ltaliens" 26 Für D'Orsi verschleiern die revolutionären Akzente des Artikels nur den Wunsch, die Massen in einer subalternen Position zu halten; ist die "Schützengräbenkratie" der Versuch die Reihen der Klassenlager aufzulösen; stellt der Kampf gegen die Kriegsgewinnler nur eine zeitweilige hysterische Ausflucht des Kleinbürgertums dar. In Mussolinis Plädoyer nämlich, "fehlt es gänzlich an einer spezifischen Kritik des Kapitalismus oder an einer ausführlichen Anklage gegen das bürgerliche Unternehmertum. Die politische Gehaltlosigkeit des frühen Faschismus liegt genau hier; im Widerspruch zwischen einem substantiell arbeitgeberfreundlichen Programm und einem Einstellungsversprechen, das sich an das kleine und kleinste Bürgertum wandte im Tausch für wenige konkrete Gegenleistungen, abgesehen von Antisozialismus und dem nicht klar umrissenen Versprechen eines zukünftigen, unwahrscheinlichen Primats"27.

Abgesehen von einem gewissen Interesse an der sogenannten "reaktionären Modcrnisierung der italienischen Gesellschaft, um sie den neuen Anforderungen des Kapitalismus im Zeitalter der Monopole anzupassen" 28 , scheint man in eine Exegese aus "All'armi, siam fascisti!" 29 zurückzufallen. 24 A . D 'Orsi, La rivoluzione antibolscevica. Fascismo, classi, ideologie (19171922), Milano 1985, S. 30. 25 Ebd., S. 31. 26 Ebd., S. 57. 27 Ebd., S. 59. Ebd., s. 30. Der Dokumentarfilm von L. Dei Fra I C. Mangini I L. Micciche (Regisseure und Drehbuchautoren zusammen mit G. Ferrara) ist paradigmatisch für die mystifizierende Art, mit der in den frühen sechziger Jahren an den Faschismus herangegangen wurde. Was ein Mangel an Stil und Kultur im Unterschied zu dem wunderschönen Film der Brüder Taviani: La notte di S. Lorenzo. 28

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Die Rollen, die den verschiedenen politischen Akteuren von den traditionellen Drehbüchern zugeteilt werden, bleiben nahezu unverändert und die sorgfältige Analyse der Texte (hat sich die Mühe wirklich gelohnt?) reduziert sich auf die beruhigende Bestätigung dessen, was man schon wußte. Und zwar daß: "abgesehen von den offensichtlichen Schwankungen zwischen einer ,Linken' und einer ,Rechten' innerhalb der Bewegung, die .Fasci von einer Linie bestimmt scheinen, die als interklassistische Vermittlung definiert werden kann, mit stark antisozialistischem und grundsätzlich antiproletarischem Charakter", wie schon "der Gebrauch der konzeptuellen Kategorie ,Nation' zeige, deren Bedeutung jener vom Bürgertum gleich ist" 30 In Wirklichkeit sind Ausdrücke wie "spezifische Kritik am Kapitalismus" oder "ausführliche Anklage gegen das Unternehmerische Bürgertum" weder spezifisch noch ausführlich, wenn nicht im Inneren der ideologischen Optionen des Forschers der "antibolschewistischen Revolution". Historiker wie D'Orsi bestreiten die faschistische Antibürgerlichkeit, da die Definition des objektiven Feindes ein exklusives Anrecht desjenigen ist, der auf der richtigen Seite steht: wenn ich jemanden für einen Feind halte, kann ich nur ernst genommen werden, wenn ich ihn auf die Art, in den Zeiten, mit der Motivierung und mit den Waffen des autorisierten Interpreten der Weltgeschichte bekämpfe.Das durchaus gerechtfertigte Gefühl des Überdrusses angesichts ähnlicher historiographischer Analysen erklärt die "revisionistische" Reaktion ad abundantiam. Diese scheint sich hauptsächlich auf eine unkritische Einordnung des Faschismus nach rechts zu konzentrieren, welche begründet wird mit issues, die laut Definition nicht immer rechts stehen und ermutigt wird durch die Entfernung von Charakteristika, die nicht selten in Ideologien und Bewegungen der Linken vorkommen. Wenn von "revisionistischer Geschichtsschreibung" die Rede ist, denkt man in Italien hauptsächlich an Renzo De Felice. Und das ist kein reiner Zufall; da die eindrucksvollen Forschungsergebnissen des Biographen Mussolinis auf dem Gebiet des Faschismus nicht nur in geschichtliche Werke übersetzt wurden, die -was die Weitschweifigkeit der Dokumentation und die Genauigkeit der Rekonstuktion der Geschehenisse anbelangt - einen obligatorischen Anhaltspunkt für alle Faschismusforscher darstellen, sondern auch eine weitaus komplexere und anspruchsvollere kulturelle Debatte über die "italienische Diktatur" ausgelöst hat. Diese hat letztendlich gewisse kritische Fragen miteinbezogen 31 : die Objektivität der 30

A. D 'Orsi, La rivoluzione antibolscevica, S. 252.

Kein anderer Historiker ist in den letzten Jahren so heftig diskutiert, zitiert und kritisiert worden wie Renzo De Felice. Dies geschah nicht durch die Kontrolle der mass-media, die ihm angeblicherweise eine skrupellose Personalpolitik eingebracht hätte, (G. Rochat, Ancora sul "Mussolini" di Renzo De Felicc, in: ltalia contemporanea, [1981], 144, S. 5-10) sondern da er, mehr als andere, ein gewisses beruhigendes und beschwörendes Bild von unserem geschichtlichen Erbe wieder zur Diskussion stellte und auch die angebliche Immunität gegen den totalitären Virus, zu der es Dank der Mobilisierung des Volkes (die "Nordwinde" ... ) und des Widerstandes gekommen sei. 31

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Geschichtsforschung und ihre Grenzen, das Verhältnis zwischen den Interessen und den Werten, zwischen den Konstanten des politischen Handelns und der civic cu/ture (einschließlich der Mythen, des imaginären Kollektives, der Symbole), zwischen den Institutionen und den Klassen, zwischen der Logik der "Bewegung" und derjenigen des "Regimes" D e Felice, dessen Forschungsarbeit immer streng an Fakten gebunden war, an Archivmaterial, an die Tagebücher der Protagonisten - oft mit der Hartnäckigkeit eines Spürhundes aufgestöbert -, an die Gegenüberstellung von Zeugenaussagen, hat dazu beigetragen, zwei Mythen von Innen abzubauen: auf der einen Seite die Verbindung zwischen Masse und Demokratie (ob bürgerlich oder proletarisch ist hier unwichtig); auf der anderen die Identifizierung des Faschismus mit der bürgerlichen Reaktion. Es ist nicht schwierig, zu zeigen wie nach dem Fall dieser beiden konzeptuellen Spitzen die automatische Einordnung des Faschismus nach rechts, die grundsätzlich an alt-marxistische und neo-gobettistische Approaches gebunden ist, jegliche Glaubwürdigkeit verlor. Aber mal sehen wie weit. Was die Beziehung Faschismus/kapitalistisches Bürgertum betrifft, schrieb De Felice schon 1966: "es ist tatsächlich so, daß sich trotz der vielen Übereinstimmungen, die Unterstützung des Faschismus durch die wirtschaftliche Welt kaum von derjenigen der liberaldemokratischen Welt unterschied. Es handelte sich um eine bedingte Unterstützung, instrumental und auf Zeit. Der Faschsimus war solange akzeptabel, wie er dazu gedient hätte, das einstürzende Haus abzustützen; nach getaner Arbeit wäre er zu nichts mehr von Nutzen gewesen, bestenfalls hätte er eine eigene Wohnung in dem Haus bekommen können, falls er sich an die Formen des Zusammenlebens angepaßt hätte: weiter nichts; und das Haus wäre weiterhin in den Händen der Besitzer geblieben. Das ist - wie man sieht - weit entfernt von manch grober Gleichsetzung von Faschismus und Großkapital" 3z.

Diese These, die tiefsitzende Stereotype zerstörte, konnte in Wahrheit auch von traditionellen historiographischen Perspektiven ausgehend akzeptiert werden - nicht zufälligerweise hatten marxistische Forscher von großer Begabung auf die "bonapartistischen" Faschismusinterpretationen zurückgegriffen. Wenn andererseits Bürgertum und Faschismus unter einem verfeinerten Gesichtspunkt zwei verschiedene Dinge sind, bleibt das Problem von Natur und Grad dieser Verschiedenheit bestehen. Wenn wir auf der einen Seite eine kohärente und strukturierte Klasse haben, die gut in die Geschichte eingebaut ist und auf der anderen eine Gruppe von entwurzelten und außenstehenden Abenteurern, deren Überlebenschance darin liegt, sich in die Widersprüchlichkeiten des Systems einzuschleichen und ihre politischen Dienstleistungen teuer zu verkaufen, dann reduziert sich die Autonomie des Faschismus gegenüber dem Bürgertum erheblich. Von hier stammt die Neuheit in De Felices Überlegungen über die aufsteigenden Schichten: der Faschismus läßt sich weder mit dem kapitalistischen Bür32 R. De Felice, Mussolini i1 fascista, Bd. 1: La conquista del potere, 1921-1925, Torino 1966, S. 400, Anm.

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gerturn in seinen verschiedenen Ausdrucksformen gleichsetzen, noch stellt er dessen "weiße Garde" dar, sondern er ist vielmehr der Ausdruck eines aufsteigenden Kleinbürgertums, das dank der reifgreifenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen der Ära Giolitti und des Ersten Weltkrieges zur "sozialen Tatsache" geworden ist und versucht, "Teilnahme zu erlangen, politische Macht zu erreichen". Der Faschismus als Bewegungkann man in dem "Interview" von 1975 lesen: "erhielt so einen Charakter, der ihn zum wichtigsten Anziehungs- und Bezugspunkt all jener Teile des Kleinbürgertums machte, die eine größere Beteiligung und Mitverantwortung am gesellschaftlichen und politischen Leben der Nation anstrebten. Dies waren Gruppen, die der traditionalen herrschenden Klasse und insbesondere der politischen Elite nicht mehr die Fähigkeit und die Legitimität zum Regieren zuerkannten und die, wenn auch ohne klares Bewußtsein, auch die von ihr repräsentierte Gesellschaftsordnuno anfochten" 3·~ .

Schon diese Charakterisierung scheint mehr als nur einen Schatten auf die rechte Einordnung (wenigstens in der alten Form) des Faschismus zu werfen: so steht man tatsächlich nicht vor einem zu bewahrenden status qua, sondern vor einem sozialen Raum, den es zu erobern gilt, vor dem Wunsch nach einer politischen Auswahl, die nicht auf dem Prinzip der Mitgliedschaft, sondern auf dem Verdienftprinzip beruht. Die "aufsteigenden Schichten" stehen der an Klasseninter·essen gebundenen Linken feindlich gegenüber, aber auch der bürgerlichen Rechten, und konservativ sind sie sicherlich nicht. Nicht weniger wichtig (und deshalb Gegenstand fortlaufender Polemiken) ist das andere Fundament, das De Felice erschüttert hat, jenes, das die Massen und den Konsens betrifft. Weit entfernt davon ein Regime zu sein, geneigt das klassische Motto aller konservativen (und reaktionären) Regierungen anzunehmen: quieta non movere, machte der Faschismus die Eingliederung der Massen in den Staat zu seinem höchsten Ziel. Für dieses Vorhaben, schreibt De Felice, "bedurfte es einer feinverzweigten Politisierung der Gesellschaft, die jedoch wegen des Mangels an einem realen gemeinsamen Nenner (abgesehen vom Katholizismus), statt die Gestalt einer Massenideologisierung anzunehmen (außerdem unvereinbar mit dem mussolinischen Pragmatismus und der Notwendigkeit sowohl den gemischten Charakter des Regimes wie den sozialen und kulturellen Pluralismus an seiner Basis zu berücksichtigen), sich in die Formation einer gemeinen Massenmentalität übersetzen mußte ... Das Erreichen dieses Ziels sollte die wichtigste Aufgabe des Staates sein, mit Hilfe des Gebrauch all seiner Instrumente: die Schule, die Presse, das Radio, das Kino und vorallem die Partei mit den ihr unterstehenden Organisationen"34

Es ist hier vielleicht unnötig, daran zu erinnern, daß die Teilnahme - so sehr sie auch manipuliert sein mag -, auf jeden Fall neue soziale Energien hervorruft, Hoffnungen und Erwartungen weckt, das Hervorgehen von homines novi bestimmt (auch wenn von mindererer Qualität als die alten 3 ·~ R. De Felice, Intervista sul fascismo, Roma I Bari, 1975; dtsch.: Der Faschismus. Ein Interview von M.A. Ledeen, Stuttgart 1977, S. 36. 34 R. De Felice, Mussolini il duce. Lo Stato totalitario 1936-1940, Torino 1981.

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herrschenden Klassen), sich wohl oder übel kontinuierlich in eine gewisse Auswechselung der elites umgestaltet: alles Phänomene, die die alte Rechte sicherlich nicht fördern wollte. Darüber hinaus hat De Felice selbst, die Grenzen der klassischen Analysen des Faschismus in Sachen rechts/links einmal abgesteckt, eine gewisse Nähe gegenüber einer - wenn auch nur teilweisen - Umkehrung der gängigen Thesen bezeugt. In dem .,Interview" zum Beispiel, hat auch er bestätigt, in dem Phänomen "einen Ausdruck jenes Linkstotalitarismus" zu sehen, "von dem Talmon spricht" 3s und im "Giornale" hat er einem "linken Duce" einen "rechten Führer" gegenübergestellt. Welches ist aber der "ideologische, moralische Ursprung des Faschismus ... der im Nährboden der französischen Revolution wurzelt"? Tatsächlich ist De Felice nie über vage Andeutungen und begrenzte kulturelle Verweise hinausgegangen. Wahrscheinlich kommen - man denke nur an das Jakobinerturn - Merkmale wie ein gewisser bürgerlicher Puritanismus (antikommunistisch, avant lettre) ins Spiel, eine starke populistische Färbung, das symbolisch Imaginäre, darauf aus gemeinschaftliche heilige Stätten neu zu schaffen, oder besser eine Laienreligion, die die idola des Aberglaubens ersetzen soll. Eine Französische Revolution, deren Blick alles in allem mehr auf Rousseau als auf Voltaire, mehr auf Robespierre als auf Montesquieu gerichtet ist. Es handelt sich um eine kulturelle Dimension, clie sich nur schwer dem Faschismus in Abrede stellen läßt, aber ist sie mit Sicherheit als links definierbar? Ist nicht das "höchste uneingeschränkte Recht der Nation ihr Urteil auch mit Hilfe der Rechtsprechung durchzusetzen" 3\ welches Anna Maria Battista schon in der Rede Robespierres vom 31. Juli 1789 aufspürt, das erste Anzeichen eines stark zweideutigen Nationskonzepts, insofern es nicht nur die freie Darstellung des Volkswillens, sondern auch eine Group Mind .fiction zum Ausdruck bringt, die im Laufe der Zeit immer mehr einer "Schicksalsgemeinschaft" assimiliert wird? Die Nation, von den ersten Anfängen der bürgerlichen Revolution an, ist Gesellschaft und Gemeinschaft, Projekt und Schicksal, sie ist - theoretisch - das "Haus aller", aber - praktisch - nur das "Haus einiger". Dort finden sich in nuce alle Elemente des zweideutigen Nationalismus, also jenes Nationalismus mit dem noch "menschlichen Antlitz", der sich in Italien mit der Theorie Mazzinis vermischen wird und sogar in der faschistischen Ideologie Spuren hinterlassen wird (vgl. das Thema der "neuen Ordnung", die ein Italien bereitet, das den Zuwachs der eigenen Machtmittel betreibt und alles in allem für die gesamte Menschheit arbeitet, R. De Felice, lntervista, S. 41. M. Robespierre, I principi della democrazia, Einführung von A. M. Battista, Peseara 1983, S. XV. Dieses Buch ist äußerst wichtig für das Verständnis der theoretischen Tragweite und der Grenzen der Gleichung: Demokratie - Souveränität des Volkes - individuelle und kollektive Freiheit, die Robespie rre als "alternativen Pol zur klassischen Liberalen Theorie, fest verankert in ihrer vorrangigen Ve rteidigung der individuell privaten Rechte" (S. 111) aufgestellt hat, wie Anna Maria Battista in den klaren, essentiellen, e inführenden Seiten schreibt, die eine unbekannte Seite des "Unbestechlichen" zeigen. 35

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der es eine gerechtere Welt vorbereitet, die zugänglicher ist für die legitimen Bedürfnisse der "proletarischen Nationen"). In anderen Worten, die Gemeinsamkeiten von Faschismus und Französischer Revolutiuon beziehen sich auf Wesenszüge der letzteren, die: entweder keine Linken sind ("Ia patrie", "Je sangue impur", die Feinde, der Krieg gegen die Fremden als Zement der nationalen Einheit) oder die sich leicht sowohl rechts als auch links wiederfinden können (der Mythos vom "Volk", laizistische und säkularisierte Versionen des alten vox populi, vox Dei, die öffentlichen Feiertage, das Feiern der Nationalhelden usw.). Es ist wahr, daß Oe Felice dem Syntagma rechts/links immer argwöhnisch gegenüber stand. Besonders in den letzten Studien richtet er - parallel zur Forschungsarbeit von George L. Mosse - seine Aufmerksamkeit auf die "enormen Möglichkeiten der Macht des Mythos in einer Situation von Übergangskrisen", die die totalitären Regimes der ersten Nachkriegszeit und der italienische Faschismus selbst aufweisen. Die Arbeit der Historiker, so hat er behauptet, "konzentrierte sich bis jetzt ausschließlich auf die sozialen und politischen Aspekte des Faschismus und - manchmal - auf die Beziehung, die diese beiden mit den institutionellen Aspekte n verbindet"37 . Vernachlässigt wurde dagegen der kulturelle Aspekt (im anthropologischen Sinn zu verstehen), der vor allem dann ausschlaggebend ist, wenn es darum geht, die Entstehung der fasci und ihre Unruhe gegenüber dem "Regtme" sowie dessen "normalisierender", kompromißlerischer und "politischer'" Logik zu verstehen. In die Spur der verwendeten methodischen Hinweise und der Forschungsrichtung Oe Fe lices ist eine richtige "Schule" getrete n , der oft fruchtbare und originelle Forschungsergebnisse zu verdanken sind. Das trifft sicherlich auf Emilio Gentile zu, Autor solider Studien über die Ursprünge der faschistischen Ideologie, über den Mythos des neuen Staats und über die Partei. Gentile hat - in den Tiefen der italienischen Ideologie grabend vor einigen Jahren in einer Aufsatzsammlung das Interesse der italienischen Historiker auf jenen ideologischen Nebelfleck zurückgelenkt, der sich im Italien Giolittis im Zeichen von radikale n issues he rausbilde t - und sich nach d em Weltkrieg festigt - , der dazu bestimmt ist, die alten Grenzen rechts/links umzuwälzen. "Die Unterscheidung zwischen rechts und links für diese Bewegung darf nicht irreführen. Sowohl der rechte als auch der linke Radikalismus hatten ein und dieselbe soziale Basis in der Mittelschicht und eine große ideologische Wesensve rwandtschaft: beide n ge me in war das Vermächtnis Mazzinis, die revisionistische Polemik übe r das Risorgimento und das liberale halbe Jahrhundert, die Kritik am Parlamentarismus und an der Parteienherrschaft. Sie tauschten oft Ideen, Anführer sowie Anhänger und strebten Veränderunge n des Staates an, mit eine r nationalen laizistischen und antisozialistischen Perspektive, wo demokratischen Hoffnungen auf Teilnahme an der Macht und Projekte für einen starken Staat zusammenkamen, der nach einer Hierarchie der Kompetenzen für Produktion und Ex-

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Einleitung zur 9. Aufl. vo n R. De Felice, Inte rpre tazioni del fascismo, Bari

1983, S. XIX.

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pansion organisiert, und errichtet werden sollte mit dem aktiven Konsens und der politischen Führung der Mittelschicht" 38.

Gentiles scharfe Beobachtungen werden den seit langem schon unfruchtbar gewordenen Analysen der politischen Kultur Italiens gerecht. Der demokratische Kampfgeist, die "neue Demokratie" von Giovanni Amendola, der national-reformerische Sozialismus auf der einen und Marinettis futuristische Demokratie, der Faschismus der Sansepolkristen, der corradinische Nationalismus auf der anderen Seite lassen sich nicht mit einem scharfen Schnitt und mit einem auf das Darauffolgende gerichtete Blick trennen. Für einen Historiker wie Gentile, der so in der geistigen Achmosphäre der von ihm behandelten Zeit versinkt, bedeutet es, das pulsierende Leben von gestern mit idealen Optionen von heute abstrakt zu überdecken, wenn die politischen Grundzüge, die die gemeinsamen kulturellen Nenner vereinen, nicht wahrgenommen werden. Und dennoch ist es nötig, sich auch vor zwei anderen Risiken in acht zu nehmen; der theoretischen Überbewertung der Lagerwechsel und der Unterbewertung der trennenden ideologischen Elemente, die ohne Zweifel die Lektüre der Texte des "nationalen Radikalismus" - wenn auch mit seinen verschiedenen Deklinationen des "Mythos vom neuen Staat" kontinuierlich ans Licht bringt. Weder dürfen die Wechsel von einem Lager ins andere (vom Anarcho-Gewerkschaftler zum Faschisten, um nur den häufigsten zu nennen) zu sehr emblematisiert werden, weil es - besonders in den unruhigen Zeiten des kollektiven Zusammenlebens - die sentimentalen Gespenster39 sind, die die politischen Haltungen bestimmen, nicht die kühle logische Deduktion, ausgehend von idealen Prämissen: im "Notfall" werden nicht nur die Freunde "auf die Probe gestellt", sondern auch die effektive Anhängerschaft an bestimmte Gesinnungen. Noch dürfen die Unterschiede zwischen politischen Strömungen und Parteien vernachlässigt werden, da sonst das Zusammentreffen von Individuen und Gruppen auf der faschistischen beziehungsweise antifaschistischen Seite Gefahr läuft, auf rein biographische und charakterbestimmte Faktoren zurückgeführt zu werden - oder im Fall des Antifaschismus, auf Freiheitsideale, die nicht alle seine Komponenten charakterisieren ... Man konnte sehr wohl innerhalb dieses sehr unterschiedlich zusammengesetzten politischen Lagers, welches Emilio Gentile so feinfühlig analysiert, die politische Praxis des liberalen Staates für nichts mehr als eine Mischung aus schwachen und gefügigen Oligarchien halten, man konnte sogar die Arbeiterbewegung als eine massa damnationis sehen, getäuscht durch die Demographen, die vom Bürgertum übergelaufen waren, und letztendlich konnte man mit neuen Formen der politischen 38 E. Gentile, Il mito dello Stato nuovo dall'antigiolittismo al fascismo, Bari 1982, S. 24; vgl. hierzu auch den Aufsatz: Il fascismo fu una rivoluzione?, in: Prospettive Settanta, (1979), 4, S. 580-596. 39 Natürlich, das ist selbstverständlich, in nicht wenigen Fällen gänzlich private Interessen. Was freilich von allen Opportunisten gesagt werden kann, die auf den Wagen des Siegers steigen, auch wenn der Wagen kommunistisch, liberaldemokratisch oder widerständlcrisch ist .

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Repräsentation liebäugeln (selbst Bissolati wird es gegen Ende seiner politischen und persönlichen Karriere tun), aber diese vom rechten wie vom linken Radikalismus geteilten Meinungen schlossen beim erstgenannten eine Verankerung in die Aufklärung mit ein, eine grundsätzliche, nicht unterdrückbare Treue zu jener Matrix des späten 18. Jahrhunderts, aus der die liberale Demokratie und der Sozialismus, Stuart Mill und Marx, Constant und Proudhon hervorgegangen waren. Auf diese Matrix blickte Alfredo Rocco, als er 1925 in der berühmten Rede von Perugia darauf aufmerksam machte, daß: "Liberalismus, Demokratie, Sozialismus.. nicht nur die Folge einer identischen Gesellschafts- und Staatstheorie sind, sondern auch ... logische Ableitungen voneinander. Die logische Entwicklung des Liberalismus führt zur Demokratie, die logische Entwicklung der Demokratie führt zum Sozialismus. Es ist wahr, daß der Sozialismus jahrelang für das wirtschaftlich-politisch antithetische System zum Liberalismus gehalten wurde: und in einem gewissen Sinn mit gutem Grund. Aber der Gegensatz ist rein relativ und liegt gänzlich innerhalb der Gemeinsamkeit von Herkunft und Basis der beiden Konzeptionen. Der Gegensatz liegt, in anderen Worten, in der Methode, nicht im Ziel; das Ziel ist ihnen gemein: das Wohlbefinden des Einzelnen; nur daß der Liberalismus glaubt, dies mit der Freiheit zu erreichen, der Sozialismus mit der kollektiven Organisation der Produktion"")

Der Dissens zwischen dem Sozialisrr.us einerseits und der liberalen Demokratie andererseits, ließ sich für den Kronjurist des Faschismus schließlich auf den wirtschaftlichen Bereich beschränken: im moralischen, intellektuellen und religiösen Bereich erlaubte andererseits nichts den Schluß auf wirklich verschiedene Anthropologien. "Der Bolschewismus ist anti-liberal und antidemokratisch nicht insofern er sozialistisch ist, sondern insofern er revolutionär ist; denn wenn der bolschewistische Anti-liberalismus und Anti-Demokratismus sich halten sollte, so würde dies ohne Zweifel bedeuten, daß der Bolschewismus aufhören würde, sozialistisch zu sein. Ein neuer Beweis, dies, der Gleichheit der Gegenteile."

Wenn auch diese letzte Bemerkung Probleme aufwirft, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann41 , so entziehen sich natürlich auch die anderen nicht der Kritik: unter einem philosophischen Gesichtspunkt deckt sich der demokratische Mensch nicht rückhaltlos mit dem sozialistischen. Wenn der erste das Glück darin findet, sich in seinen "privaten" Wertekosmos zurückzuziehen ("il faut cultiver son jardin"), fühlt der zweite sich nur dann verwirklicht, wenn er mit den Anderen interagieren kann, um mit ihnen zusammen neue Utopien zu bauen und im Geiste der Solidarität neue moralische Kontinente zu entdecken. Das, was der eine allein zu tun beansprucht, hält der andere nur in der Gemeinschaft für möglich: auf jeden Fall 40 N. Mezzetti, Alfredo Rocca nella dottrina e nel diritto della Rivoluzione fascista, Roma 1930 (VIII), Anhang S. 256. 41 En passant macht Rocco eine Behauptung, die sich nur schwer beanstanden läßt - man denke nur an die Nomenklatura -, nämlich daß eine gerechte Verteilung der Mittel sich nur in einem demokratischen Kontext halten kann ... sonst fällt man in den Faschismus zurück. Der zweite Teil ist verkehrt, aber wie kann man ihm für den ersten Unrecht geben?

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erscheint beiden das Leben wie ein Projekt, nicht als Schicksal und die Bedeutung der Existenz wird an eine Aufgabe gebunden, die nie zu Ende geht, das Niederreißen der religiösen, sozialen und kulturellen Grenzen, die die freie Entfaltung der Persönlichkeit verhindern - jenes Abwerfen der Ketten, Quintessenz des Geistes der Linken, der Rocca als der Ausdruck des zeitgenössischen Nihilismus schien. In "Crisi dello Stato e sindacati" skizzierte er eine "Philosophie der Geschichte": "Das gesamte Leben der sozialen Organismen ist ein ewiger Kampf zwischen dem Organisationsprinzip, dargestellt vom Staat, der dazu neigt, diese zu konsolidieren und zu stärken, und dem Zersetzungsprinzip, dargestellt von den Individuen und den Gruppen, die dazu neigen, diese zu disintegrieren und so zum Verfall und Untergang zu bringen. Wenn der Staat siegt, entwickelt sich die Gesellschaft und blüht: wenn die Individuen und Gruppen die Oberhand bekommen, zerfällt sie und stirbt" 42 .

Die Tendenz des Zerfalls war nichts weiter als die Neuschrift jener emanzipatorischen Haltung in Form von Gefahr und Drohung, die es dem "linken Radikalismus" verbot, ohne eine bewußte Palinodie im "rechten Radikalismus" aufzugehen. Weder die geistige Rasse der Salvemini, noch jene der Rosselli konnte tatsächlich erlauben, daß gewisse Temperamentsverwandschaften, gewisse (allgemein) anti-giollirische Übereinstimmungen die Gentile so gut aus den Archiven des historischen Gedächtnisses ausgegraben hat - bis zum Verlust der eigenen klaren Phisiognomien im mare magnum der Faschismus-Bewegung frei fluktuieren konnten. Andererseits definiert De Felice selbst in einem Aufsatz die tiefen Gründe des "Unbehagens an der Zivilisation", das sich seit dem vergangeneo Jahrhundert verspüren ließ und dazu bestimmt war, die faschistische Ideologie zu nähren. Es handelte sich um einen Geisteszustand, der sich offenbarte, "indem die existente Gesellschaft abgelehnt wurde, die in ihrem Komplex als ein gänzlich rationales und daher künstliches, falsches sowie entmenschlichendes Produkt einer Oligarchie gesehen wurde und indem der existenten Gesellschaft die Gemeinschaft gegenübergestellt wurde, als Ergebnis der Tradition, des Gefühls, der Spontanität, des Willens zur ,Kameradschaft' (oder der Rasse im Fall Deutschlands)" 43 .

Dies sind genau die tragenden Mauern der Mentalität der radikalen Rechten. Sicherlich erschöpft die Anklage der g es e II s c h a f t I i c h e n Entfremdung die Faschismusdiskussion für De Felice nicht: ohne das Trauma des Krieges, hebt er korrekt hervor, und ohne die skrupellose Fähigkeit, mit der die Vertreter der "Schützengräbe-kratie" sich der mythischen Macht bedienen - unumgänglich, um die Seelen im Zeitalter der Massen zu mobilisieren -, hätte es weder die faschistische Bewegung noch das faschistische 42 Der Aufsatz von A . Rocco, Crisi dello Stato e sindacati, erschien zuerst in: Politica, 0919), 29 und kann heute in: Intervento, XLIII (1980), 43, S. 103 nachgelesen werden. 43 R. De Felice, Interpretazioni, S. XV.

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Regime gegeben. Und nichtsdestoweniger, so wichtig - und so zu unrecht von der traditionellen Geschichtsschreibung vergessen - sie auch sein mag, die m i t o p o i es i scheint mir auch weiterhin nicht ausschlaggebend für die Erklärung des Faschismus und für die Definition seiner idealen Natur. Ausschlaggebend ist nicht das Spektakel der Nationalisierung der Massen, sondern deren offene Intentionalität, deren Nähe zum ethisch-sentimentalen focus der Rechten (die Verwurzelung) in einem riskanten institutionellen Umfeld, das von einem Nationalstaat charakterisiert ist, der die "zivilisierte Gesellschaft" und die ethnisch-kulturelle Gemeinschaft aussaugte, dahingehend, daß er alle von ihnen hervorgebrachten Gefühle und Loyalitäten in einem Entwurf von Macht und imperialistischer Expansion kanalisiert, schlecht getarnt als odinovistische • Formeln. Hiermit soll nicht behauptet werden, daß De Felice und seine Schule (auf die sich, wenigstens zum Teil, auch der Autor hier selbst beruft) ignorieren, daß es nicht die Mythen sind, die die Genese und die Struktur der totalitären Phänomene unseres Jahrhunderts bestimmen. Wie sich Gentile zweckmäßig erinnert, - auf bekannte Gedanken Huizingas zurückgreifend"sind Ursprung und Erfolg der Mythen abhängig von der politischen und sozialen Lage sowie von der Fähigkeit, kollektive Erwartungen wiederzugeben und auszudrücken"". Ich würde aber nicht behaupten, daß "der einmal zu Symbol und Bezugspunkt einer kollektiven Bewegung gewordene Mythos weiterhin unabhängig handelt und die weitere Entwicklung von Gedanken und Situationen beeinflussen kann." Dies würde ja bedeuten, ihm den status einer freien Variablen zuzuerkennen. Meiner Meinung nach hängt die Kraft des Mythos nicht von einer autonomen internen Logik ab (das hieße: unabhängig davon, wie und warum er zum Vorschein kommt, ruft er - erst einmal in der Geschichte eingeführt - kollektive Phänomene und Geisteszustände einer gewissen Art hervor), sondern von institutionellen Faktoren und von der Ethik, die in diese projeziert wird. Gemeinschaftliche Symbole von gewisser Intesität gibt es überall, kollektive Mythen und Heldenparks charakterisieren alle nationalen Gesellschaften, die eine irgendgeartete Kompaktheil besitzen sowie Stolz auf die eigene Identität. Das Ara t i o n a I e (was nicht dasselbe ist wie das Irr a t i o n a I e) "eine vielleicht nicht aus der menschlichen Vitalität zu beseitigende Komponente", die "in den Kundgebungen des mythischen Gedankens wm Ausdruck kommt" - stellt ein beunruhigendes (und nicht nur historiographisches) Problem dar, sobald es sich in totalitäre Praxis umsetzt, in "Machtwillen", in Forderung nach einem übergeordneten hierarchischen status in der Gemeinschaft der Nationen. Aber diese (angedeutete) Verrohung der "Ordine nuovo", 1919 von A. Gramsei in Turin gegründete kulturpolitische Zeitschrift, seit 1921 Tageszeitung, unterstützte die Kommunistische Partei Italiens; [d.Übers.J. 14 E. Gentile, 11 mito dello Stato nuovo, S. 269.

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Gesellschaft ist nicht das Endprodukt des "Mythos vom neuen Staat", sondern das Ergebnis der Begegnung einer Ethik mit einer Institution, der Begegnung des "harten Kerns" der rechten Haltung mit einem Nationalstaat, dessen "Räson" immer anspruchsvoller und unmenschlicher wird. Die mythische Dimension ist eher der Brennstoff, der den politischen Mechanismus in Gang· setzt, als eine verrücktgewordene Variabel, die auf eigene Faust vorgeht. Der institutionelle Approach bleibt deswegen bevorzugt, auch wenn am Horizont der "Strukturen" (nicht nur die Wirtschaft, sondern auch und besonders die politische Macht) die Intentionalität des politischen Handeins betont werden muß - die Moralkodices, die die Dichotomie rechts/links wesentlich gestalten - sowie die anthropologisch-kulturellen Materialien oder besser die "Wertepakete" genau aufgespürt werden müssen (um einige bezeichnende Beispiele zu nennen: Hierarchie der Funktionen und plebiszitärer Cäsarismus, Primat der Aktion und Antiintellektualismus, staatlicher Dirigismus und Korporativismus usw.) aufgrund derer die historischen Abläufe und die letzten Zwecke einer Bewegung und eines Regimes Konkretheit und Schärfe annehmen. Es wird damit nicht "riskiert, im allgemeinen Kontext der universellen ,meta-geschichtlichen' Tendenzen der Moderne, die Besonderheit der verschiedenen politischen Formeln aufzuheben"45, es sollen damit im Gegenteil die unterschiedlichen Auswirkungen einiger der Natur des Menschen und jeder Gruppe entsprechenden psychologischen und ethischen Konstanten (in unserem Fall rechts und links) in den verschiedenen verfassungsmäßigen Kontexten hervorgehoben werden.

3. Die "offiziellen Formeln" des Faschismus bezüglich der Dichotomie "rechts"/"links" Rechts, links! Aber wie sahen sich die Faschisten selbst angesichts dieser Zweiteilung; Zweifellos galt für die Mehrheit, daß nicht mehr darüber gesprochen werden sollte, genausowenig wie über so viele andere Trümmer der Geschichte. "Ni droite, ni gauche" lautete im Oktober 1933 der Titel eines Artikels in "L'Ordre Nouveau", der dem Faschismus und den jungen Generationen gewidmet war, während ein Jahr zuvor der philofaschistische .Je suis partout" mit einem nicht weniger bezeichnenden Titel "Droite7 Gauche? Autant de mots sans signification" erschienen war. "Für viele Bürgerliche sowie für viele Sozialisten", schrieb 1940 Fran~ois Perroux in einem ebenso wichtigen wie von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung vernachlässigten Text, "ist die Nation ein großes Geschäft und ein Betrieb. Nur daß für die einen und die anderen die Zusam45 So M . Revelli in: Fascismo: Teoria e interpretazioni, in: Il Mondo contemporaneo. Storia d'Europa, 4.: La dimensione continentale, hrsg. von B. Bongiovanni I G.C. jocteau I N. Tranfaglia, Firenze1981, S. 1606.

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mensetzung des Aufsichtrates verschieden ist" 46 . Die geglückte Metapher Perrouxs möchte den Gordischen Knoten durchhauen: rechts und links sind interne Unterteilungen einer mittlerweile überholten historischen Saison, die in der Mittelverteilung und in den Interessenkonflikten jeweils den Spieleinsatz des politischen Handeins und seine Essenz ohne Blendwerk sieht. Wenn von der Optik des Betriebs zu jener der SchicksaIs g emein s c h a ft übergegangen wird, hat das alte Vokabular ausgedient. In einer Kultur wie der französischen, wo die Gegenüberstellung rechts/links immer im Mittelpunkt der politischen Reflexion gestanden hat, schien es denjenigen, die das faschistische Regime untersuchten, lobpriesen oder verfluchten, ganz natürlich, sich das Problem einer Zuordnung zur einen oder zur anderen Seite zu stellen. In Italien wurde nur im Zeitraum unmittelbar nach dem Marsch auf Rom weiter über rechts/links gesprochen, als das - wenn auch prekäre - Überleben der anderen Parteien Klarstellungen und Differenzierungen nötig machte. Die These, die in den offiziellen Texten und Dokumenten vorwiegend anzutreffen ist, besagt, daß der Faschismus eine geglückte Synthese aus rechts und links sei, ein origineller Ausdruck italienischen Gedankenguts, der sich widerspenstig gegen eine Zähmung durch abstrakte Formeln von jenseits der Alpen wehrte. Es handelte :>ich um eine kohärente Position für eine Bewegung mit "integralistischer" Berufung, die vorhatte, das zerissene Gewebe der nationalen Legitimität zu flicken und so - wenigstens theoretisch- all sozialen Gruppierungen und alle politischen Parteien zum materiellen und moralischen Wiederaufbau des neuen Italiens von Vittorio Veneto aufrief. Sogar ein Liberalnationalist alten Schlages wie Gioacchino Volpe sprach 1924 von "einem Italien, das unbestreitbar nach links treibt (die Plebs wird Volk, die Massen erheben und individualisieren sich) und unbestreibar nach rechts treibt (das also an der Spitze eine weitaus energischere koordinierende und führende Kraft sucht und zum Ausdruck bringt" 47 . Während auf der anderen Seite - jener des Faschismus mit gewerkschaftlicher und revolutionärer Verwandtschaft - Sergio Panunzio sich im gleichen Jahr dazu durchrang, solchen Ausdrücken einen positiven Bedeutungsinhalt zu geben, die noch kurz vorher mit dem absolut Bösen gleichgesetzt worden waren und eine Definition zu wiederholen, die ihm in der Vergangenheit widersprüchlich erschienen wäre: "der Faschismus bringt die Revolutionäre sowie die Konservativen aus der Fassung, da er eine neue 46 F. Perroux, Des mythes hitleriens a l'Europe allemande, Librairie Generale de Droit et de Jurisprudence, Paris 1940, S. 154. Es handelt sich um ein paradigmatisches Werk, das äußerst hilfreich ist, für das Verständnis der Grenzen und des Ausmaßes der Sympathien der jungen katholischen französischen Generationen gegenüber der neuen "deutschen Ideologie". Viele Seiten sind C. Schmitt, 0 . Spengler, W. Sombart usw. gewidmet. 47 G. Volpe, Un'occhiata alla nuova Camera, in: Gerarchia, (1924). Der Artikel ist abgedruckt in: G. Volpe, Scritti sul fascismo. 1919-1938, Bd. 1, Roma 1976, s. 218-219.

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und äußerst originelle Tatsache ist, er ist eine große ,revolutionäre Erhaltung"'48. An der Formel des Faschismus als Synthese hielt auch Carlo Curcio in einem Artikel in "Critica fascista" aus dem Jahr 1925 fest, wo die "historische Rechte" ermahnt wurde, sich keine übertriebenen Illusionen über die Abstammung - wenigstens idealer Natur- der Bewegung zu machen. Es liege nichts Arges darin, wenn die Erben von Ricasoli und von Spaventa uns zu den Ursprüngen zurückrufen, zu den Kämpfen um die politische Freiheit, zu den Verdiensten der Savoyer Monarchie, zu den Tugenden der "Väter des Vaterlandes": die Verpflichtungen, alle nationalen Bestrebungen zu verwirklichen, Gerechtigkeit und Ordnung zu sichern und die Waagen im Gleichgewicht zu halten. Es handelte sich um noble, vornehme und umsichtige Gesinnungen, die die Faschisten nur mit "höchst respektvollem Mitleid, wie es für in Ungnade gefallene Herren üblich ist" und mit der Dankbarkeit, die man den Wächtern vergangenen Ruhms schuldig ist, erwidern konnten. Der Schritt bis hin zur Anerkennung der Vaterschaft - sei sie auch illegitim - war zu groß. Curcio wohlverstanden hegte keine zärtlichen Gefühle für die Linke, für die "faschistischen Sozialisten", die "faschistischen Republikaner", die "faschistischen Demokraten und Liberalen", die "faschistischen Katholiken und Freimaurer": alles Menschen, die sich der Bewegung für Parteizwecke bedienen wollten, um "jeden Moment sagen zu können: ihr gehört zu uns - was heißen wollte: wir gehören zu euch". Die Zeit der Faktionen war inzwischen für immer vergangen und mit ihr die künstlichen Antagonismen. "Steht der Faschismus rechts? Links? In der Mitte? Ist er wie Gott, der im Himmel, auf der Erde und überall ist? Man möge mir die Gotteslästerung verzeihen, aber der Faschismus ist wirklich überall: das ist sein Geheimnis gewesen; ohne Transformismen, ohne Kompromisse ist er überall: die Augen auf das Wohl der Nation gerichtet" 49

Dieses "überall sein" - mit der implizierten Zensur jedweder Diskussion über die rechte oder linke Natur des Faschismus - wird in den folgenden Jahren zum letzten Wort des Regimes werden. In einer kurzen Aufzählung der Motive für den Primat des Faschismus faßte Itala Lunelli - ex-Irridentist des Trentino aus der Nachbarschaft der mystisch-faschistischen Schule: eine jener sekundären Figuren, die genau wegen der Nähe zum Idealtyp des durchschnittlichen Militanten von Interesse ist, der "Waffen der Kultur" nicht unwürdig - die Begegnung zweier bis dahin gegensätzlicher und unvereinbarer Traditionen innerhalb der Doktrin der PNF zusammen: "vom absoluten Regime übernahm er das Konzept der Autorität, lehnte aber jenes einer autoritären herrschenden Klasse ab; von der Demokratie übernahm er das Konzept der Herrschaft des Volkes, lehnte aber das Konzept der sich selbst 48 S. Panunzio, Il doppio aspetto del fascismo, in: Autobiografia del fascismo. Antologia di testi fascisti 1919-1945, hrsg. von R. Oe Felice, Bergamo 1978, S. 184. 49 C. Curcio, Il dramma della destra, heute in: "Critica fascista" , 1923-1943, Bd. 1, Antologia, hrsg. von G. Oe Rosa I F. Malgeri, Roma 1980, S. 230.

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lenkenden Masse ab; vom Sozialismus übernahm er das Konzept der Liebe und der Erhebung des Volkes, lehnte aber das Zustandekommen dieser Erhebung ausschließlich über wirtschaftliche Verbesserungen ab; vom Bolschewismus übernahm er das Konzept der Gerechtigkeit, lehnte aber das Zustandekommen dieser Gerechtigkeit durch die Zerstörung der Klassen und durch die Verwandlung des Staates nicht in ein Konsorzium von Individuen, die menschlich denken, fühlen und leben, sondern in eine sklavische Organisationsform, jener der Bienen oder Ameisen ähnlich, wobei das Leben zerstört wird, um den Staat zu schaffen ab. Diese geniale und äu8crst wirkungsvolle Synthese offenbart ihre Originalität im Anschlußpunkt zwischen Autorität und Volk, das von der ,faschistischen Partei' dargestellt und interpretiert wird" 50

Und dennoch, vom Anfang des Regimes an, ging die in Anspruch genommene Synthese in einer Sprachverwirrung und einer Konzeptzweideutigkeit unter, die die Ausdrücke des faschistischen Aufhehens äußerst unsicher gestalteten. In einem Artikel aus "Critica fascista" aus dem Jahre 1925 individualisiert Vincenzo Fani-Ciotti (Volt) fünf Seelen im Faschismus: 1) die extreme Linke, repräsentiert von Suckert und den nationalen Republikanern; 2) die Mi t te-L i n ks- G r u p p e , gebildet von Grandi, Panunzio, Olivetti, Ciarlantini; 3) die extreme Rechte, gleichzusetzen mit der Gruppe des "Impero"; 4) die Mitte - Rechts - Gruppe, unterteilt in ex-Nationalisten und Integralisten, Anhänger Bottais; 5) der Re v i s i on i s m u s , unter der Führung von der florentinischen Gruppe der "Rivoluzione fascista". Das Volt'sche Organigramm ist in deutlicher Weise hezeichnend, besonders aufgrund der Rechtfertigungen, die in den Attributen jeder Seele enthalten sind. Nehmen wir einige näher in Augenschein. E x t r e m e Re c h t e steht für Synthese aus Nationalismus und Futurismus, aus unnachgiebigem Antiparlamentarismus und aus radikaler Staatsreform. Ihr "anti-bürgerlicher und revolutionärer Geist", hebt der Autor hervor, "läfSt sie den sognannten Menschen der Ordnung unerträglich erscheinen". Wo die Etikettierung nach Rechts der grimmigen Ablehnung der bürgerlichen Werte sicherlich komisch klingt. .. 51 . M i t t e-R e c h t s steht für liberalen Konservativismus, gesehen als Todeskuß, der dem Faschismus den Verlust der eigenen geistigen Identität androht. Es handelt sich um den unzuverlässigen Beitrag der hegelianischen Rechten (lies: Gentile und seine Schule) zum neuen Italien. "Meiner Meinung nach liegt die Gefahr einer solchen Auffassung darin, einen zu bequemen Übergang zum Liberalismus zu liefern. Es ist wahr, daß einige Idealisten - vom historischen Liberalismus ausgehend - zu den gewagtesten Behauptungen des faschistischen Extremismus gelangen . Aber aandere könnten in Versuchung geraten, den seihen Weg in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Und es gibt wirklich solche Menschen, die sich der hegelschen Dialektik bedienen,

I. Lunelli, Pagine della nostra fede, Milano 1942, S. 147-148. Es ist wohlverstanden nicht verwunderlich, dieses Motiv in der faschistischen Ideologie anzutreffen; verwunderlich ist, es von den Faschisten mit dem Etikett der extremen Rechten versehen zu finden. so

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um den vom Faschismus herbeigesehnten Nationalstaat mit ihrem Gefüge des parlamentarischen Staates zu identifizieren" 52 .

M i t te-L i n ks bezeichnet eine noch unausgereifte Aufstellung (mehrheitlich im Schoß der Bewegung), die durch übriggebliebene Keime von Demokratismus und "Gesellschaftsvertrag" - charakterisiert ist - von Rossanis Kritik am "mehrfachen Stimmrecht" ziemlich entblößt. So wie die Mitte-Rechts-Gruppe für Volt das troianische Pferd von Montesquieu und von Constant im Schoße des Faschismus werden könnte, so könnte die Mitte-Links-Gruppe die Rückkehr Rousseaus in sich verbergen. Wie man sieht, sind dem Autoren die zentralen Flügel suspekt: allein die extremen wirken beruhigend auf ihn; seine Art, die iedeologischen Karten durcheinanderzubringen hat in Wirklichkeit Methode! Und dennoch, scheint Volt am Schluß des Artikels, nachdem er zur Wiederaufnahme der "sogenannten marginalen" Tendenzen geraten hat, nicht in der Lage, die spontan im Leser aufkommende Frage ganz umgehen zu können: "Welche der fünf Seelen des Faschsimus spiegelt nun seine ionerste Natur am besten wieder?" "Der Faschismus", hebt er hervor, "ist weder Syndikalismus noch Nationalismus, sondern ein tertium quid im Entwicklungszustand und wir wissen nicht - geben wir es ruhig zu - wohin uns diese Entwicklung führen wird. Mit Sicherheit tendiert diese Entwicklung heute nach rechts" 53 . Heute! fügte Fani-Ciotti vorsichtig hinzu. Dennoch offenbarte das Bewußtsein dieses "zeitweiligen nach rechts tendieren" nach gründlichem Nachdenken in den aufgeweckten Geistern die geheimsten Motivationen der Bewegung und ihrer Ideologie. In der 1923 von Arcangelo Ghisleri mit dem Titel "Dove va il mondo" herausgegebenen "Inchiesta tra scrittori italiani" schrieb Sergio Panunzio: "die Welt treibt nach rechts ... man lebt in einer Übergangsphase, in der man, mit dem Tode ringend, das absolute Bedürfnis nach Ordnung verspürt, irgendeiner Ordnung, der Ordnung an sich. Besser die schlechteste aller Regierungen, als keine Regierung. Das Bedürfnis nach Ordnung entfaltet sich heute und explodiert in absoluten und paradoxen Formen. Es handelt sich um den vitalen Instinkt der Gesellschaft, die nicht untergehen will, sondern leben wi11" 54

Es ging nicht um jenen taktischen Rückzug, den Mussolini in seinem Artikel "Da ehe parte va il mondo:>" in "Gerarchia" vom 25. Februar 1922 impliziert hatte, worin der zukünftige Regierungschef fast eine excusatio non petita machte: "Rechts bedeutet nicht notwendigerweise Stasis oder ewiges Bewahren, sondern bedeutet Sinn für die Wirklichkeit und für die Möglichkeiten der Geschichte. Folglich Maß, folglich Ausgewogenheit und Kritikfä52

S. 227. 53

V. Fant-Ciottt, Le cinque anime del fascismo, in: "Critica fascista", Antologia

Ebd.

S. Panunzto, Dove va il mondo, in: Inchiesta tra scrittori italiani, hrsg. von A. Ghisleri, Roma 1923, S. 53. 54

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higkeit und unerschöpflichen Widerstand gegenüber Sprüngen ins Ungewisse"55. In Panunzios Antwort auf Ghisleris "lnchiesta" wurde - vielleicht halb aus Versehen - ein kritischer Bestandteil des Faschismus ins rechte Licht gerückt: jener "hobbessche" Moment der 0 r d n u n g wi e a u c h i m m er . Dieser Moment sollte sich letztendlich einer politischen Gesellschaft - dem Italien der Nachkriegszeit - aufdrängen, in welcher horizontale und vertikale Konflikte, die aufgrund der Debatte über die Verantwortung für den radioso-maggismo • und über die Verwertung des Sieges unlösbar geworden waren, das Zustandekommen solcher "historischer Blöcke" erschwerten, die dazu fähig sind, auf die vielen und komplexen Probleme der immer anspruchsvolleren Massen zu antworten, die aufgrund ihres ausschlaggebenden Kriegsbeitrages und aufgrund der nicht immer haltbaren Versprechen ihrer Regierungen diese Eigenschaften angenommen hatten. Der Faschismus ist in letzter Instanz nichts anderes als die erzwungene Auferlegung des Zusamme nlebens, der Befehl v o n oben einer Formel gemeinsch a ftlicher Legitimität (die Nation, vielmehr, der Staat in erster Linie), zu einer Zeit wo der Zement, der die Individuen und die Klassen zusammenkittet, nicht mehr unten produziert wird, von der bürgerlichen Gesellschaft, da die Interessen, die Ideale und die Werte, auf die sich ihre verschiedenen Sektoren berufen (der Markt, der Sozialismus, die liberale Vertretung und jene gewerkschaftliche), nicht mehr in der Lage sind, einen breiten Konsens zu erzielen - aus Mangel an Mitteln oder aufgrund der Schwäche der politischen Klassen oder wegen inhärenter Mängel des institutionellen Apparates selbst56 . Die faschistische Ideologie ist nicht ausschließliche Mystifizierung, da sie diese intensive Bindung mit der Ordnung zum Ausdruck bringt. Diese verweist auf einen Lebens- und Expansionswillen der Gemeinschaft - aufrecht erhalten von einer Ethik des Schicksals, die aus dem Existenten die letzte Refe renz jeder Realität macht - , der einzige "Sinnspcnder" , der einen interkontinentalen Krieg überlebt hat, welcher scheinbar alle alten politischen Mythen zerstört hat. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich es nicht für gewagt, den Faschismus entschieden nach rechts zu stellen, Abstand nehmend (trotz aller "Wahlverwandschaften" auf der Ebene der Werte) von jenen Analysen, die seinen - wenn auch realen - unvoreingenommenen Pragmatismus so sehr betonen. 55

.

B. Mussolini, Opera Omnia, hrsg. von E. Susmel I D. Susmel, Bd. 18, Firenze

1956, S. 278.

Maggismo, Bewegung, deren Anhänger an den Kundgebungen im Mai 1915 teilnahmen, um den Eintritt Italiens in den Krieg zu fordern (interventismo); [d Übers.]. >G Siehe hierzu G. Maranini, Sto ria del potere in Italia, Firenze 1968, besonders S. 289-293; sowie die Analyse von P. farneti, in: La caduta dei regimi democratici, Bologna 1981, besonders S. 223-224 .

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Ein typisches Beispiel hierfür ist Paolo Nellos "L'avanguardismo giovanile alle origini del fascismo" - außerdem empfehlenswert hinsichtlich der Seriosität der historiographischen Nachforschungen und der Urteilsschärfe. Der Autor, Schüler von Renzo De Felice, neigt dazu, Aufklärung, Relativismus und Faschismus im continuum einer anti-objektivistischen Bewegung anzusiedeln, die im ersten Stadium (die Aufklärung) "die mutmaßliche Objektivität einer auf Tradition und göttlichem Recht gegründeten Ordnung" beanstandet und in den anderen beiden die universelle Realität selbst demystifiziert (mit ihrem politischen Derivat: die Herrschaftsgewalt des Volkes), die die philosophes an die Stelle der Herrschaftsgewalt des Aberglaubens gesetzt hatten: "In Wirklichkeit waren alle politischen Ideologien - die faschistische miteingeschlossen - fiktionen, Mythen und künstliche Konstruktionen des menschlichen Geistes; sie entbehren eines universell gültigen Erkenntniskriteriums, auf dessen Basis man die größere oder geringere Übereinstimmung der verschiedenen Doktrinen mit der Wirklichkeit feststellen konnte; die einzige nützliche Richtschnur blieb die de~ praktischen Erfolges derjeniger Kräfte, die sich von den verschiedenen Ideologien anregen liegen" 57

Im Bereich so eines Approaches bleibt natürlich von der Rechten oder der Linken fast gar nichts: beide scheinen zu Szenen einer versteinerten politischen Landschaft zu verfallen, wo der Ausschlag des Pendels zwischen zwei möglichen Polen nur die Unbeweglichkeit von Himmel und Erde um so deutlicher hervorhebt. Nellos Analyse, die zweifellos nicht nebensächliche Aspekte des faschistischen Phänomens aufdeckt - angefangen mit der Ungezwungenheit, mit der er jeweils mal hier und mal dort pickend das eigene mythische Material zusammenstellt - scheint aber augerhhalb des heiligen Raums, der die Seele der "Bewegung" birgt, zum Stillstand zu kommen. Die "traditionalistische" und gemeinschaftliche Substanz des Faschismus wird auf diese Weise verheimlicht, sodaß die Stoßtrupps fast zur Übersetzung, in Sachen italienischer Politik, des ersten nordamerikanischen Pragmatismus werden. Zwar repräsentiert der Faschismus das Wissen um "den Tod der Ideolo 4 gien", aber nicht im libertären uns befreienden Sinn (so die heute übliche Interpretation Nietzsches) der Emanzipation des Individuums von jeglicher göttlichen und menschlichen Hypostase, sondern in der deutlich begrenzteren Bedeutung von Wie d er h erste II u n g d es W i r kl i c h ke i t ss i n n es , im Gegensatz zu den Illusionen dessen, was Leon Daudet das "dumme 19. Jahrhundert" genannt hatte. Wir führen aus. Das 19. Jahrhundert hatte die Gemeinschaft - verstanden als natürlicher menschlicher Raum, als Hüter autonomer, und unveräußerlicher Werte: Sprache, Sitten, Lebensweisen, Taditionen, Glauben usw. - nach dem Maßstab wie ule beurteilt; einfache Materie, der man die (weitaus wichtigeren 57 P. Nello, L'avanguardismo giovanile alle origini del fascismo, Bari 1978, S. 103. Vgl. auch vom gleichen Autor das ausgezeichnete Buch: "!1 Campano". Autobiografia politica del fascismo universitario pisano (1926-1944), Pisa 1983.

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und gewichtigeren) Formen einprägen kann, die sich aus ethisch-politischen Idealen zusammensetzen, Anreger für Modelle des Zusammenlebens, die universelle Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen. Die "bürgerliche Gesellschaft" des 19. Jahrhunderts in ihren höchsten künstlerischen und philosophischen Ausdrucksformen scheint - in anderen Worten -den Körper der Politik (Nation, Volkssubstanz, Ethnie) für zufällig und unwesentlich zu halten, unbegrenzt formbar durch die Vernunft und sie scheint nur der Seele Wert beizumessen, die diesen bewegt (die Werte und die Ideologien die dessen wandelnde Verkörperungen in der historischen Zeit ausmachen) und die, je nach der Bildung auf die sie sich stützen kann, guten oder schlechten Gebrauch davon macht. Von hier stammt die Idee des "Primats", oder besser der "gebildeteren" Nationen.Die Ereignisse des Weltkrieges und des holprigen Friedens rücken jedoch die Materie, aus der die Staaten sind, erneut in den Vordergrund. Die Apetite der Sieger, das Beiseitelegen der ideologischen Vorurteile, das Losmachen von übernationalen Bindungen, die auf gemeinsamen Interessen und Werten beruhen (die Internationale der Arbeiterklasse, aber auch die res publica der Literatur) eröffnen eine Epoche, die von der Rückke hr zur Staatsräson gekennzeichnet sind. Es handelt sich hier aber um eine "Staatsraison", welche sich von der alten unterscheidet, insofern sie zur "öffentlichen Angelegenheit" geworden ist, die eine wachsende Anzahl von Gruppen und Kategorien teilt und lebt und aus diesem Grund anspruchsvoller und heikler geworden ist. Der Faschismus stellt den Moment dar, an dem das Wissen um diese n Prozeß am größten ist, sowie der Versuch, eine Tendenz- eine Erscheinung - in einen absoluten und unangefochtenen Wert zu verwandeln. (Der Egoismus der Nationen wird zum Ausdruck ihrer Kraft, ihrer Schönheit und ihrer Vitalität). Von hier stammt der besondere Pragmatismus der Ideologie. Nicht länger muß der nationale Körper als Ort der Experimente der "imaginären Republiken" herhalten, die in der Abgeschlossenheit von Bibliotheken geboren wurden, sondern die Ideologien müssen nun über ihre Fähigkeit die staatliche Gemeinschaft zu potenzieren, Zeugnis ablegen. Daraus geht die Tendenz hervor, sie zu instrumentalisieren und zu plündern, sich nur danach zu richten, ob sie geeignet sind, Konsense zu aktivieren sowie die Machtbasis zu erweitern und zu stärken: der traditionellen Rechten wird alles entzogen, was dazu dient, die Stimmen der Nostalgikcr zu erhalten, die Sehnsucht nach Ordnung empfinden; der Linke n das, was dazu dient, die Arbeiterschichten jeden Ranges und jeden Grades zu mobilisieren. Der Relativismus ist vorhanden, aber oberflächlich, provisorisch 58 ; er ist die

SH Der ausgesprochene Relativist Giuseppe Rensi ging von einer faschistischen Haltung mit grundsätzlich "hobbesianischer" Motiva tion nicht ohne Folgerichtigkeit zum Antifaschismus über.

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pars destruens, die eine Welt liquidieren sollte, die die Hoffnung genährt hatte, den Einfluß der Natur auf die menschlichen Beziehungen belanglos werden zu lassen. Einem solchen überstrukturellen Relativismus (insofern er nur die ",nsignien" betrifft, die die Krieger im politischen Kampf entfalten) steht eine (nicht neue) politische Metaphysik gegenüber, die auf der unüberwindbaren strukturellen Annahme objektiv feindlicher staatlicher Organismen aufgebaut ist, die eben deshalb gezwungen sind - abgesehen von dem ideologischen Rauschgold mit dem sie sich bedecken - , die respektiven Lebenssphären zu stärken und auszudehnen. Es gibt also einen rechten und einen linken Pragmatismus: beide stürzen sich auf die Wiesen des Existenten, um sie durcheinanderzubringen, aber während der eine seinem transzendentalen Impuls - um einen Ausdruck zu benutzen, der, wie wir sehen werden, Nolte sehr am Herzen liegt - nie Grenzen setzt, ist der andere auf der Suche nach dem steinigen Grund unter der unordentlichen Erdschicht von verwesenden Ideologien und politischen Regimen. Wie in den dreißiger Jahren Antonio Canepa - ein einmalige Beispiel des Faschisten der "extremen Linken" - schreiben wird: "Man darf nicht glauben ... daß der Faschismus Aktion um ihrer selbst willen predigt. Die Formel ,absoluter Aktivismus' darf nicht im Sinne einer Aktion ohne Zweck oder Ziel verstanden werden: dem gesamten ethischen Konzept des Faschismus widerstrebt eine ähnliche Schlußfolgerung. Der philosophische Voluntarismus hat eine Bedeutung allein als Reaktion auf 'den übertriebenen Intellektualismus in den die rationalistische Philosophie fiel, die zusammen mit der Französischen Revolutio n geboren wurde"59

Der steinige Grund, nach dem der Faschismus unterhalb der hoffnungslosen Unordnung des 19. Jahrhunderts suchte, konnte nichts anderes sein, als die Nation, der Stamm, der sich zum Staat erhöhte.

Da er über keine gemeinschaftliche Verankerung verfügte, hatte Rensi keinen Grund, den Holzwurm des Relativismus an der Schwelle zum faschistischen Regime aufzuhalten .. . "Was a ngesichts einer ähnlichen philosophischen und politischen Konzeption wirklich zählte," schreibt Oe Felice "war das Resultat und das konnte nicht nur sowohl von rechts als auch von links e rlangt werden, so ndern - theoretische rweise - der rechte oder linke Ausgangspunkt der erlangten Auto rität hätte gar keinen Einfluß auf die Offenbarung dieser Autorität gehabt, da der Faschismus absoluter Relativismus war und sich sowohl dem Kapitalismus als auch dem Proletariat entgegenstellte was Interessen und egoisitsche Rechtspflege betraf", (R. De Felice, Mussolini il fascista , Bd. 1, S. 166). Oe Felice hat insofern recht, als "rechts" und "links" alte issue-Pakete bezeichnen - problematisch wird es erst in einer erweiterten theoretischen Debatte . 59 A . Canepa, Sistema di dottrina del fascismo , Bd. 3: Le basi del sistema, Roma 1937-XV, S. 133.

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4. Der Faschismus und die "Hierarchien". Ein heildes Thema, das Licht auf den ,Typus' der von der faschistischen Ideologie dargestellten Rechten wirft Wenn "Hierarchie" ,"Ungleichheit" und "Vitalismus" die einzigen geeigneten Maßstäbe wären, um die rechte Natur des Faschismus nachzuweisen, so fände sich der Erforscher des politischen Gedankenguts, das das zwanzigjährige faschistische Regime hervorgebracht hat, vor nicht geringen lkschwerlichkeiten. Mit anderen Worten hätte er zu wählen zwischen der Position desjenigen, der alle populistischen Thesen - von den dynamischeren Strömungen des Faschismus inspiriert - radikal herabsetzt und der Position desjenigen, der - vom Gewicht solcher angeblicher Gegenbeweise erdrückt - dazu neigt, die traditonell rechte Einordnung von Mussolinis neuer Ordnung umzustoßen60 . Die ersten werden versuchen die Kritik, die dem Konservativismus und dem Bürgertum vorallem von den jungen littori und gufini entgegengebracht wird, als reine demagogische Zugeständnisse an das nichts zustande bringende kleinbürgerliche Umstürzlerturn zu "mi60 In seinem äußerst interessanten Buch: Fascismo controrivoluzione imperfetta, Firenze 1978, stellt D. Settembrini Faschisous und Kommunismus gleich und faßt sie unter ein und derselben Kategorie zusammen: der Konterrevolution. Konterrevolutionär sind die Bewegungen, die sich dem Anbruch der Freiheit, der Demokratie und der Wohlfahrt der Massen widersetzen",also der ,Werte', mit der sich die moderne Gesellschaft identifiziert" (S. 190, Anm.). Der Faschismus wäre aber imperfekte Konterrevolution, gerade aufgrund seines Paktierens mit dem Kapitalismus und den quasi-liberalen Institutionen des savoyischen Italien. Dies machte ihn ,.weniger reaktionär, weniger anti-demokratisch, weniger anti-liberal, weniger anti-Arheiterklasse als es damals der Kommunismus war" (S. 219). ,.Der Faschismus" - schreibt Settembrini - "weit entfernt davon eine vom Großbürgertum künstlich erzeugte Bewegung zu sein, mit der Aufgabe die sozialistischen Massen vom Staat fern zu halten, war ein Versuch, ganz spontan dem Schoß der subversiven Führungskräfte und Mittelschichten entsprungen, gerade um diese Eingliederung zu verwirklichen, zum Trotz und gegen das Hindernis der sozialistischen Politik, die im Faschismus nur das Umkippen der nationalen Werte und eine Revanche der Niederlage vom Mai 1915 sehen konnte" (S. 132). Wir stehen daher vor einer revolutionären Linken (konterrevolutionär, in der vom Autor benutzten Terminologie) kompromißlerischer und nationaler Art. Meiner Meinung nach erfaßt Settembrini nicht alle Verwicklungen der "Nationalisierung der Konterrevolution" unter ethisch-kulturellem Profil. Er konzentriert sich hingegen auf den - gescheiterten - Versuch der Erforschung eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kollektivismus und mif~t so der Innenpolitik mehr Gewicht bei als der Außenpolitik. Meiner Meinung nach lassen sich aber zum großen Teil gerade vor dem Hintergrund der Außenpolitik viele Positionen und Innovationen des Faschismus in Sachen neuer Leitung der nationalen Gemeinschaft erklären. ln dem Sammelband: Fascismo ieri e oggi, Roma 1985, bekräftigt Settembrini seine Interpretation von 1978. "Der Nationalismus ist der Neigung nach konservativ, der Faschismus (der den Nationalismus zwar ,aufgesaugt' hat) hat eine Komponente, die man als nationalsozialistisch bezeichnen kann - natürlich nur, wenn man diesen beiden Begriffen (national-sozialistisch) die Bedeutung abspricht, die sie anderswo angenommen haben; der Faschismus besitzt also eine Variante, die den Sozialismus nationalisieren will, die einen nationalen Sozialismus verwirklichen will" (S. 77). Man kann nicht anders als übereinstimmen, auch wenn so die ,.Stücke", die Settembrini zusammengefügt hat, neu geordnet werden müssen.

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nimalisieren", wenn nicht sogar zu disqualifizieren. Die zweiten werden eher dazu neigen, die konkreten reformerischen Spuren, die die faschistische Linke in der institutionellen Ordnung und in der civic culture selbst hinte rlassen hat, aufzubauschen. Aber in beiden Fällen wird die histuriographische Problematik in die alten Gleise zurückgebracht werden, um sich im klassischen Dialog zwischen Taubstummen zu verlieren. Der faschistische Sozialismus kann tatsächlich nicht in Abrede gestellt werden wenigstens aufgrund des Ausmages, der Breite und der Auswirkung des staatlichen Eingriffs in die Wirtschaft (die IRI), in die Verwaltung des Territoriums (die urbanistische Gesetzgebung der 40er Jahre), auf dem Gebiet der Kommunikation, wegen der engagierten Übernahme von Aufgaben im Bereich der sozialen Unterstützung der Massen von Seiten der "öffentlichen Sphäre" (auch die westlichen Demokratien erlebten Veränderungen! Einverstanden. Aber dank progressiver Regierungskoalitionen, von links ... eben!) - aber er mug an der richtigen Stelle eingeordnet werden, und das ist nicht die Linke, in ihrer nationalen Variante, sondern die Rechte, in ihrer revolutionären Variante. Aber kehren wir zu den faschistischen Werten zurück, die die Forscher als ausschlaggebend e rachten für die konservative oder reaktionäre Charakterisierung des Faschismus. Und besonders zur Hierarchie, deren Zentralität für die politische Kultur des Faschismus schon aus dem Titel der Zeitschrift hervorgeht, die Musslini noch vor dem Marsch auf Rom gründete. Wenn man nun sine ira et studio die Palette der Bedeutungen untersucht, die diesem Ausdruck von Seiten der Ideologen des Regimes zugewiesen worden sind, mug man notgedrungenerweise mindestens zwei Bedeutungen hervorheben; die eine schwach, die andere stark. Gemäg der ersten, um die Definition des oben angeführten "Dictionnaire politique" erneut aufzugreifen, "on entend par Hierarchie cet ensemble des fonctions sociales qui constitue !es differents degres de subordination et de commandement. C'est Ia division politique du travail, l'application pratique des diverses aptitudes de chacun" 6 1. Eine Hierarchie, so fügt der anonyme Ve rfasser des Artikels hinzu, sei notwendig "pour Ia constitution de toute societe", auch wenn in der modernen post-revolutionären Gesellschaft, die Rollendiffere nzierung nicht mehr "sur les hasards de Ia naissance" fugen darf, sondern "sur Ies suffrages de l'election". So nimmt die Bedeutung der Hierarchie Gestalt an als realsitisches Bewußtsein der Unausweichlichkeit der Beziehungen von Befehl/Gehorsam in jedem politischen Komplex - in den Vereinigten Staaten gibt es Hierarchien und in der Sowjet Union, im faschistischen Italien und im Frankreich der Volksfront, usw. Abe r es gibt eine andere - starke - Bedeutung des Ausdrucks, derzufolge er eine ungleiche und systematische Verteilung von Macht, von Privilegien, von Autorität darstellt. Dank der Hierarchie präsentiert sich die politische Ordnung als eine stabile Ordnung und die politische Elite - umgeben von der Aura des Prestiges - scheint fern, abgetre nnt von den Regierten. 61

Dictionnaire p olitique , S. 451.

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Lassen wir die Gemeinsamkeiten sowohl der schwachen wie auch der starken Bedeutung beiseite (die ungleiche Machtverteilung) und untersuchen jene näher, die nur der zweiten angehören. An erster Stelle, der System c h a r a kt er : er bezieht sich auf die Denkbarkeit der sozialen und politischen Beziehungen ausschließlich als Befehl/Gehorsam, mit der impliziten Neigung, alle menschlichen Beziehungen unter diesem Licht zu betrachten - fast eine Art "Transzendentale" im kamsehen Sinn der Erkenntnis und der politischen Aktion. An zweiter Stelle, das Pr i v i I e g: es setzt sozusagen einen Freiraum voraus, oder besser das Recht, für gewisse Vergehen, nicht verfolgt zu werden, die für normale Sterbliche strafbar sind. An dritter Stelle, die Autorität: mit diesem Konzept wird eine traditionelle oder charismatische Legitimierung der Macht und keine legal-rationale angekündigt. (Es wird mit anderen Worten ausgeschlossen, dag die Autorität aus "regulären" Verhandlungen oder rechtmäßigen Wahlen herstammen kann.) An vierter Stelle die Stab i I i t ä t : sie bedeutet soviel wie !es jeux sont Jaits, oder daß es keinen Kampf an den Gipfeln der Macht mehr geben wird, da die Rollenverteilung einfürallemal abgeschlossen ist (von hier die spontane Gleichsetzung des hierarchischen Gipfels mit Monarch, dem Symbol für das Ende jeglicher Ungewifsheit bezüglich der "Nachfolge"). Letztlich, die Ferne: so wird die typische Art und Weise betont, mit den "Hierarchien" des gewöhrJichen Menschen in Kontakt zu treten, der die Macht auf dem Katheder sieht, hoch oben und fern 62 . Zweifellos überlagern sich in der faschistischen Ideologie die beiden Bedeutungen von Hierarchie oft. Und trotzdem mufS betont werden, daß viele Forscher nicht nur vergessen, daß in einer "schwachen" Bedeutung auch die Linke hierarchisch sein kann - die ungleiche Machtverteilung charakterisiert alle sozialen Gruppen -, sondern da!S sie auch dazu geneigt sind, zu verkennen, daß nicht alle Charakteristika der starken Bedeutung im faschistischen Hierarchiekonzept zusammenströmen. Untersuchen wir auf welche Art. Das transzendentale Vorurteil ist konstant bei den Ideologen des Regimes, auch werin es um die Hierarchie der Funktionen geht (wie De Felice zu recht betont hat), in die diejenigen aufgenommen werden, die durch Verdienste zeigen, besondere Begabungen und Kompetenzen zu besitzen. Das Privileg kommt im Gegenteil nicht in Frage - natürlich auf der Ebene der anerkannten und theoretisierten RechteH. Die Legitimation der Macht auf der Grundlage der Autorität schließt in der untersuchten Es62 Natürlich in den Gesellschaften, wo die Macht mit den ,.Hierarchien" gleichgesetzt wird, nicht in jenen demokratischen, wo ,.die da oben" ruhig verachtet werden - so wie man den Beamten verachtet, der seinen (bezahlten) Pflichten schlecht nachkommt -, aber nicht verflucht werden können - so wie der Untertan die natürlichen Autoritäten verflucht, die entartet sind. 63 Im tagtäglichen Alltag liefen die Dinge anders, wie man weiß. Betont werden muß freilich, daß die "Apanagen" der faschistischen Autoritäten nicht höher waren, als die eines kollektivistischen Bürokraten oder eines demokratischen Abgeordneten/Ministers; und vielleicht waren sie geringer, wenn man die größere Armut des damaligen Italien bedenkt.

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sayistik von vornherein die legal-rationalen Vorgehensweisen aus - es konnte für ein Regime, das den "Papierkrieg" abgeschafft hatte, gar nicht anders sein - aber es verwertete auch die Tradition nicht, das ewige Gestern: es sind die höheren Qualitäten desjenigen, der den Geist der Nation in sich verkörpert und ihr Schicksal begünstigt, die ihm die Titel des Befehls verleihen. Dies ist ein ausschlaggebendes Charakteristikum für die Fokussierung der faschistischen Ideologie, aber kein alles erschöpfendes und mehr noch, kein exklusiv der Rechten zuzuordnendes. Es definiert zusammen mit anderen den Totalitarismus als solchen (rechts- oder linksorientiert, auch wenn im linken die "Klasse" das Subjekt der untersuchten Inkarnation ist). Was den vierten Punkt betrifft, die Stabilität, so ist die Ideologie des Regimes zwar nicht ohne nuances, aber in der Substanz klar und unzweideutig: das faschistische Regime bleibt unangefochten, aber die Rollen- und Kompetenzenverteilung, sowie das Gebiet selbst, das der "Regierung" unterliegt, können sich ändern und die Individuen, die dem Kommando vorstehen, dürfen in jedem Fall nie die gleichen sein. Wie man sieht, läuft das Hierarchiekonzept sobald es einer kritischen Analyse unterzogen wird Gefahr, breiig zu werden und sich deutlich von dem Stereotyp zu entfernen, an das uns die traditionelle antifaschistische Geschichtsschreibung gewöhnt hatte. Dies wird noch deutlicher, wenn man das vierte Charakteristikum betrachtet, die Ferne. Mario Stoppino hat diesem Thema in dem Aufsatz "La funzione politica delle credenze ideologiche" Überlegungen von großer theoretischer Tragweite beigemessen. Es ist notwendig, sich kurz mit den dort diskutierten konzeptuellen Knotenpunkten und Problemen zu befassen, da die Studie den hier behandelten Perspektiven und Thematiken am nächsten kommt. Stoppino bezieht sich auf die ideologische Rechtfertigung der Macht - die die Herrschaftsbeziehungen verklärt, indem die egoistischen Aspekte (für die Herrschenden) und die unerfreulichen Aspekte (für die Beherrschten) verborgen werden und hebt hervor, daß die Akzeptierung der Ideologie von beiden Seiten, ausschlaggebend ist für die politische Integration. Dieser Ausdruck bezeichnet "einen Kongruenz- und Verwandtschaftszustand zwischen den politischen Einstellungen der Herrschenden und der Beherrschten", wo die K o n g r u e n z sich auf das Maß bezieht, in dem politische Ideen und Werte von den Inhabern und den Subjekten der Macht geteilt werden; während die Ver wa n d t s c h a ft die Inhalte der geteilten Ideen und Werte betrifft, insbesondere "die Vorstellung/ Vorschrift, die man sich von den Herrschenden und Beherrschten macht, in Richtung ihrer Assimilierung und Identifizierung, oder in Richtung ihrer Unterscheidung oder Trennung" 64 • Stoppino unterscheidet zwischen zwei Arten der politischen Integration: schwach, diejenige die in den traditionellen Gesellschaften überwiegt; stark, diejenige die in den modernen Industriegesellschaften 64

M. Stoppino, La funzione politica delle credenze ideologiche, in: Il Politico,

0978), S. 617

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überwiegt. Es gibt drei zur Unterscheidung dienliche Parameter: a) die Formen der Rationalisierung; b) die Darstellung der Beziehungen zwischen dem der befiehlt und dem der gehorcht; c) die wichtigsten Funktionen, die die politische Integration ausübt. Zu den Formen der Rationalisierung; während die schwache politische Integration in einem Wert verankert ist, der den unterschiedlichen Interessen der Befehlenden und der Gehorchenden gemein ist (das "göttliche Recht" der Könige im ancien n]gime, die "Natur" in einer versklavten Gesellschaft), zeichnet sich die politisch starke Integration durch die Generalisierung oder Universalisierung der Interessen der Machthaber aus (die Herrschenden haben die gleichen Interessen wie die Beherrschten, aber letztere sind, im Fall der Generalisierung, Mitglieder einer gegebenen politischen Gemeinschaft oder einer Rasse, während es im Falle der Universalisierung "im Prinzip und in der Perspektive" alle Menschen sein können). Was also die Hauptfunktion der politischen Integration betrifft, finden wir auf der einen Seite die S t a b i I i s i er u n g - schwache politische Integration -, auf der anderen die Mob i I i sie r u n g - starke politische Integration. Im ersten Fall besteht das Problem darin, sicherzugehen, daß die Beherrschten über ein geringes Wahrnehmungsvermögen der eigenen positiven Langzeitinteressen verfügen, die an Veränderungen im Machtgefüge gebunden sind. Im zweiten Fall geht es darum, die regelmäßige und friedliche Machtausübung f.'Üt der progressiven Erweiterung der materiellen Mittel und des Menschenpotentials, die den Herrschenden zur Verfügung stehen, zu verknüpfen. Was als letztes die Darstellung der Beziehungen zwischen dem der befiehlt und dem der gehorcht betrifft, so haben wir auf der einen Seite die Trennung (und die Hierarchie, im starken Sinn, fügen wir hinzu) und auf der anderen die Iden t i fi zier un g (und die Gleichheit). "In der schwachen politischen Integration repräsentiert die politische Doktrin die Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten als Beziehung der Trennung, der Über- und Unterordnung. Es beste ht eine unüberwindbare Distanz zwischen dem legitimen unumschränkten Herrscher und dem Untertan, weil nur der erste die göttliche Majestät repräsentiert; es besteht e ine unüberwindbare Distanz zwischen den Herren und den Sklaven, da erstere ,von Natur aus' überlegen sind. In diesem Rahmen ist die Unterscheidung zwischen der Befehlsfunktion und der des Gehorsams bleibend und grundlegend für das Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten. Das Befehlsrecht und die Gehorsamspflicht sind eigene und unveräußerliche Merkmale der Majestät und des Herren, beziehungsweise der Untergebenen und der Sklaven"65 .

Wenn man dies in Augenblicke der Geschichte des westlichen politischen Denkens übersetzt, dann hat man hier die tragenden konzeptuellen Strukturen der traditionellen Rechten - von Filmers Patriarchat bis zu Hallers "politischer Wissenschaft". An traditionalistischen Monarchisten, gibellinischen Imperialisten und reaktionären Katholiken, die sich mehr oder weniger ausdrücklich auf diese ideale Strömung berufen, fehlt es im großen Schmelztiegel der faschistischen /ntelligenzija sicherlich nicht. Aber es 65

Ebd. , S. 621.

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handelt sich um Minderheits- und Randerscheinungen, die nicht zur vitalen Grundsubstanz der Bewegung und des Regimes gehören. Für die starke politische Integration gilt etwas ganz anderes. Hier stützen sich die beiden Funktionen von Befehl und Gehorsam deutlich auf die radikale Gleichheit und Identität aller Mitglieder der politischen Vereinigung (sei diese als societas konzipiert, die dem gesamten menschlichen Geschlecht zugänglich ist, oder als tribus, die egoistisch in sich selbst zurückgezogen lebt, auch wenn sie, was das Territorium angeht, über die ganze Welt verteilt ist, wie die Rasse). Keinen Unterschied gibt es - laut Stoppino - in dieser Hinsicht zwischen der demokratischen Doktrin (die Regierenden identifizieren sich mit dem Volk), der kommunistischen Doktrin (die Regierenden identifizieren sich mit dem Proletariat, gesehen als Vertreter für die Menschheit, da dieses, indem es sich selbst von den Fesseln des Kapitals befreit, die gesamte Gesellschaft befreit, die so von der Vorgeschichte zur Geschichte übergeht ... ), der nationalistischen und faschistischen Doktrin (die Regierenden identifizieren sich mit der Nation) und der nationalsozialistischen Doktrin (die Regierenden identifizieren sich mit der Rasse). Im Rahmen einer starken politischen Integration, bemerkt Stoppino, daß: "die Unterscheidung zwischen der Befehlsfunktion und der des Gehorsam nur vorübergehend ist (kommunistische Doktrin), oder eine Technik ist, die die Anwendung des Gleichheitsprinzips in öffentlichen Entscheidungen erlaubt (demokratische Doktrin), oder ein Instrument ist, das es den Nationen oder Rassen ermöglicht, sich auf die direkteste oder vollständigste Art auszudrücken (nationalistische oder nazistische Doktrin). Also hat die Unterscheidung zwischen Befehlsfunktion und Gehorsamsfunktion ihre Grundlage und ihre Rechtfertigung in der grundsätzlichen Gleichheit und Identität aller Mitglieder der politischen Gemeinschaft" 66

So gesehen, bestreitet Stoppino zwar nicht, daß man im Fall des Faschismus von Hierarchie sprechen kann, zieht es aber alles in allem vor, jene Terminologie für die Ideologien mit schwacher politischer Integration aufzusparen. Und nicht zu unrecht, da die Nähe von Herrschenden und Beherrschten einen beharrlichen Refrain der philosophisch-politischen Übungen der faschistischen Intellektuellen (Militanten oder Funktionären) darstellt 67 . "Die Minderheiten, die den Staat regieren und die Revolutionen machen" - schrieb 0. Quintavalle in "Giovinezza" ein Jahr vor dem "Marsch" auf Rom - "bilden nie einen Kontrast zu der Mehrheit, da sie 66 Ebd. Der Artikel ist jetzt in: M. Stoppino, Potere e teoria politica, Genova 1982, S. 127-152 enthalten. 67 Ich beziehe mich hier auf die Unterscheidung, M. Isnengbi, Intellettuali militanti e intellettuali funzionari. Appunti sulla cultura fascista, Torino 1979. Zusammen mit den Aufsätzen von S. Lanaro sind Isoenghis Werke vom Besten, was die marxistische Kultur Italiens in den letzten Jahren in ihrer erneuten Besichtigung der "Orte" der faschsitischen Ideologie hervorgebracht hat.

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nichts anderes als deren mutigere Avantgarde sind" 68 . Auch wenn man verneint, daß die Wählerschaft als konstitutionelles Staatsorgan zu sehen ist, ist die Dringlichkeit, mit der die Identifizierung zwischen herrschender und beherrschter Klasse hervorgehoben wird, so groß, dag - öfter als man wahrhaben möchte - das Demokratiekonzept wiedergewonnen werden muß. Auch wenn als nationale Demokratie wiederaufbereitet. Wie ein Verfassungsrechder der dreißiger Jahre schreibt: "in der nationalen Demokratie .. ist die nationale Masse in ihrer idealen kollektiven Subjektivität der Mittelpunkt des Staates. Wir stehen vor der maximalen Durchsetzung von Volk, Nation und Staat: und diese Durchsetzung, im politischen Bereich perfektioniert, übersetzt sich in konstitutionelle Institutionen ... Nach unseren gestrigen und täglichen Erfahrungen handelt es sich um politische Erscheinungen, die eine tiefere Wirkung haben als jeder Bescheid von den Urnen, um die gegenseitige Adhäsion der Regierung und des Volkes in der einzigen, allumfassenden Wirklichkeit des nationalen Lehens zu erreichen und aufzuzeigen. . . . Und wenn man diesem System den Namen der direkten Demokratie verweigern will, kann dennoch nicht abgestritten werden, daß es eine direkte Teilnahme des Volkes an den Entscheidungen des Regimes mit sich hringt" 69

Hiermit und mit dem Verweis auf die (von mir geteilte) Auffassung von Mario Stoppino soll nicht etwa das Bild eines Faschismus erneut vorgeschlagen werden - genau von dem Wert, nämlich der Hierarchie, ausgehend, der der echte Trumpf all derer ist, die den Faschismus nach rechts stellen wollen -, der endlich der Geschichte der Linken wieder ausgehändigt wird, (sei es auch als ihr nationales Moment). Weder eine Umkehr noch eine Kompromißlösung sind möglich (weder rechts noch links oder über die Rechte und die Linke hinaus, usw.): der Faschismus, auch wenn nicht aus den normalerweise angeführten Gründen, steht rechts, gut verwurzelt in einem Grund und Boden, der seit jeher sein eigener ist. Und nicht nur wegen des fundamentalen Unterschiedes, der ja zwischen Generalisierung und Universalisierung von Interessen besteht (die faschistische Macht autodefiniert sich als Agent der Nation oder der Rasse; die Linke sieht sich selbst im Dienst der Menschheit, auch wenn es sich nur um einen indirekten Dienst handelt, der durch das Wohl des Volkes oder der I e t z t e n Klasse der Vorgeschichte hindurchgeht); sondern auch wegen der Unvereinbarkeit der Rechten und der Linken in ihrer jeweiligen Haltung gegenüber der Beziehung Befehl/Gehorsam. Denn dort wo die Linke darin eine unerfreuliche Notwendigkeit sieht - wenn wir den Hafen erreichen wollen, müssen wir das Schiff dem Kapitän und seiner Mannschaft anvertrauen, müssen wir uns während der Überfahrt an ihre Verfügungen halten, auch dann wenn unsere Handlungsfreiheit eingeschränkt wird - dort sieht die Rechte eine natürliche Gegebenheit, der die menschliche Gesellschaften nicht abtrünnig werden können, ohne im Nichte; zu versinken. Auch wenn 68

0. Quintavalle, Ancora Ia questione del regime, in : Giovinezza, 9. Mai 1921,

S. 3.

s.

69

A. Origone, Democrazia diretta e democrazia rappresentativa, Cagliari 1937,

20-21.

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die Hierarchie von den Faschisten als ein Mittelding zwischen der schwachen und der starken Form von Hierarchie angesehen wird, ist ihre Betrachtung nicht nur nützlich, sondern auch enthüllend. Zwischen Machtausübenden und -gegenständen existiert eine grundsätzliche Identität: beide sind Äste des Stammbaumes (Nation oder Rasse, wie auch immer) und dennoch gibt es Individuen, die auf vortrefflichere Art dessen beste Qualitäten ausdrücken, während andere deutlich weniger begabt sind. Andererseits geschieht genau das in den zoologischen Gattungen, wo es mehr oder weniger stattliche Exemplare einer Rasse gibt. Die Rollen von Rang müssen natürlich den ersten zugeteilt werden, aber die zweiten muß man fühlen lassen, daß der Wurzelstock ein einziger ist, daß der charismatische Ieader einer von uns ist (vgl. Mussolinis nachdrückliches Bestehen auf seiner Herkunft aus dem Volk), er gehört keiner anderen Familie an, höher und abgetrennt - wie in den traditionalistischen und konterrevolutionären Ideologien, der König und die Adeligen-, sondern "kommt aus" derselben Familie wie seine Gefolgsmänner. (Von hier stammt der bekannte psychologische Mechanismus, demnach die Menge im Diktator das eigene verklärte Abbild liebt). In der Linken finden sich dagegen keine "überragende Exemplare" der Rasse, sondern seit der Zeit der Athener Demokratie - in einem gewissen Sinn die "Linke" der Antike - wird theoretisch jeder Bürger für würdig gehalten, das höchste Staatsamt zu bekleiden, da prinzipiell einem jeden das Minimum an Vernunft und allgemeinem Menschenverstand zugestanden wird, welches ihm erlaubt, die Interessen der Allgemeinheit zu vertreten, worunter sich auch die seinen befinden. Dieses Prinzip erreicht seinen Höhepunkt mit der Einrichtung der Wahl, mittels Verlosung, des höchsten öffentlichen Amtes (was es dem Bürger Sokrates ermöglichte der Boule vorzusitzen), aber es ist genauso in der Philosophie des Wahlkampfes inbegriffen, die auch dem Kravattenmacher (Harry Truman) die Möglichkeit bietet, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Wer sich mit den beiden unvereinbaren Standpunkten in Sachen Macht - derjenigen die dazu delegiert sind, das kollektive "wir" darzustellen auseinandersetzt, dem kann die unterschiedliche Intentionalität, die beiden zugrunde liegt, nicht entgehen. Die Identifizierung von Herrschenden und Beherrschten ist in der faschistischen Ideologie nie getrennt worden von der kriegerischen Dimension, vom Ruf zur Tat, von der Notwendigkeit die Gruppe solange zusammenzuhalten wie der Krieg dauert- also für immer, seit dem er eine existentielle Kondition ist. Es ist nicht die Kollektivität die unwiderstehliche Macht aller - , die sich der Gleichheit zur Verfügung stellt, sondern es ist die Gleichheit - oder besser die ideologische Darstellung der Nähe von Herrschenden und Beherrschten -, die sich der Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Es ist bezeichnend, was in einem Artikel in "Critica fascista" von 1925 geschrieben steht: "Wenn der Faschismus bis jetzt nicht gegen das Volk gewesen ist, so muß er von nun an mit dem Volk sein. Antidemokratisch ist er gewesen, um die Illusion ei-

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ner falschen Demokratie zu zerstören, aber nach deren Zerschlagung, ruft er heute das Volk auf, daß aus seinen Reihen die Demokratie hervortrete, die dazu bestimmt ist, den italienischen Staat zu lenken. Man kann ein Land wie Italien, zu Beginn seines europäischen Lebens, nicht länger einteilen in Herrschende und Beherrschte, in Herren und Plebs, in Unterdrücker und Unterdrückte. Um etwas in der Welt darzustellen, müssen wir ein kompakter Willensblock sein, deshalb aber nicht teutonisch vermaßt, sondern so wie es unser südlicher und lateinischer Geist fordert, frei und auch gegensätzlich veranlagt, aber wohl fähig, sich ohne Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Zielvorstellungen zusammenzuschließen"70.

Jener kompakte Willensblock ist mehr als eine bloße Metapher: er ist das Indiz eines Entwurfs, der in der geflügelten Prosa der Ideologen des Regimes seine historische Legitimität darstellt. Freilich gibt es den Krieg nicht nur rechts, so wie die Sprache der Avantgarde - an den Krieg gebunden (Avantgarde ist laut Tommaseos Definition .der vordere Teil des Heeres, das sich zum Kampfe rüstet") - nicht allein die kulturellen Produkte dieses politischen Bereiches charakterisiert. Und dennoch, während für die Linke der Krieg die schwere Geburt des Friedens ist - gesehen als Leibesfrucht der politischen Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit, der rassischen Emanzipation - ist er für die Rechte ein Naturzustand im wörtlichen Sinn. Für die erste ist er ein unausweichliches Mittel, um die Verkrustungen der Macht aufzubrechen, für die zweite ist er eine unumgängliche Verpflichtung, ein feierlicher Beweis, um das Recht der Gemeinschaft auf die T r a d i t i o n zu prüfen, oder besser, ihre Fähigkeit den Nachkommen die Erinnerung an beispielhafte Heldentaten zu hinterlassen. So nimmt nicht zufälligerweise dasselbe - relative - Werk der Modernisierung, die vom Regime durchgeführt wird, militärischen Charakter an, fast so als ob die großen zivilen Anstrengungen (Urbarmachungen usw.) nichts anderes wären als kollektive Vorbereitungen auf die zukünftigen, größeren militärischen Mühen. Es ist nicht verwunderlich, daß dieses so herausragende Charakteristikum des Regimes noch nicht zum Objekt aufmerksamer wissenschaftlicher Reflexion geworden ist. Der tragische Ausgang des zweiten Weltkrieges, die Eile mit der Mussolini auf den Wagen des Siegers der ersten round sprang, begierig sich an den Tisch des Sieges zu setzen, die Approximation, die Oberflächlichkeit und die mangelnde Vorbereitung der militärischen Führung hätten fast die militärische Substanz des Faschismus verhüllt und sie zu geschmackloser Bühnenbildnerei werden lassen. Sicherlich war die historische Materie der bürgerlichen Gesellschaft Italiens unempfänglich gegenüber den Aufgaben, die der Duce ihr zugeteilt hatte. Dennoch darf darüber der heimliche Impuls nicht vergessen werden, der einen nicht mittelmäßigen Menschen wie Mussolini 71 und eine Folgschaft beseelte, die nicht immer aus Männern von Staraces Niveau zusammengesetzt war. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, behält die verwickelte, verworrene Analyse eines 70 Epilogo del primo tempo, in: "Critica fascista", Antologia, Bd. 1, S. 279. 71 Mussolinis Nicht-Mittelmäßigkeit betont E. No/te in: Marx, und Nietzsche im Sozialismus des jungen Mussolini, in: Historische Zeitschrift, CXCI (1969), S. 249-335.

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Geschichtsphilosophen wie Ernst Nolte nach vielen nützlichen, am "Revisionismus" orientierten Studien, ihre noch unveränderte Stichhaltigkeit. Wenigstens was die interpretativen Grundzüge betrifft.

5. Die Thesen Ernst Noltes. Über die Notwendigkeit, eine interpretative Theorie von immer noch außergewöhnlicher heuristischer Tragweite, neu zu überdenken Es war meine Absicht mit dem bisher Gesagten, die traditionellen Faschismusinterpretationen zu problematisieren, die die ideale Achse zu schnell und auf reine ideologische Vorurteile aufbauend, rechts ansiedeln. In Wirklichkeit sind letztendlich sogar streng an Doktrinen gebundene Motive und reaktionäre Gesinnungen wie die katanisehe Strenge, der Irrationalismus und der Mystizismus allein wenig überzeugend. Man nehme ein ehrgeiziges Werk wie das schon erwähnte "Sistema di dottrina del fascismo" von Antonio Canepa, "jener seltsamen Person, geboren aus dem Nichts und tragisch im Nichts verschollen" 72 . Dort wird jede Zugeständnis an den Hedonismus entschieden verurteilt: "die faschistische Doktrin lehnt das Prinzip des Glücks ab, das sie für eine gefähliche Chimäre hält, die einzig und allein dazu in der Lage ist, die Menschen von ihrem Verantwortungsgefühl zu entfernen, indem sie sie von der Erfüllung ihrer Pflichten ablenkt"73. Wenn man an Marcuses "Triebstruktur und Gesellschaft" denkt, so findet man nichts objektiv rückständigeres: wir fänden uns der Sprache des bürgerlichen Staates des imperialistischen Zeitalters gegenüber, das im "Prinzip des Genusses" eine Drohung für die Aufrechterhaltung der Vorherrschaft sieht. Und dennoch ist nicht zu vergessen, daß Canepa im linken Flügel der Partei aktiv war und daß man im "Sistema di dottrina del fascismo" wiederholt den revolutionären Charakter des Faschismus bekräftigte und sogar das reaktionäre Moment - mit einem Taschenspielertrick progressiv auslegte. "Genau gesehen erscheinen alle Revolutionen unter einem gewissen Gesichtspunkt als Reaktionen auf vorausgehende Situationen: die russische Revolution reagierte am Anfang gegen den zaristischen Absolutismus, die französische gegen die Allmacht und die Privilegien der Aristokratie; aber die großen sozialen Bewegungen entwickeln aus diesen anfänglichen Reaktionsphasen ideale eigene Motive, deren kreativer und universaler Aspekt die zufälligen Aspekte der Bewegung übertrifft - und genau deswegen verdienen sie die Bezeichnung Revolution"74. 72 So beschreibt ihn N. Bobbio in: Silvio Trentin e lo Stato fascista, in: Belfagor, 30. November 1985, S. 705. Die zweifelsohne ungewöhnliche Person war alles andere als mittelmäßig. Und etwas hat er auch der politischen Kultur Siziliens dargestellt. 73 A. Canepa, Sistema di dottrina del fascismo, S. 174-175. 74 Ebd., S. 184.

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Auch war seine unvoreingenommene und zweifellos nonkonformistische Neigung, in Antifaschisten wie Giovanni Amendola authentische, unwissentliche "Vorläufer" zu sehen, nicht ohne Bedeutung. Und nichtsdestoweniger - abgesehen auch von diesen und von anderen Aspekten des L i n k i s m u s dieser "seltsamen Person" - sind wir so sicher, daß der "Ruf zur Pflicht" (mehr als zum "Recht") wirklich immer die Interessen der Herrschaft versteckt? Und bedeutet die katanisehe Strenge der aufgeklärten Jakobiner - vgl. Robespierre - sowie jene der romantisch-idealistischen Jakobiner - vgl. G. Mazzini - garnichts? Man wird natürlich sagen, daß oft ein bestimmtes "Motiv" von links nach rechts überwechselt: aber wenn ein Substantiv allein von seinen Attributen definiert wird und wenn diese sich mit der Zeit verändern, wie kann man dann von ein und demselben Substantiv sprechen, wenn dieses in einer Epoche bestimmte Charakteristika annimmt und in einer anderen Epoche ganz andere? Leere Behälter können nicht verschiedene Etiketten haben, eben gerade weil sie leer sind - oder wenn man eine andere Methapher vorzieht, um zwei lichtundurchlässige Glasampullen mit verschiedenen Namen zu bezeichnen, ist es nötig, daß etwas in ihrer Form inhärentes sie voneinander abhebt. Wenn man dann feststellt, daß jedes Etikett nur eine "historische Familie" und deren Entwicklung durch die Jahrhunderte hindurch bezeichnet - und den1mich reine Beziehungen physikalischer Abstammung: Individuen und Parteien, die sich auf einander berufen-, dann kann man leicht antworten, daß sich- wenn im Fall der Verwandtschaften Haupt- und Nebenlinien auszumachen sind, eheliche und natürliche Kinder, ähnliche und blutsverwandte - dann im Fall der politischen Genealogien die Verbindungen nur auf konzeptuelle Kriterien beziehen können. Auf diese Weise ist man wieder am Ausgangspunkt angelangt: nämlich bei der Notwendigkeit hinter den Programmen, hinter der Liste der Absichten den verborgenen Sinn des Handeins ausfindig zu machen, der sich nicht in den von Mal zu Mal betonten "Werten" erschöpft (das Individuum oder die Gesellschaft, das Öffentliche oder das Private, der Kult der Vergangenheit und die Projektion in die Zukunft usw.). Was den Faschismus betrifft, so kann man meiner Meinung nach von rechts sprechen, nicht etwa weil - auf der Ebene der ideologischen Ausarbeitungen - die Bestandteile fehlen, die die Linke verwendet, sondern weil diese - wie ich schon mehrfach betont habe - dazu dienen, eine militärische Festung zu bauen und keinen im Prinzip allgemein zugänglichen öffentlichen Park. Die societas versteht sich im Faschismus mit anderen Worten nicht als Rollenspiel, an dem jeder teilnehmen kann, der sich an die rules hält, sondern als ein marschierendes Heer, das um so schneller vorrücken wird, je mehr es sich von der Bürde sterbender Hierarchien sowie der gefährlichen Verflechtung von Interessen und Idealen befreien kann, die gewisse Teile der Gruppe dazu führen, mit den potentiellen Feinden zu solidarisieren (vgl. das Kapital, das keine Grenzen kennt und die "Internationale", die die Loyalität der

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Arbeiter gegenüber der jeweiligen Heimatländer im Namen einer unwahrscheinlichen Solidarität abschwächt ... ) Dies ist der Hauptgrund, der eine Abflachung des Faschismus auf den Kommunismus verbietet, auch wenn der Abscheu über die Gewalttaten der respektiven "extremen Formen" ganz und gar gleich sein kann (zwischen Pol Pot und Hitler s.ehe ich keinen Unterschied). Schließlich muß sogar K.D. Bracher in einer Arbeit, die für eine "diskrete" Apologie der liberaldemokratischen Werte gehalten werden kann, und außerdem für eine kritische Wiederaufnahme der Kategorie "Totalitarismus", wie sie in den fünfziger Jahren theoretisiert worden war, erkennen, daß: "der Kommunismus sich auf die humaneren, allgemeinmenschlicheren Werte berief und seine Antipositionen, die er mit militanten Antikommunisten teilte, durch die Monopolisierung einer allgemeinen Friedens- und Gerechtigkeitsidee für seinen ,Sozialismus' überhöhte. Faschismus und Nationalsozialismus dagegen bekannten sich in der Tat demonstrativ zum Kampf- und Elitegedanken, zur (nationalen und rassistischen) Ungleichheit der Menschen und der Unterdrückung von Völkern und Minderheiten" 75 •

So besehen, muß die Kritik des Faschismus an der alten Rechten unter einem anderen Blickwinkel als dem gängigen betrachtet werden (der zwischen den Polen der "Entmystifizierung" und der Leichtgläubigkeit schwankt). Wenn jemand wie Dino Grandi gegen den Vorkriegsnationalmismus wegen dessen loyaler und antidemokratischer c6te polemisiert, so will er damit- im Geiste des schon erwähnten Artikels in "Critica fascista" sagen, daß eine geteilte Nation, ein Staat, dessen herrschende Schichten sich nicht um die legitimen Bestrebungen der unteren Klassen kümmern, nie darauf hoffen kann, irgendeine Rolle in der Geschichte seiner Zeit zu spielen. "Als demokratische Bewegung, wie es in einem proletarischen und armen Land wie dem unseren gar nicht anders sein kann muß sich der Faschismus darauf vorbereiten, die Seele und das Gewissen der neuen nationalen Demokratie zu werden, der es hauptsächlich obliegt, die großen Aufgaben zu lösen, vor welchen der Sozialismus seine praktische Unfähigkeit immer deutlicher an den Tag legt: die Massen an den nationalen Staat zu binden" 76

Die Demokratie ist also ein notwendiges Attribut des Faschismus, der in Anbetracht seines "Vorhabens" nicht ohne sie auskommt; sie wird nicht ganz eins mit ihm. Aufmerksam gelesen, liefern die ideologischen Texte des Regimes so manchen Aspekt seiner ionersten Natur. Es wäre also ein schwerwiegendes Mißve rständnis, in einer nicht klar definierten Linken - allenfalls in zwei Sphären gegliedert: die eine zivilisiert und die andere unmenschlich - die klassische Devise der Demokratie (Herrschaft des Volkes, durch das Volk, für das Volk) mit der Nation a75 K.D. Bracher, Zeit der Ideologien: Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 225. 76 Rede vor dem Kongreß in Rom am 9. November 1921, jetzt in: R. De Felice, Autobiografia, S. 138

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I i s i er u n g der M a s s e n zu vermengen. An der Basis der Demokratie finden wir ein universelles Prinzip: die Au t o n o m i e , derzufolge man nur die Gesetze einzuhalten hat, denen man frei zugestimmt hat; an der Basis der Nationalisierung der Massen finden wir einen gemeinschaftlichen Imperativ, die Pflicht jene nationale Eigen t ü m I i c h ke i t zu verteidigen und zu potenzieren, die allein dem Leben Zweck und Ziel verleiht - eine Pflicht, die umso besser erfüllt werden kann, je ausgedehnter die "Mobilisierung" für den Kampf gegen die Natur oder gegen andere feindliche Gemeinschaften ist. Im ersten Fall wird die Teilnahme - an den Wahlurnen, der Parade, dem Umzug - zum Symbol der Freiheit und der Würde jedes Menschen/Bürgers; im zweiten wird das Auf-die-Straße-gehen zur symbolischen Darstellung des lebendigen Körpers der Nation. Der demokratische Wähler verkörpert sich selbst, wie jedes andere Mitglied der Menschheit; der mobilisierte Untertan steht für die Generationen, die ihm vorausgegangen sind und für diejenigen, die das Werk im Dienst der "Schicksalsgemeinschaft" fortführen werden. Wie Alfredo Rocca 1925 in Perugia darstellt: "für den l'aschismus hat die Gesellschaft ihre eigenen und immanenten Ziele das Aufbewahren, die Expansion, die Perfcktionierung -, die sich von den Zielen der einzelnen Individuen unterscheiden. Diese können eventuell auch in Kontrast zu den individuellen Zielen stehen. Yen hier stammt die Möglichkeit, die die dominanten Doktrinen nicht erfassen, der - auch totalen - Aufopferung des Individuums an die Gesellschaft und die Erklärung für die kriegerische Komponente - ewiges Gesetz der Menschheit -, die jene Doktrinen nur als absurde Degenerierung oder ungeheuerlichen Wahnsinn zu erklären wissen" 77

Jede der vielen Seelen des Faschismus, angefangen mit seinem Gründer selbst, hätte die Worte Roccos unterschreiben können. Und es ist vielleicht überflüssig geworden zu erklären, warum diese Einmütigkeit ausschlaggebend ist. Der Primat des Öffentlichen über das Private in der Ideologie des Regimes hat nichts instrumentales, er ist auch nicht entfernt verwandt mit irgendeinem utilitaristischen Prinzip - die Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen läuft über die Bedürfnisbefriedigung aller, was alle dazu nötigt, sich für den anderen "zu bemühen" - sondern er ist das Sichwiderspiegeln, im Bewußtsein, eines organischen Verhältnisses zwischen den Teilen und dem Ganzen, das Teil der Natur ist und nicht ohne ein gewisses amor fati akzeptiert wurde. Welches auch die Zugeständnisse an den aufklärerisch-demokratischen Jargon sein mögen, für den Faschismus ist man, wen n m a n etwas angeh ö r t : für die Linke, welches auch die antiindividualistischen Regressionen sein mögen, ist m a n , wen n etwas uns gehört. Wenn man die theoretischen und praktischen Implikationen des bisher Gesagten vertieft, ist es schwierig, nicht zu der Schlußfolgerung zu gelangen, daß Ernst Noltes Faschismusexegese eine seltene Tiefgründigkeil erreicht, 77

Ebd., S. 298.

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die die brillantesten und eindrucksvollsten Aufsätze von Mosse - mehr der Ästhetik als der Ethik der "Nationalisierung der Massen " gewidmet - nicht immer erreichen. (Abgesehen von der Reduktion die Nolte vornimmt von Action Franr;aise, Faschismus und Nationalsozialismus auf drei Fa c e tt e n ein und derselben politisch-kulturellen Substanz - dort wo es sich in Wirklichkeit um verschieden species eines genus handelt, der auch andere umfaßt.) Lassen wir Renzo De Felices Definition des Faschismus als "epochale Bewegung" beiseite und wenden uns stattdessen zwei anderen Aspekten des Phänomens zu, die Nolte ausgemacht hat und die ausschlaggebend sind für das bisher Gesagte: der Todeskampf und die Transzendenz. Auf der Grundlage der ersten Bestimmung definiert Nolte den der Faschismus als "Todeskampf der souveränen, kriegerischen, in sich antagonistischen Gruppe"; auf der Grundlage der zweiten als "Widerstand gegen die Transzendenz". Versuchen wir Noltes komplexen konzeptuellen Entwurf etwas verienfacht wiederzugeben, der immer auf der Kippe zwischen einer "Phänomenologie des faschistischen Geistes" - wie man zu sagen versucht ist - und einer genausten Rekonstruktion historischer Tatsachen ist. Den Faschismus als "Todeskampf der souveränen, kriegerischen, in sich antagonistischen Gruppe" zu definieren, bedeutet, darin "den Naturgrund der Politik selbst ans Licht gebracht und zum Selbstbewußtsein"7H zu sehen. Die Souveränität - so erklärt Nolte - bezieht sich auf die Tatsache, daß jede politische Gemeinschaft praktisch auf sich selbst gestellt ist, unabhängig von anderen lebt, für sich selbst sorgt, ohne irgendeine Verpflichtung gegenüber den anderen. Das kriegerische Handeln deutet andererseits auf den Aspekt der Gewalt hin, der - in einem internationalen Kontext ohne Gesetze und ohne Organ, die die Beachtung dieser Gesetze durchsetzen - notwendigerweise das Handeln der Gemeinschaft beeinflussen muß (auch wenn die insulare Position eines Staates die Wahrscheinlichkeit externen Agressionen auf ein Minimum reduziert). Der Antagonismus als letztes ist an ein Regime mit knappen Mitteln gebunden, das sich nicht selbst ernähren kann und an die Stratifizierung von Schichten oder Klassen, die daraus hervorgeht, mit dem gesamten Konfliktpotenzial, das daraus entwächst. "Souveränität, Einstellung auf den Vollzug des Krieges und innerer Antagonismus dürfen daher als fundamentale Charaktere aller bisher bekannten menschlichen Gesellschaften gelten. Es ist aber eine ganz entscheidende Einsicht, daß die Menschen ihr Selbstverständnis niemals aus dieser Realität ihres Daseins ausschließlich oder auch nur vorzüglich gewonnen haben, mindestens seit dem Aufkommen der großen Erlösungsreligionen" 79 .

Das Prinzip, demzufolge jeder in seinem Gebiet ein imperator ist, welches die souveränen Staaten in Anspruch nehmen, hat seine Grenzen in der Gott zugeschriebenen Souveränität. Die Vorbereitung auf den Krieg hat immer den Erhalt des Friedens als Rechtfertigung gehabt (si vis pacem, para bel/um). Die soziale Stratifizierung ist immer an "Werte" gebunden gewe78

79

E. No/te, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963, S. 515. Ebd., S. 508.

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sen, die sie von jedem willkürlichen Charakter befreiten. In allen Gesellschaften der Geschichte ist es der konkreten Realität - souveräne, kriegerische und antagonistische Staaten - und den universellen Idealen immer gelungen, einen modus vivendi zu finden, eine möglicherweise lügenhafte Beziehung. Mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft wurde es jedoch für möglich gehalten, sowohl die häßliche Realität als auch die irreale Lehre (den ideologischen "Überbau") zu beseitigen, um an ihre Stelle ein regnum hominis einzurichten, in denen die beiden Dimensionen vereint werden würden. Nun definiert sich der Faschismus als "der liberalen und marxistischen Lehre von der Verwirklichung der universalen Natur des Menschen" auf "denkbar schärfste Weise" entgegengesetzt. Wie man sieht, ist Noltes Analyse den konzeptuellen Theogonien fast zu sehr zugeneigt. Außerdem wird der ausschlaggebende Umstand nicht gebührend betont, auf Grund dessen der Abbruch jeder "Beziehung auf ein übergeordnetes Gut, einen universalen Zweck" - der seiner Meinung nach den Faschismus charakterisiere- in Beziehung gesetzt werden muß, zu einer strukturellen Tatsache, nämlich der Krise des nationalen Staates. Diese Krise explodiert mit dem Weltkrieg und kommt in der objektiven Unmöglichkeit des Saates zum Ausdruck, seine eigene "Raison" geltend zu machen (Machtkämpfe, Antagonismen, ausgelö~t durch die Knappheit der Lebensgüter, neomerkantilistischer Schutz der eigenen produktiven Sektoren) ohne bestimmte Moralkadices von universaler Tragweite zu erodieren. Und dennoch, wie auch immer die Gründe des historischen Verlaufs lauten mögen, der deutsche Historiker deckt die effektive menschliche Gemeinschaft des Faschismus wie wenige andere auf: das erste Phänomen "wo .. . die partikulare Realität sich und nur sich selbst will. Damit gelangen ihre fundamentalen Strukturen erstmals zu entschiedenem Bewußsein ihrer selbst." Einen neue Tatsache kommt in der Geschichte des 19. Jahrhunderts zustande: "Reales [will] sich als solches"H0 Mit dieser lapidaren Aussage trifft Nolte das Innerste des Problems und erhellt von Innen heraus alte topoi der faschistischen Ideologie, bei denen die Aufmerksameil der Interpreten nie lange genug verweilt hatte. Man denke an Alfredo Roccas Rede vor der Kammer im Dezember 1925: "Während es keine den Nationen überlegene Organisation gibt, die der Nation Gerechtigkeit zuteil werden lassen kann, so gibt es doch eine den Klassen überlegene Organisation, die unter den Klassen Gerechtigkeit üben kann. Das reicht. Gerad weil Konkurrenz und Kampf das ewige Gesetz der Beziehngen unter den Nationen ist, muß die Solidarität das Gesetz der Beziehungen unter den Klassen innerhalb der Nation sein"H 1 .

Es wird also behauptet, daß es weder internationale Moralität noch Gerechtigkeit gibt, daß Gesetzlosigkeit die Beziehungen der Staaten untereinHO

Für die obenstehenden Zitate vgl. ebd., S. 508-509.

HI

A. Rocca, La trasformazione dello Stato. Dallo Stato liberale allo Stato fascista,

Roma 1927, S. 362.

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ander bestimmt und daß aus diesem Grund jedes Individuum, jede Schicht und Klasse eng an die nationale Gemeinschaft gebunden bleiben muß, in die das Schicksal sie gestellt hat. Außerhalb dieser, nulla salus! Außerhalb des Staates gibt es keine Vernunft oder Menschlichkeit, nur das Nichts, den "Verlust der Mitte". Dieser grundsätzliche Bezug zum Handeln ist allen Strömungen des Faschismus gemein (der Rechten, der Linken, dem Zentrum): was variiert, ist das Verständnis der Solidarität unter den Klassen im inneren der Nation. Muß die Union von einer einzigen ausgesprochenen politischen Partei durchgesetzt werden - Ausdruck der neuen revolutionären herrschenden Schicht -, oder von einem starken autoritären Staat, in der Lage seinen Willen der Partei aufzuzwingen? Muß sie von unten kommen, über die Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft, mittels Einrichtungen wie der Körperschaft oder aus der Beförderung der Gewerkschaften zu Staatsorganen, Antriebsriemen seines unbeugsamen Willens? Und außerdem: vorausgesetzt, daß die Massen zur aktiven Teilnahme am nationalen Unternehmen aufgerufen werden müssen, welches hat das Maß ihres Entgelts zu sein? In den Antworten auf diese Fragen, gehen die verschiedenen Seelen der faschsitischen Ideologie soweit, daß sie zuweilen den Eindruck einer Rückkehr zu konservativen und deutlich antimodernen Werten erweckcken, zuweilen den Eindruck einer Vorwegnahme - oder Wiederaufnahme - revolutionärer Formeln, die den Übertritt vieler junger Leute vom Faschismus zur marxistischen Linken erklären. In den zwanzig Jahren, in denen sich der Faschismus abspielte, trachteten dennoch diejenigen, die sich guten Glaubens zu der neuen Ordnung Mussolinis bekannten, nach einer gemeinschaftlichen Legitimität, die die internen Gegensätze zwischen "rechts" und "links" auf rein taktische Divergenzen reduzierte. ("Rechts" und "links" verstanden in einem verarmten traditionellen Sinn als: Verteidigung der Staatsautorität auf der einen Seite, Fürsorge für die Bedürfnisse des Volkes auf der anderen.) Wie 1924 der äußerst geistreiche faschistische Historiker Gioacchino Volpe schrieb: .Der Weltkrieg war nicht das Ende der Imperialismen oder des Wettstreits um den ,Platz an der Sonne', sondern wahrscheinlich ein Anfang. Die zivilisierte Welt wird in diesem Jahrhundert mit großem Eifer die wirtschaftliche Erschließung und die Ausbeutung noch unberrührter Kontinente in Angriff nehmen. Die Suche nach Rohstoffen wird mühevoll sein; die Bemühungen derjenigen Länder, die arm an Grund und Boden aber reich an Menschen sind, sich die notwendigen Entwicklungsmöglichkeiten zu verschaffen, werden energisch sein; und es sieht nicht so aus, als ob sich all dies in einem altruistischen Klima der Besonnenheit, des Ausgleichs von ,Leben und leben lassen' abspielen wird. Das Spektakel der Nachkriegszeit bringt einen energisch dazu, das Gegenteil anzunehmen. Hiermit wird jedoch weder das Ende der Welt noch ein kollektiver Wahn heraufbeschworen werden, wie es von verschiedener Seite tönt. Sondern es wird der Antrieb sein, nichts brachliegend und untätig zu lassen, jede Energie, jedes Mittel, allen Reichtum der Menschen und der Natur herauszuziehen und zu aktualisieren und den krativen Prozeß der Geschichte anzuregen" 82 . 82

G. Volpe, Scritti su fascismo, Bd.l, S. 260.

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Volpe macht in der letzten Instanz die intensive gemeinschaftliche Bindung deutlich, die die Einordnung des Faschismus nach rechts rechtfertigt: eine bloße Tatsache - die Rückkehr der Nationen zum bel/um omnium contra omnes - wurde zum wertvollen Triebmittel; und trotz der Menschlichkeit und der zivilen Stärke, die den Historiker von "Italia in cammino" charakterisierten, benahm er sich so, als ob die mehr als begründeten Ängste derjenigen, die von "kollektivem Wahn" sprachen, nicht ins Gewicht fielen - wobei er sich damit vielleicht direkt auf die glänzend düsteren Aufsätze von Francesco Nitti über die Auflösung Europas bezog. Wenn das Ende Italiens als "Großmacht" wirklich dazu geführt hat, die historiographische Debatte auf andere Aspekte der Ideologie und des faschistischen Regimes zu lenken- auch in dem Versuch in dieser oder jener Strömung, in dieser oder jener politischen Linie, alt bekannte Züge des "italienischen Entwicklungsmodells" ausfindig zu machen -, darf man dennoch nicht vergessen, daß der Faschismus nicht so sehr aus dem Willen geboren wird, als Richter zwischen Liberalismus und Sozialismus, zwischen Arbeit und Kapital zu treten, sondern aus der Angst vor einer politischen Gesellschaft, die sich von interner Anarchie bedroht sieht, sowie aus der Bestürzung darüber, aus vielleicht genau diesem Grund die historisch einmalige Möglichkeit nicht ausnutzen zu können, die das internat;_onale Chaos dem siegreichen Italien bietet: die Expansion. Indem er den Faschismus als "Reales [das) sich als solches will" definiert, hat Nolte einen Aspekt von ausschlaggebender Wichtigkeit betont. Aber nicht weniger relevant ist seine andere Definition des Faschsimus als "Widerstand gegen die Transzendenz", die das Moment der radikalen Opposition gegenüber der Linken herausstreicht. "Als ... eigentlicher Feind" des Faschismus "wurde die ,Freiheit zum Unendlichen' erkannt, die, im Individuum beheimatet und der Weltentwicklung wirklich, das Vertraute und Geliebte zu zerstören droht". Vielleicht ist es überflüssig zu betonen, daß die Linke, wie sie im einleitenden Kapitel definiert wurde, aufs e ngste mit der transzendentalen Natur (im Sinne Noltes) des Menschen verwandt ist, mit seiner Fähigkeit über das konkret Existente hinauszugehen, es von oben aus der Perspektive eines "Besseren" zu betrachten, das sich in Kritik an der empirischen Gegebenheit übersetzt. In dem Moment wo die Fähigkeit, sich "aus der Befangenheit im Alltäglichen" zu lösen und das Ganze der Welt als "Horizontbewußtsein" zu erfahren - die "theoretische Transzendenz" nach Nolte -, die Kontrolle über den gesellschaftlichen Prozeß erlangen möchte, der die "Beziehungen zwischen den Menschen unablässig erweitert und damit im ganzen subtiler und abstrakter macht" - Prozc8 der die "praktische Transzendenz" definiert - führt die Herauslösung "aus überlieferten Bindungen" direkt ins Herz der Linken. Und macht gleichzeitig die Gründe für den tödlichen Haß klar, den sie im Faschismus wecktH3. H3

Vgl. E. No/te, Der Faschismus, S. 516, 526.

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Der Faschismus ist für den deutschen Historiker nicht nur Widerstand gegen die Modernisierung, der allen konservativen Richtungen gemein ist, sondern "Kampf gegen die theoretische Transzendenz", also wenn ich recht verstanden habe, der Versuch jenes] e n seit s zu tilgen, das auf der politischen Seite dabei ist, die Freiheit in Richtung des Unendlichen zu radikalisieren, indem die traditionellen Formen der theoretischen Transzendenz selbst (die in der Kunst, der Religion, der Philosophie zum Ausdruck kommen) verjagt werden, mit denen die liberal-bürgerliche Gesellschaft eine Art Kompromiß eingegangen war. Der Faschismus verfüge, schreibt er: "über Kräfte ... , die aus dem Emanzipationsprozeß geboren sind und sich dann gegen ihren eigenen Ursprung kehren. Wenn er die Verzweiflung des feudalen Bestandteiles der bürgerlichen Gesellschaft an seiner Tradition und der Verrat des bürgerlichen Elements an seiner Revolution heißen darf, so ist jetzt klar, was diese Tradition und dies Revolution eigentlich sind"84 •

Noltes Argumentation bleibt aber häufig auf einem abstrakten Niveau, das es nicht erlaubt, in das vorgeschlagene interpretative Modell nicht nebensächliche theoretische und praktische Aspekte des Faschismus aufzunehmen. Auch der "Widerstand gegen die Transzendenz" stellt in Wirklichkeit eine Ethik dar, da der Mensch kein transzendentales Wesen allein ist, sondern auch ein Schicksalsgeschöpf und beide Apsekte verweisen auf spezifische Loyalitäten, Pflichten und Treue. Außerdem droht auch der faschistische Aktivismus "das zu zerstören, was man kennt und liebt" , wenn er nicht sogar eigene Beiträge zur "praktischen Transzendenz" beisteuert. Hat Ralf Dahrendorf nicht gezeigt, daß die nazistische Straßenwalze das deutsche Gegenstück zur französischen Revolution war, was die erschütternden und liveliierenden Auswirkungen auf die soziale Stratifikation betrifft? Und kann etwas Analoges nicht über Italien gesagt werden? Für Nolte, so schrieb einer seiner strengen rechten Kritiker, Adriano Romualdi, zeigt sich der Faschismus: "als eine Revolution gegen die Transzendenz, oder - wenn man seinen Jargon übersetzt - als ein Widerstand gegen die vage Öffnung der Gesellschaft gegenüber neuen sozialen, rassischen und geistigen Veränderungen. Er schwimmt gegen den Strom der Geschichte, der in Richtung Livellierung und Vermischung fließt. Er leistet Widerstand gegen die Auflösung der alten Formen, der althergebrachten Gemeinschaften und althergebrachten Glauben, mit Fanatismus und Gewalt, wenn es sein muß"85 .

Zu erklären bleibt aber der doch reale faschistische Reformismus, das (relative) Feingefühl gegenüber der Bedürfnisse der Massen, die streckenweise aufrichtige Suche nach einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kollektivismus. Wie ein alles in allem wohlwollender Kritiker Noltes schreibt:

Ebd., S. 544. P. Romualdi, Correnti politiche e ideologiche della destra tedesca da! 1918 al 1932, Anzio 1981, S. 44. 84

85

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"If Mussolini in fact headed an Entwicklungsdiktatur promoting industrialization (a key feature of practical transcendence), he clearly does not belong among the anti-transcendentalists; it can be argued, of course, that the ,really' Fascist character of his fascism emerged only with the Ethiopian conquest 0935) and the antiSemitic legislation 0938)"H6

Wenn diese Analyse stichhaltig ist, dann ist die vom Faschismus geförderte "praktische Transzendenz" dem Krieg zweckdienlich, so wie der Krieg zum auslösenden Faktor der Revolution wird. Diese Verknüpfung wird von McGregor Knox in dem wichtigen Aufsatz "Conquest, Foreign and Domestic, in Fascist Italy and Nazi Germany" in scharfsinniger Weise dargelegt. Der Autor deckt ein ausschlaggebendes Charakteristikum auf, das Faschismus und Nationalsozialismus verbindet - sie so von anderen totalitären Regimen abhebend - und das sich in einem schrittweisen revolutionären Prozeg zusammenfassen lägt: a) Konsolidierung der Macht; b) Ausnutzung der Rivalitäten zwischen anderen Mächten um Handlungs- und Eroberungsfreiheit zu erlangen; c) Benutzung des Sieges, um die konservativen Überreste der Vergangenheit wegzufegen. "Above all the relationship between foreign and domestic policy in the two regimes was similar. Foreign policy was internal policy and viceversa; internal consolidation was a precondition of foreign conquest, and foreign conquest was the decisive prerequisite for a revolution at 1.ome that would sweep away inherited institutions and values, Piedmontese-Italian and Prusso-German military castes, the churches with their claim to deep popular loyallies and their inconvenient if not always operative christian values, and last but not least, the putatively decadent and cowardly upper-middle classes"H7 In der zeitgenössischen Welt haben viele Regime versucht, die alten sozialen Strukturen und die internationale Ordnung aus den Angeln zu heben und manchmal haben sie sogar den militärischen Sieg gesucht, um eine innere Machtordnung zu konsolidieren. Nie war es jedoch geschehen, daß "to practice foreign conquest. .. the indispensable prerequisite for internal transformations" geworden wäre. Der englische Wissenschaftler weiß aber beim Anblick des Verhältnisses zwischen Krieg und Revolution, zwischen territorialer Ausbreitung und radikalen Eingriffen in das soziale Gewebe der Nation nicht, wo dieser konzeptuell anzulehnen ist. Woher stammt die "mixture of demography and geopolitics", die, abgesehen von all den deutlichen Unterschieden, den vereinigenden Zug der deutschen und italienischen Diktaturen darstellt? Wenn die Revolution die Voraussetzung für die Expansion ist und die Expansion die Voraussetzung für die Revolution, so bleibt die Revolution aus den genannten Gründen dennoch immer der erste effektive Motor. Der Faschismus breitet sich nicht aus, um eine Revolution zu machen, sondern er braucht ein weniger steifes und blockiertes soziales System, das irgendwie in 86 87

K. Epstein, A New Study of Fascism, in: World Politics, XVI 0964), S. 320.

M . Knox, Conquest, Foreign and Domestic, in Fascist Italy and Nazi Germany,

in: Journal of Modern History, LVI 0984), S. 57.

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der Lage ist, den Bedürfnissen der zahlenmäßig größeren Klassen und Schichten entgegenzukommen, gerade um im Fall eines Krieges, der jede Komponente der Gemeinschaft einsetzen muß, "ausgerüstet" zu sein. Knox' interpretative These bleibt meiner Meinung nach trotz dieser Präzision, die das Verhältnis Krieg/ Revolution an die richtige Stelle rückt, von außergewöhnlicher heuristischer Tragweite. Sie bringt die Faschismusdebatte sozusagen von der Ku I tu r zur Struktur zurück, wo letztere nicht mehr ausschließlich als Wirtschaft gesehen wird (es ist bedeutend, daß nicht wenige Historiker der "revisionistischen" Sphäre - nicht De Felice, der Lehrer wie Cantimori, Volpe und Chabod hatte - die Dimension der Struktur unter den marxistischen Zuständigkeitsbereich rechnen, wenn sie die Wichtigkeit der Kultur im anthropologischen Sinn hervorheben), sondern auch, und besonders, als Politik (das Machtgefüge innerhalb eines politischen Systems, die Einflußverteilung in der weltpolitischen Arena usw.). Eine systematische Analyse der ideologischen Texte des Faschismus - und insbesondere der Schriften und Reden des "Duce" - könnte ad abundantiam das - nicht immer unterirdische - Aufkommen des BewufStseins in den Vordergrund rücken, daß der revolutionäre ProzefS, den das Regime in Gang gebracht hat, im siegreichen Krieg fast die Bestätigung der Geschichte findet. Die nationale Revolution ist lebensfähig, wenn es ihr gelingt, ihr unverkennbares Siegel auf das umliegende Gebiet aufzudrücken. Andernfalls läuft sie Gefahr, sich auf eine Ordnung mit reinem Selbstzweck zu reduzieren, die melancholischen Pfade "ahistorisch" gewordener Nationen- wie Spanien und Portugal- begehend, einzig und allein zufrieden, die Fahrt in Richtung Dekadenz gebremst zu haben.

6. Einige Hinweise auf die "Strukturen" als Schlußbetrachtungen Am Ende eines holprigen Pfades angelangt, der aber inzwischen in seiner konzeptuellen Linienführung klar ist, ist es vielleicht von Nutzen, noch ein paar Worte auf die "Strukturen" zu verwerten, die sich in den Geisteszuständen - in den Ideologien - zum Teil widerspiegeln und zum Teil verstecken. Der Faschismus - Regime sowie Bewegung - läßt sich nur mit Hilfe zweier Faktoren erklären; der eine intern, der andere international. Was den ersten betrifft, so ist zu sagen, daß die Krise des sozialen und politischen Systems Italiens - Resultat eines langen Krieges, venichtend für die Staatsfinanzen sowie Zerstörer materieller und ideeller Werte, die sich im "prosaischen" Zeitalter Umbertos und Giolittis angesammelt hatten - ein Machtloch schafft, das die Existenz des Nationalstaates bedroht. Keine Partei, keine Koalition bringt eine starke und effiziente Regierung zu stande und die jüngsten und weniger jungen Massenformationen sind nicht dazu geneigt, etwas Bestehendes zu leiten, das sie nicht ohne gute Gründe bekämpft

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hatten. Es wäre zum Beispiel absurd gewesen, von den Sozialisten einen nationalpatriotischen Umschwung zu verlangen, der nicht nur die symbolische Ebene miteinbezogen hätte, sondern auch delikate Entscheidungen innenund außenpolitischer Natur bedeutet hätte, die mit der Geschichte und der inneren Natur der PSI nicht in Einklang zu bringen gewesen wären. Außerdem war deren reformistischer Flügel auch auf Grund des hitzigen Klimas, das der Kriegseintritt geschaffen hatte, deutlich in der Minderheit. Die sozialistische Politik, schreibt Settembrini, konnte die Eingliederung der Massen in den Staat "nur unter dem absurden Gesichtspunkt der Umkehrung der nationalen Werte und einer Revanche über die Niederlage vom Mai 1915"88 konzipieren. Das ist wahr. Aber es ist in gleichem Maße wahr, daß eine Bewegung, die in einem Wertekomplex verwurzelt ist, der Marx und Cattaneo beinhaltet, den Klassenkampf und die lombardische politische Aufklärung, den historischen Materialismus sowie den zivilen und pazifistischen Positivismus, den Nationalstaat und abgesehen davon, die Union der Staaten und die europäische Föderation, sich dem Mythos Vittorio Venetos nicht anschließen konnte, oder den vagen, irrealen Projekten einer neuen internationalen Ordnung. Einer Ordnung, die um effektiv zu sein, den Verzicht der Staaten auf "heilige Egoismen" mit sich bringen mußte und so die konsequente unbeantwortete Frage: Warum hat es dann d(;n Krieg eigentlich gegeben?H9 Was andererseits Italiens Außenpolitik betrifft, so kam diese nach dem Fall der Mittelmächte und dem Rückzug der aufkommenden Kolosse Rußland und Amerika vom Weltgeschehen in den Genuß einer einmaligen historischen Möglichkeit. Sie konnte sich als Garant der neuen europäischen (und weltweiten) Ordnung stellen und konnte ihr "ausschlaggebendes Gewicht" für konkrete strategische, koloniale und marktwirtschaftliche Vorteile zu Gunseen dieser oder jener Staatenkoalition geltend machen. Der Faschismus (wie schon hier und andernorts andgedeutet) war der erzwungene Ansatz einer einzig auf die Nation bezogenen Legitimität, zu einer Zeit, als diese wegen der unüberwindbaren inneren Konflikte selbst das Risiko einging, von der Weltgeschichte abgeschnitten zu werden. Zeitgenössische Historiker sind sich im allgemeinen der Rolle , die die sozialen Konflikt spielten, bewußt (Erhaltung oder Umgestaltung der existenten Machtstrukturen? Reform oder Revolution?) und beachten auch die Akteure (Schichten, Klassen, Institutionen), die ihren Einfluß über Parteien, Interessengruppen, die Informationsorgane und kulturelle Darbietungen D. Settemhrini, Fascismo controrivoluzionc imperfetta, Firenze 1978, S. 132. Den Völkern, die gekämpft und gesiegt haben, präsentiert sich der Sieg mit einem Füllhorn materieller Güter jeder Art. Die "Freiheit der Nationen" kann nicht die einzige Belohnung für die vielen Opfer der Kriegsjahre sein. Über die Verantwortlichkeit für den Weltkrieg finden sich viele Beobachtungen in dem Band - dessen Leitidee ich aber nicht teile - A. Roveri, Le cause del fascismo. Origini storiche del regime reazionario di massa in Italia ein Germania, Bologna 1985. HH

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geltend machen. Vernachlässigt wird andererseits die gemeinschaftliche Dimension als solche, die ausschlaggebende Tatsache, daß der Konflikt sich in einer Arena abspielt - dem staatlichen Rahmen -, die abgesehen vom Who Gets What, When, How eine Schutzvorrichtung darstellt, die Bügerrechte - sei es auch bloß in einem Mindestmaß - für alle garantiert. In einer Welt ohne offene Grenzen, die auch noch auf lange Sicht so bleiben wird, versichert der Staat jedem Staatsangehörigen, daß er etwas für ihn tun wird, daß der institutionelle Apparat sich in irgendeiner Form den "Beherrschten" zur Verfügung stellen wird. Wenn auch mit so unbedeutenden Leistungen, daß sie nur geringfügig wahrgenommen werden: z.B. die Garantie, ohne Schwierigkeiten mit den anderen "kommunizieren" zu können, da im Territorium, das unter seine Gerichtsbarkeit fällt, nur eine Sprache gesprochen, unterrichtet und anerkannt wird. Zum exklusiven Träger der höheren Interessen der Nation zu werden, war das Bestreben des Faschismus und zwanzig Jahre lang gelang ihm das mehr oder weniger. Während die anderen Parteien (der "Rechten" und der "Linken") dem Spielverlauf zusahen und sich um die Preise für den Gewinner Gedanken machten, lenkte der Faschismus die Aufmerksamkeit auf das Stadion und die Notwendikeit es immer ordentlicher, geräumiger und zweckdienlicher zu gestalten. Mit Sicherheit sind die Zielsetzungen des Überlebens oder der Macht wie Raymaond Aron hervorhebt, nicht naturaliter im Konzept des "interet national" 90 enthalten: die herrschenden Klassen der deutschen Kleinstaaten im 19. Jahrhundert oder die venezianische Aristokraite gegen Ende des 18. verfolgten weder Ziele des Überlebens noch Ziele der Macht. Und dennoch gedachte eine gegliederte, komplexe und in Richtung Industrialisierung schreitende Nation wie das Italien der zwanziger Jahre zweifellos zu leben sowie von den internationalen Möglichkeiten Gebrauch zu machen, die der Sieg bot - auch wenn der zweite Entwurf von einem wichtigen, aber nicht mehr umfangreichen Teil der "bürgerlichen Gesellschaft" gebilligt wurde. Andere Regierungskoalitionen hätten vielleicht 1922 das Überle ben garantiert - und die Regierbarkeit des Landes auch mit der teilweisen Demobilisierung der politisch aktivierten Personen der Nachkriegsathmosphärte bezahlt - aber schwerlich hätten sie einen so ausgedehnten Konsens erreicht, um eine Machtpolitik unter Bedingungen objektiver Unterlegenheit zu entfalte n. Nur die kontinentalen Staaten konnten sich inzwischen noch "imperialistische" Projekte erlauben, ohne schwere Verzichte für die Wirtschaft und untragbare Eingriffe in das zivile Leben. Es hätte sich auf jeden Fall um eine Demokratie gehandelt, die dazu bestimmt gewesen wäre, für eine gewissen Zeitraum schwach und a u t o r i t ä r zu bleiben. Autoritär, da sie gezwungen wäre, (direkt oder indirekt) die zu hohen Erwartungen in die Erneuerung der politischen und institutionellen Einric htungen zu 90 Vgl. R. Aron, Paix et gue rres entre !es natio ns, Paris 1968; dtsch .: Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatswe lt, Frankfurt a. Main 1986.

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frustrieren; schwach, da es ihr unmöglich wäre, sich auf jenen Sinn für das Öffentliche zu verlassen, der in Konflikt geratene Parteien und Gruppen über die Notwendigkeit unterrichtet, Druck und Forderungen diesseits jener Schwelle zurückzuhalten, über die hinaus jedes mögliche soziale Abkommen (bargaining) schädlich für die vitalen Interessen einiger oder aller Parteien wird. Weder das Akzeptieren der geregeIten Auseinandersetzu n g, noch die Kompromißbereitschaft91 - die fundamentalen Charakteristika des liberaldemokratischen Pluralismus, waren für die civic culture wesentlich, für die politischen Programme, für die Art wie die Klassen und sozialen Kategorien in den zwanziger Jahren miteinander in Verbindung traten, charakterisierte. Unter solch schwierigen Bedingungen war der Schutz und der Ausbau des liberalen institutionellen Rahmens wenn nicht unwahrscheinlich dann doch wenig aufregend für jene spärlichen politischen Eliten, die bei so vielen Erschütterungen das Realitätsprinzip nicht verloren hatten. Sie wußten unter anderem sehr genau, daß sie in der Außenpolitik keinen ernstzunehmenden Gegenposten hätten anbieten können, wo Italien - nachdem es einmal die nicht gerade umfangreichen irredentistischen Gebiete bekommen hatte - eine beau geste hätte machen sollen und den anderen die Aufteilung der Kolonien, Protektorate und privilegierten Märkte hätte überlassen sollen, gemäg der Idealitäten spät-risorgimentalcr Natur des demokratischen Interventismus. Hiermit soll aber nicht gesagt werden, dafS eine mögliche Koalitionsregierung, die auf der Verteidigung der satzungsgemäßen Freiheiten beharrt, sich in einem zwecklosen Trostpflaster aufgelöst hätte. Im Gegenteil, sie hätte in einem dunklen Abschnitt der italienischen und europäischen Geschichte jenes Vermächtnis sokratischer und christilicher Werte aufbewahrt, das - jenseits aller westlich gesinnten Rethorik - die Seele der großen Ideologien des 19. Jarhunderts darstellt. Man darf aber nicht vergessen, daß keine jubelnden Massen, berauscht von der "Revolution an die Macht" oder ausschlaggebenden institutionellen Neuerungen, sie unterstützt hätten. Es hätte sich eine solide Basis für zukünftige Reformen gebildet, aber für sofortige, spektakuläre Veränderungen hätte es keine gegeben. Und darüber hinaus hätte der nationale Chauvinismus mit seinen wenig respektablen Machtinteressen, der sich nach dem jüngsten Sieg wieder bemerkbar machte, nichts gefunden, um seinen alten Durst (man bedenke das "große Restaurationsversprechen des Risorgimento" der Reiche Rom und Venedig) zu stillen. Der Faschsimus besafS die Kühnheit, das Überleben an die Macht zu binden, mit dem Traum des einen die Wirklichkeit des anderen zu zementieren. Hier müssen jedoch zwei Gegebenheiten hervorgehoben werden, die sich als fatal herausstellten. Um seine außen- und innenpolitischen Ambitionen zu verwirklichen, brauchte das Regime den Konsens - und sei er auch manipuliert - aller relevanten sozialen · Komponenten: er konnte deshalb keine einzige über einen gewissen Grad hinaus verletzen, in den Inter91 Vgl. hierzu meinen Anikel : Per un uso critico del termine "pluralismo", in : La Cultura, XV (1977), Anm. 2-3, S. 294-317.

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essen, den Zuneigungen, den Symbolen. Die verschiedenen subcultures, die die Nation ausmachten, mußten also auf irgendeine Art ausgesöhnt werden - von der bürgerlichen (konservativ oder progressiv) zur katholischen, von der sozialistischen zur bäuerlichen. Von hier stammt der Versuch auf dem ideologischen Niveau allen ein bißchen "Recht zu geben" (Ordnung und soziale Gerechtigkeit, Fortschritt und Erhaltung). Auf dem Niveau der praktischen Politik erwies sich die Aussöhnung dennoch deutlich schwieriger, so daß am Ende, wenn auch mit bedeutsamen Ausnahmen, die policies überwogen, die den dominierenden Interessen am geneigtesten waren. Und von hier stammt dann auch der immer zahlreicher werdende Chor der Unzufriedenen, der Besiegten (der "Rechten" und der "Linken"), die so unbefangen die Karte des "Verrats an der Revolution" ausspielten. Die andere Gegebenheit betrifft die Außenpolitik. Solange das Regime in der Lage ist, die Widersprüchlichkeiten des internationalen Systems auszunutzen, indem es sich in die Konflikte zwischen den Mächten einschiebt, stärken dessen Erfolge, auch wenn sie vom dem wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen sehr teuer bezahlt werden - z.B. der Krieg in Ethiopien -, den Konsens und die Identifizierung der Beherrschten mit den Herrschenden (auch wenn es zahlreiche Ausnahmen gibt, die typisch für überkommene Moralvorstellungen sind, die alle sozialen und politischen Erdbeben überstanden haben). Aber als das "Spiel der Mächtigen" immer anspruchsvoller wird, als Freundschaften (z.B. England) und traditionelle Werte (z.B. die bürgerlichen) irreparabel bedroht werden, findet sich das Regime hoffnungslos allein. Und so tritt seine authentische Natur einer r e v o 1 u t i o n ä r e n Rechten zutage: die ursprüngliche Anomalie, weswegen der harte Kern seines Legitimationsprinzips nicht von Werten dargestellt wird, die wenn man so will ,verallgemeinerbar' sind, sondern von der Treue gegenüber einem gegebenen Schicksal, das nicht von anderen geteilt werden kann und zum moralischen Imperativ erhoben wurde. Auf diese Weise ereignet sich das propter vitam, vivendi perdere causas, was für eine zivilisierte Kultur wie die italienische unerträglich ist, so reich an kosmopolitischen und internationalistischen Stimmungen - dank ·der Kirche, der oberitalienischen politischen Aufklärung, dem positivistischen und marxistischen Sozialismus. Gleichzeitig bedeutet die Ausschaltung der politisch revolutionärsten Gruppen das Ende der "großen Angst" des Gemeinschaftslebens: niemand bedroht mehr ernsthaft die nationale Einheit mit so radikalen Reformprojekten, daß sie nur am Ende einer siegreichen Revolution hätten durchgesetzt werden können. Es ist vielmehr der Faschismus, der mit der deutschen Alleanz, dem Kampf gegen die Ereignisse des Jahres 1789, mit der wachsenden antibürgerlichen Polemik, mit der blinden Feindseligkeit gegenüber Monarchie und Kirche droht, das historische und kulturelle Gesicht der Nation zu entstellen. Und tatsächlich, um die Rolle einer Großmacht spielen zu können, muß sich das Regime im Zeitalter der Massen eine immer ,totalitärere' Ordnung geben, um so in der Lage zu sein, die Nachzügler, die Totgewichte und die (bürgerlichen) Förderer des passiven Widerstandes aufzuspüren und anzuzeigen. Von dort stammt das Gefühl, verraten worden

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zu sein und die durchaus korrekte Wahrnehmung, daß für die alten Unterstützer der frühen zwanziger Jahre, nachdem das "Haus aufgeräumt" und auf der internationalen Ebene die Kraft zu verhandeln wieder erlangt worden war, in einem Maße wie Italien sie nach seiner politischen Einigung nie besessen hatte, die Aufgabe der "professionellen Revolutionäre" im schwarzen Hemd abgeschlossen sei, sodaß sie alle nach einem angemessenen "gut gedient" "nach Hause" zurückkehren sollten. Aber auch die mystische Betonung der Ideologie stammt von hier, die Selbstweihung ihrer Träger zu Priestern eines nationalen Geistes, der seinen düsteren Willen zur Macht in der Welt geltend machen soll: düster, da er nicht aufgewogen wird, von irgendeinem authentischem Versprechen, das ganze Menschengeschlecht zu befreien (was den linken "Imperialismus" immer auszeichnet: z.B. die revolutionären Heere Frankreichs), sondern nur darauf gerichtet ist, den Hang zur Befehlsgewalt der Erben Roms zu bestätigen. Und von hier stammt letzendlich auch, besonders im späten Faschismus von Salö, jene Mischung aus Ar i s t o kr a t i e und Sozial i s m u s , die Mario Stoppino schreiben ließ, daß das hierarchische Prinzip in der faschistischen Ideologie, "nicht mehr das Instrument" sei, "um Ordnung zu schaffen, sondern um die Nation zu mobilisieren, um einen grenzenlosen Kampf mit den anderen Nationen auszulösen" 92 • Der Faschismus hat den Italienern in dem Moment das Gefühl der Zugehörigkeit an eine politische Gemeinschaft gegeben, als die Konflikte der Staatsführung drohten, die Bedürfnisse der Gesellschaft aus den Augen zu verlieren: hiermit wurden sicherlich die Interessen derjeniger gefördert, die mit der Auflösung des Staates mehr zu verlieren hatten, aber in einem Mindestmaß wurden auch die Interessen derjeniger geschützt, die wenig zu verlieren hatten - nur Zigeuner und Staatenlose riskieren nichts, wenn ein politisches Gefüge seine Zerstörung befürchtet. Vor mehr als zwanzig Jahren schrieb Alberte Aquarone: "Es ist schmerzhaft zuzugeben: aber man muß anerkennen, daß die tiefe Furche, die durch d ie ganze Geschichte des vereinten Italiens hindurch, die Massen dem Staat gegenüber immer fremd und feindlich gehalten hatte, wenigstens teilweise in der faschistischen Ära überwunden wurde ... Es war im Faschismus, daß ein Großteil der Volksmasse anfing, sich mit dem nationalen Staat zu identifizieren, auch wenn nur auf konfuse Art und nicht ohne Unsicherheiten und Schwankungen"93.

Aus den vorausgehenden Seiten sind (vielleicht) die Gründe dieser, wenn auch relativen, Identifizierung mit einem Regime hervorgegangen, das - obschon von den Interessenkonstellationen des alten savoyischen Italien stark beeinflußt - sein Erscheinungsbild an die innere und äußere Festigung des Staates geknüpft hatte. Die vom Faschismus angerufene nationale Legi92

s. 87. 93

Siehe den Artike l zum Stichwort "autoritarismo", in: Dizionario di politica,

A. Aquarone, Alla riceraca dell'Italia liberale, Napoli 1972, S. 335-336.

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timität kann nicht auf reine Ideologie reduziert werden, auf politisches Spektakel oder auf die Nationalisierung der Massen, verstanden als symbolische Gratifikation, die einem Volk aufgedrängt wird, dem man nichts anderes anzubieten hat. Und obwohl die Zweckbestimmtheit des Überlebens in der Macht, indem von günstigen Gelegenheiten Gebrauch gemacht wurde, den Interessen der leadership entsprochen hat, hat sie einen außerordentlich hohen Preis gefordert - da ein Staat nur auf Grund einer totalitären Verwandlung in einem weltweiten Konflikt überlegen sein kann. Die Gewalttaten, die im Namen des Überlebens begangen wurden (Unterdrückung des Dissenses, Auflösung politischer Parteien, Sondergerichte usw.) konnte noch ertragen werden, da sie mit einem Vorteil verbunden waren, der von den verschiedenen sozialen Klassen zwar unterschiedlich wahrgenommen wurde, aber real war; die Barbarei, die die Macht produzierte (das Zunichtewerden der katholischen, aufklärerischen und sozialistischen Werte) war unerträglich, unabhängig von den Formeln über die "neue Ordnung" die zum Teil wirklich geglaubt wurden- mit denen das Regime im Krieg versuchte, dem Internationalismus der Demokratie und demjenigen des Kommunismus einen eigenen "anderen" gegenüberzustellen91 .

94 Über die Bedeutung des faschistischen Internationalismus habe ich einige interpretative Thesen aufgestellt. Vgl. D. Cofrancesco, Appunti per un'analisi del mito romano nell'ideologia fascista, in: Storia contemporanea, XI (1980), S. 383-411; ders., Il mito europeo del fascismo 0939-1945), ebd. XIV 0983), S. 5-45. Auch was die entsprechende Biographie betrifft, verweise ich auf diese Artikel.

Die Ideologie des Nationalsozialismus und ihre Vorläufer Von Wolfgang Altgeld

Die Nationalsozialisten selbst haben ihr Denken und ihre Lehren vorzugsweise als ,Weltanschauung' bezeichnet. Der Begriff, ursprünglich von deutschen Vertreten der ,Lebensphilosophie' geprägt 1 , unterstrich den Anspruch auf- zumindest für jeden Deutschen - einzig wahrhaftige Erkenntnis des Lebens und seiner Gesetze, welche eben nicht rational und objektiv erlangt, sondern nur intuitiv und instinktiv - und dies hieß vor allem: nur in der Gemeinschaft volklich-rassisch Artgleicher - erlebt werden könnte. Die irrationale Begründung dieses Wahrheitsbegriffs erklärt etwa die an alle Volksgenossen, aber besonders an die deutschen Intellektuellen ergehende Aufforderung zur Aufgabe ohnehin nicht zu realisierender Objektivität und zu bewugter weltanschaulich-nationalsozialistischer Parteinahme2, das vergleichsweise geringe Interesse an umfassenden und detaillierten doktrinären Festlegungen, das Konzept nationalsozialistischer Erziehung vor allem durch Gemeinschaftserlebnisse, weniger durch intellektuelle Indoktrination. Sie verwies insbesondere auch auf gewaltsame totalitäre Mittel und Methoden gegen alle jene, welche aufgrund rationaler Einwände oder anderer weltanschaulicher Ausgangspunkte sich nicht zu den nationalsozialistischen Wahrheiten bekehrten. Zuweilen wurde versucht, die Begriffe ,Weltanschauung' und Ideologie präzise voneinander abzugrenzen: In nationalsozialistischem Sinne sollte als Ideologie die (bewußte) Verschleierung von volks- und rasseschädlichen Interessen verstanden werden: ideologisch war demnach das Denken sämtlicher politischer Gegner, der geistigen Opponenten und Verweigerer, die wiederum als Marionetten des artfremden Volks- und Rassefeindes, des Juden, gesehen wurden 3. Zugleich sollte dieser Vgl. H. Schnädelbach, Weltanschauung, in: Lexikon zur Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert, hrsg. von C. Stern u.a., Bd. 2, Köln 1971, S. 842 f. Vgl. etwa die vom nationalsozialistischen Erziehungsministe r Rust 1936 gehaltene Rede bei H. Möller, Nationalsozialistische Wissenschaftsideologie, in: Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich, hrsg. von ]. Tröger, Frankfurt a.M. I New York 1984, S. 65-76, S. 67. Vgl. K. Lenk, Volk und Staat. Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1971, S. 36 f.; U. Dierse, Ideologie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von 0. Brunner I W. Conze I R. Koselleck, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 131-169, S. 163.

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Ideologie-Begriff auf die rationalistisch-intellektualistischen, also volksfernen und deshalb unwahren Grundlegungen anderer Geisteshaltungen hindeuten. Die Anwendung des Begriffs ,Ideologie' auf den Nationalsozialismus wird von solchen Unterscheidungsversuchen keinesfalls berührt. Daß er sich, des weiteren, als totalitäre Doktrin verstanden hat, ist von den Ideologen der Bewegung immer wieder betont worden4 , und es erübrigt sich, an dieser Stelle die Berechtigung solcher Selbsteinordnung mittels Wiederholung der in der Forschung erarbeiteten allgemeinen Definitionen totalitärer Ideologie5 nachzuweisen. Allerdings scheinen einige Bemerkungen zum Verständnis des Begriffs ,Ideologie' in Bezug auf den Nationalsozialismus erforderlich: Er wurde und wird vielfach allein oder entscheidend in funktionaler Perspektive gedeutet, als Verschleierungsideologie von politischen und sozialen Kräften h i n t e r der nationalsozialistischen Bewegung und Diktatur - Kapital und Bourgeoisie, Kleinbürgertum, Junker - oder als Herrschaftsideologie, welche einen quasi naturhaften Kampf um Erwerb und Bewahrung der Macht für die NSDAP, besonders aber für konkurrierende Gruppen und Personen innerhalb von Partei und Staat Hitlers legitimieren und verbrämen sollte. Interpretationen des ,deutschen Faschismus' als ,Form bürgerlicher Herrschaft' 6 wären da heute immer noch zu erwähnen, andererseits jene neueren, ,revisionistischen' Deutungen, in denen Entwicklung und Politik des Dritten Reichs wesentlich als Ergebnis der Bewegung eher planlos entfesselter Kräfte und interner Positionskämpfe, nicht aber als Verwirklichung ideologisch konditionierter Programmatik begriffen werden7 • Freilich ist es nötig, die nationalsozialistische Ideologie auch in ,funktionaler' Perspektive zu untersuchen. Die Verabsolutierung dieser Perspektive läßt aber die Der Jude als e igentlicher Begründer volksfeindlicher politischer Ideologien: A . Hit/er, Mein Kampf, 2 Bde. in 1, 359. Auf!., München 1938, S. 345 ff.; Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten 1929-1932, hrsg. von H.A. Turner Jr., Frankfurt a.M. 1978, S. 145. Vgl. etwa A. Hit/er, Mein Kampf, S. 504 ff. Vgl. u.a. Cj. Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, S. 127, 256 u.ö.; H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M . o.J., bes. S. 738745; K.D. Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 14 f. R. Kühn/, Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus - Faschismus, Reinbek b . Harnburg 1971. Außerdem M . Clemenz, Gesellschaftliche Ursprünge des Faschismus, Frankfurt a.M. 1972. Vgl. die Kritik von W. Hafer, 50 Jahre danach - über den wissenschaftlichen Umgang mit dem Dritten Reich, in: Machtverfall und Machtergreifung. Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus, hrsg. von R. Lill I H. Oberreuter (Bayerische Landeszentrale, D. 21), München 1983, S. 189-219. Ein ausgezeichneter Überblick bei G. Schreiber, Hitler. Interpretationen 1923-1983. Ergebnisse, Methoden und Probleme der Forschung, Darmstadt 1984, S. 264 ff.

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eigene ideologisch-politische ,Substanz' 8 , die in ihr begründeten Zwecke des Machterwerbs und Machterhalts, schließlich die besondere Qualität des nationalsozialistischen Totalitarismus verkennen. Im Grunde stehen solche Deutungen in den Traditionen marxistischer Faschismus-Thesen der Zwischenkriegszeit einerseits, der zeitgenössischen These vom weltanschaulichen Nihilismus andererseits. Das in der Forschung angesammelte Wissen über die Wirkungszusammenhänge von ,echter Ideologie' 9 , Entwicklung des totalitären Systems und Politik des Dritten Reichs sollte es eigentlich verbieten, die zeitgenössischen Verharmlosungen, Täuschungen und Mißverständnisse auf historiographischer Ebene wieder aufzugreifen. Ein anderes wichtiges Problem eröffnet die mit den eben angedeuteten Aspekten zusammenhängende Frage, ob sich überhaupt von e i n er nationalsozialistischen Ideologie sprechen läßt. "Es gab grundsätzlich so viele Nationalsozialismen als es führende Männer gab", hat Hans Frank nach dem Ende des Dritten Reichs geschriebenw Die Behauptung ideologischer Vielfältigkeit, damit die Vermutung weitgehender ideologischer Beliebigkeit, könnte noch durch Hinweis auf jene Intellektuellen verschärft werden, die sich - außerhalb des Führungskreises, oft gar außerhalb der Partei -- dazu berufen fühlten, Beiträge zur Ausgestaltung der nationalsozialistischen Weltanschauung zu leisten, etwa zum Staatsbegriff11 oder Reiigionsverständnis. Es lassen sich jedoch den Worten Franks ganz entgegengesetzte Äußerungen ,führender Männer' gegenüberstellen. Als "Mein Kampf", erschien - schrieb Baidur von Schirach ein Jahr nach der Machtergreifung - "war uns dieses Buch wie eine Bibel, die wir fast auswendig lcrnten" 12 . Bei aller gebotenen Skepsis gegenüber einer solchen Aussage 11 , müssen dazu doch auch die expliziten, durchaus

Zum Begriff in Unterscheidung zur Dimension der He rrschaftsfunktion einer totalitären Ideologie vgl. M. jänicke, Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffes, Berlin 1971, S. 169-172. Vgl. t:. Spranger, Wesen und Wert politischer Ideologien, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2 (1954), S. 118-136. Er unterscheidet ,echte' von ,unechten' Ideologien. Erstere sind subjektiv ehrlich entstanden (womit natürlich kein Werturteil abgegeben ist) und werden von ihren Trägern in voller Überzeugung vertreten, letztere sollen andere, maggebende Interessen und Ziele verschleiern. "Die letzten Zwecke waren die raison d 'etre seines [Hitlers] Regimes, die allem anderen erst Sinn gab: der Mobilisierung von Konsens und der Organisation des Terrors". H.A. Wink/er, Revolution, Staat, Faschismus. Zur Revision des Historischen Materialismus, Göttingen 1978, S. 97 f. 10 H frank, Im Angesicht des Galgens, München 1953, S. 184. 11 Vgl. u .a. W. Schlangen, Die Totalitarismus-Theorie. Entwicklung und Probleme, Stuttgart 1976, S. 15 ff. 12 Von B . Schirach, Die Hitlerjugend, Berlin 1934, S. 17. 13 Gegenüber den Bekundungen nationalsozialistischer Funktionäre, niemals "Mein Kampf" gelesen zu haben, ist allerdings auch einige Skepsis angebracht.

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zentralen Anknüpfungen an das Buch Hitlers in parteioffiziellen ideologischen Verlautbarungen und Veröffentlichungen beachtet werden 14 Dieser Punkt ist aber ohnehin nicht entscheidend. Vielmehr muß die Frage nach der nationalsozialistischen Ideologie mit der Frage nach den Macht- und Führungsverhältnissen in der NSDAP und im Dritten Reich verknüpft werden."Wenn der katholische Christ" - so Hermann Göring "überzeugt ist, daß der Papst in allen religiösen und sittlichen Dingen unfehlbar sei, so erklären wir Nationalsozialisten mit der gleichen ionersten Überzeugung, daß auch für uns der Führer in allen politischen und sonstigen Dingen, die das nationale und soziale Interesse des Volkes angehen, glattweg unfehlbar ist" 15 . Reichsinnenminister Frick fand die vermutlich kürzeste Formel: "Der Name Hitler ist genug Programm" 16 . Derartige Äußerungen, die keinesfalls als bloße Lippenbekenntnisse oder Mythisierungen und Verschleierungen der realen politischen Verhältnisse im Dritten Reich abzutun sind, vielmehr die entscheidende Steilung Hitlers in der nationalsozialistischen Politik festhalten, führen an die Antwort auf die Frage nach der nationalsozialistischen Ideologie heran. "Aus dem Charakter der charismastischen Herrschaft folgt , daß authentische Zeugnisse über Ziel, Weltanschauung und Struktur des Nationalsozialismus letzten Endes immer wieder bei Hitler seihst zu suchen sind" 17 .

Vgl. aber K . Lange, Hitlers unbeachtete Maximen . "Mein Kampf" und die Öffentlichkeit, Stuttgart 1968, S. 30 f. 14 Vgl. etwa Rudolf Heß an Walter Hewel, München, 30.3.1927, in: Führer befiehl Selbstzeugnisse aus der Kampfzeit der NSDAP. Dokumentation und Analyse, hrsg. von A. Tyrell, Düsseldorf 1969, S. 168-173, bes. S. 172 f.; G . Feder, Die Juden (Nationalsozialistische Bibliothek, H. 45), München 1933 bes. S. 9-13. 15 H. Göring, Aufbau einer Nation, Berlin 1934, S. 51 f. 16 Frankfurter Zeitung, 21. 2.1933, zitiert nach S. Goshen, Eichmann und die Nisko-Aktion im Oktober 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 29 (1981), S. 74-96, S. 74. 17 M. Broszat, Betrachtungen zu "Hitlers Zweitem Buch", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 9 (1961), S. 417-429, hier S. 417. Hier kann unmöglich auf die heftige Diskussion um d ie Position Hitlers im nationalsozialistischen Herrschaftsgefüge, um die Qualität seiner ,Führerschaft' und seine Verantwortung für die determinierenden politischen Weichenstellungen seit 1933 eingegangen werden. Der Verfasser folgt den Auffassungen u.a. von K.D. Bracher, Probleme und Perspektiven der Hitler-lnterpretation, in: ders., Zeitgeschichtliche Kontroversen um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, München 1976, S. 79-100 und von K. Hildebrandt, Monokratie oder Polykratie 7 Hitlers Herrschaft und das Dritte Re ich , in: Der "Führerstaat": Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, hrsg. von G. Hirschfeld I L. Kettenacker, Stuttgart 1981, S. 73-96.

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I.

Sechs fundamentale, ,schein-theoretischeo~ 11 Voraussetzungen bestimmen Hitlers Weltanschauung 19 . 1. Alle Lebewesen, nicht anders der Mensch, werden in allen Lebensäußerungen vom Grundprinzip des Lebens: dem Selbsterhaltungstrieb, bestimmt. Er manifestiert sich zweifach: als Kampf um Ernährung und als Sicherung von Nachkommenschaft, denn jenseits der individuellen biologischen Lebensgrenze läßt sich das Prinzip der Seihsterhaltung nur durch Arterhaltung verwirklichen.

2. Der "Trieb der Arterhaltung ist die erste Ursache zur Bildung menschlicher Gemeinschaften". Sippe, Gemeinde, Stamm, Volk erscheinen in der Geschichte als jeweilige Träger des Kampfes um Selbsterhaltung, des Lebenskampfs. Dabei ist die Bereitschaft des Einzelnen zur "Hingabe des persönlichen Daseins notwendig, um die Erhaltung der Art zu sichern" 20 , was Hitler übrigens an anderer Stelle als Idealismus bezeichnet. Diese Gemeinschaften bestehen natürlicherweise aus Artgleichen, differenzieren sich innerlich jedoch nach den individuellen biologischen Anlagen und entwickelten Fähigkeiten, nach dem ,Persönlichkcitswert'. Diejenigen Gemeinschaften, welche die natürliche Unglei::hheit der Artgleichen in ihrer sozialen und politischen Verfassung zur Geltung bringen, haben im Lebenskampf die besseren Durchsetzungschancen. 3. Der Selbsterhaltungstrieb bewährt sich in einer Welt begrenzter Ressourcen und gegenüber jeweils artfremden Gemeinschaften, der Lebenskampf wird um ,Raum', letztlich immer als nahrungspendende Bodenfläche zu verstehen, geführt. Da der Selbsterhaltungstrieb nicht nur die Ernährung der Lebenden, sondern auch der zukünftigen Nachkommenschaft verlangt, da zugleich die Erfolgsaussichten im Lebenskampf vom Wachstum der eigenen Gemeinschaft abhängen, genügt der jeweils besessene Raum nur für eine bestimmte Zeit und muß dann erneut erweitert werden. Da alle Gemeinschaften denselben Trieben folgen und denselben Bedingungen un111 Vgl. zum folgenden bes. 1:'. Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, 2. Aull., Stuttgart 1981. Dazu u .a . R. Breitling, Die nationalsozialistische Rassenlehre. Entste hung, Ausbreitung, Nutzen und Schaden einer politischen Ideologie, Meisenheim a. GI. 1971 ; A . Hillgruher, Imperialismus und Rassendoktrin als Kernstück der NS-Ideologie, in : Strukturelemente des Nationalsozialismus (Geschichte in Köln, Sonderheft 1), Köln 1981, S. 11-36. Die wesentlichen Texte: A. Hit/er, Mein Kampf, 2 Bde., München 1925-1927 (siehe Anm. 3); Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928, eingeleitet und kommentiert von G.L., Weinberg, Stuttgart 1961. 19 Vgl. Tb . Geiger, Ideologie und Werturteil, in: Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, hrsg. von K. Lenk, :--leuwicd 1961 , S. 167-173 (Auszug, zue rst 1949), bes. S. 170. 20 Zitate : A . /litler, Mein Kampf, 1938, S. 165 f.

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terliegen, bedeutet Verzicht auf Zunahme der Nachkommenschaft und auf dementsprechende weitere räumliche Ausdehnung den Untergang, während umgekehrt der Wille zur Behauptung im Lebenskampf Krieg als Normalzustand, Frieden lediglich als Augenblick der Vorbereitung eines neuen Lebensraumkrieges erscheinen läßt. 4. Im beständigen Kampf um Lebensraum wird das Ziel der Natur, in engerer Hinsicht auf den Menschen: das Ziel der Geschichte, erreicht. Durch Sieg der überlegenen Art und durch existenzvernichtende Niederlage des Schwächeren entwickelt sich die Menschheit insgesamt zu immer kräftigeren und höheren Formen des Lebens und der Kultur. 5. Dieses natürlich-historische Ziel erfordert auch die Reinerhaltung der eigenen Art. Es sei ein "nahezu ehernes Grundgesetz all der unzähligen Ausdrucksformen des Lebenswillens der Natur ihre in sich begrenzte Form der Fortpflanzung und Vermehrung. Jedes Tier paart sich nur mit Genossen der gleichen Art". Jede Artenmischung führe schließlich zur Schwächung nicht nur des entstandenen ,Bastards', sondern seiner Artgemeinschaft, darüber gar zur Hemmung der menschheitlichen Entwicklung überhaupt. "Solche Paarung widerspricht. .. dem Willen der Natur zur Höherzüchtung des Lebens" 21 . 6. Alle menschlichen Gemeinschaften sind Erscheinungsformen der höchsten natürlichen, der Geschichte vorgegebenen Einheiten, der Rassen. Die Natur hat die Rassen mit unterschiedlichen und unveränderlichen Grundlagen ausgestattet, deren jeweilige Gesamtheit Hitler mit den Qualifikationen: Kulturschöpfer, Kulturträger, Kulturzerstörer erfassen will. Nur der Arier gilt ihm als Kulturbegründer. Die Rassen gliedern sich - sozusagen -in ,Unter-Rassen', nordischgermanisch-arische, romanisch-arische Rasse und dergleichen weiter. Letztere Rassengemeinschaften werden mit der im 19. Jahrhundert erreichten, im Weltkrieg offenkundig gewordenen neuen historischen Stufe des menschheitlichen Lebenskampfes im Weltmaßstab zu Trägern des historischen Prozesses. In ihm geht es tendentiell schon nicht mehr um bloße Raumgewinne, sondern um die Weltherrschaft einer einzigen, allen anderen überlegenen (Unter-) Rasse 22 . Diese Vision liegt wohl Hitlers Idee eines ,Frieden der Welt' zugrunde; mit der Weltherrschaft einer einzigen (Unter-) Rasse muß konsequen21

Ebd., S. 311, 312.

"Ein Weltfriede ist sicher ein erstrebenswertes Ideal; nach Hitlers Meinung wird er erst dann einmal zu verwirklichen sein, wenn eine Macht auf der Welt, und zwar die rassisch beste, die unbedingte und unbestrittene Vormacht errungen hat. Diese mag dann eine Art Weltpolizei stellen, gleichzeitig dafür Sorge tragen, daß der wertvollsten Rasse der notwendige Lebensraum garantiert wird. Und wenn nicht anders möglich, niederere Rassen sich entsprechend einschränken". Heß an Hewel, in: Führer befiehl, 1969, S. 172. Vgl. u.a. die Erinnerungen Wagners (siehe Anm. 3), S. 288-297. 22

Die Ideologie des Nationalsozialismus und ihre Vorläufer

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terweise der menschheitliche Kampf um Lebensraum enden, mit ihr schließt die bisherige Geschichte ab. Allerdings behalten die Nationen und Nationalstaaten, obwohl diese Basis in Zukunft im Lebenskampf um die Weltherrschaft überschritten werden muß, noch wesentliche Bedeutung. In ihnen muß das Bewußtsein des kommenden Kampfes durchgesetzt werden, und jene Nationen, die sich zuerst vorbereiten, werden die anderen, artgleichen Nationen führen. Welcher rassischen Gemeinschaft die Weltherrschaft zufallen wird, ob sie von einer kulturbegründenden, kulturtragenden oder kulturzerstörenden Rasse errungen wird, ist grundsätzlich offen. Fällt sie ,Kulturzerstörern' zu, so wäre dies das Ende der Menschheit. Auf diesen schein-theoretischen Grundlagen beruhte Hitlers politische Weltanschauung im engeren Sinne. "für was wir zu kämpfen haben, ist die Sicherung des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und unseres Volkes, die Ernährung seiner Kinder und Reinhaltung des Blutes, die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes, auf das unser Volk zur Erfüllung der auch ihm vom Schöpfer des Universums zugewiesenen Mission heranzureifen vermag. jeder Gedanke und jede Idee, jede Lehre und alles Wissen hahen diesem Zweck zu dienen"2·l .

Vor allem auch der Staat, der "keinen Zweck, sondern ein Mittel darstellt", welcher nur zur "Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen" und zur Gewährleistung der "höchsten Freiheit" 24 nach Aussen diene. Hitlers auffälliges Desinteresse an der "äußeren !institutionellen] Ausgestaltung dieses Staates" erklärt sich aus seinem rassistisch begründeten Staatsbegriff, in dem auch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft aufgehoben ist. Jene Ausgestaltung werde sich, so Hitler, anhand der Antworten auf "Fragen praktischer Zweckmäßigkeit" 25 von Fall zu Fall entwickeln. Lediglich die Durchsetzung des Führerprinzips im Staat (und in der verstaatlichten Gesellschaft) hat Hitler ausführlicher beschäftigt: Hier ging es um die Konkretisierung einer seine r schein-theoretischen Grundauffassungen, um die Durchsetzung der letztlich biologisch bestimmten Träger der höheren und höchsten ,Persönlichkeitswerte' als politisch-soziale Elite. Von den konkreten politischen Aufgaben des (zukünftigen) nationalsozialistischen Staates ist umso ausführlicher die Rede. "Politik ist die Kunst de r Durchführung des Lebenskampfes eines Volkes um sein irdisc hes Dasein. Außenpolitik ist die Kunst, einem Volk den jeweils not-

23

A. Hitler, Mein Kampf, S. 234.

24

Ehd., S. 431-434.

z:;

Ehd., S. 380. Bei den l)iskussionen um den ,Staat llitlers' sollte diese Gleich-

gültigkeit gegenüber der institutionelle n Gestaltung und die rassistische Zwecksetzung, welche auch ande re Vorste llungen von ,Effizienz' einschliegt, wohl stärker berücksichtigt werden.

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wendigen Lebensraum in Größe und Güte zu sichern. Innenpolitik ist die Kunst, einem Volke den dafür notwendigen Machteinsatz in Form seines Rassenwertes und seiner Zahl zu erhalten" 26

Nationalsozialistische Innenpolitik hatte sich demnach auf drei Bereiche zu konzentrieren: - Eugenik (Sicherung erbgesunden Nachwuchses), Euthanasie (wovon in "Mein Kampf", auch im "Zweiten Buch" schon offen gesprochen wurde), sozialpolitische Eingriffe zugunsten (rassenbiologisch gesunder) Ehe und Familie, Verhinderung weiterer ,Verbastardisierung' des Volks durch ein rassistisches Staatsbürgergesetz in einer ersten Phase, dazu schließlich auch Maßnahmen zur Erhaltung und Stärkung des gesunden Bauernstandes zum "Schutz gegen soziale Erkrankungen" 27 ; Selektion einer rassischen Elite, welche in sämtliche Führerpositionen einrücken soll; - Erziehung des Volkes und besonders der Heranwachsenden zu rassebewufStem Verhalten und zu der Überzeugung, anderen Völkern "unbedingt überlegen zu sein" 28; ,Ausrottung' aller Ideen, welche das Lebensprinzip der Selbsterhaltung in Frage stellen: Humanismus, Internationalismus, Pazifismus, Demokratismus, Marxismus-Bolschewismus, Liberalismus und so fort. Hitler behauptete, daß demgegenüber wirtschaftliche oder konkrete rüstungspolitische Vorbereitungen des Kampfs um Lebensraum nur zweitrangig seien. Entscheidend sei der ,Wille' zur Selbsterhaltung und zum Lebenskampf. Die Verwirklichung dieser rassistisch begründeten Innenpolitik würde als Ergebnis die ,Volksgemeinschaft' und den ,deutschen Sozialismus' bringen: Eröffnung von Karrierechancen für die Elite des Bluts, ungeachtet der jeweiligen sozialen Herkunft ihrer Angehörigen; die Einheit des artgleichen Volks gegenüber allen Artfremden inner- und außerhalb des eigenen Lebensraums. Die ideologisch verschränkten Begriffe ,Volksgemeinschaft' und ,deutscher Sozialismus' verweisen mithin auf die spezifisch rassistische Dimension des nationalsozialistischen Totalitarismus, der alle Deutschen der Utopie eines ,neuen Menschen': das "freie, herrliche Raubtier" 29 , unterwerfen, zugleich artgleiche Minderwertige und Fremdrassische aus der Volksgemeinschaft ausmerzen würde. "Es gibt keine Freiheit, auf Kosten der

26

Hitlcrs Zweites Buch, S. 62.

27

A. Hit/er, Mein Kampf, 1938, S. 151.

ZH

Ebd., S. 456.

29

H. Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich 1940, S. 237. Vgl. A. Hit/er, Mein

Kampf, S. 449, 451 ff.; Hitlers Politisches Testament. Die Bormann Diktate vom Februar und April 1945, Harnburg 1981 , S. 110 f.

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Nachwelt und damit der Rasse zu sündigen" 30 . Zwar hat dieser ,Sozialismus' die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse nicht unmittelbar bedroht. Sie waren jedoch grundsätzlich, wie sich ja auch Hitlers Anmerkungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft im ersten Band von "Mein Kampf" deutlich genug ergibt, dem Zugriff des projektierten rassistisch-totalitären Staats ebenso vollkommen unterworfen wie alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse 31 Hitlers unübersehbare antibürgerliche Ressentiments wurzelten weltanschaulich in der Auffassung, das Bürgertum versage feige sowohl gegenüber dem Rassen- und Lebensraumproblem wie gegenüber dem Marxismus32 Auf einen bloß (noch) antijüdischen Revolutionarismus allein läßt sich der (rassistisch-) so zialistische Anspruch von Hitle rs Nationalsozialismus eben nicht reduzieren33 . Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in Hitlers Weltanschauung steht am Ende dieses Abschnitts, um ganz deutlich werden zu lassen, daß dieser als Bestandteil einer universalen Rassendoktrin aufzufassen ist. Eine chronologische Darstellung von Hitlers Denken hätte den Antisemitismus freilich an den Anfang stellen müssen. Und diese Bedeutung als Ausgangspunkt in der Entwicklung des universalen Rassismus bleibt auch in der durchgebildeten Weltanschauung erhalten, denn dem Antise·10 A. Hit/er, Mein Kampf, S. 278. "Über den deutschen Menschen im Jenseits mögen die Kirchen verfügen, über den deutsche n Menschen im Diesseits verfügt die de utsche Nation durch ihre Führer". Hitlers Geheimrede vo m 23. November 1937 :Juf der Orde nsburg Sonthofen im Allgäu, in: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, zusammengestellt von H. Picker, 3. Autl., Stuttgart 1977 (Neuausgabe der Autl . 1976), S. 481-490. Vgl. auch Hitlers Äußerungen wr ,Volksgemeinschaft' gegenüber Wagner, llitler aus nächster Nähe, 5. 350 f. ·' 1 Die rassistische Cmprägung des Begriffs ,Sozialismus', welche bereits in "Mein Kampf" abgeschlossen war, wird e twa vo n M . Brosz at, De r Na tio nalso zialismus. Weltansc hauung und Wirklichkeit (Niede rsächsische Landesze ntrale für Politische Bildung, H. 8- Zeitgeschichte), Hannover 1960, S. 35 ff. kaum, vo n D . Schoenbaum, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritte n Reichs, München 1980 (zuerst 1968), S. 76 ff. gar nicht thematisiert. 32 Vgl. u.a. A. Hit/er, Mein Kampf, S. 24-35, 363-378; W . .fochmann, Im Kampf um die Macht: Hitlers Rede vor dem Hamburger Nationalklub von 1919 (am 28.2.1926), Frankfurt a.M. 1960, S. 106-118. 3·' In diesem Sinne u.a . auch G.L. Masse, Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkische n Crsprünge des Nationalsozialismus, Kö nigstein/Ts. 1979, S. 309 ff. "Blut und Rasse , Persönlichke it und Persönlichke itswe rt, de r Kampf als ewig-auslesende Erscheinung, die Erde und de r Le be nsraum als bestimmende zwingende und treibende Kraft sind in ihrer fundamentalen Bedeutung durch diese Bewegung [Nationalsozialismus) nicht nur erkannt, sondern auch wohl zum ersten Male bewuf~t gewürdigt worden. Die Gröge dieser Lebensgesetze einerseits und Lehensaufgaben ande rerseits gegenübe r sinken die Vo rstellungen, Begriffe und auch Einrichtungen unse rer bürgerlich-libe ral-marxistischen Welt zur vollstä ndigen Bedeutungslosigkeit zusammen". Vorwo rt Hitlers zur "Dienstvorschrift fü r die PO. der NSDAP" vom 15. Juli 1932, zitiert nach: Führer befiehl, S. 303.

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m1t1smus kommt darin schlechthin entscheidende Bedeutung zu. Hitler habe den Juden "zu dem Herrn seiner Gegenwelt emporgesteigert" 34 , erinnerte sich Rauschning. Wirklich belegen nahezu alle Kapitel in "Mein Kampf", im "Zweiten Buch" und hier vor allem der alles zusammenfassende Schlußabsatz, der überwiegende Teil seiner Reden im Kreis von Parteigenossen und ein guter Teil seiner öffentlichen Deklamationen, so manches ,Tischgespräch' im Kriege, schließlich noch das ,Politische Testament' im Führerbunker diesen Satz35 . "Wo immer ich ging, sah ich nun Juden" 36 , schrieb Hitler über seine Wiener Zeit. Und dies ist auch im übertragenen Sinn zu verstehen: Hinter jedem ihn oder die Bewegung oder Deutschland betreffenden Fehlschlag, hinter jeder gegnerischen und ablehnenden Haltung, hinter jedem politischen oder sozialen Konflikt sah Hitler das Wirken des ,Weltjudentums'. Für ihn sind die Juden ein Volk, ja, sogar ein Staat, freilich ein Staat ohne territoriale Begrenzung, denn ihnen fehlt die zur staatlichen Organisation eines eigenen Lebensraums nötige rassisch-seelische Grundlage und insbesondere der ,Idealismus', verstanden als Bereitschaft, sich für die Art aufzuopfern. "Damit entfällt jedoch die Grundlage, auf der eine Kultur allein entstehen kann" . Allerdings nehmen die Juden natürlicherweise am menschheitlichen Lebenskampf teil, aber immer "nur als Parasiten im Körper anderer Völker", wobei sie sich als bloß religiöse Gemeinschaft zu tarnen wissen. Ihr Lebensraum ist - sozusagen -die Herrschaft über das jeweilige ,Gastvolk'. Dazu müssen sie dessen Selbsterhaltungstrieb -

biologisch, durch Rassenvermischung; geistig und politisch, durch vom Lebenskampf ablenkende Ideen und Bewegungen (Humanismus, Pazifismus, Liberalismus, alle Erscheinungen politisch-sozialen Egalitarismus, in der Gegenwart nun besonders Bolschewismus und plutokratisch-internationaler Kapitalismus),

schwächen und endlich zerstören. Wie alle anderen Völker und Rassen kämpfen auch die Juden um das in der Gegenwart aufscheinende höchste Ziel, um die Weltbeherrschung. Da aber nur kulturzerstörende und parasitäre Anlagen vorhanden sind, würde ihr Sieg das Ende der Menschheit selbst bedeuten, nachdem mit der vorherigen Niederlage der arischen Völker die Vorstellung einer "idealisierten Zukunft unseres Menschentums für immer verloren" sei. Das Grundgesetz der Schöpfung, die Höherentwicklung der Menschheit durch offenen Le-

34

H. Rauschning, Gespräche mit Hitler, S. 221.

Vgl. A . Hit/er, Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, hrsg. von W. jochmann, München 1982, S. 279 f. (17.2.1942); Hitlers Tischgespräche, S. 400 (1. 7.1942); Hitlers Politisches Testament, S. 64-70 (3.2.1945). 36 A. Hit/er, Mein Kampf, S. 60. 35

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benskampf der Arten, wird von den Juden verletzt; in Hitlers Sicht sind sie gleichsam die Negation des Schöpfungsplans. "So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn" 37 • Es geht nicht nur um die Rettung der Deutschen, die allerdings durch die Niederlage im Weltkrieg und die bolschewistischen Revolutionäre am stärksten bedroht seien38 , sondern um die Rettung aller kulturschöpferischen Völker und damit um die ,idealisierte Zukunft' der Menschheit überhaupt. Daraus ergeben sich radikalste Vorstellungen über Verlauf und Ausgang des Kampfes schon in "Mein Kampf". ,.Kein Volk entfernt diese Faust anders von seiner Gurgel als durch das Schwert. Nur die gesammelte, konzentrierte Stärke einer kraftvoll sich aufbäumenden nationalen Leidenschaft vermag der internationalen Völkcrversklavung zu trotzen. Ein solcher Vorgang ist und bleibt aber ein blutiger"39 Es sollte kein Zweifel bestehen, daß hier die Idee physischer Vernichtung fixiert ist, daß es sich keineswegs um eine ,Metapher' handelt. Dies nicht nur, weil immer wieder "Zerstörung", "Vernichtung", .,Ausrottung" angedroht, die Juden andererseits mit Begriffen aus der Parasitologie entmenschlicht werden; nicht nur, weil Hitler im Rückblick auf den letzten Weltkrieg konkret von - damals versäumten - Vernichtungsmaßnahmen spricht, sondern vor allem, weil in H1tlers Geschichtsbild minderwertige Rassen jedenfalls ,verschwinden' müssen und weil in diesem statisch-rassistischen Denken im übrigen die sogenannte .Judenfrage' mit der Vertreibung aus einem Lebensraum gar nicht gelöst sein kann. ,.Wir schliegen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft"40 Hitler wurde nicht müde zu betonen, daß damit der Außenpolitik eines nationalsozialistischen Deutschland eine radikal neue Perspektive gewiesen war - freilich nur insofern, als das deutsche Volk seit dem Ende des staufischen Kaisertums die Befolgung der natürlichen Gesetze aufgegeben

37 Zitate: ebd., S. 331, 334, 421, 70. "Ein Friede kann nur kommen über eine natürliche Ordnung. Die Ordnung setzt voraus, daß die Nationen sich so ineinander fügen, dag die Befähigten führen . Durch das Judentum wird diese Ordnung zerstört. Der Bestie, der Niedertracht, der Dummheit verhilft es zum Sieg. Ein Volk, das keine Juden hat, ist der natürlichen Ordnung zurückgegeben". A . Hit/er, Monologe, S. 279 f.

(17.2.1942). 38

205.

Vgl. u.a. Hitler an Artur Dimer, Berlin, 25.7.1928, in: Führer befiehl, S. 203-

39 A. Hit/er, Mein Kampf, S. 738. Deshalb auch Hitlers Wertschätzung von Streichers Hetzblatt ,.Stürmer": "Wenn man den Nationalsozialismus will, muß man Streicher gutheißen. Der Jude ist viel gemeiner, viel blutgieriger, satanischer, als Streicher ihn dargestellt hat". Ders., Monologe, S. 158 (28./29.12.1941 7). Vgl. /1. Rauscbning, Gespräche mit Hitler, S. 223. 40 A. Hit/er, Mein Kampf, S. 742.

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und im Zweiten Reich, unter den Nachfolgern Bismarcks, trotz wiedergewonnener Kraft, eine Wiederanknüpfung versäumt hatte. Die Ablehnung moderner Alternativen zum Kampf um Siedlungsland ist - hinter der Fassade eines bemüht rationalen Kalküls - entscheidend durch die scheintheoretische Prämisse des ewigen Lebenskampfes um Raum bestimmt, wird durch den historischen Hinweis verstärkt und durch die Einbeziehung jener antimodernistischen Sozialutopie einer ,gesunden' bäuerlichen Gesellschaft, wiedergeboren auf neuem Siedlungsland, abgesichert. Das festgelegte Expansionsziel: Rußland im Osten, ist im Denken Hitlers- anders als etwa bei Himmler - den Deutschen jedoch durchaus nicht vorgegeben. Weder die mittelalterliche Italienpolitik41 noch die Möglichkeit einer überseeischen Kolonisation werden grundsätzlich abgelehnt. Ausschlaggebend waren zunächst bündnispolitische Überlegungen in Bezug auf Italien und England gewesen42 , aber schließlich erschienen auch sie rassistisch bestimmt. Denn nach Hitler hängt eine sinnvolle Bündnispolitik und, umgekehrt, eine sinnvolle Definition von Expansionszielen ab von der Möglichkeiten, die ,Lebensräume' der potentiellen Bündnispartner, die jeweils schon besessenen und die zu erobernden Räume, präzise zu scheiden; -

von der Durchsetzung der Lebensraumpolitik als Grundprinzip der Außenpolitik bei den in Betracht kommenden Mächten;

-

und damit vom Einfluß jüdischer internationalistischer, humanistischer, pazifistischer Kräfte auf die jeweilige Außenpolitik.

Soll die katastrophale Bündniskonstellation des Weltkriegs vermieden werden, so müssen Italien und England zumindest für eine Duldung des deutschen Wiederaufstiegs gewonnen werden, und dies erfordert deutscherseits den Verzicht auf alle Aspirationen jenseits der Alpen und in Übersee. Darüber kann der ,Erbfeind' Frankreich isoliert werden, und dann bleibt nur eine lohnende Richtung eines zukünftigen Kampfes um neuen deutschen Lebensraum: nach Osten, in die fruchtbaren, von rassisch minderwertigen Slawen bewohnten Weiten Rußlands. Zwei engstens miteinander verbundene Motive erzwingen und erleichtern diese Blickwendung. Die russische Revolution von 1917 begreift Hitler als Machtergreifung des Weltjudentums . Die ,Bolschewisierung' Rußlands sei zugleich ein .,Glücksfall" 43 41 Vgl. A. Hit/er, Monologe, S. 263-265 (4.2.1942), S. 305 (27.2.1942); ders. , Mein Kampf, S. 742 f. 12 Vgl. A. Kuhn, Hitlers außenpolitisches Programm. Entstehung und Entwicklung 1919-1939, Stuttgart 1970. 43 Hitlers Zweites Buch, S. 158 f. Vgl. bes. A. Hillgruber, Die .,Endlösung" und das Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus, in : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 20 0972), S. 135-153; K. Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1933-1945. Kalkül oder Dogma?, 4. Auf!. , Stuttgart 1980, s. 19 ff.

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und eine allerschwerste Gefahr- ein ,Glücksfall' deshalb, weil das Judentum in Hitlers Denken ja noch weniger als das Slawenturn zur Staatsbildung und Staatserhaltung fähig ist, und Rußland deshalb also leicht zu erobern, zu zerlegen und zu kolonisieren sein wird; die schwerste Bedrohung deshalb, weil das kommunistische Rußland die Basis des Weltjudentums im kommenden Kampf um die Weltherrschaft werden solle und als nächstes Etappenziel Deutschland ausersehen sei. Die damit erkennbar werdende Höhe des Einsatzes weist schon über die Basis des deutschen Nationalstaates hinaus, sie erfordert die Einigung der nordisch-germanisch-arischen Rasse. Nicht allein die innenpolitischen rassistischen Gestaltungsvorstellungen sind gemeint, wenn Hitler vom "germanischen Staat deutscher Nation" 44 spricht. II.

Wie verhält sich Hitlers Nationalsozialismus zum Nationalsozialismus anderer führender Parteigenossen? Es gab - zum Teil deutliche - Differenzen, selbst wenn von den Konfrontationen der Münchener Parteileitung mit der sogenannten ,Linken' um die Strasser-Brüder abgesehen wird45• HirnmIcrs und der SS Germanenkult gingen weit über das hinaus, was Hitler an diesem Thema überhaupt interessiert hat46 In "Mein Kampf" hatte er sich schon weidlich über germanisch-heidnische Spielereien lustig gemacht. Darres und Rosenbergs - jeweils wieder unterschiedliche - Haltungen zum Christentum und zu den christlichen Kirchen entfernten sich deutlich von den manchmal eher gleichgültig scheinenden, jedenfalls pragmatischen Positionen des Führers, wie er sie schon in der Auseinandersetzung mit Artur Dinter geltend gemacht hatte 47 Bauerntümelei und Agrarromantik be14 A . Hit/er, Mein Kampf, S. 362. Vgl. u.a. Hitlers Geheimrede vom 23. November 1937 auf der Ordensburg Sonthofen, S. 485 f.: "Germanisches Reich Deutscher Nation". 45 ·Zur Partei-Linken vgl. R. Kühn/, Die nationalsozialistische Linke, Meisenheim a. GI. 1966; lJ. Kissenkoetter, Gregor Straßerund die NSDAP, Stuttgart 1978.

46 Aufschlüsse zum Denken Himmlers bieten vor allem: H. Himmler, Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, hrsg. von B.F. Smith I A.F. Peterson, Frankfurt a.M. usw. 1974; Reichsführer! Briefe an und von Himmler, hrsg. von H. Heiber, Stuttgart 1968. Vgl. außerdem]. Ackermann,Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970. Zur ,Mentalität' der SS: H. Buchheim, Befehl und Gehorsam, in: Anatomie des SS-Staates, 2 Bde., 4. Auf!., München 1984, S. 215 ff. Zu Hitlers eigenen Auffassungen vgl. Monologe, S. 263-265, S. 305 (4.2.1942, 27.2.1942); außerdem G.L. Masse, Die Nationalisierung der Massen. Von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1976, S. 213 ff. (,Hitlers Geschmack').

47 Vgl. Hitler an Artur Dinter, Berlin, 25.7 .1928, in : Führer befiehl, S. 203-205; Rede Hitlers von der Generalmitgliederversammlung d er NSDAP im September 1928: ebd .., S. 209. Hitlers ablehnende und, späterhin, belustigte Haltung zu A . Rosenherg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts.

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gegnen wohl auch bei ihm, aber dem steht eine Hitler von manchem Parteiideologen unterscheidende Technikbegeisterung gegenüber. Seine Vorstellung von der rassisch-moralischen Versumpfung der modernen Großstädte entwickelt sich auch keineswegs zur Idee einer rückschreitenden Verbauerung des deutschen Volks, sondern wirkt sich vielmehr in den Gestaltungsvisionen des zu erobernden ,Ostraums' aus. Sehr oft wird auf das Parteiprogramm der NSDAP vom Februar 1920 und seine in parteiinternen Streitigkeiten während der 1920er Jahre offenbare divergierende Interpretierbarkeit hingewiesen, um die ,Heterogenität der nationalsozialistischen Weltanschauung' aufzuweisen. Das Sammelsurium der einzelnen Programmpunkte und deren konkrete Bedeutung für die politische Praxis der NSDAP ist hier aber viel weniger interessant als die dem Programm zugrunde liegende Ideologie des Rassismus-Antisemitismus, der Volksgemeinschaft, des Lebensraums4B Schon die zeitgenössischen Beobachter erlagen oft dem Irrtum, Hitlers manchmal stillschweigendes, manchmal öffentliches Abweichen von den konkreten Programmpunkten für Opportunismus zu halten, daraus eine programmatisch-ideologische Beliebigkeil zu folgern, deshalb die zweckorientierte Entschlossenheit des Führers und seiner Partei zu verkennen. Die allgemeinen ideologischen Grundlagen des Programms, wie primitiv und schmal auch anmutend, waren von Hitler jedoch nicht aufgegeben, sondern entwickelt und in ein einigermaßen kohärentes System umgesetzt worden. Seine Interpretation deckte sich freilich nicht mit den Deutungen aller anderen Parteiideologen. Aber die Differenzen betrafen, abgesehen wiederum von den Strasser-Brüdern, einzelne Ausformulierungen, Akzentuierungen, Fragen prinzipieller Radikalität und taktisch-politischen Kalküls im Einzelfall, nicht jedoch die rassistisch-sozialdarwinistischen und aggressiv-imperialistischen weltanschaulichen Fundamente sowie, was in der Literatur meist stärker betont wird, die daraus begründeten Anti-Haltungen. Ohne diese grundsätzliche Übereinstimmung hätte Hitler seinen absoluten Führungsanspruch in der nationalsozialistischen Bewegung gar nicht durchsetzen können, auch wenn eine verbreitete Gleichgültigkeit

Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930 u.ö., ist bekannt und muß hier nicht weiter belegt werden. Darres rascher Aufstieg in NSDAP und SS verdankte sich Hitlers Interesse an seinen Ideen zur rassischen Aufzucht im allgemeinen, wohl weniger den Mythen vom germanischen Bauerntum: Vgl. R. W. Darre, Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse, München 1929; ders, Neuadel aus Blut und Boden, München 1930. Er fiel 1941 in Ungnade, weil er öffentlich die Weltherrschaft als Ziel Deutschlands benannt, damit aber in die eigenste Domäne des Führers eingegriffen hatte. 4H Programm der NSDAP u.a., in: De r Nationalsozialismus. Dokumente 19331945, hrsg. von W. Hofer, Frankfun a.M. 1982 (zuerst 1957), S. 28-31. Vgl. bes. die Punkte 3, 4.

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gegenüber ideologischen Ausformulierungen für die Masse der Parteimitglieder anzunehmen ist49 . Solche Einhelligkeit war zum wenigsten das Ergebnis ideologischer Diskussionen, sondern einerseits das Mitprodukt jenes Prozesses, in dem Hitler zum unumschränkten Führer erst der NSDAP, sodann des Dritten Reichs aufgestiegen ist und in dem mit jenen Gruppen und Persönlichkeiten, die diesem Aufstieg im Wege standen oder ihn nicht akzeptierten, auch die abweichenden Interpretationen der ideologischen Ausgangspunkte abgedrängt oder liquidiert wurden. Sie war andererseits der nationalsozialistischen Bewegung gleichsam vorgegeben. Mit Recht ist immer wieder darauf hingewiesen worden, daß wohl Hitlers programmatische Ableitungen, nicht aber die Bestandteile der von ihm in "Mein Kampf" vorgetragenen Weltanschauung originell gewesen sind. Die Ideen und Begriffe: ,Idealismus', ,Volksgemeinschaft', ,Blut und Boden', ,deutsche Freiheit', ein kommender ,Führer', 19 Zum ideologischen Gleichschritt vgl. u.a. H. Auerbach, Führungspersonen und Weltanschauungen des Nationalsozialismus, in: Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, hrsg. von M. Broszat I H. Möller, München 1983, S. 127-151; G. Kotowski, Rasse statt Nation. Die Ideologie des Nationalsozialismus, in: Warum gerade die Nationalsozialisten? hrsg. von K. Megerle, Berlin 1983, S. 68-113; E. Goldhagen, Weltanschauung und Endlösung. Zum Antisemitismus der nationalsozialistischen Führungsschicht, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 24 (1976), S. 379-405. Dazu auch: j.C. Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, 7. Auf!., München 1980, mit Einzelstudien zu den führenden Nationalsozialisten. - Einige Belege aus Reden und Schriften: ,Judentum und Bolschewismus müssen Feind sein denen, die ihre Rasse und Eigenart bewahrt haben" R. Heß, An den deutschen Bauern. Abschlußrede auf dem dritten Reichsbauerntag in Goslar, 17.11.1935, zitiert nach: ders., Reden, München 1938, S. 134-138, S. 134 (in derselben Rede wird von der "zu engen Lebensgrundlage" des deutschen Volks gesprochen: S. 137). "Bolschewismus ist die Lehre jüdischer Satanei, Nationalsozialismus ist die Lehre nordischer Einsicht und Vernunft" . R. Ley, Wir alle helfen dem Führer. Deutschland braucht jeden Deutschen, München 1937, S. 42 .•Die Naturgesetze, die sich im Pflanzen- und Tierleben äußern, sie zeigen sich auch im Menschen; und eine derartige Rassenmischung zeugt nicht eine Nation, sondern nur ein Völkerchaos". A . Rosenberg, Die rassische Bedingtheit der Außenpolitik, in: ders. , Blut und Ehre. Ein Kampf für deutsche Wiedergeburt. Reden und Aufsätze von 1919-1933, hrsg. von von T. Throtha, 6. Auf!., München 1935, S. 347. In dieser zum Parteitag ,des Sieges' 1933 gehaltenen Rede heißt es weiter: "Nun ergibt sich auch für alle anderen Nationen die ernste Frage, ob tatsächlich ein wichtiges Lebensinteresse bei ihnen vorliegt, mit dem neuen Deutschland in schwere Konflikte zu geraten, bloß, weil eine jüdische Minderheit es so wünscht" (ebd., S. 344). "Ich habe den Glauben, wenn wir in dieser Schutzstaffel [SS] unsere Pflicht tun, daß dann der Führer dieses großgermanische Imperium, das großgermanische Reich schaffen wird, das größte Reich, das von dieser Menschheit errichtet wurde und das die Erde je gesehen hat". H. Himmler, Rede vor den SS-Gruppenführern am 8.11 .1938, zitiert nach: ders., Geheimreden, S. 25-49, S. 49. Vgl. außerdem: Göring: Reden und Aufsätze, hrsg. von E. Gritzbach, 2. Auf!., München 1938 (bes. zum deutschen Sozialismus, Volksgemeinschaft); ]. Streicher, Kampf dem Weltfeind. Reden aus der Kampfzeit, hrsg. von H. Preiß, Nürnberg 1938 (bes. über Judentum, Bolschewismus, jüdisch-bolschewistische Weltherrschaft, Rassenkampf statt Klassenkampf etc.).

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,raffendes und schaffendes Kapital', ,Lebensraum' und ,Lebenskampf', die Verbindung des Juden' mit allen abgelehnten politischen, sozialen und ökonomischen Phänomenen, waren längst vorgeprägt und hatten Eingang in breitere Kreise der deutschen Gesellschaft schon gefunden. Die Ideologie des Nationalsozialismus, das im Parteiprogramm von 1920, das bei Hitler und anderen Ideologen begegnende weltanschauliche Fundament, erweist sich als Sproß einer älteren ideologischen Strömung, die um 1900 zuerst als ,völkische Weltanschauung' bezeichnet worden ist. Die ,völkische Weltanschauung' 50 hatte sich als radikalste Variante deutschen ,Sonderbewußtseins' entwickelt, dessen Ursprünge sozialgeschichtlich in der vergleichweisen Schwäche der bürgerlichen Schicht im Modernisierungsprozeß seit der Aufklärung - eine Konsequenz der im Vergleich zu Westeuropa deutlichen ökonomischen Rückständigkeit - sowie in der zunächst überragenden Bedeutung des bildungsbürgerlichen Elements im Bürgertum, -

in der politischen Zersplitterung und religiösen Teilung Deutschlands,

- in der besonderen intellektuellen Position zum Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Individuum -oder auch: zum Verhältnis von Autorität und Freiheit -, die als Resultat d~r bewußten Angewiesenheit auf die aufgeklärt-modernisierende Staatsmacht verstanden werden kann 51 , und in der Ausprägung des Begriffs der ,Kulturnation' angesichts politischer Zersplitterung und religiöser Gegensätze52 , - schließlich in der Mobilisierung dieser geistig-politischen Grundpositionen in der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution, dann vor allem im Kampf gegen die französische Hegemonie und Fremdherrschaft in der Zeit Napoleons zu suchen sind. Im Augenblick von Deutschlands ,tiefster Erniedrigung' wurde der Anspruch auf deutsche kulturelle Führungsstellung im Kreis der zivilisierten Nationen angemeldet, zugleich jedoch die Abgrenzung vom westeuropäisch-französischen , sowohl als Ideologie der Fremdherrschaft wie 50 Vgl. zum Folgenden: K. Lenk, Volk und Staat, S. 74 ff.; K.D. Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, 6. Auf!., Frankfurt a.M. usw. 1979, S. 1 ff.: G.L. Masse, Ein Volk, ein Reich, ein Führer, S. 21 ff.; W. Altgeld, Volk, Rasse, Raum. Völkisches Denken und radikaler Nationalismus im Vorfeld des Nationalsozialismus, in: Machtverfall und Machtergreifung, S. 95-119; K. Vondung, Der literarische Nationalsozialismus. Ideologische, politische und sozialhistorische Wirkungszusammenhänge, in: Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945. Eine Bilanz, hrsg. von K.D. Bracher, u.a. (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 192), Bonn 1983, S. 245-269, bes. S. 255 ff. 51 Vgl. dazu zuletzt H .C. Finsen, Das Werden des deutschen Staatsbürgers. Studien zur bürgerlichen Ideologie unter dem Absolutismus in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Kopenhagen I München 1983. 52 Vgl. neuerdings P. Alter, Nationalismus, Frankfurt a.M. 1985, bes. S. 19 ff.

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als ahistorischer, gleichmacheredscher Rationalismus diffamierten politischen Denken gefordert. Beides wirkte sich in einer Suche nach dem besonderen Deutschen, nach dem ,Deutschtümlichen', in immer tieferen Schichten der deutsch-germanischen Geschichte aus. Und noch im Vormärz verband sich die Idee einer deutschen kulturellen Vorrangstellung mit machtpolitischen Motiven, indem der Raum des mittelalterlichen Reiches, in dieser Perspektive ganz von deutscher Kultur und Politik geprägt, oder, noch extremer, Mittel-, Ost- und Südosteuropa wegen der vermeintlichen Geschichts- und Kulturlosigkeit der meisten slawischen Völker53 für den kommenden deutschen Nationalstaat reklamiert wurden. Die Revolution von 1848 ist nicht zuletzt auch wegen des Versuchs, solche überspannten Ideen zu realisieren, gescheitert. Bismarcks Reichsgründung ,von oben' hat jene Aspirationen nicht einzulösen versucht. Sie genügte weder dem kulturell-sprachlichen Nationalbegriff, auch nicht den darin begründeten politischen Ansprüchen, noch den Hoffnungen auf eine neue Blütezeit nationaler Kultur. Um die Kultur schien sich das neue Reich gerade am allerwenigsten zu bemühen. Die neue Zeit brachte stattdessen rasante Industrialisierung und soziale Mobilisierung unerhörten Ausmaßes, brachte Verstädterung, Landflucht, den Aufstieg neuer bürgerlicher Schichten in Industrie und Verwaltung, den korrespondierenden Bedeutungsverlust traditionellen Bildungsverständnisses, den Abstieg des handwerklichen Mittelstandes, dazu Massenparteien, Sozialdemokratie und Zentrum, welche in den Augen mancher sogar noch das Minimum an verwirklichter nationaler Einheit von Innen her in Frage zu stellen schienen. Die gegenüber Modernisierung, ,Materialismus' und Massengesellschaft nun einsetzende Kritik konnte sich in eine allgemein-europäische zivilisationskritische Strömung einordnen, so jene Burckhardts und Nietzsches. Sie konnte sich zu einem spezifisch deutsch-nationalem ,Kulturpessimismus' entwickeln, ein Weg, den Wagner inmitten seiner Schar "deutscher Jünglinge" (Nietzsche) zumindest nach deren Interpretation - gegangen ist54 . Letztere Entwicklung ließ sich aus dem Anspruch auf deutsche kulturelle Vorrangstellung begründen: Wie sollte "am deutschen Wesen die Welt genesen" (Geibel), wenn deutsches Wesen und deutsche Kultur verloren gingen? Von hieraus war es nur ein kleiner Schritt hin zu der Idee, daß der eingetretene oder drohende Verlust auf ,fremde' Einflüsse zurückzuführen war, daß, umgekehrt, die deutsche Erneuerung wesentlich die Ausscheidung alles Fremden erforderte. Die Vertreter solchen radikalisierten Sonderbewußtseins sind überwiegend aus dem protestantischen Bildungsbürgertum 53 Vgl. W. Wippermann, Der "deutsche Drang nach Osten". Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981. 54 Vgl. W. Altgeld, Wagner, der Bayreuther Kreis und die Entwicklung des völkischen Dcnkcns, in: Richard Wagner 1883-1983. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert. Gesammelte Beiträge des Salzburger Symposions, red. von U . Müller, Stuttgart 1984, S. 35-64.

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gekommen. Es war gewohnt, sich und seine Ideen als Zentrum und Kern des deutschen Nationalgedankens zu sehen. Es fühlte seine Position innerhalb der bürgerlichen Mittelschicht gefährdet, es versuchte deshalb umso heftiger, die Ablehnung aller Modernismen als Bewahrung deutscher Kultur und deutschen Wesens, des deutschen ,Idealismus''' auszugeben. Paul de Lagarde hat 1884 die beiden Themen knapp zusammengefaßt, deren ,Erarbeitung' den Übergang von pessimistischer Kritik zum Entwurf einer Gegenwelt in der ,völkischen Weltanschauung' gebracht hat. "Mit der Humanität müssen wir brechen, denn nicht das allen Menschen gemeinsame ist unsere eigenste Pflicht, sondern das nur uns Eignende ist es. Die Humanität ist unsere Schuld, die Individualität unsre Aufgabe. Lediglich durch Individualität werden wir uns auch der Juden erwehren" 56 .

Die Krisenerscheinungen der Zeit, vor allem jedoch die eigene bildungsbürgerliche Identitätskrise, wurden als nationale Identitätskrise aufgefaßt, den abgelehnten undeutschen Ideen, Entwicklungen und Kräften spezifisch ,deutsche' Werte und Ziele entgegengesetzt: Treue, Pietät, Idealismus vor allem im Sinne von Opferbereitschaft, Freiheitsbewugtsein im Sinne von freiwilliger Einbindung und Unterordnung, ein besonderes deutsches Politikverständnis (elitäres, ,aristokratisches' Bewußtsein, Gefolgschaftstreue, ständische Gesinm;ng), die Vorstellung einer ,deutschtümlichen' Sozialordnung. "Wir würden von unendlich vielen Torheiten verschont bleiben, wenn Ackerbau, Viehzucht und wirklicher Handel die hauptsächlichsten Beschäftigungen unserer Nation würden" 57 Das zweite Thema entwickelte sich in immer schärferer Entgegensetzung von deutschem und ,jüdischem' Wesen. Dabei wandelte sich das Motiv des traditionellen ökonomischen Antijudaismus zur Anklage eines bloß jüdischen egoistischen Materialismus, wandelte sich die christliche Judenfeindschaft zur Feststellung unvermittelbarer geistiger Fremdartigkeit. Die antijüdische Publizistik der Jahre um 1815, welche christliches, ökonomisches und nationales Motiv schon verbunden hatte, bot manche Anknüpfungspunkte5H. Nun gewann das Adjektiv ,jüdisch' dieselbe Bedeutung wie ,undeutsch', und ,jüdisch' waren sämtliche Modernismen, alle bedrohlich gefühlten Entwicklungen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft - der Kapitalismus und der Sozialismus, die Industrialisierung, das Parteiwesen, das Parlament, Individualismus, die kritische liberale und sozialistische Presse, die Börse und alles an55 Vgl. R. Stacke/berg, Idealism debased. From Völkisch Ideology to National Socialism, Kent (Ohio) 1981. 56 P. De Lagarde, Programm für die konservative Partei Preugens (1884), in: ders., Deutsche Schriften hrsg. von K.A. Fischer (Schriften für das deutsche Volk, 1), 2. Auf!, München 1934, S. 379-429, S. 423. 57 P. De Lagarde, Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik, geschrieben 1853 (1874: siehe Anm. 56), S. 22-44, hier S. 37. 58 Vgl. H. Sterling, Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815-1850), Frankfurt a.M. 1969.

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dere mehr. Zum Beleg wurde die überproportionale Präsenz von Juden in Finanzgeschäften, in der Publizistik, in der liberalen und sozialdemokratischen Politik angeführt. "Dem jüdischen Materialismus Skeptizismus (sie) Demokratismus wird sonach der deutsche Idealismus der deutsche Glaube der deutsche Aristokratismus entgegenzusetzen sein" 59 , schrieb Julius in seinem unsäglichen, aber dutzendfach wiederaufgelegten Buch. Der Übergang zur letzten Verschärfung dieser ,Entgegensetzung', der Übergang von sich ,idealistisch' gebärdenden Definitionen der jüdischen Andersartigkeit60 zu biologisch-rassistischen Definitionen vollzog sich nicht nur vor dem allgemeinen Hintergrund der Vernaturwissenschaftlichung des Weltbildes, sondern geradezu als Ergebnis der Suche nach immer tieferen Begründungen der unaufhcbbaren Andersartigkeit! Jener Übergang wurde in der auf die ,Gründerjahre' folgenden Wirtschaftskrise erreicht, in jenem Augenblick, in dem eine Welle antijüdischer Empörung hochgepeitscht worden ist61 . Wilhelm Marr prägte 1879 den Begriff ,Antisemitismus' für die neue, rassisch-biologisch begründete Judenfeindschaft. Wenig später veröffentlichte Eugen Dühring "Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage"62. Dühring lehnte die Ableitung der Unvereinbarkeit von Deutschtum und Judentum aus religiösen oder ,ideellen' Gründen ab. Der Fehler des Juden sei "physiologischer Art und liegt im Naturcharakter selbst", der von ihm als parasitär und zersetzend beschrieben wurde. Sein einziges Ziel müsse die Herrschaft über die ,Gastvölker' sein, am Ende "die Herrschaft über alle Welt". Zur Zeit seien Wirtschaftsliberalismus und, korrespondierend, die "Aufreizung zum Klassenhaß" die dazu gewählte Methode. "Die Judenfrage selbst ist eine sociale Frage ... ", denn "über allen Sonderinteressen steht das eine große Erfordernis der Selbsterhaltung aller", womit die Idee der rassischen Volksgemeinschaft gegenüber dem Rassenfeind geboren war. Die Rettung des deutschen Volks könnte allein durch "äußerliche Einschränkung, Einpferchung und Abschließung" der Juden möglich werden.

59 U. Langbehn], Remhrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, 48. Aufl., Leipzig 1908 (zuerst 1890), S. 352. 60 "Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte" , schrieb Lagarde (vgl. P. De Lagarde, Über die gegenwärtigen Aufgaben, S.30), nannte die Juden aber auch schon ,Bazillen' und dergleichen mehr. 61 Vgl. R. Lill, Zu den Anfängen des Antisemitismus im Kaiserreich, in: Saeculum, 26 (1975), S. 214-231; H. Greive, Geschichte des modernen Antise mitismus in Deutschland, Darmstadt 1983, S. 50 ff.; R. Rürup, Die ,Judenfragc" der bürgerlichen Gesellschaft und die Entstehung des modernen Antisemitismus, in: ders. , Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur ,Judenfrage" der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, S. 74-94, S. 87 ff. 62 E. Dühring, Die Juden als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort, Karlsruhe I Leipzig 1881 . Die folgenden Zitate: ebd., S. 111, 154, 34.

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Die letzte Überhöhung des rassistischen Ansatzes wurde dann um 1900 von Houston Stewart Chamberlain geleistet. Er griff die Lehre Gobineaus: Geschichte als Geschichte der Auseinandersetzung der Rassen, wohl auf und suchte sie in seinen "Grundlagen des 19. Jahrhunderts" zu bestätigen, wies jedoch, entscheidenderweise, Gobineaus These vom unvermeidlichen Niedergang der allein kulturschöpferischen weißen Rasse durch unaufhaltsame Rassenvermischung zurück. Gobineaus rassistischer Schrecken: Niedergang durch Rassenmischung, wurde von Chamberlain gleichsam ,positiv' gewendet. Freilich sei die Vermischung von Rassen unvermeidlich; dies müsse aber keineswegs zum rassischen Niedergang führen, sondern solle vielmehr als Chance zur rassischen Aufzucht bewußt genutzt werden. Nur komme es auf die richtige Mischung an . Sie fand Chamberlain im deutschen Volk natürlich verwirklicht, dessen Hochwertigkeit eben das Resultat einer geglückten ,slavo-kelto-germanischen' Rassenmischung sei. Als das absolute Gegenteil einer solchen geglückten Rassenmischung bezeichnete er das jüdische Volk: rasserein wohl seit Jahrtausenden, im Ursprung jedoch eine Mischung der niedrigsten Elemente der semitischen Rasse. Seit der Antike handele die Geschichte von der Austragung dieses extremen Gegensatzes. "Kein humanitäres Gerede kann die Tatsache beseitigen, daß dies einen Kampf ... auf Leben und Tod" 63 bedeute. Damit war der Rassismus (Antisemitismus) zu einer universalen Weltanschauung durchgebildet; sie erhob den Anspruch, nicht allein alle geschichtlichen Konflikte, Leistungen, Katastrophen erklären, sondern den weiteren Verlauf der Geschichte bewußt machen und dessen endliches Ergebnis deshalb mitbestimmen zu können. Chamberlain sprach von Menschenzucht in Analogie zur Pferdezucht - ein Bild, das sich dann in "Mein Kampf" oder in den Schriften Darres wiederfindet. In der Idee bewußter rassischer Menschenzüchtung erwies sich der Einfluß der auf die menschheitliche Entwicklung angewandten naturgeschichtlichen Erkenntnisse Darwins, des sogenannten Sozialdarwinismus64 . Als Chamberlains vielgelesenes und gerade in den gebildeten Schichten wirkendes Buch erschien, erreichte auch die öffentliche Diskussion um ,Eugenik' und ,Ausmerze Minderwertiger' in Deutschland einen ersten Höhepunkt. Die Bcfürworter solcher Ideen waren durchaus nicht samt und sonders Rassisten: manche wohlangesehenen Wissenschaftler meinten, mit solchem Gerede einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Volksgesundheit, sogar zur Lösung einiger sozialer Probleme zu 63 H.S. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 2 Bde., München 1932 (zuerst 1899), Bd. 1, S. 583. Über Chambe rlain neuerdings G.G. Field, Evangelist of Race. The Germanie Vision of Hauston Stewart Chamberlain, New York 1981. 64 Vgl. H.-G. Zmarzlik, Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Problem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 11 (1963), S. 246-273; F. Bolle, Darwinismus und Zeitge ist, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 14 (1962), S. 143-176, bes. S. 163 ff.; H. W. Koch, Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken, München 1973, bes. S. 151 ff.

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leisten. Es gewöhnte an inhumane, wissenschaftlich gewandete Vorstellungen und arbeitete so dem rassistischen lliologismus vor. Überhaupt mußte das ,völkische Denken' - verstanden als Weltanschauung, "die auf Erhaltung und Förderung der Eigenart des deutschen Volks"65 zielt - nicht bis zu den radikalsten, rassistischen Schlußfolgerungen vorschreiten. Aber die Bemühungen um geistig-moralische Regeneration durch Reinigung der Religion, Bildung und Kunst von nicht-deutschen Elementen, die Sehnsucht nach Harmonie mit der Natur, Großstadtfeindlichkeit und Agrarromantik, die Hoffnung auf eine klassenumgreifende Einheit der Nation, die Behauptung vom ,unpolitischen', d.h. nicht für Parlamentarismus und Parteipolitik geeigneten Charakter des Deutschen - all dies liefs sich doch auch dem radikalsten Trieb deutschen Sonderbewußtseins einpfropfen. Die radikalste, die rassistische Strömung erschien so auch weniger abnorm - man bedenke nur, wie ernsthaft die absurden Thesen Chamberlains und seine Inanspruchnahme Kants und Goethes für seine Ideen diskutiert worden sind. Zur politischen Vertretung des völkischen Radikalismus hat sich seit 1891 vo r allem d e r ,Allde utsche Verband' unter den Vorsitzenden Hugenberg, später Hasse und schließlich Heinrich Claß entwickelt. Seine aus Antisemitismus , Antiliberalismus und Antisozialismus, aus Aversionen gegen das ,Börsenkapital', Bauernideologie (bei gleichzeitiger Einsicht in die Erfordernis der Industrie um Deutschlands Macht willen), aus großdeutschen und mitteleuropäischen Expansionsabsichten, Kriegsverherrlichung gebrauten politischen Vorstellungen scheinen so manche nationa lsozialistische Zielsetzung vorwegzunehmen66 . Dazu ist zu betonen, daß zumindest die alldeutschen Wortführer sich nicht nur als Gegner der Linken, der Liberalen, des Zentrums verstanden haben, sondern zunehmend auch als ,nationale Opposition' gegenüber den Reichsregierungen, was diese unter Bülow und Bethmann Hallweg auch schmerzlich gespürt haben. Man muß dies im Blick behalten, weil die völkischen Utopien führender Alldeutscher tendentiell über die bestehende politische Ordnung hinauswiesen. Nur so a uch ist die allmählich sich ausbildende Idee eines komme nden ,heimlichen Kaisers', eines ,Volkskaise rs', eines ,starken Führers'c.7 , der Wilhelm II. 65

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/:".

Weller, Richard Wagner und der völkische Gedanke, phil. Diss., Tühingen

c.c. Vgl. E. Hasse, Die Zukunft des deutschen Volkstums (Deutsche Politik, 1, H. 4), München 1907: D . Frymann, IH. Claß], We nn ich der Kaiser wär' . Politische Wahrheiten und Notwe ndigke iten, Le ipzig 1919 (5 . Auf! . 1914 in unverä ndertem Neudruck; zue rst 1912). Zum "Alldeutschen Ve rband" zuletzt: R . Chickering, We men who feel most german . A Cultural Study of the Pan-German-League, 18861911, Boston 1984. 67 Vgl. u.a . Ausführungen bei Lagarde, Langbehn und ClaiS sowie bei dem radikale n Antisemite n Theodor l'ritsch (1912). "De r Künstler erschaut mit prophetischem Geiste im verklärenden Wahrtraum das Zukunftsbild seines Volkes und weist diesem de n Weg", schrieb Ernst zu Hohe nlohe-Langenburg mit Bezug auf Wagne r. "Unbewu8t folgt ihm unmerklich de r Volksgeist, dessen hellsichtige r Vertrete r er war.

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eben nicht gewesen ist, zu verstehen: Er sollte die Nation in eine neue, innerliche gereinigte und einige, nach AufSen machtvolle Zeit führen. Die Alldeutschen haben sich als elitäre ,pressure-group' verstanden, welche vermittels vor allem publizistischer Agitation, doch auch durch Ausnutzung der Mitgliederbeziehungen in der Öffentlichkeit und besonders in ideologisch nahestehenden Massenorganisationen zu wirken hatte. Der freilich schon einige Jahre vor dem Krieg erwogene Gedanke, den entscheidenden Schritt in die Massenpolitik zu tun, wurde dann erst 1917/18 zusammen mit der konservativen Rechten verwirklicht: Die "Vaterlandspartei" sollte die diktatorischen Bestrebungen der obersten Heeresleitung Hindenburg/ Ludendorff unterstützen und die innenpolitischen Voraussetzungen zu einem ,Siegfrieden' sichern. Die Zahl von einer Million Mitgliedern verweist auch darauf, wie weit völkisch-chauvinistisches Denken in der deutschen Gesellschaft vorgedrungen war. Dies ist keinesfalls allein als Ergebnis kriegsbedingter Radikalisierung zu deutenVielmehr hatte vor allem die ideologische Ausbildung eines nationalistisch-oppositionellen Blocks schon in der Vorkriegszeit ein hohes Reifestadium erreicht. Differenzen zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen dieses Blocks konnten in gemeinsamem Antisemitismus6H, Antiliberalismus und Antisozialismus, aber teilweise auch in den rückwärtsgewandten, jedoch für deutschtümlich erklärten und deshalb als fortschrittlich ausgegebenen sozialen und politischen Gestaltungsvorstellungen vermittelt werden. Die Ausbildung hatte auch in die Tiefe gewirkt, Teile des alten und Teile des neuen Mittelstandes erfaßt, über intellektuelle Ideologen, Politiker, Publizisten und deren ,gebildetes' Publikum hinaus. Lagarde und Chamberlain hatten ihren Erfolg in den besseren Kreisen, die billigen Hetzschriften, Heftehen und Broschüren eines Ahlwardt, Theodor Fritsch, auch Lanz von Liebenfels' entsprachen der Kaufkraft und dem geistigen Niveau des Kleinbürgertums, der im Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband organisierten Angestellten oder eines herumstreunenden Postkartenmalers aus Beamtenfamilie. Daneben sollte die Wirkung völkisch inspirierter Romane nicht übersehen werden, die seit Felix Dahns - ihn hielt nicht nur Hitler für den einzigen vernünftigen deutschen Professor - schicksalsträchtigem Gothen-Germanen-Wälzer in viel höheren Wenn dann die Entwicklung weit genug fortgeschritten ist, werden aus dem Volke die Männer geboren, welche die Massen leiten und das vorher nur Geahnte im Leben durchführen können" . Hohenlohe-Lange nburg an Cosima Wagner, London, 10.1.1894, zitiert nach: Briefwechsel zwischen Cosima Wagner und Fürst zu Hohenlohe-Langenburg, Stuttgart 1937, S. 77 f. oH Dazu jetzt W. jochmann, Struktur und Funktion des deutschen Antisemitismus 1878-1914, in: Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, hrsg. von H.A. Strauss, I N. Kampe, Frankfurt a.M. I New York 1985, S. 99-142. Andere Auffassungen bei H. -G. Zmarzlik, Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich 1871-1918, in: Die Juden als Minderheit in der Geschichte, hrsg. von B. Martin I E. Schulin, München 1981, S. 249-270.

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Stück- und Auflagenzahlen ,unters Volk' geworfen wurden als völkisch-politische Sachliteratur69 .

111. Mit Recht wird die entscheidende Bedeutung des Weltkriegs, der Weltkriegsniederlage und ihrer Folgen für Entstehung, Aufstieg und schließliehe Machtergreifung des Nationalsozialismus betont. Aber man wird ebenso die Bedeutung der ideologischen Prägungen, die oben freilich nur sehr verkürzend skizziert worden sind, unterstreichen müssen. Sie bestimmten ja auf dieser Seite die Verarbeitung der Erfahrung des ,großen Krieges', des Massentodes draußen im ,Stahlgewitter' und des Elends daheim, die Aufnahme der Niederlage, der Revolution, der Parlamentarisierung und Republikanisierung, des Friedens von 1919, der langjährigen Wirren und oft bürgerkriegsähnlichen Situationen nachher. Der Enthusiasmus der Öffentlichkeit bei Kriegsausbruch, der Appell an die ,Ideen von 1914' gegen die von 1789 und die Begeisterung über die lang ersehnte, aber eben doch nur vermeintliche Einheit der Nation gegen eine Welt von Feinden, ausschweifende Krir::gszielforderungen nicht nur seitens der Alldeutschen, sondern von friedlichen Professorenschreibtischen aus70 , auf freilich anderer Ebene die bald einsetzende Hetze gegen angebliche jüdische Drückebergerei vor dem Kriegseinsatz, welche jene demütigende ,Judenzählung' in der preußischen Armee provozierte71 , die 1917 plötzlich realisierbar erscheinenden Träume vom Siedlungsland im Osten, die Interpretation der Niederlage als von sozialistischen Internationalisten, den Ultramontanen und vor allem von den Juden verursacht und endlich die Aufnahme des ,Schandvertrags' von Versailles, welcher zusammen mit den revolutionären Ereignissen in Deutschland als sinnfälliger Erfolg jüdischen plutokratisch-bolschewistischen Weltherrschaftsstrebens gesehen wurde alle diese Aspekte deutscher Kriegs- und Nachkriegserfahrung im völkischen Lager lassen sich als zunehmend radikalisierte Ausformulierungen jener Weltanschauung begreifen. An ihnen haben ja auch prominente Vertreter der Vorkriegszeit, so Chamberlain und Fritsch, mitgewirkt. 69 Vgl. G.D. Stark, Entrepreneurs of Ideology. Neoconservative Publishers in Germany, 1890-1933, Chapel Hili (University of North Carolina) 1981. 70 Vgl. K. Schwabe, Wissenschaft und KriegsmoraL Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969; K. von See, Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1975. 71 Vgl. dazu neuerdings die Beiträge von H. Walle und M. Messerschmidt in : Deutsche jüdische Soldaten, 1914-1945, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Herford I Bann o.j. (1983).

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Andere Themen erfuhren eine substantielle Weiterentwicklung. Sowohl die autoritären Sozial- und Politikvorstellungen wie die zuvor noch unscharfe Idee des Führerturns und schJieglich die mit beidem verbundene Idee der Volksgemeinschaft fanden nun ein konkretes Modell in der kämpfenden Truppe der Materialschlachten. In ihr gelte die soziale Herkunft nichts, so der Mythos, die kämpferische Leistung des Mannes aber alles, so daß sich hier zugleich die wahrhaftige Volksgemeinschaft wie wahres Führerturn und nur darin begründeter, ansonsten bedingungsloser Gehorsam verwirklicht hätten. Die Verherrlichung des Krieges, Teil des bürgerlichen Patriotismus seit den Befreiungskriegen von 1813/1815, im sozialdarwinistischen Denken mit dem Sinn einer Auslese der Besten schon unterlegt72, erlebte auch deswegen eine letzte Steigerung, in der die Furcht-barkeit des Massentötens im modernen Krieg wohl nicht mehr beschönigt, der Kampf aber zum existentiellen Selbstzweck, zum Zweck menschlichen Seins erhoben wurde: die "große Säuberung durch das Nichts" (Ernst Jünger). Der Zivilist und ein zivilisiertes Verhalten wurden damit der Verachtung preisgegeben. Umgekehrt wurden die Uniformierung und Militarisierung sowie der Einsatz von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung der Nachkriegszeit von vielen für unausweichlich und normal gehalten, besonders von jenen Entwurzelten, die aus dem Krieg den Weg zurück ins bürgerliche Leben nicht suchen wollten. oder wegen der wirtschaftlichen Nachkriegsprobleme nicht finden konnten, von den Angehörigen der Wehrverbände, die bald zahlreich in die vielen völkischen Vereinigungen übergegangen sind, Teils im staatsautoritätsgewohnten und ordnungsfanatischen, aber in der "großen Angst" 71 vor wirtschaftlichem Ruin, vor sozialer Deklassierung und vor der bolschewistischen Revolution lebenden Mittelstand74 • In ihrer Angst waren 72 Daß sozialdarwinistische Grundauffassungen auch zu entgegengesetzten Haltungen führen konnten, erwies der Pazifist Friedrich Georg Nicolai. Im Weltkrieg von den Behörden schikaniert und schließlich gegen Kriegsende geflüchtet, als Vaterlandsverräter und Halbjude 1920 von der Berliner Universität vertrieben, vertrat Nicolai die Meinung, daß im Kriege gerade die Besten getötet werden und so eine Negativauslese stattfinde, daß der Krieg unter zivilisierten Nationen daher geächtet werden müsse. Hitler vertrat später ebenfalls die These von der negativen Auslese: Kriege dürften deshalb nur zur Lösung des Raum-Problems geführt werden. 73 j.C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a .M. 1973, S. 127 ff. 74 Vgl. Tb. Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Darmstadt (unveränderter Nachdruck der I. Ausgabe 1932), S. 109 ff. Daß die Erklärung der Reaktionen ,des' Mittelstandes auf die Krisen der Nachkriegszeit und der 20er Jahre dessen schon in der Vorkriegszeit herangebildeten ideologischen und mentalen Prädispositionen nachgehen muß, betont u.a. H.A . Wink/er, Extremismus der Mitte' Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 20 (1972), S. 175-191. Vgl. auch:]]. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, 1770-1914, München 1983, S. 280 ff., 319 ff.

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allzu viele Bürger bereit, radikalisierte Feindbilder und darauf aufbauende politische Zielsetzungen zu akzeptieren und mit Gewalt durchzusetzen oder durchgesetzt zu sehen. Die Disposition dazu war, wie bemerkt, in der Vorkriegszeit begründet worden, in der Agitation der Alldeutschen, in den weltanschaulichen Ausgangspunkten des "Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes", des "Bundes der Landwirte", auch in den Jugendbünden und nicht zuletzt in den studentischen Verbindungen 7;. Freilich führten die Radikalisierungen von Weltkrieg, Nachkriegszeit und, schließlich, Wirtschaftskrise am Ende der Weimarer Republik zu einer neuen Differenzierung des völkischen Lagers. Es gab weiterhin die ältere, nun vergleichsweise konservativ anmutende Strömung, bis zum Durchbruch des Nationalsozialismus aufgehoben im "Alldeutschen Verband", in der "Deutschnationalen Volkspartei", im DHV, "Stahlhelm". Daneben entwikkelte sich rasch eine "neukonservative" Bewegung, vertreten eher von intellektuellen Einzelgängern, zusammengefaßt in Gesprächszirkeln und um publizistische Organe; sie gingen von den ,ideellen' Erfahrungen des Weltkriegs aus, entwickelten die Idee des ,deutschen Sozialismus' in Konsequenz der Frontkämpfergemeinschaft, den Mythos von neuer deutscher Herrlichkeit in einem kommenden "Dritten Reich", von kultureller und religiöser Erneuerung in einer bald ständestaatlich, bald autoritär, bald diktatorisch gedachten politischen Neuordnung. Vor allem aber entstanden Dutzende von eher regional beschränkten, teilweise vom zuletzt 200.000 Mitglieder umfassenden "Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund" überwölbten radikal-völkisch-rassistischen parteiähnlichen Gruppierungen oder Kampforganisationen. Sie trugen den neuen ideologischen und aktionistischen Radikalismus und verkörperten in nuce die Möglichkeit einer ganz neuartigen Massenbewegung in bewußter Distanzierung sowohl von noch vorhandenen ideologischen Skrupeln wie vom Elitarismus der ,bürgerlichen ideal-vornehmen Klasse' 76 7; Vgl. I. Harnet, Völkische r Verband und nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Ve rband, 1893-1933, Frankfurt a.M. 1967; H. -]. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservativismus im Wilhelminischen Reich (1893-1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, 2. Aufl., Bonn - Bad Godesberg 197'5. Über die nationalistischen und völkischen Radikalisierungen in der angehenden Akademikerschaft vor dem Weltkrieg: K.H. jarausch, Students, Society, and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic Illiberalism, Princeton (Princeton University Press) 1982; ders., Deutsche Studenten 18001970, Frankfurt a.M. 1984, Kap. II/ III. In den juristischen Fakultäten vor 1914 haben ja jene Richter ihre Ausbildung und Bildung erfahren, die nach 1918/ 19 so bereitwillig die ,vaterländischen' Motive rechtsgerichteter Gewalttäter akzeptierten! Die Kontinuitäten zwischen Vor- und Nachkriegszeit werden besonders auch in der Untersuchung lokaler völkischer Organisation und Politik deutlich. Vgl. etwa Völkische Radikale in Stuttgart. Zur Vorgeschichte und Frühphase der NSDAP 1890-1925, zusammengestellt von J. Genuneit, Stuttgart 1982. 76 A. Hit/er, Entwicklung unserer Bewegung, München , 7.1.1922, in: NSDAP-Mitteilungsblatt, Nr. 10, zitiert nach: Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924, hrsg. von E. Jäckel / A. Kuhn, Stuttgart 1980, S. 541 -541, S. 541 .

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im sonstigen völkischen Lager. Die NSDAP war eine von ihnen. Ihr Vorsitzender Hitler forderte "eine völkische Bewegung auf streng sozialer Grundlage, die breitesten Massen erfassend, in eisenharter Organisation zusammengeschweißt, von blindem Gehorsam erfüllt und brutalem Willen beseelt, eine Partei des Kampfes und der Tat"n Hitler hat diese Einsicht in seiner Propaganda, in der Organisation der NSDAP und im Kampf gegen den politischen Gegner umgesetzt. Dies war ein entscheidender Ausgangspunkt zur Durchsetzung zunächst gegenüber den verwandten völkischen Gruppierungen, dann im gesamten völkischen Lager und in der Wählerschaft. Die ideologischen Grenzen zwischen den drei erwähnten Strömungen blieben allerdings unscharf. Die Nationalsozialisten konnten aus dem Denken der "konservativen Revolutionäre" zentrale Begriffe wie "Das Dritte Reich" übernehmen; es begegneten die nämlichen Anti-Haltungen gegen die Republik, den Liberalismus, Marxismus, gegen Parlament und ,Parteienwirtschaft', großenteils auch gegen die Juden . Nach 1930 haben immer mehr Angehörige der beiden anderen Strömungen Hitler und die NSDAP politisch und ideologisch unterstützt, manche zwar mit einigen ,vornehmen' Bedenken wegen deren Pöbelhaftigkeit und Brutalität, doch in der Hoffnung, sie nach der Beseitigung der verhaßten Republik entweder abstoßen oder doch zähmen zu können. Auch diese ideologischen, wiewohl eben nur partiellen Übereinstimmungen und die damit gegebene Verwechselbarkeit der Ziele begünstigten den Aufstieg des Führers und seiner Partei. Daß im völkischen Denken teilweise seit langem, teilweise seit der Weltkriegsniederlage fest etablierte Begriffe wie ,Volksgemeinschaft', ,Drittes Reich', ,Führer', ,deutscher Sozialismus', ,Blut' von Hitler und seiner Umgebung in einer letzten Übersteigerung des völkischen Ansatzes mit katastrophalen, alle Moral-, Politik- und Rechtsvorstellungen, sogar die Ebene der Nation überschreitenden Inhalten gefüllt waren, entging angesichts der ideologischen Anknüpfungen und Parallelen zu vielen Zeitgenossen 78 . Und klugerweise wurden von Hitler und seinen engsten 77 Ebd., S. 542. Vgl. auch A . Hit/er, Mein Kampf, 1938, S. 378, 510-515; Rede vor dem Hamburger Nationalklub (siehe Anm. 32), ebd., S. 83, 104 ff. 78 Vgl. K . Lange, Hitler unbeachtete Maximen, Stuttgart 1968; P . W. Fabry, Mutmaßungen über Hitler. Urteile von Zeitgenossen, Düsseldorf 1969. Zu den sonstigen republikfeindlichen ,rechten' Strömungen und Ideen: A. Mob/er, Die Konservative Revolution in Deutschland. Grundriß ihrer Weltanschauungen, Stuttgart 1950; K. von Klemperer, Konservative Bewegungen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München I Wien 1962;]. Neurohr, Der Mythos vom Dritten Reich. Zur Geistesgeschichte des Nationalsozialismus, Stuttgart 1957; K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1983 (zuerst 1962): Mohler unterschätzt die Bedeutung der ideologischen Überschneidungen, bei Klemperer und besonders bei Neurohr werden die gleichwohl vorhandenen Differenzen eher unterbewertet; Sontheimer gibt einen Überblick zum politischen Denken (im engeren Sinne) der gesamten Rechten.

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Gefolgsleuten zwischen dem Durchbruch auf Reichsebene von 1930 und der Konsolidierung des nationalsozialistischen Regimes kaum diese entscheidenden Differenzen, umso mehr aber die gemeinsamen Anti-Haltungen propagiert. Andererseits hat Hitler mit Recht seinen Nationalsozialismus als Weiterentwicklung des völkischen Denkens der Vorkriegszeit dargestellt, dabei freilich die systematische Synthese als sein eigenstes Werk, als Werk des ,Politikers und Programmatikers'79 , reklamiert. In .,Mein Kampf" werden besonders die Österreichischen Vorbilder und Vorläufer, Lueger und Schönerer, behandelt: Ersterer habe die Bedeutung der Massenmobilisierung erkannt, nicht aber die der Rassenfrage; umgekehrt habe Schönerer wohl Einsicht in die rassischen Gründe der Judenfrage bewiesen, jedoch kein Verständnis für die zu ihrer Lösung notwendige politische Organisation und Aktion entwickeltH0 Die seine Jugendentwicklung vielleicht viel mehr prägende Lektüre der verrückten, mordlüsternen Schriften des Lanz von Liebenfels hat Hitler allerdings verschwiegenH 1 . Viel häufiger denn auf alle anderen Vorläufer berief sich der spätere Führer auf Hauston Stewart Chamberlain . .,Über Rassenfragen sollte nur reden, wer vorher Gobineau und Chamberlain gelesen hat"H2 . Wie weit das auf ihn selbst zugetroffen hat, mag dahin gestellt bleiben. Die Ideen des intellektuellen Heros der völkischen Bewegung waren ja auch in vieltältigen Verdünnungen im Umlauf. Entscheidend war hier vor allem, daß jener anerkannte Denker ihn kurz vor dem Münchener Putsch 1923 zum Etwecker und Retter Deutschlands, zum .,Führer" gleichsam, gekürt hatte, zu einer Zeit also, in der sich Hitler selbst noch me hr in der Rolle eines .,Trommlers" für den kommenden Führer gesehen hatH3 . In der von Bayreuth aus, von der Familie des so bewunderten Richard Wagner, mit Schreibmaterialien und weiterem Zuspruch unterstützZur Verwendung gängiger Parolen in der nationalsozialistischen Propaganda vgl. die Beiträge von Klaus Megerlc ("Versailles ist an allem schuld!" Außenpolitische Agitation und Aufstieg des Nationalsozialismus) und Detlef Lehnert (Auf dem Weg zur .,nationale n Volksgemeinschaft"' Die Durchsetzung de r NSDAP als republikfeindliche Sammlungsbewegung ... ), in: Warum gerade die Nationalsozialisten?, S. 114145, S. 12-67. Zu den Inhalten der Propaganda: Manifest der NSDAP, 10. September 1930, zitiert nach: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung, hrsg. von H. Michaelis, I E. Schraepler, Berlin 1958 ff., Bd. 7, S. 371 f. 79 Vgl. A . Hit/er, Mein Kampf, 1938, S. 213 f. Ho Vgl. ebd ., S. 105 ff. Zu den Österreichischen Entwicklungen: P .Gj. Pu/zer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 18671911, Gütersloh 1966; A .G. Whileside, Georg Ritter von Schönere r. Alldeutschland und sein Prophet, Graz 1981; W.A . j enks, Vienna and the Young Hitler, New York 1960, bes. S. 10 ff.; j.-C. Fest, llitler, S. 45 ff. Ht Vgl. W. Daim, Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Von den religiösen Verirrungen eines Sektierers zum Rassenwahn des Diktators, München 1958. Dazu einschränkend ]. -C. Fest, Hitler, S. 59-61. Hl Hitler aus nächster Nähe, S. 341. Vgl. u.a. A. Hit/er, Mein Kampf, 1938, S. 296. H3 Vgl. j-C. Fest, Hitler, S. 259, 288 ff.; W. Altgeld, Wagner, S. 35 f., 58.

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ten Niederlegung seines "Mein Kampf" hat Hitler dann den Anspruch auf Führerschaft der Partei, der völkischen Bewegung, dereinst der deutschen Nation fixiert - durch vernebelnde Schilderung seines weltanschaulichen Werdegangs, durch den Entwurf einer kohärenten rassistischen Weltanschauung und eines in ihr begründeten politischen Programms. Die Verwirklichung dieses Anspruchs innerhalb der Partei und im deutschen Volk, die so möglich werdende Umsetzung einer Weltanschauung in verbrecherische Politik, wären im weiteren Gegenstand politik-, vor allem auch sozialund mentalitätsgeschichtlicher Untersuchungen 84 • Die Ideologiegeschichte konnte nur einige Antworten auf die damit berührten Fragen geben8s.

Nachtrag 1990 In den wenigen, seit Abfassung dieses Überblicks vergangeneo Jahren sind manche Studien erschienen, welche das Wissen um die Vorgeschichte, Entwicklung und Verwirklichung der nationalsozialistischen Ideologie vertieft und teils auch erweitert haben. Ich glaube dennoch, den damals gegebenen Abriß unverändert vorlegen und es hier mit einigen Hinweisen auf neue Literatur bewenden lassen zu können. Die in der Einleitung angedeutete Debatte um die Bedeutung Hitlers, seines Denkens, seines ,Programms' in der Geschichte des Nationalsozialismus und des Dritten Reichs läßt sich nun leicht anband der Publikationen von Wolfgang Wippermann ("Der konsequente Wahn. Ideologie und Politik Adolf Hitlers", München 1989, welche aufgrund ihrer lexikalischen Darbietung der Themen rasche Zugriffe ermöglicht; als Herausgeber: "Kontroversen um Hitler", Frankfurt 1986, mit den wichtigsten Texten) und besonders von Manfred Funke verfolgen ("Starker oder schwacher Diktator? Hitlers Herrschaft und die Deutschen", Düsseldorf 1989, worin zu meinem Thema vorzüglich die Beobachtunge n zur Kontroverse um ,Entwurf und Vollzug der Weltanschauung: Intentionalismus oder Funktionalismus?' sowie zur Einordnung von Hitlers Denken in den Gesamtzusammenhang völkischer Strömungen und Politik interessieren). Übrigens ist auch die in An81 Der Verfasser folgt der von Tb. Geiger, Soziale Schichtung, S. 77 ff.; Tb . Geiger, Ideologie, S. 167 f. begründeten Unterscheidung von Ideologie und Mentalität. Ansätze zu sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Untersuchungen bei M. Broszat, Soziale Motivation und Führer-Bindung des Nationalismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 18 (1970), S. 392-409; I. Kershaw, Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich. Mit einer Einführung von Martin Broszat, Stuttgart 1980 (Broszats Thesen zur Deutung der Stellung Hitlers sind hier nicht zu diskutieren); bes. L. Kettenacker, Sozialpsychologische Aspekte der Führerherrschaft, in: Der "Führerstaat", S. 98-132 . 85 Vgl. noch H. Müller, Der pseudoreligiöse Charakter der nationalsozialistischen Weltanschauung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 12 (1961), S. 337-352.

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merkung 7 angeführte Arbeit von Gerhard Schreiher in erweiterter Fassung neu aufgelegt worden. Eberhard Jäckel, dessen "Hitlers Weltanschauung" (1969, 2. Aufl. 1981) natürlich eine wichtige Grundlage meiner Skizze ist, hat zum ,Vollzug dieser Weltanschauung' die Studie "Hitlers Herrschaft" (Stuttgart 1986) vorgelegt. Zu den Kontinuitätcn und Wandlungen des rassistischen und insonderheit des modernen judenfeindlichen Denkens wurden von Imanuel Geiss ("Geschichte des Rassismus", Frankfurt a. Main 1988, Kap. IV-VI) und Helmut Berding ("Moderner Antisemitismus in Deutschland", Frankfurt a. Main 1988) nützliche Zusammenfassungen veröffentlicht. Höchst aufschlußreich ist mir die Studie von Norbert Kampe "Studenten und ,Judenfrage' im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus" (Göttingen 1988) gewesen. Die ja nicht nur von Shulamit Volkov ("Kontinuität und Diskontinuität im deutschen Antisemitismus 1878-1945", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 33 0985) S. 221-243) vorgetragenen, im Hinblick auf gelegentliche Vereinfachungen gewiß bedenkenswerten Zweifel an der Erklärungsrelevanz ideologiegeschichtlicher Kontinuitätsbeobachtungen erscheinen angesichts auch dieser neueren Forschungen und Darstellungen doch wenig stichhaltig. In der Beschäftigung mit der ,Vorgeschichte' geht es ja nicht nur um die Freilegung der ideologischen Wurzeln des Nationalsozialismus, sondern im Zusammenhang damit stets um Fragen nach der Prägung kollektiver Einstellungen, aufgrund derer die rassistische und antisemitische Programmatik, Propaganda und Politik der Nationalsozialisten dann Zustimmung oder doch zumindest anders begründeten Konsens nicht beeinträchtigende Aufnahme finden konnten. Entwicklung und Ausbreitung der Idee notwendiger Eroberung von ,Lehensraum' gegen Konzeptionen deutscher überseeischer Kolonial- und Weltmachtpolitik während des Kaiserreichs sind neuerdings von Woodruff D. Smith ("The Ideological Origins of Nazi Imperialism", Ncw York I Oxford 1986) eingehend untersucht worden: Wichtig vor allem das fünfte Kapitel, in welchem die Motive der vornationalsozialistischen Lebcnsraumforderung systematisch und dann speziell für den "Alldeutschen Verband" aufgedeckt werden. Für den bemerkenswertesten Beitrag dieser Zeit zum Verständnis des Nationalsozialismus als Weltanschauung halte ich Robert A. Pois' "Nationalsocialism and the Religion of Nature" (London I Sydney 1986, von mir besprochen im "Historischen Jahrbuch" 1989) -weniger deshalb, weil Pois' Resultate in sich schon völlig zu überzeugen vermöchten, sondern weil er neue Perspektiven auf das Verhältnis von ideologischen und ,religiösen' Elementen eröffnet und dabei schon wesentlich über ältere pauschale Etikettierungen des Nationalsozialismus als politische Religion, pseudo- oder hochideologische Antireligion hinausweist. Claus-Ekkehard Bärschs Goebbels-Studie ("Erlösung und Vernichtung. Dr. phil. Joseph Goebbels. Zur Psyche und Ideologie eines jungen Nationalsozialisten 1923-1927", München 1987) führt in ähnliche Überlegungen; freilich vermißt man bei ihm gerade

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in diesen Partien hinreichende empirische Grundlegungen weitreichender Interpretationen. Zur 1984 angeführten Literatur habe ich an dieser Stelle die vorzügliche, damals von mir leider ungenutzte Untersuchung Robert Cecils "The Myth of the Master Race: Alfred Rosenberg and Nazi Ideology" (London 1972) nachzutragen. Cecil bietet eine erhellende Analyse des Rosenbergsehen Denkens und seiner Quellen, insbesondere seines radikalen Antichristenturns.

Nationalsozialistische und "gesamtdeutsche" Geschiehtsauffassung Von Adam Wandruszka

Es ist in diesem Seminar schon über die verschiedenen Bedingungen gesprochen worden, die für das Aufwachsen des Nationalsozialismus bestanden haben. Ganz entscheidend ist aber bei unserem heutigen Thema auch die Persönlichkeit Hitlers für die ganze Politik, für seine Erfolge und vor allem für sein Scheitern, sowie der starke ideologische Zwang, der ihn gegen das eigentliche Interesse seiner Politik dazu geführt hat - zu diesen verschiedenen rational völlig unverständlichen Äußerungen. Gerade das scheint mir der Hauptunterschied zu sein, der zwischen unserem Thema Faschismus/Nationalsozialismus und den Themen besteht, die wir bisher behandelt haben; die breiten geistigen Strömungen, die vorher und nachher wirken, wo aber nie eine Persönlichkeit sosehr absolut im Mittelpunkt steht. Besonders in den Jahren der Zustimmung, in denen die große Masse der Deutschen an Hitler glaubte, oder auch in Italien bei Mussolini, war das Gemeinsame eigentlich nur der Glaube, daß dieser Mann (der Mann der Vorsehung) eben das deutsche Volk glücklich führen konnte. Auf eine kurze Formel zusammengefaßt: "Der Führer hat immer recht". Das hat zur Folge gehabt, daß mit dem Scheitern und mit dem Tod der charismatischen Führer Hitler bzw. Mussolini die geschichtliche Bedeutung und die politische Wirksamkeit des Nationalsozialismus und des Faschismus auf einmal wegfielen. Was übrig blie b, waren nur Nostalgien und einige Verrücktheiten. Hier werden wir uns ganz konkret mit de r Geschiehtsauffassung Hitlers zu beschäftigen haben. Wenn ich zunächst einiges über die Literatur sagen darf, gibt es relativ wenig, aber doch einiges über die nationalsozialistische Geschichtsauffassung. Eine der Publikationen, auf die ich mich sehr weitgehend stütze, nicht zuletzt weil sie von einem Historiker ist, der selbst in der nationalsozialistischen Zeit sich als Nationalsozialist gefühlt hat, ist "Das Geschichtsbild des Nationalsozialismus und die de utsche Geschichtswissenschaft" von Günther Pranz vom Jahre 1981. Dort findet sich der lapidare , einfache, aber durchaus richtige Satz: "Grundlage für das nationalsozialistische Geschichtsbild, soweit es sich in der Schulung der Partei und den Schulbüchern der Zeit spiegelt, ist das Geschichtsbild Adolf Hitlers"1. G. Franz, Das Geschichtsbild des Nationalsozialismus und die de utsche Geschichtswisse nschaft, in: Gesc hichte und Geschichtsbewußtsein, Vorträge der

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Das ist hier das Entscheidende und nun treten als Elemente von Hitlers Geschichtsbild dieselben Prinzipien hervor, die Bracher in seinem Beitrag zu dieser Arbeitwoche schon vorgeführt hat. Als er vom Nationalsozialismus gesprochen hat, hat er den Biologismus, den Sozialdarwinismus, den Rassismus und in engem Zusammenhang damit den Lebensraum, d.h. den biologistischen Anspruch auf den Lebensraum, erwähnt. Ähnlich ist es bei Pranz und auch sonst, wenn wir die Elemente von Hitlers Geschichtsbild herausarbeiten. Es steht an erster Stelle der Sozialdarwinismus, ein vulgarisierter Darwinismus, der alle Schlagworte, die man aus Darwin ableitet, vereinfacht, zunächst Schlagworte wie "der Kampf um das Dasein" und "das Recht des Stärkeren" ("the survival of the fittest") und dann alle jene Strömungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Rassismus oder die Rassenlehre bestimmt haben: die "blonde Bestie", den vulgarisierten Nietzsche und den Einfluß Wagners, den besonders starken Einfluß von Wagners Schwiegersohn, Houston Stewart Chamberlain und sein Werk, das Hitler angeblich - oder vielleicht wirklich - gelesen hat. Es sind natürlich die Einflüsse Wagners sehr stark anzusetzen. Es ist all das, was in der Rassenlehre, in der Betonung der Rassen im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vorgebracht wurde; es ist der Einfluß von Gobineau, es sind die eben gerade auch von Hannah Arendt betonten Zusammenhänge mit den durch Kolonialismus und Imperialismus gegebenen Rassenproblemen, und politisch konsequent aus dieser Rassenlehre, daß Hitler nicht auf die Wiedergewinnung der Kolonien aus war, weil ihm die Rassenvermischung so gefährlich erschien. Auch hier eine der Wurzeln für seine Bewunderung Englands, weil er noch das Bild des Englands vor dem 1. Weltkrieg hatte, das er natürlich nur mittelbar kannte, da er nie drüben gewesen war. Ihm wurde aber von den Rassenschranken sowie von der energischen Kolonialmacht in Indien, von den "colours bars" erzählt. Dieser sozialdarwinistische Rassismus ist schließlich die eigentliche Grundlage: sowie für Marx die Weltgeschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, so ist auf eine einfache Form gebracht für Hitler die ganze Geschichte eine Geschichte von Rassenkämpfen. Es ist der Kampf aller gegen alle, der einen Rasse gegen die andere, die stärkeren siegen und müssen siegen, die schwächeren müssen unterliegen: das ist die Grundlage von Hitlers Geschichtsbild gewesen. In engem Zusammenhang damit steht der Antisemitismus, die Abneigung gegen das orientalische asiatische Judentum, wobei -wie Friedrich Heer in seinen beiden Büchern "Der Glaube des Adolf Hitler" und "Gottes erste Liebe" gezeigt hat - hier auch eine religiöse popularistische vulgarisierte Wurzel tief unten, aber noch deutlich erkennbar: die Abneigung gegen das Volk der Gottesmörder, und gleich zusammen damit natürlich auch ein sozialer Antisemitismus, etwa bei den Bauern die Abneigung gegen die jüdischen Viehhändler, die vor allem in Süddeutschland eine große Rolle spielte. Ranke-Gesellschaft, hrsg. von 0 . Hauser, Göttingen 1981, S. 91-111 mit weiteren bibliographischen Hinweisen.

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Dazu kommen noch die Überlieferungen des Kreises um den Berliner Hofprediger Stöcker, verdünnt und von ferne zu Hitelr gekommen, der Antisemitismus eines Eugen Dühring, überhaupt der deutsche Antisemitismus, vermittelt über den radikalen Antisemitismus Schönerers. Sosehr Hitler die Taktik Schönerers, übrigens auch mit falschen Cliches und Urteilen, die weitgehend unrichtig und verzerrt sind, verurteilte. Sowohl der Vorwurf gegen Schönerer, daß er keinen Sinn für soziale Probleme gehabt hätte, ist falsch, wie auch diese riesige Übersteigerung Luegers, von dem ihm eben nur die Praxis der Massenbeeinflussung sehr stark gefallen hat. Das dritte Element ist dann das kleindeutsch-borussische Geschichtsbild, vermittelt durch die Schönere r-Bewegung, durch die alldeutsche Bewegung in Österreich: es ist hier gleichfalls eine vulgarisierte, auf Cliches, Vorstellungen und auf Schlagworte vereinfachte Geschiehtsauffassung der "kämpferischen Wissenschaft" der preußisch-kleindeutschen Historiker, die politische Historiker in erster Linie waren, die die Gründung und den Sieg des Bismarckreichs vorbereitet, begleitet, später gerechtfertigt und idealisiert habe n. Hier wurzelt dieses Geschichtsbild und im entscheidenden Faktum der deutschen Geschichte, nämlich dem ko nfessionellen Gegensatz protestantisch/ katholisch, der nun auch auf den Gegensatz preußisch/ österreichisch übertragen wurde. Es ist die Nachwirkung und die Popularisierung bei allen Schullehrern, etwa des berühmtec Streites der beiden Westfalen Sybel und Ficker um die deutsche Kaiserpolitik im Mittelalter, der 1859 ausbrach, von der ernsten Wissenschaft dann weitergeführt und eigentlich ad acta gelegt wurde, der aber ih den breiten Massen besonders bei den deutschen Geschiehtsiehrem und den Schullehrern in einer popularisierten Form der Sybelschen Thesen von der Schädlichkeit der Italien- und Kaiserpolitik des Mittelalters und von der Notwendigkeit der Ostkolonisation verbreitet worden ist. Das ist die Auffassung, die mit dem Sieg der kleindeutschen Idee in der Politik und auch in Österreich, wo Hitler zur Schule ging, innerhalb der deutsehrrationalen Bewegung vorherrschte. Im ganzen deutschen wilhelminischen Reich wie auch in einem große n Te il Österreichs, im deutschen Österreich, waren die Schullehrer alle davon überzeugt und brachten ihren Schülern bei, daß es nichts verderblicher für die deutsche Geschichte gegeben habe, wie der große Irrweg, daß man nach Italien gegangen ist, die Blüte de r deutschen Volkskraft in Italien für eine Chimere geopfert habe, anstatt in den Osten zu gehen , während die Wissenschaft schon längst die Zusammenhänge zwischen Italienpolitik und Ostpolitik betont hatte, und zwar, daß der Kaiser durch die Kaiserkrone als Haupt der Christen auch gegenüber den slawischen Königen, gegenüber den nichtdeutseben mitteleuropäischen Königen von Polen, Böhmen und Ungarn eine Stellung hatte, die auch für die Ostpolitik eine große Bedeutung gehabt hatte. Hier sind Auffassungen, die extrem dann auch im Nationalsozialismus in einigen Gruppen vertreten worden sind und die durchaus den Jugendvorstellungen Hitle rs e ntsprochen habe n, von Karl dem Großen als dem "Sachsenschlächter" und die Verherrlichung seines Gegners Widukind, die Gegner-

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schaft gegen Otto 1., der nach Rom gegangen sei während sein Vater Heinrich I. zum Ideal erhoben wird, der nicht nach Rom gegangen sei, wobei das im wesentlichen damit zusammenhing, daß er nicht mehr dazu kam. All dies ist dann idealisiert worden, denken Sie an die Bedeutung bei den SS von Heinrich dem Löwen gegen den verderblichen Friedrich I. Barbarossa. Italienpolitik sei also verderblich gewesen, Ostkolonisation sei richtig gewesen; das wird auch durch die Zeittendenz der Gegnerschaft von Realpolitik gegen Romantik gestärkt, wobei Ostkolonisation eben Realpolitik gewesen sei. Es ist bekannt, daß das Schlagwort der "Realpolitik" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ganz große Rolle spielte, bestätigt dann auch durch den Erfolg von Bismarck, obwohl das Wort schon in den 50er Jahren von August Ludwig Rochau geprägt worden war. Die Verherrlichung des Mittelalters wird als Romantik abgelehnt. Wie gesagt, die deutsche Mediävistik hat längst durch ihre Forschungen diesen Antagonismus überwunden, der aus der Situation von 1859-1866 genährt wurde, und zwar von der ganz aktuellen Frage, ob man die Österreichische Politik in Oberitalien unterstützen sollte und ob die anderen deutschen Staaten im Jahre 1859 Bundeshilfe leisten sollten. In dieser Situation ist diese Polemik erwachsen; die Wissenschaft hat sich in der Folgezeit von dieser Polemik abgewandt und die Zusammenhänge zwischen Italien- und Ostpolitik betont; aber in den Schulen ist das nach dem militärischen System Jalsch" und "richtig" immer wieder gesagt worden. Dann kamen die Zensuren: der Herrscher, der nach Italien ging hat falsch gehandelt; wer nach Osten ging hat richtig gehandelt. Bracher und ich erinnern uns noch an einen Hauptmann, der zunächst auf die jungen Offiziere Eindruck gemacht hat, weil er in dem gewohnten Sinn wie er aus seiner Militärfibel immer ihnen geurteilt hat: das war richtig bzw. das war falsch. Das ist ein altes System: schon im 18. Jahrhundert haben die Geschichtslehrer von Maria Theresia gesagt: "Was muß man von Heinrich III. wissen? Er hat richtig gehandelt; er hat drei Päpste abgesetzt. Was muß man von Heinrich IV. wissen? Er hat falsch gehandelt, er hat sich vor dem Papst in Canossa gedemütigt". Diese Vorstellungen von Jalsch" und "richtig" sind in dieser Form im Schulunterricht geblieben und betont auch in Österreich; gerade in Linz haben Hitlers Geschichtslehrer diese Thesen ganz wesentlich durch die Alldeutsche Bewegung Schönerers, auch durch die "Los von Rom"-Bewegung vertreten, die Hitler allerdings aus taktischen Gründen verurteilte. Diese Vorstellungen sind entscheidend gewesen; später hat der Justizrat Heinrich Class als Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes längst nach der Schulzeit Adolf Hitlers unter dem Pseudonym "Einhart" eine deutsche Geschichte geschrieben, die ihre erste Auflage 1909 hatte und dann 1941 die letzte neunzehnte Auflage erlebte. Dieses Buch hat eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Auch hier ist natürlich die Bewunderung der Germanen, von den Zimbern und Theutonen anfangend, mit den bekannten Übertreibungen, die gerade in Österreich so stark waren, von den Österreichischen Alldeutschen, die den Beginn der Geschichtszählung nicht von Christi Geburt,

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sondern vom Jahre 112, von der Schlacht von Noreia, d.h. vom ersten Auftreten der Germanen in der Geschichte herleiteten; sie wollten die deutschen, germanischen Monatsnamen anstelle der römisch-lateinischen Monatsnamen einführen. Die Bewunderung der Stämme der Völkerwanderungszeit, die Bewunderung Widukinds, des Gegners Kar! des Großen, des "Sachsenschlächter" und dann die direkte Linie von Heinrich I. über Heinrich den Löwen zu den Hohenzollern, besonders zu den drei großen "Staatsbaumeistern": dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I., Preußens größten inneren König und schließlich zu Friedrich dem Großen, und von Friedrich dem Großen zu Bismarck. Diese popularisierte kleindeutschpreußische, von der Bewunderung der Realpolitik Bismarcks und einem vulgären Machiavellismus getragene Geschiehtsauffassung wurzelte sich auch in Österreich in der täglichen Erkenntnis des Nationalitäten-Kampfes in der österreichisch-ungarischen Monarchie ein und sah darin auch eine Bestätigung. Hier kommt auch der pessimistische defensive Zug hinein, der bei den Deutschen Österreichs, nachdem sie den Rückhalt am Reich politisch verloren hatten, eintrat: sie wurden sich bewuß, daß sie immer noch die zahlenmäßig stärkste Nation unter den Österreichischen Nationalitäten waren, daß sie aber keine absolute Mehrheit hatten, daß sie also eine Minderheit etwa gegen die "steigende Flut der Slawen" bildeten, wenn man sie unter Mißachtung ihrer großen Unterschiede als Einheit ansieht. Das Wort "Untermensch" als Bezeichnung der Slawen kommt schon bei Schönerer vor, z.B. in der Diskussion, in der ein tschechischer Abgeordnete im Österreichischen Reichsrat tschechisch sprach und Schönerer, der damals schon nicht mehr Mitglied war, aus der Loge ausrief: "Was ist das für eine Sprache?" und der andere antwortete ihm: "Eine Weltsprache", wobei Schönerer erwiderte: "Eine Unterweltsprache". Das war also damals die Vorstellung, das Schlagwort von der steigernden slawischen Flut, der Verteidigungsposition, die ja aus der demographischen Situation tatsächlich stimmte, da die deutschen Städte in Böhmen und Mähren sowie in der Südsteiermark Marburg, Cilli und Pettau, damals durch eine sehr starke Einwanderung und den sozialen Aufstieg der Slawen aus der Umgebung gekennzeichnet waren. Daher kommt das Gefühl der Bedrohung, des Untergangs der Germanen, die in König Etzels brennender Burg stehen und sich gegen diesen slawischen Angriff wehren mußten. Das dumme Schlagwort, das übrigens auch in Norditalien geltend war, "Slawen/ Sklaven" ist ein Beispiel dafür, wie die Slawen als Untermenschen verachtet waren. In diese Ideologien gehören auch hinein jene obskuren "Ostara"-Hefte, die Hitler in seiner Jugend in Wien gelesen hatte, diese Schriften von Lanz von Liebenfels, diese krausen Rassenschriften, wobei das Eigentümliche ist, daß (so ist mir von einem jüdischen Journalist, Luigi Hoffenreich, einem Verwandten von Lanz von Liebenfels, erzählt worden) Lanz von Liebenfels jüdischer Abstammung gewesen wäre. Das ist also nur eine makabre Pikanterie. Allerdings möchte ich, ebenso wie der größte Teil der deutschen Geschichtsschreiber, diesen Einfluß der "Ostara"-Hefte nicht allzu hochwerten. Der Titel, den Wilfried Daim seinem Buch gegeben hat: "Der Mann, der Hitler

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die Ideen gab" ist zweifellos eine Übertreibung2 , aber er hat sicherlich dazu beigetragen, diese Ideen zu steigern. In der nationalsozialistischen Bewegung waren solche Ideen immer wieder vorhanden aber teilweise wurden· sie aus taktischen Gründen entfernt. Man wollte keinen Religionskrieg machen, die Erinnerung an das Scheitern der "Los von Rom"-Bewegung war noch lebendig, obwohl sie unter den deutschen Österreichern doch einen beträchtlichen Erfolg hatte: über 100.000 traten damals vom Katholizismus zum Protestantismus als der "deutschen Religion" über. Hitler sagte aber mit Recht in "Mein Kampf", diejenigen, die übergetreten waren, seien im Grunde der katholischen Kirche schon längst verloren gewesen. Diese Tendenzen sind dann besonders durch Alfred Rosenberg, den evangelischen Deutschbalten, mit seinem Buch "Der Mythos des 20. Jahrhunderts" verbreitet worden; schon im Titel handelt es sich um eine bezeichnende Anlehnung an Chamberlains "Grundlagen". Sehr interessant ist, daß dieses Werk 1930 im Parteiverlag erschien: es hatte eine Auflage von insgesamt 1.100.000 Exemplare in den verschiedenen Auflagen; es ist aber nie parteiamtlich offiziell anerkannt worden; Hitler lehnte dieses Buch 1930, als er sich mitten im politischen Kampf befand, als zu schwer für die Propaganda ab und las es auch selbst nie; er hat es offenbar nur angeblättert. Eine ganz eigentümliche Grote'ike ist dabei, daß Rosenberg beim Nürnberger Prozeß, wo auch er unter den Angeklagten war, zu seinem Entsetzen feststellen mußte, daß kein einziger der angeklagten Führer des Nationalsozialismus dieses Werk gelesen hatte. In gewisser Hinsicht erinnern diese Dinge in Italien cum grano salis an die "Mistica fascista", von der auch in der ersten Phase viel geredet wurde und die eigentlich keine Bedeutung gehabt hat. Alfred Rosenberg war aber immerhin ein wichtiger Mann, er war 1930 der erste Hauptschriftleiter des "Völkischen Beobachter" gewesen und im selben Jahr, in dem dieses Buch erschien, wurde er Mitglied des Reichstags. 1933 war er Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP, von der er allerdings schon im nächsten Jahr abgeschoben wurde, um auf die mehr formelle Funktion des "Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Schulung" überzugehen, ein tönender Titel, hinter dem aber nicht sehr viel war. Aber immerhin hat er in Schulungsbriefen und in der Erziehung doch eine gewisse Rolle gespielt: er war Leiter des "Kampfhundes für deutsche Kultur" und wurde dann 1941 Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. Wie gesagt, er war leidenschaftlich anti-römisch, anti-christlich aber allgemein anti-mediterran. Bei seiner Interpretation der Weltgeschichte stützte er sich auch auf die überspannten und von der ernsten Forschung abgelehnten Spekulationen des Ethnologen Albert Grünwedel, in denen das alles übersteigert wird. Hier ist, wie gesagt, ein gewisser Vergleich zur "Mistica fascista" des Barons Giulio Evola; nur hat die "Mistica fascista" doch keine so große 2 W. Daim, Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Die sektiererischen Grundlagen des Nationalsozialismus, München 1958, 2. verbesserte Aufl. Wien I Köln I Graz 1985.

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Stellung gehabt, so daß es schon Unterschiede gibt. Der große Rivale Rosenbergs war Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, der ja vor allem seit 1934, seir dem Sieg über die SA und über Röhm, die SS zu einer Führungselite machen wollte: er wurde dann Chef der deutschen Polizei, 1939 Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums, schließlich Innenminister und Chef des Ersatzheeres. Er wurde allerdings im letzten Testament Hitlers aus der Partei ausgestoßen, was aber praktisch keine Wirkung mehr hatte; bei der Gefangennahme beging er Selbstmord. Bei Hermann Rauschning sind einige interessante Äußerungen im Blick auf die Stellung Himmlers zur Geschichte: es ist die völlige Verachtung der Geschichtswisse nschaft, die Überzeugung, daß die wissensc haftlichen Ansichten der Professoren überhaupt niemanden interessierten. "Wenn der Staat oder die Partei eine Ansicht als wünschenswerten Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Forschung geäußert hätte, dann hätte sie einfach als wissenschaftliches Axiom gelten sollen. Es ist gleichgültig, ob sich die Vorgeschichte der germanischen Stämme in Wirklichkeit so oder anders abgespielt hat ... worauf es uns einzig und alle in ankommt, und wofür d iese Leute bezahlt werden, sind geschichtliche Vo rste llungen, die unserem Volk den notwendigen Nationalstolz stärken. Wir haben nur das e inzige Interesse, daß wir das, was wir als Zukunftsbild für unser Volk hinstellen, in die graue Vergangenheit hinein projiezieren. Der ganze Tacitus mit seiner ,Germania' ist eine Tendenzschrift. Unsere Wissenschaft vom Deutschtum hat hundertelang von e iner Fälschung gelebt. Wir haben das Recht, dasselbe jederzeit zu Wiederholen. Vorgeschichte ist die Lehre von der überragender Bedeutung der Deutschen in der Vorzeit".

Abgesehen von de r Gleichsetzung von "deutsch " und "germanisch" zeigt dies die völlige Verachtung d er Geschichtswissenschaft, die nur als Instrument angesehen wird. Innerhalb des nationalsozialistischen Lagers hat es die größten Gegensätze gegeben; jeder Führer hat seine eigene Geschichtsforschergruppe gehabt, aber keiner entdeckte etwas wirktich Neues; es waren immer die gleichen Widukind, Arminius, He inrich I. und Heinrich der Löwe. Himmler gründete auch e ine Le hr- und Forschungsgemeinsch aft, das "Ahnenerbe", das allerdings unter der Leitung e ines Indogerman isten stand und nicht eines Historikers; auf die Frühgeschichte ist beso ndere r Wert gelegt worden. In dieser wissenschaftlichen Gruppe hat es interessa nte Gegensätze, auch aktuell politische Gegensätze in der Interpretation der Germanen gegeben, etwa zwischen zwei jungen Vorgeschiehtlern - der eine war ein Germanist - , die sich mit den Germanen beschäftigten und die beide der SS nahestanden . Der eine, Bernhard Kumme r, d er Darre nahestand, hat ein Bild der Germanen als e ines friedlichen Ba uernvolks gezeichnet, während der Wie ne r Germanist Otto Höfle r, de r weit be deutendere, de n größe re n Wert auf das germanische Sakralkö nigtum gdegt hat, so z.B. in se iner Interpretation der heiligen Lanze als eines Herrschaftszeichens, die sogar zum Menschenopfer verwendet wurde. Sein Ideal war nicht der strahlende Sigfried, sondern der von Tragik umwitterte Hage n. Be im de utschen Historikertag 1937 in Erfurt sagte Höfle r ironisch: "Es gibt Leute, denen der Gedanke schrecklich ist, dafS die Germanen auch Blut vergossen haben". Das war natürlich ein Se ite nhieb auf Kumme r und Darre

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und auf diese Vorstellung von den Germanen als "friedlichen Ackerbauern"; dieselben Gegensätze hat es ja auch in der Rassenkunde gegeben. Der offiziell anerkannte Rassenforscher und Verbreiter einer Rassenkunde, Verfasser eines sehr populären Handbuchs, war Hans F. K. Günther, dessen Werk schon 1922 geschrieben wurde, als er damals noch keineswegs Nationalsozialist war, aber eben aus diesen Vorstellungen entsprach. Er war der Mann, der die Menschenrassen nach der Schädellänge einteilte. Sein Werk erschien 1922 in erster Auflage und schon 1933 erschien die 14. Auflage. 1931 wurde er durch den nationalsozialistischen Innenminister von Sachsen-Weimar, Frick, zum Professor in Jena ernannt. Interessant ist, daß die Amtseinführung Günthers als Professor in Jena die einzige Gelegenheit war, bei der Hitler eine deutsche Universität betrat. Es gab daneben natürlich auch noch die intelligenteren Vertreter einer Rassenkunde wie Ferdinand Clauss, der von der Phänomenologie-Schule Husserls herkam und nicht von Nordischen und Westischen sprach, sondern vom "mediterranen Darbietungstyp" und einige glückliche Formulierungen gefunden hat. Vor 1933 war kein älterer deutscher Historiker und kein Universtiätslehrer Parteigenosse. Der Sturm auf die deutsche Geschichtswissenschaft wurde interessanterweise auch wieder durch einen Mann ausgelöst, der selbst auch nicht Parteigenosse war und es nie geworden ist: Walter Frank, dessen Frau allerdings Trägerio des Goldenen Parteiabzeichens war. Er stand zunächst in Bewunderung von Ludendorff, hat aber dann unter Pseudonym im "Völkischen Beobachter" geschrieben. Durch seinen Angriff auf seinen Lehrer - was übrigens immer populär ist -, nämlich auf den Berliner Ordinarius Hermann Oncken, stellte er sich in den Vordergrund. Er griff Oncken so heftig an, daß dieser schließlich gestürtzt wurde. Das war seine erste Tat, mit der dann auch die Vertreibung von Friedrich Meineckes von der Stelle eines Herausgebers der "Historischen Zeitschrift" in Zusammenhang steht. Interessant ist dabei, daß Meinecke nicht durch einen Nationasozialisten, sondern durch den bayrischen monarchistischen deutschnationalen konservativen Historiker Kar! Alexander von Müller ersetzt wurde. Die große Wende in der Geschichtswissenschaft sollte zur Gründung des "Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands" im Jahre 1935 führen, zur selben Zeit also, in der auch die "Monumenta Germaniae Historica" in "Reichsinstitut für mittelalterliche Geschichte" umgewandelt wurden. Auf den Lehrstuhl Onckens, der sozusagen der räpresentativste Lehrstuhl in Berlin war, wollte man den Wiener Ordinarius Heinrich Ritter von Srbik als Nachfolger berufen, dessen gesamtdeutsche Geschiehtsauffassung man vereinnahmen wollte. Srbik, der Begründer und bedeutendste Exponent, der Programmatiker der "gesamtdeutschen Geschichtsauffassung" lehnte diesen Ruf nach Berlin allerdings ab, blieb in Wien, nahm aber die Ehrenmitgliedschaft des Reichsinstituts an. Im Beirat waren neben ihm durchaus Historiker der älteren Generation, die keine Parteigenossen waren, wie Erich Marx, A.O. Meyer, Fritz Hartung und andere. Stipendiaten des "Reichs-

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instituts für Geschichte des neuen Deutschlands" waren etwa unter anderen Fritz Fischer und Hermann Kellenbenz, die weder damals noch vorher oder je Nationalsozialisten gewesen waren. Sie alle kennen Fritz Fischer wegen der berühmten Fischer-Kontroverse und Hermann Kellenbenz, einen bedeutenden Wirtschafshistoriker, der zu unseren Mitarbeitern hier in Trient gehört. Was interessant war, und was auch eine Konzession an den Nationalsozialismus war, war die Einrichtung einer Abteilung zur Erforschung der judenfrage, dessen Leitung ein gewisser Wilhelm Grau übernahm, der sich dann mit Frank überwarf und konsequenterweise zu Alfred Rosenberg überging. Was Frank vor allem auszeichnete, sind die in militärischen Formulierungen wiederholten Bekenntnisse zu einer kämpfenden Wissenschaft (obwohl er selbst weder vorher noch nachher Soldat war), die Ablehnung des Strebens nach Objektivität, seine Zustimmung zu Heinrich von Treitschke als Idealbild der kämpfenden Wissenschaft. Das bedeutendste Werk, das dort erschienen ist, - es wurde vom Reichsinstitut herausgegeben - ist eigentlich schon früher von einem Einzelgänger, Christoph Steding, geschrieben worden, und lautet: "Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur". Es erschien 1938, als der frühgestorbene Steding schon tot war. Die 5. Auflage erschien dann 1943. Es ist ein Werk, das blendend geschrieben ist, das sich aber vor allem durch heftige Angriffe gegen die "staatsferne Kulturgeschichte" der sozusagen neutralen germanischen, bzw. deutschsprachigen Staaten auszeichnet; vor allem die Holländer, die Schweizer und die Skandinavier werden hier sozusagen als "entartete" Germanen bezeichnet, weil sie sich vom Kämpferturn losgesagt haben und sich vor allem auf die Kulturgeschichte gewandt haben. Seine Angriffe richten sich vor allem gegen den Schweizer Jakob Burckhardt und den Holländer )an Huizinga, aber auch gegen Thomas Mann und die ganze hanseatische apolitische Welt Norddeutschlands. Es gibt noch ein Werk von einem Meinecke-Schüler, Otto Westphal, das während des Kriegs erschien und das den Titel trägt: "Das Reich, Aufgang und Vollendung", .von dem nur ein Band 1941 erschienen ist. Srbik rezensierte es ausführlich 1943 in den "Göttinger gelehrten Anzeigen" und bezeichnete es als Irrweg. Dieses Werk von Westphal hat auch nichts wirklich Originelles, es faßt die ganze nordische germanische Mythologie zusammen, die Auffassungen, die ich schon gekennzeichnet habe, etwa die Kennzeichnung des Mönchs Hildebrand Gregors VII. als Vertreter des sozialbiologischen Untermenschentums, der Unterschichten von Mailand oder von Tassilo, des "bigotten" Herzogs der Bayern, der als Vorläufer der ,jesuiten-Wittelsbacher" bezeichnet wird; Otto III. wird als ein in die Mischung der Unterrassen versunkener Halbgrieche dargestellt, Otto von Nordheim als ein "Windthorst des Mittelalters". Für Westphal sind Geopolitik, Prähistorie und Rassenlehre die drei "nordischen Disziplinen", die für das Geschichtsverständnis grundlegend sind. Der Nationalsozialismus ist eine endgültige Abrechnung mit den Universalistischen Tendenzen einer Weltherrschaft und einer Weltreligion, die orientalistisch-semitischen Ursprungs sind. Wie gesagt ist darin im Grunde nichts Neues, sondern nur eine

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Übersteigerung der alten anti-katholischen und anti-christlichen Tendenzen von Darwin, Nietzsche und Guido von List in Österreich, eine Germanenschwärmerei, die ganz wesentlich auch durch die Werke von Richard Wagner bestimmt wurde. Dieses Werk Westphals ist ganz entschieden- und das war eine sehr tapfere Tat- im Jahre 1943 von Heinrich von Srbik abgelehnt worden, der sich dann völlig auch von Frank distanzierte. Damit sind wir bei dem Problem der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung: ich erinnere daran, ohne übrigens auf Einzelheiten hier eingehen zu können, daß es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland diesen Gegensatz zwischen der kleindeutschen, preußisch-protestantischen Geschiehtsauffassung einerseits und der großdeutsch-österreichsichen, wesentlich von katholischer Seite vorgetragenen, Geschiehtsauffassung anderseits gegeben hat. Der politische Sieg und die Reichsgründung bedeuteten auch den Sieg der popularisierten kleindeutsch-protestantischen Geschichtsauffassung, die vor allem durch die Schullehrer vertreten war, während in der Wissenschaft auf beiden Seiten allmählich eine Korrektur in der Auseinandersetzung zwischen den jeweiligen Positionen eintrat: so z. B. zwischen Paul Lehmann und Albert Naude über die Ursprünge des Siebenjährigen Kriegs. Das heißt, die kl.eindeutsch-borussische Geschiehtsauffassung wurde korrigiert und es traten selbstkritische Töne auf. Etwas Ähnliches spielte sich in Italien in der Risorgimento-Geschiehtsauffassung ab, wo mit Alessandro Luzio z. B. die Übertreibungen dieser hagiographischen popularisierten Risorgimento-Vorstellungen auch zum Teil korrigiert wurden. Nach 1918 setzte sich natürlich auch eine Kritik des Fridericus-Mythos durch, dieser primitiven Vorstellung, wonach die Hohenzollern schon von Anfang an eine geheime versiegelte Order der Geschichte zur Erfüllung der deutschen Einigung in der Tasche gehabt hätten, sodaß ihr Kampf gegen den Kaiser eine notwendige Voraussetzung gewesen sei und durch die spätere Gründung des deutschen Reichs durch Bismarck gerechtfertigt erschien. Bismarck hatte in seinen Erinnerungen gesagt: ,Jeder Reichsfürst, der sich vor dem Dreißigjährigen Krieg dem Kaiser widersetzte ärgerte mich" als Rebell gegen seine stark autoritären Vorstellungen. Anders ist die Situation natürlich in Österreich nach 1866. Das Jahr 1866 bringt die politische Niederlage der großdeutsch-katholischen Geschichtsschreibung mit sich; die Folge ist, daß einige Österreichische Historiker ins preußisch-kleindeutsche Lager übergehen, wie Anton Springer, und besonders Ottokar Lorenz, dieser originelle Mann, der von Wien wegging, der Literarhistoriker Wilhelm Scherer oder Hans von Zwiedineck-Südenhorst. Es gibt also Österreichische Historiker, die zu dieser kleindeutsch-protestantischen Linie übergegangen sind. Der größere Teil zieht sich zurück und dieser Rückzug erfolgt zur selben Zeit, in der auch der Katholizismus sich in ein katholisches Ghetto zurückzieht. Es handelt sich um eine Art innerer Emigration, wie sie schon bei Johann Baptist Weiss zur Zeit Bismarcks geschehen war und interessanterweise auch bei anderen Emigranten aus dem Bismarckreich, vielfach auch Konvertiten wie Onno Klopp, der mit

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seinem vertriebenen Herzog von Hannover nach Wien ging und dann ein streitbarer österreichischer - auch wenn immer fremdgebliebener - Historiker wurde, oder Ludwig von Pastor, der Aachener, der nach Österreich ging, zum Katholizismus übertrat und eigentlich der Führer einer ausgesprochen konservativ-integralistischen katholischen Geschiehtsauffassung war. Bei dem größten Teil der Österreichischen Historiker bedeutete dies den Rückgang auf den quellenkritischen Positivismus, den Verzicht auf Wertung, überhaupt den Verzicht auf Geschichtsschreibung, die man den Verfassern patriotischer Trivialliteratur und der dynastisch-habsburgischen Literatur, Schulbüchern und Jubiläumsschriften überließ. Das ",nstitut für Österreichische Geschichtsforschung", das 1854 unter dem Neoabsolutismus gegründet wurde mit dem Ziel, diesem nach dem Scheitern der Revolution von 1848 erneuerten Reich nun eine eigene Geschichtsideologie zu schaffen, hat diese Aufgabe nicht erfüllt und schließlich auch nicht erfüllen wollen. Nach 1866 wird die Richtung durch den evangelischen Thüringer Theodor von Sicke! bestimmt, der eine wertfrei reinpositivistische Urkundenforschung nach der Frage "discrimen veri ac falsi in vetustis membraneis", d.h. nach der Unterscheidung der Wahrheit und Echtheit der Urkunden begründet hat. Dieser aktive überzeugte kleindeutsche Österreichische Beamte war ein aktives Mitglied der kleinen evangelischen Gemeinde in Wien, wurde dann in Rom besonders beliebt, vor allem als Freund von Leo XIII., weil er die Echtheit des "Ottonianum", die Echtheit der Schenkung des Patrimonium Petri durch Otto I. an den Heiligen Stuhl begründete. Auf Anregung dieses im Vatikan durchaus beliebten evangelischen Forschers geht die Gründung des "Österreichischen historischen Instituts" in Rom im Jahre 1881, gleich nach der Öffnung der Vatikanischen Archive zurück. Österreich war der erste europäische Staat, der - allerdings dank der Initiative dieses protestantischen Thüringers - ein Institut zur Erforschung der Vatikanischen Archive gegründet hat. Erst ab 1900 etwa ist die auf sehr soliden Forschungsgrundlagen aufbauende Österreichische Geschichtsforschung zur Geschichtsschre!bung übergegangen, etwa mit Oswald Redlich und Alfons Dopsch, und ganz besonders dann mit Heinrich von Srbik. Bei der Generation Srbiks waren das Erlebnis des 1. Weltkriegs entscheidend, der Zerfall der Habsburgermonarchie parallel und beeinflußt von der allgemeinen nationalistischen Tendenz in Europa und damit die Hinwendung zum völkischen Gedanken. Das bedeutete allerdings den Abschied von einem staatlichen Nationalismus, etwa in den Symbolen der Hymne von "Heil Dir im Siegerskranz" einerseits und "Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser" andererseits und die Übernahme des Deutschlandslieds mit der alten Haydn-Hymne der Österreichischen Kaiserhymne "Deutschland, Deutschland über alles". An die Stelle von schwarz-gelb und schwarz-weißrot wurden nun 1848 schwarz-rot-gold an die Spitze gesetzt. Interessant ist, daß die Österreichischen völkischen Kreise bis zum Nationalsozialismus schwarz-rot-goldgehabt haben, was zu Mißverständnissen mit der deutschen Rechten öfters führte. Es war übrigens ein Österreicher, der Sohn eines Achtundvierzigers aus der Paulskirche gewesen, Ludo Moritz Hartmann, der

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der Weimarer Nationalversammlung die Wiederaufnahme von schwarz-rotgold nahelegte. Hartmann war Sozialdemokrat und einer dieser DeutschBöhmen jüdischer Herkunft, die ganz entschiedene, überzeugte und kämpferische Deutschnationale waren. Die letzten Nachwehen dieser Richtung hat man bei unserem Bundeskanzler Kreisky immer wieder feststellen können. Das Kriegserlebnis führt die deutschen und Österreichischen Soldaten in die deutschen Sprachinseln in Süd-Osten, ins Banat, nach Siebenbürgen, Zips und Batschka. Hier erkannte man die staatliche Misere, die man durch den Abstand von der vorherigen Größe empfand; sowohl in der Weimarer Republik war diese Nuchternheit auch vielleicht zu groß, um von den breiten Massen verkraftet zu werden. Von den schimmernden Wehren eines Wilhelm Il., der von den Intellektuellen zwar kritisiert wurde, dann zu der Nüchternheit des Sattlergesellen Friedrich Ebert; das war für das deutsche Bürgertum zu viel. Dasselbe war auch in Österreich: es ist die Gegnerschaft gegen Versailles und St. Germain, die Gegnerschaft gegen das Anschlußverbot und der starke Anschlußwille. Der Träger dieser Tendenzen wird Heinrich von Srbik. 1920 von Graz nach Wien berufen, veröffentlichte er 1925 sein großes Mettemichwerk und 1929, also zu einer Zeit, in der in Österreich der Nationalsozialismus noch ganz klein und unbedeutend war, hielt er in Salzburg einen programmatischen Vortrag, in dem er eine "gesamtdeutsche Geschichtsauffassung" vertrat. Dieser Vortrag wurde 1930 in der "Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte" veröffentlicht. Zur selben Zeit, kurz nachdem er diesen Vortrag gehalten hatte, trat er als Unterrichtsminister in das nur ein Jahr lang regierende Kabinett Schober ein. Dieses Ministerium stürzte dann durch eine christlich-soziale Intrige und durch das Zerbrechen der bürgerlichen Koalition. Srbik bekam wie gesagt schon 1935 einen neuerlichen Ruf nach Berlin lehnte ihn aber ab; er arbeitete damals gerade an. seinem größten vierbändigen Werk "Deutsche Einheit - Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz". Er blieb in Österreich und wurde dann als der Historiker des gesamtdeutschen Gedankens gefeiert; als solcher hielt er gerade in der Zeit der Spannungen in Berlin drei Vorträge über "Österreich in der deutschen Geschichte". Was ist nun diese gesamtdeutsche Geschichtsauffassung' Sie sucht - und das ist für Srbik bezeichnend - die norddeutsch-protestantische Auffassung als einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte, aber auch die süddeutsche und katholische Österreichische in ein großes Gebäude der Geschichtsbetrachtung und der Geschichtswertung einzuführen. Spöttisch hat einmal Otto Brunner auf der Rückfahrt vom Erfurter Historikertag zu mir gesagt, obwohl er ein großer Verehrer Srbiks war, im Grunde sei Srbik der große Beschwichtigungshofrat in der deutschen Geschichte; er habe also beide Auffassungen angenommen. Einerseits hatte Bismarck Recht: man darf auch nicht die Gründe der eigenen Gegner vernachlässigen. Maria Theresia ist ihm natürlich näher gestanden als Friedrich der Große, aber

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auch Friedrich den Großen muß man anerkennen. Es ist etwas Richtiges daran, an dem was Meinecke - der mit Srbik so gut war - an einen anderen Adressaten einmal schrieb: "Srbik ist viel gerechter als die alten Historiker, als ein Sybel oder ein Treitschke. Aber jene waren eben doch viel kräftiger". Es wird also hier Srbik die Schwächheil vorgeworfen. Es war aber bei ihm wirklich das Bedürfnis, eine gesamtdeutsche Geschiehtsauffassung zu entwickeln, die sowohl von den Deutschen in Österreich wie in Norddeutschland, sowohl von den Katholiken wie von den Protestanten, akzeptiert werden konnte. Er ist als Vertreter dieser Tendenz im Jahre 1838 ohne sein Wissen von Arthur Seyss-Inquart auf die Liste für den Reichstag gesetzt worden und ist dann Mitglied des Reichstags gewesen und geblieben, hat trotzdem schärfste Kritik an den Assistenten Walter Franks, Gerhard Sehröder oder an Otto Westphal geübt. In seiner Tätigkeit hat er als Präsident der "Akademie der Wissenschaften" in Wien und der "Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften" in München viele Übertreibungen zu verhindern versucht und vieles ist. ihm auch gelungen; so z. B. als er die Befreiung des Holländer Jan Huizinga vom Konzentrationslager erreichte. Nach 1945, von der ganzen Entwicklung furchtbar getroffen, wurde er in Österreich besonders stark angegriffen; trotzdem arbeitete er als ein Wegbereiter des Anschlußes weiter, litt unter dieser Situation sehr, kämpfte aber weiter und schrieb noch sein Alterswerk in zwei Bänden über die Geschichte der deutschen Historiographie "Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart", worin er sich auch mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat. Neben Srbik gibt es eine andere Richtung, die ein Tiroler, d.h. ein Professor in Tirol vertreten hat, Harald Steinacker, der seit 1909 Ordinarius in Innsbruck war. Sein Vater, Edmund Steinacker, ein Ungarn-Deutscher Politiker aus evangelischer Pastorenfamilie, war Angehöriger des Beraterskreises Franz Ferdinands, des sogenannten "Belvedere-Kreises". In der Geschichtsschreibung war Steinecker, wie er selbst einmal sagte, "ein gespalteter Wesen". Einerseits hat er an der liber diurnus-Forschung des Frühmittelalters gearbeitet; andereseits hat er ein sehr starkes politisches Interesse gehabt. In jungen Jahren war er bezeichnenderweise ein Ratgeber des Justizrats Heinrich Class, (Einhart) für seine populäre deutsche Geschichte. Schon 1931 verwendete er die Formel "Vom Sinn einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung" und behauptete interessanterweise: "die Nationen sind Schöpfungen des Gedanken Gottes, während die Staaten vorübergehende Entwicklungen des Menschen sind". Bezeichnend ist, daß er von Innsbruck aus diese scharfe Ablehnung des Vorrangs des Staates vertreten hat. Hier ist natürlich eine Stellungnahme gegen den italienischen Faschismus, im Sinne auch des deutschnationalen Interesses bezüglich der Frage Südtirols usw. Er forderte eine deutsche Volksgeschichte und lehnte - im Gegensatz zu Meinecke und anderen - den Begriff der "Kulturnation" und der "Staatsnation" ab. Gegenstand einer deutschen Volksgeschichte sei weder die Kulturnation, also nicht die Bildungsoberschichten, erst recht nicht die Staats-

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nation, sondern Thema einer deutschen Geschichte soll das Volk sein. Er schrieb einmal.: ,.Ihr Held (der Geschichte) ist die natürliche Nation, zu der die unteren Schichten als tragender Grund und ewiger Geist vor allem gehören und ebenso alles deutsche Volkstum ohne Rücksicht darauf, ob es dem deutschen oder einem fremden Staat eingegliedert ist".

Hier lebt natürlich etwas von der alldeutschen Tradition fort, aber es ist dieselbe Auffassung, die im Grunde auch die Auffassung der ersten Auflage von Otto Brunners .Land und Herrschaft" ist, das dank unserer Freunde, des Ehepaars Schiera, vor mehreren Jahren nunmehr auf italienisch übersetzt wurde. Auch Otto Brunner hat damals den Gedanken vertreten, nicht die einzelnen Staaten seien das Entscheidende, sondern eine allgemeine, auch die Unterschiede umfassende Volksgeschichte. Diese Auffassung hat sich dann natürlich weiter fortgesetzt und hat in mancher Hinsicht weitergelebt in Auseinandersetzung und zusammen mit den Einflüssen von der Schule der ,.Annales" aus Frankreich. Das ist, was ich zu dieser volksdeutschen Geschichtsschreibung sagen wollte, die aber natürlich nach den Ereignissen von 1945, durch die deutsche Teilung, duch das immer stärker aufgewachsene Österreichische besondere Staatsbewußtsein bis hin zu den Tendenzen einer Österreichischen Nation, natürlich den politischen Boden verloren hat und damit eigentlich h~ute auch nicht mehr aktuell ist. Aber immerhin, diese volksdeutsehe Geschichtsauffassung, die von Harald Steinacker und anderen, etwa vom Ethnologen Adolf Helbock vertreten wurde und die gesamtdeutsche Geschiehtsauffassung Srbiks sind zeitweise vom Nationalsozialismus vereinnahmt und gebraucht worden: es schien eine Zeitlang die Möglichkeit einer Synthese zu bestehen, aber in diesem Fall hat Günther Franz - um auf ihn wieder zurückzukommen - doch recht, wenn er von Srbik sagt, für ihn ginge das Reich - in diesem wenn man will rückwärtsgewandten Sinne - vor Volksstaat und Rasse. Das stimmt nicht ganz, aber Srbiks Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus war letzthin ein Irrtum oder, richtiger robust gesprochen, ein Propagandatrick. Das ist zweifellos richtig: der Nationalsozialismus hat Srbik als Auslageschild benutzt, wie es der Faschismus mit Gentile und anderen getan hat, und als Srbik darauf kam, wozu er mißbraucht worden war und was dahinten steckte, war seine Entrüstung sehr groß, aber da war es schon zu spät. Er stand in Kontakt mit den Männern vom 20. Juli 1944, erlebte eine Hausdurchsuchung. Er wurde von den radikalen Nationalsozialisten sehr scharf angegriffen, aber er wurde eben doch eine Zeitlang, besonders im Jahr 1938 eigentlich eine ganz kurze Zeit - als Symbol der deutschen Einigung angesehen.

"Der Arbeiter" von Ernst Jünger. Die philosophischen Voraussetzungen der politischen Romantik · Von Manfred Hinz

I.

Die folgenden Bemerkungen versuchen, anhand der Analyse eines exemplarischen Falles von Gegenaufklärung, einige Kriterien für eine .,Kritik" der nationalsozialistischen Ideologie zu formulieren. Ernst Jüngers .,Der Arbeiter, Herrschaft und Gestalt", ursprünglich 1932 erschienen und noch 1982 vom Verlag Klett-Cotta in einer Taschenbuchreihe kommentarlos erneut aufgelegt, gehört in eine Denktradition, die (ebenfalls 1932) von Paul Tillich als "politische Romantik" beschrieben wurde: .,Die politische Romantik ist die Gegenbewegung gegen Aufklärung auf dem Boden einer Geistes- und Gesellschaftslage, die durch Aufklärung bestimmt ist. Dadurch ist sie gezwungen, unter Voraussetzungen zu kämpfen, die sie verneint, und mit Mitteln, die sie bei ihren Gegnern angreift. So entstehen die Theorien der politischen Romantik, die trotz ihrer häufig geistvollen Durchführung an dem Widerspruch nicht vorbeikönnen, das Irrationale rational begründen zu müssen"1 .

Wir werden im folgenden sehen, daß diese widersprüchliche Grundlage der politischen Romantik nicht seine intellektuelle Schwäche, als vielmehr seine vielleicht wichtigste Faszinationsmacht konstituiert. Gegenüber einem Rausch jenseits der Grenzen der Aufklärung qualifiziert sich die Ideologiekritik als das einzige Instrument, das imstande sein könnte, analytische Nüchternheit und damit Argumentationsmöglichkeiten überhaupt wieder zurückzugewinnen. Der Begriff der politischen Romantik ist Verfallserscheinung und zugleich Resultat des traditionellen Selbstbewußtseins der bürgerlichen Gesellschaft, wie es in Deutschland von der idealistischen Philosophie niedergelegt worden ist. Die Erläuterung des "faschistischen" Erfahrungsbegriffs Der folgende Text wurde für die deutsche Ausgabe revidiert. P. Ti/lieh, Die sozialistische Entscheidung, in: Gesammelte Werke, Stuttgart 1962, Bd. 2, S. 246 f.

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als Voraussetzung für ein Verständnis des Faschismus als Massenbewegung (zumindest im Fall des Nationalsozialismus) impliziert eine Reinterpretation des "klassischen" Begriffs von Subjektivität. Unser Versuch, wenigstens annähernd die "positivistische" Wende zu beschreiben, die die Philosophie des deutschen Idealismus in der politischen Romantik - und in gewisser Weise schon in Marx- durchlaufen hat, kann von einer spezifischen Bereitschaft der traditionell "kritischen" Begriffe, sich von der transzendentalen Sphäre in die positivistische zu verlagern, nicht absehen. Die folgenden Bemerkungen haben daher weder die Erfahrungen einzelner faschistischer Ideologen, noch die, die den Faschismus als Massenbewegung ermöglichten, zum Gegenstand, als vielmehr den "faschistischen" Begriff von Erfahrung. II.

Ernst Jünger - er wurde sowohl mit dem Schiller Gedächtnispreis wie mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet- zählt nach wie vor zu den renommiertesten Romanciers deutscher Sprache. Sein theoretisches Hauptwerk, "Der Arbeiter", das ihm einen erheblichen Einfluß auf den linken Flügel der nationalsozialistischen Bewegung eintrug 2 , erschien erstmals 1932. Andere theoretische Schriften von Jünger sind "Der Krieg und die Krieger" Cl930); .über die Linie", in "Anteile, Martin Heidegger zum 60. Geburtstag" (1950); "Vom Ende des geschichtlichen Zeitalters", in "Martin Heidegger zum 70. Geburtstag" 0959). Auf die enge Verbindung zwischen Ernst Jünger und Heideggers Fundamentalontologie, die schon in dieser groben Übersicht deutlich wird, werden wir im Verlauf unserer Bemerkungen noch zurückkommen. Selbstverständlich muß auch Jüngers zahlreichen Romanen und vor allem seinen Tagebüchern ("Strahlungen") eine erhebliche theoretische Bedeutung zugemessen werden. Wir beschränken uns an dieser Stelle jedoch ausschließlich auf eine Analyse von "Der Arbeiter".

In Band VIII seiner "Sämtlichen Werke", nach dem wir im folgenden den "Arbeiter" stets zitieren, hat Ernst Jünger einige Briefe zu seinem Entwurf zusammengestellt (Stuttgart 1981, S. 388-396). In dieser Korrespondenz, die auffallenderweise aus den Jahren 1978-80 stammt, wird der Zusammenhang des .Arbeiters" mit dem Nationalsozialismus systematisch vertuscht .•In Deutschland hat sich das Buch", behauptet Jünger, "einer angenehmen Windstille erfreut" (S. 389). Dies steht aber schon im Widerspruch zu der Tatsache, daß z.B. Martin Heidegger in Freiburg ein Seminar über den .Arbeiter" abgehalten hat, auf das wir später noch eingehen werden.

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111. Ernst Jüngers "Der Arbeiter" basiert auf einer unausgewiesenen Vermischung von Themen der "Lebensphilosophie" bzw. des heideggerschen "Existentialismus" mit den Verfahrensweisen der "Neuen Sachlichkeit", der führenden Kunsttendenz der zwanziger Jahre. Im Unterschied zu demjenigen Nietzsches jedoch, ist das "Abenteuer", das Jünger der "geschwächten bür- · gerliehen Existenz" entgegensetzt, das Abenteuer der Arbeit selbst. Gleichwohl begreift auch noch Jünger wie Nietzsche und Simmel vor ihm die Arbeit als alltägliche Entfremdung. Das Abenteuer der Unterbrechung des Alttagslebens wird so positivistisch in das alltägliche Abenteuer entfremdeter Arbeit verkehrt 3 . Diese, für die nationalsozialistische Ideologie fundamentale Umkehrung beruht auf zwei Bedingungen: der Begriff der Arbeit muß nach wie vor als Entfremdung und Entäußerung bestimmt und zugleich muß die Perspektive ihrer politischen Überwindung ausgeblendet werden. In diesem Sinn darf die Entwicklung einer sozialistischen Theorie als notwendige Voraussetzung für die Formulierbarkeit nationalsozialistischer Ideologeme angesprochen werden. Die deutsche Jugendbewegung hatte diese Umkehrung schon in dem Augenblick erfahren, als ihre Führer den Ersten Weltkrieg als Erfüllung ihrer Ideale verherrlichten. Was aber von den kritischen Anhängern der Jugendbewegung (z.B. von Walter Benjamin4) als katastrophale Enttäuschung empfunden wurde, wird von Jünger als Zukunftsversprechen vorgeführt. Als "Heroischer Realist" 5 versöhnt er sich vorbehaltlos mit der Zerstörung des Individuums: "Seine Kampfkraft ist kein individueller, sondern ein funktionaler Wert; man fällt nicht mehr, sondern man fällt aus" 6 . Die Liquidierung des Individuums wird an dieser Stelle als luzide und praktische Selbsterfahrung präsentiert. Die Denkfigur des "Umschlags", die historisch und philosophisch vom Begriff des Fortschritts abhing, verliert damit ihren Sinn. Im Gegensatz dazu hatte die Revolutionstheorie des jungen Lukäcs, nach der das Proletariat sowohl den Gipfelpunkt der Verdinglichung und des Fetischismus der bürgerlichen Gesellschaft wie den Punkt ihrer Bewußtwerdung und praktischen Überwindung darstellte, noch auf dem Boden der philosophischen Tradition argumentiert. Lukäcs unterstreicht, daß die praktische Destruktion des Fetischcharakters der Ware Luzidität hervorInnerhalb der italienischen Kultur findet eine analoge Verkehrung unter den Auspizien des "täglichen Heroismus" statt, den F.T. Marinetti schon im Gründungsmanifest des Futurismus 0909) verlangt hatte und der später ebenfalls im Faschismus die "Erfüllung seines Minimalprogrammes" begrüßen durfte. VgL den Brief von Waller Benjamin an Gustav Wyneken vom 9. März 1915, in W. Benjamin, Briefe, Frankfurt a .M. 1966, Bd. 1, S. 120 ff. E. jünger, "Der Arbeiter", S. 41, 86 u .ö. Ebd., S. 115.

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bringt, sie ist "die Perspektive der Enthüllung jeder Form der Mystifizierung". Das "volle Verständnis" (Lukäcs) des Fetischcharakters koinzidiert so mit seiner praktischen Aufbebung und umgekehrt ist die praktische Aufhebung Voraussetzung der Luzidität. Marx' berühmte elfte These über Feuerbach meint daher keine Absage an die philosophische Spekulation schlechthin, die vielmehr soweit vorangetrieben werden muß, daß sie auf Widersprüche stößt, die mit theoretischen Mitteln nicht mehr lösbar sind. Diese Dialektik ist in der folgenden Geschichte der sozialistischen Bewegung allerdings statisch geworden: der Fehlschlag der Revolution blokkierte das "volle Verständnis" des Fetischcharakters und in Abwesenheit philosophischer Luzidität konnte umgekehrt die praktische Destruktion der Verdinglichung nicht gelingen. Zur Überwindung dieser Blockierung erklärt Jünger die Luzidität zum "Kennzeichen der Tätigkeit des Arbeiters", also zu dem der entfremdeten Arbeit selber. Daß die Arbeit als Erfüllung revolutionärer Hoffnungen erscheint, läßt bei Jünger einen ob j e kt i v e n Zynismus vermuten: "Der Lebensraum gewinnt an Eindeutigkeit, an Selbstverständlichkeit, gleichzeitig wächst die Naivität, die Unschuld, mit der man sich in diesem Raume bewegt. Hier aber verbirgt sich der Schlüssel zu einer anderen Welt"7 . Jünger ersetzt Lukäcs' Perspektive der praktischen Destruktion der Verdinglichung durch die Perspektive einer Gesellschaft, in der Fetischcharakter, Verdinglichung und Entfremdung vollkommen evident und unbestritten sind, aber nicht überwunden, sondern naturalisiert. Die Luzidität, das traditionelle Gegenstück zur Entfremdung, gerät in Jüngers De nken zur Luzidität der Entfremdung selbst. IV.

Schon in der deutschen idealistischen Tradition waren Verdinglichung und Natur korrelierte und dennoch entgegengesetzte Te rmini. jünger ignoriert jedoch die polemischen Implikationen dieser Verbindung und damit auch die der Begriffe von Vernunft und Freiheit im allgemeinen. Von Kant bis Marx beruhten diese Begriffe auf einer Vorstellung von Natur als naturalisierter Vernunft. Als Kant die "Kausalität der Freiheit" strikt von der "Kausalität der Natur" trennteH, wollte er damit einen Teil der natürlichen Sphäre dem Zugriff des intelle ktuellen Mechanismus entziehen: die Arbeit konnte nicht die gesamte Natur beherrschen. Auf de r ande re n Seite, außerhalb der Subjektivität, wurde die transze ndente (nicht transzendentale) Natur, das berühmte "Ding an sich", für Kant ein fetischistischer Begriff. Erst die "Union" dieser beiden Naturen in der Idee des "höchsten Guts" 9 Ebd., S. 142. I. Kant, Kritik der re inen Vernunft, B 433 ff. Ebd ., 8 . 838.

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erzeugte jene emphatische "dritte Natur" als naturalisierte Vernunft. Hege! hat diese Konstruktion wenig später durch seinen Begriff des "absoluten Geistes" liquidiert. Marx' Kritik am Begriff des absoluten Geistes als eines wiederum fetischistischen Terminus wurde im Namen einer zukünftigen Naturalisierung gesellschaftlicher Vernunft vorgetragen. In dieser Hinsicht läßt sich bei Marx' Hegel-Kritik von einer Rückkehr zu Kant sprechen: ..Also die Natur ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur" 10 . Diese "Union" wurde dabei nicht verstanden als Rückfall in eine archaische Einheit mit der Natur, sondern als ihre zukünftige Wiedergeburt. Jünger unterschreibt diesen methodischen Aufschub der Befreiung nicht, er bekämpft ihn vielmehr als Fehlschlag und geheimen Verzicht. Die entfremdete Arbeit stellt für ihn bereits die Befreiung dar. Aber war nicht die theoretische und praktische Anstrengung der idealistischen Philosophie um einen historisch nicht begrenzbaren Aufschub der Befreiung von Entfremdung schon ihrerseits eine Ideologie der Arbeit? Bei Kant wie bei Marx hatte die Arbeit c.ie Differenz zwischen dem gegenwärtigen Zustand der Entfremdung und der Utopie in Form einer tangentialen Annäherung zu überbrücken. Jüngers Revolte erscheint in dieser Perspektive als doppelt sinnlos: er attackiert im Namen der Arbeit eine· Denktradition, die bereits eine Ideologie der Arbeit war und identifiziert zugleich die Selbstentäußerung in der Arbeit mit der Selbsterfüllung. Der Begriff der Arbeit als einer unendlichen Anstrengung hatte in Kants Ethik eine zentrale Stellung eingenommen. Sie fand unter der Überwachung der "Ideen als regulativer Prinzipien" als stets fehlschlagender Versuch der Erfüllung des Moralgesetzes statt. Von Kant an kreiste die gesamte idealistische Philosophie um die Bestimmung der Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Abstraktion, in Kants Worten zwischen "Reproduktivität" und "Spontaneität". Die Notwendigkeit der Abstraktion, sich gegenüber der Sinnlichkeit zu legitimieren, begründete den Zwang zur Arbeit. Zugleich kommt der Doppelcharakter der Arbeit in dieser Relation zum Ausdruck. Von Kant bis Jünger ist die Arbeit demnach im Mittelpunkt der philosophischen Reflexion geblieben, aber sie hat ihren Sinn verändert. Um sich vor der Sinnlichkeit zu legitimieren, muß die Abstraktion produktiv werden, was Kant in seinem Begriff der "produktiven Einbildungskraft" 11 exakt registrierte. Zugleich aber hing die Abstraktion von der Sinnlichkeit ab; es kann keine Abstraktion geben ohne ein sinnfälliges Material, das ihr als Ausgangspunkt zugrundeläge und das erst in der Abstraktion produktiv negiert 10

Engels, 11

K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844, in: K. Marx I F. Werke, Ergänzungsband l , Berlin 1968, S. 538. /.

Kant,

Kritik der reinen Vernunft, B 152.

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würde. Die Negation selber verweist mit anderen Worten ständig auf ihr sinnliches Substrat. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses wird Kants Übersetzung der reproduktiven Termini der rationalistischen Tradition in die produktiven Kategorien des Idealismus verständlich. Die Verbindung zwischen Kants Begriff der "produktiven Einbildungskraft" und dem marxistischen der "abstrakten Arbeit" läßt sich daher auch als Verbindung zwischen Verdinglichung und Subjektivierung interpretieren: indem die Subjektivität sich selbst als absolute Produktivität setzt, entleert und vergleichgültigt sie ein sinnliches Material, von dem sie als Produktivität dennoch abhängt. Die produktive Abstraktion evoziert und negiert zugleich ein fetischistisches Material. Bevor wir auf die Verwandlung dieser stagnierenden Dialektik im Denken Jüngers zurückkommen, ist in unserer knappen Darstellung des Arbeitsbegriffes in der philosophischen Tradition noch ein Reflexionsschritt nachzutragen. Auch in Hegels "Phänomenologie" spielt die Arbeit eine Schlüsselrolle: "Das Nichts als Nichts des Diesen, bewahrt die Unmittelbarkeit auf und ist selbst sinnlich, aber eine allgemeine Unmittelbarkeit" 12 . Der Begriff der Arbeit ist in Hegels Begriff des Nichts eingegangen, es ist weder leere Abstraktion des "Diesen", des sinnlichen Materials, noch unmittelbar selber sinnlich. Das .,aber" im zitierten Satz bedeutet, daß die Sinnlichkeit durch die Arbeit als deren Negation (das Nichts) eine Verwandlung erfährt: sie wird "allgemein". Jünger bliebe demgegenüber beim "sinnlichen Nichts" als solchem, ohne das folgende "aber", stehen. Das Nichts verliert auf diese Weise seine Kraft der produktiven Negation und gerinnt zu einer bloßen Widerspiegelung des fetischistischen Materials. Als Marx schrieb: "Es geht kein Atom Naturstoff in die Wertgegenständlichkeit ein" 13 , - was sich in Hegels Worten wiedergeben ließe als: das Nichts enthält kein Atom des Diesen - hatte er bemerkt, daß Nichts und Dieses als reines Gegensatzpaar austauschbar geworden waren. Genau diese Vertauschbarkeit erleichtert Jünger die Naturalisierung des Nichts; aber Hegels "sinnliches Nichts" kann nur auf positivistische Weise in Natur zurückgeführt werden. Auf diese Weise erklärt sich auch Jüngers redundante und schwülstige Sprache: die naturalisierte Negativität ist ohne Spannung. Für Jünger sind Erfahrung und Arbeit nicht produktive Negation sinnlicher Gegebenheiten in ihrer Unmittelbarkeit, sondern die Negation ist im Gegenteil - ein Umschlag, der in Hegels "sinnlichem Nichts" und in Kants oder Fichtes "intellektueller Anschauung" insgeheim angelegt war - selbst schon sinnlich. Der Erwerb von Konkretion durch diese reine Negation erscheint Jünger als "Schlüssel zu einer anderen Welt". Hartnäckig nimmt er Kant genau dort wörtlich, wo dessen Formulierung, wie z.B. die der 12

G. W.F. Hege/, Phänomenologie des Geistes, Ausg. Hoffmeister, S. 90.

13

K. Marx, Das Kapital, Bd. I, in: K. Marx I F. Engels, Werke, Bd. XXIII, Berlin

1956,

s. 62.

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"intellektuellen Anschauung", die ein Loch in der "Deduktion" der reinen Verstandesbegriffe zu stopfen hat, metaphorisch eine theoretische Schwierigkeit zu verdecken hoffte. Jünger insistiert gerade auf den Verlegenheitslösungen der idealistischen Philosophie.

V. In Marx' Theorie war die sinnliche Erscheinung als Gegenpol des abstrakten Wertes existierende Negativität, sie repräsentierte die Konkretheit der Abstraktion und war zugleich von einer unbestreitbaren Positivität: "In der gewöhnlichen, materiellen Industrie haben wir unter der Form sinnlicher, fremder, nützlicher Gegenstände, unter der Form der Entfremdung, die vergegenständlichten Wesenskräfte des Menschen vor uns" 14 • Jüngers Begriff des Arbeiters als "organischer Konstruktion"15 beruht auf dieser Positivität16. Was Marx als "industrielle Pathologie" beschrieben hatte, verwandelt sich bei Jünger in das "heroische Bewußtsein, den eigenen Körper als reines Instrument zu behandeln" 17 . Diese "Totale Mobilmachung" (so Jünger schon 193016) definiert die "Gestalt" des Arbeiters. Für Marx waren die "Kräfte und Fähigkeiten des Menschen vom objektiven Organismus der Maschinerie konsumiert" worden 19 , für Jünger ist der Arbeiter selbst "Konstruktion" geworden. Was Marx als "Kasernendisziplin" 20 , als "industrielles Massaker", als "permanentes Opfertest" denunziert hatte, wird von Jünger positivistisch bejubelt: Arbeit und Schlacht, Arbeiter und Soldat sind für ihn identisch und die einzig verbleibende Sprachform ist die von Befehl und Gehorsam, denn "das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert wird und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind" 21 . Heideggers Bemühung um eine Destruktion von Subjektivität im Namen eines reinen "Seins", ein Terminus, der auch im "Arbeiter" aufgenommen worden ist, folgt demselben Denkmuster mit denselben politischen Implikationen. Im Aufsatz über die "Überwindung der Metaphysik", der zwischen 14

K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844, S. 542.

15 E. jünger, Der Arbeiter, S. 123, 120 u. ö. 16 Jünger selbst hat die Grundlage des folgenden Vergleiches mit dem Marxis-

mus folgendermaßen formuliert: "Ich möchte eben auch vermeiden, als Antimarxist präsentiert zu werden -gewiß passe ich nicht in Marxens System, wohl aber er in das meinige" (Aus der Korrespondenz zum Arbeite r, S. 391). 17 E. jünger, Der Arbeiter, S. 116. 18 Vgl. E. jünger, Die Totale Mobilmachung, Berlin 1930; im .Arbeiter" hat Jünger diesen Ausdruck mehrfach aufgegriffen, vgl. S. 44, 49, 75 u .ö . 19 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 596. 20 Ebd., S. 447. 21 E. jünger, Der Arbeiter, S. 78.

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1936 und 1946 entstanden ist, beruft sich Heidegger auf den "Arbeiter" und fährt dann fort: "Das arbeitende Tier ist dem Taumel seiner Gernächte überlassen, damit es sich selbst zerreiße und in das nichtige Nichts vernichte" 22 . Die Naturalisierung der Negativität hat in der Orgie des "Taumels der Gemächte" ihren Gipfelpunkt erreicht. Die Selbstzerstörung in der Arbeit, begriffen in extremer Gegenposition zu Hegels "Aufhebung der Unmittelbarkeit", erscheint hier als unwidersprechliche, weil immer schon gewünschte, Selbsterfüllung23 . Marx hatte die Auffassung vertreten, daß im Stand der "reellen Subsumption der Arbeit unter das Kapital" die Produktionsmittel in einem solchen Grad ihrer kapitalistischen Verwertung adäquat geworden waren, daß sie als materielle Existenz des Kapitals erscheinen konnten 24 . Damit verließ das Kapital seine ursprüngliche Maxime, "kein Atom Naturstoff" zu enthalten, es war nicht mehr ein Prinzip der Ausbeutung, sondern eines der Verkörperung. Der Widerspruch zwischen den Produktionsmitteln und ihrem kapitalistischen Einsatz drohte also in dem Augenblick zu verschwinden, in dem das Kapital in die Struktur der Maschinerie einging. Marx' These von der "Wiederaneignung der entfremdeten Wesenskräfte" des Arbeiters wurde im Namen einer zukünftigen Renaturalisierung des "giant body of society" (Marx) vorgetragen. Erst auf diesem Hinter"grund werden seine langen Überlegungen zur Überwindung der Trennung zwischen Arbeit und Freizeit verständlich 25 . Für Jünger sind derartige Reflexionen nur ein vergeblicher Aufschub; Arbeit und Freizeit sind schon heute ununterscheidbar26 , denn die "Wiederaneignung der entfremdeten Wesenkräfte" existiert ihm zufolge bereits im Abenteuer der Entfremdung. Jünger stützt sich an dieser Stelle erneut positivistisch auf Formulierungen, die von Marx polemisch intendiert waren: "dies capital fixe being man himself'm, schrieb Marx in der eigentümlichen Mischung von Englisch, Französisch und Deutsch seiner letzten Jahre . Dieser Fetischismus der "powerful effectiveness" (Marx) kapitalistischer Gesellschaften ist ganz nach Jüngers Geschmack. Für ihn ist es evident, daß der Augenblick, in dem die KonzenM. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Teil I, Pfullingen 1967, S. 65. Massimo Cacciari hat Heideggers Jünger-Rezeption neuerdings einen kurzen Aufsatz gewidmet (Heidegger e Jünger, in: Studi germanici, NS, XXI/ XXII 1983/ 84, S. 291-302), in dem er richtig erkennt, daß Heidegger versucht hat, Jüngers These an Radikalität zu überbieten. Zugleich aber macht er sich beide Positionen vorbehaltlos zu eigen und steigert seine eigene theoretische Verwirrung noch dadurch, daß er Jüngers Ansichten von vornherein in Heideggers Vokabular referiert (vgl. z.B. S. 294). 24 Vgl. K. Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 532 f. 25 Vgl. K. Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, Moskau 1939/ 40, S. 599 ff. 26 Vgl. E. jünger, Der Arbeiter, S. 95. 27 K. Marx, Grundrisse, S. 599. 22

23

.Der Arbeiter" von Ernst Jünger

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tration der Produktionsmittel und der private Charakter der Arbeit nicht mehr miteinander vereinbar sind, nicht derjenige der Revolution ist, sondern der der endgültigen Verinnerlichung der Verdinglichung. Auch Marx' These, daß das Proletariat vom Kapital selber organisiert und geschult wird, taucht positivistisch gewendet bei Jünger wieder auf. Für ihn ist es klar, daß der Arbeiter von der Maschine eingesetzt wird statt umgekehrt, denn diese Verwendung findet "organisch", d .h. unbewußt, statt. Spuren dieser positivistischen Wende lassen sich jedoch bereits im Denken von Marx selbst anführen. Auf der einen Seite stellte er dar, dag im Stand der "reellen Subsumtion" die Maschinerie nicht mehr von ihrem kapitalistischen Gebrauch unterschieden werden kann und daher zugleich kein Subjekt existiert, daß sich revolutionär dem Kapital als "automatischem Subjekt" 2H entgegenstellen ließe. Zugleich aber, um revolutionäre Hoffnungen nicht aufgeben zu müssen, erklärte er die "reelle Subsumtion" zu einer "bloßen Hülle", unter der sich "in letzter Instanz" der Fortschritt der Menschheit durch Arbeit verberge. Marx' Theorie wollte zugleich die der kapitalistischen Gesellschaft wie die ihrer Überwindung sein, ohne zu bemerken, daß diese beiden Intentionen unvereinbar ge worden waren 29 Durch die "absolute Arbeit" vertauscht Jünger die Abwesenheit von Subjektivität im kapitalistischen Produktionsprozeß in das Abenteuer dieser Abwesenheit. Dieses Residuum an Erfahmng, das der bürgerliche AntiBürger gegen den nivellierenden Charakter von Marx' "abstrakter Arbeit" aufbietet, ist vielleicht sein letztes Geheimnis. VI.

Ein kurzer Rückblick auf Kant kann dazu beitragen, die "positivistische Wende" transzendentaler Begriffe bei Jünger etwas näher zu erläutern. Kants Transzendentalsubjekt war für sich selbst leer, es hatte keine Erfahrung. Kant beschrieb es als "dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, = X"30 Das Transzendentalsubjekt konnte nur unter der Bedingung Erfahrung organisieren, strukturieren und ermöglichen, daß es selbst nicht erfahrbar war; um sich zu konkretisieren, mußte es sich von sich selbst entfremden und seine Transzendentalität aufgeben. Das Transzendentalsubjekt, fährt Kant fort, ist ein Subjekt, "welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können, um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdre hen, indem wir uns seine r Vorstellung jederzeit schon be-

K. Marx, Das Kapital, Bd. l, S. 169. Vgl. hierzu St. Breuer, Die Krise der Revolutio nstheorie, Frankfurt a.M. 1977; S. 43 ff. 30 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 346. ZH

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dienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen31 . Für Jünger dagegen ist das transzendentale Subjekt ebenso wie Hegels "Nichts" und Marx' "abstrakte Arbeit" selber schon konkret. Kants "transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" enthielt implizit ein Element ohnmächtiger Wut: die "reine Apperzeption" des "Ich denke" war für sich selbst stumm und Kants Problem hatte darin bestanden, diesen Punkt absoluter, aber leerer Selbstidentität in sprechende Vermittlungsprozesse aufzulösen, ohne ihn dabei zu verlieren. Kant mußte der stummen Macht transzendentaler Identität entgehen, um seine Sprache zu finden. Die Wut bestand in diesem Prozeß in der obsessiven Wiederholung des Befehls: "Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können" 32 • Kants Philosophie versucht diesen Selbstbefehl transzendentaler Identität aufzulösen, in diesem Sinn ist sie therapeutisch, aber sie muß ihn zugleich ständig wiederholen. Kants Sprache lehnt sich in repetitiver Weise gegen die Repetition auf, sie flieht vor dem Abbruch von Vermittlungsprozessen durch den Selbstbefehl und bereitet ihn doch vor. Was für Kant eine unlösbare Verlegenheit darstellte, wird für Jünger zum Abenteuer. In der erregten, obsessiven Repetition des "Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, = X" strebte schon Kants Transzendentalsubjekt nach seiner Konkretisierung durch die Selbstverdinglichung. Jünger verwandelt diese verborgene Tendenz der idealistischen Philosophie in Methode. Das transzendentale Subjekt konnte überall sein, weil es nirgends war. Seine Konkretheit hing ab von der Dauer jenes positivistischen Rauschzustandes, der gegen jede äußere Wahrnehmung ("Apprehension") die Erfahrung der Abwesenheit von Erfahrung ausspielt.

31

Ebd.

32

Ebd., B 131 .

Die besondere Form der Partei von Faschismus und Nationalsozialismus Von Paolo Pombeni

Die Natur der Regime, die zwischen den Weltkriegen in Europa errichtet wurden und die erklärten, sich in groben Zügen an dem von Mussolini geleiteten Experiment zu inspirieren (und die deshalb kollektiv unter dem Namen dieses letzten zusammengefaßt werden), ist weiterhin eine offene Frage. Wie sehr auch jemand ab und an Erstaunen oder Langeweile heucheln mag angesichts von "noch mehr Schriften über den Faschismus", so muß man sich doch damit abfinden, daß eine ungelöste Frage die Fortsetzung der Untersuchungen verlangt. Wenn ich als Ausgangspunkt für diese Untersuchung den Charakter der Einparteiensystemen vorschlage, den die Paschismen historisch gesehen als erste annahmen, ist es nicht meine Absicht, die Existenz anderer Interpretationsschlüssel abzustreiten: es scheint mir nur, daß man auf diesem Wege unser Ziel erreichen kann 1 . Hier werde ich z. T. Thematiken anschneiden, deren detaillierte Analyse ich schon ausgearbeitet habe. Vgl. P. Pombeni, Demagogia e tirannide. Uno studio sulla forma partito del fascismo, Bologna 1983. Es wird mir hier unmöglich sein - und deshalb habe ich absichtlich alle möglichen Hinweise gestrichen - , auf die Frage des sowjetischen Regimes einzugehen, das normalerweise aufgrund seines Einparteiensystems den faschistischen Regimen "assimiliert" wird. Ich muß sagen, daß mir - auch wenn ich zugegebenermaßen kein Kenner des Sowjetregimes bin - die Ähnlichkeit von einem konstitutionellen Gesichtspunkt aus gesehen, diskutabel scheint. Theoretisch ist die UDSSR eine "Diktatur des Proletariats" und nicht der Partei, auch wenn dann in der Praxis die Vertretung des Proletariats von der Partei monopolisiert wurde. Aber es handelt sich eben meiner Meinung nach um eine Erscheinung ohne konstitutionelle Grundlage, da die Gesamtheit der Kräfte und Mittel der Partei weder vorgesehen noch geregelt ist und da genaugenommen keine gesetzlich vorgeschriebene Reserve für diesen Organismus existiert. Es existiert also eine Situation, die zum Beispiel dem gegenwärtigen politischen System Italiens sehr ähnelt, wo die Parteien tatsächlich viele Funktionen und große Macht ausüben, die dennoch rechtsmäßig öffentlichen Rechtssubjekten gehören mit denen sie keine rechtlichen Verbindungen haben. Die Besonderheit der Faschismen liegt aber im Gegenteil im Versuch, in die Verfassung der von ihnen beherrschten Länder das Prinzip der Anerkennung, der öffentlichen Bedeutung und der Entscheidungsgewalt der Partei einzufügen, wobei allerdings die Partei eine formelle, öffentliche Rechtsfunktion und keine tatsächliche ausübt.

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Natürlich muß zuerst das Gebiet abgesteckt werden. Ich möchte hier die Verfassungsstruktur der Organisation der Politik untersuchen, welcher die Machtergreifung durch Mussolini und Hitler zum Durchbruch verhalf: natürlich mit den Augen eines Verfassungshistorikers und nicht eines Juristen 2 . Dies bedeutet, aus der Rekonstruktion ein Reihe von Hinweisen auf Fragen der materiellen Geschichte zu streichen (deren Wichtigkeit aber keineswegs bestritten wird). Nur ist für diese Analyse die Erforschung der persönlichen Motivierungen der einzelnen Akteure nicht immer relevant, so wie eine Lektüre von Texten nicht relevant ist, die sich nur mit deren scheinbarem Sinn befaßt, oder auch nur mit der Bedeutung, die der (angeblichen) Intention des Autors entspricht, ohne den institutionellen Grund und den Boden der Bedeutungen in Betracht zu ziehen, auf dem sie sich aufstellen 3. So ist es dann auch im Rahmen eines kurzen Aufsatzes nötig, auf einen darlegenden Schnitt zu verzichten, mit einer unausweichlichen "Verschärfung" der Analyse, welche von der Organisation der Daten herrührt, die nicht analytisch angeführt werden, und von der Abflachung der Bewertung, die den daraus entwachsenden Verlust der Wahrnehmung der Entwicklungszeiten der Phänomene mit sich bringt. Es handelt sich hier um einen äußerst wichtigen Verlust, da ein Charakteristikum der beiden Regime gerade - besonders des Faschismus - das zeitliche Improvisieren der verschiedenen Einrichtungen war, ein "Kontingenzcharakter" vieler Taten, die auch auf der institutionellen Ebene sehr wichtig waren. Eine Definition des Begriffs "Parteiform" 4 ist hier a priori notwendig. Bekanntermaßen unterscheidet sich die Verfassungsgeschichte sowohl von der Rechtsgeschichte als auch von der Geschichte der politischen Institutionen. Ausmaß und Methodologie lassen sich eher aus den Arbeiten einiger "Lehrer" erschließen als aus einer abgeschlossenen und systematischen methodologischen Organisation. Hier einige Hinweise für den Leser, der auf diesem Gebiet nicht gut bewandert ist. 0 . Hintze, Staat und Verfassung. Gesmmelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. von G. Oestreich, 3. Aufl., Göttingen 1970; The historical Essays of Otto Hintze, hrsg. von F. Gilbert, New York 1975, (Vgl. besonders die Einleitung von F. Gilbert und P. Schiera, Otto Hintze, Napoli 1974); 0. Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968; R. Kose/leck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg i. Br. I München 1959, die italienische Ausgabe (Critica illuminista e crisi della societä borghese, Bologna 1972) enthält eine wichtige Einleitung von P. Schiera. Um es in der Form einer kürzlich entfachten Polemik auszudrücken, bin ich ein "Funktionalist" und kein .. Intentionalist". Vgl. T Mason, Intention and Explanation: a current controversy about the interpretations of National Socialism, in: Der Führerstaat: Mythos und Realität, hrsg. von G. Hirschfeld I L. Kettenacker, Stuttgart 1981, S. 23-41. Hier handelt es sich keineswegs um einen neuen Ausdruck: er ist schon in einem Aufsatz von Bluntschli (1869) anzutreffen und auch in Minghettis Aufsatz über die Parteien (1882); vgl. dazu P. Pombeni, Trasformismo e questione del partito. La politica italiana e il suo rapporto con Ia vicenda costituzionale europea, in: La trasformazione politica nell'Europa liberale (1870-1890), Bologna 1986, S. 215-254. Ein

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Mit diesem Begriff wird versucht, die "normative" Bedeutung (also die Fähigkeit, auf eine soziale Organisation regulierend einzuwirken) einer "Institution" - so wie der Partei - zu bestimmen5 : also keine V e r e i n i g u n g wo die Individualität der beitretenden Personen beibehalten wird und wo das Ziel die Begrenzung der von den Einzelnen zu fordernden Leistungen sowie die Grenze der sozialen Verpflichtung ist, sondern eine "Organisation", wo sich die ursprüngliche Bedeutung des Beitritts aufgrund der "personalen" Natur, die sich die Organisation selbst zuschreibt, deutlich verringert hat. Diese genießt daher eine deutlich abgegrenzte Identität hinsichtlich der Willen ihrer Anhänger und also auch die Fähigkeit, sich ihnen als beständige normative Wirklichkeit gegenüberzustellen, die von Mal zu Mal auf die externen Ereignisse reagiert und die mit dem Willen und der Fähigkeit zum Handeln ausgestattet ist, welche konstitutionell an d er e sind als die Taten und Willensäußerungen der physischen Individuen, die das konkrete Instrument ihres Ausdruckes sind. Ohne sich diese Optik zu verinnerlichen, ist es sehr schwierig zu verstehen, daß der "totalitäre" Charakter der faschistischen Parteien nichts anderes ist, als die Verschärfung einer normalen Gegebenheit der zeitgenössischen "Form Partei" und der Anspruch, diese zu "institutionalisieren" 6 . Wenn man sich aber außerhalb diese VJrbedingung stellt, wird der Begriff "totalitär" mit letzten Endes "moralistischen" 7 Eigenschaften verschleiert, und es gelingt dem so abgelenkten Wissenschaftler nicht, die zentrale Bedeutung der "Parteiform" in den faschistischen Verfassungen zu erkennen. erster Versuch zur Einordnung der Thematik findet sich auch in ders., lntroduzione alla storia dei partiti politici, 2. Aufl. Bologna 1990. Was den Unterschied zwischen Institution und Vereinigung betrifft und noch allgemeiner das Konzept der Institution, vgl. M . Hauriou, Teoria della istituzione e della fondazione (saggio di vitalismo sociale ), 1925, in: Teoria dell'istituzione e della fondazione, Milano 1967, S. 3-46. 6 Dieser totalisierende Aspekt der Partei ist schon von dem moderaten Hegelianer Kar! Rosenkranz 1843 äußerst lebendig beschrieben worden; vgl. Gli hegeliani liberali, Bari 1974, S. 85-116. Die Einführung des Ausdruckes "totalitaristisch" als politisches Klassifikationskonzept geht zurück auf den berühmten Band von H. Arendt, The Origins of Totalitarianism, 3. Auf!. , New York 1966. Eine vollständige Geschichte des Konzepts in den faschistischen Regimen und in der darauffolgende n Debatte der sozialpolitischen Wissenschaften liefert K.D. Bracher, Der umstritte ne Totalitarismus: Erfahrungen und Aktualität, in: Zeitgesc hichtliche Kontroversen, 5. Auf! ., München 1984, S. 34-62 (deutsche Version des Artikels zum Stichwort für: Dictionary of the History of Ideas, Bd. 5, New York 1973, S. 406-411). Für einen großzügigen Überblick zu diesem "Methodenstreit" vgl. Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse, München 1980. Zwei italienische Beiträge, die diese Debatte miteinbeziehen, sind: G. Corni, Fascismo, totalitarismo, democrazia nell'opera di Bracher, in: Rivista di Storia contemporanea, III (1978), S. 386-397; D. Conte, Fascismo, Stato e Rivoluzione nella "Neue Sozialgeschichte", in : Studi Storici, XX (1979), S. 75-89.

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Die Untersuchung der Parteifrage in den faschistischen Regimen muß tatsächlich von der Existenz der "Partei" vor der Machtübernahme ausgehen; als Institution, die in ein Mehrparteiensystem eingebunden und also auch dementsprechend kondizioniert ist: der Anspruch der faschistischen Parteien, sich in der "Essenz" von den anderen zu unterscheiden, ist rein instrumentale Polemik. In der politischen Umgestaltung um die jahrhundertwende stellt das Aufkommen der "Parteien" als politische Hauptdarsteller - meiner Meinung nach - eine der wichtigsten Gegebenheiten dar. Es bezeugt das Ende des Dualismus der politischen Verhältnisse zu dem es nach den Religionskriegen der Neuzeit gekommen war und die an die zersetzende Präsenz der (religiösen) "Parteien" innerhalb der politischen Sphäre des Souveräns gebunden waren. Wie man weiß - ich beschränke mich hier darauf, weithin bekannte Thesen zusammenzufassen8 -, war der Ausweg die Reduktion der poltischen Hauptdarsteller auf das Paar Individuum-Souverän und de facto das Verbot der "Meinung" als sozial institutionalisierte Meinung. Ich möchte daran erinnern, daß die französische Revolution selbst stolz wiederholen wird, daß "zwischen dem Bürger und dem Staat nichts ist" (siehe Le Chapelier). Es ist aber genauso wahr, daß es über das Zugeständnis, daß die Meinung legitimerweise eine politische Präsenz ausüben kann (sich aber nicht organisieren oder institutionalisieren kann), zu einem progressiven Wachstum jener institutionalisierten Meinungen gekommen ist, die - vereinfacht gesagt - die liberalen und konservativen Parteien des frühen 19. Jahrhundert sind9 . Diesen Parteien, die sich auf jeden Fall für legitim hielten, standen auch (aus verschiedenen historischen Gründen, die hier nicht untersucht zu werden brauchen) Meinungen gegenüber, die zu antithetischen Zwecken im bezug auf die politische Gesellschaft organisiert worden waren. Diese "subversiven" Gruppen instituionalisierten ihre eigene Meinung, d.h. sie wandelten sich dreifach: 1. sie wurden hinsichtlich der Anhängerschaft der in ihr Vereinigten etwas anderes, um so entscheiden zu können, Veräter zu bestrafen, einen einzigen "Glauben" festzulegen, usw.; 2. sie statteten sich mit Instrumenten zum konkreten Handeln aus und nahmen so meist das Modell der militärischen Organisationen, kombiniert mit dem der religiösen Institutionen, an (ein Modell, das die Jesuiten schon früh erprobt hatten), da es das Verhältnis Aktion/Gehorsam am besten zu garantieren schien; 3. sie strukturierten sich in Form homogener Mikrogesellschaften, die in ihrem Über die "Ablehnung" der Parteien als zersetzendes Element der bürgerlichen Gesellschaft in der Neuzeit (eine These die ihren Höhepunkt in Hobbes erreichte), verweise ich auf Brunner, Hintze und KoseHeck (Anm. 1) und die zahlreichen Hinweise im Werk von Carl Schmitt (siehe die umfassende Darstellung von P .P. Portinaro, La crisi dello jus publicum europaeum, Milano 1982). 9 Hierzu vgl. P. Pombeni, Trasformismo e questione del partito.

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Inneren die Umwandlung des Staates vorwegnahmen, welche sie sich zum Ziel gesetzt hatten. Diese Umgestaltung läßt sich zum Beispiel schon in Italien an den Organisationen erkennen, die sich an Mazzini inspirierten. In großem Umfang wurden sie dann mit dem Entstehen der sozialistischen Parteien und besonders der deutschen Sozialdemokratie deutlich. Es würde reichen die mehr als 500 Seiten zu lesen, die der Franzose Edgard Milhaud 1903 der Analyse der SPD widmete, um zu verstehen, was die "Organisation" hinsichtlich der Fähigkeit zum Widerstand und zur sozialen Ansiedlung bedeutee0.

Das Aufkommen dieser neuen Realität führte unter anderem auch zu einer tiefen Krise jenes Schemas der direkten Beziehung Individuum/Souverän, welches auf dem für die Errichtung des modernen Staates typischen Konzept des Schutzes beruhte. In der Krise um die Jahrhundertwende kam eine kollektive Angst seitens derjenigen Untertanen auf, die als einfache "Individuen" nicht durch den Filter einer Organisation mit der politischen Macht verhandeln konnten 11 . Typisch für diese Periode ist die Umwandlung einer so fundamentalen Einrichtung der Moderne wie des Vertrages (der auf einem Verhältnis zwischen Individualitäten basiert und von ihren Willen frei reguliert war). Diese Umwandlung kommt durch die progressive Anerkennung des atypischen Charakters des Arbeitsvertrages zustande, wo die Freiheit zwischen den Parteien relativ wird und ein Subjekt, der Arbeitnehmer, dazu tendiert, nicht mehr eine Individualität zu sein, sondern eine soziale Figur, die von einer Einrichtung vertreten wird (von der Gewerkschaft). Gleichzeitig behauptet sich der sogenannte "welfare state" als Form der Umverteilung des Reichtums, die der Staat zur Kontrolle der politisch organisierten Subjekte durchgeführt hat12 . Die ideologische Abhängigkeit der Faschismen von den Bewegungen der Rechten, die im Kontext der sogennanten "Krise des fin de siede" agierten, ist schon mehrfach betont worden 13 . Dagegen scheint man nicht sehr auf

Vgl. E. Milhaud, La democratie socialiste allemande, Paris 1903. Eine Analyse dieser Aspekte findet sich in P. Pombeni, Nazione, costituzione (materiale), partiti nell'Europa del prima Novecento, in: Orianesimo e Stato nazionale, Ravenna 1985, S. 19-54. 12 Vgl. P. Pombeni, Stato, partiti politici, problema della povertä deii'Europa conte mporanea. Linea di analisi storica, in: La pove rtä in ltalia, hrsg. von G . Sarpellon, Milano 1982, S. 503-522. 13 Am bekanntesten sind die Studien von Z. Sternhell (La Droite revolutionnaire 1885-1914, Paris 1978; Ni Droite, ni Gauche, Paris 1983), aber auch der Kritik von L. Rapone, Fascismo: Ne destra, ne sinistra?, in: Studi Storici, XXV (1984), S. 799-820 sollte Beachtung gegeben werden. Für Deutschland ist die These fließend, bis hin zu einer Geschichtsschreibung "from Hitler to Bismarck", wie D. Beales zu recht bemerkt (Vgl. From Hitler to Bismarck: ,Third Reich' and Kaiserreich in recent historiography, in: Historkai Journal, 10

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der Wahrnehmung der neuen Stärke der "sozialistischen Parteiform" als einem der Angelpunkte insistiert zu haben, der die von diesem Schutz 14 "Ausgeschlossenen" dazu brachte, gleichzeitig die Abschaffung der "Parteien" zu reklamieren, um zu der althergebrachten Beziehung Souverän/ Bürger zurückzukehren, sowie die Einrichtung (wie widerspruchsvoll dies auch scheinen mag) analoger Formen des politischen Schutzes auch für sich zu fordern. Wie man leicht erkennen kann, ist dieser Widerspruch sowohl im Faschismus und - wenn auch in gänzlich anderer Form - im Nationalsozialismus präsent. Sie hoben ihn auf, indem sie sich als "Parteien" aber gleichzeitig "gänzlich anderer Natur" erklärten, als alle bisherigen Parteien. Es ist aber meine Überzeugung, daß sie sich nur aufgrund des Kriteriums der Einheitspartei, welches freilich alles andere als banal ist, diversifiziert haben (noch einmal von ätiologischen Wertungen abgesehen). Um den Charakter der "Einzigkeit" ganz zu begreifen, muß man sich einem anderen grundlegenden Aspekt der Legitimierung der Macht zuwenden: demjenigen, der normalerweise als "Konsens" bezeichnet wird . Es handelt sich um eine Kategorie, die Ietzerenendes gerade die Erforschung der Paschismen banalisiert hat, indem sie sie zu oft auf nicht nachprüfbare psychologische und konstitutionell irrelevante Inhalte reduzierte. Das Akzeptieren eines politischen Regimes von Seiten seiner Untertanen ist in Wirklichkeit etwas anderes als der Grad an psychologischer Sympathie, die sie individuell dem "Souverän" erweisen. Daß der Untertan in seinem Inneren ein psychologisch-moralisches Element verspürt, welches ihn zur Unterstützung "seines" politischen Systems resp. zur Identifikation damit veranlaßt, ist das idealisierte Bild, welches jedes System von den Bindungen seiner Untertanen zu verbreiten sucht. In Wirklichkeit kann dieses Element - abgesehen von seiner zweifelhaften Überprüfbarkeit - weder verschiedene Zustände im Leben eines Einzelnen beschreiben (der in einem Augenblick Zustimmung und dann Mißfallen über die Macht äußern kann, ohne daß dies eine wirkliche Veränderung seiner Beziehung ihr gegenüber zu bedeuten hätte), noch das Aufeinanderfolgen von "Konsensen" im Laufe des Lebens eines Einzelnen zu verschiedenen Regimen erklären, ohne daß dies auf traumatische Art erklärt werden muß. Es ist exakter von einer "Loyalität" (oder besser von einem externen Verhalten, das rechtlich feststellbar und den Fragen der Souveränität angemessen ist, unwichtig ob in foro coscientiae im "Vertrauen" verankert oder nicht) dem Regime geXXVI [1983], S. 485-497, 999-1020). Diese Diatribe ist äußerst komplex: vgl. auch P. Pombeni, Nazione, costituzione (materiale), partiti nell'Europa del primo Novecento. 14 Hier handelt es sich hauptsächlich um das sogenannte "Kleinbürgertum", das sowohl vom Genuß der sozialen Leistungen (Unterstützung der Armen und daher erniedrigend), als auch des gewerkschaftlichen Schutzes ausgeschlossen war, der intuitiv als abschwächendes Moment in Bezug auf die Legalität erkannt wurde (obwohl um die jahrhundertwende in ganz Europa Gewerkschaftsbewegungen von Angestellten entstanden).

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genüber zu sprechen. Um diese Loyalität wird durch das Innehaben von Zwangsmitteln "geworben", die den "legitimen" Ausschluß derjenigen Kräfte erlauben, welche sich nicht an diese Loyalität anpassen. Es ist evident, daß das Ausmaß der Gewalttätigkeiten, das notwendig ist, um diese Loyalität zu erreichen, sehr hoch ist, wenn die Legitimierung zu ihrer Anwendung niedrig ist 15 . In diesem Zusammenhang geht es also nicht um das Problem des Staates, den "Konsens" im psychologischen Sinn zu erreichen, sondern es geht um das klassische Problem, sich der Loyalität der Untertanen zu versichern. Seit der Revolution der Aufklärung ist es aber nicht mehr möglich, die Pflicht zur Loyalität als einfaches (hobbessches) Postulat zur Verhinderung des "Bürgerkrieges" zu gebieten (auch wenn es in den Paschismen an Hinweisen zu diesen Themen nicht fehlen wird), da die Loyalität inzwischen ein Prädikat der Rationalität geworden ist, ein Konsens, den man zu der Rationalität der politischen Ziele gibt. Daß das Abstrahieren auf die Vernunft, das mit dieser Loyalität verbunden ist, die Frage der Ideologie ins Spiel bringt, ist zweifelsohne eine faszinierende Frage, auf die aber an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Ich möchte hier nur darauf hinweisen, daß diese Loyalität, weil sie eine rationale Handlung in Richtung einer konzeptuellen Abstraktion ist, passende Instrumente zur öffentlichen und rechtlichen Kundgebung finden muß, um deutlich sichtbar zu werden. Es ist unnötig darauf hinzuweisen, daß es der klassische Mechanismus Wahlen/ Vertretung ist, mit dem dies im heutigen Staat erreicht wird. Gerade die Wahlen erwiesen sich als Geburtshelfer der neuen Parteien, die sich nicht etwa als Exponenten allgemeiner Interessen präsentieren, sondern - wenigstens die stärksten und kompaktesten - als Neuorganisation jener bürgerlichen Gesellschaft, welche die Revolution des modernen Staates als nicht organisierbar in institutionalisierte "Teile" auffassen wollte. Es stellte sich also ein alles andere als geringes Problem ein: die heutigen Staaten waren- um es mit Otto Hintze auszudrücken- "Kulturstaaten"16 geworden, obwohl sie rechtlich innerhalb der alten Schemata des absolutistischen, freilich zum Rechtstaat weiterentwickelten Staates organisiert geblieben waren, welcher die Loyalität gleichzeitig als natürliche Frucht der Souveränität und als von der zwingenden und persuasiven Natur des Gesetzes garantierte Frucht voraussetzte. Dies setzte aber ein einziges institutionelles Zentrum voraus, oder eine einzige öffentliche Rechtsperson, also den Staat, dem die Inhaberschaft der 1' Ich entwickle dieses Konzept der Loyalität in Anlehnung an E No/te, Die "herrschenden Klassen" und der Faschismus in Italien, in: Faschismus als soziale Bewegung, Harnburg 1976, S. 185. 16 Vgl. 0. Hintze, Das Verfassungsleben der heutigen Kulturstaaten, in: Gesammelte Abhandlungen, Bd.1, Staat und Verfassung, Göttingen 1962, S. 390-423.

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Souveränität zuerkannt war 17 . In dem Moment, in dem sich die Parteien als Institutionen durchgesetzt hatten, fanden sich alle Bürger - oder wenigstens ein großer Teil - in einem doppelten Sinne als "Untertanen" wieder: auf der einen Seite diejenige dem Staat gegenüber, auf der anderen Seite gegenüber den alten und neuen Institutionen, die aus der Gesellschaft hervorgingen1H All dies hatte nicht geringe Verwirrung gestiftet, vor allem bei der sozialen Klasse des Bürgertums, welche Protagonist der ersten politischen Revolution im Namen des "allgemeinen Interesses" und erster Nutznießer der Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft als Institutionenkomplex gewesen war, sich nun aber als politisch schwaches Subjekt wiederfand; besonders in den Ländern wie Italien und Deutschland, wo sie sich am Ende mit dem Staat identifiziert hatten19 . Diese Gedanken waren in den politischen Reflexionen der hier behandelten Epoche breit vertreten. Ein Gedankengut, daß viele Charakteristika der Transformation perfekt erfaßt hatte, auch wenn es fast nie in der Lage gewesen war, die Analyse mit einer Theorie zur Überwindung der widersprüchlichen Momente in Verbindung zu bringen 20 . Die faschistischen Parteien waren eine direkte Antwort auf die Herausforderung der politischen Krise. Aber am Ende zeigt ihr dramatisches 17 Es war W.E. Albrecht, einer der "Göttinger Sieben" der 1837 das Konzept der Rechtspersönlichkeit des Staates einführte und die darauffolgende Zuschreibung der Souveränität an diese, um so zu verhindern, daß dieses Prädikat dem Fürsten oder dem Volk zufalle: vgl. M. Fioravanti, Giuristi e costituzione politica nell' Ottocento tedesco, Milano 1979, S. 54. 18 Für diese Souveränitätsform gibt es zwei klassische Beispiele: für diejenigen alter Art, die Kirchen (aber dann auch die konfessionellen Gruppen: man denke nur an die englische "non-conformity"); für diejenigen neuer Art, die politischen Parteien oder die Gewerkschaften. Es lassen sich aber auch andere Arten der Souveränität aufzeigen: z.B. die wiederaufkommende nationale Identifizierung (die Iren, um nur den bekanntesten Fall zu nennen, aber auch die Waliser, die "geschichtslosen Nationalitäten" des Habsburger Reiches, usw.). Oder die neue Solidarität der Schichten (das Zusammenleben des Kleinbürgertums in abgetrennten Stadtvierteln; der Gemeinschaftssinn einiger Gewerbe). Es ist klar, daß in diesen Fällen die Phänomene verschwimmen und daß mit großer Vorsicht fortgeschritten werden muß. 19 Dies aufgrund des "jakobinischen" Charakters der nationalen Vereinigungen nicht nur in Italien (wo das Phänomen z.B. sogar durch die Unmöglichkeit, eine einzige Front der Konservativen zu finden, klar ersichtlich wird, genau aufgrund der Bindung dieser mit dem Jakobinerturn der nationalen Revolution: man denke an Bonghi und Sonnina), aber auch in Deutschland, wo L. Gall zu Recht dieses Chara·ktereistikum betonen wollte, indem er Bismarck die Bezeichnung "weißer Revolutionär" zusprach (vgl. L. Ga//, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt I Berlin I Wien 1980). 20 Im Allgemeinen zog man es vor, auf dem Bruch der aufklärerischen "Geometrie" zu bestehen, den diese Veränderungen mit sich brachten. Man denke, was die Parteidoktrin anbelangt, an Ostrogorskis Kritik der poltischen "Maschinerie", welche die freie Wahl zerstöre; an Michels' Kritik der eisernen Gesetze der Oligarchie, die die innere Oemokratie zerstöre; an die Ängste von Mosca und Pareto, usw.

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Scheitern, daß es unmöglich ist, die alte politische Geometrie einfach mit einigen gewagten Operationen oberflächlicher Synthese wieder zusammenzusetzen. Wenn wir tatsächlich vom oben skizzierten Kontext absehen, wird es nie möglich sein, die Faszination zu verstehen, die die Faschisten auf so viele hochgebildete Personen ausübten, von Carl Schmitt bis Vilfredo Pareto, um nur einige Namen zu nennen. Alles Personen, die sich schließlich - wie es Wissenschaftler oft tun - in den angenommenen "historischen Beweis" ihrer Intuitionen und Analysen verliebten, ohne etwas von dem betrügerischen und konfusen Charakter der neuen Experimente zu merken, welcher sich aus dem geringen der intellektuellen und politischen Niveau der faschistischen Führer und leitenden Gruppen ergab. Zweifelsohne waren die faschistischen Parteien eine Antwort auf die oben beschriebenen Krisen. Teilweise waren sie auch auf ideologischer Ebene eine bewußte Antwort, schon allein deshalb, weil ihre "Propaganda" diese Zusammenhänge in einem anderen Maße klarmachte. Dennoch beschränkte sich die Antwort der Paschismen auf eine üble Ideologie, da sie auf der institutionellen Ebene unfähig waren, auf die Organisationsstruktur der politischen Beziehungen einzuwirken. Die erste Antwort auf diese Krisen bestand genau darin, daß sie an die Basis ihrer Regime eine Partei stellten, die gleichzeitig "sozialistisch", aber auch der bürgerlichen Massenmilitanz angemessen war. Die beiden Begriffe stehen nicht in Widerspruch zueinander. An erster Stelle ist zu vermerken, daß die PNF und die NSDAP sich als so z i a I i s t is c h e P a r t e i e n bezeichneten, weil sie als Instrumente zur Besiegung "der Roten" gedacht waren. Sie hatten von ihnen die erforderliche Eigenschaft der organisatorischen Gesamtheit angenommen, d.h. der Fähigkeit im eigenen Inneren eine möglichst komplette soziale Vertretung zu strukturieren, die alle Altersbereiche der Gesellschaft und alle Eingriffsbereiche des Staates umfaßte. Sicherlich handelt es sich nicht um Charakteristika, die diese Parteien sich im Lauf eines Tages aneigneten, aber in beiden Fällen immerhin schnell genug. Das Ziel der Partei als "politische Werkstatt" des Staates wird vom italienischen Faschismus mit der Einführung des Großrates (Januar 1923) erreicht, der als außerstaatliches Instrument entsteht; vom Nationalsozialismus endgültig mit Strasscrs Reform im Jahr 1932 (die aber schon von einer Anzahl Maßnahmen 1928 vorweggenommen wurdeY 1 • 21 Was die Bibliographie der PNF und des italienischen Faschsimus betrifft, verweise ich auf P. Pombent, Demagogia e tirannide sowie auf: Der italienische Faschismus. Probleme und Forschungstendenzen, München 1983. (Abgesehen von den historischen Dokumentarbänden, die im Folgenden erschienen sind und die ich noch im Verlauf dieser Arbeit zitieren werde.) Meine Rekonstruktion des Nationalsozialismus beruht hauptsächlich auf folgenden Texten: H. Scborn, Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der

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In einer Phase, in der die faschistischen Parteien noch in einem Mehrparteiensystem agieren mußten, konnte diese Parteiausformung demonstrieren, daß auch nichtsozialistische Parteien dieselben beträchtlichen Funktionen der Organisation der Entscheidungsverarbeitung und vom "Staat im Staat" ausüben, die typisch für die Sozialisten gewesen war. Eine Untersuchung der Satzungen der PNF von 1923 ergibt deutlich, daß das innere Verfassungsmodell kaum von jenem einer sozialistischen Partei abweicht, bis hin zu der wichtigen Ähnlichkeit keine Ämter persönlicher Natur vorzusehen, sondern die Macht in kollektiven Organen anzusiedeln, angefangen beim Parteikongreß. Außerdem war dies der unvermeidlich Zustand der politischen Kultur der gesamten faschistischen Führung, welcher sich so oder so aus dem Vergleich mit der Organisation der Arbeiterbewegung ergab. Für die NSDAP ist das Modell weniger deutlich. Sie agiert in einem Kontext, in dem die öffentlich-institutionelle Wertigkeit der Parteiform sogar auf der Ebene der konstitutionellen Interpretationen anerkannt ist. Hinzukommt, daß die gültigen Gesetze so manche obligatorische Vorbedingung an die Parteien stellten (die der öffentlichen Eintragungspflicht unterlagen). Aus diesem Grund sind die Satzungen, die zu den gesetzlich vorgeschriebenen Requisiten gehören, mit Vorsicht zu interpretieren22 • Und obwohl sich seit Hitlers Rede vom 27. Februar 1925 die Frage der persönlichen Fundierung der Macht deutlich stellt - das sogenannte Führerprinzip - , erfolgt die Neuordnung im übrigen auf "sozialistische" Weise, also auf der Basis der Kombination Zentralisierung/Vertikalisierung/ Machtpolitik, Frankfurt a. M. 1963; W. Sauer, National Socialism: Totalitarianism or Fascism?, in: The American Historical Review, LXXIII 0968), S. 404-424; H. Mommsen, Nationalsozialismus, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Freiburg I. Br. I Basel I Wien 1968, Bd. 4, S. 695-711; D. Orlow, The History of the Nazi Party, Newton Abbot 1971; R . Ecbterbölter, Das öffentliche Recht im nationalsozialistischen Staat, Stuttgart 1970; W . Mommsen, Das nationalsozialistische Herrschaftssytem, in: Jahrbuch der Universität Düsseldorf, 1970/71, S. 417-429; W. Horn, Führerideologie und Parteiorganisation in der NSDAP, Düsseldorf 1972; AL Unger, The Totalitarian Party, Cambridge 1974; P.D. Stacbura, Nazi Youth in the Weimar Republic, Santa Barbara 1975; P. Hüttenberg, Nationalsozialistische Polykratie, in: Geschichte und Gesellschaft, II, (1976), S. 417-442; Die Nationalsozialisten, hrsg. von R. Mann, Stuttgart 1980; NS-Recht in historischer Perspektive, München 1981 ; Der "Führerstaat": Mythos und Realität; M. Broszat, The Hitler State, London 1981 ; /. Müncb, Gesetze des NS-Staates. Dokumente eines unrechten Systems, München 1982; M. Broszat, Zur Struktur der NS-Massenbewegung, in: Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte, XXXI 0983), S. 52-76; K.D. Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Kölni Berlin 1968; Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945. Eine Bilanz, hrsg. von K.D. Bracher I M. Funke I H.A. jakobsen, Bonn 1983; K. Hildebrand, Das Dritte Reich, München I Wien 1976. 22 Zum Parteirecht des Weimarer Staates vgl. E.R. Huber, Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart 1981. Es muß vermerkt werden, dag in Italien nichts Ähnliches existiert.

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Bürokratisierung, die einer der kritischen Aspekte der Entwicklung der SPD in wilhelminischer Zeit gewesen war. An diesem Punkt stößt man auf eine äußerst interessante Frage. Abgesehen von "eisernen Gesetzen" war das Charakteristikum der sozialistischen Parteien, als - das möchte ich an dieser Stelle betonen - Parteien, die aus der demokratischen Revolution hervorgegangen waren, die Wahl der Führer durch die Basis gewesen. Dieser Mechanismus wird in den faschistischen Parteien relativ schnell blockiert: in der PNF schon durch den Entscheid des Großrates vom 15. Oktober 1923, der die Wahl der politischen Führung von oben durch Mussolini selbst vorsah (ohne die Vermittlung des Direktoriums; als Bestätigungsmacht bei den Wahlen der Provinzsekretäre); in der NSDAP mit den Satzungen von 1926, die Hitler die Macht zur Ernennung und Absetzung der Gauleiter gab, während vom Juli desselben Jahres an die Bezirks- und Ortsgruppenleiter, die bis dahin gewählt waren, der Bestätigung der jeweiligen Gauleiter unterstellt wurden. Die Frage, ob das Fehlen einer irgendgearteten inneren Demokratie, nicht ein unüberwindbares Hindernis dafür sei, die PNF und NSDAP als Parteien zu betrachten, ist oft aufgekommen. Im Grunde genommen handelt es sich um das Wiederaufgreifen eines Arguments, dessen sich schon zu ihrer Zeit die Faschisten selbst bedient hatten, um die gänzlich andersartige Natur ihrer Organisation hervorzuheben, für die sie den Titel "Partei" - so sagte man - nur aus sentimentalen Gründen beibehalten hatten. In Wirklichkeit ist das Verhältnis zwischen "Partei" und "Demokratie" ein weitaus weniger organisches Verhältnis, als das parlamentarische Ergebnis des 19. Jahrhunderts oder die Übernahme des englischen Modells glauben lassen. Vor allem wenn man bedenkt, daß der "reaktionäre" Charakter der Paschismen von der Parteiform eher den sogenannten Machtinhalt annahm (also das "Dominium" 23 , das sich auf der Ebene der Steuerung der öffentlichen Handlungen von der Organisation abgeleitet sah), als den Inhalt der Versuchswerkstatt zwecks kollektiver Erziehung zu Leitung der Verfahren von politischen Systemen, die von Wahlmechanismen gelenkt werden24 . Dieses letzte Charakteristikum war auch an gewisse Umstände des politischen Kampfes gebunden, die das Aufkommen der Parteien begleitet hatten: entweder ihre Verwurzdung in einem höchst dynamischen parlamentarischen Kontext (wie es im englischen Fall gewesen war), oder der polemische Anspruch im Vergleich zu den Gegnern, die größte Beteiligung der Mitglieder im Gegensatz zur Gestaltung des öffentlichen Willens zu 23 Ich führe hier Webers Kategorie der Herrschaft ein, die bekanntcernagen auch einen Typ enthält, der auf dem Charisma beruht. 24 Dies war der Ausgangspunkt für Joseph Chamberlains "new political organisation" (vgl. P. Pombeni, Ritorno a Birmingham. La .nuova organizzazione politica" di ] . Chamberlain e l'origine della forma-partito contemporanea (1874-1880), in: Ricerche di Storia Politica, III (1988), S. 37-62.

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vertreten (z.B. die Polemiken der Sozialisten gegen die Grenzen der bürgerlichen Demokratie). Aber es war nicht nur zu Parteiformen mit geringer innerer Demokratie gekommen 25 , sondern man muß auch- wenn man den konstitutionellen Approach an die Parteiform akzeptiert - hinzufügen, daß die Mechanismen zur Kontrolle der Auswahl der leitenden Gruppen von unten nichts anderes sind, als eine der möglichen Legitimationsformeln der Führung. Man darf außerdem nicht vergessen, daß sich die faschistischen Parteien zur Rekrutierung an eine Masse wandten, die - verallgemeinernd gesagt aus zwei couches zusammengesetzt war: I. das Kleinbürgertum, 2. die gewalttätige Hilfsarbeiterschaft (sozial heterogen, aber durch die Ausübung dieser "Funktion" nivelliert?6 . Dem kleinen (sowie einem Teil des mittleren) Bürgertums war es - wenigstens was Kontinentaleuropa betrifft- im 19. Jahrhundert nie gelungen, eine eigene "Partei" zu gründen. Dies war die Wehklage all derjeniger, die über Politik schrieben (es sei denn sie vertraten sozialistische oder katholische Positionen) und dies war die Suche nach dem Phönix, unter dem Europa zu leiden schien27 . Soweit ich weiß, hatte sich aber noch niemand mit der geringen Adäquatheit der bis dahin experimentierten Parteiform für eine so apolitische Klasse wie das Bürgertum Kontinentaleuropas auseinandergesetzt. Sie hatte noch jenes Verständnis der Beziehung SouveränUntertan der modernen Revolution: Treue im Tausch gegen Schutz, aber Trennung der öffentlichen und privaten Sphären, wo die zweite diejenige der Souveränität des Einzelnen ist (im eigenen Haus ist jeder König) und die Obrigkeit wird genau mit der Unantastbarkeit dieser privaten Sphäre betraut. Wer sich in der Staatsverwaltung hervortun wollte, trat in den Dienst des Souveräns - er agierte nicht etwa, indem er mit dem Staat konkurrierende Einrichtungen ins Leben rief.

25 Man könnte z.B. auf Mazzinis Parteidoktrin und die konkrete Organisation zuerst des "Giovane Italia" und dann der "Partito d'Azione" verweisen, um zu sehen, daß es hier keinen Wahlmechanismus für Führer gibt. 26 Es existieren keine Studien über die soziale Zusammensetzung der PNF, während diese Arbeit für die NSDAP schon weit fortgeschritten ist (vgl. Anm. 21 sowie die an dieser Stelle enthaltenen Verweise; ohne die zahlreichen regionalen Forschungsarbeiten zu zählen). Um so mehr gilt dies für die faschistischen Sturmabteilungen; zum entsprechenden deutschen Phänomen sie he C. Fischer, The SA of the NADAP: Social Background and Ideology of the Rank and File in the Early 1930s, in: Journal of Contemporary History, XVII (1982), S. 651-670. 27 Um z"'ei gänzlich verschiedene Beispiele anzuführen: für die Rechte, den Fall des italienischen Nationalismus (siehe F. Gaeta, La dottrina politica del nazionalismo in Italia e in Germania fino alla prima guerra mondiale, Bologna 1983, S. 187-232); und für eine ganz andere Richtung F. Naumann, Demokratie und Kaisertum (für die kritische Ausgabe vgl. F. Naumann, Werke, 2. Bd., Politische Schriften, hrsg. von Th. Schieder, bearb. von W.J. Mommsen, Köln 1964). In diesem Zusammenhang hatte Naumann die These eines "nationalen Sozialismus" propagiert.

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Fest steht, daß dieser Approach dem Staat die Sphäre der politischen Aktivität zugesprochen hatte und also keine aktive Teilnahme des einzelnen vorsah, sondern nur den passiven Gehorsam. Die Parteiform der Faschismen ist nicht in Anbetracht dieses Problems kreiert worden, sondern sie war so erfolgreich weil sie letztendlich den dargestellten Ansprüchen genügte. Das antidemokratische Prinzip der Partei war sowohl für die PNF als auch die NSDAP weder ursprünglich noch notwendig. In einer ersten Phase besaßen beide Parteien Strukturen zur demokratischen Wahl der Anführer und für die institutionelle Willensbildung vertrauten sie sich dem normalen (demokratischen) Instrument des "Kongresses" an. Die Gesamtheit dieser Maßnahmen entstammt meiner Meinung nach einem präzisen Umstand: dem Problem, eine junge Vereinigung zu leiten, die arm an Führungskräften ist, welche den Aufgaben gewachsen sind, und die durch die Anwerbung mehr oder weniger krimineller Elemente zwecks politischer Gewalttätigkeiten verseucht ist. Zu diesem Zweck ist die absolute Entscheidungsgewalt des Leiters nicht mehr ausreichend, der wenigstens in abstrakter Weise mit Demokratieformen zusammenleben könnte - wenigstens was die Auswahl der mittleren Führung betrifft: es ist die politische Gefolgschaft, die zur Leitung der Demokratie strukturell ungeeignet ist, welche als Garantie der "Spielregeln" ein Mindestmaß an Bildung verlangt (unter diesen Bedingungen schwierig vorauszusetzen). Ohne sich dies vor Augen zu halten, läßt sich nicht erklären, wieso diese Aktionen praktisch ohne Opposition durchgeführt wurden - auch wenn die Behauptung übertrieben ist, daß es in der PNF und der NSDAP keine politisch fähigen Männer gegeben hätte. Ich werde später noch auf das Problem dieser Gruppe eingehen, die ich als "Kardinale" des Regimes und seiner Rolle in beiden Systemen definiere. Hier ist mir nur daran gelegen, darauf hinzuweisen, daß diese Männer einen wirklichen Kampf um die Aufrechterhaltung eines demokratischen Spielraumes innerhalb der Parteistrukturen weder führen konnten noch je geführt haben, da sie sich im klaren darüber waren, wie gefährlich dieses Spiel für sie selbst war. Wenn es zu Spannungen kam (und hier muß wenigstens auf den den Fall von Gregor Strasser hingewiesen werden), so ging es in der Hauptsache nicht um diesen spezifischen Punkt. Die aparlamentarische Natur der faschistischen Parteiform paßte - obwohl sie unter spezifischen Umständen entstanden war - perfekt zu der vom kleinen und mittleren Bürgertum geforderten apolitischen Haltung. Männer, die sich bereitwillig eingliedern IiefSen und die sich der Tatsache bewußt waren, daß die Eingliederung ihnen Opfer abverlangen könnte (wenn auch mit der Aussicht auf Belohnung). Männer, die aber dennoch gegen eine "Kultur der Militanz" waren (aktives Teilhaben an der Entscheidungsgewalt mit den daraus resultierenden Risiken des Irrtums und den unvermeidbaren Verpflichtungen).

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Diese Sachlage erklärt den Massenerfolg der faschistischen Parteien sowie das Fehlen sozialer und politischer Spannungen innerhalb der allgemeinen Struktur, trotz der Vielzahl der Eingeschriebenen. Für diese militanten Bürger ist die Partei - und hier sei mir ein Vergleich aus der Welt der Religion gestattet - eine Art "Firmung" zusätzlich zur "Taufe" der Staatsbürgerschaft. Im Wesentlichen gab die Staatsbürgerschaft, also die Fülle der politischen Rechte (wobei es sich um etwas weitaus komplexeres handelt, als der einfache Umstand, aufgrund der Geburt einem Staat anzugehören), im Tausch für die Treue zum Souverän, eine gewisse Anzahl an Rechten. Diese Rechte waren aber im Lauf des 19. Jahrhunderts auf alle ausgedehnt worden. Einigen Gesellschaftsgruppen war es sogar gelungen aufgrund ihrer Angehörigkeit an politische Einrichtungen, die direkt mit dem Staat verhandeln konnten, Privilegien zu erwerben. Hinzukommt, daß es im Dunkel des Zeitalters der Ideologien immer schwieriger wurde, die guten Bürger äußerlich zu erkennen28 . Nun gut, die faschistische Parteiform garantiert billig die Belohnung dieser Gesellschaft, da man Dank des "Parteibuchs" in ideologischer Form zur "Sanktion" der Staatsbürgerschaft nur für diejenigen, die die Grenzen der politischen Treue akzeptieren, zurückgekehrt ist. Diese Haltung legt Sergio Panunzio im Jahr 1928 in •:!inem Artikel ausführlich dar. Dort findet sich die theoretische Überlegung, daß, in dem Maße wie "das Recht von gestern der Wahlschein war, das Parteibuch das Recht von heute ist ... Das Parteibuch ist das Symbol einer organischen politischen Gesllschaft, in der jede Komponente nicht für sich etwas gilt, sondern nur soweit etwas ist, zählt und darstellt, wie sie eingeschrieben ist" 29 • Bevor wir zu einer konkreten Positionsbestimmung der PNF und der NSDAP in schon strukturierten konstitutionellen Regimen kommen, die nur mit Mühe und innerhalb gewisser Grenzen verändert werden konnten, muß ein letzter Punkt geklärt werden, der einen essentieller Zusammenhang und eine essentielle Funktion der faschistischen Parteiform zu klären sucht. Ich beziehe mich auf jenes Phänomen der liturgischen Konsenskundgebungen der Massen, die zweifellos ein Charakteristikum dieser Regime waren. Die liturgische Funktion dieser Parteien gehört nicht so sehr zu der Streitfrage um die "politische Manipulation", insofern sie eine ihrer Wurzeln konstitutioneller Natur darin hat, ein Ersatz für die Wahlbeteiligung zu sein. 28 Vgl. 0. Brunner, Das Zeitalter der Ideologien. Anfang und Ende, in: Neue Rundschau, 65 (1954); heute in: Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, 2. Aufl., S. 45-63, Göttingen 1968. 29 S. Panunzio, Scheda e tessera, in: Costituzione e rivoluzione, Milano 1933, S. 124-128 (zuerst erschienen in: Il Popolo d'Italia, 14. Januar 1928). Hier beschränke ich mich darauf, sowohl die "Passivität" des Rechts anzudeuten, welche vom Wahlschein dargestellt wird, als auch die Debatte über die Beschränkung des rechtlichen Anspruchs auf den Wahlscheins auf diejenigen, die schon a priori, für zuverlässige Bürger gehalten wurden, welche sich durch das gesamte 19. Jahrhundert zog (vgl. die "respectable workers" der englischen Tradition).

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Hier einige zum Verständnis wichtige Fragen: weder der Faschismus noch der Nationalsozialismus kamen mit einem Schlag - also einer Revolution - an die Macht. Keine Machtergreifung, sondern eine Machtübernahme, wie man schon damals sagte 30 : in beiden Fällen finden wir tatsächlich - wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise - die Suche nach der Ratifikation durch den Wahlakt. (Gegen Manipulationen Einspruch zu erheben bewirkt gar nichts: die Wahlgeschichte aller Länder ist mit Manipulationen verknüpft.) Die Partei war gerade jetzt in Anbetracht eines sicheren Wahlerfolges das notwendige und unentbehrliche Instrument. Hier bestehen natürlich groge Unterschiede zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, auf die ich an dieser Stelle nur kurz hinweisen kann. Mussolini brauchte die Partei um den Listen eine äußerliche Interpretationseinheit zu geben, die eindeutig im Jahr 1921 (45 gewählte Faschisten in einem "Block" von 275 Gewählten) und ein wenig konfuser 1924 - rechtstransformistische Konzentrationen waren und welche in viele Richtungen hätten führen können oder Mangels Einheit auch hätten zerbröckeln können. Hitler kämpfte hingegen in einem konstitutionellen, auf Parteien basierenden System und nur als Führer der gewählten Siegerpartei konnte er an die Macht gelangen (und in diesem Sinn hat die NSDAP - vom Gesichtspunkt der Parteien aus gesehen - eine weitaus typischere Geschichte, mit sechs Jahren Arbeit in einem Mehrparteiensystem, sechs bestrittenen nationalen Wahlen, einer zentralen und periphären leitenden Gruppe mit einem Gemeinschaftssinn, der von diesen Geschehenisses geprägt wurde). Nach der Machtübernahme mugten die - ideologisch konträren und politisch gefährlichen - Wahlen progressiv ausgeschaftet werden . Dem poltischen Konsens mugten aber trotzdem die Transparenz und die Verifizierbarkeil erhalten bleiben. Ohne diese erforderlichen Eigenschaften wäre die Legitimität der Macht stark kompromittiert gewesen. Dies ist ein Resultat der liberalen Transformation der europäischen Verfassung, auch wenn es zurückdatiert werden kann. Man könnte an die alte Diatribe darüber, wer die Gesetze macht, erinnern - mit der antiken Formel derzufolge "Fürst und Volk das Gesetz machen", aber das würde zu weit führen 31 . Ich beschränke mich darauf, auf die Kritik gegen den Absolutismus, als ausschlaggebende Idee dieser Kultur zu verweisen: es darf nicht vergessen werden, daß der italienische Faschismus immer darauf bestand, sich als deutlich vom Absolutismus abgehobenes Regime zu bezeichnen32 . Auch im nazionalsozia-

30 N. Frei, .Machtergreifung". Anerkennung zu einem historischen Begriff, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, XXXI (1984), S. 136-145. 31 Vgl. die Verweise in den angeführten Werken von 0 . Hintze und 0 . Brunner. 32 Diese Polemik ist - explizit oder implizit - bei den faschistischen Autoren sehr lebendig: für eine detaillierte, wenn auch bruchstückhafte Untersuchung verweise ich auf P. Pombeni, Demagogia e tirannide.

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Iistischen Umfeld bin ich auf Ähnliches gestoßen33 , auch wenn auf einen wichtigen Unterschied zu verweisen ist: während in Italien - unter Berufung auf im Grunde genommen traditionelle Elemente des politischen Lebens des 19. Jahrhunderts - von .,faschistischer Demokratie" die Rede ist (die Auszählung der Mitglieder mit Parteibuch, die Garantie des allgemeinen Interessenschutzes durch den Korporativismus, das Bestehen auf einem "rechtsstaatlichen" Charakter des Regimes usw.), so scheint mir der Konsens in Deutschland in den romantischen Kategorien des Blutes, der Beziehung Führer-Gefolgschaft und in der Rassentheorie des Volkes ("Blut und Boden") aufgelöst. Alles Elemente, die keinerlei Zusammenhang mit dem nationalistischen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts aufweisen34 . Ich bin außerdem der Meinung, daß diese Berufung auf eine Parteiform, die darauf ausgerichtet ist, die Konsensäußerung zu erlauben, weder ausschließlich noch hauptsächlich als innere Legitimierung zu sehen ist35 . Dieser Aspekt besaß eine internationale Wertigkeit, die nicht zu vernachlässigen ist. Wie bekannt ist, waren die internationalen Objektive von Faschismus und Nationalsozialismus umfangreich . Sie waren sogar für den Nationalsozialismus von Anfang an ein Hauptthema36 . Nun darf nicht vergessen werden, daß im Jus publicum europaeum inzwischen jenes Kriterium operativ geworden war, cemzufolge nur ein solcher Staat ein völlig legitimes internationales Subjekt sei, der in seinem organisatorischen Kanon dem Modell des liberalen Konstitutionalismus entsprach. Carl Schmitt weist auf die formale Rezeption dieses Prinzips in den Friedensverträgen zum Ende des Ersten Weltkrieges hin37 ; aber die Substanz des Phänomens ist älter: ein Großteil der Umbildungen der politischen Landkarte durch den Wiener Kongreß war (wie kontrovers auch immer) unter Berufung auf das

33 Siehe C. Schmitt, I caratteri essenziali dello stato nazionalsocialista, 1936; Conferenza tenuta al Circolo Giuridico di Milano il 18 Aprile 1936 - XIV; nicht in deutscher Sprache erschienen. Diese Abhandlung ist auch in: Gli stati Europei a partito politico unico (Circolo Giuridico di Milano, Panorama, Milano), S. 37-52 erschienen. 34 Oder besser, die die verbitterte, ordinär gewordene oder banalisierte Wiederaufnahme der "historisch-organischen" Rechtstheorien darstellen, eine in der Lektion der deutschen Juristen deutlich spürbare Richtung. Als Schmitt in dem schon angeführten Vortrag das deutsche Volk als "eminent verstaatlicht" bezeichnete, das deshalb darauf aus sei, "den Staat abzusetzen", indem man vom "Selbstzweck" zum "Mittel" überging, hatte Schmitt Hegels Lektion im Sinn (und verweist auch ausdrücklich darauO. 35 Ich benutze den Ausdruck in der oben angegebenen Bedeutung. 36 Es ist hier nicht möglich, die komplexe Frage der faschistischen und nationalsozialistischen Außenpolitik auch nur anzuschneiden, die nicht nur eine Frage der "internationalen Beziehungen" war, sondern Anspruch "geschichtsphilosophischer" Natur erhob: ich beschränke mich daruf, auf die Ergebnisse der angeführten Literatur zu verweisen. 37 C. Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 1958, S. 419-435.

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plebiszitäre Prinzip der Selbstbestimmung der Völker vorgenommen worden311. Das Bedürfnis nach dem agogischer Legitimierung (technisch: korrupte Demokratie) des eigenen Rechtes zur externen Repräsentation des Staates war also für beide Regime ausschlaggebend, da sie die "Macht" zu den Zielen des neuen Staates rechneten. Ob dieser Prozeß dann auch tatsächlich wahrgenommen wurde, ist eine delikatere Frage: umsomehr muß gesagt werden, daß sich die Diktatoren - auch in Polemiken mit der ausländischer Kritik - des Argumentes des Konsensbeweises bedienten, der in der großangelegten Einordnung des Volkes unter den Fahnen des Regimes inbegriffen war. Hiermit wird natürlich nicht die Vielzahl an internen Wertigkeiten dieser Art von Konsens in Abrede gestellt: so z.B. die vorbeugende Wirkung, die er dank der ständigen Mobilisierung gegenüber dem Aufkommen von Oppositionen ausübt. Bis jetzt haben wir die Antworten der faschistischen Regime auf die Herausforderungen über ihre Parteiform betrachtet, im Verhältnis zu dem was wir die ideologisch-strukturelle Krise der zeitgenössischen Verfassungen nennen können. Es bleibt, das konkrete Sichverwirklichen dieser Lösungsmöglichkeiten zu untersuchen, als sie mit der Machtübernahme dazu kamen, politische Systeme zu beherrschen, die sich zwar in einer Krise befanden, aber- im Gegenteil zu dem was von der publizistischen Debatte jener Jahre behauptet worden war- weit davon entfernt waren, in ihrem Innersten in die Brüche zu gehen. Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, sich zwei Arten von Problemen vor Augen zu halten: auf der einen Seite die allgemeinere Beziehung zwischen den Regierungsstrukturen der zeitgenössischen Staaten, sowie die veränderten Organisations- und Führungsbedürfnisse derjenigen Gesellschaft, zu der es mit der Umwandlung in den Jahren des Ersten Weltkrieges gekommen war; auf der anderen die küflkrete konstitutionelle Situation in der sich die Machtübernahme Mussolinis und Hitlers abspielte (zwei keineswegs ähnliche Situationen). Die beste Definition des konstitutionellen Problems der faschistischen Demagogie bleibt meiner Meinung nach die Untersuchung Ernst Fraenkels über den dual state 39 Um die Sache mit Ausdrücken dieses Autors darzustellen, muß daran erinnert werden, daß die doppelte Natur des zeit38 Man denke nur an Griechenland und Italien, an die Zerstückelung des Ottomanenreichs, sowie an die Gründung des Deutschen Reiches selbst. Hierzu hat Lothar Gall hervorgehoben, wie Bismarck das allgemeine Wahlrecht hauptsächlich zum Zweck der internationalen Legitimierung eingeführt hat (vgl. L. Gall, Bismarck). 39 Vgl. E. Fraenkel, The Dual State, 1941; (deutsch Der Doppelstaat, Frankfurt a. M. 1974). lAnm. d. Übers.: 1941 vom Autor im amerikanischen Exil veröffentlicht, aber ursprünglich auf Deutsch geschrieben, ist das Buch 1974 in Deutschland neu erschienen}.

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genössischen Staates von der untrennbaren Koexistenz vom normative state (also einer Verfassungsstruktur, die mit Kräften zum Schutz der rechtlichen Ordnung ausgestattet ist, so wie sie in Reglements, gerichtlichen Entscheidungen und Aktivitäten der Verwaltungsorgane zum Ausdruck kommen) und vom prerogative state vorgegeben ist (wie jenes Regierungssystem, das unbegrenzt willkürlich handelt und gewalttätig ist, ohne von irgendeiner rechtlichen Garantie kontrolliert zu werden). Fraenkel fügt aber als qualifizierenden Punkt hinzu , daß der prerogative state in letzter Instanz nichts anderes ist, als die ordnende Verfügungsgewalt der Regierung; der Maßnahmenstaat als eigene Sphäre der Politik, der seit dem absoluten Staat für ausschließliches Gebiet des Souveräns gehalten wurde und als nicht unterwerfbar unter vorherige Rechtsverbindlichkeit galt. Von grundlegender Wichtigkeit ist also die Tatsache, daß dieses Bedürfnis nach täglichen Beschlüssen, auf die die Paschismen ihre Macht aufbauten - natürlich innerhalb gewisser Grenzen, eine strukturelle Gegebenheit der zeitgenössischen Politik ist. Die neuen Regime beschränkten sich darauf, diese vor ihrer Ankunft als ineffizient zu bezeichnen. Hinzukommt, daß die große Beliebtheit des "Dekrets" im Vergleich zum "Gesetz" als regulierendes Interventionsmittel der Gesellschaft von verschiedenen Seiten bemerkt worden war. Man sprach inzwiscben sogar - um einen suggestiven Ausdruck Schmitts zu gebrauchen - von motorisierter Gesetzgebung 40 . Hieraus könnte man einfach schließen, dafS die Paschismen in Wirklichkeit keine große revolutionäre Anstrengung nötig hatten, da sie den konzeptuellen Weg, der zur Verherrlichung der Entscheidungsfähigkeit und schneller Entscheidungen führte, schon geebnet vorgefunden hatten. Ich bin aber der Meinung, daß dies nur eine Seite der Medaille ist. Parallel zur Debatte über die Vereinheitlichung der Befehlsgewalt - oder besser, da es wenigstens in Italien und in Deutschland (anders verhielt es sich z.B. im Fall der Geschichte Frankreichs) vorher nie eine wahre Pluralität der Zentren der Befehlsgewalt gegeben hatte, zur Debatte über die Reduzierung der Kontrolle und über die Verlangsamung der Ausübung dieser Möglichkeit einheitlicher Befehlsgewalt - gab es eine Debatte darüber, was dafür garantieren könne, daß diese Gewalt nicht "absolutistischer" Natur sei (dies ist im allgemeinen der meistgebräuchliche Ausdruck). Schließlich hatte sich keine andere praktische Antwort auf diese Frage gefunden, als daß die Verteidigung gegenüber einem solchen Risiko aus-schließlich politischer Natur sein konnte. Indem der Entscheidungsträger sich stark an ein zu erreichendes Ziel gebunden sah, wurde der Diktator zum Ausdruck eines politischen Projekts und nicht Inhaber eines Souveränitätsrechts in seiner Eigenschaft qua persona. Auf diese Weise wurde die Verschweißung der Souveranität mit der Tyrannei verhindert. So wurde - wenigstens abstrakt gesehen - die Partei eine politische Institution, die den "neuen" Charakter der faschistischen Diktaturen doppelt garantierte. Sie 40

Vgl. C. Schmitt, Die Lage.

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basierten nicht nur auf einem "demokratischen" Konsens, sondern sie waren auch in der Machtausübung vom metahistorischen Projekt gebunden, dessen Träger/Interpret die Partei war, und also vor personalistischen Verschiebungen in der Befehlsgewalt geschützt. Genau dieser teleologische Charakter der Diktatur verweist neben der Einspruchsgewalt der politischen Regierung, der Führungsgewalt der traditionellen staatlichen Bürokratie auf den Konservativismus. So leben in der Anschauung der Paschismen Ausnnahme und Regel tatsächlich zusammen; der Wirkungsbereich der Legalität wird nicht abgeschafft, sondern nur mehr oder weniger großzügig beschränkt oder in den konkreten Erfahrungen mehr oder weniger reguliert41 . Eigentlich müßte man sagen, daß der Wirkungsbereich des Ausnahmezustandes legalisiert wird, insofern als am Anfang seiner Existenz eine legislative Handlung steht, die ihn permanent macht und folglich den Bürger zu Gehorsam verpflichtet. So gibt es tatschächlich Gesetze, die - unterschiedlich und für verschiedene Kontexte - Natur und Gültigkeit dieser Ausnahmebefugnisse der neuen Führer bestimmen. Nicht zu vergessen ist, daß sich außerde m noch die Ermessensfreiheit hinzugesellt, die die Regierungsoberhäupter schon in der Praxis als oberste Verantwortliche der Bürokratie innehatten. Sowohl in Italien wie auch in Deutschland bewegte man sich weiterhin innerhalb der alten Kategorien des Rechtsstaates, auch wenn es nicht an "engagierten" Juristen mangelte, die sich mit der mündlichen Ableugnung dieser Wahrheit abplagten. Dennoch ist für viele Bereiche das sogenannte Überwinden der alte n Einrichtungen des Rechtsstaats mehr eine Fassade als eine Innovation42. Aber die Tatsache, daß die politische Legitimierung der Autorität trotz allem immer noch aus dem Gesetz hervorgeht (wenigstens formell auf die alte Art gebildet), wirft Probleme auf. So zeigt sich tatsächlich in diesem Umfeld der Ursprung der Widerstandskraft, die die alten bürokratischen Strukturen beibehalten hatte. 41 Vgl. hierzu die Untersuchungen von M. Stolleis zum nationalsozialistischen Recht, z.B. M . Stolleis, Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, XX (1972), S. 83-109; M. Stalleis I D. Simon, Vorurteile und Werturteile der rechtshistorischen Forschung zum Nationalsozialismus, in: NS-Recht in historischer Perspektive. Ich weiß nichts über die Existe nz von spezifischen Studien zur juristischen Produktion des Faschismus in seine r Gesamtheit, aber es existie ren sowohl Arbeiten uüber einzelne Juristen (wenn auch von ungleichem Wert: vgl. z.B. Untersuchungen über Panunzio und Costamagna, für die ich auf meine schon mehrfach zitierte Arbeit verweise) wie auch die schöne umfassende Untersuchung von G. Cianferotti, II pensiero di Vittorio Emanuele Orlando e Ia giuspubblicistica italiana fra Otto e Novecento, Milano 1979, die aber einen besonderen Approach an unser Thema darstellt (und ehe r vo n de n Juristen im Faschismus als von den faschistischen Juriste n· handelt). 42 Sergio Panunzio und Carlo Costamagna setzten sich in Italien für eine Übe rwindung de r "alten Dogmatik" besonders stark ein : die Ergebnisse e rscheinen mir allerdings kläglich.

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Die zentrale Natur dieses Themas muß nicht erst betont werden, sie war auch schon den Zeitgenossen selbst bewußt: ja die faschistische Parteiform war selbst der Ort dieser Auseinandersetzung. Auf der einen Seite präsentierte sich die Partei als Wachhund der orthodoxen Politik und folglich als Förderer der Säuberungen der alten führenden Schichten; aber auf der anderen Seite ist die Partei mit ihrer Fähigkeit, die "Glaubenswechsel" zu absorbieren und juristisch unanfechtbar werden zu lassen auch das Instrument der großen Integration, der Weg für eine ganze führende Klasse, um ihre Machtpositionen zu retten. Es existiert aber ein nebesächliches Element in dieser Angelegenheit, das nicht durch eine Analyse idealtypischer Natur erniedrigt werden darf. Ein Hauptgrund des Widerstandes der traditionellen staatlichen Strukturen liegt im Wissen der leitenden Gruppen der PNF und NSDAP darum, daß ihre Unantastbarkeit ein Mechanismus war, der ihre Macht stärkte. Sie wurde so vor den Überbleibseln der politischen Diskussion geschützt, die in der Partei weiterhin überlebte (während die Bürokratie aufgrund ihrer Natur davon ausgeschlossen war, irgendeinen Fragenkomplex zu erörtern) und durch den Mechanismus der hierarchischen Legitimierung qualifiziert. Aber auch in diesem Fall darf der Kontext der bürgerlichen Kultur nicht vergessen werden, aus dem diese Regime hervorgehen: und für diese Kultur war die Position des "Staatsdieners", also jene Position des öffentlichen Angestellten, einer der Höhepunkte der sozialen Leiter43 . So läßt sich z.B. erklären, weshalb auch die führende nationalsozialistische Gruppe (man denke nur an die sogenannten "Diadochen") fast ausnahmslos führende Positionen im Staatsdienst anstrebten (vom Zugang zum Ministerrang bezeigt) und hierauf ihre "Feudalmacht" gründeten (die Partei, deren Sekretär seit dem Gesetz vom 1. Dezember 1933 Regierungsmitglied war, war nichts anderes als eine der feudal zu beherrschenden staatlichen Strukturen)44 . Dies dehnte sich natürlich auf die mittleren Ränge aus, auch wenn in Deutschland die Personalunion bei der Ämterverteilung eine scheinbar engere Beziehung zwischen Verwaltung und Partei unterstützen konnte, als dies in Italien der Fall war. Aber das Wettrennen um die Positionen von Reichsstatthalter oder Oberpräsident von Seiten der Gauleiter und Kreisleiter bezeugt, daß das Bedürfnis, die Übersetzung von politische r Macht in Verwaltungsmacht deutlich zu zeigen, durchaus bestand, auch weil in Abwesenheit 43 Zum Problem der Bürokratie im Faschismus vgl. G. Melis, Amministrazione nuova e burocrazie tradizionali neli'Italia giolittiana e fascista, Sassari 1984 (provisorische Ausgabe). Für den Faschismus siehe den Klassiker H. Mommsen, Beamtenturn im Dritten Reich, Stuttgart 1966; H. Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, Köln 1980 . 44 Die Debatte über den fe udale n Charakter des Nationalsozialismus eröffnete R. Koehl, Feudal Aspects of Natio nal Socialism, in: American Political Science Review,

LIV (1 960) , S. 921-933.

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dieser Mechanismen der Personalunion die Macht des Politikers dann doch nicht so gesichert war. Was diesen Punkt anbelangt, so ist die Lage in Italien ziemlich anders, da die konstitutionelle Lage des Faschismus eine andere ist. Da gibt es an erster Stelle die bekannte Frage der "Diarchie"; also das Verbleiben des Königs als Staatsoberhaupt mit einer Reihe von entscheidenden verfassungsmäßigen Gewalten. Es könnte interessant sein, zu betonen, daß am Ende die formalste Gegebenheit sich als die wichtigste von allen erwies: in einer Monarchie sind die Beamten alle Beamten des Königs, was es dem faschistischen Personal erlauben wird, dies als Notausgang aus dem Regime zu betrachten. Ein rein immaginärer Notausgang, da nur Viktor Emanuel III. allein sich weigern konnte, das Korrumpieren von Verfassungen auch durch Ersitzung zu akzeptieren. Er gab sich der trügerischen Hoffnung hin, daß es zu jedem Zeitpunkt möglich sei, Rechte ins Leben zurückzurufen, deren man verlustig gegangen war und die man mit Füßen getreten hatte (eine Illusion, die in Wirklichkeit auch verschiedene Faschisten teilten: man· bedenke z.B. die Memoiren von Grandi oder von Giurati45). An zweiter Stelle ist aber präsent zu halten, daß es die Zuflucht in den Statalismus war, die Mussolini die Ausübung der Diktatur auch gegenüber seinen Anhängern gestattete. Mussolini hatte meiner Meinung nach nicht den geringsten Sinn für den Wert des Staates: seine mit Stentorstimme w~äußerten Behauptungen zu diesem Thema sind im Lichte der implizierten (aber wesentlichen) Voraussetzung zu sehen, daß er selbst der Staat war. Die Beweise hierfür sind, für jeden der über ein Mindesmaß an Kenntnis der rechtspolitischen Mechanismen besitzt, unzählig. So gibt es tatsächlich keine faschistische Einrichtung, die sich in einem ernstzunehmenden legislativen Rahmen bewegt; es gibt keine Gewalt, die mit Sicherheiten oder Grenzen ausgestattet ist; es gibt kein Verhalten, das auf die "Heiligkeit" jener Institutionen Rücksicht nimmt, welche die antropologische Basis ihres normativen Charakters ist. Wenn ein Organ wie der Großrat gegründet wird, so ist er ohne Macht und in den Händen des Diktators. Es werden unaufhörlich an den verschiedensten Stellen Entscheidungen gefällt und aufgehoben. Die Minister und Beamten werden ohne die geringste Schätzung des symbolischen Wertes, der hinter all dem liegt, ausgewechselt. Diese Betrachtungen führen uns aber zu einem anderen Knotenpunkt unserer Geschichte. Das bis jetzt Gesagte, führt zu einer entscheidenden Erwägung über die Rolle der faschistischen Parteien nach der Machtübernahme und folglich über die Grundlagen ihrer Fähigkeit zur politischen Einverleibung. Bis jetzt schien ihre Rolle diejenige von Rezeptoren/ Inkarnationen von Antworten auf die Fragen zu sein, die die politische Krise des modernen 45 Vgl. D. Grandi, 25luglio. Quarant'anni dopo, Bologna 1984; G. Giuriati, La parabola di Mussolini nei ricordi di un gerarca, Bari 1981.

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Staates aufwirft. Aber es hat sich auch herausgestellt, daß all dies hauptsächlich eine Ästhetisierung der Antwort war: eine alte Intuition von Benjamin46 , der einen Faschismus beschrieben hatte, welcher auf Herausforderungen antwortete, indem er die nämlichen mit kathartischer Funktion inszenierte. Auf der institutionellen Ebene hatte hingegen kein einziges Problem eine Lösung gefunden. Diesen Beweis liefert das Nicht-Überleben- nicht einmal in ausgebesserter Form - einiger konstitutioneller "Erfindungen" der Faschismen, während ein Großteil der politischen Probleme als legitime Probleme überlebten (aber hierauf wird noch weiter unten eingegangen werden), die sie nicht so sehr hervorriefen, wie auf institutionellem Grund eher aufnehmen ließen. jetzt muß noch die "Ausdauer" der Parteien auch nach der Machtübernahme angegangen werden. In Italien ist dies ein heißes Eisen, wo die Gerüchte um eine Auflösung der PNF während der gesamten Dauer des Regimes kursierten, aber immer wieder von den Tatsachen widerlegt wurden. Einige Stimmen, die in diese Richtung zielten, gab es auch in Deutschland (wo die Situation immerhin klar umrissen war: von Anfang an band das Gesetz vom 1.12.1933 die NSDAP "untrennbar" an den Staat): man bedenke z.B. das Buch von Helmut Nicolai, "Der Staat im nationalsozialistischen Weltbild", dem das Glück allerdings nur kurz gewogen war17 . jedenfalls sieht die Frage von dieser Debatte ab, die man als rechts stehend bezeichnen könnte. Es liegt tasächlich ein weitaus zentraleres Problem vor, und dies weil, trotz der Leere der liturgischen Funktion (ich fasse unter diesem Begriff alles oben Angeführte zusammen48), es den faschistischen Parteien gelungen ist, die eigene Struktur kompakt zu halten und als Institu46 Vgl. W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Nachwort, S. 48-51, 4. Auf!., Frankfurt a. M. 1970. 47 Das Buch von Nicolai, der einer Gruppe von Parteijuristen angehörte (Hans Frank, Roland Freisler, Otto Thierack, Curt Rothenberger, Wilhelm Stuckart, Werner Best), erschien im Mai 1933 und wurde im Dezember von Hitelr verboten (der auch die Fortsetzung der Diskussion zu diesem Thema unterband). Der Autor sollte dann 1935 wegen Homosexualität aus der Partei ausgeschlossen werden. Vgl. D . Orlow, The History of the Nazi Party, Bd.2: 1933-1945, S. 46. 48 Auf die liturgische Dimension der politischen Einverleibung hatte schon 1974 George Mosse mit seiner geglückten Untersuchung die Aufmerksameil gelenkt ( G. L. Masse, The Nationalization of the Masses. Political Symbolism and Mass Movement in Germany from the napoleonic Wars through the Third Reich, New York 1974). Im selben Jahr wies auch K.D. Bracher auf dieses Thema hin und verwies zweckmäßig auf die Wurzeln des Problems in der Französischen Revolution (K.D. Bracher, Kritische Betrachtungen zum Faschismusbegriff, jetzt in: Zeitgeschichtliche Kontroversen, S. 28). Ich möchte hier auch auf eine gelungene nicht oft angeführte Arbeit über die politische Liturgie des Nazismus hinweisen: K. Vondung, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971. Ich möchte außerdem darauf hinweisen, daß man besonders in der ersten Phases auch im italienischen Faschismus darauf bestand, daß sich das neue Regime wie die katholischen Kirche und die Französische Revolution durch den Gebrauch von rituellen Elementen zu konsolidieren habe.

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tion zu überleben, d.h. im Ausland als ausschlaggebende entscheidungsfällende Zentren bekanntzuwerden (so ist es beeindruckend, festzustellen, wie fast alle Verschworene des Großrates sich fragen, was Scorza, der Parteivertreter, denken wird49). Die Erklärung hierfür ist meiner Meinung nach genauso in der Funktion zu suchen, in der sich die Partei nach Meinung verschiedener Theoretiker des Regimes hätte konzentrieren sollen, wie in der Funktion, die sie wirklich ausgeübt hat. Die erste ist die Funktion des "Auswählers der neuen herrschenden Klasse". Diese Aufgabe wurde mit großer Feierlichkeit sowohl PNF und NSDAP übertragen. Außerdem lassen sich so Ausgedehntheit und Komplexität der respektiven Jugendorganisationen erklären 50 . So war auch die "Volkserziehung" nichts anderes als eine Vorbedingung für diesen Ausgang. Inzwischen war die Parteiform der Paschismen auch auf diesem Gebiet die Antwort auf ein deutlich wahrgenommenes Problem. Die Zerstörung der traditionellen sozialen Kanäle der politischen Vorherrschaft; das Infragestellen aufgrund des Ersten Weltkrieg selbst der Legitimität des biirokratischen Kanals als Auswahlmoment; die Bekämpfung der Idee, daß es der Konflikt zwischen den Parteien sei, c'.er die Besten hervorbringt; all dies führte dazu, daß man sich fragte, wie eine nationale Befehlsaristokratie wiederherzustellen sei, die aber dennoch als Schicht dem Verdienstprinzip gegenüber aufgeschlossen sein sollte. (Ich gebe frei wieder und fasse zusammen, was in den faschistischen Veröffentlichungen steht; aus der Literatur scheint mir ersichtlich, daß eine ähnliche Haltung auch in Deutschland existierte, z.B. in der Entwicklung der SS.) Man dachte, daß die Parteiinstitution die Antwort auf diese Frage liefern könne. Auch in diesem Fall ging man von einer bescheidenen Tatsache aus: die Partei ist von Natur aus der Verteiler der administrativen Spolien unter ihren Anhä ngern; das sind die selektiven Anregungen von denen die Politologen sprechen51 . Von hier die Forderung von PNF und NSDAP nach den Führungspositionen in der nun eingenommenen Staatsverwaltung (oder wenigstens der öffentlichen Verwaltung) für die "alten Kämpfer".

49 Vgl. D. Grandi, 25 luglio, S. 238, wo sich Grandi, Federzoni, Bottai und Bastiani bei der Zusammenkunft vom 24. Juli mit Scorzas Position befaßten: .Scorzas effektive Position blieb weiterhin e in Enigma: von der Haltung, die er als Parteisekretär angenommen hatte, hing größtenteils der Ausgang der Sitzung ab." 50 Zur faschistischen Jugendorganisation, vgl. N. Zapponi, !I Partito della gioventu. Le organizzazioni giovanili del fascismo 1926-1943, in: Storia Contemporanea, XIII (1982), S. 569-633; zu den nationalsozialistischen Jugendorganisationen siehe P.D. Stachuras Zusammenfassung seiner eigenen ausgedehnten Untersuchungen, in: P.D. Stachura, Das Dritte Reich und die Jugenderziehung: Die Rolle der Hitlerjugend 1933-1939, in: Nationalsozialistische Diktatur, S. 224-244. 51 Vgl. A. Panebianco, Modelli di Partito, Bologna 1982.

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In Wirklichkeit wurde dies, was damals im Widerspruch mit der politischen Tradition Europas zu stehen schien52 , zur gängigen Praxis in den demokratischen Parteienstaaten. Was in diesem Kontext als realtiv typisch erscheint, ist die Behauptung - erfunden, um dem Druck der alten Kämpfer standzuhalten -, daß es sich hierbei nicht um die Verteilung von Spolien handele, sondern um ein authentischen Auswahlkriterium für einen neue herrschende Klasse (dahinter liegt· natürlich der wahrgenomene Bedarf einer "politischen Klasse" in den zeitgenössischen Staaten, dort wo es keine einzige soziale Klasse mehr gab, die aus strukturellen Gründen das Monopol der Politik innehatte53). Der Widerstand gegen die Besetzung einer größtmöglichen Anzahl von Stellen in der öffentlichen Verwaltung seitens der "alten Kämpfer" oder um es ausführlicher auszudrücken - der mittleren Parteileitung, hatte im Nationalsozialismus und im Faschismus die gleiche banale Wurzel: die nationalen leitenden Gruppen (die, was sie selbst betraf, die Spitzen der Verwaltung schon besetzt hatten) waren sich genau im Klaren darüber, daß diese anderen Militanten, ihren Forderungen nicht gewachsen waren. Die Erhaltung des Konsens erforderte sowohl technische Effizienz wie auch Absprachen mit breiten Kreisen der alten herrschenden Klassen; also besser sich auf die alten Proffessionisten der Bürokratie zu verlassen, wenn sie es akzeptierten, dem neuen Herrn zu gehorchen, und nicht zu sehr durch die Unterstützung des alten Regimes in der Phase des Kampfes kompromittiert waren. Der Widerstand gegenüber den Forderungen der alten Kämpfer mußte aber einhergehen mit der fiktiven Billigung des Prinzips demzufolge - um einen faschistischen Slogan wiederzugeben - in jeder führenden Rolle ein treues Schwarzhemd anzutreffen sein muß: man sagte in dem Augenblick also, daß die Partei der einzige Auswähler der zukünftigen herrschenden Klasse zu sein habe. Dieser Sachverhalt brachte viele Vorteile mit sich: es war ein deutlicher Ansporn zur Inkorporation für all diejenigen, die eine öffentliche Laufbahn anstrebten; es erlaubte eine Qualitätskontrolle der zukünftigen Führung in politisch ungefährlicher Umgebung, wir der Bürokratie der Massenorganisationen; es garantierte die Selbstzensur in der Debatte innerhalb der Partei, um die Möglichkeit, in der Staatsleitung gewählt zu werden, nicht aufs Spiel zu setzen. Offen bleibt weiterhin die Frage, ob es sich um Propaganda gehandelt hat, der nie eine wirkliche Veränderung der Auswahlkriterien und -mechanismen entsprochen hat, oder ob es den faschistischen Parteien wirklich gelungen ist, eine Veränderung hervozurufen, indem sie in diesem Feld die Machtbasis eroberten. 52 Im 19. Jahrhundert wurde dies allgemein für ein Vorrecht des "korrupten" Amerika gehalten: vgl. P. Pombeni, Trasformismo e questione del Partito. 53 Dieses Thema, das bekanntermaßen auf Mosca zurückgeht, genoß in der faschistischen Publizistik großes Ansehen, wo aber aus eindeutigen, politischen Gründen die Hinweise auf Mosca eher schwach ausfielen.

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Es ist mir unmöglich, auf diese so zentrale Frage eine erschöpfende und wohlerwogene Antwort zu geben. Ich kann sagen, daß - was den Faschismus betrifft - die Gesetze, die den Besitz des Parteibuchs vorschrieben, um Zutritt zu allen öffentlichen Anstellungen zu erhalten, effektiv die soziale Kontrollgewalt der periphären Führer der PNF deutlich erweiterten. Wenn es wahr ist, daß oft schon das Parteibuch allein (mit rein passiver Milizzugehörigkeit) ausreichte, um Unangenehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen, dann ist es genauso wahr, daß ein schlechtes Gutachten in der Partei sich negativ auswirkte, und daß sowieso der größte Teil der Kanäle um sich "hervorzutun" von der Partei kontrolliert wurde. Außerdem möchte ich die Aufmerksamkeit noch auf einen anderen Punkt lenken. Eine Auswertung dieses Auswahlvermögens ist deshalb schwierig, da die Paschismen zu kurze Zeit existierten, dafür daß sich diese Mechanismen einspielen konnten. Einerseits überlebte im öffentlichen Bereich eine große Anzahl von "Konvertierten"; andererseits konnte dieser Prozeß in Italien erst nach der Konsolidierung des "zehnten Jahrestages" ein institutioneller werde, was die Situation der deutschen ähnlich werden läßt, wo man von Anfang an in diese Richtung arbeiten konnte, nur daß der Anfang 1933 war. Dies bedeutet, daß wir im besten Fall von einem Zeitraum sprechen, der acht Jahre umspannt. (Da nicht vergessen werden darf, daß der Ausbruch des Krieges den Funktionsrahmen der öffentlichen Verwaltung unweigerlich veränderte.) Wenn die Auswertung dieses Punktes weiterhin offen bleibt, so gibt es einen anderen, der eine annehmbare Erklärung gefunden hat: das eindrucksvolle quantitative Wachstum der faschistischen Parteien. Bis jetzt ist nicht grundlos hauptsächlich der Zusammenhang zwischen dem sogenannten totalitären Modell und der Notwendigkeit, die gesamte Bevölkerung eingereiht zu haben, hervorgehoben worden. Das Parteibuch, gesehen als eine Geburtsurkunde oder dem Nachweis der Eintragung in die Wahllisten in einem System tendentiell verwandte Bescheinigung, hat seine Plausibilität in Regimen, die die eigene Stabilität auf die Billigung und die Mitbeteiligung an ein bestimmtes ideologisch-institutionelles System gründen. Außerdem gibt es noch einen anderen Aspekt, auf den ich hinweisen muß. Der Ausschluß der alten Militanz von der Aufteilung der politischen Spolien, sowie die Notwendigkeit das, was im Abfall der Auswahl der führenden Schichten übrigblieb, zu regieren (gleich wie diese Auswahl zustandekam), stellt ein Problem dar. Vereinfacht ausgedrückt, konnte man diesen Menschen nicht einfach sagen: geht nach Hause zurück, wir brauchen euch nicht. Die soziale Mobilisierung verlangte für die Partei Männer mit anderen Fähigkeiten, als sie für die Verwaltungslaufbahn wünschenswert waren. Aber diesen Männern mußte man eine Entschädigung in Aussicht stellen. Jetzt schaffte eine bürokratisch komplexe, weitgefächerte Partei mit vielen parallelen und kontrollierten Strukturen jenen Markt für Führungspositionen, mit dem der auf seine Art wertvolle kämpferische Geist all derer entschädigt

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werden konnte, die nicht zum Olymp des öffentlichen Amtes emporsteigen konnten. Das Ausmaß dieses Phänomens ist für die NSDAP bekannt: die Denazifizierungskarnmission der Alleaten hatte zwischen Führer und Unterführer gut eineinhalb Millionen Personen gezählt 54 . Für die PNF existieren keine ähnlichen Schätzungen, aber wenn man die im ersten Statut neuen Stils (1926) vorgesehenen Ämter mit den im letzten Statut 0938) vorgesehenen Ämtern vergleicht, kann man ein eindrucksvolles Anwachsen der leitenden Stellungen im Rahmen der Partei erkennen55 • Und diesen sind dann noch die Stellen hinzuzufügen, die der Partei in den externen und parallelen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft zur Verfügung gestellt wurden: mit der Einführung der sogenannten Gleichschaltung 56 ein imponentes und wichtiges Phänomen in Deutschland, aber auch in Italien sicherlich kein sekundäres, besonders was den korporativen Sektor betrifft57 • An dieser Stelle muß die zentrale Frage der faschistischen Parteiformen angeschnitten werden, also das gänzlich singuläre Problem, das sie aufweisen, was die Spitzen betrifft. Dieses Problem gehört in zwei Aspekte getrennt: 1. die Position des "Führers", die strukturell vollständig eigentümlich ist; 2. die Position der begrenzten führenden Gruppe der Vertrauten des Führers des Anfangsstadiums. Da es weder in der PNF noch scheint mir in der NSDAP eine richtige strukturelle Ordnung dieser Regierungsform gab, kann man hier nicht von einem allgemeinen Gesichtspunkt ausgehen. Die Vgl. H. Arendt, The origins of Totalitarianism. Für den Faschismus existiert keine numerische Auswertung der gerarcbi (ohne die anderen ähnlichen Positionen, z.B. Leiter der associazioni fasciste) zu erwähnen. Wir können nur sagen, daß das Statut von 1926, welches als erstes diese Definition einführte, nur fünf Ämter anführte, die Anrecht auf diese Bezeichnung gaben, von denen das unterste Niveau das des Sekretärs des Fascio di combattimento ist (einer für jede Gemeinde). Mit dem Statut von 1932 wird diese Bezeichnung auf 15 Einzelämter ausgedehnt, sowie auf die Mitglieder von vier Gemeinschaftsorganen: es gibt eine Ausweitung, da man dazu übergeht auch den "Vertrauensman der Bezirksgruppe" und den "Vertrauensmann der Untergruppe" miteinzubeziehen, also zwei niedrigere territoriale Ebene (ohne die Einbeziehung der leitenden Gruppen der Universitätsorganisationen). Das Statut von 1938 wird dem Anschein nach eine Verringerung versuchen, und die Einzelämter auf neun, die Mitglieder der Gemeinschaftsorgane auf nur vier beschränken: aber in Wirklichkeit wird sie das Erheben zum gerarca nach unten öffnen, da sich nun die "der Vertrauensmann der faschistischen Bezirksgruppe; die Mitglieder der Beratung der faschistischen Bezirksgruppe; der Sektionsführer; der Scharführer" mit diesem Titel schmücken können. Wie man sieht, ist die Vermehrung der von der Verteilung der selektiven Anregungen abhängigen Ämter massiv geworden. 56 Zur Gleichschaltung vgl. M. Broszat, The Hitler State. 54

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57 Zur politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Debatte und zur korporativen Frage kann man auf L. Ornaghi, Stato e Corporazione, Milano 1984 verweisen. Ich weiß hingegen von keiner Untersuchung, die über die Ämterverteilung im korporativen System Aufschluß gibt (was sich, wie es einige verstreute Bemerkungen erkennen lassen, eigentlich A. Pirelli, Taccuini 1922-1943, Bologna 1984, vorgenommen hatte).

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Theoretisierung des Führerprinzips verwandelt sich so auch nie in eine wirkliche Einrichtung58 , da es ihnen immer an realen Kriterien zur juristischen Erkennbarkeit etga omnes fehlen wird. Wir wissen tatsächlich wie sich Hitler seine Position aufbaute, aber wenn das Dritte Reich wirklich zum Tausendjährigen Reich geworden wäre, war es keineswegs auf eine Weise strukturiert, die die Sukzession der Anführer friedlich und automatisch gestalten konnte. Ganz zu schweigen vom Fehlen jedweder Instrumente zur Kontrolle dessen, was sogar die abstrakte Theorie voraussah, nämlich daß der Führer seine eigene Gefolgschaft verraten könnte. Als letztes möchte ich auf die absolute Inkonsistenz des Prinzips des "Führerbefehls" hinweisen, der fast immer an rein mündliche Formen und an die obskuren Manipulationen der Interpreten gebunden war59 . Noch konfuser präsentiert sich die Lage des Faschismus. Die einzig sichere Machtbasis für Mussolini war sein Status als Ministerpräsident, welcher seit dem Gesetz von 1926 eine deutlich verstärkte Führungsmacht im Vergleich zum Rest der Regierung genoß. Was die anderen Aspekte betrifft, so sind die faschistischen Gesetze bemerkenswert primitiv: die Macht, die Mussolini im Großrat als Ministerpräsident innehielt, war eindrucksvoll, aber am Ende wurde ihm die an sich rein schmückende Wendung der Anfangszeit zum Verhängnis: "supremo organo del Regime". Seine konstitutionelle Position hinsichtlich der Partei war immer höchst unsicher, da sie entweder mit dem Trick der Einfügung in den Staat (keine gute Idee, da der König das Staatsoberhaupt war) oder mit der Anwendung der Bezeichnung ,Duce' überholt wurde, der in keinem Text eine Unterbringung fand (und ehrlich gesagt, wußte niemand genau, was er genau bedeutete). Es wurde nie mit Sicherheit festegestellt, von wo die Investitur der Regierung herkam, ob wie in einer reinen konstitutionellen Regierung vom König; ob von der Partei als neuem Stellvertreter der Wählerschaft; oder ob vom Großrat, verstanden entweder als Synthese von Partei und Staat (aber welchem Staat) oder als neues institutionelles Organ, zur (die rekten?) Interpretation des Volkswillens60. Woran mir jetzt liegt, ist die Hervorhebung des "tyrannischen" Charakters der beiden Mächte, also der Tatsache, daß sie sich auf Manipulationen der juristischen Befehlsstrukturen gründen, die sich in persönlichen Besitz umwandeln und die weiterhin, aufgrund der gewaltsamen Ausschließung der Möglichkeit der Kontrolle von außen, gehalten werden61 . 58 Übe r d en Ursprung des Führerprinzips, siehe W. Horn, Führe rideologie und Parteiorganisation in der NSDAP, Düsseldorf 1972. 59 Zur Stellung Hitlers vgl. H. Mommsen, Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Der Führerstaat, S. 43-70. 60 Auf die Details dieser Debatte wird ausführlich einge gange n in P. Pombeni, Dcmagogia e tirannide, ergänzend vgl. auch die scho n angeführte n We rken von Cianferotti und Ornaghi. 61 Ich verwe ise auf die obe n angeführten Arbe ite n , was die Theorie der Diktatur betrifft und auße rdem auf das Schicksal des Werks vo n C. Schmitt, Die Diktatur. Von

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Hierher gehört auch die Frage der engsten Gefolgsmänner des Führers, derjeniger, die ihm zur Macht verholfen haben und dann selbst Schwierigkeiten haben in einem politischen System wie dem Faschismus, ein Unterkommen zu finden. Dies gilt, wenn auch in recht unterschiedlicher Art und Weise, sowohl für Faschismus wie Nationalsozialismus. Auch in diesem Fall reichen die abstrakten Typologien nur bis zu der Formulierung des Problems: in beiden Regimen existierte von Anfang an eine Gruppe privilegierter Mitarbeiter, die aus diesem Grund eine besonders wichtige Stellung und tatsächlich eine gewisse Kontrollgewalt haben (auch wenn es auf der institutionellen Ebene keine Umsetzung hierfür gibt); sie bekleiden diese Positionen in Eigenschaft von Personen und nicht aufgrund konstitutioneller Ämter. Aufgrund von Ähnlichkeiten mit der Religionsgeschichte, schlage ich vor, diese Gruppe als "Kardinäle" des Regimes zu bezeichnen62 . Aber hier hören auch schon die Ähnlichkeiten auf. Außerdem besaß die Gruppe der zwölf Vertrauten Hitlers63 keinen formalen Ort zur kollektiven Machtausübung, aber es war ihnen zum Ausgleich ermöglicht worden, Schlüsselpositionen in der Verwaltung zu besetzen; richtige Lehen, wofür Himmler und die SS das eklatanteste Beispiel sind. Diese Bemerkungen sind im Licht der Debatte über den ,/eudalen" Charakter des Nationalsozialismus, über die "Polykratie" und über Hitler als "schwacher Diktator" zu sehen, der uns jedenfalls beweist, daß der "Führerstaat" mehr Mythos als institutionelle Realität war64 . Diese Gruppe hatte auch ihre inneren Zwistikeiten (man sprach von "Diadochenkampf"), aber sie hatte grundsätzlich den Zusammenhalt bewahrt, den sie aus der revolutionären Investitur der ersten Stunde herleiteten, deren Infragestellen notgedrungenermaßen das Ende des eigenen persönlichen Glücks bedeutet hätte. Der konstitutionelle Bruch bezüglich auf Weimar hatte zur Folge, daß es keine Möglichkeit der Mediation mehr gab: es ist kein Zufall, daß beim Zusammenbruch des Nationalsozialismus die Armee das einzige Machtzentrum geblieben war, den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1964. 62 Die Stellung der "Kardinäle" in der katholischen Kirche, wo ihnen als "corpus" die Wahl des Papstes zukam, hat keinen "teologischen" Ursprung, sondern einen "histrorischen" Ursprung, da sie ursprünglich die Titulare der wichtigsten Kirchen Roms waren und als solche Wähler des Bischofs von Rom (der aufgrund dieser Tatsache der Papst war). Erst später ging man dazu über, diejenigen, die in der Zentralregierung des Katholizismus mit dem Papst eng zusammenarbeiteten und ihm besonders nahestanden, als "Kardinäle" zu bezeichnen. Vgl. G. Alberigo, Cardinalato e Collegialita, Firenze 1969. 63 Hitlers "Diadochen" waren: Göring, Himmler, Goebbels, Schwarz, Hess, Bormann, Ley, Wagner, Sauckel, Koch, Kaufmann und Bürckel. 64 Hier muß noch einmal auf die ausgedehnte Debatte über Hitler als "schwachem Diktator" sowie den "feudalen" und "polykratischen" Charakter des Nationalsozialismus hingewiesen werden, die sich in der Literatur von Anm. 21 wiederspiegelt.

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also die einzige Einrichtung, die vom Kaiserreich bis 1945 eine juristische Kontinuität genossen hatte65 . Hiermit soll nicht behauptet werden, daß die nationalsozialistische Polykratie als ein auf Hitler beschränktes System zu verstehen ist, der von Grund auf tyrannisch war. Es geht mir nur darum, zu verhindern, daß man der anderen entgegengesetzten Vereinfachung anheimfällt: also der Hypothese, daß der Alleinbesitz Hitlers der politisch-konstitutionellen Legitimierungsgewalt, es ihm erlaubte, wirklich vom Konsens seiner "Kardinäle" absehen zu können. Es geht hier also nicht darum, wer als Sieger aus einem direkten Zusammenstoß zwischen Hitler und irgendeinem seiner "Diadochen" hervorgegangen wäre; sondern darum, ob es dem Tyrannen wirklich gelungen wäre, sich von der ganzen beachtlichen Machtgruppe zu befreien. Meiner Meinung nach ist dies eine legitime Frage, nicht von den notwendigerweise abstrakten Überlegungen ausgehend, die man für den Nationalsozialismus dort anstellen müßte, wo der globale Konflikt nicht stattfand, sondern wenn man davon ausgeht, was im Faschismus geschehen ist. Mussolini fand sich vom Blickwinkel seiner "Kardinäle" aus gesehen in einer weitaus günstigeren Position als Hitler. Da es in Italien eine Machtdiarchie gab und da die Macht Mussolinis nicht eindeutig bestimmt war also sowohl von dem Ruf des Königs (eine ausschlaggebende Tatsache, die man auf verschiedene Weise zu maskieren suchte), als auch von seiner Rolle als capo des "Faschismus" (mit der gesamten Verschwommenheit dieser Definition) "herrührte" -, existierten auf der konstitutionellen Ebene weitaus geringere Probleme, als die bürokratische Zentralisierung der Entscheidungsgewalt und die zunehmend marginale Natur der Beiträge der Führer des Regimes. Nicht vergessen werden darf, worauf wir schon mehrfach hingewiesen haben: Da die PNF nur kurze Zeit nicht an der Macht war, konnte sich eine wirkliche Beziehung zwischen Führern, der Führerschicht der Partei und der Massenbewegung nie einspielen. Dies geschah aufgrund der anhaltenden Spannungen, denen die Partei von 1923 an ausgesetzt war, mit der Erschütterung der Militanten und der Angewohnheit nicht nur den Sekretär der PNF kontinuierlich auszuwechseln (während Hess fast bis zum Fall des Regimes im Amt blieb), sondern auch zu zeigen, daß dieses Amt in keinster Weise schützte, noch das Erlangen einer dauerhaften Position gestattete66 . 65 Dies natürlich ohne die Legende einer im Nationalsozialismus "unbefleckt" gebleibenen Armee zu schlucken: nur, wenn diese sich mit dem Eid von 1934 an das Regime verkauft hatte, es als Block geschah und so hatte sie ihre eigene Identität als Korporation behalten (härter ist das Urteil von G. Craig, Politics of the Prussian Army 1640-1945, Oxford U. Press 1964). 66 Im Gegenteil, die einzigen beiden Sekretäre der PNF, denen es gelang, solange an der Macht zu bleiben, um eine Rolle zu spielen (Turati und Starace), nahmen ein böses Ende und wurden vom eigenen Regime gedemütigt: vgl. die Aufsätze, die ihnen gewidmet sind, respektive von Ph. Morgan und S. Setta, in: Uomini e volti del fascismo, hrsg. von F. Cordova, Roma 1980.

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Die einzige Ausnahme dieser Regel ist Farinacci67 , der jedoch eine Ausnahme war, nicht so sehr als Sekretär, sondern weil er es als einziger der "Kardinäle" zu einem bedeutenden Amt in der Partei gebracht hatte. Im übrigen verknüpfte der harte Kern der Persönlichkeiten des Regimes, Grandi, Bottai, Balbo, Federzoni, ihre Laufbahn nicht mit einer istitutionellen Präsenz in der Partei. Man könnte vielleicht meinen, daß wir den Großrat außer Betracht lassen. Keineswegs: der Großrat ist gleichzeitig genau der Ort der Anerkennung sowie der Neutralisierung dieser persönlichen Positionen. Was emphatisch als höchstes Organ des Regimes definiert werden wird, wurde in Wirklichkeit von Mussolini als ein den Bedürfnissen des Diktators auf den Leib geschneidertes Organ erfunden, um der Partei eine externe Regierungsinstanz aufzuerlegen, ihr aber den Glauben vermittelte, das angestrebte Ziel zu erreichen: nämlich mit politischen Prinzipien die Aktivität der Regierung zu kontrollieren. Er existiert nicht als Institution: er besitzt nicht die Macht sich einzuberufen, er hat keine Kontrolle über seine Mitglieder (alle nicht nur von Mussolini nominiert, aber auch jederzeit von ihm nach Belieben absetzbar), er kann keine Tagesordnung aufstellen und wählt nicht68 . Er existiert hingegen als externes "Symbol", um das Aufkommen anderer Zentren mit Entscheidungsgewalt zu verhindern oder deren Beschlüsse auf legitime Art zu zensieren, als Instrument der symbolischen (nicht realen) Vereinigung der "Kardinäle" mit der Macht des Tyrannen, um unter anderem zu verhindern, daß diese Vereinigung ihn gar nicht erst miteinbeziehen kann. Dieser Sachverhalt wird nicht sofort deutlich, so daß die leitende Gruppe der Faschisten sich wirklich an der Regierung des Diktators beteiligt wähnen kann. Hierher gehört ein aufschlußreiches Ereignis. Grandi schreibt in seinen Memoiren, daß der Faschismus mit dem Jahr 1932 zur Diktatur geworden sei und daß mit diesem Datum der Untergang des Regimes beginne69 Nun gibt es aber auf der konstitutionellen Ebene anscheinend gar nichts, was diese Aussage bestätigen könnte: schon 1929 war die Phase der monolitischen Machtgründung abgeschlossen. Andererseits gab es aber 1932 einen ganz präzisen Vorfall (und in dem Ausschnitt aus Grandis Tagebuch zum 25. Juli, das De Felice herausgegeben hat, ist die ganze Sache recht klar70) : am 20. 67 Zur Biographie Farinaccis vgl. H. Fornari, Mussolini"s Gadf!y: Roberto Farinacci, Nashville 1971. Auf die Rolle Farinaccis als Theoretiker des "bolschewistischen" Flügels der PNF hat W. Schieder in seinen Werken oft verwiesen. 68 Für eine genaue Analyse dieser institutionellen Entwicklungen, verweise ich noch einmal auf P. Pombeni, Demagogia e Tirannide. 69 D. Grandi, 25 luglio, S. 293. 70 D . Grandi, Pagine di Diario del 1943, in: Storia Contemporanea, XIV (1983), S. 1049-1051 (hier gibt es auch einen Hinweis, der Ludwigs Gesprächen mit Mussolini entnommen ist und dann in der zweiten Ausgabe entfernt wurde, auf die Existenz eines "Dauphine": Grandi, Bottai, Balbo).

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Juli 1932 "traten" Grandi, Rocco, Bottai, Balbino Giuliano und Mosconi von ihren Ministerämtern "zurück". Das waren die Nachwehen eines Machtkampfes, den - wie wir aus einer Untersuchung von Michelis71 wissen- die alten Führungskräfte gefördert hatten, um die Nachfolge des Duce im Rahmen des Quadrumvirats zu halten, gerfördert von Balbo. Es war auch der Beginn der Zerstreuung der alten Führungskräfte, die im nächsten Jahr mit der Entfernung aus der Regierung von Balbo selbst abgeschlossen sein würde (in diesem Zusammenhang sei auf die fast gleich verlaufene Beseitigung Arpinatis hingewiesen). Von diesem Moment an wird die Regierung mehr und mehr zu einer persönlichen Angelegenheit Mussolinis und der Großrat verliert zunehmend an Gewicht, auch als rein privater Ratgeber des Tyrannen. Und doch wird sich die Krise des 25. Juli genau wie eine Revolte der alten Garde vollziehen, als Selbstauflösung des Faschismus. Auf der formaljuristischen Ebene hat der Akt des Großrates keinen Wert und der Staatsstreich des Königs vollzieht sich in einem Regime, das in einem Zustand kompletter Unkenntnis jedweden Rechtsprinzips lebt (was nach zwanzig Jahren Arechtlichkeit nicht verwunderlich ist) 72 . Ausschlaggebend ist der Akt auf de1 politischen Ebene, weil der Großrat - in Abwesenheit eines institutionellen Zentrums mit klaren Funktionen - so unweigerlich zur Spitzenorganisation des Regimes wird, zur Versammlung der wirklichen "Führer" des Regimes (von dem die Partei nur eine der Komponenten ist). Der Tyrann kann den Putsch seiner leitenden Gruppe nicht überleben, da der Putsch eine Delegitimisierung des am Leben gebliebenen konstitutionellen Systems mit sich bringt; also aufgrund der Unmöglichkeit, die Diktatur unter diesen Umständen über die sozialen Bande und die treucn aber nicht veränderten institutionellen Zentren aufrechtzuerhalten (so wie es der radikale Flügel der PNF schon immer - zu recht behauptet hatte). Wäre so etwas im Nationalsozialismus möglich gewesen? Wir können nur sagen, daß es nie geschah, daß die Verderbtheit der "Opportunisten" in der führenden Gruppe geringer war (aufgrund der Zeit, die man in einem Mehrparteiensystem verbracht hatte); während wir sagen können, daß die Rolle als "autonomes" Zentrum, die die Armee als interner Katalysator des 71 M . Micbe/is, II maresciallo dell'aria, Bd. 1: Balbo e Ia politica mussoliniana. II frondismo di Balbo alla luce di aleuni documcnti c testimonianze inediti, in: Storia Contemporana, XIV (1983), S. 333-357. 72 Der Großrat besaß laut Gesetz keine "Vertrauensmacht" bezüglich der Regierung. Wenn der König seine Handlung als eine reine Berufung auf das sog. Prinzip des reinen Konstiutionalismus hätte verstehen wollen, so benötigte er die Abstimmung des Großrates ganz und gar nicht. Wenn dieser Abstimmung hingegen ein Wert als Vertrauensabstimmung begemessen wurde, so verpflichtete diese den König, den Großrat in Sachen "Nachfolge" Mussolinis einzuschalten. Und dies sind nur einige der möglichen Objektionen.

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internen Widerstands in der letzten Phase spielte, noch auszuwerten bleibt; nicht nur bezüglich der Verschworenen des 20. Juli, sondern auch in dem kurzen Versuch nach Hitlers Tod, die Friedensverhandlungen mit den Alliierten zu führen. An diesem Punkt bleibt noch die Zerbröckelung der komplexen sozialen Eingliederung der Paschismen zu analysieren. Mit dem Verlust der politischen Macht, wird der Faschismus von niemandem verteidigt. Ich spreche vom italienischen Faschismus, da der Fall des Nazisystems nicht vergleichbar ist: er fällt mit der militärischen Besetzung, der Aufteilung des Landes, dem wirtschaftlichen und institutionellen Kollaps zusammen. Wie kommt es, daß die Massenloyalität (oder wenn man den alten Ausdruck vorzieht, der Konsens) über Nacht verschwunden ist? Sicherlich nicht nur weil die Veränderung unter Führung einer legitimen Autorität vonstatten geht. Das mag vielleicht für das Gros der Bevölkerung zutreffen, wenn man den Mythos der "oberflächlichen" Faschistisierung akzeptiert 73; aber die vielen hundert Führungskräfte einer Partei, die nie aufgehört hatten, die Revolution zu predigen, wie konnten sie widerstandslos dem Fall des Regimes zusehen? Ich muß gestehen, daß die übliche Erklärung mich wenig überzeugt: nämlich, daß all dies nur die leere Bürokratie an den Tag lege, zu der die PNF verkommen war, die politische Kastration der Partei seit 1926. Dies ist ein Teil der Wahrheit, abes es gibt noch mehr. Das erste Element ist das, was im alten Völkerrecht mit "judicium belli" bezeichnet worden wäre . Der Faschismus fällt, weil er den Krieg verliert: nun hatte der Faschismus aber dem Land versprochen, es zu einem Herrscherland zu machen und es international auszudehnen. Der Verlust des Krieges deckt die Leere des Regimes auf und entbindet von der politischen Verpflichtung74. Das zweite Element ist der Effekt der Rückke hr der Arechtlichkeit der Tyrannei. Die Paschismen hatten keinerlei institutionelle Fähigkeit besessen, aus diesem Grund waren sie schwache Regime. Wenn der "Führer" einmal entfernt ist, hat der Koloss keine Macht mehr (dies ist die Logik, die hinter den verschiedenen Versuchen des Tyrannenmordes steckt). So gesehen liegt die Umwandlung der Parteiform seitens der Paschismen darin, daß sie sie de-institutionalisiert haben, also die leitende Ebene von der der Militanz getrennt zu haben und ihr so - auch prinzipiell - jede konstitutionelle Wer73 Diese Urte ile sind schwe r zu akzeptieren, da es keine Maßeinheit gibt, die erkennen läßt, wie oberflächlich oder wie tief eine Ideologie im Volk verwurzelt ist.

74 In der kürzlich erschienen Memoiren (Grandi, Pirelli, E. Ortona, 111943 da Palazzo Chigi. Note di Diario, in Storia Conte mporanea, XIV (1 983), S. 1076-1147, wird der Ante il der Kriegspo litik an der Niederlage Mussolinis deutlich, se i es, we il so die "Grenzen" des Diktators enthüllt werde n oder aufgrund des festen Willens der Alliie rten, jede Verhandlung mit den amtie rende n faschistischen Regierunge n zu verwe igern.

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tigkeit genommen zu haben. Daher besitzt in den Paschismen die Partei letzten Endes dieselbe Rilevanz wie die "Wählerschaft" in der Demokratie: sie ist ein wesentliches Rechtssubjekt, Inhaber einer der höchsten Gewalten, sie kann nicht ausgeschaltet werden, ohne Hand an die konstitutionellen Fundamente zu legen, aber gleichzeitig ist sie ein "fiktives" Subjekt, das als "Person" inexistent ist, also nicht in der Lage ist, wirklich einen Willen kundzutun oder eine Entscheidung zu treffen. Sie ist nur ein Instrument (von Außen zu verwirklichen), um eine beschränkte Aufgabe zu lösen. Das dritte Element betrifft allgemeiner den Statalismus, deren Träger die Paschismen nominell waren. Das Gesetz vom 1. Dezember 1933 besagt, daß die NSDAP "die Trägerio des deutschen Staatsgedankens und mit dem Staat unlöslich verbunden" sei. Jeder erinnert sich an Mussolinis berühmten Ausspruch "tutto nello Stato" ("alles im Staat"). Wenn - wie schon oben gesagt - all dies nur den Sinn hatte, die politische Treue zu erleichtern, indem der neue Herrscher als Nachfolger des legitimen alten Herrschers dargestellt wird, darf man aber darüber nicht vergessen, daß so auch noch ein weiterer Schritt ermöglicht wird: die Übertragung der Treue auf jeden neuen Herrscher, der sich irgendwie das Gewand des Statalismus überzieht. Und das ohne darauf einzugehen, wie dieser Mechanismus dann als Formel der kollektiven Selbstabsolution dazu dienen konnte - fast bis hin zur Verneinung der Existenz des Faschismus. Jetzt bleibt nur noch zu untersuchen, ob das konstitutionelle Ereignis der Paschismen dem Post-Faschismus, was die Frage der Parteiform betrifft, eine Erbschaft hinterlassen hat. Wir stehen vor einem schwierigen Problem, über das aber dennoch nicht hinweggegangen werden darf. An erster Stelle mufS wenigstens vermerkt werden, dafS die post-faschistischen Verfassungen - auch wenn sie die Legitimität von monopartitischen Strukturen entschieden ablehnen und versuchen, jede Möglichkeit zu Machtkonzentrationen, die in eine Diktatur umschlagen könnten, auszuschliefSen - sich auf Parteien stützen, die einen den faschistischen Parteien nicht allzu unähnlichen Idealtypus darstellen. Ich möchte weder eine Moralpredigt halten, noch die Demokratien entwerten. Ich möchte nur auf einige Tatsachen hinweisen. Zum Beispiel: die Idee, daß die politische Treue heute über die legitimisierende Mediation der Partei kanalisiert wird, ist allgemein anerkannt, mit der einzigen Beschränkung des Pluralismus und der Konkurrenz zwischen Parteien als antityrannische Garantie. Fast könnte man sagen, dafS die Idee der politischen Treue zum Staat - insofern er das Interesse der Allgemeinheit fördert - von der Idee ersetzt worden ist, dafS die politische Treue zum Staat darauf aufbaut, daß derselbe der Garant der Beibehaltung der Institutionalisierung der ideologischen und sozialen Vertretungen in den Parteien ist (seinerseits ein Phänomen mit totalitären Folgen). Dem ist aber hinzuzufügen, daß dieses Phänomen in der ersten post-faschistischen Phase am präsentesten war. In der Folgezeit überwog dann die

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Rückkehr zu jener anderen Umwandlung der Parteiform, die die Faschisten eingeführt hatten. Demzufolge werden die Parteien zu Strukturen mit drei Ebenen: eine Ebene ist aufgrund der Einordnung in die öffentliche leitende Schicht zur Führung der Partei zugelassen; eine leitende Ebene, die die eigene Selbstbestätigung in der inneren Verwaltung der Partei in die Tat umsetzt, deren Statute immer komplexere Artikulationsebenen und die Möglichkeit immer einflußreicherer Führungspsitionen in Betracht ziehen, obwohl sie formell der öffentlichen Verwaltung gänzlich fremd sind (was praktisch einen für die Paschismen typischen Mechanismus nachvollzieht, auch im Verbot jedweder Identifizierung zwischen Parteien und Staatlichkeit); und letztlich eine breite Ebene der passiven Militanz, die keinerlei Einfluß auf die Parteileitung und die Ausarbeitung politischer Strategien ausübt, aber mit einer Art Legitimierung belohnt wird, an der Aufnahme in die öffentliche Struktur teilzuhaben (bis hin zu dem erschwerenden korrupten Zustand, der Verteilung der öffentlichen Stellen je nach Parteizugehörigkeit). Meiner Meinung nach ist es beunruhigend zu beobachten, wie der Erfolg der faschistischen Parteien - sogenannte Wiederhersteller des Staates - den Parteien den Weg zur Kontrolle der öffentlichen Sphäre geebnet hat; und wie der Erfolg der antifaschistischen Parteien - Wiederhersteller der Demokratie - darin bestand, die Rolle der Ideologie als Grundlage des politischen Rechts bestätigt zu haben.

Partei, Staat und Duce in der Mythologie und der Organisation des Faschismus Von Emilio Gentile

1. Partei, Staat und Duce waren die wichtigsten Stützen des faschistischen Herrschaftsystems. Eine Analyse dieser drei Elemente, betrachtet in Bezug auf das Problem von Mythos und Organisation im Faschismus, erscheint erforderlich, um die Natur dieser Bewegung und Herrschaftsform zu verstehen, und um ihren Stellenwert im Rahmen der Erfahrungen mit dem modernen Autoritarismus zu bestimmen. In aller Regel ist dieser Aspekt des Faschismus bis jetzt von den Historikerr.. vernachlässigt worden. Der größte Teil der Faschismusforscher hat zu Recht den Klasseninteressen und den Machtkämpfe große Wichtigkeit beigemessen, um Genese und Funktion des faschistischen Herrschaftssystems zu erklären. Das Wissen, das wir auf diesem Gebiet haben, erlaubt es uns ein relativ klares Bild zu haben der Beziehungen zwischen dem Faschismus und den dominanten Gruppen in der Wirtschaft, den traditionellen Institutionen, den sozialen Verhältnissen und den politischen Ereignissen, welche die Machtergreifung des Faschismus und seine darauffolgende Stabilisierung ermöglichten. Die objektiven Umstände, unter denen der Faschismus herangereift ist und sich entfaltet hat, sind inzwischen hinreichend bekannt. Andererseits ist ein Gebiet fast gänzlich unerforscht geblieben: die Welt der Mythen und der Organisationen des Faschismus. Will sagen, daß wir die Beziehungen des Faschismus zu den objektiven Umständen kennen, aber nicht wissen, was der Faschismus per se war - mit der Folge den Faschismus nicht als Phänomen mit einer eigenen Physiognomie, sondern als Ergebnis von Beziehungen zu begreifen. Dies beruht auf der Unterschätzung der eigentümlichen Charakterzüge des Faschismus - als "Bewegung und Herrschaftsform" - und der verfehlten Wahrnehmung der Beziehungen von Mythos und Organisation in der Gestaltung des faschistischen Herrschaftssystems. Und so wurde dieses für ein funktionales Instrument zur Verteidigung der bürgerlichen Klasseninteressen gehalten, für eine hybride Konstruktion, welche nicht gemäß einer Konzeption der Politik und der Massen, sondern aus dem Impuls nebensächlicher Umstände und zufälliger Initiativen errichtet wurde, hauptsächlich hervorgerufen von Mussolinis persönlichem Machtstreben, oder als Produkt der Vermengung dieser beider Faktoren. Sich in diese Richtung

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bewegend hat die Forschung sicherlich große Fortschritte bei der Erkenntnis des Faschismus gemacht. Ausschließlich in dieser Richtung fortzufahren, könnte unserer Meinung nach dennoch nur dazu führen, für schon Bekanntes und allgemein Akzeptiertes Bestätigungen zu finden, ohne daß damit ein zufriedenstellendes historisches Verständnis des Faschismus in seinen eigentümlichen Charakterzügen erreicht wurde. Die Analyse der Klasseninteressen, der Machtkämpfe und der persönlichen Politik Mussolinis ist von entscheidender Bedeutung, aber nicht erschöpfend. Sie hat bis jetzt keine umfassende Antwort auf die zahllosen Probleme gegeben, welche die faschistische Erfahrung weiterhin auslöst. Die Forschung in andere Bahnen zu lenken, erfordert die Aneignung neuer Perspektiven. Diese Möglichkeit beruht, unserer Meinung nach, auf einer Überlegung, die gerade vom Fortschritt der Erkenntnisse auf dem Gebiet des Faschismus in den letzten Jahrzehnten herrührt, und zwar der Erkenntnis, daß der Faschismus eine "Bewegung-Herrschaftsform" mit einer eigenen Logik war, welche nicht restlos mit der Logik von Klasseninteressen und Mussolinis Politik gleichgesetzt und in ihr aufgelöst werden kann, auch wenn sie mit dieser verflochten ist. Der Standpunkt, der diesem Beitrag zugrunde liegt, stützt sich eben 2.uf folgende Voraussetzung: der Faschismus war ein neues Phänomen, welches, wie andere politische Bewegungen der Zeitgeschichte von den systemimmanenten Konflikten der modernen Massengesellschaft ausgelöst wurde, die sich in einer Zeit rapider Veränderungen um ein Lösung des Problems der Massen und des Staates bemüht. Die faschistische Herrschaftsform war ein davor noch nicht dagewesener Lösungsversuch - innerhalb der Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft ausgearbeitet und experimentiert, aber einer ausnehmend politischen und im wörtlichen Sinne totalitären Logik zufolge konzipiert und verwirklichkeit. In der Ausarbeitung und der Verwirklichung der faschistischen Herrschaftsform spielten Mythos und Organisation eine genauso fundamentale Rolle wie die Klasseninteressen und die Machtkämpfe, aber mehr noch als diese waren sie ausschlaggebend für die eigentümlichen Charakterzüge des Faschismus und die Logik seiner Verwirklichung. Dieser Beitrag beruht auf unseren früheren Studien, deren Ergebnisse kurz wiedergegeben werden, wird aber aus der neuen angegebenen Perspektive entwickele. Die Wahl einer Perspektive schränkt notwendigerweise das Beobachtungsfeld ein und hebt einige Aspekte im Vergleich zu anderen hervor, ohne aber in abstrakter Weise ein Prioritätenkriterium aufzustellen und ohne Nutzen und Wichtigkeit

Vgl. 1:.'. Gentile, Le origini dell'ideologia fascista, Roma-Bari 1975; II mito dello Stato nuovo, Rom-Bari 1982; Il mito di Mussolini, in: Mondo Operaio, Juli-August 1983; The problern of the pany in Italian fascism, in: Journal of Contemporary History, XIX (1984), S. 251-274; La natura e Ia storia del parlito nazianale fascista nella interpretazione dei contemporanei e degli storici, in: Storia contemporanea, XVI (1985), S. 521-607; Storia del partito fascista . 1919-1922. Movimento e milizia, RomBari 1989.

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der Erforschung anderer Aspekte auszuschließen. Ihre Stichhaltigkeit gegenüber den bis dato gebräuchlichen Perspektiven wird davon abhängig sein, ob sie in der Lage ist, neue Fragen aufzuwerfen, neue Ermittlungsgebiete aufzutun, innere Aspekte und Verhältnisse der faschistischen Realität ans Licht zu holen, also in anderen Worten: von ihrer Fähigkeit einen höheren Grad historischen Bewußtseins in Bezug auf Natur und Bedeutung des Faschismus zu bilden. 2. Unsere Beobachtungen gehen von einigen allgemeinen Betrachtungen über das Problem von Mythos und Organisation im Faschismus aus, angefangen mit zwei wichtigen Tatsachen: a. Der Faschismus war die erste militarisierte Partei, welche in einer liberalen Demokratie Europas die Macht ergriffen hatte mit der festen Absicht, diese selbst zu zerstören, und welche die Durchsetzung des Primats der Politik über die Auflösung des Pr iv a t e n i m Ö f f e n t I i c h e n vor jedem anderen Aspekt des individuellen und kollektiven Lebens zum klaren und praktisch ausgeführten Ziel hatte, um die Gesellschaft auf totalitäre Weise zu organisieren und sie dem Staat, verstanden als absoluter und überragender Wert, unter- und in ihn einzuordnen. b. Der Faschismus war auch die erste politische Bewegung unseres Jahrhunderts, welche den Gedanken des Mythos an die Macht brachte, sie zur überragenden Form politischen Ausdrucks der Massen und zum moralischen Fundament für deren Organisation weihte. Mythos und Organisation waren die wesentlichen und komplementären Komponenten der Politik der Massen des Faschismus und seines politischen Systems. Mythos und Organisation waren für die Faschisten nicht nur künstliche Werkzeuge politischer Technik, sondern sie waren fundamentale die Kategorien, welche zur Interpretation der Probleme der modernen Massengesellschaft dienten und ihre Stellung in dieser Realität definierten, um in ihr zu handeln und sie zu verändern. Mit einem Wortspiel könnte man sagen, daß der Faschismus über den Mythos der Organisation verfügte und versuchte einen Mythos in der Realität zu organisieren, diesen also in Institutionen und kollektive Lebensformen umzusetzen.

Der Faschismus war sich von Anfang an der Wichtigkeit des Mythos in der Massenpolitik bewußt. So hatten die Faschisten von Sore! und Le Bon gelernt, daß der Mythos ein gewichtiger Faktor für die Mobilisierung und den inneren Zusammenhalt der Massen war. Eine politische Partei, so konnte man am 5. Juli 1922 in "I! Popolo d'Italia" lesen, müsse, um eine "unbezwingbare, treibende Bewegung" zu werden, einen Mythos haben, demzufolge es überaus schön und notwendig erscheint, zu leben und auch zu sterben": "Der Mythos, durch den allein die großen Massen sich bewegen, ist immer die Sublimierung, die Simplifizierung eines anstrengenden und komplexen geistigen und moralischen Komplexes; er ist die höchste Synthese einer gesamten neuen und mehr oder weniger organischen Lebens- und Weltanschauung und äußert sich immer in einem Wort, in einem Motto, in einem Symbol. .. welches die Eigenschaft besitzt, sich deutlich in die Gemüter einzuprägen und eine beliebige Faszi-

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nation auf die Massen auszuüben, die unfähig zu Meditation und Nachdenken, aber bereit zu jedwedem Überschwang und Enthusiasmus sind" 2 •

Die an t i i d e o I o g i s c h e Ideologie des Faschismus war hauptsächlich Ausdruck eines mythischen Gedankens, Ausarbeitung politischer Mythen, welche in Ansätzen schon in der ersten Periode der Herausbildung der Milizpartei vorhanden waren. Diese war konzipiert als Organisation, die auf dem Mythos der Nation gegründet ist, um neue Mythen von Größe und Macht, dargestellt von R ö m er tu m , vom Re i c h e , vom neuen Staat zu verwirklichen. Die bewußte Ausarbeitung der Mythen sollte man sich nicht nur als Werk kühler und sachkundiger Planer der Massenmanipulation und der Propaganda vorstellen. Die Erkenntnis der mythischen Macht hatte zweifelsohne ein instrumentales Ergebnis, aber die Faschisten wirkten selbst im Ionern der Logik der Mythen, welche sie den Massen darboten. Auch ihre Konzeption von Politik als Ausdruck des Machtwillens einer Minderheit, imstande Realität und Menschen zu gestalten, war eine Gefangene des Mythos. Die Faschisten konzipierten Politik "als Wagnis, als Versuch, als Unterfangen, als Ungenügen an der Realität, als Abenteuer, als Feier des Aktionskults". Für sie war Politik "Leben im vollen, absoluten, obsessiven Sinn des Worts". In der "Dottrina del fascismo", dem Text für politische Vorbereitungskurse, wurde Politik definiert als "freie und zielbewußte schöpferische Tätigkeit bestimmter Gruppen von Männern, die unter dem Einfluß von sozialen Mythen handeln" 3. Sogar noch im Juni 1942 bewies ein junger Faschist dem "Mythos der Politik" Treue: "unseren zukünftigen Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt, sie akzeptieren keine anderen Schranken außer denjenigen, die wir selbst ihnen setzen werden" 4 . Nach seinem Austritt aus dem Bann des "Mythos der Politik", gab Giuseppe Bottai 1944 zu, ein unterrichtetes Opfer gewesen zu sein: "Wir wurden dazu angehalten, auf uns selbst zu vertrauen; das will heißen, auf unseren Willen, welcher uns unsere schöpferische Kraft für grenzenlos halten ließ ... wir handelten so, als sei die Politik die Kunst des Unmöglichen, des Wunderbaren, des Mirakulösen"'. Die mythische Konzeption der Politik wies der Politik die Funktion zu, politische Mythen in die Tat umzusetzen, also, wie Camillo Pellizzi 1924 schrieb, "historische Monumente" zu schaffen, neue Organisationsformen des kollektiven Lebens6 Der Zusammenhang zwischen dem Mythos der Politik und dem Organisationswahn war von Anbeginn des Aufbaus des totalitären Staats unauflösbar beschlossen, auch er mythisch konzepiert als Instrument und Ziel der "kontinuierlichen Revolution", ununterbrochene

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F. Pretaro, Il nostro "mito". La patria e l'impero, in: ll Popolo d 'Italia, 5. Juli

Dottrina del fascismo, Roma 1936, S. 67. U. Indrio, Sull'educazione politica degli italiani, in: Costruire, Juni 1942. Zitat in E. Gentile, Il mito de llo Stato nuovo, S. 266 ff. C. Pellizzi, Problemi e realta del fascismo, Firenze 1924, S. 66.

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und nie erschöpfbare Kreation einer neue n p o I i t i s c h e n Zivi I i s a t i o n . Oie mythische Komponente gab Anstoß zur Entwicklung der totalitären Organisation, welche den Massen die Mythen einflößen und sie durch den Zauber der Mythen verwandeln sollte. Der faschistische Totalitarismus, schrieb "II Popolo d'Italia" am 25. November 1926, könne keine neutralen Gebiete im italienischen Leben zulassen: "Die Faschistisierung der Massen: hier liegt das wahre und große Problem" 7 Oie Lösung sei davon abhängig, die mythische Komponente in der "Systematisierung des Glaubens" zum Wirken zu bringen, mit Hilfe der Organisation: "Wenn wir vom ,neuen Menschen' sprechen, liegt es auf der Hand, dag wir von der neuen Gesellschaft sprechen wollen. Die ernsteste und wahrhaftigste Aufgabe des Faschismus liegt genau darin, soziale Verknüpfungen ausreifen zu lassen, einen politischen und historischen humus, auf dem das Individuum wachsen kann, die neuen Generationen sich entwickeln können. Zu diesem Zweck ist viel Glauben und sehr wenig Theorie von Nöten; es müssen also Mythen das Lehen der Nation beherrschen ... Die Sprache des Führers, die politische Praxis des Regimes stützen sich selbst auf die Mythen; mehr als Programme gibt es Aufgaben, mehr als Formeln Gebote, mehr als Philosophen sind Soldaten gefordert ... Die Mythen begleiten au!Serdem immer die Entstehung einer gro8en Zivilisation; sie helfen ihr, sich zu entfalten, lassen sie als Kraft und universale Idee triumphieren ... den Glauben zu systematisieren, ihn auf präzise Aufgaben und bestimmte Ziele zurückzuführen, ist d