Baptisten weltweit: Ursprünge, Entwicklungen, Theologische Identitäten. Die Kirchen der Gegenwart 7 [1 ed.] 9783666565007, 9783525565001

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Baptisten weltweit: Ursprünge, Entwicklungen, Theologische Identitäten. Die Kirchen der Gegenwart 7 [1 ed.]
 9783666565007, 9783525565001

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Bensheimer Hefte

118

Erich Geldbach (Hg.)

Baptisten weltweit Ursprünge, Entwicklungen, Theologische Identitäten Die Kirchen der Gegenwart 7

Vandenhoeck & Ruprecht

BENSHEIMER HEFTE Herausgegeben vom Evangelischen Bund Heft 118

Die Kirchen der Gegenwart Herausgegeben von Gury Schneider-Ludorff und Walter Fleischmann-Bisten Band 7

ERICH GELDBACH (HG.)

Baptisten weltweit Ursprünge, Entwicklungen, Theologische Identitäten

VANDENHOECK & RUPRECHT

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 457735570.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagbild: Lithographie einer Taufe im Rummelsberger See (Berlin), angefertigt von dem Berliner Baptistenpastor Gottfried Wilhelm Lehmann (1799–1882) aus dem Oncken-Archiv, Elstal Übersetzung: Erich Geldbach Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 0522-9014 ISBN 978-3-666-56500-7

INHALT

Vorwort und Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 A. Entstehung und Entwicklung der baptistischen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Entstehung und Entwicklung der baptistischen Bewegung im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 John H. Y. Briggs Entwicklungen der baptistischen Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 David Bebbington B. Baptistische Missionarische Bemühungen . . . . . . . . . 37 Kurze Geschichte baptistischer missionarischer Anstrengungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Robert N. Nash C. Baptistische Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Die Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Anthony R. Cross Abendmahl / Eucharistie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Steven R. Harmon Das kirchliche Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Steven R. Harmon Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit und Menschenrechte in der baptistischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Massimo Rubboli Baptisten und sozio-politische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 100 David P. Gushee und Larry L. McSwain 5

D. Baptistische Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Britische Baptistische Frauen als Pastorinnen . . . . . . . . . . 114 Faith Bowers / Ruth Gouldbourne Baptistische Frauen und Ordination . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Pamela R. Durso Eine kurze Geschichte der Baptistischen Union der Frauen des Südwestpazifiks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Julie Belding E. Baptisten in allen Erdteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Der Baptistische Weltbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Erich Geldbach Der Baptistische Weltbund: 2007–2017 . . . . . . . . . . . . . 192 Neville Callam Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Baptisten in den USA und Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 William Brackney Die Afro-Amerikanische Baptistische Reise. „Rettung, Hoffnung und Befreiung. Eine Reise des Glaubens“ . . . . . . 236 Edward L. Wheeler und Mary S. Wheeler Die fundamentalistische Kontroverse in den USA im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Barry Hankins Der Ausschuss zur Unterstützung der Pastoren und Missionare. Eine kritische Ressource für Baptisten in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Everett C. Goodwin

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Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Die All-Afrikanische Baptistische Gemeinschaft . . . . . . . 277 Isaac Duro Ayanrinola Die Geschichte des Bundes der Baptistengemeinden in Nigeria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Solomon Ademola Ishola Baptisten in Südafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Louise Kretzschmar und Ngwedla Paul Msiza Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Die Europäische Baptistische Föderation (EBF) . . . . . . . 326 Ian Randall Die Verbindung östlicher und westlicher christlicher Traditionen in der Evangelisch-Baptistischen Kirche in Georgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Ilia Osephaschvili Ein parteilicher Ausstieg aus der Käseglocke. Der ukrainische Baptismus seit Anfang 2014 . . . . . . . . . . 350 William Yoder Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Bedeutende Augenblicke in der baptistischen Geschichte Lateinamerikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Dinorah B. Méndez Herausforderungen für die Baptisten in Argentinien . . . . 376 Tomas Mackey Aus der Karibischen Baptistischen Gemeinschaft. Baptisten in Jamaika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Devon Dick

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Asien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Baptisten in Asien im 21. Jahrhundert. Wachstum und Entwicklungshilfe, Erziehung und Ausbildung . . . . . . . . 391 Erin Sessions Stämme, Marginalisierte und Unabhängige. Baptisten im heutigen Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Dietmar Schulze Baptisten in Australien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Ken R. Manley Baptisten in Neuseeland und ihr Ringen um Identität . . . 459 Martin Sutherland Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

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VORWORT UND EINLEITUNG

Eine Reihe von Faktoren waren verantwortlich, warum sich die Bearbeitung dieses Buches ungebührlich in die Länge gezogen hat. Als die ersten Vorbereitungen getroffen wurden, starb meine Frau nach mehr als 51 Jahren einer glücklichen Partnerschaft. Die Monate, die folgten, waren sehr schwierig, und das Projekt geriet in den Hintergrund, obwohl es mich in Gedanken dauernd begleitete. Eine unerwartete Wende bewirkte, dass die Traurigkeit sich in unvorhersehbares Glück verwandelte, als Dr. med. Renate Kammerer und ich uns in ein gemeinsames Abenteuer stürzten, das wir uns beide vor wenigen Jahren nicht vorzustellen wagten. Mein Freund Walter Fleischmann-Bisten, der auch Mitherausgeber der Reihe ist, in der dieses Buch erscheint, drückte es wie folgt aus: Es dürfte nur wenige Theologieprofessoren geben, die zweimal von demselben Pastor über einen Zeitraum von mehr als 53 Jahren getraut werden. Es handelt sich um Pastor Hermann Woock, den ich hiermit grüßen und ihm danken möchte. Meine Frau hat mich zugleich ermutigt und Druck ausgeübt, das Projekt zum Abschluss zu bringen. Mein aufrichtiger Dank geht an sie für ihre große Hilfe. Ein herzlicher Dank geht auch an die Autoren für ihre sorgfältigen und innovativen Beiträge. Einige von ihnen, die auf meine anfängliche Einladung sofort reagierten, mussten ungebührlich lange warten bis das Manuskript endlich in die Druckerei gehen konnte. Ihnen schulde ich die Bitte um Nachsicht. Einige konnten aus Gesundheitsgründen ihre vorgesehenen Aufsätze nicht zum Abschluss bringen, so dass andere an ihre Stelle treten mussten. Ihnen danke ich besonders. Die modernen technischen Möglichkeiten erweisen sich manchmal als Segen, manchmal als Fluch. Die Festplatte meines Computers musste nur wenige Wochen vor Abschluss der Arbeiten ersetzt werden, und einige meiner übersetzten Texte gingen verloren und mussten neu bearbeitet werden. Eine Übersetzung ist sowohl zeitaufwendig als auch herausfordernd. In einigen Fällen habe ich mir die Freiheit genommen, dem Original nicht zu eng zu folgen. Auch habe ich einige Fußnoten an 9

Stellen eingefügt, die ich für Leserinnen und Leser, die in einem anderen Kontext als dem der Autoren leben, für notwendig erachtete. Einige Autoren haben ihre Beiträge mit einem umfangreichen Fußnotenapparat versehen, andere haben dies vermieden oder die Fußnoten auf ein Minimum begrenzt bzw. eine Bibliographie angefügt. Die Aufsätze sind so geblieben, wie es die Verfasser wollten. Die baptistische Bewegung ist eine nach-reformatorische Kirche in der reformatorischen Tradition, wie diese vom englischen Puritanismus auf seinem separatistischen Flügel verstanden und rezipiert wurde. Seit ihrer Entstehung ist die baptistische Bewegung nicht einheitlich, sondern verschiedenartig. Die meisten Baptisten folgten dem reformierten, calvinistischen Zweig oder was Baptisten des 17. Jahrhunderts als Lehre Calvins betrachteten. Selbst dann noch gab es Unterschiede anthropologischer Art, etwa welcher Mensch prädestiniert bzw. berufen war, ein Christ zu sein. Andere bezweifelten die traditionelle Einhaltung des Sonntags als Tag des Herrn und versammelten sich stattdessen am Sabbat oder dem „Siebten Tag“. Mit Ausbreitung und Wachstum des Baptismus erwuchsen auch neue und heiß umkämpfte Fragen, aber die 400jährige Geschichte zeigt, dass der Baptismus mit seiner Betonung der individuellen Freiheit und der Freiheit der Ortsgemeinde zugleich eine Vorliebe entwickelte, wie man mit Meinungsverschiedenheiten umgeht: Wenn man in Zweifel ist, sollte man besser auseinandergehen. Der Impuls zur Einheit stellte sich jedoch auch im Baptismus aufgrund zweier Tendenzen im Protestantismus im Allgemeinen ein: Es war einmal die Missionsbewegung und zum anderen die Ökumenische Bewegung. Wenngleich beide in ihrer Entstehungszeit etwa 100 Jahre auseinander liegen, sind sie dennoch miteinander verzahnt, weil die Missionsstrategen argumentieren, die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens leide darunter, dass er in mannigfaltiger Form präsentiert wird oder dass man gegenseitiges „Schäfchenstehlen“ praktiziert. Beide Bewegungen haben jedoch gemischte Reaktionen in baptistischen Kreisen hervorgerufen. Weil man im Neuen Testament keine Anzeichen für Missionsgesellschaften oder andere moderne Entwicklungen fand, positionierten einige Pastoren ihre Gemeinden als „AntiMissions“ Gemeinden. Das Gleiche lässt sich für die Ökumenische Bewegung sagen: Einige begrüßten die Suche nach Ein10

heit, während andere sich abseits hielten und lieber ihre eigenen, separaten Wege gingen. Innerhalb der größeren baptistischen Gemeinschaft und als Teil der Ökumenischen Bewegung erhob sich der Ruf nach mehr intra-baptistischer Einheit mit der Gründung des Baptistischen Weltbundes = Baptist World Alliance (BWA) 1905 in London. Einhundert Jahre lang war der Weltbund die eine Organisation, die in der Lage war, die unterschiedlichen Manifestationen des baptistischen Glaubens, der Kirchenordnung und des praktischen Verhaltens zusammen zu halten. Ein Jahr vor der Einhundert-Jahr-Feier 2005 beschloss jedoch die Southern Baptist Convention = die Baptistische Konvention im Süden der USA, dass es für diese fundamentalistische Organisation theologisch besser sei, dem Weltbund den Rücken zu kehren. Es ist dies ein erneutes Beispiel, dass ein Sich-Lossagen und eine Trennung wichtiger sein kann, als die Suche nach Einheit. Die Gliederung dieses Buches folgt im Allgemeinen dem Muster der anderen Bücher dieser Reihe der „Kirchen der Gegenwart“. Nach einem kurzen historischen Abriss richtet sich die Betonung auf die Lehren. Jedoch ist dazwischen noch ein Kapitel zu den missionarischen Bemühungen eingestreut, weil Baptisten als „Menschen der Mission“ bewundert oder gefürchtet waren und sind. Der Teil, der die Lehren darstellt, folgt zunächst den ökumenischen Fragen, wie sie die Konvergenzerklärungen von Lima zu Taufe, Eucharistie und Amt behandelt haben. Es folgt ein eigener Abschnitt zur Religionsfreiheit, weil sich dieses Thema wie ein roter Faden mit ekklesiologischen und politischen Implikationen durch die gesamte baptistische Geschichte zieht. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Freiheit im Kirchenverständnis des Baptismus eine „nota ecclesiae“ ist, die neben die aus der Tradition überkommenen Kennzeichen der Kirche – Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität – tritt. Das Unterkapitel, das über das sozio-politische Engagement handelt, bringt das Beste der baptistischen Traditionen an die Oberfläche. Man kann den gesamten Abschnitt über die Lehren auch unter dem Aspekt der besonderen baptistischen Unterscheidungsmerkmale (Baptist distinctives) lesen. Einige Frauen haben mich gewarnt, ein eigenes Kapitel über „Frauen“ aufzunehmen. Weil jedoch in allen Kirchen der Ort der Frauen in der Kirche, ihre Rollen in der Führung der Kirchen und ihre Ordination zu pastoralen Diensten intensiv diskutiert 11

werden, schien es angemessen, einige baptistische Schlaglichter auf diese Frage zu werfen. Es sei auch darauf verwiesen, dass in einigen Abschnitten wie z. B. zur Mission, zu den afro-amerikanischen Kirchen oder in einigen Länderartikeln eigene Passagen den „Frauen“ gewidmet sind. Der Hauptteil des Buches behandelt die Ausbreitung der baptistischen Bewegung in der ganzen Welt. Es muss nicht eigens betont werden, dass dieser Teil nicht erschöpfend sein kann. Das trifft besonders auf den afrikanischen Kontinent zu, gilt aber auch z. B. für Indien. Der Versuch ist jedoch gemacht worden, jeweils einen Überblick zu geben und exemplarische Beispiele und Länder zu präsentieren. Die größte Konzentration von Baptisten findet man in Nordamerika, weshalb dieser Teil des Buches der längste ist. Besonders hinzuweisen ist auf die beiden Zusätze für Europa. Die Situation in Georgien spiegelt ein einzigartiges Experiment wider, die baptistische Tradition in eine Kultur zu kontextualisieren, die über viele Jahrhunderte von der Orthodoxen Kirche bestimmt worden ist. Die Ukraine wurde wegen der besonderen politischen Lage des Landes exemplarisch aufgenommen. Das Land, das am Ende steht, ist Neuseeland. Baptisten in diesem wunderbaren Teil der Welt sollten aber nicht enttäuscht sein, weil diese Einordnung eine „geografische“ Entscheidung, aber selbstredend kein Werturteil ist. Mein besonderer Dank geht an Professorin Dr. Gury Schneider-­ Ludorff und meinen langjährigen Freund Dr. Walter FleischmannBisten für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe über die „Kirchen der Gegenwart“. Im Rahmen der Arbeit des Evangelischen Bundes wird diese Reihe von den beiden Genannten herausgegeben. Schließlich gebührt mein Dank auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, ohne deren Druckkostenzuschuss dieses Buch kaum hätte erscheinen können. Erich Geldbach 

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Marburg / Magdeburg, Ostern 2019

A. ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DER BAPTISTISCHEN BEWEGUNG

Entstehung und Entwicklung der baptistischen Bewegung im 17. / 18.  Jahrhundert John H. Y. Briggs Die englischen Baptisten können auf die längste ununterbrochene Geschichte seit Beginn des 17. Jahrhunderts zurückblicken, was man von keiner anderen baptistischen Gruppe behaupten kann. Deshalb ist die Frühgeschichte der englischen Baptisten zwangsläufig ein Teil der Geschichte der gesamten baptistischen Familie. Insgesamt haben die englischen Baptisten ihren Ursprung unter denen, die mit der begrenzten, aber gleichwohl tiefgreifenden Verwirklichung der obrigkeitlichen Reformation unzufrieden waren. Mehr stand für sie auf dem Spiel. Ob sie daher in das Lager der Radikalen Reformation (George H. Williams, 1914–2000) gehören oder in die Tradition des puritanischen Separatismus, ist in der Forschung ein heiß umstrittenes Thema. Am wahrscheinlichsten scheint es, dass beide Bewegungen ihren Anteil hatten. Jüngst hat man argumentiert, dass gewisse frühe Gemeinden der General Baptists auf die Lollarden, die Nachfolger John Wycliffes (ca. 1326–1384), zurückgehen. Diese baptistische Gruppe wird ‚general‘ oder auch arminianische Baptisten genannt, weil sie der Meinung waren, dass Christus für alle Menschen, nicht nur für die Erwählten, gestorben ist. Eine genaue Untersuchung der Kirchenbücher zeigt, dass die Lollarden keineswegs vor der Zeit der Reformation ausgestorben waren, sondern dass ihre Wirksamkeit bis in die Zeit der Tudors reicht. Eine noch genauere Analyse der Vornamen derjenigen, die das Bekenntnis der General Baptists von 1679 unterzeichneten, legt nahe, dass sie aus Familien mit Wurzeln bei den Lollarden stammten. John Smyth (ca. 1570–1612), ein ehemaliger Dozent am Christ College in Cambridge, ging 1608 nach Amsterdam ins Exil. Er führte eine Gruppe Puritaner der ‚versammelten Gemeinde‘ an, 13

die sich in der Grafschaft Lincolnshire gebildet hatte und die unabhängig von der Staatskirche existierte. Während sie in Holland waren, brachen er und sein Gönner, der Laie Thomas Helwys (ca. 1550–ca. 1616) sowie die Gruppe, die sie anführten, mit anderen englischen puritanischen Flüchtlingen. Sie waren überzeugt, dass die Kindertaufe, die sie in der Staatskirche erhalten hatten, ungültig war. Berufen für den Empfang der Taufe waren nur Menschen, die ihren eigenen Glauben bekennen konnten. Daher taufte 1609 Smyth zuerst sich selbst und dann die anderen; daher wurde er spöttisch „Selbsttäufer“ genannt. Als ihn später Zweifel überkamen, entschied er, dass die Waterländer Mennoniten, entgegen der Gerüchte, die diese ‚Wiedertäufer‘ quälten, nicht so häretisch waren wie er ursprünglich angenommen hatte. Smyth und die Mehrzahl seiner Gruppe beantragten die Mitgliedschaft in der Waterländer Gemeinde und identifizierten sich damit direkt mit Nachkommen der Radikalen Reformation. Helwys sprach sich gegen eine Mitgliedschaft in der Waterländer Gemeinde aus. Er meinte, dies sei ein Rückschritt gegenüber der neuen Einsicht, die Smyth jetzt wegen seiner unabhängigen Taufe als Fehler ansah, indem er um die Taufe in einer anderen christlichen Kirche nachsuchte. Helwys sah in der Taufhandlung vielmehr einen klaren Bruch mit der Vergangenheit. Helwys führte einen kleinen Teil der ursprünglichen Gruppe aus der Grafschaft Lincolnshire nach England zurück, wo sie in Spitalfield in der Nähe Londons 1612 die erste baptistische Gemeinde auf englischem Boden gründeten. Man kann daher argumentieren, dass Smyth und Helwys unabhängig von mennonitischen Einflüssen und ungeachtet späterer Verbindungen in Holland zu baptistischen Ansichten gelangten, indem sie die Heilige Schrift aus reformierter und separatistischer Perspektive feinfühlig lasen. Es ist gleichermaßen deutlich, dass die frühen Baptisten wie die reformatorischen Täufer vor ihnen die konstantinische Identifizierung von Kirche und Staat zurückwiesen, wie sie in den Volks- und Staatskirchen der Reformation Ausdruck gefunden hatte. Sie befürworteten eine Gemeinde der Glaubenden, die hervorgeht aus einer persönlichen Erfahrung der neuen Geburt. Mit Nachdruck wurde dies dadurch illustriert, dass die Taufe nur auf Glaubende begrenzt wurde. Diese Erneuerung der Taufe unterstrich die Notwendigkeit einer erneuerten Kirche. 14

Die ersten calvinistischen Baptisten, die auch particular Baptisten genannt werden, weil sie dem Glauben anhingen, dass der Tod Christi nur den Auserwählten gelte, entstanden aus einer unabhängigen Gemeinde in London. Einige ihrer Mitglieder gelangten zu der Überzeugung, dass die Gläubigentaufe die rechte Art christlicher Initiation sei. Daher besaßen sie eine eindeutigere Kontinuität mit anderen calvinistischen Separatisten. Weil sie eine biblische Form der Taufe sichern wollten, sandten sie einen ihrer Mitglieder, Richard Blunt, nach Holland, um ein Gespräch mit einer Gruppe aufzunehmen, die die Taufe durch Untertauchen praktizierte. Auch dieser englische Abgesandte entschloss sich, die Taufe nicht von dieser Gruppe zu übernehmen, sondern er kehrte zurück, taufte sich im Januar 1642 selbst durch Untertauchen und vollzog danach die Taufe an 53 anderen Personen. Beide Gruppen hatten unter vielen Verfolgungen zu leiden. Helwys schrieb ein beachtenswertes Buch mit dem Titel The Mistery of Iniquity im Jahre 1612, aber sein Leben endete im Gefängnis um 1616. Das Buch ist eine Rechtfertigung der Toleranz und eine Verteidigung der Glaubensfreiheit; es ist die erste Abhandlung zu diesem Thema in der englischen Sprache. Die General Baptists entwickelten eine Form des Amtes, das nicht nur lokale Älteste umfasste, sondern auch Amtsträger, die zwischen den Gemeinden tätig waren, sog. Botschafter (messengers). Diese konnten auch Älteste sein, die aber gewählt waren, um eine „Botschaft“ zu überbringen oder eine Gemeinde auf einer Konferenz zu repräsentieren. Bei anderen Gelegenheiten sind sie Evangelisten oder solche, die neue Gemeinden pflanzen. Später üben sie die „Episkope“ oder die Aufsicht im Leben der Gemeinden aus. Ungeachtet aller Verfolgung war das anfängliche Wachstum beachtlich. Sehr bald wurden die jungen baptistischen Gemeinden in die heftigen Auseinandersetzungen hineingezogen, die sich an der Frage der angemessenen Beziehung zwischen Staat und Kirche entzündeten. Die Kontroverse über die königlichen Machtbefugnisse und das Gottesgnadentum der Könige entwickelte sich in den späten Jahren der Herrschaft König Karls I. und führte schließlich zu dem, was ‚englischer Bürgerkrieg‘ oder ‚englische Revolution‘ genannt wird. Es mag hier genügen, darauf hinzuweisen, dass die Nation scharf geteilt war und dass der König abgesetzt und geköpft wurde. Es folgte das Durcheinander des 15

Protektorats und des Commonwealth mit Experimenten wie der Regierung durch die Heiligen. Oliver Cromwell (1599–1658) trug seinen Teil dazu bei, indem er eine Fortführung der etablierten Kirche erlaubte, zu deren Verwaltung er aber nicht-königstreue Anglikaner, Presbyterianer und Kongregationalisten heranzog. Aber selbst eine derart reformierte Staatskirche zog wenige Baptisten an. Gegen Ende des Commonwealth entstanden andere, mehr interne Gefahren für das Leben der Gemeinden. In diesen unsicheren Zeiten kam es unter extremen Puritanern zu endzeitlichen Spekulationen über das Tausendjährige Reich. Baptisten wie auch viele andere durchblätterten die Seiten der Bücher Daniel und Offenbarung, um Texte zu finden, die ihnen helfen würden, das zu erklären, was in der Welt um sie herum vor sich ging. Daniel 2 wurde zum Schlüsseltext, und die Hinrichtung Karls I. 1649 wurde mit dem Ende der vierten Monarchie gleichgesetzt, was dann die fünfte Monarchie der Wiederkunft Christi einleiten würde. Anfänglich sah man die Erfüllung der Prophezeiung in der Person Cromwells, doch als dieser 1653 den Titel Lord Protector annahm, konnte man in ihm nur jemanden erkennen, der Gottes Ziele behinderte. Der „Fünfte Monarchismus“1 war weniger eine Sekte als eine Haltung, die bei nicht wenigen Baptisten beider Richtungen die Phantasie beflügelte und sie gegen den Staat einnahm. Während diese Baptisten die „engagierte“ oder sogar die „über-engagierte“ Kirche repräsentierten, waren die Quäker, zu denen in den Jahren seit 1655 einzelne oder sogar ganze Gemeinden übertraten, die „zurückgezogene“ Kirche. Ihre Anziehungskraft bestand nicht in äußeren Regeln der Kirchenmitgliedschaft und beruhte nicht auf dem geschriebenen Wort der Hl. Schrift, sondern auf dem inneren Zeugnis des Geistes. Viel Boden ging daher verloren: Um 1660 gab es nur noch ca. 300 Gemeinden beider Traditionen, und die Restauration der Krone 1660 brachte ein Vierteljahrhundert periodische Verfolgungen durch den Staat. Lokale Quellen wie The Broadmead Records für die Hauptgemeinde in Bristol zeigen anschaulich, was es kostete, in diesen Jahren ein Baptist zu sein. So etwa ist zu lesen: als König Karl II. 1660 wieder eingesetzt wurde, „hat Satan Feinde gegen uns er1

Die Anhänger wurden auch „Fifth Monarchy Men“ genannt.

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regt, und unsere Schwierigkeiten oder Verfolgungen begannen.“ Erst 1687 konnte man zurückblicken auf „die Zeiten unserer vergangenen Schwierigkeiten“. Aber in gewisser Weise sollte es noch schlimmer kommen. Die Thronbesteigung von William (1650–1702) und Mary (1662– 1694) brachte nur begrenzte Toleranz. Bedrückende Gesetze blieben, obgleich protestantische Dissenters trinitarischen Glaubens, die den Hauptartikeln des anglikanischen Glaubensbekenntnisses zustimmen konnten, fast immer von den vorgeschriebenen Strafen verschont blieben. Aber selbst innerhalb dieser begrenzten Duldung gab es eine Verwässerung der Verbindlichkeit und eine Duldung einer großen Spanne theologischer Meinungen. Baptisten sowohl der general als auch der particular Richtung nahmen Schaden. Die General Baptists erlebten eine Spaltung zwischen der General Association, die in etwa der Gruppe entspricht, die Wurzeln bei den Lollarden hatten und die in den im Inland gelegenen Grafschaften Buckinghamshire, Hertfordshire, Northamptonshire und Cambridgeshire wohnten und die orthodox blieben, und jenen Gemeinden vor allem in Kent und Sussex, die größere Kontakte zu holländischen Mennoniten unterhielten. Diese Gemeinden unter Leitung des „Botschafters“ (messenger) Matthew Caffyn nahmen die heterodoxe Christologie des Melchior Hoffmann (ca. 1495–1543) an, die de facto die Wirklichkeit der Inkarnation bestritt. Diese Gemeinden glitten im nächsten halben Jahrhundert zuerst in den Arianismus und später in den Unitarianismus ab, bis dann zur Mitte des 19. Jahrhunderts sehr wenig baptistisches Erbe übrig geblieben war. Als der Methodismus eine sehr viel attraktivere Form des evangelikalen Arminianismus bot, liefen viele Geistliche und Mitglieder zum Methodismus über, und viele Gemeinden der General Baptists starben aus. Urkunden erzählen, dass Prediger zu einer vereinbarten Zeit anreisten, aber keine Gemeinde vorfanden. Infolgedessen begannen Gemeinden der General Baptists damit, Verbote an ihre Mitglieder herauszugeben, methodistische Versammlungen zu besuchen. Zeigten sich die General Baptists gegenüber einem „Rationalismus von links“ anfällig, so zeigten sich die Particular Baptists verwundbar durch einen „Rationalismus von rechts“. Gemeint ist die Auswirkung eines „Hyper-Calvinismus“, der die Prediger 17

daran hinderte, Christus den Predigthörern vor Augen zu malen oder eine Einladung auszusprechen, Christus anzunehmen. Der baptistische Historiker Joseph Ivimey nannte das ein „NichtEinladungs- und Nicht-Anwendungs-System“. John Skepp, ein hyper-calvinistischer Prediger aus London, beschwerte sich über Prediger, die sich dazu hergaben, eine moralische Überzeugungskraft zur Anwendung zu bringen, um ihre Hörer dazu zu bewegen, Christus zu vertrauen. So zu predigen, argumentierte Skepp, ließe einen halbherzigen Calvinismus erkennen und sei nichts anderes als „ein Stück Räuberei gegen den Heiligen Geist“. Man braucht nur weniges in den Predigten dieser Prediger zu lesen, um sich darüber klar zu werden, wie stark ihre spekulative Theologie sie daran hinderte, das Evangelium effektiv zu verkündigen. Der Streit, ob man die Nicht-Glaubenden einladen solle, auf die Evangeliumsverkündigung zu antworten, wurde die „moderne Frage“ genannt. Sie musste um einer effektiven Mission willen klar zur Sprache gebracht werden. Es sollte allerdings auch beachtet werden, dass nicht alle Calvinisten in die Schablone des Hyper-Calvinismus passten. George Whitefield schrieb 1748 an Philip Doddridge, dass „freundliche Einladungen, mit Christus in Verbindung zu kommen“, der „Inbegriff des Predigens“ sei, und einige, die durch Whitefield bekehrt wurden, gehörten zu den einflussreichsten Predigern unter den Particular Baptists. Aus der pessimistischen Perspektive Mitte des 18. Jahrhunderts ist es nur angemessen, einen Blick auf die Art und Weise zu werfen, wie das baptistische Werk wiederbelebt wurde, obgleich sofort betont werden muss, dass es eine geraume Zeitspanne dauerte, bevor das neue Leben der evangelikalen Erweckung das baptistische Leben erneuerte. Als erstes entstand unter den arminianisch Gesinnten eine neue Denomination. So wie die Old Connexion gegenüber Ansichten, die sich dem Unitariertum näherten, immer toleranter wurde, so wurde 1770 eine New Connection unter den General Baptists gegründet, die sich sehr stark aus Menschen mit methodistischem Hintergrund zusammensetzte. Sie lasen ihre Bibel und fanden, dass die Gläubigentaufe die einzig ordnungsgemäße Form der Taufe sei. Der Anführer dieser Bewegung war ein Mann aus Yorkshire namens Dan Taylor (1738–1816). Wegen ihres methodistischen Hintergrundes ist es 18

nicht verwunderlich, dass diese Bewegung die best-organisierte Gruppe unter den Baptisten war. Die Particular Baptists legten zu oft viel Gewicht auf die lokale Unabhängigkeit der Gemeinde, um überhaupt effektiv zusammenarbeiten zu können. Unter den administrativen Strukturen der New connection findet man die organisatorischen Kennzeichen, die später die Arbeit der gesamten Denomination untermauern sollte. Unter den Particular Baptists sind eine Reihe von Faktoren für eine Erneuerung verantwortlich: 1. eine größere Zahl Pastoren, die sich während der Erweckung bekehrt hatten, kam in führende Positionen in der Denomination; 2. neue Ausbildungsinstitute wurden geschaffen, um Pastoren auszubilden. Mehr oder weniger diente das College der Herzogin von Huntingdon in Trevecca als Modell. Die Ausbildung geschah aber auch in Häusern von Hauptpastoren wie bei John Sutcliffe; 3. In einigen Teilen des Landes wurden Schulungsprogramme für umherziehende Prediger eingeführt. Sie wurden von Arbeitsgruppen von Pastoren, Theologiestudenten und Evangelisten durchgeführt, oft im Zusammenhang mit einem College. Das Team zog von Predigtstation zu Predigtstation, man verkündigte das Evangelium und legte so den Grund für das zukünftige Entstehen von Gemeinden. 4. Ein anderes Kennzeichen der Veränderungen im Leben der Baptisten war die Entwicklung neuer Vereinigungen mit einem klaren missionarischen Ziel. Die Vereinigung von Northamptonshire (1764) ist besonders erwähnenswert; sie war nicht auf die Grafschaft mit diesem Namen begrenzt. Schließlich kam es 5. während dieser Zeit zur Gründung pan-evangelikaler Bemühungen, wie die Entstehung der Traktatgesellschaften, der Sonntagsschulen, der Bibelgesellschaft u. a., die alle dem Ziel dienten, die Sendung der Kirche voranzutreiben. Baptisten zählten zu den führenden Köpfen. Drei Entwicklungen in der Vereinigung von Northampton­ shire sind besonders wichtig. Wie er es von den Erfahrungen Jonathan Edwards (1703–1758) in Amerika gelernt hatte, ließ John Sutcliffe im Jahr 1784 seinen berühmten Ruf an alle Christen ausgehen, sie mögen sich am ersten Montag im Monat zum Beten vereinigen, „damit Sünder bekehrt und die Heiligen auferbaut werden, damit die Anteilnahme an der Religion erneuert und der Namen Gottes verherrlicht werde. […]. Lasst den ganzen Anspruch des Heilands herzlich in Erinnerung gerufen wer19

den und lasst die Ausbreitung des Evangeliums zu den entfernten Gegenden der bewohnten Erde das Ziel Eurer inbrünstigen Bitten sein.“ Sutcliffs Aufruf wurde nicht nur von Baptisten aufgegriffen, sondern auch von Independenten in Europa und Großbritannien. Andrew Fuller (1754–1815) veröffentlichte 1785 endlich auch sein Buch The Gospel Worthy of All Acceptation, an dem er fünf Jahre geschrieben hatte. In diesem Band bereitete er einige der Einsichten Jonathan Edwards für den englischen Kontext auf und stellte eine Theologie bereit, die, wie er annahm, eine angemessene Antwort auf „die moderne Frage“ darstellte. Fuller wandte sich gegen alle überzogenen Ansprüche, dass „der Glaube an Christus die Pflicht aller ist, die das Evangelium hören oder die Gelegenheit dazu haben.“ Wenn die Güte Gottes gründlich vorgetragen wird, enthält sie in sich eine moralische Aufforderung zur Dankbarkeit gegenüber Gott. Nach Fuller sollte jeder Prediger seine Predigt durch die Einsicht bestimmt sein lassen, dass jeder Sünder, ganz gleich welche Persönlichkeit er ist, „sicher sein kann, dem Herrn Jesus Christus für das Heil seiner Seele zu vertrauen“. Gebet und Theologie kamen zusammen in einer wiederbelebten Denomination. Der Historiker Joseph Ivimey aus dem 19. Jahrhundert sprach deshalb „von einer neuen Ära in der Geschichte unserer Denomination“; denn der dritte Baptist aus Northamptonshire, der seinen Beitrag zu dieser Geschichte lieferte, war William Carey (1761–1834). Er lieferte eine Antwort auf den Gebetsruf, den Sutcliffe initiiert hatte, und setzte die neue Theologie in neue missionarische Aktionen um, wobei Fuller dem Unterstützerkreis in England vorstand. Im Jahr 1792, nachdem William Carey viel Überzeugungsarbeit geleistet hatte, nicht zuletzt durch seine Schrift An Inquiry into the Obligation of Christians to Use Means for the Conversion of the Heathen (= Eine Untersuchung zur Verpflichtung der Christen, Mittel zur Bekehrung der Heiden einzusetzen, 1792), wurde die Missionsgesellschaft der Particular Baptists zur Propagierung des Evangeliums unter den Heiden gegründet. Die Gründung ging mit einer Entschuldigung einher, dass es sich dabei um eine denominationelle Initiative handele, dass aber der geteilte Zustand der Christenheit, wie er damals bestand, dennoch kein Grund sei, eine wirkungsvolle Missionsarbeit zu verzögern. Dieser überseeischen Initiative folgte 1797 auf dem Fuß die Gründung der 20

Londoner Baptistischen Gesellschaft zur Förderung und Unterstützung der Predigt in Dörfern und durch umherziehende Prediger, später als Heimatmissionsgesellschaft bekannt. Während also Kontinentaleuropa mit Revolution und Krieg in Anspruch genommen war, entwarfen britische Baptisten Strategien für die Weltmission. Dass man hier die Initiative ergriff, sollte sich auszahlen, nicht nur in Übersee, sondern auch durch die Erneuerung der Denomination in der Heimat. Das 19. Jahrhundert stach durch bemerkenswertes Wachstum hervor. Von 1792 bis 1892 stieg die Zahl der englischen und walisischen Baptisten von ca. 20.000 Mitglieder auf ca. 320.000. Dieser Bericht über die Ursprünge und frühe Entwicklung der Baptisten kann auf zwei architektonische Sinnbilder konzentriert werden, die für zwei andauernde Zwänge im Leben der Baptisten stehen mögen. Zuerst stelle man sich vor, man komme in ein Versammlungshaus im 17. Jahrhundert. Man beachte die Sprache: Es ist keine Kirche, denn diese hohe Sprache wird auf Menschen, nicht auf Mörtel und Ziegelsteine bezogen. Das Gebäude entspricht im Maßstab einem Wohnhaus, vielleicht mit einem Strohdach. Es ist zweimal so breit wie tief, und die Kanzel steht an der langen Wand gegenüber dem Eingang. Vor der Kanzel steht die große Kirchenbank, die den Abendmahlstisch umfasst, wo die Diakone ihre Plätze haben. John Betjeman sagt, dass es die Qualität einer gut gescheuerten Küche eines Bauernhauses hat, denn dies ist ein Gebäude, in dem es um eine Aufgabe geht: Hier treffen sich die in der Bibel versierten Heiligen um die offene Bibel und den Abendmahlstisch herum zum Zweck ihrer Erbauung und ihres Wachstums in der Gnade. Alles ist von guter Qualität; es ist das Beste, was Männer und Frauen von ihren bescheidenen Mitteln zur Verfügung stellen können. Aber vor allem anderen ist es der Ort, an dem die bibelfesten Heiligen zusammenkommen, um den Willen Christi scharfsinnig zu erforschen und wahrzunehmen. Im Gegensatz dazu stelle man sich ein Tabernakel oder eine Salem Kapelle des ausgehenden 18. oder beginnenden 19. Jahrhunderts vor. Die Sprache hat sich verändert, und obwohl dies ein baptistisches Tabernakel ist, ist es doch alles andere als provisorisch, besonders wenn es mit klassischen Säulen ausgestattet ist, um sich der katholischen Gotik zu widersetzen. Das Innere ist auch verändert. Ausmaß und Ausrichtung wurden beide 21

abgewandelt. Die Kanzel oder jetzt vielleicht genauer gesagt die Rednertribüne, auf der die Unterstützer des Predigers und er selbst zu sehen sind, befindet sich an der kurzen Wand gegenüber dem Eingang. Dahinter sind in beherrschender Art und Weise eine Reihe von eindrucksvollen Orgelpfeifen angeordnet, so als hätten diese großen und kleinen Schalltrichter größte theologische Bedeutung. Das Modell ist jetzt nicht mehr die Häuslichkeit eines Bauernhauses, sondern die Aufführung in einem Theater. Der Prediger ist jetzt fast zwei Meter über jeden Widerspruch erhaben. Alles wird getan, um möglichst vielen Hörern Sitzgelegenheiten zu bieten, in kompakten Reihen von Kirchenbänken aus Pechkiefer und weiteren Bänken auf der Empore an beiden Wänden und der rückwärtigen Wand. Man kommt nicht mehr zusammen, um zu teilen; vielmehr hat der Prediger eine Botschaft, und die Zuhörer – viele möglicherweise zum ersten Mal dabei – sind anwesend, um die Botschaft zu empfangen und nicht um in eine theologische Debatte einzutreten. Dies ist ein Gebäude zur Mission; es ist ein Gebäude, um Ungläubige ebenso wie engagierte Jünger aufzunehmen. Es ist ein Haus für Sünder. Was erscheinen mag wie eine Kommunionbank erfüllt in Wirklichkeit einen anderen Zweck. Es ist die Bußbank, wo Menschen, die Christus suchen, ihre Absicht öffentlich bekunden können. Die Einladung, die jetzt „Aufruf“ genannt wird, erfolgt mit Sicherheit, ja wird sogar nachdrücklich vorgebracht, so dass wir mit Recht davon sprechen können, dass dieser Aufruf Teil der Liturgie ist, besonders in den Gottesdiensten am Sonntagabend, wenn der Prediger davon ausgeht, dass Menschen anwesend sind, die sich bekehren sollten. Er predigt, um eine Entscheidung zu erreichen. Tatsächlich ist der gesamte Gottesdienst auf den Höhepunkt abgestellt, der dann erreicht ist, wenn die Zuhörenden auf den Ruf des Evangeliums antworten. Diese beiden Bilder veranschaulichen die Dialektik von Gemeinde und Mission, die stets ein wesentlicher Teil der baptistischen Berufung bleiben muss und die jede Generation neu zu beachten hat. Wenn sie das tut, findet sie einen Weg der Glaubenstreue und lebt in Wechselbeziehung zwischen den beiden Polen. Wenn die Gemeinde die Vision ihrer Sendung (Mission) verliert, sind ihre Tage gezählt, wie sich an dem Verlust der anfänglichen Stärke der englischen Baptisten zu Beginn des 18. Jahrhunderts gezeigt hat. Aber die Sendung muss im Leben 22

der Gemeinde verwurzelt sein, im Leben der Gemeinschaft der Gläubigen, in der Glaube und Dienst geduldig gefördert werden im freien Sich-Versammeln unter den „Kronenrechten des Erlösers“, frei von allen äußeren Einmischungen durch säkulare Autoritäten, frei, um über ihre eigenen Prioritäten bei Berufung und Zielsetzung zu entscheiden und ihre eigenen Amtsträger zu ernennen; die Gemeinde sollte freilich nicht von anderen Gemeinden isoliert sein, sondern ihren Rat suchen und mit ihnen gemeinsam anderen dienen, sowohl auf der Ortsebene als auch bei der weltweiten Sendung. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die ersten zwei Jahrhunderte der baptistischen Geschichte spiegeln die Auswirkungen der drei Bewegungen: die radikale Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung in Kirche und Staat, wie sie in der Gegenkultur der Täufer der Reformationszeit Ausdruck fand, die puritanische Erziehung einer theologisch gebildeten Bundes-Gemeinschaft von christlichen Jüngern und ihren Familien und das hingebungsvolle Bemühen derjenigen, deren Glaube in der evangelikalen Erweckungsbewegung neu entfacht worden war für Ausbreitung des Evangeliums im In- und Ausland. Literatur: Andrea Strübind / Martin Rothkegel (Hg.), Baptismus. Geschichte und Gegenwart (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) 2012; darin John H. Y. Briggs, „Die Ursprünge des Baptismus im separatistischen Puritanismus Englands“, 3–22.

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Entwicklungen der baptistischen Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert David Bebbington Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bildeten die Baptisten zu beiden Seiten des Atlantiks eine relativ kleine Gemeinschaft. In England gab es nicht mehr als 445 Gemeinden; gemäß einer Erhebung aus dem Jahr 1813 lag die Zahl in Amerika bei 2.633 Gemeinden. Sie waren durch die zentrale Lehre vom Heil in die Particular Baptists (oder ‚reguläre‘ Baptisten in Amerika) und in die General Baptist (oder Free Will Baptists in Amerika) getrennt. Erstere waren selbstbewusste Calvinisten, die lehrten, dass Christus nur für die Erwählten gestorben sei, während Letztere, auch Arminianer genannt, die Lehre vertraten, Christus sei für alle gestorben. Dazu gab es noch eine kleine Zahl von Siebenten-Tags Baptisten, die darauf bestanden, dass der jüdische Sabbat auch von den Christen einzuhalten sei. Obwohl alle nur kleine Gruppierungen bildeten, waren sie dennoch von der Erweckung im Jahrhundert zuvor neu belebt worden. Die ‚regulären‘ Baptisten in den USA hatten durch die ‚separaten‘ Baptisten Verstärkung erfahren. Ihr Ursprung geht auf die Große Erweckung zurück, und sie praktizierten erweckliche Veranstaltungen. Im Süden der USA war der Geist der Erweckung mit Freiluftversammlungen und der Erwartung einer emotionalen Reaktion besonders ausgeprägt. In England waren die General Baptists in vielen Fällen einer unattraktiven rationalen Theologie erlegen und wuchsen, wenn überhaupt, nur langsam. Aber eine Neue Gemeinschaft von General Baptists, die durch und durch erwecklich ausgerichtet war, machte große Fortschritte, vor allem in den East Midlands. Die viel größere Gruppe der Particular Baptists machte ebenfalls Fortschritte. Wie die Methodisten, mit denen sie evangelistische Prinzipien verband, waren die Baptisten auf dem Vormarsch. Ihre Praxis wurde durch ein anderes Erbe des 18. Jahrhunderts, der Aufklärung, tief beeinflusst. Man ging früher davon aus, dass die Aufklärung mit ihrer Berufung auf den Verstand der evangelikalen Erweckung mit ihrer Berufung auf die Offenbarung, feindlich gegenüberstand. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass die Aufklärung und die Erweckung eng verknüpft 24

waren. Der Begründer des Methodismus, John Wesley (1703– 1791), bestand darauf, dass die Vernunft für die Religion sehr wichtig sei. Die Kennzeichen aufgeklärten Denkens wurden daher auch unter Baptisten bedeutsam. Der Empirismus der Zeit, der Erkundungen und Nachforschungen förderte, bestimmte ihr Denken im 19. Jahrhundert. Baptistische Theologen folgten im Allgemeinen der schottischen common sense Philosophie der Schule des Thomas Reid (1710–1791). Deren Methode basierte auf einer Untersuchung der Eigenschaften des menschlichen Verstandes, eine empirische Technik. Die Philosophen dieser Schule machten geltend, dass der Verstand bestimmte Wahrheiten, wie die Existenz Gottes, als sicher annimmt. Was als sicher angenommen wird, gilt als common sense. Das war die Methode von Francis Wayland (1796–1865), des Präsidenten der Brown University, der ersten Adresse höherer Bildung unter Baptisten in der Neuen Welt. Die Methode wurde in vielen baptistischen Colleges vertreten. Die Naturwissenschaft war die ordnungsgemäße Untersuchung der Schöpfung Gottes. In der Zeit vor der Veröffentlichung der Schrift Origin of Species von Charles Darwin (1809–1882) im Jahre 1859 gab es wenig Empfinden dafür, dass Wissenschaft und Religion in Konkurrenz zueinander stehen könnten. Die Synthese von Wissenschaft und christlichem Glauben wurde im Gegenteil als ‚natürliche Theologie‘ verteidigt. Die Werke Gottes, so wurde oft argumentiert, bestätigten Gottes Wort. Baptisten, wie ihre evangelikalen Zeitgenossen, betrachteten Wissenschaft und Religion in einem harmonischen Verhältnis. Der Empirismus wurde unter Baptisten hoch gehalten. Der Geist der Aufklärung erfasste auch die Theologie selbst. Das evangelikale Gegenstück zur Idee des Fortschritts, d. h. der Erwartung menschlicher Vervollkommnung unter Führung der Vernunft, war die postmilleniale Lehre. Das Millenium, das Tausendjährige Reich des Friedens und des Wohlstands auf Erden, wurde vor dem Jüngsten Gericht erwartet. Demgemäß erwartete man die Wiederkunft Christi nach (‚post‘) dem Millenium. Vor dieser Zeit würde es eine stetige Ausbreitung des Evangeliums und seiner Werte geben. Die Zeitschrift General Baptist Magazine brachte 1854 einen Artikel über die zu erwarteten Fortschritte beim Näherrücken des Tausendjährigen Reiches. Unter anderen Schritten nach vorn wurde dort die totale Abschaffung 25

der Steuern erwartet, obwohl das vielleicht erst im Jahre 2016 eintreten würde. Ein Optimismus durchdrang das baptistische Lebensgefühl, weil der Triumph des Evangeliums in der Schrift zugesichert war. Das typisch aufklärerische Maßvolle gestaltete den Calvinismus der Particular / Regular Baptists um. Die theologischen Ansichten Jonathan Edwards (1703–1758), des großen kongregationalistischen Theologen aus Neu-England, wurden weitgehend angenommen. Er lehrte, dass der Schöpfer die Menschen nicht geschaffen habe, dass sie von Natur unfähig wären, das Evangelium aufzunehmen. Stattdessen zeigen die Unbekehrten eine moralische Unfähigkeit, dem Evangelium zu vertrauen, was als Ergebnis ihrer Bosheit eingestuft wird. Daher sind sie selbst und nicht der Allmächtige für ihre Verdammnis verantwortlich. Diese deutlich moderate Form des Calvinismus wurde ausführlich von Andrew Fuller (1754–1815) dargelegt, dem führenden baptistischen Theologen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Anders als Calvinisten vor ihm war Fuller auch geneigt, zuzugestehen, dass die Reichweite der Sühne universal sei, wenn auch nicht universal in ihrer Anwendung. Er wandelte auch die überkommene Idee der stellvertretenden Strafe ab, indem er eine Stellvertretung befürwortete, aber ohne ein strafendes Element, weil Christus ohne Sünde war und nur Schuldige bestraft werden können. Fullers Ansicht wurde unter Baptisten sowohl in Britannien als auch in den USA die Norm in das 19. Jahrhundert hinein. Baptistische Theologie reflektierte das aufgeklärte Denken der Zeit. Der pragmatische Geist der Aufklärung veränderte auch die baptistischen Haltungen. Anstatt dauernd Prinzipien hochzuhalten, wurde man flexibel. Während frühere Generationen die Meinung vertraten, dass die Kirchen allen Weisungen der Schrift gehorchen sollten, wurden Baptisten jetzt weniger pedantisch. Die General Baptists, die lange Zeit die Handauflegung nach der Taufe mit Hebr. 6, 2 verpflichtend gemacht hatten, ließen nun von diesem Brauch ab. Francis Wayland war sogar zu der Aussage bereit, dass es Christen frei stehe, „jede Form der Kirchenregierung, die sie für ihre Auferbauung am besten erachten“, anzunehmen.1 Damit räumte er zugleich ein, dass der traditionelle Anspruch der Baptisten, ihre Form der Kirchenverfassung sei die einzig richtige, 1

Francis Wayland, Salvation by Christ, Boston 1859, 321.

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ein Fehler war. Der bedeutsamste Wandel vollzog sich in Bezug auf das Abendmahl. Robert Hall (1764–1831), ein führender englischer Pastor, stellte die überkommene Ansicht in Frage, dass nur die gläubig Getauften zum Abendmahl zuzulassen seien. Hall vertrat im Gegenteil die Ansicht, dass es selbst ungetauften Christen nützlich wäre, beim Abendmahl Jesu zu gedenken. Hall legte mit Nachdruck wert auf die Zulassung jeder bekehrten Person zum Tisch des Herrn; er befürwortete also die „offene Kommunion“. In England wurde sie rasch die überwiegende Handhabung; in Wales und Amerika sträubte man sich jedoch mit dem Argument dagegen, es sei eine ungerechtfertigte Preisgabe des Grundprinzips der Denomination, dass Gläubige sich der Taufe unterziehen sollten. Die neue Maßnahme war jedoch ein typisches Symptom für den Pragmatismus der Aufklärung. Missionsgesellschaften waren ein wichtiges Beispiel für Agenturen, die in der Schrift nicht vorgeschrieben waren, die aber Baptisten gleichwohl unterstützten. Die Baptistische Missionsgesellschaft wurde 1792 nach dem Muster einer Aktiengesellschaft und nicht nach biblischen Beispielen gegründet. Kooperation bei missionarischen Anstrengungen, die bald auch in den USA imitiert wurde, rief eine größere Koordination im Leben der Denomination hervor. Die Baptistenunion von Großbritannien und Irland, die zuerst 1813 organisiert worden war, wurde 1832 auf eine viel stärkere Grundlage gestellt. Die nationale Körperschaft in den USA, die 1814 gegründet wurde und zumeist Triennial Convention genannt wird, weil die Delegierten alle drei Jahre zusammenkamen, hieß eigentlich Missionary Convention of the Baptist Denomination in the United States (Missionskonvention der baptistischen Denomination in den Vereinigten Staaten). Andere Institutionen kamen hinzu. Im Geist der Aufklärung waren Baptisten eifrig um die gesamte Öffentlichkeit bemüht, etwa dadurch, dass alle Menschen ihre Fähigkeiten zum Gebrauch der Vernunft stärken sollten. Sie förderten daher die Bildung und gründeten eine Reihe von Colleges, die zunächst der Ausbildung von Pastoren, dann aber auch, besonders in Amerika, einer liberalen Bildung der Laien dienten. Sonntagsschulen, die gewöhnlich mit den Kirchen verbunden waren, versorgten die Arbeiterschaft mit einer Elementarbildung. Diese vielfältigen Einsätze erforderten mehr Spendengelder, die aber infolge des steigenden Wohlstands der Zeit auch aufgebracht wurden. 27

Es gab aber auch Widerstand. Einige Baptisten zeigten sich infolge der neuen Entwicklungen alarmiert. Es war nicht nur der finanzielle Aspekt, dass aufgerufen wurde, für die neuen Institutionen zu spenden, obwohl viele auch das ablehnten. Das fundamentale Problem war vielmehr das Entsetzen darüber, dass die Sorge früherer Baptisten, die Kirche in einer biblisch-korrekten Weise zu organisieren, einer Veränderung unterworfen wurde. Die Kritiker hatten insofern Recht, als Baptisten des 17. Jahrhunderts den Stil des kirchlichen Lebens, der sich unter dem Einfluss der Aufklärung gebildet hatte, nicht als den Ihren erkennen würden. Viele verwarfen die Idee einer offenen Kommunion; sie beharrten vielmehr darauf, dass der Zugang zum Tisch des Herrn auf die Getauften zu begrenzen sei. Sie kritisierten Missionsgesellschaften und Colleges als Neuerungen, die dem Wort Gottes fremd waren. In Amerika wurden sie als ‚anti-Missions Baptisten‘ bekannt. Diese Agenturen schienen die Hoheitsrechte des Allmächtigen zu verletzen, der die Erwählten durch seine eigenen Methoden zu sich rufen würde, wie es der traditionelle Calvinismus vorsah. Die Theologie Andrew Fullers wurde als zu dicht zum oder sogar als identisch mit dem Arminianismus zurückgewiesen. Die Verteidiger der alten Pfade, die sich weigerten, den Tisch des Herrn für Ungetaufte zu öffnen, wurden die „Strikten“ genannt. Solche, die ältere oder höhere Formen des Calvinismus pflegten, behielten die Bezeichnung Particular. Daher wurden die Traditionalisten in England als Strict and Particular Baptists bekannt. In den USA hießen sie primitive Baptists, weil sie die frühesten (oder primitivsten2) Richtungen der Bewegung bevorzugten. Der erste Verband dieser Art in England wurde 1829 organisiert, in den USA ein Jahr früher. Auf beiden Seiten des Atlantiks zog die feste Opposition gegen Innovationen ein Schisma der Denomination nach sich. Die Spaltungen waren ein Anzeichen dafür, wie drastisch die Veränderungen wahrgenommen wurden, die in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführt worden waren. Dennoch brachten die neuen Entwicklungen ein Wachstum hervor. Die Zahl der Gemeinden in Verbänden in England wuchs von 445 auf 1.080 in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; die 2

„Primitiv“ meint hier nicht „simpel“ oder „unzivilisiert“, sondern ist abgeleitet von primus = der erste (Anm.d. Hg.).

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Mitgliedschaft erhöhte sich von ca. 100.000 zur Mitte des Jahrhunderts auf 516.000 am Ende. In Amerika schwoll die Zahl von 100.000 am Beginn des Jahrhunderts auf 313.000 zur Mitte und auf über drei Millionen um 1900. In der Vergangenheit waren die Baptisten oft auf Marktstädte begrenzt, aber jetzt sandten sie wie die Methodisten Prediger in kleine Dörfer aus, um neue Gemeinden zu bilden. Besondere Gesellschaften für Wanderprediger wurden für die schottischen Highlands und die entfernt liegenden Gegenden von Irland ins Leben gerufen. In Amerika wanderten baptistische Pioniere mit den Wellen neuer Siedler in den Westen. Vor allem wegen der Sklavenfrage spalteten sich die Baptisten im Süden 1845 ab und bildeten die Southern Baptist Convention mit eigenen zentralen Strukturelementen. In der atlantischen Küstenregion von Kanada spalteten sich die geistlichen Nachfahren von Henry Alline (1748–1784), einem Erweckungsprediger des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in ‚reguläre‘ oder calvinistische und ‚freie‘ oder nicht-calvinistische Baptisten. In Zentralkanada behaupteten sich die ‚regulären‘ Baptisten. Das bis 1901 in sechs besondere Kolonien geteilt Australien zog Baptisten als Immigranten aus Britannien an. Das gilt auch für zwei andere Siedler-Kolonien, Neu-Seeland und Süd-Afrika. Außerdem trug die Baptistische Missionsgesellschaft das Evangelium weiter in neue Länder: nach Indien, wo William Carey in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts sich abmühte, auf die Westindischen Inseln, nach Westafrika seit den 1840er Jahren und später im Jahrhundert nach China und in den Kongo. Die Baptisten aus dem Norden der USA engagierten sich in Burma, Siam, Assam, Süd-Indien, China und Liberia, die aus dem Süden in Nigeria und China. Der Baptismus wuchs weltweit. Die theologischen Ansichten der unterschiedlichen baptistischen Gruppen waren durch den Evangelikalismus geprägt. Sie waren stark der Bibel verhaftet, erhoben das Kreuz zu ihrer zentralen Lehre, zielten auf Bekehrungen und hatten sich tatkräftig einer sozial-diakonischen Arbeit verschrieben. Sie waren daher ausgezeichnet durch das, was die Forschung als die vier hervorstechenden Merkmale der globalen evangelikalen Bewegung herausgearbeitet hat: Biblizismus, Konzentration auf das Kreuz, Bekehrung und Aktivismus. Der Calvinismus der particular und der Arminianismus der general Baptisten wurde mit weniger Zähigkeit aufrecht erhalten. Die Verkündigung des Evangeliums 29

schien wichtiger zu sein als eine besondere Formulierung und daher wuchs die Auffassung, dass die andere Seite auch ihre Berechtigung habe. Die Sicht der Aufklärung, dass die alten Typen theologischer Aussagen aufgegeben werden könnten, spielte ebenfalls eine Rolle. Dementsprechend begannen Mitglieder, sich folgenlos zwischen den beiden Richtungen hin- und her zu bewegen und general Baptisten ließen sich in Seminaren der particular Baptisten zu Pastoren ausbilden. Seit ihrer Neugründung im Jahre 1832 hat die Baptistenunion von Großbritannien, obgleich sie hauptsächlich auf die particular Baptisten ausgerichtet war, dennoch Gemeinden der general Baptisten aufgenommen. Obwohl Charles Haddon Spurgeon (1834–1892), der herausragende baptistische Prediger des Metropolitan Tabernacle in London, während seiner ganzen Amtszeit und in seinem College bis an sein Lebensende 1882 einen beherzten Calvinismus vertrat, sank die Zahl derjenigen, die einen bewusst reformierten Glauben bekannten. Spätestens bis zum Jahr 1891 war die gesamte New Connection der General Baptists in die Baptisten-Union einverleibt. Wenige Jahre später erfolgten dieselben Ereignisse in Kanada und den USA. Das Vermischen der beiden Körperschaften war möglich, weil sie ein Ethos teilten, das von seinem Ursprung her evangelikal und nicht spezifisch arminianisch oder calvinistisch war. Ein langsamer Prozess theologischer Veränderungen, der die gesamte evangelikale Welt umgestaltete, begann, auch Baptisten zu beeinflussen. Die Einflüsse der Romantik machten sich bei der gesamten Bevölkerung bemerkbar. Romantische Ideen waren zuerst in Deutschland aufgetreten und wurden durch Neuerer, allen voran durch den Dichter Samuel Taylor Coleridge (1772–1834), an die englisch-sprachige Welt vermittelt. Gegenüber der Aufklärung, die alle Betonung auf die Vernunft als höchster menschlicher Befähigung legte, betonten die Romantiker den Willen, den Geist und die Emotion. Der Weg zur Wahrheit führte jetzt nicht mehr über die abgeklärte wissenschaftliche Untersuchung, sondern über das warmherzige geistige Erschaffen im Menschen. Die Wirkung auf die Theologie bestand hauptsächlich darin, liberale Tendenzen zu fördern. Fuller hatte noch Gott als den souveränen und allmächtigen Herrscher über das Universum verstanden. Jetzt aber begannen fortgeschrittene Denker, ihn als gütigen Vater vorzustellen, der sich liebevoll 30

um seine eigensinnige Familie kümmert. Die Versöhnung war nicht mehr eine Demonstration göttlicher Gerechtigkeit, sondern Beleg des ewigen Edelmuts eines Vaters gegenüber seinen Kindern. Die Hölle wurde in Frage gestellt; denn welcher Vater würde seine Nachkommen einem solchen Schicksal überlassen? Die evangelikalen Pastoren, die diese Ideen zuerst artikulierten, waren gewöhnlich Kongregationalisten, aber um 1870 folgten einige Baptisten zu beiden Seiten des Atlantiks ihren Spuren. Samuel Tipple bspw., ein Pastor im Süden Londons, lehrte, dass Christus gekommen sei, um Gott als „die Vollkommenheit der Väterlichkeit“3 zu offenbaren. Gleichzeitig wurde die historisch-­ kritische Methode auf die Bibel angewandt. Man erkannte, dass die Bibel nicht anders interpretiert werden muss als jedes andere Buch auch. In Amerika kam Crawford H. Toy (1836–1919) zu der Ansicht, dass das Alte Testament die natürliche Entwicklung des religiösen Geistes der Menschheit belegt. Er legte sein Amt am Southern Baptist Theological Seminary nieder. Obwohl die Ansichten von Tipple und Toy um diese Zeit höchst ungewöhnlich unter Baptisten waren, begannen liberale theologische Ideen sich auszubreiten. Spurgeon protestierte am lautesten gegen diese Entwicklungen. In den Jahren 1878 / 88 entflammte die sog. „Downgrade Kontroverse“, weil er die Baptisten-Union auf einem „Gefälle nach unten“ sah. Er kritisierte die Tendenz, die Versöhnungslehre zu modifizieren und die Lehre von der Hölle gänzlich aufzugeben. Spurgeon verließ unter Protest die Union, doch folgten ihm nur wenige. Sein Einspruch verlangsamte jedoch den Prozess in eine liberale Richtung. Seine Versuche wurden flankiert durch andere Veränderungen, die man auch in Zusammenhang mit der wachsenden Woge romantischer Empfindsamkeiten bringen kann und die konservative Tendenzen verstärkten. Insbesondere die Lehre von den Letzten Dingen entfernte sich von dem vorausgehenden Postmillenialismus. An seine Stelle trat ein Prämillennialismus, d. h. die Erwartung, dass die Wiederkunft Christi vor dem Tausendjährigen Reich, vor dem Millennium, eintreten würde. Wenn dem so wäre, könnte das Ende der Zeiten nahe bevorstehen. Die am meisten verbreitete Version dieser 3

Samuel A. Tipple, Echoes of Spoken Words, London 1877, 184.

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Anschauung war der Dispensationalismus4, der behauptete, dass die gegenwärtige Dispensation in Bälde mit der Entrückung der Heiligen in den Himmel und dem unmittelbar darauf folgenden Chaos der großen Trübsal enden würde. In Amerika wurde der Dispensationalismus ungeheuer populär, besonders nachdem die Anmerkungen der Scofield Bibel von 1909 diese Lehren in ein System gebracht hatten. Ihre Anhänger verdammten die aufstrebende Bewegung des ‚sozialen Evangeliums‘ (social gospel), wie sie in dem Buch des amerikanischen Baptisten Walter Rauschenbusch (1861–1918) Christianity and the Social Crisis von 1907 beredten Ausdruck fand, als einen vergeblichen Versuch, die Ordnung der Welt zu verbessern; die Welt würde in Kürze ohnehin weggespült werden. Der Dispensationalismus erweckte außerdem den Eindruck, dass der theologische Niedergang zu erwarten sei, dass aber ein „Rest“ den Zugriff auf die Wahrheit beibehalten würde. Indem man das soziale Engagement ebenso wie die Lehren der eher liberal eingestellten führenden Sprecher kritisierte, begünstigte man den Argwohn gegenüber zeitgenössischen Entwicklungen im Leben der Baptisten. Die neuere Art, die Prophetie zu interpretieren, förderte die konservative Seite bei der wachsenden Polarisierung unter Baptisten erheblich. Das Ergebnis war die Kontroverse um den Fundamentalismus, die mit besonderer Heftigkeit nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte.5 Zuvor hatten Pastoren aller protestantischen Denominationen in Amerika und Großbritannien zwischen 1910 und 1915 eine Serie von Broschüren kostenlos erhalten, die unter dem Titel The Fundamentals veröffentlicht worden waren. Man wollte die traditionellen Haltungen gegenüber der Bibel und das dispensationale System verteidigen. Der Pastor der Ersten Baptistengemeinde in Minneapolis, William Bell Riley (1861–1947), veröffentlichte 1917 sein Buch The Menace of Modernism (= Die Bedrohung durch den Modernismus), in dem er die modernen Lehren an den Colleges als Quelle gefährlicher liberaler Meinungen ausmachte. Drei Jahre später brach unter den Baptisten im Norden der USA die Kontroverse über das aus, was an ihren Colleges gelehrt wurde. In ihrem Verlauf 4 Für

Einzelheiten vgl. Erich Geldbach, „Der Dispensationalismus“, theologische beiträge 42, 2011, 191–210. 5 Vgl. den Beitrag von Barry Hankins in diesem Buch.

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wurde das Wort ‚Fundamentalist‘ zum ersten Mal für diejenigen gebraucht, die Riley unterstützten. Im Jahre 1922 hielt der baptistische Pastor einer presbyterianischen Gemeinde in New York, Harry E. Fosdick (1878–1969), eine kämpferische Predigt, der er den Titel gab „Dürfen die Fundamentalisten gewinnen?“ (Shall the Fundamentalists win?). Er argumentierte, dass die Bibel ein Buch fortschreitender Offenbarung sei. Obwohl der anfängliche Versuch fehl schlug, die Colleges zu zügeln, setzten die Fundamentalisten in den nachfolgenden Jahren eine Kampagne fort, aus dem Hinterhalt gegen ‚Häresie‘ zu schießen. Das führte schließlich zu einem Schisma. 1927 kam es zu einer Trennung in Zentralkanada, und 1932 wurde eine separate General Association of Regular Baptist Churches im Norden der USA gegründet. Es kam wegen dieser Frage zu keinen Spaltungen im Süden der USA, in Britannien oder Australien, aber dieselben fundamentalistisch-modernistischen Spannungen konnte man auch dort spüren. In Großbritannien zeigt sich dies insbesondere bei der Frage, ob man eher mit der ökumenisch ausgerichteten und theologisch breit aufgestellten Student Christian Movement oder mit der separatistischen und lehrmäßig konservativen InterVarsity Fellowship sympathisieren solle. Eine Studienübersicht, die von der Baptisten-Union von Großbritannien 1990 herausgegeben wurde, listete Titel auf, die etwa zu gleichen Teilen von der SMC und IVF herausgegeben wurden. Während des ganzen 20. Jahrhunderts waren sich die Baptisten stets der Spannungen zwischen dem liberalen und konservativen Flügel bewusst. In vielen Ländern sanken die Zahlen, weil der gemeinsame Zweck, der das Jahrhundert zuvor geprägt hatte, nicht mehr klar genug schien. In Britannien erreichten die Mitgliederzahlen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt; sie fielen aber stetig bis in die 1960er Jahre, um dann regelrecht zusammenzubrechen. Während des 20. Jahrhunderts fiel die Zahl von über einer halben Million auf unter 200.000 Mitglieder. In Australien zeigte die Volkszählung im Jahr 1901, dass sich 2,37 % der Gesamtbevölkerung zu den Baptisten hielt. Seitdem ist der Prozentsatz stetig zurückgegangen. Baptisten in Neu-­ Seeland und Kanada erging es etwas besser, doch gingen auch hier die Zahlen in Relation zur Gesamtbevölkerung zurück. In den USA jedoch blühte die Religion im 20. Jahrhundert auf. Die Northern Baptist Convention, die 1908 ins Leben gerufen wurde, 33

und die 1950 in American Baptist Convention umbenannt wurde und 1972 ihren Namen nochmals in American Baptist Churches in the ­U.S.A. veränderte, war insgesamt erfolgreich mit ca. 1,4 Millionen Mitgliedern im Jahre 1928 und 1,6 Millionen im Jahre 1982, obwohl die Zahl der angeschlossenen Gemeinden zurückging. Ein herausragender Erfolg war der Southern Baptist Convention beschieden, die 1925 ein kooperatives Programm annahm und dadurch die Ressourcen in einer straff geführten Organisation erfolgreich einsetzen konnte. Sie blieb theologisch wesentlich konservativer als ihr Gegenstück im Norden. Seit den 1940er Jahren begann man, auch Gemeinden im Norden der USA aufzunehmen, so dass man zwar die ganzen Vereinigten Staaten umspannt, aber dennoch eine ‚südlich‘ bestimmte Gemeinschaft blieb. Ihre Mitgliederzahlen schossen von 3,1 Millionen im Jahre 1920 auf 15,9 Millionen zur Jahrhundertwende in die Höhe. Auch die afro-amerikanischen baptistischen Denominationen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre organisatorischen Gestalten angenommen hatten, waren erfolgreich. Ein auffallender Gegensatz ergibt sich zwischen der relativen Schwäche der Gemeinden in den meisten englischsprachigen Ländern und der Vitalität in Amerika. Die charismatische Erneuerung gab in den 1960er Jahren einen neuen Auftrieb. Die Bewegung entfachte ein Gefühl der Verjüngung als Werk des Heiligen Geistes, spiegelte aber zugleich auch den Geist der Zeit wider. Um 1981 waren die meisten Kandidaten für das Pastorenamt innerhalb der Baptisten-Union von Britannien aus charismatischen Gemeinden. Obwohl man den statistischen Abwärtstrend nicht aufzuhalten vermochte, hat diese Erneuerungsbewegung einen neuen Stil des Gottesdienstes hervorgebracht, der junge Menschen ansprach. Neu-Seeland erwies sich als besonders empfänglich, während sich die Süd-Baptisten in den USA größtenteils der spezifischen Theologie widersetzten, wenngleich in vielen der größeren Gemeinden nicht gegenüber dem Ethos. Zur gleichen Zeit brach unter baptistischen Theologen eine Wiederbelebung sakramentaler Theologie hervor, und es ließ sich ein Wiederaufleben calvinistischer Theologie in Gemeinden außerhalb der Baptisten-Union von Britannien erkennen, aber sehr dezidiert bei den Süd-­Baptisten in den USA. Die auffallendste Entwicklung war jedoch der erfolgreiche Kampf um die Kontrolle der Southern Baptist Convention in den 34

1980er Jahren durch eine Gruppe, die die Lehre der Irrtumslosigkeit der Bibel vertrat. Sie wurde von ihren Freunden als Konservative, von ihren Gegnern als Fundamentalisten bezeichnet. Obwohl ein Großteil der Denomination sich nicht auf die Linie dieser Gruppe bringen ließ, waren im nächsten Jahrzehnt alle Seminare und alle Landesverbände in ihren Händen. Das Rückgrat dieser weitaus größten baptistischen Denomination in der Welt hatte sich versteift, um es bildlich zu sagen. Es war nur konsequent, dass sich die Süd-Baptisten spalteten und die größere Gruppe den baptistischen Weltbund 2004, ein Jahr vor der Hundert-Jahr-Feier, verließ. Baptisten waren aus einer anfänglich kleinen und obskuren Gruppe zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufgestiegen, um eine wichtige Rolle im englischsprachigen Protestantismus zu spielen. Tief beeinflusst durch Voraussetzungen der Aufklärung wurde ihre vorherrschende Theologie eine gemäßigte Form des Calvinismus, und sie passten ihre Praxis dem jeweiligen Zeitgeist an. Missionarische Anstrengungen wurden unternommen, aber auch Colleges gegründet, und trotz Widerstands durch Traditionalisten kam es im 19. Jahrhundert zu einer großen Expansion. Zu dieser Zeit waren Baptisten durch einen gemeinsamen ‚Evangelikalismus‘ vereint. Unter dem Einfluss der romantischen Bewegung breiteten sich jedoch liberalere theologische Ansichten aus und konservative Meinungen setzten sich zunehmend fest. Die daraus resultierende fundamentalistische Kontroverse in Amerika mit ihren Auswirkungen auch anderswo spaltete die Denomination. Im 20. Jahrhundert kam es zu einem Rückgang der Mitgliederzahlen außerhalb der USA. Dort konnte der Zuwachs erhalten bleiben. Die charismatische Erneuerungsbewegung hatte einen belebenden Effekt, doch die Southern Baptist Convention stürzte in eine Kontroverse. Die baptistische Geschichte in diesem Abschnitt verzeichnet eine Heilung der alten Spaltung zwischen Calvinisten und Arminianern, aber zugleich einen neuen Zwiespalt zwischen Liberalen und Konservativen. Sie zeigt auch die Stärke des kulturellen Kontextes, um die baptistischen Haltungen zu formen. Die baptistische Geschichte verdeutlicht einen andauernden Versuch, gegenüber dem Depositum des Glaubens treu zu bleiben und sich gleichzeitig den sich verändernden Bedingungen anzupassen. Daher lädt diese Geschichte dazu ein, dem Verhältnis von Evangelium und Kultur nachzusinnen. 35

Literatur: Bebbington, David W., Baptists through the Centuries: A History of a Global People (Waco, TX.: Baylor University Press, 2010). Bebbington, David W., ‘British Baptist Crucicentrism since the Late Eighteenth Century’, Baptist Quarterly 44.4 (2011), 223–237, and 44.5 (2012), 278–290. Briggs, John H. Y., The English Baptists of the Nineteenth Century (Didcot, Oxfordshire: Baptist Historical Society, 1994). Dix, Kenneth, Strict and Particular: English Strict and Particular Baptists in the Nineteenth Century (Didcot, Oxfordshire: Baptist Historical Society, 2001). Hopkins, Mark, Nonconformity’s Romantic Generation: Evangelical and Liberal Theologies in Victorian England (Carlisle: Paternoster, 2004). Manley, Ken R., From Woolloomoolloo to ‘Eternity’: A History of Austral­ ian Baptists, 2 vols (Milton Keynes: Paternoster, 2005). Marsden, George M., Fundamentalism and American Culture: The Shaping of Twentieth-Century Evangelicalism, 1870–1925 (New York: Oxford University Press, 1980). Minus, Paul M., Walter Rauschenbusch: American Reformer (New York: Macmillan, 1988). Randall, Ian M., The English Baptists of the Twentieth Century (­Didcot, Oxfordshire: Baptist Historical Society, 2005). Renfree, Harry A., Heritage and Horizon: The Baptist Story in Canada (n. p.: Canadian Baptist Federation, 1988). Sutherland, Martin, Conflict & Connection: Baptist Identity in New Zealand (Auckland, New Zealand: Archer Press, 2011). Torbet, Robert G., History of the Baptists, 3rd edn (Valley Forge, Penn.: Judson Press, 1973). Trollinger, William V., God’s Empire: William Bell Riley and Midwestern Fundamentalism (Madison: University of Wisconsin Press, 1990). Walker, Michael, Baptists at the Table: The Theology of the Lord’s Supper amongst English Baptists in the Nineteenth Century (Didcot, Oxfordshire: Baptist Historical Society, 1992).

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B. BAPTISTISCHE MISSIONARISCHE BEMÜHUNGEN

Kurze Geschichte baptistischer missionarischer Anstrengungen Robert N. Nash Ursprünge und Geschichte der baptistischen Mission sind ebenso herausfordernd zu verfolgen wie die Ursprünge und die Geschichte der baptistischen Tradition selbst. Die baptistische Missionsgeschichte ist eine komplexe Geschichte, die in ihren ersten 150 Jahren von baptistischen Missionaren aus England, den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Nationen dominiert wurde. Sie waren motiviert durch den Missionsbefehl (Matthäus 28, 19 f.) sowie durch ihre eigenen kolonialen Bestrebungen, das Evangelium Jesu Christi in der Karibik, in Asien, Afrika und Lateinamerika auszubreiten. Während dieses in westlicher und baptistischer Theologie und Form gestaltete Evangelium außerhalb seiner alten Hochburgen eingebürgert wurde oder auf Wurzeln baute, die bereits in den neuen Kontexten existierten, wurde es etwas ganz anderes als das, was sich seine westeuropäischen und nordamerikanischen Träger vorgestellt hatten. Es kam zu einer monumentalen Verschiebung, weil diese neuen Kontexte die baptistische Missiologie, Theologie und Praxis veränderten. Als Missionare und Einwanderer aus diesen Gegenden seit Mitte des 20. Jahrhunderts in die USA und nach Westeuropa kamen, brachten sie revitalisierte Ausdrucksformen des Evangeliums mit, die den Glauben und die Praxis derer erneuert haben, die zuerst das Evangelium ausgesandt hatten. Baptistische Mission ist jetzt in weiten Teilen der Welt das Werk der Baptisten aus der Mehrheits-Welt1, die eine berufliche Karriere als Missionare angestrebt haben können oder nicht. 1

Mit Mehrheitswelt ist jener Teil der Welt außerhalb Westeuropas, Australiens, Neuseelands und der Vereinigten Staaten gemeint, in dem der größte Teil der Weltbevölkerung lebt, insbesondere Asien, Afrika und Lateinamerika.

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Ihre Missionsbemühungen bieten die Gelegenheit für eine Neubewertung des privilegierten Status, der nordamerikanischen und westeuropäischen Missionaren eingeräumt wird, die in der Regel männlich sind, während oft die Beiträge von Afroamerikanern, Baptisten aus den südlichen und östlichen Hemisphären sowie von Frauen übersehen werden. Gleichzeitig gilt es aber auch zu beachten, dass Nordamerikaner und Europäer in früheren Epochen bedeutende Beiträge geleistet haben, die nicht minimiert werden dürfen. Dazu zählen, dass das Christentum eine Hauptreligion der Welt wurde sowie die Verbreitung des Einflusses christlicher und demokratischer Prinzipien der geistigen und politischen Freiheit und der individuellen Menschenrechte. Nach Robert G. Torbet (1912–1995), einem Historiker der baptistischen Missionen, liegen die Ursprünge der baptistischen Missionsbewegung in „einer Reihe von religiösen Erweckungen, die spontan in vielen Weltgegenden ausgebrochen waren und die sich entlang verschiedener Strömungen innerhalb des 16., 17. und 18. Jahrhundert bewegten.“2 Unter diesen Erweckungen waren die protestantische Reformation einschließlich des Puritanismus in England, die radikale Reformation der reformatorischen Täufer, der Pietismus in Deutschland sowie die großen Erweckungen in England und Amerika. Einige bedeutende Persönlichkeiten und Bewegungen, die sowohl theologische als auch missiologische Grundlagen für die protestantische Weltmission beitrugen, waren Felix Manz (1495– 1527) und die reformatorischen Täufer (Taufe an erwachsenen Gläubigen), Philipp Jacob Spener (1635–1705) und die Pietisten (Herzensglaube), Graf Nikolaus von Zinzendorf (1700–1760) und die Herrnhuter (Methodologien und frühe Missionare), John Eliot (1604–1690) und die puritanische Indianer-Mission (Hingabe bis zum Opfer), John Wesley (1703–1791) und die Methodisten (evangelistische Predigt), und Jonathan Edwards (1703–1756) und die amerikanischen Erweckungsprediger (Glaube als Erfahrung). Ein weiterer mächtiger Einfluss war die katholische Weltmission, die nach dem Konzil von Trient und 2

Robert G. Torbet, Venture of Faith: The Story of the American Baptist Foreign Mission Society and the Woman’s American Baptist Foreign Mission Society, 1814–1954 (Philadelphia: Judson Press, 1955), 5–6.

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dem Zeitalter der Erkundungen geradezu explodierte, als die europäischen Nationen Spanien, Portugal, Frankreich und Italien Missionare verschiedener religiöser Orden in die ganze Welt entsandten. In gewisser Weise hat die Sorge, dass der Katholizismus weltweit triumphieren würde, die protestantische Weltmission angetrieben. Jamaika: Das erste baptistische Missionsfeld Diese religiösen und politischen Kräfte bildeten das Umfeld für den Beginn der baptistischen Weltmission. Nicht zu erwarten war, dass ausgerechnet ein afro-amerikanischer ehemaliger Sklave namens George Liele (1750–1820) am Anfang dieser Bewegung stand. Er war in einer Baptistengemeinde im amerikanischen Georgia zum christlichen Glauben übergetreten und begab sich als erster baptistischer Missionar3 nach Jamaika. Um seine Reise nach dort 1783 bezahlen zu können, wurde er vertraglichgebundener Knecht, der aber seine Schulden abbezahlen konnte. Am Ende seiner Tätigkeit als Missionar waren etwa 8.000 Jamaikaner Christen und Baptisten geworden, viele als direkte Folge seiner Predigt. Seine erfolgreiche Mission in Jamaika sowie die eines anderen ehemaligen afroamerikanischen Sklaven, Prince Williams in Nassau auf den Bahamas, ging der Arbeit von William Carey in Indien um einige Jahre voraus. Indien William Carey (1761–1834) war ein bescheidener Schuhmacher aus einem kleinen Dorf nahe Northampton in England. Wie Liele war er weitgehend Autodidakt. Obwohl er nur sechs Jahren zur Schule gegangen war, besaß Carey eine bemerkenswerte Neigung zu Sprachen und eine Leidenschaft, sein Wissen zu erweitern. Er diente als Pastor der Baptistengemeinden4 in Moulton und Leicester, wo er zu der Überzeugung gelangte, dass 3

Das Wort „Missionar“ wird hier bezogen auf Personen, die internationale Grenzen überqueren, um das Evangelium von Jesus Christus zu teilen, um Menschen zum Glauben an Jesus Christus zu bringen und um Gemeinden in dem neuen sozialen Kontext zu gründen. 4 Es handelte sich um Gemeinden der particular Baptists.

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der Missionsbefehl in Matth. 28 nicht nur den unmittelbaren Jüngern Jesu galt, sondern der Kirche durch alle Jahrhunderte. Carey veröffentlichte 1792 seine Ansichten in dem Büchlein „Eine Untersuchung über die Verpflichtung der Christen, Mittel für die Bekehrung der Heiden zu verwenden“. Diese Veröffentlichung sollte als Grundlage für die Theologie und die Organisationsstruktur der protestantischen Weltmission in der modernen Welt dienen. Das Buch war eine bemerkenswerte Verteidigung einer protestantischen und baptistischen Weltmission und eine Antwort auf calvinistische Argumente gegen eine solche Mission mit der Begründung, dass Gott die Rettung bringen sollte, nicht aber Menschen. In seiner Abhandlung fasste Carey die Missionsarbeit während der rund 1700 Jahre Kirchengeschichte zusammen und lieferte dann eine Analyse des Missionsfeldes selbst, indem er die Größen und Gebiete der großen Religionen der Welt identifizierte. In den nächsten zwei Jahrhunderten sollten die meisten Gesellschaften, die Missionare entsandten, dem Modell Careys folgen. Es sah die Einsetzung eines Vorstandes vor, um die Finanzierung der Missionsbewegung, die Auswahl und Ausbildung der Missionare und die Aufsicht über ihre Arbeit zu überwachen. Carey schlug die folgenden Struktur vor: Nehmen wir an, eine Gruppe ernsthafter Christen, Pastoren und Privatpersonen schlösse sich zu einer Gesellschaft zusammen und träfe eine Reihe von Regeln bezüglich der Statuten des Plans sowie der Personen, die als Missionare beschäftigt werden sollen und der Mittel, um die Kosten zu decken, & c. & c. Diese Gesellschaft muss aus Personen bestehen, deren Herzen die Arbeit tragen, Menschen mit ernsthafter Religion, die einen Geist der Beharrlichkeit besitzen. Es muss die Entschlossenheit vorhanden sein, keine Person zuzulassen, die dieser Beschreibung nicht entspricht, oder jemanden länger zu halten, wenn er abweicht. Aus einer solchen Gesellschaft könnte ein Komitee ernannt werden, dessen Aufgabe es sein sollte, alle Informationen zu beschaffen, die über das Thema zu erhalten sind, finanzielle Beiträge zu erhalten, sich über die Charaktere, Stimmungen, Fähigkeiten und religiösen Ansichten der Missionare zu erkundigen sowie ihnen alle Hilfen zukommen zu lassen, die sie für ihre Unternehmungen benötigen.5 5

William Carey, An Enquiry into the Obligations of Christians to Use Means for the Conversion of the Heathen (Leicester, England: Ann Ireland and Other Booksellers, 1792), 82–83.

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Von Careys Aufruf wurden seine baptistischen Zeitgenossen so aufgewühlt, dass sie ihn einluden, beim nächsten Treffen des Verbands im Mai 1792 in Nottingham die Predigt zu halten. Daraufhin gründete der Verband die Baptistische Gesellschaft zur Propagierung des Evangeliums unter den Heiden, die später als Baptistische Missionsgesellschaft (BMS)6 bekannt wurde. William Carey und John Thomas gingen zusammen mit ihren Familien 1793 als erste Missionare der Gesellschaft nach Indien. Für den Rest seines Lebens diente Carey in Indien, indem er beträchtliche Energie der Übersetzung der Hl. Schrift in volkstümliche Sprachen und Dialekte Indiens widmete und das Serampore College errichtete. Die Hingabe des indischen Volkes an die hinduistische Religion überraschte ihn, und es währte sieben Jahre, bis die ersten Inder zum Christentum konvertierten.7 Careys Frau Dorothy, die seine Berufung nach Indien nie verstanden hatte, litt an psychischen Erkrankungen und Depressionen und starb 1807. Die Herausforderungen, denen sie sich sowohl im Blick auf ihre körperliche als auch geistige Gesundheit gegenüber sah, ließ die Anstrengungen erahnen, die viele baptistische Missionare, sowohl männliche als auch weibliche, während der nächsten 200 Jahre zu bestehen hatten. Andere Missionare der BMS, darunter William Ward (1769– 1823), Joshua Marshman (1768–1837), Daniel Brunsdon, William Grant und ihre jeweiligen Familien, kamen 1799 in Indien an. William Ward sowie Joshua und Hannah (1767–1847) Marshman schlossen sich dem Ehepaar Carey in Serampore an und bildeten eine Zweckgemeinschaft, die nach den Herrnhuter Missionsgemeinschaften organisiert war; ihnen gehörte das gesamte Eigentum gemeinsam, und das Einkommen wurde gleichmäßig aufgeteilt.8 Dieses Modell war die früheste Form einer Missionsstation und missionarischer „Lager“ im baptistischen Leben, in denen Missionare zusammenlebten, einander unterstützen und ermutigten. Die Strategie der Missionsstationen 6

Baptist Missionary Society. Bill J. Leonard, Baptist Ways: A History (Valley Forge, PA: Judson Press, 2003), 106. 8 Eine detaillierte Beschreibung dieses frühen gemeinschaftlichen Zugangs zum Leben der Missionare bietet Brian Stanley, The History of the Baptist Missionary Society, 1792–1992 (Edinburgh: T&T Clark, 1992), 39–43. 7

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war eine effektive Methode, durch die neue Missionare, die zu bisher unerreichten Bevölkerungen eingesetzt wurden, in Reichweite eines Unterstützungssystems leben konnten. Zum Zeitpunkt von Careys Tod im Jahr 1834 gab es neunzehn solcher Stationen, wobei britische Missionare und Inder bei der Arbeit kooperierten.9 Mit der Zeit wurden Missionsstationen zum alleinigen Ressort westlicher Missionare, was das „Serampore Trio“ Carey, Marshman und Ward sich nicht ausmalen konnte, was aber die Kontrolle der Missionare in lokalen Kontexten sicherte und oft die Missionare von den Menschen trennte, denen sie dienen wollten. Das Serampore-Trio errichtete die Grundlage für die Arbeit zukünftiger baptistischer Missionare mit dem Fokus auf Bibelübersetzung, Evangelisation, Bildung und die Schaffung einer nationalen Kirche, die die empfundenen moralischen Missstände wie das Kastensystem und die Verbrennung von Witwen bekämpften. Das Serampore College wurde 1818 gegründet, um indische Kirchenleiter auszubilden und konzentrierte sich in erster Linie auf Evangelisation und darauf, den Studenten zu helfen, ihren kulturellen Kontext zu verstehen, um das Evangelium mit Hindus und Muslimen zu teilen. Es wurde zum Modell für zukünftige Universitäten, die von westlichen Missionaren gegründet wurden. Die Westindischen Inseln Im Jahre 1813 schlossen sich britische baptistische Missionare dem ersten baptistischen Missionar George Liele bei seiner Arbeit auf den westindischen Inseln an. Liele hatte bereits 1791 Unterstützung von britischen Baptisten angefordert und berichtete John Rippon (1751–1836) in London, dass seine Gemeinde in Kingston, Jamaika, fast 350 Mitglieder hatte. Dieser Aufruf zur Unterstützung erfolgte mindestens zwei Jahre, bevor die britischen Baptisten die BMS organisierten. Lieles Arbeit ergänzte die von Moses Baker im Nordwesten Jamaikas, der eine Gemeinde ins Leben rief und an die britischen Baptisten appellierte, ihn bei der Bekämpfung des Widerstands gegen den Religionsunterricht durch britische Plantagenbesitzer zu unterstützen. John 9

Ebd., 52 f.

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Rowe, Mitglied der Gemeinde von John Ryland (1753–1825) in London, wurde 1814 durch die BMS nach Jamaika entsandt.10 Die Bemühungen der Missionare und einheimischer Jamaikaner in den nächsten Jahren, die Sklaverei in Jamaika auszurotten, schufen erhebliche politische Spannungen mit Pflanzern, die sogar rechtliche Schritte gegen einige Missionare unternahmen. Schließlich wurde 1834 den Sklaven auf den britischen westindischen Inseln die Emanzipation gewährt. Die BMS entsandte weitere Missionare auf die Bahamas, nach Haiti, Trinidad und British Honduras (später Belize). Mit Ausnahme von Belize gab es auf den meisten dieser Inseln bereits eine baptistische Präsenz.11 Zu beträchtlichen Spannungen kam es zwischen britischen Missionaren und lokalen Baptisten­ pastoren und Leitern, die oft wegen Praktiken im Gottesdienst oder theologischer Fragen uneins waren. Uneinigkeit ergab sich in erster Linie wegen der Inkulturation solcher Praktiken und der dahinter stehenden Theologie auf eine Weise, die für weiße Euro-­Amerikaner gänzlich fremd waren. Ähnliche Spannungen sollten auch in anderen Teilen der Welt auftauchen. Westafrika Die jamaikanischen Baptisten bildeten 1842 die Jamaikanische Baptistische Missionsgesellschaft mit der Absicht, Missionare in Zusammenarbeit mit der BMS nach Westafrika zu entsenden.12 Weil ihre britischen baptistischen Partner die Finanzierung gesichert hatten, waren insgesamt 42 jamaikanische Baptisten, darunter John Clark und G. K. Prince, entschlossen, den Kampf gegen den Sklavenhandel an seiner Quelle aufzunehmen und kamen 1842 in Fernando Po in Kamerun an. Zu dieser Gruppe gehörten auch die britischen Missionare Alfred (1814–1860) und Helen (1816–1886) Saker.13 Als Folge schwerer Krankheiten und Todesfälle unter den Missionaren schien die Mission oft am Rande des Zusammenbruchs, aber die Arbeit des 10

Ebd., 70. Ebd., 91. 12 H. O. Russell, „A Question of Indigenous Mission: The Jamaican Baptist Missionary Society,“ Baptist Quarterly (Vol. 25, Issue 2, April 1973), 86. 13 Stanley, 107–109. 11

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Missionars Joseph J. Fuller (1825–1906), einem Jamaikaner, der von der BMS berufen worden war, sorgte für dringend benötigte Stabilität und einen beachtlichen Erfolg. Burma Das Serampore-Trio hatte gehofft, in mehreren Ländern des indischen Subkontinents, darunter Nepal und Burma, eine missionarische Präsenz zu etablieren. Vier Missionare hatten zwischen 1807 und 1812 erfolglos versucht, in Burma Fuß zu fassen. Careys Sohn Felix (1789–1826) war auf Drängen seines Vaters und mit der Absicht, als Missionar zu dienen, in das Land gezogen, aber ihm fehlte der evangelistische Eifer seines Vaters. Ann (1789–1826) und Adoniram (1786–1850) Judson waren die ersten amerikanischen baptistischen Missionare, die von einer US-amerikanischen Gesellschaft ausgesandt wurden. Berufen wurden sie indes von einem Vorstand der Kongregationalistischen Kirche, kamen aber bei der Überfahrt nach Indien zu der Erkenntnis, dass die Taufe glaubender Erwachsener durch Untertauchen die einzig legitime Taufform sei. Sie baten das Serampore-Trio um die Taufe und entschieden sich nach reiflichen Überlegungen, nach Burma zu gehen, wo sie erfolgreich unter den Burmesen missionierten. Ihr Kollege Luther Rice (1783– 1836), ein weiterer Missionar der Kongregationalistischen Kirche, der auch um die Taufe nachgesucht hatte, kehrte in die USA zurück, um für das Ehepaar Judson finanzielle Unterstützung von baptistischen Gemeinden einzutreiben. Angespornt von Rice organisierten Baptisten in den USA 1814 die „Allgemeine Missionskonvention der Baptistischen Denomination in den Vereinigten Staaten von Amerika für Außenmission“14, die später als American Baptist Foreign Missionary Society (ABFMS) bekannt wurde. 14

General Missionary Convention of the Baptist Denomination in the United States of America for Foreign Missions. Diese Missionsgesellschaft war die einzige Organisation, die von den meisten Baptistengemeinden in den USA anerkannt war. Ihre Delegierten kamen alle drei Jahre zusammen, so dass sie als Triennial Convention bekannt wurde. An der Frage, ob ein Sklavenhalter als Missionar berufen werden könnte, zerbrach die Organisation, und es entstand 1845 die regionale Southern Baptist Convention. (Anm. d. Hg.).

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Die Arbeit des Ehepaars Judson unter den Burmesen war herausfordernd und schwierig. Adoniram verbrachte einige Zeit in Haft, und Ann starb 1826. Zusammen mit seiner zweiten Frau Sarah Boardman Judson (1803–1845) begann Adoniram eine sehr erfolgreiche Missionsarbeit unter dem Volk der Karen. Diese hielten an einem Glauben fest, der der Geschichte des Sündenfalls (1. Mose 2 und 3) ähnelt: im Mittelpunkt steht ein GottSchöpfer, sein Widersacher und ein Menschenpaar, das durch einen Drachen mit Früchten verführt wird, so dass sich Gott von ihnen abwendet. Außerdem sagte die Prophetie der Karen einen Tag voraus, an dem weiße Flügel einen weißen Mann bringen würden, der im Besitz eines Buches sei, das es ihnen ermöglichen würde, zu Gott zurückzukehren. In Adoniram Judson erkannten sie diesen Mann und konvertierten zum Christentum, überwiegend zum Baptismus. Bis zu ihrer Vertreibung aus Burma in den späten 1970er Jahren praktizierten sie einen zutiefst engagierten Glauben und warteten auf den Moment, an dem sie den Missionsbefehl erfüllen könnten, indem sie das Evangelium in die Welt tragen würden. Baptistische Missionsanstrengungen im 19. Jahrhundert Drei bedeutende baptistische Missionsgesellschaften nahmen seit Ende 1815 ihre Tätigkeit auf: die BMS in England, die ABFMS und die Richmond Afrikanische Missionsgesellschaft in den USA. Schwarze Baptisten in Richmond, Virginia, bündelten 1815 ihre Ressourcen in der Richmond Gesellschaft, um Lott Carey (1780–1818), den ersten baptistischen Missionar in Afrika, zu unterstützen. In ihrer Verfassung wurde festgelegt, dass ihre Finanzen für die missionarischen Bemühungen auf diesem Kontinent verwandt werden sollten. 1821 entsandte sie Carey und Collin Teague (ca. 1780–1839) nach Westafrika. Dies geschah in Zusammenarbeit mit der Missionskonvention und der Amerikanischen Kolonisierungs-Gesellschaft.15 Beide Männer hatten hart 15 William

A. Poe, „Lott Cary: Man of Purchased Freedom,“ Church History (Vol. 39, No. 1, March 1970), 50–51. Die American Colonization Society war gegründet worden, um freigelassene Sklaven oder solche, die sich frei gekauft hatten, in Westafrika anzusiedeln. Das Gebiet wurde Liberia genannt (Anm. d. Hg.).

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gearbeitet, um sich und ihre Familien aus der Sklaverei frei zu kaufen. Vor ihrer Abreise konstituierte sich eine Gemeinde, die aus sieben Mitgliedern ihrer Familien bestand. Diese Gemeinde sollte die erste Baptistengemeinde in Liberia und damit in Afrika werden.16 1840 gründeten schwarze Baptisten in New York City in der Abyssinian Baptist Church die American Baptist Missionary Convention, die erste nationale schwarze baptistische Missions-­ Agentur.17 Das begrenzte Einkommen der Afroamerikaner machte es notwendig, dass dieses Gremium mit ABFMS und später mit dem Vorstand der Missionsgesellschaft der Südbaptisten, Southern Baptist Foreign Mission Board, zusammenarbeiten musste, um Missionare berufen zu können.18 1845 entsandte die Baptisten-Konvention der maritimen Provinzen in Kanada die Missionare Richard (1810–1853) und Leleah († 1845) Burpe nach Burma. Kanadische Baptisten gründeten 1912 den Kanadischen Baptistischen Ausschuss für Außenmission.19 Bemühungen kanadischer baptistischer Missionare im 19. Jahrhundert konzentrierten sich vor allem auf Indien und Bolivien. Vier kanadische Baptisten-Unionen fusionierten 1995 und bilden die Kanadischen Baptistischen Dienste, die weiterhin Missionare entsenden und die Missionsbemühungen der kanadischen Baptistengemeinden koordinieren.20 Europäische Baptisten, vor allem deutsche Baptisten, schlossen sich den britischen, amerikanischen und kanadischen an, um missionarisch zu expandieren, insbesondere innerhalb Europas selbst und später in Afrika und Asien. Bill J. Leonard hat darauf hingewiesen, dass es „1800 keine Baptistengemeinden auf dem europäischen Festland“ gab, aber ab 1834 gründete Johann Gerhard Oncken (1800–1884) Gemeinden in Deutschland, Dänemark, Russland, der Schweiz, den baltischen Staaten und anderen Nationen. Seine Tätigkeit beeinflusste Dutzende Missionare, 16

Ebd., 52. D. Martin, Black Baptists and African Missions: The Origins of a Movement, 1880–1915 (Macon, GA: Mercer University Press, 1989), 16. 18 Leroy Fitts, A History of Black Baptists (Nashville, TN: Broadman Press, 1985), 112. 19 Canadian Baptist Foreign Mission Board. 20 Canadian Baptist Ministries, https://www.cbmin.org/our-story/our-history/ (Aufgerufen am 7. August 2018). 17 Sandy

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die Baptistengemeinden und Unionen in ihren eigenen Ländern ins Leben riefen.21 Die Bemühungen der britischen Baptistenmission konzentrierten sich im 19. Jahrhundert vor allem auf Kamerun, den Kongo, Indien, Ceylon (heute Sri Lanka), China und Japan. Zwischen 1814 und 1845 diente die ABFMS als wichtigste Entsendegesellschaft für Baptisten in den USA. In diesen Jahrzehnten umfasste ihre Geschichte die Gründung der Amerikanischen Baptistischen Heimatmissionsgesellschaft und die Gründung einer baptistischen Präsenz in Siam (Thailand), Südindien, Assam, Liberia, Europa, Haiti und China.22 Zwischen 1820 und 1845 waren amerikanische Baptisten zunehmend wegen der Sklaverei entzweit. Viele Baptisten im Norden setzten sich für die Abschaffung der Sklaverei ein, während Baptisten im Süden dagegen hielten, dass solche Fragen zu den Anliegen einzelner Staaten gehörten. Mit der Schaffung von Anti-Sklaverei-Gesellschaften in Neuengland und New York nahmen die Spannungen zu. Um 1840 weigerten sich einige Missionare in Birma, mit Missionaren, die Sklaven besaßen, zusammenzuarbeiten, und 1843 gründeten die Abolitionisten im Norden das Amerikanische und Ausländische Freie Baptistische Gremium für Außenmissionen mit „der ausdrücklichen Absicht, nicht mit den südlichen Gemeinden zusammenzuarbeiten“.23 1844 weigerte sich die ABFMS, einen Sklavenhalter aus Georgia als Missionar für die Cherokee zu ernennen. Daraufhin versammelten sich im Mai 1845 Baptisten aus dem Süden in Augusta, Georgia, und schufen als neue Denomination die Southern Baptist Convention und die Errichtung einer neuen baptistischen Entsendeagentur für Missionare (Foreign Mission Board = FMB). Die Trennung der beiden Konventionen war bemerkenswert freundschaftlich. Der Vorstand im Norden erlaubte seinen Missionaren, das Gremium zu wählen, unter dem sie dienen wollten, und dieses großzügige Angebot bestimmte die Atmosphäre der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen den beiden baptistischen

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Leonard, 306–307. Robert G. Torbet, a. a. O., 57–90. 23 T. B. Ray, Southern Baptist Foreign Missions (Nashville, TN: Sunday School Board of the Southern Baptist Convention, 1910), 30. 22

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Körperschaften.24 Unverzüglich empfahl der südliche Vorstand China als sein erstes Missionsfeld und sandte einen Brief an Missionare in China, um sie einzuladen, von dem neuen Vorstand angestellt zu werden. Der Missionar J. Lewis Shuck (1812–1863), der mit seiner Frau Henrietta (1817–1844) als erster ABFMS Missionar 1835 nach China entsandt worden war, nahm die Einladung sofort an und wurde so zum ersten Missionar25 des neuen Gremiums der Südbaptisten.26 Das Gremium verhandelte auch mit Issachar J. Roberts (1802–1870), der in Kanton von der kleinen „China Missionsgesellschaft von Kentucky“ unterstützt wurde. Diese löste sich auf, und Roberts wurde der zweite FMBMissionar in China.27 Um 1850 dienten acht FMB-­Missionare in Kanton und Shanghai. Vor dem Bürgerkrieg weitete das FMB seine Arbeit auf bereits etablierte Felder in China und Afrika aus und baute auf der Arbeit der BMS und der ABFMS auf. Es wurde auch versucht, eine Arbeit in Japan und Brasilien zu beginnen, aber die abnehmende Gesundheit der Missionare und die finanziellen Herausforderungen, die durch den Ausbruch des Bürgerkriegs entstanden, behinderten diese Bemühungen. Afro-amerikanische Missionare im 19. Jahrhundert Für Afroamerikaner bot die protestantische Außenmissionsbewegung Gelegenheit zur Evangelisierung Afrikas, während dadurch zugleich rassistische Haltungen in den überwiegend von Weißen besetzten Gremien gefestigt und institutionalisiert wurden. Die europäisch-amerikanische weiße Kultur, die von einem Vertrauen in ihre eigene Erwählung und Überlegenheit durchdrungen war, ging von der Voraussetzung aus, dass sie eine zentrale und göttlich verfügte Rolle bei der Evangelisierung der Welt spielte. Die britische Missionsgesellschaft, die zunächst gezögert hatte, das Feld der Politik zu betreten, um für die Abschaffung der Sklaverei zu kämpfen, unterstützte schließ24 Robert

N. Nash, Jr., „The Influence of American Mythology on Southern Baptist Foreign Missions, 1845–1945“ (Ph.D. diss., The Southern Baptist Theological Seminary, 1989), 74. 25 Seine Frau Henrietta Shuck war kurz zuvor verstorben. 26 Thelma Wolfe Hall, I Give Myself: The Story of J. Lewis Shuck and His Mission to the Chinese (Richmond, VA: Thelma Wolfe Hall, 1983), 68. 27 Nash, 75.

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lich diese Bemühungen und kooperierte, wie bereits beschrieben, mit schwarzen Baptisten in Jamaika für eine Mission in Westafrika. In den USA wurden die größeren und besser finanzierten Missionsgesellschaften mit überwältigender Mehrheit von den weißen Baptistengemeinden unterstützt, und schwarze Baptisten wurden von der vollständigen und gleichberechtigten Teilnahme als Missionare ausgeschlossen. Im Interesse der Evangelisierung Afrikas waren schwarze Baptisten jedoch mehr als bereit, unter der Kontrolle weißer Gremien zu dienen, wenigstens so lange, bis afroamerikanische Denominationen nach dem Bürgerkrieg robustere Missionsorganisationen aufbauen konnten. Die Ernennung von Afroamerikanern durch das FMB der Südbaptisten vor dem Bürgerkrieg ist ein Beispiel für die Erfolge und Herausforderungen der Zusammenarbeit zwischen weißen und schwarzen Baptisten in der Mission. Das FMB bestand da­rauf, dass nur befreite Sklaven berufen wurden und dass schwarze Baptisten für mehrere Jahre unter Schirmherrschaft der nördlichen Missionskonvention oder einer anderen afroamerikanischen Agentur in Afrika dienen mussten, bevor sie von dem FMB übernommen werden konnten. Schwarze baptistische Missionare wurden sowohl für Liberia als auch für Nigeria ernannt, aber weiße Missionare oder Inspektoren, die sie aus den USA besuchten, überwachten im Allgemeinen ihre Arbeit. Alle dreizehn amerikanischen Missionare, die 1849 in Afrika an acht Standorten dienten, waren Schwarze, sieben von ihnen waren Pastoren und sechs Lehrer.28 Schwarze Baptisten hatten 1880 in Montgomery, Alabama, die Baptist Foreign Mission Convention (Baptistische Außenmissionskonvention) mit dem erklärten Ziel gegründet, Afrika zu evangelisieren. Nach dem Bürgerkrieg ernannten FMB und ABFMS weiterhin schwarze Missionare für Afrika, bis die National Baptist Convention 1895 als Partnerschaft zwischen der Baptist Foreign Mission Convention, der National Baptist Convention of America und der National Baptist Education Convention gegründet wurde. Die Außenmissionsabteilung der NBC sollte der missionarische Arm der neuen Denomination sein. Seine Arbeit konzentriert sich nach wie vor auf Afrika mit zehn Missionsstationen sowie einer in Nicaragua. Die im Jahre 1897 gegründete Lott 28

Martin, a. a. O., 21.

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Carey ­Baptist Foreign Missions Society unterstützte auch afroamerikanische Missionare in Westafrika. Frauen und Mission Der Einfluss, den Frauen in der baptistischen Missionsgeschichte haben, umfasst den Dienst als Missionarinnen, aber auch ihr Einsatz als finanzielle Förderinnen und Beterinnen für Missionsgesellschaften und Missionare. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert organisierten Frauen Gesellschaften zur Unterstützung von Missionaren wie etwa für William und Dorothy Carey und Ann und Adoniram Judson. 1800 organisierte Mary Webb (1779–1861) die Bostoner Weibliche Gesellschaft für Missionarische Zwecke29, die sowohl baptistische als auch kongregationalistische Frauen in ihre Mitgliedschaft einschloss. Die weibliche Missionsgesellschaft von Richmond, Virginia, wurde 1814 gegründet. Andere Gesellschaften waren die Weibliche Baptisten Gesellschaft für Außenmission und die Schwarze Sumpf Weibliche Außenmissionsgesellschaft.30 Kurz gesagt, die Sache baptistischer Missionen wäre ohne die finanzielle Unterstützung der Frauen, ohne ihre Förderung der Arbeit von Missionaren und ohne ihren eigenen Dienst als Missionarinnen gescheitert. Baptistische Gesellschaften wie die BMS und die ABFMS schickten in der Regel nur verheiratete Frauen auf das Missionsfeld. Aber 1815 ernannte die ABFMS Charlotte H. White (1782– 1863), eine Witwe, zur ersten alleinstehenden Missionarin, und 1850 entsandte das FMB der Südbaptisten Harriet Baker, eine unverheiratete Frau, nach Shanghai.31 Ihre männlichen Kollegen widersetzten sich ihrer Anwesenheit, und folglich diagnostizierte ein Missionsarzt 1853 ihren leichten Husten als Schwindsucht, und sie wurde gezwungen, in die USA zurückzukehren. Eine unverheiratete Frau sollte erst 1871 wieder ernannt werden, als Edmonia Moon (1851–1908) von dem FMB nach China

29

Boston Female Society for Missionary Purposes. Nash, 236. 31 David W. Bebbington, Baptists Through the Centuries: A History of a Global People (Waco, TX: Baylor University Press, 2010), 224. 30

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geschickt wurde.32 Der Vorstand verteidigte seine Weigerung, alleinstehende Frauen zu ernennen, indem er mehrere höchst paternalistische Gründe anführte, die nach seiner Einschätzung solche Ernennungen ausschließen: • Ihre ungeschützte Stellung in heidnischen Ländern; • die Kosten ihrer Rückkehr, um untersucht zu werden; • die Prüfung vor dem Vorstand durchzuführen; • die Überwachung ihrer Ausstattung und Einschiffung; • die Gefahr, bei der Arbeit durch romantische Blicke gereizt zu werden.33 Eine verheiratete und eine unverheiratete Frau sollen als her­ vorragende Beispiele für die Arbeit von Frauen in der Außenmission herangezogen werden und liefern unbestreitbare Beweise dafür, dass Frauen im internationalen Missionsdienst ebenso fähig waren wie Männer. Ann Judson war von 1813 bis zu ihrem Tod 1826 im Alter von nur 38 Jahren als Missionarin in Burma tätig. In dieser relativ kurzen Zeitspanne lernte sie Burmesisch, begann eine kleine Mädchenschule, entwickelte eine Freundschaft mit der Frau des örtlichen Vizekönigs und übersetzte die Bücher Daniel und Jona ins Burmesische. Auch war sie die erste protestantische Missionarin, die das Matthäus-Evangelium in die thailändische Sprache übersetzte. Darüber hinaus veröffentlichte sie einen Bericht über die amerikanische Mission in Burma und nutzte den Erlös, um burmesische Mädchen aus der Knechtschaft zu befreien.34 Lottie Moon (1840–1912)35 wurde 1873 nach China entsandt und fand schließlich in den Annalen der baptistischen Missionsgeschichte einen herausragenden Platz; sie erreichte eine größere Bekanntheit als andere baptistische Missionare mit Ausnahme von William Carey und dem Ehepaar Judson. Ihre Energie konzentrierte sie auf ländliche Gebiete in der Provinz Shandong und sandte Berichte über ihre Arbeit an die Südbaptisten. Diese 32

Nick Cullather, „Laborers Are Few: Southern Baptist Missionaries in China, 1846–1865.“ Unveröffentlichtes Manuskript, International Mission Board Manuscript Collection, Box 785. 33 Minutes, Foreign Mission Board of the Southern Baptist Convention, July 4, 1859. Manuscript Collection, Foreign Mission Board, Richmond, VA. 34 Dana L. Robert, American Women in Mission: A Social History of Their Thought and Practice (Macon, GA: Mercer University Press, 1996), 44–46. 35 Sie war die Schwester der oben erwähnten Edmonia Moon.

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Berichte und Briefe spiegeln in zeitlicher Abfolge ihren Reifeprozess von der einer kürzlich Angekommenen, die das chinesische Volk vergegenständlichte, zu einer erfahrenen, gereiften Frau, die verständnisvoll die mühevollen Anstrengungen des Volkes verstand und mit Einfühlungsvermögen seine Notlage begleitete.36 Die Missionsvereinigung der Frauen innerhalb der Südbaptisten reagierte im späten 19. Jahrhundert auf ihren Appell, ein Sonderopfer für Missionare einzurichten, durch die Eröffnung eines Kontos für das „Lottie Moon Opfer für Außenmission“. Baptistische Anstrengungen in der Mission im 20. Jahrhundert Baptisten in Westeuropa und Nordamerika traten mit Optimismus in das 20. Jahrhundert wegen der Möglichkeiten, die es für Aufstieg und Verwirklichung der Mission mit sich bringen würde. Die zugrundeliegende Annahme seitens der meisten westlichen Missionsorganisationen war, dass der christliche Glaube bald als die dominierende Religion der Welt in Erscheinung treten würde. Gepaart mit dieser Annahme war die subtile rassistische Ideologie der angelsächsischen Vorherrschaft, die durch Ängste vor der Zuwanderung aus Osteuropa im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstand. Josiah Strong (1847– 1916) veröffentlichte 1885 seine Schrift „Unser Land: seine mögliche Zukunft und seine gegenwärtige Krise“, die vor der drohenden Einwanderung gegen den Fortschritt der angelsächsischen Ideale warnte. Diese optimistische Grundhaltung gegenüber der Evangelisation der Welt wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und das Aufkommen einer rassistischen Ideologie anglosächsischer Überlegenheit beträchtlich abgeschwächt. So z. B. konnte James Franklin Love († 1928), der korrespondierende Sekretär des FMB der Südbaptisten, 1920 argumentieren, dass die Evangelisierung der Welt schneller vollzogen werden könnte, wenn die aggressiven weißen Rassen zuerst evangelisiert werden würden. Er verteidigte seinen Wunsch, die Zahl der Missionare 36

Keith Harper, ed. Send the Light: Lottie Moon’s Letters and Other Writings (Macon, GA: Mercer University Press, 2002), xii–xiii.

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in Europa auf Kosten der Zahlen im Rest der Welt zu steigern, mit Worten, die deutlich ein Überlegenheitsgefühl spiegeln: Lasst uns nicht vergessen, dass dem weißen Menschen der In­stinkt und das Talent von Gott gegeben wurde, seine Ideale unter anderen Menschen zu verbreiten, und dass er diesen Instinkt und dieses Talent nicht in gleichem Maße der gelben, braunen oder schwarzen Rasse verliehen hat. Nur die weiße Rasse besitzt die Fähigkeit, das Christentum in allen Ländern und unter allen Menschen bekannt zu machen.37

Während andere sendende Missionsorganisationen die gespürte Wesensart der Angelsachsen vielleicht nicht so selbstsicher angepriesen haben, führte das Vertrauen der Westeuropäer und Amerikaner auf ihre eigene kulturelle und religiöse Überlegenheit dennoch zu einem voreiligen Optimismus, der während des ganzen Jahrhunderts eine wachsende Zahl von Berufungen zu missionarischen Diensten nach sich zog. Die Beweggründe sind im Einzelnen schwer einzuschätzen. Viele westliche baptistische Missionare machten sicherlich aus lauteren Motiven den missionarischen Dienst zu ihrer beruflichen Karriere und waren von der Verpflichtung beseelt, das Evangelium mit der Welt zu teilen. Gleichzeitig hatten aber kulturelle Motivationen, obwohl sie weniger offensichtlich waren, einen tiefen Einfluss. Die BMS intensivierte ihre Bemühungen in Indien, Westund Zentralafrika, der Karibik und China und begann eine neue Arbeit in Lateinamerika. Nördliche und südliche Baptisten aus den USA weiteten ihre Arbeit in Asien, Afrika und Lateinamerika aus. Um 1980 standen rund 5.000 Missionare im Dienst der Außenmission der Südbaptisten; das FMB war damit die größte sendende Missionsorganisation der Welt. Eine Reihe globaler Realitäten trieb die Ernennungen zum Missionsdienst an. Am Ende des Zweiten Weltkriegs reagierten die Baptisten auf den Aufruf des Generals Douglas MacArthur (1880–1964), Missionare nach Japan zu entsenden, und nach Ende des Koreakriegs nahm die missionarische Präsenz in Süd37 James

Franklin Love, The Appeal of the Baptist Program for Europe (Richmond, VA: Foreign Mission Board of the Southern Baptist Convention, 1920), 14–15. Love fügte hinzu, dass dies „nicht Grund für geistlichen Hochmut oder Geringschätzung einer farbigen Rasse ist. Es ist eine schwerwiegende Tatsache.“

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korea zu. Mitte der 1970er Jahre bezeichneten Analysten und Planer der Mission Südkorea als das für den christlichen Glauben empfänglichste Land der Welt. Der Sieg Mao Tse tungs (1893– 1976) über die nationalistischen Kräfte und die Schaffung der Volksrepublik in China führten zur Expansion einer baptistischen Missionspräsenz im Rest Asiens. Die neue kommunistische Regierung vertrieb 1949 westliche Missionare aus China, und diese arbeiteten fortan vor allem unter vertriebenen Chinesen in Hongkong, Taiwan, den Philippinen, Malaysia, Singapur und anderen Teilen Ost- und Südostasiens. Diese Arbeit erreichte schließlich nicht nur Chinesen, die vor der kommunistischen Revolution geflohen waren, sondern ging darüber hinaus. Die europäischen Baptisten schufen 1954 die Europäische Baptistische Mission (EBM). Ihre konstitutiven Mitglieder waren die Unionen aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Diese Bünde hatten bereits vor 1954 und vor allem in Afrika missionarische Anstrengungen unternommen. In dem Bemühen, die Spaltungen des Zweiten Weltkriegs zu überwinden, schlossen sie sich zu der neuen Missionsgesellschaft zusammen. Im Jahre 2010 wurde daraus die „EBM International“, in der 26 Baptistenbünde aus Europa, Lateinamerika und Afrika Mitglieder sind. Die Arbeit der europäischen Missionare und Mitarbeiter umfasst rund 85 Entwicklungs- und Missionsprojekte in Afrika, Lateinamerika und Indien. Einige arbeiten auch in Europa.38 Das Jahrzehnt 1960 / 70 war ein Wendepunkt in der baptistischen Missionsgeschichte, obwohl es damals von den großen baptistischen Missionsorganisationen kaum bemerkt wurde. Das Wachstum der baptistischen Denominationen im Besonderen und des christlichen Glaubens im Allgemeinen in Ländern wie Korea, Indien, Brasilien und auf den Philippinen ereignete sich zur selben Zeit wie die Lockerung der Einwanderungsgesetze und wie zahlreiche technologische Fortschritte; dazu ermöglichten preiswerte Flugreisen, dass Menschen sich auf der ganzen Welt bewegen konnten, entweder aufgrund freier Wahl oder aus Not. Samuel Escobar (*1934) hat diese zunehmende Mobilität von Christen aus allen Regionen der Welt sowie die daraus 38 „European

Baptist Mission is now called EBM International,“ http://ebf.org/ european-baptist-mission-is-now-called-ebm-international (Zugriff am 7. August 2018).

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resultierenden theologischen und missiologischen Implikationen dokumentiert: Das Migrationsmodell, das im Laufe der Jahrhunderte extrem gut funktioniert hat, ist auch ein Weg für die Mission in unserer Zeit. Migranten aus armen Ländern, die auf der Suche nach wirtschaftlichem Überleben reisen, tragen die christliche Botschaft und die missionarische Initiative mit sich. Herrnhuter aus Curaçao zogen nach Holland, jamaikanische Baptisten emigrierten nach England, haitianische Gläubige gingen nach Kanada, philippinische christliche Frauen gehen in muslimische Länder, und lateinamerikanische Evangelikale gehen nach Japan, Australien und in die USA.39

Der Globus schrumpfte in den 1960er Jahren, als das primäre Transportmittel für Missionare nicht mehr Schiffe, sondern Flugzeuge waren. Ungefähr zur gleichen Zeit öffneten viele westliche Nationen ihre Grenzen für Einwanderer aus unterschiedlichen Teilen der Welt. Die Kontrolle der baptistischen Arbeit in verschiedenen Ländern verlagerte sich von westlichen Missionaren zu lokalen Baptisten, die darauf bestanden, in ihren eigenen Kontexten die Arbeit selbst in die Hand zu nehmen. Diese postkoloniale Welt wurde für Baptisten zur Quelle einer mächtigen globalen Vision jenseits des Westens, die sich rasch auf dem Schauplatz der Welt ausgebreitet hat. Dieses entscheidende Jahrzehnt war Höhepunkt der Arbeit westlicher Missionsorganisationen und der Missionare, die sie entsandt hatten. Ihre Arbeit sollte für die einflussreiche Rolle Anerkennung finden, die sie gespielt haben, indem sie das Evangelium von Jesus Christus in die Welt trugen. Aufgrund ihrer Arbeit wurde das Christentum zu einer Weltreligion und beansprucht inzwischen etwa ein Drittel der Weltbevölkerung. Die Strukturen und Methoden, die sie eingeführt haben, waren in einer Welt sehr effektiv, die Pragmatismus, Denominationalismus, doktrinäre Konformität und sorgfältig strukturierte Gottesdienste und Praxis schätzt. Die Bündelung der denominationellen Ressourcen ermöglichte die Entsendung von Missionaren bis an die Enden der Erde zu einer Zeit, in der Reisen schwierig und unerschwinglich waren. Diese Missionare trugen die besten, 39 Samuel

Escobar, The New Global Mission: The Gospel from Everywhere to Everyone (Downers Grove, IL: InterVarsity Press, 2003), 67–68.

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aber auch die schlimmsten westlichen kulturellen Traditionen mit sich. Robert Woodberry hat vor kurzem dokumentiert, wie die Arbeit der protestantischen Missionare zur Gründung demokratischer Regierungen auf der ganzen Welt führte, vor allem wegen der evangelischen Fokussierung auf individuelle Rechte, die Verteidigung der Religionsfreiheit und die Betonung der Erziehung zum Verständnis der Hl. Schrift.40 In diesem Kapitel ist bereits auf negative Auswirkungen der angelsächsischen Vorherrschaft auf missionarische Haltungen und Missionsstrategien aufmerksam gemacht worden. Mit dem Rückgang der Bindung an die Denominationen haben viele baptistische Missionsgesellschaften Kostensenkungsmaßnahmen ergriffen, darunter Rückrufe von Missionaren aus Missionsgebieten und die Verringerung der Zahl der Berufungen. Gleichzeitig stehen Baptistengemeinden auf der ganzen Welt im Brennpunkt einer neuen Ära globaler Mission. Vor allem in den USA beteiligen sich heute Millionen Mitglieder lokaler Baptistengemeinden an kurzfristigen Missionsprojekten auf der ganzen Welt und kooperieren mit Gemeinden und anderen Institutionen in Afrika, Asien, Lateinamerika und sogar im Nahen Osten.41 Die Zukunft der baptistischen globalen Missionsbemühungen wird in hohem Maße von der effektiven Pflege von Netzwerken globaler Baptisten abhängen, die in der Lage sind, verschiedene Vorteile anzubieten, die genutzt werden können, damit globale Gemeinschaften verwandelt werden und das Evangelium in aller Welt geteilt wird. Die Zukunft baptistischer Missionen Walbert Bühlmann (1916–2007), ein Schweizer Missiologe des Kapuzinerordens, hat die globale Missionsgeschichte in drei verschiedene Stadien oder Kirchen aufgeteilt. Die erste Kirche war die östliche Kirche, die das Wachstum und die Expansion des 40

Robert D. Woodberry, „The Missionary Roots of Liberal Democracy,“ American Political Science Review (Vol. 106, No. 2, May 2012). 41 Robert J. Priest, Terry Dischinger, Steve Rasmussen, and C. M. Brown, „Researching the Short Term Mission Movement,“ Missiology (Volume XXXIV, No. 4, October 2006), 432. Dieser hervorragende Aufsatz geht dem rapiden Anwachsen kurzfristiger Missionsprojekte (unter vier Wochen) in den USA nach.

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Christentums im ersten Jahrtausend prägte. Die zweite Kirche war die westliche Kirche, die diese Expansion durch den größten Teil des zweiten Jahrtausends gestaltet hat. Nun steht die dritte Kirche, die allgemein als Kirche der südlichen und östlichen Hemisphäre verstanden wird, bereit, ihren Platz als missionarisches Zentrum der Zukunft einzunehmen. Im Jahr 2007 besuchte ich das Flüchtlingslager Mae La in Thailand. Das Lager ist seit mehr als dreißig Jahren die Heimat von Flüchtlingen des Karen Volkes aus Burma, da diese vor Unterdrückung und Verfolgung durch die Burmesische Regierung geflohen sind. Die Karen, die durch die Missionsarbeit des Ehepaars Judson sehr baptistisch geprägt sind, stellen eine zutiefst engagierte christliche Minderheit dar, deren Zukunft bis etwa 2005 sehr düster aussah; dann aber stimmten mehrere Länder zu, Flüchtlinge der Karen aufzunehmen und ihnen zu helfen, die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Ich war zu Besuch in Mae La, um zu überlegen, wie eine US-missionarische Organisation, die Kooperative Baptistische Gemeinschaft42, den Karen bei ihrer Integration in amerikanischen Städten und Gemeinden helfen könnte. Aus meiner Sicht war ich dort, um einer Gruppe armer Flüchtlinge, die alles verloren hatten, zu helfen, die aber auch in der glücklichen Lage waren, bei ihrer Umsiedlung in ein neues Land die Unterstützung von Regierungen, Missionsvertretern und sozialen Diensten zu erhalten, um Arbeit zu finden und ihre eigenen Kirchen und Häuser zu errichten. Mit der Selbstverwaltung der Karen versammelten wir uns in einem kleinen Raum des Lagers. Von den Ratsmitgliedern wollte ich etwas von ihren Hoffnungen und Träumen im Blick auf ihre Neuansiedlung hören und erwartete Worte der Wertschätzung und des Dankes sowie der Erleichterung darüber, dass sie nach den vielen Jahren als Flüchtlinge glücklich seien, wieder sesshaft werden zu können. Stattdessen fand ich eine Gruppe baptistischer Christen vor, die die ihnen von Gott geschenkte Gelegenheit feierten, das Evangelium Jesu Christi an die Enden der Erde 42 Die

Kooperative Baptistische Gemeinschaft (Cooperative Baptist Fellowship) war 1991 wegen wachsender Spannungen unter den Südbaptisten (Southern Baptist Convention) im Blick auf die Fehlerlosigkeit der Bibel und die Ordination von Frauen entstanden. Diese Gemeinschaft hat neunzig Missionare in dreißig Ländern.

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tragen zu können. Sie erzählten mir die Geschichte von Adoniram Judson, der 1831 das Evangelium mit den Karen geteilt hatte, als er auf einer evangelistischen Reise durch Burma war. Nach der Umsiedlung führten ihre baptistischen Verbindungen sie in großer Zahl zu den Ortsgemeinden in den USA, England und anderen europäischen Ländern, wo sie sich anschlossen und sich weigerten, Missionsgemeinden „im Keller“ eines Kirchengebäudes zu werden. Ihre tiefe Verpflichtung gegenüber Praktiken wie Gesang, Abgabe des Zehnten, Gottesdienst und Evangelisation führte wiederum zur Verjüngung vieler amerikanischer und europäischer Baptistengemeinden. Die nächsten 200 Jahre baptistischer Missionsgeschichte werden fest in den Händen dieser „Dritten Kirche“ ruhen. Sie ist die kreativste und expansivste baptistische missionarische Kraft in der Welt von heute. Baptisten dieser Dritten Kirche werden die missionarische Kraft der Zukunft bilden. In Kontexten wie Brasilien, Südkorea, Indien, Südostasien, Nigeria, Uganda, dem Nahen Osten und Nordafrika, Kasachstan, Usbekistan, Moldawien, Rumänien, Ungarn, Russland und anderer Länder haben Baptisten die Missionstheologie sowie Methodik und Praxis durch die Schaffung innovativer Zentren für missionarische Ausbildung und durch die Entsendung von Missionaren über internationale Grenzen hinweg revolutioniert. Oft gehen diese Missionare mit wenigen Mitteln, aber mit enormer Überzeugung und Entschlossenheit in die Welt, um das Evangelium Jesu Christi zu verbreiten, auch in die inzwischen geistlich erschöpfte europäische und nordamerikanische „Zweite Kirche“. Diese Dritte Kirche in ihrer baptistischen Äußerung geht mit einem tiefen missiologischen Verständnis ihrer Berufung in das neue Jahrtausend. Das ist vielleicht am wichtigsten. Auch gilt, dass sie durch das Gewicht von 200 Jahren westlicher baptistischer Missionsgeschichte geprägt ist und dennoch von ihr ungehindert bleibt. Die Dritte Kirche treibt die baptistische Tradition zu einer Erneuerung der Spiritualität und tieferen Überzeugung der missionarischen Aufgabe an: Baptistische Karen beeinflussen die Gottesdienste und andere Praktiken der Gemeinden in den USA. Brasilianische baptistische Studenten reisen mit nichts als einem Rucksack und einer Bibel nach Afrika südlich der Sahara. Baptisten aus Syrien, Jordanien und dem Irak versammeln sich, um in einem Seminar im Nahen Osten eine Ausbildung zu erhalten. 58

Vietnamesische Baptisten bilden eine Zeit lang eine Bibelschule im Regenwald und gehen dann schnell wieder auseinander. Ein Schulungszentrum in Moldawien bereitet baptistische Gemeindegründer auf ihre Arbeit in Kasachstan und Usbekistan vor. Philippinische baptistische Hausangestellte bringen Kindern im Nahen Osten biblische Geschichten und christliche Lieder bei. Ugandische Baptisten dienen Menschen, die nach Uganda geflüchtet sind, und sorgen dann dafür, dass sie an Orte umziehen, wo das Evangelium Wurzeln schlagen und wachsen kann. Die größte Baptistengemeinde in Großbritannien ist heute eine Gemeinde westafrikanischer Immigranten. Auf all diesen Wegen schafft die Diaspora-Mission der Dritten Kirche die Grundlage baptistischer Mission für den Anbruch eines neuen Tags. Vielleicht haben Baptisten mehr als jede andere protestantische Tradition die globale Missionsbewegung in den letzten 250 Jahren geprägt. In diesem Kapitel wird der ganze Zyklus der baptistischen Missionsbewegung während dieser Jahre zum Ausdruck gebracht. Schwarze Baptisten in der Karibik, die vormals Sklaven in Amerika waren, dienten als die allerersten baptistischen Missionare und teilten eine Vision für ihren eigenen Kontext, der Grund genug war, Missionare nach Westafrika zu entsenden. Britische Baptisten, die durch evangelische Erweckungen aufgerüttelt waren, lieferten die theologische Rechtfertigung für die Weltmission, die Struktur für ihre Umsetzung und entsandten viele ihrer ersten Missionare. Weiße Baptisten in den USA, die durch das erfolgreiche Schaffen britischer Missionare motiviert waren und britische Methoden anwandten, konnten einige der größten missionarischen Sendeorganisationen und Agenturen des 19. und 20. Jahrhunderts gründen. Als Folge empfing ein großer Teil der Welt das Evangelium und ergriff es. Beeinflusst von diesen neuen Kontexten nahm das Evangelium einen tieferen theologischen und missiologischen Ausdruck an und schüttelte damit einen Teil seines europäischen und amerikanischen Ethos ab. Jetzt bewegt sich das Evangelium von überall her zu jedem hin, wie Samuel Escobar es zum Ausdruck gebracht hat, indem es Baptisten aus Asien, Afrika sowie Süd- und Mittelamerika ermöglicht, die alten Kulturen, die die baptistische Missionsbewegung zunächst hervorgebracht und Missionare entsandt hatten, auf neue missionarische Formen einzustellen, die sich die Gründer der missionarischen Bemühungen nie hätten vorstellen können. 59

C. BAPTISTISCHE LEHREN

Die Taufe Anthony R. Cross Für Baptisten sind Glaube und Praxis in Christus gegründet, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt ist, und aus diesem Grund suchten sie seit ihren Anfängen, die neutestamentliche Gemeinde als eine getaufte Gemeinschaft wieder herzustellen. In ihr kann es keine ungetauften Gläubigen geben (1. Kor. 12,13). Die Taufe des Johannes zur Buße (Mt. 3,1 f.; Apg. 19,4) war Vorläufer der christlichen Taufe und nahm die Gabe des Geistes zu Pfingsten vorweg in Aufnahme der Vorhersage des Täufers (Mt. 3,11). In seiner Taufe identifizierte sich Jesus mit der Menschheit (Mt. 3,13–17). Die Ursprünge der christlichen Taufe gehen auf den Befehl Christi zurück: „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker, indem ihr sie tauft… und lehrt…“ (Mt. 28,19; vgl. auch Mk. 16,16). In der apostolischen Urgemeinde war die Taufe ein Bestandteil der Verkündigung, des Kerygmas. Alle, die umkehrten und Christus annahmen, wurden sofort getauft (z. B. Apg. 8,12; 36–38; 10,44–48; 16, 14 f.; 18,8) und hatten die Gewissheit der Sündenvergebung sowie die Gabe des lebenspendenden Geistes (Apg. 2,38.41). Die neutestamentliche Taufe war „Bekehrungstaufe“ im Namen der Trinität, und die neu Bekehrten wurden im Glauben unterrichtet, was sie glauben (Lehre) und wie sie in einem neuen Leben wandeln sollten (Ethik, vgl. Röm. 6,3 f.). Die Taufe ist daher untrennbar mit der Nachfolge verknüpft, und selbst wenn die Taufe gewährt wird, bevor ein Unterricht stattfinden kann, so muss sich ihr ein lebenslanger Lernprozess und die Nachfolge Christi anschließen. Weil die Taufe eine Anordnung Christi und die von Gott bestimmte Antwort auf die Verkündigung des Evangeliums ist, stellt sie kein beliebiges „Extra“ dar, sondern ist die erste glaubensvolle Antwort auf das Evangelium. Geist- und Wassertaufe sind im Neuen Testament die auf Menschen und auf Gott gerich60

teten Dimensionen des Christwerdens (Apg. 2,38; 1. Kor. 12,13; Joh. 3,5). Im 4. Jahrhundert wurden sie indes getrennt. Wir sollten daher den für die hellenistische Welt kennzeichnenden Dualismus von Geist und Materie vermeiden und eine gesunde Sicht Gottes als Schöpfer wiederherstellen, wozu auch gehört, die Materie als sein Mittel zu verstehen, durch das er zum Heil seiner körperlich-materiellen Schöpfung, der Menschheit, wirkt, was er durch die Menschwerdung (Inkarnation) getan hat. Dieses Verständnis der Güte seiner Schöpfung und der Art und Weise, wie Gott gewöhnliche, materielle Mittel als Werkzeuge seiner Gnade gebraucht, lässt uns erkennen, dass die Taufe der Begegnungsort des ersten Aufeinandertreffens von Gott und Mensch ist: Die Gnade Gottes trifft auf den Glauben des bußfertigen Gläubigen. Obwohl die ersten Baptisten die Taufe durch Übergießen des Wassers vornahmen, merkten sie bald, dass das griechische Wort für Taufe / taufen nichts anderes bedeutet als untertauchen, d. h. eine vollständige Immersion, mit der das Sterben und Auferstehen des Herrn Jesus zum Ausdruck kommt: Sowohl Philippus als auch der äthiopische Eunuch „stiegen in das Wasser hinab“ (Apg. 8,38), während Jesus „heraus aus dem Wasser stieg“ (Mt. 3,16). Das körperliche Hinabgehen in das Wasser und danach das Heraufsteigen aus dem Wasser stattet die Taufe mit einer starken Symbolik aus und macht sie zu einem „sichtbaren Wort“. Paulus gebraucht diese Symbolik des Wassergrabs, um aufzuzeigen, „dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind“ und „mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, damit, wie Christus von den Toten auferweckt wurde, … auch wir in einem neuen Leben wandeln“ (Röm. 6,3 f.). Das verbindet sich auch sonst im Neuen Testament mit der Taufe, die als passende Gelegenheit gilt, wo die Vergebung der Sünden zuerst erfahren wird (Apg. 2,38) und wir rein gewaschen werden (Apg. 22,16; 1. Kor. 6,11; Eph. 5,26) durch das Wirken des Geistes (Tit. 3,5). Dennoch ist die Taufe mehr als ein Symbol; sie ist ein effektives Symbol. Das Verständnis der Taufe als einer „Anordnung“ (engl. ordinance) bedeutet nicht, dass sie nicht auch ein Sakrament ist, ja diese beiden Sichtweisen ergänzen sich gegenseitig. Ein Sakrament ist ein göttlich angeordnetes Mittel der Gnade. Taufe im Neuen Testament ist Glaubens-Taufe, was klar durch die Tatsache herausgestellt ist, dass das ganze Spek­ 61

trum der Gaben des Heils, die dem Glauben zugeschrieben werden, in gleicher Weise auch für die Taufe gilt: Vergebung (vgl. Röm. 6,2–11 mit Apg. 2,38), Rechtfertigung (vgl. Röm. 3,28 mit 1. Kor. 6,11), Einwohnung Christi oder Verbindung mit Christus (vgl. Eph. 3,17 mit Gal. 3,27), Gekreuzigt-Sein mit Christus (vgl. Gal. 2,19 f. mit Röm. 6,2–11), Tod und Auferstehung (vgl. Röm. 8,12 f. mit Kol. 2,12), Sohnschaft (vgl. Joh. 1,12 mit Gal. 3,26 f.), der Hl. Geist (vgl. Gal. 3,2–5. 23 f. mit Apg. 2,38 und 1. Kor. 12, 13), Eingang in die Gemeinde (vgl. Gal. 3,6 f. mit Gal. 3,27), Wiedergeburt und Leben (vgl. Joh. 3,14–16 und 21,31 mit Joh. 3,5 und Tit. 3,5), das Königreich und ewiges Leben (vgl. Mk. 10,15 und Joh. 3,14–16 mit 1. Kor. 6,9–11), Heil (vgl. Röm. 1,16 und Joh 3,16 mit 1. Petr. 3,21). Das sollte uns jedoch nicht zu der Idee verleiten, die Taufe wirke mechanisch. Aus baptistischer Sicht ist der Glaube immer unerlässlich, sonst sind die Handlungen bedeutungslos. Jedes Anzeichen einer automatischen Wirkung der Taufe ist 1. Petr. 3,21 ausgeschlossen, wo es heißt, dass die Taufe jetzt auch euch rettet, aber sie ist nicht das Reinigen des Körpers vom Schmutz wie bei einem gewöhnlichen Bad, sondern die Bitte an Gott um ein reines Gewissen. In Wirklichkeit rettet die Taufe „durch die Auferstehung Jesu Christi“. An anderer Stelle heißt es, dass wir „gerettet sind … durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist“, der ausgegossen ist durch Jesus Christus, „damit wir, durch dessen Gnade gerecht gesprochen, Erben des ewigen Lebens würden, das wir erhoffen“ (Tit. 3,5–7, ‚Wiedergeburt‘ ist der Ausdruck für das, was Joh. 3,3.5 als ‚von neuem geboren werden‘ bezeichnet). Normalerweise wird die Taufe im Taufbecken einer Kirche vollzogen; sie kann aber auch in einem Fluss, einem See oder im Meer stattfinden, wo immer es Wasser gibt. Wenn das nicht möglich ist, z. B. in von Dürre heimgesuchten Gebieten, sind gültige Taufen auch schon ohne oder mit nur wenig Wasser durch Besprengung vollzogen worden. Weil die Taufe im Namen der Trinität geschieht (Mt. 28,19) wird die Taufformel im Augenblick des Untertauchens gesprochen, aber sie ist mehr als das, weil sie auf einen Semitismus verweist. Das bedeutet, dass in der Taufe die Person in eine Lebensweise gebracht wird, die grundlegend bestimmt und verwaltet wird durch den dreieinen Gott. Der Gebrauch der trinitarischen Formel steht nicht im Wider62

spruch zu dem Zeugnis der Apostelgeschichte, wonach die frühen Taufen ‚im Namen Jesu Christi‘ (z. B. Apg. 10,48; vgl. auch Röm. 6,3; Gal. 3,27) oder ‚des Herrn Jesu‘ (z. B. Apg. 8,16; 19,5) geschahen, weil die Personen der Trinität nicht geteilt werden können. Getauft werden ‚im Namen Christi‘ meint nichts anderes als getauft werden ‚im Namen des dreieinen Gottes‘. Einige taufen ‚in den Namen (des Herrn) Jesu Christi‘, und auch das ist legitim. Die Norm für baptistische Taufen ist der Akt des einmaligen Untertauchens mit dem Sprechen der trinitarischen Formel, aber es kann auch der alten Praxis des dreimaligen Untertauchens gefolgt werden, wobei eine Person der Trinität bei jedem Untertauchen genannt wird. Die Taufe bietet den zu taufenden Menschen die Gelegenheit, ihren Glauben an Christus zu bekennen (Röm. 10,9 f.; 1. Tim. 6,12). Deshalb können sie entweder auf Fragen aus der Gemeinde antworten und / oder sie geben ihr Zeugnis, wie sie zum Glauben gefunden haben. 1. Tim. 6,12 zeigt, dass dies „vor vielen Zeugen“ geschah. Die Taufe ist daher keine Privatangelegenheit, sondern findet im Rahmen eines Gottesdienstes statt. Oft finden sich auch Nicht-Christen dazu ein, so dass die Taufe eine evangelistische Gelegenheit ist, das Evangelium zu verkündigen. Jetzt stellt sich die Frage nach dem Taufalter. Für die neutestamentliche Glaubens-Taufe ist nicht das Alter ausschlaggebend, sondern ob ein Mensch zum Glauben an Christus gefunden hat. Viele Baptisten bestehen darauf, dass die Taufe erst im Teenageralter vollzogen werden sollte; manche plädieren für früh (13 oder 14 Jahre), manche für spät (17 oder 18 Jahre). Aber diese obere Altersgruppe verändert die Taufe von einer Glaubens-Taufe zu einer Erwachsenentaufe. Viele Menschen aber werden Christen vor dem Teenageralter. Wenn dies aber der Fall ist, dann sind sie, was das Neue Testament anbelangt, zur Taufe zuzulassen. Die Taufe von der Bekehrung zu trennen bedeutet, sich von der neutestamentlichen Taufe zu verabschieden. Jedoch gilt auch: je jünger das Kind, desto komplizierter wird die pastorale Begleitung. Man muss die junge Person kennen und abschätzen können, ob das Taufbegehren aus einer wahrhaften Bindung an Christus erfolgt, oder vom Druck der Altersgenossen, dem Wunsch nach Aufmerksamkeit oder anderen Gründen abhängt. Wenn der junge Mensch aus einer christlichen Familie kommt, ist die pas63

torale Entscheidung einfacher als wenn nur ein Elternteil glaubt oder beide Eltern nicht glauben. In all diesen Fällen müssen Pastor und Gemeinde mit den Eltern und dem Taufkandidaten / der -kandidatin sich beraten, bevor eine Entscheidung zur Taufe getroffen wird. Es können auch gesetzliche Gründe vorliegen, warum mit Sorgfalt vorgegangen werden muss. Andere Gründe werden oft vorgeschoben, um die Taufe zu verschieben. Wenn der Einwand lautet „sie sind zu jung, um getauft zu werden“, sollte die Antwort sein: „Wenn sie alt genug sind, an Christus zu glauben, sind sie alt genug, getauft zu werden.“ Wenn gesagt wird, die Taufe wird ihnen mehr bedeuten, wenn sie älter sind, heißt das, die Taufe von der Bekehrung zu trennen; dann ist die Taufe etwas anderes als die neutestamentliche Taufe. Manchmal werden junge Menschen von der Taufe zurückgehalten, weil sie rückfällig werden könnten, aber dies trifft für alle Altersgruppen zu. Weil Baptisten ihre Theologie und Praxis im Neuen Testament gegründet wissen wollen, müssen sie ihm treu folgen, auch wenn baptistische Traditionen etwas anderes suggerieren. Dass die Taufe normalerweise in einem Gemeindegottesdienst stattfindet, zeigt die gemeinschaftliche Dimension. Die Taufe ist nicht einfach die Handlung eines Individuums. Nach Paulus „sind wir alle durch einen Geist zu einem Leib getauft“ (1. Kor. 12,13) und werden Teil der Familie Gottes („Kinder Gottes durch den Glauben an Christus Jesus“, Gal. 3,26). Die Taufe ist der Initiationsritus, durch den wir der Gemeinde hinzugetan werden. Baptisten haben an dieser Stelle die Taufe oft in der Terminologie der Bundesschlüsse verstanden. Wir stehen mit dem dreieinen Gott in einem Bundesverhältnis, und durch diese Verbindung sind wir auch in einem Bundesverhältnis mit allen anderen Gliedern des Leibes Christi. Das ist ein großes Vorrecht, aber damit geht auch die Verantwortung Hand in Hand, sich vollständig der Arbeit Christi in der Ortsgemeinde zu verpflichten. Deshalb haben Baptisten, die gegen die Neugeborenentaufe sind, häufig eine ‚geschlossene Mitgliedschaft‘ praktiziert, obwohl es immer auch Baptisten gab, die andere nicht ausgeschlossen haben, weil sie die Taufe im Sinne der Kindertaufe verstanden. Zur Zeit des Neuen Testaments jedoch, als alle Gläubigen die Bekehrungstaufe empfangen hatten, war die Taufe die Initiation in den Leib Christi, in die Kirche (oder Gemeinde), aber sobald die Taufe von der Bekehrung abgetrennt 64

wurde – von den einen, die getauft haben vor der Bekehrung und von den meisten Baptisten, die getauft haben (lange) nach der Bekehrung – ist es schwierig für Baptisten, die Fülle der neutestamentlichen Tauftheologie für ihre Taufpraxis zu behaupten, weil sich diese Praxis von der der frühen Kirche unterscheidet. Lange Zeit haben Christen die Bekehrung als ein punktuelles Ereignis verstanden, das sich zu einem bestimmten, datierbaren Zeitpunkt vollzieht. Für diese weit verbreitete Ansicht waren die Berichte von den Bekehrungen in der Apostelgeschichte immer problematisch. Welche Reihenfolge ist normativ für eine Bekehrung: Buße, Wassertaufe, Vergebung und Empfang des Geistes (Apg. 2,28.41); oder Glaube, Wassertaufe, Handauflegung und Empfang des Geistes (Apg. 8,12–17); oder Empfang des Geistes, Zungenrede, Wassertaufe (Apg. 10,44–48); oder Glaube und Wassertaufe (Apg. 16,31–33); oder Glaube, Wassertaufe, Handauflegung, Empfang des Geistes, Zungenrede (Apg. 19,1–6; 9,17 f.; 22,16)? Wenn wir jedoch erkennen, dass das Christwerden ein Prozess ist, eine Reise, die mit der Bekehrung-Initiation beginnt, verlieren diese Fragen ihre Bedeutung, weil der Geist Gottes in seiner uneingeschränkten Tätigkeit erkannt wird als der, der auf unterschiedliche Weise Menschen zu einem neuen Leben in Christus führt. Für eine wachsende Zahl von Baptisten besteht die christliche Initiation in der Liturgie der Taufe, der Aufnahme in die Mitgliedschaft der Ortsgemeinde und der Feier des Abendmahls. Dieses Muster kann in einem einzigen Gottesdienst ablaufen oder in einem Morgen- und Abendgottesdienst desselben Sonntags oder über zwei Sonntage hintereinander. Jedoch ist dieses Muster der Initiation nicht möglich, wenn die Taufe von der Bekehrung durch einen Zeitraum getrennt wird, der sich über mehrere Monate bis zu Jahrzehnten erstrecken kann oder wenn Gläubige am Abendmahl teilnehmen, bevor sie getauft sind. Das zeigt sich besonders in Gemeinden mit offener Mitgliedschaft, aber es ist auch nicht ungewöhnlich in Gemeinden mit geschlossener Mitgliedschaft, nicht zuletzt deshalb, weil die Mehrheit der Baptisten die Taufe sowohl zeitlich als auch liturgisch von der Bekehrung getrennt hat. Während die christliche Initiation in Kirchen mit Neugeborenentaufe mit dieser beginnt, haben Baptisten einen Gottesdienst zur Segnung der Neugeborenen. Dann werden Gebete gesprochen für das Kind 65

und sein Hineinwachsen in den christlichen Glauben, sowie für die Eltern. Außerdem versprechen die Eltern und die Gemeinde, für das Kind und seine Erziehung im christlichen Glauben zu beten und sich einzusetzen. In vielen baptistischen Gemeinden tragen die Täuflinge weiße Taufkleider als Symbol, dass die Taufe von Sünden reinigt; in anderen Gemeinden tragen sie gewöhnliche Kleidung, um symbolisch zu zeigen, dass sie ihr tag-tägliches Leben Christus widmen wollen. Aber der Wechsel der Kleidung für den Taufakt erinnert daran, dass das neue Leben der Christen nach den Wegen Gottes gelebt werden soll. Man kann sich daran erinnern, dass wir bei der Taufe „Christus angezogen haben“ (Gal. 3,27; Kol. 2,11 f.). Wenn die Taufe mit Christi Tod und Auferstehung zusammen gesehen wird, und wir unserem alten Leben sterben und zu neuem Leben in Christus auferstehen, erinnert die Taufe daran, dass wir, als getaufte Gläubige, „den alten Menschen mit seinem früheren Wandel“ abgelegt und „den neuen Menschen angezogen haben“ (Eph. 4,22.24), weil wir „in Christus“ eine „neue Kreatur“ sind, „das Alte ist vergangen und Neues ist geworden“ (2. Kor. 5,17; vgl. Kol. 3,5–11 mit 12–17). Die Taufe hat also ethische Konsequenzen: Die ‚in Christus‘ sind, sollen ein Leben als getaufte Christen führen (vgl. Röm. 6,1–11). Wenn man darauf aufbaut, ist die Gemeinde als die getaufte Gemeinschaft ein Zeugnis des Evangeliums von Christus, weil sie im Gegensatz zur Welt ein Bild der Art und Weise zeigt, wie die Welt ursprünglich beabsichtigt war und wie sie sein kann, wenn Christus der Herr ist; denn hier gibt es keine weltlichen Trennungen zwischen Rassen, sozialen Klassen oder Geschlechter, denn „ihr seid alle einer in Christus Jesus“ (Gal. 3,26–28; vgl. 1. Kor. 12,12 f.), die neue Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, und hier wird das neue Leben der Gegenkultur gelebt (vgl. Mt. 5–7). In Eph. 4,4–6 werden sieben wesentliche Faktoren des „Einsseins“ für das Volk Gottes genannt (ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater). Dass die Taufe hier eingeschlossen ist, zeigt, wie wichtig sie ist, wichtiger als sie häufig von Baptisten anerkannt wird. Zu oft konzentrieren sich Baptisten nur auf die Subjekte der Taufe (die Gläubigen) und die Art der Taufe (durch Untertauchen = Immersion), so dass sie dem Reichtum der neutestamentlichen Taufe 66

keine Gerechtigkeit widerfahren lassen. Häufig wird die Aussage des Paulus 1. Kor. 1,17 („denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen“) dazu verwandt, um diese Position zu rechtfertigen, und sie wird so interpretiert, dass das Predigen des Evangeliums wichtiger sei. Aber mit dieser Interpretation nimmt man nicht wahr, was Paulus hier äußert und was das ganze Neue Testament zur Taufe sagt. In 1. Kor. 1 und 3 widersteht Paulus den Spaltungen in der korinthischen Gemeinde. Unterschiedliche Schlüsselpersonen (Paulus, Apollos, Kephas und Christus) und die Taufe durch sie werden als Ausrede und Rechtfertigung der Spaltungen in der Gemeinde gebraucht. Aber wie Paulus später 1. Kor. 12,13 (vgl. auch Eph. 4,5) zeigt, ist eine ordnungsgemäße Theologie der Taufe ein integraler Bestandteil des christlichen Lebens und Zeugnisses. Die Wichtigkeit der Taufe zeigt sich nirgendwo besser als daran, dass Jesus sie als eines der beiden Aspekte nennt, Menschen zu Jüngern zu machen (Mt. 28,19), und folglich war in der neutestamentlichen Gemeinde die Taufe ein wesentlicher Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums (z. B. Apg. 2,38.41). Literatur: G. R. Beasley-Murray, Baptism in the New Testament (London: Macmillan, 1962; dt. Die christliche Taufe, Kassel: J. G. Oncken 1968, N ­ achdr. 1998). J. Bickelhaupt, Taufe, Glaube, Geist. Ein Beitrag zur neueren innerevangelischen Diskussion (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2015). J. E. Colwell, Promise and Presence: An Exploration of Sacramental Theology (Milton Keynes: Paternoster, 2005). A. R. Cross, Baptism and the Baptists: Theology and Practice in Twentieth-Century Britain (Carlisle: Paternoster Press, 2000). A. R. Cross, Recovering the Evangelical Sacrament: Baptisma Semper Reformandum (Eugene, OR: Pickwick Publications, 2013). S. K. Fowler, More Than a Symbol: The British Baptist Recovery of Baptismal Sacramentalism (Carlisle: Paternoster Press, 2002). E. Geldbach, Taufe (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996) D. Heller, Baptized Into Christ. A Guide to the Ecumenical Discussion on Baptism (Genf: WCC Publications 2012). T. R. Schreiner and S. D. Wright (eds), Believer’s Baptism: Sign of the New Covenant in Christ (Nashville, TN: Broadman & Holman, 2006).

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Abendmahl / Eucharistie Steven R. Harmon Baptisten halten das Abendmahl oder die Eucharistie für eines der beiden Sakramente oder ‚Verordnungen‘ der Gemeinde. Der Begriff Eucharistie (Griech. = Danksagung) ist unter Baptisten nicht ganz unbekannt, doch wird zumeist vom Abendmahl oder vom Mahl des Herrn gesprochen, wie es 1. Kor. 11,20 genannt wird. Baptisten nennen diese Handlung sowohl ‚Sakrament‘ als auch ‚Verordnung‘. In ihren frühen Glaubensbekenntnissen haben Baptisten das Abendmahl und die Taufe in dem Sinn Sakramente genannt, als beide nicht nur menschliches Handeln darstellen, sondern Handlungen, in denen Gott durch seine Gnade Menschenleben verwandelt. Als viele Baptisten es später in ihrer Geschichte vorzogen, von ‚Verordnungen‘ zu sprechen, geschah dies, um herauszustellen, dass beide Handlungen durch Christus selbst angeordnet oder gestiftet worden waren. Außerdem wollten sie ihre Perspektive dieser Handlungen unterschieden wissen von einem Verständnis der Sakramente in dem Sinn, dass sie aus sich heraus, mechanisch, die göttliche Gnade austeilen. Diese jüngere Vorliebe für den Begriff ‚Verordnung‘ geht zurück auf Reaktionen britischer Baptisten gegenüber der in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgetretenen Oxford Bewegung innerhalb der Kirche von England. Diese Reaktionen haben Baptisten in Nord-Amerika und anderswo beeinflusst. Dennoch haben viele Baptisten in Großbritannien, Nord-Amerika und darüber hinaus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für eine Wiederbelebung des Begriffs „Sakrament“ für das Abendmahl plädiert und damit für eine theologische Kategorie, mit der man seine Bedeutung versteht. Die typische baptistische Abendmahlsfeier ist durch das Verlesen der biblischen Einsetzungsworte betont schriftgemäß. Dadurch wird der Ritus in einen Erzählrahmen gestellt, der seinen anamnetischen1 Charakter hervorhebt: Die Teilnehmenden erinnern sich nicht nur an Ereignisse aus der Heilsgeschichte wie dem Heilswerk Christi, sondern erfahren diese Ereignisse 1

Vom Griech. Anamnese = Erinnerung; in der kirchlichen Abendmahlsliturgie ist ein Gebet gemeint, das der Heilstaten Christi gedenkt.

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als gegenwärtige Wirklichkeiten; sie werden durch die Feier des Mahls vergegenwärtigt. Während der Pastor normalerweise bei der Feier des Mahls den Vorsitz hat, binden Baptisten ihre Begegnung mit dem auferstandenen Christus im Mahl nicht an ein sakramentales Priesteramt, das erst die Feier des Mahl zu einer gültigen Eucharistie werden lässt. Vielmehr betrachten sie den Abendmahlstisch als Tisch des Herrn und die versammelte Gemeinde als die ‚Zelebrierenden‘. In vielen baptistischen Gemeinden werden die Elemente von den Diakonen an die feiernde Gemeinde ausgeteilt, die dann ihrerseits die Patene (= Teller mit dem Brot) und den Kelch (oder auch individuelle Kelche) weiterreichen und sich auf diese Weise einander Brot und Wein (oder Traubensaft) austeilen. Baptisten erläutern diese Praxis gelegentlich als Verkörperung ihrer theologischen Überzeugung der Verbindungen zwischen Gemeinde, Amt, Sakrament und der Gegenwart Christi. Dadurch wird die repräsentative Rolle des Pastors, der den Vorsitz beim Mahl hat, der ganzen versammelten Gemeinde zugeordnet, was so den erhöhten Christus als seinen Leib unter seiner Regel vergegenwärtigt. So erklären Baptisten feierlich, dass Christus bei der Feier des Abendmahls wirklich gegenwärtig ist, aber sie begründen die Gegenwart nicht im Sinne einer Transformation der zugrundeliegenden Substanz der Elemente von Brot und Wein. Sie halten fest, dass Christus mit, in und als Leib Christi in der Form der versammelten Gemeinde gegenwärtig ist, die das Mahl feiert, und sie erkennen im Allgemeinen an, dass die Feier des Mahls die Mitglieder der Gemeinde in ein vertieftes Bewusstsein der Gegenwart Christi führt. Baptisten tendieren dahin, von den aus der Reformation überlieferten theologischen Anschauungen vom Abendmahl der Auffassung Zwinglis zuzustimmen. Das bedeutet, dass das Abendmahl ein Erinnerungsmahl ist, das die Heilstaten Christi in Erinnerung ruft und dass Brot und Wein die Symbole des Leibes und Blutes Christi sind. Der Tisch, der in vielen baptistischen Gemeindehäusern zur Feier des Mahls gebraucht wird, unterstreicht dieses Verständnis der Bedeutung der Mahlfeier, weil auf der Seite, die der Gemeinde zugewandt ist, die Worte eingeschnitzt sind „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk. 22,19). Dennoch wird man sagen müssen, dass das Erinnern beim Abendmahl nicht einfach die Funktion eines Erkenntnisvorgangs ist; denn das Erinnern vergegenwärtigt das 69

Drama der Heilstat Christi und will die Gottesdienstbesucher an diesem Drama teilhaben lassen. Das symbolische Verständnis der Elemente meint nicht, dass sie ohne wirkliche Verbindungen mit den Wirklichkeiten stehen, die sie bezeichnen. Auch ist das Mahl nicht einfach eine menschliche Aktion im Gehorsam gegenüber Jesu Anweisung. Baptisten meinen, dass die Verkündigung des Wortes Gottes in Form einer Predigt nicht einfach eine menschliche Aktion ist, sondern eine Handlung, durch die Gott im Leben derer, die hören und danach tun, umgestaltend wirken kann. Und so, wie sie die Sakramentalität des Wortes würdigen können, so sind sie auch in der Lage anzuerkennen, dass Gott im Abendmahl durch den Heiligen Geist handeln kann, um im Leben derer verwandelnd einzugreifen, die das Mahl empfangen und dadurch geistliche Nahrung erhalten. Zusammenfassend kann man festhalten, dass Baptisten die Gegenwart Christi im Abendmahl definieren (1.) als eine ekklesiale2 Gegenwart durch die Gemeinde als des versammelten Leibes Christi; (2.) als eine anamnetische Gegenwart durch die narrative Re-Präsentation der Heilstat Christi; (3.) als pneumatische3 Gegenwart durch den Heiligen Geist, der in den Mit-Feiernden gegenwärtig ist und sie zugleich auch verändern kann. Weil Brot und Wein durch diese ekklesiale, anamnetische und pneumatische Verbindungen eine neue Bedeutung gewonnen haben, gehen Baptisten mit dem in der Feier übriggebliebenen Brot und Wein mit Ehrfurcht um, ohne dass sie es für theologisch nötig halten, das Übriggebliebene zu verzehren. In der englischsprachigen Welt wird die Eucharistie oft auch Kommunion genannt. Im Licht von 1. Kor. 10,16 hat diese Bezeichnung theologische Bedeutung. Paulus spricht an der Stelle von „Gemeinschaft“ (= communio) am Blut und Leib Christi. Die Mahlfeier bringt die Gemeindeglieder in enge Gemeinschaft mit Christus und untereinander. Daher ist das Mahl ein Ausdruck der Einheit und eine Motivation zur Erreichung der Einheit des Leibes Christi und sogar ein Mittel, wodurch die kirchliche Einheit gestärkt werden kann: Die Einheit der Elemente des Mahls und die Einheit der Gemeinde sind miteinander verzahnt; denn die vielen, die an dem einen Brot teilhaben, bilden 2 3

Abgeleitet von Ekklesiologie = Lehre von der Kirche. Abgeleitet von Pneuma = Geist.

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den einen Leib (1. Kor. 10,17). Diese Beziehung zwischen dem Abendmahl und der Einheit der Kirche verwirklicht sich in den meisten (aber nicht in allen) baptistischen Gemeinden weltweit in der „offenen Gemeinschaft“, d. h. in der Einladung an alle an Christus Glaubenden, ob Baptisten oder Mitglieder anderer Kirchen, am Tisch des Herrn mitzufeiern. Nach diesem Verständnis der Verhältnisbestimmung von Mahlfeier und Einheit ist die schon bestehende geistliche Einheit des Leibes Christi die Vorbedingung für die Einheit am Tisch. In der Minderheit baptistischer Gemeinden, die noch „geschlossene Gemeinschaft“ praktizieren, in der also nur Mitglieder baptistischer Gemeinden eingeladen sind, am Abendmahl teilzunehmen, ist dennoch eine Sorge um die Einheit der Kirche vorhanden, allerdings unterschiedlich: Für diese Gemeinden müssen die kirchenspaltenden Lehrdifferenzen als Bedingung für volle eucharistische Gemeinschaft erst überwunden werden. Innerhalb der größeren Gemeinschaft der Baptisten bestehen daher dieselben Grunddifferenzen in Bezug auf das richtige Ausmaß der Praxis eucharistischer Gastfreundschaft wie in der gesamten weltweiten Kirche. Aber innerhalb dieser Abweichung gibt es einen baptistischen Konsens, dass es einen Zusammenhang geben muss zwischen ekklesialer Einheit und eucharistischer Einheit. Literatur: Anglican Consultative Council and Baptist World Alliance, Conversations Around the World 2000–2005: The Report of the International Conversations between the Anglican Communion and the Baptist World Alliance, (London: Anglican Communion Office), 2005 (zu Eucharistie, vgl. §§ 62–68). Baptist Union of Great Britain and Ireland. „The Baptist Doctrine of the Church“ (1948). Appendix 10 in Ernest A. Payne, The Baptist Union: A Short History, 283–89. (London: Carey Kingsgate Press), 1958. Baptist World Alliance and Catholic Church. „The Word of God in the Life of the Church: A Report of International Conversations between the Catholic Church and the Baptist World Alliance 2006–2010“, Ameri­ can Baptist Quarterly 31, (Spring 2012), 28–122 (zu Eucharistie, vgl. §§ 72–92, 116–31). Baptist World Alliance and Lutheran World Federation, „A Message to Our Churches“, in: Growth in Agreement II: Reports and Agreed Statements of Ecumenical Conversations on a World Level, 1982–1998, ed. J­ effrey Gros, Harding Meyer, and William G. Rusch, 155–75, Faith and Order

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Paper no. 187. (Geneva: WCC Publications and Grand Rapids, Mich.: William B. Eerdmans), 2000 (zu Eucharistie, vgl. §§ 86–90). Baptist World Alliance and Mennonite World Conference. „Theological Conversations, 1989–1992“, in: Growth in Agreement III: International Dialogue Texts and Agreed Statements, 1998–2005, ed. Jeffrey Gros, Thomas F. Best, and Lorelei F. Fuchs, 426–48, Faith and Order Paper no. 204. (Geneva: WCC Publications and Grand Rapids, Mich.: William B. Eerdmans), 2007 (zu Eucharistie, vgl. 440–41). Swarat, Uwe. „Die baptistische Lehre im Spiegel der ökumenischen Dialoge auf Weltebene“, Freikirchen Forschung 24 (2015), 18–59. Thurian, Max, ed., Churches Respond to Baptism, Eucharist and Ministry. 6 vols. (Geneva: World Council of Churches), 1986–88. Von neun baptistischen Unionen liegen Antworten vor: Baptist Union of Great Britain and Ireland (1:70–77), All-Union Council of Evangelical Christians-­ Baptists in the USSR (3:227–29), Baptist Union of Scotland (3:230–45), Baptist Union of Denmark (3:246–53), Covenanted Baptist Churches in Wales (3:254–56), American Baptist Churches, USA (3:257–63), Burma Baptist Convention (4:184–90), Union of the Evangelical Free Churches in the GDR (Baptists) (4:191–99), and Baptist Union of Sweden (4:200–13).

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Das kirchliche Amt Steven R. Harmon Die Herrschaft Christi in der Gemeinde ist das grundlegende Prinzip, auf dem Baptisten ihr Verständnis vom Amt in der Kirche und seine Beziehung zu den Gestaltungen der kirchlichen und zivilen Autoritäten stützen. Es ist in dem neutestamentlichen Bild von der Kirche als Leib Christi mit Christus als dem Haupt verankert (1. Kor. 12,12–31; Kol. 2,19; 3,15; Eph. 2,16; 4,4; 4,15 f.; 5,29 f.). Christus ist der Prototyp eines Dieners und episkopos (= Bischof, Aufseher) der Gemeinde (1. Petr. 2,25) – und die Glieder seines Leibes sind Teilhaber seines Dienstes, einschließlich der Aufsicht. Die Kirche ist nach baptistischem Verständnis die verkörperte Gemeinschaft, die durch Christus ins Leben gerufen wurde und die danach strebt, unter der Herrschaft Christi zusammenzuleben. Als Leib Christi hat die Kirche / Gemeinde koinonia (Gemeinschaft oder gemeinsame Teilhabe) mit Christus und so mit dem Dreieinen Gott und untereinander. Baptisten haben des öfteren diese Ekklesiologie der ‚teilhabenden Beziehung‘ unter der Herrschaft Christi durch ‚Bundesschlüsse‘ (covenants) zum Ausdruck gebracht, die ihre beiderseitige Verpflichtung gegenüber Gott und untereinander als Teilhaber am Dienst Christi genau angeben. Obwohl sie nicht allein dieser Ansicht sind, verstehen Baptisten die gesamte Mitgliedschaft der Gemeinde als Teilhaber an dem dreifachen Amt (munus triplex) Christi als Prophet, Priester und König. Gott schenkt der Gemeinde individuelle Pastoren, die er mit Gaben betraut, damit diese ihrer besonderen Rolle nachkommen können, den Leib Christi für die Dienste zuzurüsten (Eph. 4,11–16). Denn die gesamte Gemeinde hat teil an Christi prophetischem Dienst, das Wort zu verkündigen, an Christi priesterlichem Dienst, die Menschen mit Gott zu versöhnen, und an seinem königlichen Dienst der Aufsicht (episkopé ). Einige Baptisten, besonders in den USA, haben dahin tendiert, ihr Eintreten für Gewissensfreiheit mit dem Konzept des Priestertums aller Gläubigen zu verbinden, was auch von den Reformatoren betont wurde. Doch kann der biblische Bezugspunkt 1. Petr. 2,9 noch einen anderen Zusammenhang mit den frühen englischen Baptisten nahelegen. Wenn nach diesem Text 73

das Volk Gottes die ‚königliche Priesterschaft‘ (basileion hiera­ teuma) ausmacht, dann nehmen die Gemeinde und alle ihre Glieder auch teil an dem königlichen Dienst Christi. Wenn ausschließlich Christus im Reich des Gewissens als König herrscht, dürfen weder zivile noch kirchliche Autoritäten das Gewissen zu einem bestimmten Verhalten zwingen. Doch die eigentliche Bedeutung des königlichen Dienstes Christi für die baptistische Ekklesiologie hat mit dem Dienst der Aufsicht (episcopé) in der Gemeinde zu tun. Dieser Dienst ist für Baptisten sowohl gemeinschaftlich als auch persönlich, örtlich und überörtlich. Als eine zu einem Körper vereinigte Gemeinschaft geben die Glieder der Gemeinde aufeinander acht. Dieser Dienst des gegenseitigen Achthabens umfasst das Erkennen der geistlichen und körperlichen Bedürfnisse der anderen und die gegenseitige Rechenschaftspflicht auf dem gemeinsamen Weg unter der Herrschaft Christi. Der Dienst der gemeinschaftlichen Aufsicht schließt auch die Vollmacht zu Entscheidungen ein, die die Mitglieder der Gemeinde von Zeit zu Zeit in ihrem Bestreben treffen müssen, ihr gemeinsames Leben unter die Herrschaft Christi zu stellen. Diese Autorität liegt bei der ganzen Gemeinde. Baptisten vertreten daher eine Ekklesiologie der „versammelten Gemeinde“, für die Matth. 18,20 die wichtige biblische Grundlage ist: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Bei der Ausübung der gemeinschaftlichen Aufsicht erkennen die Mitglieder baptistischer Gemeinden unter den Gaben Christi für seine Kirche die besondere Berufung Einzelner, die von den Gliedern der Ortsgemeinde zu ihrem Pastor ernannt werden. Diese Pastoren üben die personale Aufsicht (episkopé) durch Predigen und Lehren, durch das Halten von Gottesdiensten und durch die Verwaltung der Sakramente (oder Ordnungen) der Taufe und der Eucharistie (oder des Abendmahls). Diese personale Aufsicht ist zugleich kollegial; denn die ordinierten Amtsträger bieten ihre eigenen Überzeugungen und Einsichten und hören zugleich auf die anderen Glieder der Gemeinde, wie diese beraten und Entscheidungen darüber treffen, was die Herrschaft Christi für ihr gemeinsames Leben bedeutet. Die Ordinierten haben eine markante Stimme innerhalb des kollegialen Bemühens, das Leben der Gemeinde der Herrschaft Christi zu unterstellen, weil sie durch ihre theologische Ausbildung und ihre 74

Beziehungen zu Amtsträgern anderer Kirchen, ob baptistische oder nicht-baptistische, in die Lage versetzt sind, die Gemeinde anzuleiten, Meinungen aus der ganzen Kirche durch die Jahrhunderte und aus der ganzen Welt heute zu bedenken. Auf diese Weise erfüllt die baptistische Ausübung der Episkopé eine der historischen Funktionen des Dienstes der Aufsicht: dass die Einheit der Kirche beachtet wird, indem das Leben der Ortsgemeinde mit dem Leben der ganzen Kirche in ihrer Ökumenizität verknüpft wird. Während für Baptisten der primäre Ort der gemeinschaftlichen und personalen Aufsicht die Lokalgemeinde ist, gibt es aber auch eine darüber hinaus gehende Dimension. Seit dem Beginn im 17. Jahrhundert bis heute haben sich baptistische Gemeinden zu Vereinigungen (in Deutschland heute: Landesverbände) zusammengeschlossen. Eine baptistische Ortsgemeinde ist in dem Sinne selbständig, dass keine Ausdrucksform von Kirche über die Ortsgemeinde hinaus die Befugnis hat, Entscheidungen der Gemeinde in Frage zu stellen, ihr Gemeindeleben unter die Herrschaft Christi zu bringen. Aber die Ortsgemeinden erkennen auch an, dass sie mit anderen Ortsgemeinden vernetzt sind: Die Gemeinden sind nicht nur independent, sondern auch interdependent. Mit einem Ausdruck des reformierten Ökumenikers Jean-Jacques von Allmen lässt sich sagen, dass eine baptistische Ortskirche ganz Kirche ist, aber nicht die ganze Kirche. Die Vereinigungen, zu denen Ortsgemeinden gehören, können auf lokaler oder regionaler Ebene sein oder bilden nationale Unionen / Bünde und den Baptistischen Weltbund, zu dem die große Mehrheit nationaler Bünde gehört. Diese Ausdrucksformen überlokaler Vereinigungen üben keine Autorität über die selbständigen Ortsgemeinden aus. Sie können aber ihrerseits über die Mitgliedschaft beschließen und auch eine Ortsgemeinde ausschließen, die nicht in einer kooperativen Verbindung zu der Vereinigung steht. Aus den vorhergehenden Absätzen sollte klar hervorgehen, dass Baptisten in aller Regel die Verweise auf „Bischöfe“ (episkopoí ) im NT nicht so verstehen, dass damit der personale Dienst der Aufsicht über die Ortsgemeinde hinaus gemeint sei. Baptisten haben traditionellerweise kein dreifaches Amt, das dem Bischof eine überörtliche Funktion der Aufsicht zuweist und ihn von Pastoren (oder Ältesten oder Priestern) und Diakonen unterscheidet, die örtlich tätig sind. Sie haben vielmehr unter 75

Berufung auf 1. Tim. 3,1–13 und die dort genannten Qualifikationen für Bischöfe und Diakone ein zweifaches Amt. Die in Apg. 20,17.28 und 1. Petr. 5,1f genannten Verweise auf Titel und Funktionen von Bischöfen, Ältesten und Pastoren scheinen in ihrer Ausrichtung keine Unterschiede zu zeigen. Die nachfolgende Geschichte der frühen Kirche schreibt dem Bischof die Rolle zu, über viele Ortsgemeinden die Aufsicht zu führen. Diese Entwicklung liegt jenseits des neutestamentlichen Christentums. Dennoch haben Baptisten während ihrer gesamten Geschichte die Notwendigkeit für eine personale Episkopé auf überörtlicher Ebene erkannt, um die Interdependenz der Ortsgemeinden zu fördern und ihr zu dienen. Die englischen „General Baptists“ des 17. Jahrhunderts ernannten nicht nur Pastoren für die Ortsgemeinden, sondern auch Amtsträger, die sie „Botschafter“ (messengers) nannten und die überörtliche Dienste wahrnahmen. Gegenwärtig haben Baptisten in etlichen Ländern überörtliche Amtsträger beauftragt, um die Dienste der Vereinigungen (= Landesverbände) mit den Ortsgemeinden zu koordinieren. Im Vereinigten Königreich nennt man sie „Regionalpastore“, in den USA „Missionsdirektor“. In einigen osteuropäischen Ländern, besonders in Estland, Lettland und Georgien, hat man ihnen den Titel „Bischof“ zuerkannt. Diese Anpassung an das dreifache Amt ist im Biblizismus der baptistischen Tradition verankert, weil die Bibel in der Tat auf Bischöfe verweist. Sie verweist aber auch auf ein ökumenisches Engagement in einem östlich-orthodoxen kirchlichen und kulturellen Kontext, wie sich besonders deutlich in Georgien zeigt (vgl. hierzu den Abschnitt über Georgien). Die baptistischen Bischöfe in den genannten Ländern üben die Aufsicht in der Weise aus, dass die kollegialen und gemeinschaftlichen Dimensionen betont werden und fördern die Interdependenz der selbständigen Ortsgemeinden, ohne Macht über sie auszuüben. Die Ordination zum pastoralen Dienst wird in der baptistischen Tradition in erster Linie durch die Ortsgemeinde in die Wege geleitet. Sie erkennt deutlich, dass einem Mitglied Gaben verliehen sind, diesen Dienst auszuüben und dass er / sie dazu einen Ruf Gottes erhalten hat. Aber die Interdependenz der Gemeinden spiegelt sich in der Gepflogenheit, Vertreter anderer Gemeinden aus der Vereinigung bzw. des Landesverbands einzuladen, an dem Ordinations-Gespräch mit dem Kandida76

ten / der Kandidatin und an dem Ordinations-Gottesdienst teilzunehmen. Die meisten baptistischen Bünde führen ein Verzeichnis der von den Ortsgemeinden durchgeführten Ordinationen und verlangen, dass bestimmte Merkmale erfüllt sind, damit die Ordination auf der nationalen Ebene anerkannt wird. Wie viele andere christliche Gemeinschaften haben Baptisten verschiedene Perspektiven, was das Verhältnis der Geschlechter zum ordinierten Amt angeht. Baptisten, die die Rolle eines Pastors auf Männer begrenzen, können sich auf Abschnitte der Hl. Schrift berufen, die, gemäß ihrer Auslegungen, entweder die Frau von der Leitung der Gemeinde und des Gottesdienstes ausschließt oder die annehmen, Pastoren seien Männer (z. B. 1. Kor. 11,2– 16. 14,34 f.; 1. Tim. 2,8–15). Aber diese Abschnitte werden von baptistischen Gemeinden und Unionen, die sowohl Männer als auch Frauen zum pastoralen Amt ordinieren, anders interpretiert. Diese Baptisten verweisen darauf, dass Paulus Gal. 3,28 darauf besteht, dass die Taufe in Christus eine neue Grundlage für die Gemeinschaft hervorbringt, in der „Mann und Frau“ nicht länger der Ausgangspunkt ist, um bestimmte Klassen von Personen in ihrer Stellung in der Gemeinde zu bevorrechten oder zu beschränken; sie verweisen auch auf neutestamentliche Texte, die Frauen in Führungspositionen im Leben der frühen Kirche hervorheben (z. B. Röm. 16,1–7; Apg. 18,24–28). Baptisten, die nur Männer ordinieren, verweisen auch auf das Geschlecht Jesu und der Apostel als Präzedenzfall; Baptisten, die auch Frauen ordinieren, erklären das Übergewicht der Männer in der Führung der frühen Kirche als eine Anpassung an eine patriarchalische Kultur, die nicht bindend als ein zeitloses Prinzip ist. Diese Muster der Begründungen baptistischer Perspektiven bei der Frage der Ordination von Frauen spiegelt den Biblizismus der theologischen Autorität wider, wie er unter Baptisten praktiziert wird; darüber hinaus veranschaulicht die Verschiedenartigkeit der baptistischen Perspektiven in dieser Frage die Freiheit der Ortsgemeinden, der Leitung des Geistes zu folgen, um das Leben unter der Regel Christi, das von Baptisten hoch gehalten wird, zusammen zu bringen. Literatur: Allmen, Jean-Jacques von. „L’Église locale parmi les autres Eglises locales.“ Irénikon 43 (1970): 512–37.

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Anglican Consultative Council and Baptist World Alliance, Conversations Around the World 2000–2005: The Report of the International Conversations between the Anglican Communion and the Baptist World Alliance. London: Anglican Communion Office, 2005 (zum Amt, vgl. §§ 69–70). Baptist Union of Great Britain and Ireland, „The Baptist Doctrine of the Church“ (1948), Appendix 10 in: Ernest A. Payne, The Baptist Union: A Short History, 283–89 (London: Carey Kingsgate Press), 1958. Baptist World Alliance and Catholic Church. „The Word of God in the Life of the Church: A Report of International Conversations between the Catholic Church and the Baptist World Alliance 2006–2010“, American Baptist Quarterly 31, Spring 2012, 28–122 (zum Amt, vgl. §§ 162–204). Baptist World Alliance and Lutheran World Federation. „A Message to Our Churches“, in: Growth in Agreement II: Reports and Agreed Statements of Ecumenical Conversations on a World Level, 1982–1998, ed. J­ effrey Gros, Harding Meyer, and William G. Rusch, 155–75. Faith and Order Paper no. 187. (Geneva: WCC Publications and Grand Rapids, Mich.: William B. Eerdmans), 2000 (zum Amt, vgl. §§ 74–77). Baptist World Alliance and World Alliance of Reformed Churches. „Report of Theological Conversations Sponsored by the World Alliance of Reformed Churches and the Baptist World Alliance, 1977“, in: Growth in Agreement: Reports and Agreed Statements of Ecumenical Conversations on a World Level, ed. Harding Meyer and Lukas Vischer, 132–51. Faith and Order Paper no. 108, (New York: Paulist Press and Geneva: World Council of Churches), 1984 (zum Amt vgl. §§ 30–41). Songulashvili, Malkhaz, Evangelical Christian Baptists of Georgia: The History and Transformation of a Free Church Tradition, Studies in World Christianity, (Waco, Tex.: Baylor University Press, 2015). Swarat, Uwe. „Die baptistische Lehre im Spiegel der ökumenischen Dialoge auf Weltebene.“ Freikirchen Forschung 24 (2015), 18–59. Teraudkalns, Valdis. „Episcopacy in the Baptist Tradition“, in: Recycling the Past or Researching History? Studies in Baptist Historiography and Myths, ed. Philip E. Thompson and Anthony R. Cross, 279–93, Studies in Baptist History and Thought, vol. 11, (Milton Keynes, U.K.: Paternoster), 2005. Thurian, Max, ed., Churches Respond to Baptism, Eucharist and Ministry. 6 vols. (Geneva: World Council of Churches), 1986–88. Von neun baptistischen Unionen liegen Antworten vor: Baptist Union of Great Britain and Ireland (1:70–77), All-Union Council of Evangelical Christians-­ Baptists in the USSR (3:227–29), Baptist Union of Scotland (3:230–45), Baptist Union of Denmark (3:246–53), Covenanted Baptist Churches in Wales (3:254–56), American Baptist Churches, USA (3:257–63), Burma Baptist Convention (4:184–90), Union of the Evangelical Free Churches in the GDR (Baptists) (4:191–99), and Baptist Union of Sweden (4:200–13).

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Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit und Menschenrechte in der baptistischen Geschichte Massimo Rubboli Die Reformation: die gleiche Würde aller Gläubigen Die protestantische Reformation schuf eine innovative historische und theologische Szenerie, in der die mittelalterlichen Konzepte von Freiheit, Gewissen und Rechten im Lichte neuer Erkenntnisse der christlichen Lehre neu bewertet wurden. Aber die Veränderungen in Bezug auf Religions- und Gewissensfreiheit waren nicht das direkte Ergebnis der besonderen Lehren der ersten Reformatoren, weil diese die konventionelle Ansicht ihrer Zeit und ihrer katholischen Zeitgenossen akzeptierten, dass Ketzer zu unterdrücken seien. Luther, Melanchthon und Calvin verstanden Gewissensfreiheit immer noch wesentlich als Gehorsam gegenüber dem göttlichen Wort. Einige Prinzipien der Reformation waren jedoch nicht unwichtig, um den Boden für Religions- und Gewissensfreiheit zu bereiten. Die Bejahung des „Priestertums aller Gläubigen“ war ein solches Prinzip, das die gleiche Würde aller Gläubigen und ihre gemeinsame Sendung in der Welt betonte und das in letzter Konsequenz darauf hinauslief, die hierarchische Struktur der gesamten mittelalterlichen kirchlichen Institution niederzureissen.1 Daraus folgt, dass jede Person gleichen Zugang zur Schrift und das Recht hat, sie unter der Führung des Heiligen Geistes zu interpretieren (testimonium spiritus sancti internum).2 Eine moderne baptistische Version dieses Prinzips bekräftigt: „Keine Autorität kann Zwang zur Unterwerfung unter ihre Interpreta-

1

Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation [1520], WA 6, 407: „wir alle sampt eyn Corper seinn, doch ein yglich glid sein eygen werck hat, damit es den andern dienet, das macht allis, das wir eine tauff, ein Evangelium, eynen glauben haben, unnd sein gleyche Christen, den die tauff, Evangelium und glauben, die machen allein geistlich und Christen volck.“ 2 Luther führte aus, jeder Gläubige folge „unserm gleubigen versta(n)d der schrift“ (Luther, WA 6, 412).

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tion oder ihren Glauben durch einen anderen Gläubigen erzwingen oder annehmen.“3 Die neue theologische Situation, die durch die Reformation geschaffen wurde, in Verbindung mit den Religionskriegen, dem Wachstum der Nationalstaaten und einer Vielfalt religiöser Überzeugungen führte zur Ablehnung etablierter religiöser Institutionen durch religiöse Gruppen, die verfolgt wurden und für ihren eigenen Glauben Duldung suchten. Ihre Gesuche basierten zunächst nicht auf irgendeinem Eifer für Religionsfreiheit als solche; aber ab Mitte des 16. Jahrhunderts wurden einige Stimmen zur Verteidigung wahrer Religionsfreiheit erhoben. Religionsfreiheit in der frühen Täuferbewegung Bei der Rekonstruktion der Genealogie uneingeschränkter religiöser Toleranz hat die moderne Geschichtsschreibung den direkten oder indirekten Einfluss täuferischer Argumente in der Debatte über Religions- und Gewissensfreiheit betont.4 Die große Mehrheit der englischen religiösen Anhänger der Toleranz gehörte zum „nonkonformistischen“ Zweig des protestantischen Christentums, der von den Dissenters gebildet wurde, die nicht mit der etablierten Kirche Englands „konform“ gingen und sich weigerten, das Allgemeine Gebetbuch in Gottesdiensten zu verwenden. Im England des 17. Jahrhunderts waren Kontroversen nicht nur theoretischer Art, sondern hatten viel mit Gesellschaft und Politik zu tun und befassten sich direkt mit der Beziehung zwischen dem individuellen Gewissen und der Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang, lange vor Locke (1632–1704) und mit ausschließlich theologischen Begründungen, legten frühe baptistische Autoren wie John Smyth (1554–1612), Thomas Helwys (ca.1575 – ca. 1614), John Murton (1585 – ca. 1626) 3

Baptist General Association of Virginia, „On These Truths We Stand“ (Zuerst gedruckt in: The Religious Herald, May 11, 1989) http://bgav.org/wp-content/ uploads/2014/01/On-These-Truths-We-Stand.pdf (Zugriff am 20. September 2015). 4 Stephen Wright, The Early English Baptists, 1603–1649 (Wodbridge, Suffolk: Boydell, 2006); Jason K. Lee, The Theology of John Smyth: Puritan, Separatist, Baptist, Mennonite (Macon, GA: Mercer University Press, 2003); Evan Haefeli, New Netherland and the Dutch Origins of American Religious Liberty (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2012).

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und Leonard Busher (?–?) ihre Forderungen nach religiöser Toleranz in Werken dar, die im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts veröffentlicht wurden.5 Sie hatten alle Zuflucht in den Niederlanden gesucht, wo sie Argumente und Meinungen für Toleranz und Religionsfreiheit kennengelernt hatten. Diese Ideen wurden auch durch das Buch „Religionsfreiheit“6 des Mennoniten Pieter Jansz Twisck (1565–1636) verbreitet; es ist eine historische Zusammenstellung, die zu Beginn des Zwölfjährigen Waffenstillstandes (1609–21) veröffentlicht wurde. Twisck behauptete nicht nur, dass keine zivile Autorität das Recht habe, sich in religiöse Angelegenheiten einzumischen, sondern auch, dass es notwendig sei, die Meinungen anderer mit Duldung und Mäßigung zu bedenken. Es ist bekannt, dass der Fortschritt der Toleranz in England ziemlich mühsam war, teilweise bedingt durch die Politik des regierenden Monarchen, der das Oberhaupt der Kirche von England war: Edward VI. (1547–53) förderte das reformierte Schweizer Modell; Mary Tudor (1553–1558) führte den römischen Katholizismus wieder ein, und Elisabeth I. (1558–1603) verstärkte die königliche Oberhoheit über die anglikanische Kirche. Während unter Mary viele Protestanten zum Tode verurteilt oder ins Exil gezwungen wurden, setzte Elisabeth die Hinrichtungen von Ketzern fort, darunter zwei niederländische Mennoniten – Jan Pieters und Hendrick Terwoort – und drei Separatisten – Henry Barrow, John Greenwood und John Penry.7 Thomas Helwys veröffentlichte eine dringende Bitte an Elisabeths Nachfolger, James I. (1603–1625), der die Politik der Unter5

Vgl. Tracts on Liberty of Conscience and Persecution, 1614–1661, E. B. Underhill, ed., (London: J. Haddon, 1846). Einen Überblick zum Thema ‚Baptisten und Religionsfreiheit‘ gibt David W. Babbington, Baptists Through the Centuries. A History of a Global People (Waco, TX: Baylor University Press, 2010), 197–214. 6 P. J. Twisck, Religions Vryheyt. Een korte Cronijcsche beschryvinghe van die Vryheyt der Religien, tegen die dwang der Conscientien … tot den Jare 1609 toe, s. n., Hoorn 1609. Zum kulturellen und religiösen Kontext vgl. R. Po-Chia Hsia, H. van Nierop, eds., Calvinism and Religious Toleration in the Dutch Golden Age (Cambridge: CUP, 2002); A. den Hollander, M. van Veen, A. Voolstra, A. Noord, eds., Religious Minorities and Cultural Diversity in the Dutch Republic (Leiden: Brill, 2014). 7 J. D. Tracy, Europe’s Reformations (Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 1999), 186–95.

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drückung des Nonkonformismus fortgesetzt hatte; er solle damit aufhören, religiöse Minderheiten, Christen und Nichtchristen, zu verfolgen, die von der Kirche von England abgewichen waren. Helwys glaubte, dass die Obrigkeit ausschließlich die bürgerliche Macht ausüben sollte, und dass Gehorsam gegenüber dem König nur in säkularen Fragen und nicht in geistlichen Angelegenheiten geschuldet war: […] wir erklären frei, dass unser Herr, der König, keine Macht über ihre Gewissen hat […]. Für unseren Herrn ist der König nur ein irdischer König, und er hat keine Autorität als König außer in irdischen Angelegenheiten. […]. Die Religion der Menschen zu Gott ist zwischen Gott und ihnen selbst. Auch darf der König nicht zwischen Gott und Menschen urteilen. Lass sie Ketzer, Türken, Juden oder was auch immer sein, es ist nicht Teil der irdischen Macht, sie im geringsten zu bestrafen.8

Weil er diese Ansichten vertreten hatte, wurde Helwys in das Newgate Gefängnis in London gebracht, wo er starb (das genaue Datum ist unbekannt, aber Dokumente aus dem Jahr 1614 beziehen sich auf seine Witwe). Helwys hätte sich darauf beschränken können, die Rechte christlicher Minderheiten zu verteidigen, wie andere Anhänger der Religionsfreiheit seiner Zeit. Vielleicht hat er sich wegen seines eigenen Leidens aufgrund religiöser Verfolgung für ein breiteres Konzept der Toleranz entschieden, was jeder Form von gewaltsamem Gewissenszwang eine Absage erteilte. Helwys entwickelte seine eigenen Konzepte der Freiheit und der Trennung von Kirche und Staat: Was die Einmischung der Obrigkeit in religiöse Angelegenheiten verhinderte, war nicht die angebliche Autonomie des Gewissens oder die Forderung nach individueller Freiheit, sondern die Herrschaft Christi über die Gewissen. Die Gewissensentscheide sollten von jeder menschlichen Kontrolle frei sein, denn das Gewissen – in der Beziehung zwischen dem Menschen und Gott – repräsentierte den Ort, wo der Geist die Stimme Gottes durch die Schrift hörbar macht.

8 Th.

Helwys, A Short Declaration of the Mystery of Iniquity (Macon, GA: Mercer University Press, 1998), 53.

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John Murton, ein weiterer wichtiger Befürworter religiöser Toleranz, reichte dem König ein „demütiges Bittgesuch“9 zugunsten von Opfern der Verfolgung aus religiösen Gründen ein, das 1620 anonym veröffentlicht wurde. Murton war in England nach einem Aufenthalt in Amsterdam verhaftet worden, weil er eine Verteidigung der Toleranz, die Twiscks Werk zusammenfasste, veröffentlicht hatte.10 Ausgehend von der Überlegung „wie abscheulich es in den Augen des Herrn ist, Männer und Frauen durch grausame Verfolgung zu zwingen, ihre Körper zu einem Gottesdienst zu bringen, zu dem sie ihre Seelen nicht bringen können“, kam Murton zu dem Schluss, dass „die Könige der Erde keine Macht von Gott haben, um durch Verfolgung auch nur einen ihrer Untertanen zu zwingen, so zu glauben, wie sie glauben“ und „dass niemand wegen seiner Religion verfolgt werden soll, sei sie wahr oder falsch.“11 Ein Jahr vor der Veröffentlichung von Murtons Buch veröffentlichte Leonard Busher, wahrscheinlich in Amsterdam, sein Buch Religion’s Peace – vermutlich der erste baptistische Text, der ganz der Religionsfreiheit gewidmet war. In dieser Schrift erklärte Busher, dass „weder König noch Bischof den Glauben befehlen können“, und fügte scharf hinzu, dass „Verfolgung wegen Unterschieden in Religionsangelegenheiten ein ungeheuerliches und grausames Tier ist“ und ergänzte in Großbuchstaben: ES IST FÜR EINEN CHRISTEN NICHT NUR UNBARMHERZIG, SONDERN AUCH UNNATÜRLICH UND WIDERWÄRTIG, JA GRÄSSLICH, EINEN ANDEREN ZU QUÄLEN UND ZU ZERSTÖREN WEGEN UNTERSCHIEDE UND FRAGEN DER RELIGION.12 9 [J.

Murton], A Most Humble Supplication of Many of the King’s Majesty’s Loyal Subjects, Ready to Testify All Civil Obedience, by the Oath of Allegiance, or Otherwise, and that of Conscience; Who Are Persecuted (only for Differing in Religion) Contrary to Divine and Human Testimonies, London 1620, reprinted in Tracts on Liberty of Conscience, 183–231. 10 J. D. Bangs, „Dutch Contributions to Religious Toleration,“ Church ­History, 79 (2010), 586. 11 J. Murton, Persecution for Religion Judg’d and Condemn’d in a Discourse between an Antichristian and a Christian (1615) zitiert in H. L. McBeth, A Source­book for Baptist Heritage (Nashville: Broadman Press, 1990), 75. 12 L. Busher, Religion’s Peace: or a Plea for Liberty of Conscience (1614), in: Tracts on Liberty of Conscience, 17, 41, 21.

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Für die erste Generation der englischen Baptisten ging es beim Gewissen nicht um die Freiheit der individuellen Wahl, sondern um eine Frage des Urteils und der Verantwortung: Das Gewissen war ein Mittel, um Gottes Willen zu erkennen, nicht aber zur Bestätigung eigener Ideen. Das Gewissen war nicht autonom, sondern, wie es in der Hl. Schrift offenbart ist, der Autorität Gottes unterworfen, und „Gewissensfreiheit“ war kein natürliches Recht, wie John Locke es später in seinem Brief über die Toleranz (1689) sagen würde, sondern eine religiöse Verpflichtung. Ihr Denken war geprägt von einer langen Tradition, die auf Augustinus zurückgeht; für ihn war das Gewissen weder ein angeborener persönlicher moralischer Sinn noch ein ethisches Bewusstsein, sondern ein vom ewigen oder natürlichen Gesetz verwendetes Mittel, um die Kontrolle über das individuelle Verhalten auszuüben und dem jeder Mensch unter allen Umständen gehorchen muss. In diesem kulturellen Milieu, das moderne Vorstellungen von natürlichen Menschenrechten und individueller Freiheit nicht einschloss, lieferte Richard Overton, ein Baptist, der auch mit den Levellers13 zusammenarbeitete, eine positive Bewertung der natürlichen Menschenrechte.14 Er stützte seine Argumente auf die Hl. Schrift als Autorität, aber auch auf die menschliche Vernunft, „die eng mit dem Geist Gottes verbunden ist, der in der menschlichen Seele wirkt.“15 Für Overton umfassten die Menschenrechte Religionsfreiheit sowie bürgerliche Freiheit für alle: Die zivile Obrigkeit habe keine Autorität in geistlichen Angelegenheiten; nur Gott könne das geistliche Leben der Menschen regieren. Deshalb versicherten er und drei andere führende Vertreter der Levellers feierlich, dass die Behörden niemanden durch Strafen oder 13 Levellers

werden Vertreter einer Gruppe genannt, die für eine freie und demokratische Gesellschaft eintrat. Sie wollten Religionsfreiheit, die Abschaffung der Stände und Gleichheit vor dem Gesetz erreichen. Daher wurden sie von ihren Gegnern aus der Oberschicht mit der Bezeichnung „Levellers“, also Gleichmacher, die alle Stände einebnen wollten, verspottet. 14 Über Overton’s Verkehr mit den Levellers, vgl. Brian J. Gibbons, „Richard Overton and the Secularism of the Interregnum Radicals,“ Seventeenth Century, 10 / 1 (Spring 1995), 63–75. 15 B. J. Gibbons, Overton, Richard (fl. 1640–1663), Oxford Dictionary of National Biography (Oxford: Oxford University Press, 2004); online May 2010 [http://www.oxforddnb.com/view/article/20974 (Zugriff am 10. August 2015)].

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sonst wie zu etwas in oder über Fragen des Glaubens, der Religion oder des Gottesdienstes zwingen könnten, oder jemanden daran hindern, seinen Glauben zu bekennen oder seine Religion nach seinem Gewissen auszuüben – nichts hat zu allen Zeiten mehr Verwirrung und Eifersucht verursacht als Verfolgung und Belästigung wegen Gewissensfragen über Religion.16 Das Prinzip der Religions- und Gewissensfreiheit in Neu-England Im Zweiten Londoner Bekenntnis (1689) bestätigten die frühen Baptisten erneut, die Freiheit sei ein Geschenk Gottes, das durch das Opfer Christi am Kreuz und seine Auferstehung möglich gemacht wurde: Gott allein ist Herr des Gewissens und hat es von den menschlichen Lehren und Geboten frei gehalten, die in irgendeiner Weise seinem Wort widersprechen oder nicht darin enthalten sind (Art. XXI, 2). Im frühen 17. Jahrhundert waren „Duldung“ und „Gewissensfreiheit“ gleichwertige und austauschbare Begriffe, und dies galt auch für Roger Williams (1603–1684), den puritanischen Pastor und Theologen, der zusammen mit John Clarke (1609–1676) die erste Baptistengemeinde auf amerikanischem Boden in der kleinen Kolonie Rhode Island gründete.17 Als er 1636 gezwungen war, aus der Massachusetts Bay Colony zu fliehen, flüchtete Williams zunächst in ein Dorf der Narragansett-Indianer und gründete danach mit einigen anderen Dissenters die Siedlung Providence18; sie sollte „für Personen, die wegen ihres Gewissens in Not waren, eine Zuflucht sein.“19

16 John

Lilburne, William Walwyn, Thomas Prince, and Richard Overton, An Agreement of the Free People of England ([London:] n.p., 1646), zitiert in Andrew Sharp, The English Levellers (Cambridge: Cambridge University Press, 1998), 173. 17 E. Gaustad, Roger Williams (New York: Oxford University Press, 2005). 18 Williams war der Meinung, dass er durch die Vorsehung Gottes (providentia Dei) überlebt habe und nannte deshalb die Siedlung „Providence“, (Anm. d. Hg.). 19 The Correspondence of Roger Williams, G. W. LaFantasie, ed. (Hanover, NH: Brown Uni Press, 1988), vol. 2, 526.

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Williams war der erste Nordamerikaner, der religiöse Toleranz und Gewissensfreiheit in seinem Buch „Die blutige Lehre der Verfolgung aus Gewissensgründen“ (The Bloudy Tenent of Persecution, for Cause of Conscience 1644) verteidigte.20 Der Schutz der Religionsfreiheit betraf ihn aufgrund seiner persönlichen Erfahrung zutiefst, da in Massachusetts die Staatskirche der Kongregationalisten21 den glaubenden Menschen nicht zugestand, „Gott nach ihrem Gewissen anzubeten“.22 Der Gewissenszwang gegenüber einer Person wurde von Williams mit körperlicher Gewalt verglichen, „eine geistliche Vergewaltigung und eine Vergewaltigung der Seele“.23 Williams verwarf die von der Regierung unterstützte Zwangsreligion, die nur Mitgliedern der kongregationalistischen Kirche erlaubte, öffentliche Ämter zu bekleiden, und er kämpfte gegen Verletzungen der Religionsfreiheit, indem er die Argumente der Baptisten des frühen 17. Jahrhunderts aufgriff, die dem Reich Christi und der bürgerlichen Regierung verschiedene Zwecke und ‚Waffen‘ zuschrieben.24 Als er die Grenzen der bürgerlichen Gerichtsbarkeit erklärte, griff Williams auch auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–44) zurück25 und machte geltend, dass nur Gott und nicht eine irdische Regierung über das Ausjäten des Unkrauts und das Entfernen aus dem Gar20

R. Williams, The Bloudy Tenent of Persecution, for Cause of Conscience, discussed in a Conference between Truth and Peace [1644], in The Complete Writings of Roger Williams, vol. III, S. L. Caldwell, ed. (New York: Russell & Russell, 1963). Im selben Jahr veröffentlichte ein anonymer Autor in London ein Pamphlet gegen „allgemeine Gewissensfreiheit“ und bekräftigte: „Eine allgemeine Gewissensfreiheit ist eine allgemeine Freiheit zur Sünde, zur Aufrechterhaltung falscher Lehre, zur Ausübung von Abgötterei, zur Äußerung von Gotteslästerung“, Against Universall Libertie of Conscience (London: printed for Thomas Underhill, 1644), 2; zitiert in Keith E. Durso, No Armor for the Back: Baptist Prison Writings, 1600s–1700s (Macon, GA: Mercer University Press, 2007), 60. 21 In Massachusetts sprach man von „Standing Order“, was de facto eine Staatskirche bedeutete (Anm. d. Hg.). 22 Williams, The Bloudy Tenent, 283. 23 Ibid., 219.­ 24 Williams Ansichten zu den unterschiedlichen Zuständigkeiten vgl. u. a., ­Timothy L. Hall, Separating Church and State: Roger Williams and Religious Liberty (Champaign, IL: University of Illinois Press, 1998), 72–98. 25 Das Gleichnis Mt. 13: 24–44 lag im Zentrum der Debatten um Toleranz. Vgl. R. H. Bainton, „The Parable of the Tares as the Proof Text for Religious ­Liberty to the end of the Sixteenth Century“, Church History, vol. 1, (June 1932), 67–89.

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ten entscheiden könne. Erst bei der bevorstehenden Ankunft, dem „Zweiten Kommen“ Christi, würden die häretischen Christen und das nicht-christliche Unkraut vom „Weizen“, d. h. von den treuen Christen, getrennt werden. „Weil Christus befahl, beides, das Unkraut und den Weizen miteinander wachsen zu lassen, bis zur Ernte.“26 Williams meinte, dass der Zivilstaat seine zivilen Strafen auf zivilrechtliche Delikte anwenden könne, da diese gegen den Staat gerichtet seien, dass er aber solche Strafen nicht auf Gewissen oder Gottesdienst anwenden dürfe, da diese mit dem Reich Christi zusammenhingen. Umgekehrt hatte das Königreich Christi die volle Zuständigkeit für Gewissen und Gottesdienst, aber nicht für Zivilvergehen. Im Gegensatz zu John Cotton (1584–1652) und den anderen Puritanern in Massachusetts, die dort wie im alten Israel die Obrigkeit sowohl mit bürgerlicher als auch mit geistlicher Macht ausübten, war Williams davon überzeugt, dass den zivilen Regierungen keine Autorität in geistlichen Angelegenheiten übertragen worden sei. Individuelle Gewissensfreiheit und Gemeinschaft Das Gründungsdokument der Kolonie Rhode Island enthielt das Prinzip der Gewissensfreiheit. Doch ohne eine etablierte Kirche als Maßstab für soziale Solidarität und moralischen Einfluss segelten die ersten Bewohner der neuen Kolonie in unbekanntem Gewässer, und Williams musste sich einer ganz neuen Herausforderung stellen, nämlich die individuelle Gewissensfreiheit mit einem disziplinierten Zusammenleben in einer Gesellschaft zu versöhnen, die ohne starre religiöse Normen auskommen musste. Für die Obrigkeiten in Massachusetts waren die internen Konflikte in Rhode Island der Beweis dafür, dass Kirche und Staat nicht zwei separate Wirklichkeiten sein konnten, sondern in einer Beziehung der gegenseitigen Unterstützung bleiben mussten. Der von den Puritanern entwickelte New England Way sah keine Möglichkeit vor, die Theologie von der sozialen und politischen Organisation der Gemeinschaft zu trennen, und verlangte, dass jede Form von religiösem Dissens unterdrückt werden müsse, da sie das Gemeinwesen (commonwealth) gefährde. Der 26

Williams, The Bloudy Tenent, 43.

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Widerstand der puritanischen Anführer gegenüber Dissenters wie Anne Hutchinson und Roger Williams wurde mit der festen Überzeugung begründet, dass es notwendig sei, die Verbreitung von Lehren zu verhindern, die das Fundament einer Gesellschaft untergrub, die sich Gott unterwarf; ansonsten erschaffe man Uneinigkeit und lenke die Aufmerksamkeit der Gemeinschaft von ihrem Hauptziel ab, ein heiliges Leben zu führen. Für die Obrigkeiten trennten Hutchinsons private Offenbarungen Familien und Gemeinden, während die Ideen Roger Williams die Legitimität des religiösen, sozialen und politischen Projekts bedrohten, das die Puritaner verwirklichten. Williams Verteidigung der allgemeinen Toleranz war weder das Ergebnis einer Relativierung der religiösen Wahrheit, weil er zutiefst davon überzeugt war, dass der Protestantismus in seiner puritanisch-separatistischen Version der „wahre“ Glaube sei, noch einfach ein Mittel zum Umgang mit und zur Lösung von Lehrkonflikten zwischen Christen. Allgemeine Toleranz sollte die Verwirklichung einer Gesellschaft von Individuen mit tiefen und unvereinbaren religiösen und kulturellen Unterschieden ermöglichen. Der Begriff, der sein Konzept der Toleranz am besten erklärt, ist civility = „Höflichkeit“, ein respektvolles und tolerantes Verhalten gegenüber jedem, was sich von civilization = „Zivilisation“ unterscheidet, eine Kombination von sozialen Mustern und kulturellen Verhaltensnormen. Martha Nussbaum hat festgestellt, dass Williams Konzept der Toleranz als Respekt vor Vielfalt und Freiheit des individuellen Gewissens weit über ein Verständnis von Toleranz als Konzession oder Duldung hinausging.27 „Wenn Menschen nur das Band der Höflichkeit behalten“, schrieb Williams, „ungeachtet dieser geistlichen Gegensätze in Bezug auf Gottesdienst und Religion, würde es nicht den geringsten Lärm … wegen irgendeiner zivilen Verletzung oder Verletzung des Zivilen unter ihnen geben.“28 Williams Idee der religiösen Toleranz wurde von John Clarke, dem Pastor der Baptistengemeinde von Newport, geteilt, aber sie wurde von puritanischen Geistlichen wie John Norton (1606– 63) heftig bekämpft. Clarke erlebte diese Gegnerschaft persön27 M.

Nussbaum, Liberty of Conscience: In Defense of America’s Tradition of ­Religious Equality (New York: Basic Books, 2010), 52. 28 Williams, The Bloudy Tenent, 74.

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lich, als er und zwei andere Mitglieder der Gemeinde in Newport, Obadiah Holmes und John Crandall, 1651 in Lynn, Massachusetts, verhaftet wurden, weil sie in einem Privathaus gepredigt hatten. Clarke und Crandall wurden freigelassen, nachdem ihre Geldstrafen von örtlichen Freunden bezahlt wurden, aber Holmes weigerte sich, das Angebot anzunehmen und wurde öffentlich auf dem gemeinen Weideland, „Boston Common“29, ausgepeitscht.30 In einem detaillierten Exposé religiöser Verfolgung in New England, das ein Jahr später in London veröffentlicht wurde, wiederholte Clarke, dass geistliche Sünden wie Apostasie oder Blasphemie nicht die bürgerliche Ordnung beträfen und dass die einzige Pflicht der Obrigkeit darin bestehe, „den Frieden, die Freiheit und den Wohlstand eines Staates, einer Nation und eines Königreichs“ zu sichern.31 Weil Holmes öffentlich ausgepeitscht worden war, weigerten sich Baptisten aus Rhode Island über viele Jahre, das Territorium Massachusetts, zu betreten. Danach konzentrierten sie sich auf die Verteidigung ihrer eigenen Rechte,32 selbst wenn sie, „indem sie für sich selbst christliche Freiheit suchten, sie (fast gegen sich selbst) dazu beitrugen, die Konzepte von Freiheit und Gleichheit für alle auszuweiten.“33

29 1634

kauften Bostoner Siedler das Land von einem Pastor; bis 1830 diente das „Common Land“ als allgemeines Weideland; seit 1830 ist Boston Common ein öffentlicher Park (Anm. d. Hg.). 30 Zu Obadiah Holmes, vgl. Edwin S. Gaustad, Baptist Piety: The Last Will and Testimony of Obadiah Holmes (Grand Rapids: Christian University Press, 1994). 31 John Clarke, Ill Newes from New England: or A Narrative of New-Englands Persecution. Wherein Is Declared That While old England is becoming new, New-England is become Old [1652], Preface, in Colonial Baptists: Massachusetts and Rhode Island. The Baptist Tradition, E. S. Gaustad. Ed. (New York: Arno Press, 1980). Für Clarke, war das Gewissen jenes „sparkling beam from the Father of lights and spirits that […] cannot be lorded over, commanded, or forced, either by men, devils, or angels […]“ (S. 6). 32 William McLoughlin, Soul Liberty: The Baptists’ Struggle in New England, 1630–1833 (Hanover, NH: Brown University Press, 1991). 33 McLoughlin, New England Dissent, 1630–1833, vol. 2, 1281–2.

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Nach der amerikanischen Revolution: Dissidenten, Religionsfreiheit und Trennung von Staat und Kirche Während des Unabhängigkeitskrieges wurde den protestantischen Dissidenten und sogar den Katholiken, die in den rebellischen Kolonien lebten, religiöse Toleranz gewährt, weil es notwendig war, eine Einheitsfront gegen die Briten zu bilden.34 Nach dem Krieg musste die Wahl zwischen der Anerkennung einer Nationalkirche oder einer Entstaatlichung der Kirche getroffen werden. Auf der einen Seite haben Anglikaner (jetzt Episkopale genannt) und Kongregationalisten eine nationale Kirche stark favorisiert, vorausgesetzt, sie ist ihre eigene. Auf der anderen Seite widersetzten sich Dissidenten, Deisten und andere religiöse und säkulare Gruppen jeglicher Form eines nationalen kirchlichen Establishments. Im Kampf zwischen diesen entgegengesetzten Fronten, der zuerst auf der Ebene der Bundesstaaten und später auf Bundesebene ausgetragen wurde, standen Baptisten an vorderster Front für die Trennung von Kirche und Staat und für die Anerkennung des Rechts auf Gewissensfreiheit. Isaac Backus (1724–1806), ein unerschütterlicher Verfechter der Religionsfreiheit, beschuldigte die Behörden in Massachusetts, die Baptisten zu zwingen, […] Gottesdienste zu unterstützen, von denen sie aus Gewissensgründen abweichen. […] Viele, die die Nation mit dem Ruf nach FREIHEIT und gegen die Unterdrücker aufrütteln, verletzen gleichzeitig ihrerseits das liebste aller Rechte, die FREIHEIT des GEWISSENS.35

34

Über die Ausweitung der Religionsfreiheit als Ergebnis politischer Berechnung und wirtschaftlicher Vorteile vgl. Anthony Gill, The Political Origins of Religious Liberty (Cambridge, MA: Cambridge University Press, 2008), 26–113, und Charles Hanson, Necessary Virtue: The Pragmatic Origins of Religious ­Liberty in New England (Charlottesville: University Press of Virginia, 1998). 35 Isaac Backus, A Seasonable Plea for Liberty of Conscience, against some later Oppressive Proceedings … (1770), zitiert in Bailyn, 263. Vgl. auch Jonathan Mayhew, „A Sermon Preach’d in the Audience of His Excellency William Shirley, Esq.“ (Boston, 1754), 32: „It may be worth considering whether we have not some laws in force, hardly reconcileable with that religious liberty which we profess.“

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Im Jahre 1779 wurde der Pastor der Ersten Baptistengemeinde in Boston, Samuel Stillman (1737–1807), eingeladen, die jährliche Wahlpredigt vor dem Landtag von Massachusetts zu halten. Es war das erste Mal, dass ein nicht zu einer kongregationalistischen Gemeinde gehörender Pastor sprechen durfte, und Stillman nutzte die Gelegenheit, um ein leidenschaftliches Plädoyer für religiöse Gleichheit zu halten.36 Als im Oktober 1791 die Generalversammlung (= Landtag) von Connecticut „Ein Gesetz zur Sicherung gleicher Rechte und Privilegien für Christen aller Konfessionen in diesem Staat“37 verabschiedete, war John Leland (1754–1841), der Anführer der Baptisten in Virginia während und nach dem Unabhängigkeitskrieg, „einer der wenigen abweichenden Kirchenleiter“38 der Zeit, der die Befreiung der protestantischen Abweichler von der Besteuerung zur Unterstützung des Klerus und vom Militärdienst kritisierte; wenige Kleriker, wenn es überhaupt auch nur einen gab, lehnten aus Gewissensgründen Steuern ab, außer der für die etablierte Kirche, und wenige Geistliche außerhalb der historischen Friedenskirchen widersetzten sich aus Gewissensgründen dem Militärdienst. In seiner berühmtesten Predigt gegen Establisments, „Die unveräußerlichen Rechte des Gewissens“, erklärte Leland: Die Pastoren sollten den gleichen Schutz des Gesetzes genießen wie andere Menschen auch, und nicht mehr. Ihnen Parlamentssitze zu verbieten, & c. ist grausam. Sie zu verwöhnen, indem man sie von Steuern und Waffendienst freistellt, ist ein verlockender Gewinn. 36 Samuel

Stillman, A Sermon Preached before the Honorable Council, and the Honorable House of Representatives of the State of Massachusetts-Bay, in New-England, at Boston, May 26, 1779. Being the anniversary for the election of the Honorable Council (Boston, 1779); abrufbar online Evans Early American Imprint Collection http://name.umdl.umich.edu/n13070.0001.001 (aufgerufen am 12. September 2015). Dass nicht-kongregationalistische Prediger ungewöhnlich waren zeigt Stephen A. Marini, Radical Sects in Revolutionary New England (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1982), 23. 37 Dieses Gesetz erlaubte Christen, die Dissentergemeinden beigetreten waren, Bescheinigungen bei den Buchhaltern der etablierten Kirchen an ihren Wohnorten einzureichen und so von der Steuer für die etablierte Kirche befreit zu werden; das Gesetz gewährte den Dissentergemeinden diesselben Befugnisse wie den etablierten Kirchen, ihre eigenen Gemeinden finanziell zu unterstützen. 38 Philip Hamburger, Separation of Church and State (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2009), 84.

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Das Gesetz sollte sie unerwähnt lassen, sie als Bürger aber schützen (nicht als heilige Amtsträger), denn das Zivilrecht kennt keine heiligen religiösen Amtsträger.39

Leland griff die Ausnahme an, weil sie ihm nicht weit genug ging, d. h. weil sie daran scheiterte, Juden, Katholiken, Türken und „Heiden“ nicht auch auszunehmen. Er behauptete: Die Regierung hat mit den religiösen Meinungen der Menschen nichts mehr zu tun als mit den Prinzipien der Mathematik. Lasst jeden Menschen frei und ohne Furcht sprechen – die Grundsätze, an die er glaubt, verteidigen – nach seinem eigenen Glauben die religiösen Pflichten erfüllen, entweder einen Gott, drei Götter, keinen Gott oder zwanzig Götter verehren; und lasst die Regierung ihn dabei schützen, d. h. achtet darauf, dass er keine persönlichen Beschimpfungen oder Verlust von Eigentum wegen seiner religiösen Meinungen erleidet.40

Die Überzeugung, dass religiöse Zugehörigkeit aus sozialer und politischer Perspektive irrelevant sei, war bereits von Thomas Jefferson41 geäußert worden, mit dem Leland bei der Ausarbeitung des Ersten Zusatzes zur US-Verfassung zusammenarbeitete, Dieser Zusatz verbot die Etablierung einer offiziellen Religion und garantierte die freie Ausübung der Religion für alle. Die „freie Ausübung der Religion“ war absichtlich bei der Ausarbeitung der „Virginia Declaration of Rights“42 anstelle einer Garantie der „Duldung“ ersetzt worden und wurde schließlich in die „Bill of Rights“ des Bundes anstelle der „Gewissensfrei-

39 John

Leland (G. W. Wood, New York 1845) „The Rights of Conscience Inalienable, and therefore, Religious Opinions not Cognizable by Law“ (1791), in The Writings of the Late Elder John Leland, 188. 40 Ibid, 184. 41 Thomas Jefferson, Notes on Virginia, QUERY XVII: „The rights of conscience we never submitted, we could not submit. We are answerable for them to our God. The legitimate powers of government extend to such acts only as are injurious to others. But it does me no injury for my neighbor to say there are twenty gods, or no god. It neither picks my pocket nor breaks my leg.“ The Life and Selected Writings of Thomas Jefferson, Adrienne Koch and William Peden, eds. (New York: Randon House, 1944), 254. 42 Curry, The First Freedoms, 135.

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heit“43 übernommen. Bei Leland wurde das Konzept „Duldung“ und „freie Ausübung der Religion“ endgültig durch „Gewissensfreiheit“ für alle ersetzt: Die Vorstellung eines christlichen Gemeinwesens (Christian Commonwealth) sollte man für immer platzen lassen. … Die Regierung sollte jeden Menschen schützen, der frei denkt und spricht, und darauf achten, dass keiner den anderen hintergeht. Die Freiheit, für die ich streite, ist mehr als Duldung. Die Idee der Toleranz ist verachtenswert; sie setzt voraus, dass einige eine Vorrangstellung vor dem Rest haben, um Nachsicht zu gewähren, während alle gleichermaßen frei sein sollten, Juden, Türken, Heiden und Christen.44

Der lange Marsch zur Erklärung des Prinzips der Religionsfreiheit und zur Leugnung der Staatshoheit über Religion war noch nicht abgeschlossen, aber ein wichtiges Ziel war erreicht. Im Jahr 1834 konnte John Leland im Rückblick auf den Kampf, in den er so stark verwickelt war, schreiben: Der Appell für Religionsfreiheit war lang und gewaltig; aber es blieb den Vereinigten Staaten vorbehalten, sie als ein innewohnendes Recht anzuerkennen, und nicht als ein gewährtes Wohlwollen: religiöse Meinungen sind von der Liste der Gegenstände der Gesetzgebung auszuschließen.45

Das erneuerte Interesse der Baptisten an Religions- und Gewissensfreiheit sowie an der Trennung von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert In England waren Religions- und Gewissensfreiheit nach wie vor ein vorrangiges Anliegen der Baptisten, die eine wichtige Rolle bei der Bildung von nonkonformistischen freiwilligen Organisationen spielten wie die beiden 1839 gegründeten Evangelical Voluntary Church Association (Evangelischer Freiwilliger Kirchenverein) und die Religious Freedom Society (Gesellschaft 43

Michael W. McConnell, „The Origins and Historical Understanding of Free Exercise of Religion,“ Harvard Law Review, 103 (1990), 1488–1500. 44 John Leland, A Chronicle of His Time in Virginia [1790], in: The Writings of the Late Elder John Leland, 118. 45 Leland, „Events in the Life of John Leland: Written by Himself,“ in: The Writings of the Late Elder John Leland, 39.

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für Religionsfreiheit), sodann die Anti-State Church Association (Verein gegen eine Staatskirche, gegründet 1844 und umbenannt 1853 als Society for the Liberation of Religion from State Patronage and Control = Gesellschaft für die Befreiung der Religion von Staatlicher Gunst und Kontrolle). Sie alle wurden mit dem Ziel gegründet, die Kirche von England (Church of England)46 zu entstaatlichen. Dazu kam die Evangelische Allianz (1846), die international für Religionsfreiheit kämpfte. Edward Steane (1798–1882), einer der Hauptförderer bei der Entstehung der Evangelischen Allianz, war auch Co-Sekretär des Baptistenbundes. Die Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts spielte eine wichtige Rolle bei der Wiederbelebung der Sorge der britischen, amerikanischen und kanadischen Baptistengemeinden um die Religionsfreiheit, denn die Missionare mussten sich mit Einschränkungen durch lokale Regierungsverordnungen sowie durch etablierte Kirchen auseinandersetzen. Die Beteiligung der Baptisten an Missionsunternehmen in Übersee geht auf die Gründung der Particular Baptist Society (später umbenannt in Baptist Missionary Society) im Jahre 1792 und auf die Mission von William Carey (1761–1834) in Indien und Burma vom Ende des folgenden Jahres zurück. Bis 1813 duldete die British East India Company keine Dissidentenmissionare, weil die Company darauf abzielte, „die tugendhaften und moralischen Prinzipien der Religion der Kirche von England unter den Eingeborenen zu vermitteln“.47 Die Arbeit der britischen Baptisten bereitete den Weg für die American Baptists und ihr Engagement in missionarischen Bestrebungen in Burma mit Adoniram (1788–1850) und Ann Hasseltine (1789–1826) Judson sowie Samuel S. Day (1807–71) vor; in Afrika waren es Lott Cary (ca. 1780–1828) und Collin Teague (ca. 1780–1839) sowie freie Afroamerikaner aus Virginia, unterstützt von der General Missionary Convention; in 46

Vgl. u. a. Ian Machin, „Disestablishment and Democracy, c. 1840–1930,“ in Citizenship and Community: Liberals, Radicals and Collective Identities in the British Isles, 1865–1931, Eugenio F. Biagini, ed., (Cambridge: Cambridge University Press, 1996), 120–148. 47 S. Pearce Carey, William Carey (New York: Doran Company, 1923), 56; zitiert in William H. Brackney, „Baptists, Religious Liberty and Evangelization: Nineteenth-Century Challenges,“ in Baptist Identities, Ian M. Randall, et al., eds. (Milton Kenyes: Paternoster, 2006), 315.

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China William Dean (1807–95); und in Lateinamerika Archibald B. Reekie (1862–1942).48 Während Baptisten weiterhin Religions- und Gewissensfreiheit bekräftigten, versäumte es ein großer Teil der Baptisten, besonders im Süden der USA, sie mit einer uneingeschränkten Anerkennung der Menschenrechte zu verbinden; stattdessen unterstützten sie weiterhin die Sklaverei. Der größte Baptistenbund, die Southern Baptist Convention (SBC), blieb gegenüber der Desegregation feindlich gesinnt, selbst als in den 1950er und 1960er Jahren die Bürgerrechtsbewegung von baptistischen Pastoren wie Martin Luther King, Jr. und Ralph Abernathy angeführt wurde. Erst 1995, anlässlich ihres 150jährigen Bestehens, entschuldigte sich die SBC für ihre frühere Haltung zu Sklaverei und Rassentrennung. Im Januar 1999 fand in Atlanta ein internationaler Gipfel von Baptisten gegen Rassismus statt.49 Die unvollständige Anerkennung des „Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ Das Ergebnis des langen Kampfes für Religions- und Gewissensfreiheit, der von protestantischen Minderheiten in England und Amerika geführt wurde, war die Ausrufung religiöser Menschenrechte als ein wesentliches Merkmal des christlichen Glaubens selbst, wie es bereits von sieben baptistischen Anführern in einer Broschüre von 1661 verkündet worden war: „Die Freiheit der Gewissen der Menschen … ist auch ein Teil der christlichen Religion.“50 Die Verletzung der Religionsfreiheit war eines der Hauptthemen, die 1905 bei der Gründung des Baptistischen Weltbundes (BWA) in London diskutiert wurden mit dem Auftrag, „nationale baptistische Anführer zu ermächtigen und zu 48

Richard V. Pierard, Mission and Baptist Identity (Beverly, MA: Richard Henry Press, 2004); William H. Brackney, Bridging Cultures and Hemispheres: The Legacy of Archibald Reekie and Canadian Baptists in Bolivia (Macon, GA: Smyth & Helwys, 1997). Vgl. den Aufsatz von Robert Nash in diesem Band. 49 Baptist Against Racism: United in Christ for Racial Reconciliation, Denton Lotz, ed. (McLean, VA: The Baptist World Alliance, 1999). 50 Thomas Monck et al., Sion’s Groans for Her Distressed, or Sober Endeavours to Prevent Innocent Blood (n. p., 1661), in: Tracts on Liberty of Conscience and Persecution, 379.

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befähigen, wirksam im Namen Jesu Christi Zeugnis abzulegen und zu dienen, um Baptisten in aller Welt zu vertreten und sie bei der Verteidigung der Menschenrechte und der Religionsfreiheit zu unterstützen.“ Darüber hinaus „darf die Welt nicht vergessen, was die baptistische Lehre der Seelenfreiheit, die sich in die Vorstellung der persönlichen Freiheit erweitert und Ausdruck findet, in den Verordnungen der bürgerlichen Freiheit für die politische Emanzipation der Menschheit bewirkt hat.“51 Mehrere baptistische nationale Bünde oder Unionen nahmen an der ökumenischen Konferenz für Praktisches Christentum 1937 und der Madras Missionskonferenz von 1938 teil, wo das Thema der Religionsfreiheit als grundlegendes Menschenrecht behandelt wurde.52 In den 1930er Jahren bereiteten die Bedrohung der Religionsfreiheit durch den Aufstieg totalitärer Regime in ganz Europa den Baptisten zunehmend Sorgen. Dazu kam die positive Politik der Roosevelt-Administration gegenüber den Katholiken, insbesondere im Hinblick auf die formellen diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl.53 Als Reaktion auf diese Bedenken trafen sich 1939 Vertreter von drei baptistischen Bünden – Northern Baptist Convention, National Baptist Convention, USA und Southern Baptist Convention – und gaben gemeinsam eine Erklärung zur Religionsfreiheit heraus, die offiziell unter dem Titel American Baptist Bill of Rights veröffentlicht wurde. Das Dokument warnte, dass die Religionsfreiheit gefährdet sei, und erklärte, dass die Religionsfreiheit „nicht nur ein unveräußerliches Menschenrecht, sondern unentbehrlich für das Wohlergehen der Menschen“ sei. Baptisten müssten „absolute Religionsfreiheit“ für Juden, Katholiken, Protestanten und „alle sonst“ verteidigen, und sie sollten „jede Form von Zwang in der Religion oder die Zurückhaltung der freien Betrachtung der

51

Proceedings of the Baptist World Congress, 1905 (London: Baptist Publications Department, 1905), 76, zitiert in William H. Brackney, The Baptists (Westport, CT: Praeger, 1994), 103. 52 Ninan Koshy, „The Ecumenical Understanding of Religious Liberty: The Contribution of the World Council of Churches,“ Journal of Church and State 38 (Winter 1996), 137–154. 53 Sie wurden erst unter Präsident Ronald Reagan aufgenommen (Anm. d. Hg.).

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Ansprüche der Religion verurteilen. Wir stehen für einen zivilen Staat mit voller Freiheit in religiösen Belangen.“54 Vertreter der drei Bünde bildeten die Assoziierten Ausschüsse für Öffentlichkeitsarbeit, die 1942 zum Gemeinsamen Konferenzkomitee für Öffentlichkeitsarbeit umbenannt wurde und 1950 den Namen Baptistischer Gemeinsamer Ausschuss für öffentliche Angelegenheiten (BJCPA) erhielt. Im Jahr 2005, nachdem die Südbaptisten ihre Mitgliedschaft aufgekündigt hatten, wurde der Name wieder geändert: Baptistischer Gemeinsamer Ausschuss für Religionsfreiheit. Der Name zeigt die Aufgabe: „die Religionsfreiheit für alle in der historischen baptistischen Tradition zu verteidigen.“55 Als vom 25. April 1945 bis 26. Juni 1945 in San Francisco die Organisation der Vereinten Nationen vorbereitet wurde, reiste der erste Exekutivsekretär des Gemeinsamen Konferenzkomitees, Joseph Martin Dawson (1879–1973), dorthin. In seinen Memoiren berichtet er, dass er 100.000 Unterschriften von amerikanischen Baptisten, Nord und Süd, Schwarz und Weiß, mit sich brachte, um zu erreichen, dass die Charta der UNO eine Garantie enthalten solle, dass jedem Menschen „volle Religionsfreiheit“ zustehe.56 Baptisten waren wohl enttäuscht, weil die neue Charta keinen besonderen Bezug auf die Religionsfreiheit enthielt. Dennoch können sie mit anderen religiösen Dissentern zu den Vorläufern der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ gerechnet werden, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. In Artikel 2 der Allgemeinen 54

The American Baptist Bill of Rights: A Pronouncement Upon Religious Liberty (Washington, DC: Associated Committees on Public Relations, 1940), 17–18. Vgl. William H. Brackney, „American Baptist Bill of Rights,“ in Dictionary of Baptists in America, Bill J. Leonard, ed. (Downers Grove, IL: InterVarsityPress, 1994), 21; Bill J. Leonard, Baptists in America (New York: Columbia University Press, 2005), 167. 55 „BJC: working together in common cause,“ Report from the Capital, September 2011 (Special Anniversary Issue), 2; vgl. auch Pam Parry, On Guard for Religious Liberty: Six Decades of the Baptist Joint Committee (Macon, GA: Smyth & Helwys, 1996). 56 J. M. Dawson, A Thousand Months To Remember: An Autobiography (Waco, TX: Baylor University Press, 1964), 161, wo es heißt: „To that meeting I carried a hundred thousand petitions from Baptists, North and South, white and Negros, asking that the Charter to be adopted would include guarantee of full religious liberty for every human being.“

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Erklärung der Menschenrechte heißt es, dass jeder Mensch ohne Rücksicht auf die Religion Anspruch auf alle Rechte und Freiheiten haben muss. Artikel 18 bekräftigt: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu bekunden.“57 Der achte Baptistische Weltkongress in Cleveland 1950 forderte alle Nationen auf, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch Ratifizierung zu unterstützen, um die Forderungen in internationales Recht umsetzen zu können. Die Anerkennung des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit durch die Vereinten Nationen hat der Intoleranz und Verfolgung jedoch nicht ein Ende gesetzt, und in vielen Teilen des Planeten finden immer noch auffällige Menschenrechtsverletzungen statt. Daher hatte James E. Wood (1923–2019), Direktor des J. M. Dawson Instituts für Staat-Kirche Studien an der Baylor University, 1978 einen Appell an Baptisten gerichtet, ihre Bemühungen um die Menschenrechte nie aus dem Auge zu verlieren: Nie zuvor ist die Notwendigkeit für Baptisten größer gewesen als heute, ihre aufrichtige und eindeutige Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten und ihre tiefe Sorge um humane Werte innerhalb sozialer und politischer Strukturen in der Welt von heute hervorzuheben.[…] Baptisten, die von einem biblischen Glauben erfüllt sind, dürfen weder jetzt noch in Zukunft davon abgehen, sich für die Sache der Menschenrechte überall und für alle Menschen einzusetzen.58

57

The Universal Declaration of Human Rights, http://www.un.org/en/documents/ udhr/index.shtml#a18 (Zugriff am 20. September 2015). 58 James E. Wood, Jr., „Baptist Thought and Human Rights,“ Baptist History and Heritage, 13 (July 1978), 62.

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Der 39. Präsident der USA, Jimmy Carter (* 1923, Präsident von 1977–1981), erklärte öffentlich auf diesen Appell hin, dass sein politischer Einsatz für Menschenrechte durch seinen baptistischen Glauben hervorgerufen ist.59 Ohne eine umfassende und universelle Anerkennung und Durchsetzung der Menschenrechte wird keine friedliche und gerechte Weltordnung möglich sein.

59 Vgl.

Dan Ariail and Cheryl Heekler-Feltz, The Carpenter’s Apprentice: The Spiritual Biography of Jimmy Carter (Grand Rapids, MI: Zondervan, 1996).

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Baptisten und sozio-politische Fragen David P. Gushee und Larry L. McSwain Die globale baptistische Bewegung repräsentiert die Geschichte eines verwirrenden Erbes, wenn man die Frage betrachtet, wie das Evangelium auf die sozio-politischen Anliegen im Rahmen der Weltchristenheit zur Anwendung kam. Auf der einen Seite sind Baptisten in vielen Regionen der Welt eine relativ kleine Gruppierung von Individuen und Gemeinden mit einer starken persönlichen Frömmigkeit, die ein persönliches Verhältnis zwischen den Gläubigen und Jesus Christus unter Ausschluss größerer sozialer Fragen betont. Das Nachdenken über ethische Fragen oder die Praxis drehte sich überwiegend um persönliches Verhalten und nicht um die in allen Nationen so wichtigen Fragen von Frieden und Gerechtigkeit. Dieses starke Motiv der „Trennung von der Welt“ ist das Vermächtnis einer Theologie des individuellen Heils und legt nahe, dass moralische Individuen als Mittel angesehen werden, eine moralische Gesellschaft hervorzubringen. Auf der anderen Seite sind Baptisten in einigen Regionen der Welt Vorreiter gewesen, um eine Bandbreite von sozio-politischen Fragen anzusprechen. Wo sie zahlenmäßig stark genug waren, haben sie Kongresse und Erziehungseinrichtungen geschaffen, um ein informiertes Bewusstsein für sozio-politische Belange zu fördern. Weil die erste baptistische Gemeinde durch englische Glaubensflüchtlinge 1609 in Amsterdam gegründet wurde, ist es nur natürlich, dass die ursprüngliche Stärke der baptistischen Bewegung in Britannien, in einigen kleinen europäischen Territorien und in den amerikanischen Kolonien zu finden ist. Die moderne Missionsbewegung, wie sie sich im 18. Jahrhundert bildete, hat die baptistische Theologie, ihre Organisationsformen und ethischen Fragestellungen in Kolonien verpflanzt, wo z. T. bis heute zahlenmäßig beachtliche Gruppierungen entstanden sind. Schätzungen gehen von 105 Millionen Baptisten aus, wobei allein 35 Millionen in Nordamerika zu finden sind. Der Baptistische Weltbund (BWA = Baptist World Alliance) ist die größte weltweite Organisation und umfasst 239 Mitgliedsbünde in 125 Ländern mit einer Gesamtmitgliederzahl von 47,5 Millionen in 168.490 Gemeinden. Die Südlichen Baptisten (­Southern 100

Baptist Convention) in den USA sind nicht Teil des Weltbundes; sie zählen noch einmal 15 Millionen Mitglieder in ca. 46.000 Gemeinden. Die geographische Verteilung der Bewegung ist nach Kontinenten wie folgt verteilt: Nordamerika, Afrika, Asien, Südamerika, Europa. Baptistische Prinzipien für sozial-politische Aktionen Die baptistische Identität bietet einen Ansatz zum Verständnis der Mannigfaltigkeit ihrer öffentlichen Theologie und praktischen Aktionen. Baptisten haben kein Lehramt, das einen autoritativen Rahmen als eine Grundlage für ethische Reflexionen bieten würde. Folglich können alle klassischen Strömungen christlicher Überlegungen – katholische, reformatorische, täuferische und humanistische – von baptistischen Gruppen übernommen werden. Es gibt auch keine organisatorische Struktur mit Autorität, um eine Meinung durchzusetzen oder eine Aktion zu erzwingen. Individuen, Gemeinden, Verbände von Gemeinden, Bünde oder Allianzen können nicht gezwungen werden. Dennoch sind die Beiträge dieser komplexen Gemeinschaft von Christen historisch bedeutsam gewesen, und das gilt noch bis in das 21. Jahrhundert. Wie hat man sich das vorzustellen? Baptisten sind durch eine Reihe von generell akzeptierten Prinzipien gekennzeichnet. Diese Prinzipien finden Eingang in Darlegungen des Glaubens, die von Gemeindebünden in einer geographischen Region angenommen werden. Das Beachten dieser Darlegungen kann nur von Angestellten eines Bundes verlangt werden, von keinem anderen Individuum oder einem anderen Bund. Diese Prinzipien sind: 1. Radikale Nachfolge, die die Herrschaft Jesu Christi als einzige Autorität für den wahren Glauben unterstreicht. Glaube verlangt eine individuelle Entscheidung des Gehorsams gegenüber Christus, und jede Person ist vor Gott rechenschaftspflichtig. Die Teilnahme auf den unterschiedlichen Ebenen der Kirche gründet sich in dieser Nachfolgebereitschaft, die eine Entscheidung einschließt und die in dem Akt der Taufe durch Immersion in den meisten baptistischen Gruppen symbolisch Ausdruck findet. 2. Die Quelle der Autorität für Glauben und Verhalten ist die Bibel, wie sie im Zusammenhang des Gehorsams gegenüber Jesus Christus interpretiert wird. Dies ist ein universaler baptistischer 101

Anspruch. Dennoch sind Unterschiede im theologischen und ethischen Verständnis darin verwurzelt, wie man diese Autorität interpretiert. Pastoren und Lehrer, die sich aus einer fundamentalistischen / konservativen / buchstäblichen Perspektive der Schrift nähern, kommen oft zu gegensätzlichen Ansichten gegenüber solchen, die mit einer historisch-kritischen / progressiven / symbolischen Interpretation dieselben Texte bearbeiten. Folglich kann man etwa Befürworter und Gegner des Pazifismus oder der Todesstrafe innerhalb derselben baptistischen Gruppe finden. 3. Die Rolle des einzelnen Gläubigen wird seit alters als „Seelenkompetenz“ bezeichnet. Baptisten sind gleichsam eingefleischt individualistisch, man könnte auch sagen personalistisch, und dies ist so wegen ihres Verständnisses des Priestertums aller Glaubenden. Jede Person vermag die Hl. Schrift für sich auszulegen und Entscheidungen unter Leitung des Hl. Geistes zu treffen. Solche Individuen für soziale Aktivitäten zu gewinnen setzt einen Konsens voraus, der gewöhnlich schwer zu erreichen ist. Dieses Prinzip ist wichtig, um die Freiheit zu verstehen, mit der sich Baptisten als Pioniere den umstrittensten Fragen zugewandt haben. Man denke nur an die Rolle, die Baptisten wie Clarence Jordan1 oder Martin Luther King Jr. bei Fragen der Rassenintegration in den USA gespielt haben. 4. Jede baptistische Gemeinde ist ebenso autonom wie Verbände oder Gemeinschaften innerhalb eines Bundes. Die meisten öffentlichen Verlautbarungen werden als Resolutionen formuliert, die keine Verbindlichkeit für Einzelne oder Gemeinden besitzen. Gleichwohl sind sie wichtig, um Materialien für die 1

Weil Clarence Jordan (1912–1969) außerhalb der USA nicht sehr bekannt ist, sei darauf verwiesen, dass er im tiefen Süden der USA eine landwirtschaftliche Gemeinschaft mit Menschen unterschiedlicher „Rassen“ (Koinonia Farm) gegründet hat und den Versuch unternahm, das Neue Testament in den Kontext des Südens der USA zu übertragen: The Cotton Patch Version of the New Testament; vgl. dazu auch den Predigtband The Substance of Faith and other Cotton Patch Sermons, hg.v. Dallas Lee (New York: Associated Press 1972). Joyce Holliday hat eine Reihe von seinen Schriften herausgegeben: Essential Writings (Modern Spiritual Masters Series) New York: Orbis Books 2003. Clarence Jordan hatte erheblichen Einfluss, z. B. auf den Begründer der Organisation Habitat for Humanity, Millard Fuller. Sein Neffe Hamilton Jordan war Stabschef im Weißen Haus unter Präsident Jimmy Carter, der in der Nähe der Koinonia Farm wohnt und der sich auch für Fuller und Habitat einsetzte (Ergänzung d. Hg.).

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Erziehungsarbeit zu erstellen, um Lobbyarbeit zu entwickeln und um Positionspapiere für öffentliche Mandatsträger zu entwerfen. 5. Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Kirche haben Baptisten bei politischen Aktionen vereint – und zeigen zugleich Grenzen auf. Sie geben jedoch Baptisten einen Rahmen, um Menschenrechte in all ihren Dimensionen der Gleichheit anzusprechen: ethnische und rassische Gleichheit, Gender, wirtschaftlicher Status und vermehrt auch sexuelle Orientierung. Sie können Baptisten auch daran erinnern, dass dem Staat Grenzen innewohnen, um etwa einige Aspekte der sozialen Veränderungen durch Zwang zu erreichen. In Regionen der Welt, wo sie einen wirtschaftlichen und politischen Status der Mehrheit erreicht haben, wie bspw. im Süden der USA, erwies es sich als schwierig, die überkommenen Verpflichtungen angesichts kultureller Vorherrschaft zu bewahren. In den meisten globalen Zusammenhängen hat jedoch der Minderheitenstatus der Baptisten diese Verpflichtungen lebendig erhalten. Wenn es sich um eine kleine Gruppe von Gläubigen im Kontext einer Diktatur oder einer vom Staat kontrollierten Religion handelt, kann das Überleben von internationaler Unterstützung für die religiösen Rechte von Minderheiten abhängig sein. 6. Die Unterstützung baptistischer Organisationen ist Voraussetzung, um die Kompliziertheit sozialer und politischer Entscheidungsfindung anzusprechen. Die Bewegung des „sozialen Evangeliums“ am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Anstoß gegeben, um kirchliche, zwischenkirchliche und internationale Organisationen zu schaffen, die dann Baptisten mobilisierten, sich in sozialen Diensten wie Katastrophenhilfe, wirtschaftliche Entwicklungshilfe oder Bekämpfung des Hungers zu engagieren. Dazu kamen Wählermobilisierungen, Lobbytätigkeit und gerichtliche Aktionen im Zusammenhang mit Fragen, die Kirchen betrafen. Viele Beispiele dieser Art könnten angeführt werden. Mit der Gründung des Baptistischen Weltbundes (BWA) 1905 wurde ein internationales Forum geschaffen, das heute durch Baptist WorldAid Katastrophenhilfe leistet, Projekte gegen Hunger sowie wirtschaftliche Entwicklungshilfe durchführt. Kommissionen beschäftigten sich mit Fragen der Menschenrechte, des Friedens, der Religionsfreiheit, der Gerechtigkeit und der Umwelt. Lässt man die Resolutionen, die vom Weltbund zwischen 1981 und 103

2014 verabschiedet wurden, Revue passieren, erhält man eine umfassende Liste von Fragen, die Baptisten weltweit bewegt haben und die bei Besuchen von Stabsmitgliedern zur Sprache kamen oder die benutzt wurden, um Druck auf Regierungen auszuüben und um Opfern von Ungerechtigkeit zur Hilfe zu kommen.2 Eine ähnliche Bemühung um Unterstützung für politische Aktionen im Zusammengehen mit Bildungsangeboten kennzeichnet die Schaffung von Gruppen innerhalb einer Denomination, die sich ethischen Fragen widmen. So gehört es zur Routine von führenden britischen Baptisten, in ökumenischer Gemeinschaft mit anderen Christen Gespräche mit Parlamentsabgeordneten zu Fragen von Frieden und wirtschaftlicher Gerechtigkeit zu führen. Die American Baptist Churches USA haben eine bedeutsame Geschichte, um eine Fülle von ethischen Fragen durch kluge Grundsatzerklärungen und Resolutionen für ihre Gemeinden und Mitglieder anzusprechen. Die größte baptistische Gruppe, die Southern Baptist Convention und ihre Landesverbände, haben eine uneinheitliche Geschichte ihres Engagements. Sie organisierte sich 1845, als es wegen Grundsatzfragen der Mission und Sklaverei zu einem Bruch unter den Baptisten kam. In den letzten Jahrzehnten hat diese Denomination erhebliche Fortschritte bei der Rassenintegration gemacht. Im Landesverband Texas kam es 1950 zur Gründung der ersten Kommission für ethische Fragen, Christian Life Commission genannt. Das war eigentlich der Beginn, sich mit sozio-politischen Fragen zu beschäftigen. Eine Kommission mit gleichem Namen wurde 1953 auf der nationalen Ebene ins Leben gerufen. A. C. Miller war der erste Exekutivdirektor beider Kommissionen, und in beiden Funktionen folgte ihm Foy Valentine (1923– 2006). Dieser war im Leben der Südbaptisten eine überragende Persönlichkeit und hatte die beiden Ämter von 1960 bis zu seiner Pensionierung 1987 inne. In diesen 27 Jahren erwies er sich als starker Fürsprecher der Rassengleichheit und beeinflusste zahllose Resolutionen in Richtung auf ein fortschrittliches ‚soziales Evangelium‘. Die theologische Kontroverse, die zwischen 1979 und 1995 das Leben der Südbaptisten bestimmte, führte schließ2 Vgl.

2014.

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www.bwanet.org/resources/past-resolutions. Zugriff am 17. November

lich zu einem erhöhten Aktivismus, aber in genau die entgegengesetzte Richtung von der bisher verfolgten progressiven Linie. Man schloss sich der Agenda der Religiösen Rechten an, wie sie durch die „Moralische Mehrheit“ repräsentiert war. Die Kommission erhielt einen neuen Namen: Ethics and Religious Liberty Commission = Kommission für Ethik und Religionsfreiheit. Die Southern Baptist Convention kündigte ihre Mitgliedschaft in dem bisher von allen Baptisten getragenen Komitee für öffentliche Angelegenheiten in Washington (Baptist Joint Committee on Public Affairs), zog sich 2004 aus dem Baptistischen Weltbund zurück und hatte zuvor schon der Internationalen Baptistischen Theologischen Hochschule in Rüschlikon (bei Zürich) die Gelder entzogen, was zur Aufgabe des Standorts führte. Der separatistisch-fundamentalistische Richard Land war seit 1987 der Leiter der Kommission für Ethik und Religionsfreiheit, bis er 2012 wegen Plagiatsvorwürfen zurücktreten musste. Seit 2013 ist Russell Moore der neue Leiter. Die aktivsten baptistischen Gruppen in Nordamerika sind die afro-amerikanischen Baptisten, besonders die starken PastorenPersönlichkeiten, die ihre Gemeinden zu einem aktiven politischen Engagement führen, die Menschen in politischen Prozessen begleiten und politische Kampagnen öffentlich unterstützen. Es gibt vier große afro-amerikanische Denominationen: Die National Baptist Convention, USA, Inc. ist die historische Körperschaft, aus der andere hervorgingen. Die Progressive National Baptist Convention, Inc. wurde in den 1960er Jahren mit Hilfe von Martin Luther King gegründet und tritt in der Öffentlichkeit am meisten politisch hervor. Unter ihren Hauptzielen werden angeführt: den Stimmlosen eine Stimme geben durch „Wählermobilisierung und -registrierung, durch Bildung und Teilhabe der Mitglieder am gesellschaftlichen Leben, wirtschaftliches ‚empowerment‘ [Ermächtigung] und Entwicklung, universale Menschenrechte und die totale Befreiung aller Menschen.“3 Jüngst koordinierte man Bemühungen mit anderen schwarzen baptistischen Denominationen wie die Lott Carey Foreign Mission Convention, um Mitglieder über Ebola aufzuklären und um $ 250.000 für die Arbeit in Westafrika aufzubringen. Die National Missionary Baptist Convention of America wurde 1988 3

www.pnbc.org. Zugriff am 16. November 2014.

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gebildet. Aus ihr entwickelte sich die National Baptist Convention in America International, Inc. im Jahre 1995. Sie legt großes Gewicht auf öffentliche soziale Aktionen und hat Kommissionen für soziale Gerechtigkeit, für Gerechtigkeit im Strafrecht und für Arbeiterfragen gebildet. Während aktive Gemeinden im politischen Raum sehr sichtbar sind, gibt es gleichwohl eine eher konservative Strömung auf der Ebene jeder Bundesgemeinschaft, um den Konsens zu bewahren. Als jüngstes Beispiel mag die Mitteilung an die Mitglieder der National Baptist Convention, USA, Inc. durch ihren Präsidenten, Julius R. Scruggs, dienen. Es ging um die Frage der gleichgeschlechtlichen Ehe, die Präsident Barack Obama unterstützte, während Scruggs in dieser Sache mit dem Präsidenten nicht übereinstimmte, aber dann offen seine Unterstützung für andere politische Felder zum Ausdruck brachte: Wir haben in der Tat große Wertschätzung für viele Standpunkte, die er eingenommen hat. Zum Beispiel begrüßen wir seine Haltungen zur Gesundheitsreform, zum öffentlichen Schulwesen, zu den Darlehen für Studierende, zur Beendigung des Krieges im Irak, zur Bewältigung der Krise in der US Automobilindustrie, zur Ausweitung der Gelder des Pell Grant Programms,4 zur Ausweitung der Gesundheitsvorsorge für Kinder, zur finanziellen Kompensation gegenüber Farmern der Minderheit, denen Unrecht widerfahren ist, zur Gestaltung einer Außenpolitik, die das Ansehen Amerikas in der Welt verbessert hat und zum Einsatz für Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen unabhängig von Rasse, Religion, Farbe, Ethnie oder Geschlecht.5

In Nordamerika gibt es eine Zahl baptistischer Organisationen, die bestimmte öffentliche Fragen ansprechen: Das Baptist Joint Committee on Public Affairs (das Gemeinsame Komitee für Öffentliche Angelegenheiten) wurde 1946 von vielen baptistischen Bünden gegründet, um Fragen der Religionsfreiheit und der Trennung von Kirche und Staat gemeinsam 4

Ein staatliches Ausbildungsförderprogramm für als bedürftig eingestufte Studierende (Anm. d. Hg.). 5 „A Statement on the Same-Sex Marriage Issue, Voting and Christian Responsibility,“ June 21, 2012. http://media1.razorplanet.com/share/510611-8783/siteDocs/Position%20Statements/Same-sex%20Marriage%20Voting%20and%20 Christian%20Responsibility.pdf. Zugriff am 17. November 2014.

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anzusprechen. Es ist eine Lobby-Organisation und unterhält ein Verbindungsbüro zu Parlament und Regierung in Washington und beobachtet den Obersten Gerichtshof bei Fällen, die das Verhältnis von Kirche und Staat betreffen. Fünfzehn baptistische Denominationen finanzieren und überwachen die Arbeit. Der baptistische Friedenskreis von Nordamerika (Baptist Peace Fellowship of North America) ist eine kleine, aber wirkungsvolle Gruppe von Individuen und Gemeinden aus Kanada, den USA, Mexiko und Puerto Rico. Seine Trainingsprogramme zur Konfliktlösung sind in unterschiedlichen Regionen der Welt, wo Konflikte die Menschen vor Ort spalten, zur Anwendung gekommen. Die Frage, welche Aufmerksamkeit man Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung [im Amerikanischen LGBTQ = lesbian, gay, bisexual, transgender, queer = Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender] widmen soll, ist unter Baptisten höchst umstritten. Die kulturellen Veränderungen zwingen Baptisten auf eine neue Ebene des Gesprächs und des Studiums dieser Frage. Unter führenden Personen der Südbaptisten hat der Versuch eines Gesprächs so gut wie keine Änderung ihrer Positionen gebracht. Der Ko-Autor dieses Kapitels, David Gushee, hat durch sein Buch Changing Our Mind (Read the Spirit Books, 2014) einen wesentlichen Anreiz gegeben, diesen Personenkreis anzuerkennen. Die „Assoziation der willkommen heißenden und bestätigenden Baptisten“ (Association of Welcoming and Affirming Baptists)6 wurde innerhalb der American Baptist Churches USA gegründet, trennte sich aber ab, weil es in einigen Regionen heftigen Widerstand gab. Die „Allianz der Baptisten“ (Alliance of Baptists) unterstützt LGBT Personen und zahlreiche andere soziale Anliegen in progressiver Weise. Prophetische Individuen und sozio-politische Aktionen Eine starke Minderheit von Baptisten hat in der Vergangenheit an vorderster Linie eine Fülle von ethischen Fragen angesprochen, die zu Aktionen im politischen Raum herausforderten. 6

Die Wiedergabe des amerikanischen Originals erweist sich als schwierig. Zum Verständnis sollte man wissen, dass es Theologen gab und gibt, die bei der Frage die Haltung einnehmen „welcoming, but not affirming“. Hier wird jedoch die weitergehende These des „welcoming and affirming“ vertreten.

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Als ein frühes Beispiel kann man Thomas Helwys (ca. 1575 – ca. 1616) herausgreifen, der mit John Smyth (ca. 1554–1612) die erste Baptistengemeinde gründete und der eine der gewaltigsten Herausforderungen gegenüber politischer Autorität verfasste, nämlich den Ruf nach Religionsfreiheit, der sich 1612 an König Jakob I. richtete, A Short Declaration of the Mistery of Iniquity = Eine kurze Erklärung des Geheimnisses der Bosheit. Dafür endete er im Gefängnis, wo er auch starb. Fast alle gesellschaftlichen Veränderungen begannen mit Individuen, die den vorherrschenden Standpunkt ihrer Umgebung verließen, um sich auf ein neues Verständnis der Anwendung biblischer Kriterien auf kritische Probleme einzulassen. Ob es dabei um Sklaverei, Diskriminierung, Unterdrückung, wirtschaftliche Ungerechtigkeit oder Gewalt geht – stets war es eine prophetische Minderheit, die die Aufmerksamkeit auf die ganze Fülle der sozial-politischen Fragen lenkte. So z. B. verabschiedete man Resolutionen, gründete Organisationen, die sich besonderen Problemfeldern widmeten, mobilisierte zu politischen Aktionen, um die Regierungspolitik zu beeinflussen und schuf Hilfsdienste, um den Opfern von Ungerechtigkeiten zu helfen. Eine eingehende Untersuchung dieser Anstrengungen ist im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes nicht möglich, aber die Aufmerksamkeit soll in zusammenfassender Weise auf die Schlüsselfiguren gelenkt werden, die das moralische Bewusstsein der Baptisten geprägt haben. Außerdem wird es um die Frage gehen, welche Probleme sie angeschnitten haben. Das soziale Evangelium Spät im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben die Repräsentanten des sozialen Evangeliums die Reichweite des Evangeliums von einem individualistischen Verständnis zu einer Theologie des öffentlichen Christentums neu definiert. John Clifford (1836–1923) engagierte sich in Britannien gegen den Burenkrieg und organisierte den ‚passiven Widerstand‘ der Nonkonformisten gegen das Erziehungsgesetz von 1902, das lediglich anglikanische und römisch-katholische Schulen finanziell begünstigte. Mahatma Gandhi betrachtete Cliffords Strategie als Vorform seiner satyagraha Methoden in Süd-Afrika. Clifford war weithin geachtet als Präsident der Baptist Union of Great Britain 108

and Ireland und anderer evangelischer Organisationen in Britannien. 1905 wurde er zum ersten Präsidenten des Baptistischen Weltbundes gewählt. Seine Predigt beim zweiten Kongress des Weltbundes 1911 war ein leidenschaftlicher Aufruf an den Weltbund und die Baptisten, das soziale Evangelium zu verwirklichen. Er erklärte: „Wir müssen gegen alle anmaßenden Übergriffe der Macht für die Rechte der Schwachen kämpfen, gegen wirtschaftliche und soziale, militärische und kirchliche Systeme, die sich zur Verteidigung des Unrechts zusammengeschlossen haben.“ Die dominierende Persönlichkeit des sozialen Evangeliums in den USA war Walter Rauschenbusch (1861–1918). Als Baptistenpastor einer deutschen Gemeinde in einem Teil von New York, der als „Höllenküche“ verrufen war, wurde ihm der verheerende Einfluss des Kapitalismus der „Räuberbarone“ auf die Armen bewusst. Mit anderen Pastoren schloss er sich zur „Bruderschaft des Königreichs“ zusammen und begann, seine Theologie im Dialog mit den politischen und soziologischen Veröffentlichungen der „progressiven Ära“ seiner Zeit neu zu definieren. Als Folge einer Erkrankung wurde er taub, so dass er sein Amt als Pastor aufgab. Er ging an das Theologische Seminar nach Rochester (Rochester Theological Seminary), wo er ein beliebter Lehrer, Autor und Redner wurde. Sein Buch Christianity and the Social Crisis = Das Christentum und die soziale Krise von 1907 wurde ein Bestseller, und sein Buch A Theology of the Social Gospel = Eine Theologie des Sozialen Evangeliums von 1917 ist immer noch ein Klassiker, um die Tragweite Jesu für den öffentlichen Glauben zu verstehen. Die Baptisten im Norden der USA und andere Protestanten unterstützten die Bewegung des sozialen Evangeliums. Dagegen fand es im Süden wenig Resonanz; erst nach dem Zweiten Weltkrieg und den Bemühungen um Überwindung der Rassenschranken fand es Anklang. Fundamentalistische Baptisten leisteten vehement Widerstand, und neo-orthodoxe Theologen kritisierten es als utopisch, aber sein Einfluss setzte neue Energien frei und führte zu sozial-kirchlichen Ämtern und politischen Anstrengungen. Unter den ersten, die die Tragweite des sozialen Evangeliums erkannten, waren Frauen, die Reformbemühungen im Erziehungswesen, im Bürgerrecht und in Fragen sozialer Gerechtigkeit, einschließlich Gender Gleichheit (gender equality) unterstützten. 109

Nannie Helen Burroughs (1879–1961) war eine treibende Kraft in der Frauenbewegung der National Baptist Convention von 1900 bis zu ihrem Tod 1961. Mittels ihres Amtes gründete sie die „Nationale Handels- und Berufsschule für Frauen und Mädchen“ in Washington, DC, und wurde eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Fragen der Erziehung von Minderheiten, der Bürgerrechtsbewegung und Gender Gleichheit. Eine ähnliche Haltung wurde in London von Muriel Lester (1883–1968) entwickelt; sie war Pastorin, Sozialarbeiterin und Friedensaktivistin. Aufgewachsen in einer wohlhabenden baptistischen Familie kauften sie und ihre Schwestern eine baptistische Kapelle in Bow im Osten Londons. Sie wurde renoviert und in ein Gemeinschafts- und Gottesdienstzentrum umgewandelt, das Kingsley Hall genannt wurde und wo Muriel Lester predigte und lehrte. Sie wurde ein sozialistisches Mitglied des Stadtrats von Poplar, wurde 1914 zur Pazifistin und trat dem Versöhnungsbund bei, für den sie 1933 als Reisesekretärin arbeitete. Sie besuchte Gandhi und schrieb über ihn. Marian Wright Edelman ist Präsidentin des Fonds zur Verteidigung der Kinder (Children’s Defense Fund), die führende Organisation in den USA, die für die Rechte der Kinder eintritt. Als Gründerin hat sie 40 Jahre darauf verwandt, Fragen von Kinderarmut, Kindesmisshandlungen, mangelhafter Erziehung und die Notwendigkeit ethischer Bildung für Kinder anzusprechen. Die Suche nach Gleichberechtigung der Rassen Man kann schwerlich die Würde des Menschen, die unter den baptistischen Prinzipien des Glaubens so wichtig ist, feierlich behaupten und nicht peinlich berührt sein angesichts der mangelnden praktischen Tätigkeiten von Baptisten, die Ungerechtigkeiten der Sklaverei und die fortlaufenden Diskriminierungen gegenüber rassischen und ethnischen Minderheiten nicht heftig genug angeprangert haben. An der Rassenfrage trennten sich Denominationen, Gemeinden und Familien. Dennoch gibt es Funken der Hoffnung wegen des Fortschritts, der gesellschaftlich auf den Weg gebracht wurde, nicht zuletzt durch baptistische Stimmen. Die Versammlung der General Baptists in England ließ schon 1787 verlauten, dass sie den Sklavenhandel ablehnte. 110

Während des langen Kampfes gegen die legale Sklaverei in den USA konnte man Abolitionisten unter Baptisten und anderen Christen finden, zumeist im Norden. Innerhalb weniger Monate, nachdem sich der Oberste Gerichtshof der USA im Verfahren Brown v. Board of Education im Jahr 1954 gegen eine Rassentrennung in den Schulen ausgesprochen hatte, verabschiedeten die Südbaptisten eine Resolution, in der sie die Entscheidung des Gerichts begrüßten, sehr zum Entsetzen vieler Mitglieder. 1995 verfasste man auch ein Schuldbekenntnis, in dem man Reue wegen der vergangenen Ungerechtigkeiten bekundete und um Vergebung nachsuchte. Die Neuen Baptistischen Bundesversammlungen (New Baptist Covenant meetings), die vom früheren US-Präsidenten Jimmy Carter seit 2005 einberufen wurden, sind stets von Angehörigen unterschiedlicher Rassen gemeinsam geplant und besucht worden. Es war jedoch die fördernde Gemeinschaft afro-amerikansicher Baptisten, die den geachteten baptistischen „Propheten aller Propheten“ der Neuzeit hervorbrachte: Martin Luther King, Jr. (1929–1968). King war Prediger in der dritten Generation und trat das Erbe seines Vaters an der Ebenezer Gemeinde in Atlanta, Georgia an. Dieses Erbe wurde verstärkt durch Howard Thurman (1899–1981), Autor, Pastor, Fakultätsmitglied und Universitätsprediger sowie Ratgeber der Anführer der modernen Bürgerrechtsbewegung. Außerdem muss als Mentor Kings auch Bejamin E. Mays (1896–1984) genannt werden, eine führende Stimme in der Bürgerrechtsbewegung und Präsident des Morehouse College, das King besuchte. Als weiterer Meilenstein müssen die Einsichten der Bewegung des sozialen Evangeliums genannt werden, die er am Crozer Seminar (Crozer Theological Seminary) studierte, besonders die Schriften Rauschenbuschs. Dazu gesellten sich seine Studien an der Universität von Boston, die er über Bewegungen anstellte, die soziale Veränderungen mit friedlichen Mitteln zu erreichen suchen. Das alles rüstete ihn aus, eine Bewegung anzuführen. Aber King handelte nie allein. Er war umgeben von einer nationalen Gemeinschaft von gleichermaßen besorgten Fürsprechern der Rassengleichheit, von denen die meisten Baptistenpastoren waren: Ralph D. Abernathy, Jesse Jackson, John Lewis, Fred Shuttlesworth, W. T. Walker, A. D. King, John Porter, A. C. Powell und Gardner Taylor. Sie halfen mit der neu gegründeten 111

Southern Christian Leadership Conference (Südliche Christliche Leiter Konferenz) die Nation aufzurütteln und einen Wandel zu unterstützen, der schließlich in Washington dazu führte, dass 1964 das Bürgerrechtsgesetz und 1965 das Wahlrechtsgesetz verabschiedet wurden. King kam nicht zur Ruhe, sondern ging den verwandten Fragen der Armut und des Friedens nach, indem er die Kampagne der Armen Leute (Poor People’s Campaign) begann und in Predigten den Vietnam Krieg anprangerte. Für seine vielen Bemühungen erhielt dieser prophetische Prediger als erster Amerikaner aus dem Süden der USA den Friedensnobelpreis, eine Ehre, die später noch zwei Baptisten aus dem Süden zuteil werden sollte: Präsident Jimmy Carter und Vizepräsident Albert Gore. Einige bedeutende Baptisten sind in Fragen des Friedensstiftens, der Gegnerschaft gegenüber Gewalt und der Sorge um die Heiligkeit des Lebens hervorgetreten. Während der drei Jahrzehnte des Kalten Krieges wurde der Baptist Glen H. Stassen (1936–2014) mit Vorschlägen zur nuklearen Abrüstung bekannt. Gleichzeitig entwickelte er anfänglich allein und später in einer inter-religiösen Koalition einen neuen Zugang zu den Fragen von Krieg und Frieden, den er „gerechtes Friedensstiften“ nannte. Diese Methode ist biblisch in der Wahrnehmung verwurzelt, dass Jesus nach Matth. 5,9 weder Pazifisten noch Soldaten selig sprach, sondern Friedens-Stifter (engl. peace makers), also solche, die inmitten eines Konflikts aktiv Schritte unternehmen, den Zustand des Friedens zu erreichen. Stassen leistete auch Pionierarbeit beim Verständnis der Lehre Jesu, besonders der Bergpredigt. Nach Stassen hat Jesus eine „transformierende Initiative“ zur Sprache gebracht, indem er konkrete und praktische Wege lehrte, den Teufelskreis von Sünde, einschließlich des sündigen Konflikts, zu durchbrechen. So etwa lehrte Jesus, hinzugehen und mit dem Gegner zu sprechen (Matth. 5,21–26). Nach Stassen schlägt Jesus kein träumerisches Ideal vor, sondern den wichtigsten konkreten Schritt, den man gehen kann, um die Kommunikation zwischen denen, deren Verhältnis zueinander geschädigt war, wieder herzustellen. So kann der Prozess des Frieden-Stiftens beginnen. Stassen analysierte zahlreiche Konfliktsituationen in der Weltgeschichte und beschrieb zehn Arten des „gerechten Frieden-Stiftens“, die erfolgreich verlaufen sind, um das ‚Furunkel‘ des Konflikts aufzuschneiden und einen gerechten 112

Frieden herbeizuführen. Sein Zugang ist jetzt in viele ethische Abhandlungen zum Thema Krieg und Frieden eingearbeitet. Der frühere US Präsident Jimmy Carter (* 1924), überzeugter Baptist, war ein leidenschaftlicher Friedensstifter während seiner Amtszeit. Sein größter Erfolg ist wahrscheinlich das Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten, das ungeachtet aller Konflikte und Regimeveränderungen in der Region bis heute gehalten hat. Carter hat nach seiner Amtszeit viel Zeit darauf verwandt, in Konfliktregionen der Welt Frieden zu stiften. Der Ko-Autor dieses Kapitels hat eine Analyse des moralischen Prinzips der Heiligkeit menschlichen Lebens geboten, die von vielen als die stichhaltigste protestantische Analyse dieser Frage angesehen wird. In seinem 2013 zu diesem Thema erschienenen Buch argumentiert er, dass jeder Mensch eine Person von unermesslichem und heiligem Wert ist und dass dieser Glaube der größte moralische Beitrag des Christentums zu einer globalen Zivilisation ist. Dieser Glaube unterstreicht die entscheidend wichtigen christlichen (und anderen) moralischen Versuche, dem Frieden näherzukommen und den Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen. Gushee führte evangelikale Bemühungen an, diese Einsichten auf die von den USA durchgeführten Foltermethoden anzuwenden, denen mutmaßliche Terroristen nach den Anschlägen vom 11. September im US Gewahrsam ausgesetzt waren. Diese Bemühungen warfen zuerst ein grelles Licht auf die Missbräuche der USA, führten dann zu einem Zurückdrängen dieser Praktiken und schließlich zu deren Streichung unter Präsident Barack Obama. Schluss Über viele Jahrhunderte haben Baptisten ihre Stimme für Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte erhoben und zu nationalen und globalen sozio-politischen Debatten unterschiedlicher Art ihre Beiträge geleistet. Verwurzelt in der Heiligen Schrift und vor allem in dem Herr-Sein Jesu Christi und ermutigt durch eine erbittert festgehaltene Tradition des Dissens und der Gewissensfreiheit sind Baptisten manchmal in der globalen christlichen Welt über sich hinausgewachsen und haben den Menschen eine Stimme der Solidarität und des Mitgefühls verliehen, die sie in ihrer verzweifelten Lage am meisten benötigten. 113

D. BAPTISTISCHE FRAUEN

Britische Baptistische Frauen als Pastorinnen Faith Bowers / Ruth Gouldbourne Auf dem Kongress der Europäisch Baptistischen Föderation in Hamburg 1984 fielen britischen Besuchern, die neu in der internationalen baptistischen Gemeinschaft waren, deutsche Diakonissen in ihrer traditionellen Kleidung ebenso in die Augen wie eine Frau als Generalsekretärin der Baptistischen Union von Schweden, Birgit Karlsson. Die Baptistische Union von Großbritannien (BUGB) kannte Frauen als Pastorinnen, aber keine war an prominenter Stelle, während britische Diakonissen schon lange ihre Kleidung aufgegeben hatten und der ‚Orden‘ 1975 aufhörte zu existieren, als die noch aktiven Diakonissen als Pastorinnen übernommen wurden. Die meisten waren ohnehin schon mit pastoralen Aufgaben betraut. Erst 2013 wurde eine Frau, Pastorin Lynn Green, zur Generalsekretärin der BUGB ernannt. Historischer Überblick Frauen machten für gewöhnlich mehr als die Hälfte der Mitglieder in baptistischen Gemeinden aus, aber sie waren, wie in der Gesellschaft überhaupt, den Männern untertan. Einige alte Regeln besagten, dass Frauen in Gemeindestunden abstimmen durften, aber sie mussten einen Mann bitten, ihre Beiträge zu äußern. In der Gemeinde auf der Dublin Street in Edinburgh durften Frauen gemäß der Besitzurkunde aus den 1850er Jahren bei Eigentumsangelegenheiten nicht abstimmen, was vielleicht ihre rechtliche Stellung widerspiegelt. Indes waren Frauen schon immer in der Seelsorge tätig gewesen, und einige, die über private Mittel verfügten, erwiesen sich als großzügige Beitragszahler. Als im späten 19. Jahrhundert in größeren Gemeinden Hilfsvereine für die Mission gegründet wurden, erwiesen sich junge Frauen als überzeugende Geldsammler. Die Arbeit mit Frauen und Kindern, der Verkauf von Bibeln, die Hilfe für Bedürftige, die Kranken114

pflege sowie die Lehrtätigkeit in der Sonntagsschule waren für Frauen in der Gemeinde akzeptierte Aktivitäten. Die Baptistische Missionsgesellschaft hatte sich der Ehefrauen von Missionaren bedient, aber keine unverheiratete Frau ausgesandt, bis 1871 Miss Fryer mit der Baptistischen Zenana Mission nach Indien ging. Es war dies ein besonderer Zweig für Arbeit unter Frauen. Im Jahr 1890 begann der Verband der Londoner Gemeinden, Diakonissen für den vollzeitlichen Dienst auszubilden. Die Idee verbreitete sich schnell und wurde von der BUGB als „Orden Baptistischer Diakonissen“ übernommen. Einige entwickelten sich zu Predigerinnen, obwohl nicht alle Gemeinden darüber glücklich waren. Bei der Eheschließung verließen Diakonissen den „Orden“, doch viele dienten dann als Pastorinnen oder als Ehefrauen der Missionare. Während des Ersten Weltkriegs 1914–1918 übernahmen Frauen zivile Dienste von Männern, die zum Militär eingezogen waren. Dies stärkte die Bewegung für die Emanzipation der Frauen. Im Jahr 1918 wurde das Wahlrecht für Frauen über 30 und 1928 für alle über 21 Jahren eingeführt. Nancy Astor wurde 1919 als erste Frau Mitglied des Parlaments. In dieser Zeit wurden die ersten Frauen als Pastorinnen anerkannt. Als im Jahr 1922 die BUGB das Recht jeder Ortsgemeinde anerkannte, ihren Pastor zu wählen, wurde Edith Gates als Pastorin von Little Tew und Cleveley in der Grafschaft Oxfordshire bestätigt. Sie hatte das sie qualifizierende Examen der BUGB bestanden. Man zollte ihr Respekt für ihren langen Dienst, und sie übernahm später auch den Vorsitz der Vereinigung. Maria Living-Taylor, eine Universitäts-Absolventin, die mit ihrem Mann am Barking Tabernacle in Ost-London diente, wurde 1924 anerkannt. Das Paar leistete später Dienst in den Gemeinden in Newport und Bradford. Violet Hedger war die erste, die an einem baptistischen College, Regent’s Park, damals in London, ausgebildet wurde. Die Gemeinde in Littleover, Derby, berief sie, und sie wurde 1926 ordiniert. In diesem Jahr versicherten die Diakonissen dem Rat der BUGB, dass es „gegen baptistischen Glauben und gegen die Praxis sei, das Geschlecht zu einem Hindernis für jede Art des christlichen Dienstes zu machen“. In den nächsten drei Jahrzehnten wurde jedoch nur noch eine Frau ordiniert: Gwyneth Hubble, die am Bristol Baptist College ausgebildet worden war und 1938 ordiniert wurde. 115

Sie war von 1938 bis 1945 stellvertretende Generalsekretärin der Christlichen Studentenbewegung, dann Direktorin von Carey Hall, wo sie von 1945 bis 1960 Diakonissen ausbildete, und war von 1961 an beim Ökumenischen Rat der Kirchen in der Abteilung für Weltmission und Evangelisation tätig; sie war aber nie Pastorin einer Ortsgemeinde. Die Rolle der Diakonissen änderte sich. Einige waren pastorale Mitarbeiterinnen des Pastors in großen Gemeinden, aber andere versahen den pastoralen Dienst eindrucksvoll. Als neue Wohnsiedlungen nach 1945 gebaut wurden, sandte man Diakonissen aus, um neue Gemeinden zu pflanzen. Sobald sich diese finanziell trugen, wurden die Diakonissen von Männern abgelöst – mit einem höheren Einkommen. In den frühen 1960er Jahren fühlten sich mehrere Frauen zum pastoralen Dienst berufen. Marie Isaacs und nach ihr Ruth Vinson studierten beide am Regent’s Park College, das nach Oxford umgezogen war, und sahen sich mit praktischen Problemen konfrontiert, die noch gelöst werden mussten. Bristol und Northern Baptist College reihten sich schnell ein. Danach schloss sich eine langsam wachsende Zahl von Frauen den Reihen der ordinierten Pastorinnen an, die in Gemeinden in England und Wales ihren Dienst versahen. Diese zweite Welle der Pionierinnen sah sich noch Schwierigkeiten ausgesetzt. Gemeinden waren zögerlich, eine Frau zu berufen, und selbst wenn sie akzeptiert und in der einen Ortsgemeinde bestätigt worden waren, bedeutete dies nicht, dass sie als Pastorinnen immer in breiteren kirchlichen Kreisen gut aufgenommen waren. Obwohl einige konservative Evangelikale und Charismatiker Frauen als Pastorinnen nicht akzeptierten, unterstützten andere sie. Der gelehrte Neutestamentler und Rektor des Spurgeon’s College, George Beasley-Murray, schrieb 1983 für die BUGBVerwaltungsabteilung der Amtsträger: „Männer und Frauen, die zur Partnerschaft geschaffen wurden, sind zur Partnerschaft im Dienst erlöst. Es ist höchste Zeit, diese Partnerschaft im Dienst Gottes in seiner Kirche und seiner Welt zur Geltung zu bringen.“ Die fruchtbare pastorale Tätigkeit von Frauen, gewöhnlich in herausfordernden ländlichen oder innerstädtischen Kontexten, veränderte allmählich die Ansichten vieler Menschen, die es schwer zu glauben fanden, dass Gott Frauen zu Pastorinnen berufen habe. Beispiele aus London waren u. a. Carol ­McCarthy 116

(Upper Holloway 1980–2001) und Sarah Parry (Shoreditch 2001–2010), die beide ein großes Sanierungsprogramm überwachten, und die bemerkenswert lange Amtszeit von Jane Thorington Hassell (Victoria Park, Bow, seit 1985). Im Baptistischen Jahrbuch 2012 kann man 282 Pastorinnen finden. Die meisten (181) waren in Ortsgemeinden aktiv, ob allein oder als Stellvertreterin geht aus den Angaben nicht hervor. Vier teilten sich die Stelle mit ihren Ehemännern. Etliche Gemeinden hatten schon Pastorinnen zuvor gehabt, was auf gute Erfahrungen verweist. BUGB und die Baptistische Missionsgesellschaft hatten je drei ordinierte Frauen in ihren Leitungen, acht waren Teil eines Teams in einer Region; fünf lehrten an baptistischen Colleges, vier waren in Diensten der (politischen) Gemeinde, zwei hatten die Leitung eines geistlichen Zentrums, und eine war Lehrerin in einer Schule. Siebzehn waren Geistliche im Militär (1), an Universitäten (3), einer Schule (1), in einem Hospiz (5), Krankenhaus (6) und Gefängnis (1). Einige hatten derzeit keine Anstellung, der Rest bezog Rente. Die erste Frau an der Spitze der BUGB war Nell Alexander (1978), eine Laiin. Es war offenbar schwieriger, eine Pastorin zu ernennen, aber die 1975 ordinierte Margaret Jarman, die zuvor eine Diakonisse war, wurde 1987 Präsidentin der BUGB. In einem 1986 publizierten Artikel erklärte sie, dass drei Frauen drei Ausschüssen vorgestanden hätten; andere folgten, einschließlich der beiden Verfasserinnen dieses Artikels. Mit dem Jahr 2000 wies die Liste der Ordinierten in der BUGB 155 Frauen auf, das sind weniger als 7 %. Sie begannen jedoch, einflussreiche Positionen zu bekleiden. Vivienne Lassetter und Anne Wilkinson-Hayes waren in der Leitung der BUGB, Ruth Matthews (geb. Vinson) und Ruth Bottoms standen wichtigen Exekutivausschüssen vor. Myra Blyth war 1999 bis 2003 stellvertretende Generalsekretärin. 1998 wurde Dr. Pat Took als erste Frau zur regionalen Superintendentin ernannt. Sie diente in London bis 2010 und wurde bei der Umstrukturierung regionale Teamleiterin und war 2011 Präsidentin der BUGB. Vor ihr war die dritte Frau, die zur Präsidentin gewählt wurde, Dr. Kate Coleman im Jahr 2006, die zugleich die zweite schwarze Person im Präsidentenamt war. Coleman hatte seither auch den Vorsitz des Rats der Evangelischen Allianz. Ruth Bottoms war Vorsitzende des Rats der BUGB und dann des neuen Kuratoriums; 117

sie lenkte die Union durch große strukturelle Veränderungen. Pastorin Dr. Anne Phillips war 2009 bis 2013 Co-Vorsitzende der Nördlichen Baptistischen Lerngemeinschaft; sie teilte sich den Vorsitz mit Pastor Dr. Richard Kidd. An ihre Stelle trat Pastorin Dr. Clare McBeath, die mit Pastor Glen Marshall den Vorsitz teilt. Im Jahr 2006 wurde Pastorin Dr. Ruth Gouldbourne vom Bristol College an die Bloomsbury Central Gemeinde und Pastorin Kathryn Bracewell an die New Road Gemeinde nach Oxford berufen. Beide Gemeinden hätten keine Schwierigkeiten gehabt, Männer zu finden; sie haben bewusst Frauen gewählt. Ruth arbeitet jetzt mit Pastor Simon Woodman an einem Modell, wie gleichberechtigte Ko-Pastoren ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten und Begabungen beim Predigen und in der Leitung einbringen. Sie war seit 2002 Mitglied des Verwaltungsrats des Internationalen Baptistischen Theologischen Seminars in Prag und hatte den Vorsitz von 2006 bis 2013. Im Jahr 2013 waren 14 % der aktiven Pastoren der BUGB Frauen (230 von 1.626) und 39 % Frauen waren in der Ausbildung (57 von 148), aber der Anteil ist nur langsam gewachsen, der gegenwärtige Prozentsatz ist deutlich geringer als in der Kirche von England. Paul Goodliff, der zuständige Teamleiter für die Pastorenschaft, stellt fest, dass es eine bemerkenswerte Periode der Leiterschaft durch Frauen gibt: Lynn Green ist Generalsekretärin, Jenni Entrican ist für 2015 / 16 zur Präsidentin gewählt, Sheila Martin ist die Moderatorin des neuen Rats, und Jenny Royal hat den Vorsitz des Kuratoriums. Die vier wichtigsten Leitungsstrukturen (Leitungsgruppe, Kuratorium, Versammlung und Rat) werden von Frauen geleitet. Aber es bleiben ungelöste Probleme. Wie gehen wir als Dissenters mit Dissens um? Obwohl es offensichtlich ist, dass Gott ihre Arbeit segnet, weigern sich einige Gemeinden immer noch, eine Frau zu berufen, weil sie der Meinung sind, die Schrift verbiete ihnen das Predigen. Verschiedene Strategien sind entwickelt worden, um Meinungsverschiedenheiten zu bewältigen, aber britische Baptisten müssen noch daran arbeiten, wie man theologisch mit internem Dissens umgeht. Mit solchen Diskussionen zu führen, die von der herrschenden Position abweichen, erweist sich als fast unmöglich. Die jüngste Debatte drehte sich um Zuschüsse 118

für die Heimatmission. Sollen Zuschüsse aus dem gemeinsamen Haushalt an Gemeinden fließen, die nicht geneigt sind, eine Frau als Pastorin in Betracht zu ziehen? Im Mittelpunkt der meisten Angriffe auf Frauen als Pastorinnen steht das Geschlecht. Auch Männer werden angegriffen, aber die Gründe sind vielfältiger. Gleichwohl drehen sich alle Angriffe um die Idee, dass sie ‚Gott falsch verstanden haben‘. Die Angreifer sind sich immer sicher, dass sie Gott richtig verstehen. Eine Frau erinnert sich, wie eine Frage nach ihrem Vortrag über das Amt der Pastorin, begann: „Unter Berücksichtigung, dass Gott eine Frau nicht in das Pastorenamt beruft…“. Sie drückte die Hoffnung aus, dass jüngere Frauen solchen Überzeugungen nicht mehr oft ausgesetzt sind. Obwohl das Amt der Frau allmählich Respekt und Anerkennung unter den meisten Baptisten in England und Wales gewonnen hat, ist das in Schottland nach wie vor problematisch. Die Baptistenunion in Schottland stimmte schließlich im Oktober 1999 dafür, Frauen zu akzeptieren. Zwei Frauen wurden 2000 ordiniert und 2003 voll anerkannt. Marjorie McNair diente als Krankenhausseelsorgerin, bis sie 2009 aus Gesundheitsgründen in den Ruhestand gehen musste. Beth Dunlop, zuvor eine Offizierin der Heilsarmee, diente als Mitarbeiterin in Dumfries. Catriona Gorton ist seit Oktober 2009 Pastorin der Hillhead Baptistengemeinde in Glasgow. Sie hatte ihre Ausbildung in England absolviert und dort auch ihre erste Stelle. Gesellschaftliche Auswirkungen Baptistische Pastorinnen, die in England und Wales im Gemeindedienst standen, bemerkten eine deutliche Veränderung in ihrem sozialen Status, als die Kirche von England 1994 das Priesteramt für Frauen öffnete. Als es eine große Zahl gleichzeitig betraf, nahmen die Medien Anteil. Pastorinnen in Freikirchen spürten den Unterschied: Mit größerer öffentlicher Wahrnehmung verursachte ihr Beruf keine große Überraschung mehr. Es wurde sogar möglich, Klerikerhemden in Damengrößen zu kaufen. Selbst die comedy Fernsehserie The Vicar of Dibley half den Menschen, Pastorinnen als ‚normal‘ zu akzeptieren. Die breitere Akzeptanz macht es für Frauen einfacher, bei „sich selbst“ zu sein. Die Pioniere mussten die Last für alle tra119

gen, was es für sie schwieriger machte, einen persönlichen Stil zu entwickeln. Zuerst mussten sie sich „dem System“ anpassen, d. h. wie Männer arbeiten. Viele Frauen würden z. B. viel natürlicher durch Verhandlungen statt durch Konfrontation arbeiten, aber in einigen Kontexten, besonders auf der regionalen Ebene oder der des Bundes, mussten sie als Neuankömmlinge kämpfen. Innerhalb des existierenden Systems konnten sie den Luxus sich gegenüber nicht leisten, Verwundbarkeit zu zeigen. Einige vertraten schrill ihren Feminismus, zumindest in den größeren Zusammenhängen, obwohl die Zuneigung ihrer Gemeinden darauf hindeutet, dass sie normalerweise nicht so aggressiv waren. Man sollte beachten, dass Männer, die „schrill“ auftreten, als „durchsetzungsfähig“ gelten, während Frauen als „aggressiv“ eingestuft werden. Eine größere Bandbreite von Ausdrucksformen wird heute akzeptiert, was es einfacher macht, so zu arbeiten, wie es zur individuellen Persönlichkeit passt. Das mag auch befreiend für solche Männer sein, die das von ihnen „erwartete“ Rollenverhalten nicht wirklich erfüllten. Nachdem Frauen auch in überregionale Pastorenämter berufen worden waren und mit ihrer Rolle je nach ihrer Veranlagung auf unterschiedliche Weise umgegangen sind, haben sie bewiesen, dass unterschiedliche Zugänge Respekt verdienen können. Frauen, die unter britischen Baptisten zu überregionalen Leitungsdiensten berufen wurden, haben eine gewisse Verwundbarkeit, eine „Ungeschütztheit“ für ihre Rolle mitgebracht. Sie können es vermutlich leicht zugeben, dass sie „nicht alles tun“ können und zugleich bestätigen, dass das gut ist. Niemand muss vollkommen sein. Sie sind nicht wirkungslos, sondern ehrlich. Sie bringen ihre Gaben und ihre Hingabe ein und laden andere zur Hilfe ein. Ehelicher Stress Bei einigen Pastorinnen ist die Ehe auseinander gegangen, bei einigen vor dem Ruf in das Amt, bei anderen traurigerweise während sie ihren Dienst versahen. Ob das nur Frauen betrifft, ist nicht klar. Es kann genauso Männer betreffen oder Frauen in anderen gemeindlichen Berufszweigen. Wenn eine Frau in der Mitte ihres Lebens, vielleicht nachdem die Kinder erwachsen waren, dem Ruf gefolgt ist, wird dieser völlige Rollenwechsel 120

die Beziehung beeinflussen, und die Belastung mag zu groß sein. Es mag einfacher sein, wenn der Ruf früh erfolgte und immer ein Bestandteil der Ehe war. Ein Ehemann erklärte, dass er sich immer bewusst war, seine Frau mit der Gemeinde „teilen“ zu müssen. Ehescheidungen sind immer bedauerlich, aber die Umstände sind je unterschiedlich, und die BUGB lehnt nicht automatisch den Dienst eines Mannes oder einer Frau nach einer Scheidung ab. Der Weg nach vorn Die Kirche von England hat jetzt 40 % Frauenanteile in ihren Priesterseminaren, aber bei Baptisten ist der Anteil nicht so schnell gestiegen. Die Gründe sind nicht klar. Es ist einfacher geworden, Frauen in Gemeinden zu vermitteln, ja es ist schwieriger, unverheiratete Männer zu vermitteln, außer wenn sie jung und heiratsfähig sind. Das Gespenst der Fragen menschlicher Sexualität steht drohend am Horizont der Gemeinden. Paul Goodliff sieht in den neuesten Zahlen Grund zur Hoffnung, aber Pastorinnen möchten, dass mehr Frauen bereit sind, damit der Anteil der Frauen erhalten werden kann, wenn ältere in den Ruhestand gehen. Insgesamt sind die Zahlen zu klein, um einer weiteren Abnahme standzuhalten. Nach den vielen Anstrengungen um Anerkennung möchten sie ein stetes Wachstum erleben. Für Pat Took geht die Herausforderung durch die Frauenfeindlichkeit weit über den Feminismus hinaus. Sie fordert eine breite und gegenseitig befreiende Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen, die beide nach Gottes Ebenbild geschaffen sind. „Wenn die Kirche der Welt das wahre Ebenbild Gottes präsentieren will, muss sie in der Geschlechterbeziehung diese selbst-entäußernde Gegenseitigkeit demonstrieren, die im Herzen der Trinität liegt.“

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Baptistische Frauen und Ordination Pamela R. Durso Die meisten Beobachter würden schnell zugeben, dass Frauen in der vierhundertjährigen Geschichte des Baptismus eine zentrale Rolle beim Wachstum ihrer Gemeinden, der Aufrechterhaltung ihrer Gebäude, der Finanzierung ihrer Programme und der religiösen Erziehung ihrer Kinder gespielt haben. Dennoch wurden ihnen während fast der gesamten Zeit Führungsrollen in den Gemeinden verwehrt. Sie hatten keine offiziellen Titel oder bezogen kein Einkommen. Und erst in den letzten fünfzig Jahren sind eine beachtliche Zahl baptistischer Frauen entweder zu Diakoninnen oder Pastorinnen ordiniert worden. Trotz der mangelnden Anerkennung und trotz des Widerstands der Männer haben baptistische Frauen seit den frühesten Tagen der Geschichte des baptistischen Glaubens Leitungsdienste versehen. Was folgt ist eine chronologische Zeitleiste der Geschichte der Ordination baptistischer Frauen. Darin enthalten ist eine Auflistung der bekannten „ersten“ Ordinationen baptistischer Frauen sowohl in den USA als auch in neun Ländern der Welt. „Erste“ Ordinationen baptistischer Frauen im 19. Jahrhundert Zahlreiche baptistische Denominationen auf der ganzen Welt haben Frauen zum Pastorenamt ordiniert. Was ich in den letzten Jahren gesammelt habe, sind die bekannten „ersten“ Ordinationen von Frauen in sechs baptistischen Gruppen in den USA und von baptistischen Denominationen in Australien, Brasilien, Kuba, England, Deutschland, Mexiko, Nicaragua, den Philippinen und Tasmanien. Es handelt sich dabei um die frühesten dokumentierten Ordinationen. Andere frühere Ordinationen mögen stattgefunden haben, und wenn auf diesem Gebiet mehr Forschung betrieben wird, werden sicherlich auch andere Vorgänge entdeckt und dokumentiert. Die erste dokumentierte Ordination einer baptistischen Frau war die von M. A. Brennan, die 1876 von der Bellevernon Freewill Baptist Church in Pennsylvania als Pastorin anerkannt wurde. Während genaue Informationen über ihre Ordination nicht gefunden werden konnten, weist die Tatsache, dass Brennan auf der jährlichen Liste der neu 122

Ordinierten aufgeführt wurde, darauf hin, dass sie tatsächlich ordiniert wurde. Die Ordination einer zweiten Frau innerhalb der Freewill Baptist Church, Lura Maines, ereignete sich höchstwahrscheinlich im Jahr 1877, als zwei Gemeinden in Michigan sie in ihren Jahresberichten aufführten, wenn auch nicht als Pastorin. Sie wurde jedoch 1880 als Pastorin berufen und wirkte in zwei Gemeinden. Die erste Ordination einer Frau innerhalb der Northern Baptist Convention, die heute unter dem Namen American Baptist Churches, USA (ABC-USA) bekannt ist, fand sechs Jahre nach der ersten Ordination, also 1892, statt. Am 9. Juli 1882 wurde May Jones bei einem Treffen der Baptistischen Vereinigung von Puget Sound im Staat Washington ordiniert. Anscheinend löste ihre Ordination eine Kontroverse aus. Die Gegner beschuldigten die Gemeinde von Jones, die First Baptist Church von Seattle, sie habe keinen ordnungsgemäßen Antrag auf Ordination an die Vereinigung gestellt oder keine Sitzung des Ordinationsrats angesetzt. Stattdessen hätten Delegierte der Gemeinde, während sich ihr Pastor auf einer Europareise befand, der Vereinigung am 9. Juli 1882 vorgeschlagen, Jones noch am selben Tag nach dem offiziellen Treffen zu ordinieren. Teilnehmer des Treffens, denen der Vorschlag missfiel, verließen die Sitzung, so dass nur diejenigen, die ohnehin die Ordination von Jones unterstützten, auch darüber abstimmten. Es war daher keine Überraschung, dass die Empfehlung angenommen wurde. Nach ihrer Ordination diente Jones kurzzeitig als Interimspastor der First Baptist Church in Seattle. Ab 1883 war sie Pastor von sechs Gemeinden, manchmal von zwei oder drei Gemeinden gleichzeitig.1 Die erste Frau, die innerhalb der Siebten-Tags-Baptisten ordiniert wurde, war Experience Fitz Randolph Burdick, die in West Virginia aufgewachsen war. Schon als Kind fühlte Burdick den Ruf Gottes zu predigen, aber erst 1882, als sie bereits zweiunddreißig Jahre alt war, gab sie ihre Berufung öffentlich bekannt und begann zu predigen. Drei Jahre später, im Jahr 1885, wurde Burdick von der Gemeinde der Siebten-Tags-Baptisten in Hornellsville, New York, ordiniert. Sie wirkte in mehreren Gemeinden in New York, und als sie 1906 starb, war sie Pastorin der Siebten1

James R. Lynch, „Baptist Women in Ministry Through 1920,“ American Baptist Quarterly, 13 / 4 (December 1994): 311.

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Tags-Baptisten Gemeinde in New Auburn, Wisconsin. Während ihrer Dienstzeit führte Burdick fünfzig Hochzeiten und neunzig Begräbnisse durch und hielt 890 Predigten. Seit ihrer Ordination im Jahre 1885 wurden vierzehn weitere Baptistinnen in dieser Gemeinschaft ordiniert.2 Während das 19. Jahrhundert im Blick auf Frauen im Pastorenamt einige „Erste“ aufwies, gab es im 20. Jahrhundert immer mehr „erste“. Edith Gates war die erste Engländerin, die als baptistische Pastorin seit 1918 in den Little Tew and Cleveley Gemeinden der britischen Union bis 1950 wirkte. Gates gelangte nicht auf die traditionelle englische baptistische Art in ihr Amt. Der „normale Weg“ verlief so, dass man zuerst ein baptistisches College absolvieren musste, dann ordiniert und in die Liste der akkreditierten Amtsträger aufgenommen wurde. Gates jedoch qualifizierte sich für das Pastorat, indem sie das Examen der Baptist Union bestand. Wahrscheinlich wurde sie 1922 ordiniert, nachdem sie bereits mehrere Jahre im pastoralen Dienst gestanden hatte.3 In dem Zeitraum der vierzig Jahre von den frühen 1920er bis in die späten 1950er Jahre, ließen sich keine anderen „ersten“ Ordinationen baptistischer Frauen entdecken. Im Jahr 1959 und in den folgenden Jahren begannen jedoch zahlreiche „erste“ Ordinationen. Imogene Stewart wurde 1959 von der Greater Pearly Gate Baptist Church in Washington, DC, ordiniert. Diese Gemeinde war der National Baptist Convention, USA, Inc., einer der ältesten afroamerikanischen Baptisten-Konventionen, angeschlossen. Vielleicht war Stewart die erste Frau innerhalb dieses Baptistenbundes, die ordiniert wurde.4 In den Kreisen der südlichen Baptisten war Addie Davis die erste Frau, die am 9. August 1964 in der Watts Street Baptist Church in Durham, North Carolina, ordiniert wurde. Als die Nachrichten über ihre Ordination bekannt wurden, erhielten 2

Patricia A. Bancroft, „Chosen by God: Women Pastors on the Frontiers of the Seventh Day Baptist Denomination,“ Baptist History and Heritage, 40 / 3 (Summer / Fall 2005): 21–22, 24–25. 3 Paul Badham, Religion, State, and Society in Modern Britain (Lewiston, NY: E. Mellen Press, 1989), 299. 4 Eileen Campbell-Reed and Pamela R. Durso, „The State of Women in Baptist Life, 2007“ (Commissioned by Baptist Women in Ministry, Atlanta, GA: 2008), 8.

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Davis und der Pastor der Gemeinde, Warren Carr, Protestbriefe von Südbaptisten aus dem ganzen Land. Ein Mann nannte Davis in seinem Brief ein „Kind des Teufels“ und wies sie an, ihrer Ordination zu entsagen. Nach einer vergeblichen Stellensuche bei Gemeinden der Südbaptisten, nahm Davis Kontakt zu der American Baptist Convention auf und wurde bald von der First Baptist Church in Readsboro, Vermont, berufen. Davis war achtzehn Jahre lang Pastorin in den nördlichen Baptistengemeinden, kehrte dann in ihre Heimatstadt Covington, Virginia, zurück, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2005 Co-Pastorin einer ökumenischen Gemeinde war.5 Fünf Jahre nach der Ordination von Addie Davis war Uvee Mdodana Arbouin die erste Frau, die von der Progressive National Baptist Convention ordiniert wurde. Ihr Ordinationsgottesdienst fand am 5. Oktober 1969 statt. Arbouin war Co-Pastorin der Zion Temple Baptist Church in Richmond Hill, New York.6 Ab 1975 ereigneten sich häufiger Ordinationen baptistischer Frauen in anderen Ländern. Die erste Frau, die in einer Baptistengemeinde der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ordiniert wurde, war Ursula Jöhrmann. Auf ihre Ordination 1975 folgte die von Carmen Rossol, die 1979 als erste Frau in Westdeutschland ordiniert wurde. Mit ihrem Mann wirkte sie in der Gemeinde Gummmersbach-Windhagen. Die Frauen durften anfänglich den Titel „Pastorin“ nicht verwenden, sondern wurden stattdessen als „theologische Mitarbeiterinnen“ bezeichnet. Erst 1992 beschloss der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, dass die Gemeinden den Titel „Pastorin“ für ihre ordinierten Frauen verwenden konnten.7 Marita Munro war die erste Frau, die von einer Baptistengemeinde in Australien ordiniert wurde. Als sie noch Studentin am Whitley College, dem Seminar der Baptisten in Victoria, war, machte sie bereits als Seelsorgerin in mehreren Gemeinden 5

John Pierce, „Addie Davis, First Woman Ordained as Southern Baptist Pastor, Dies at 88,“ December 9, 2005, http://old.abpnews.com/content/view/831/118/, aufgerufen am 10. August 2012. 6 Pamela A. Smoot, „‚Hear the Call‘: The Women’s Auxiliary of the Progressive National Baptist Convention, Inc.,“ Baptist History and Heritage, 56 / 1 (Spring 2011): 56. 7 Andrea Strübind, Email an die Verfasserin vom 15. August 2012.

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ihre Erfahrungen. Eine dieser Gemeinden, die ehrwürdige Collins Street Baptist Church, ordinierte sie am 1. Oktober 1978.8 Zwei Jahre später ordinierte die Convention of Philippine Baptist Churches Angelina Buensuceso; sie war somit die erste ordinierte Philippinin. Von 1938 bis 1965 war Buensuceso für fünf baptistische Gemeinden tätig und versah die Positionen einer assoziierten Pastorin, einer Chorleiterin und einer Pastorin. Anschließend begann sie eine Lehrtätigkeit und war von 1967 bis 1974 an der Fakultät der Central Philippine University tätig. Von 1974 bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1983 war Buensuceso Direktorin des Convention Baptist Bible College. 1980 wurde sie nach zweiundvierzig Jahren ihres Wirkens im Alter von dreiundsechzig Jahren ordiniert.9 Im Jahr 1992 wurden Ena González Garcia, Clara Rodés und Xiomara Gutiérrez Diaz von der „Bruderschaft der Baptistengemeinden in Kuba“ ordiniert.10 Im Jahr darauf schrieb die Baptist Convention of Nicaragua am 30. Januar 1993 Geschichte, als sie Carmen Pena Garay ordinierte, die Pastorin der HebronGemeinde war.11 Pastorin June Robertson wurde 1996 von der Launceston Memorial Baptist Church in Georgetown ordiniert. Damit wurde sie die erste baptistische Pastorin in Tasmanien.12 Am 25. März 2000 wurde Rebeca Montemayor López als erste mexikanische baptistische Frau ordiniert. Sie wurde in der Shalom Baptist Church in Mexiko-Stadt ordiniert.13 Einige Monate später, am 10. Juli 2000, war Sílvia da Silva Nogueira die erste baptistische Frau, die in Brasilien ordiniert wurde. Nach ihrer 8 Darren

Cronshaw, „A History of Women’s Ordination in the Baptist Union of Victoria,“ Whitley College, June 1998, http://www.baptist.org.au/site/­ DefaultSite/filesystem/documents/ABW_Resources/A%20History%20of%20 Women’s%20Ordination%20in%20the%20BUV%20Darren%20Cronshaw. pdf, aufgerufen am 10. August 2012. 9 Carla Gay A. Romarate-Knipel, „Angelina B. Buensuceso: Harbinger of Baptist Ordination of Women in the Philippines,“ Baptist History and Heritage, 41 / 1 (Winter 2006): 8–15. 10 „Recent Events Signal New Hope for Women in Ministry in Cuba,“ 25 February 1998. http://www.wfn.org/1998/02/msg00131.html, aufgerufen am 24. Juni 2006. 11 Folio, 10 / 4 (Spring 1993): 3. 12 Ibid., 14 / 4 (Fall 1997): 9. 13 „Baptist Briefs,“ Baptist Standard, 17 April 2000, http:www.baptiststandard. com/2000/4_17/pages/brief.html, aufgerufen am 14. Juni 2006.

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Ordination wurde ihre Gemeinde „aus dem Landesverband ausgeschlossen“.14 Statistische Angaben über baptistische Frauen, die als Pastorinnen wirken Es ist eine schwierige Aufgabe, die Zahl der baptistischen Frauen weltweit zu schätzen, die ordiniert wurden oder derzeit als Pastorinnen arbeiten. Selbst in den USA erweist es sich als schwierig, eine genaue Bewertung der Zahl ordinierter baptistischer Frauen vorzunehmen. Einige statistische Daten sind jedoch verfügbar. Die American Baptist Churches sammeln aus den angeschlossenen Gemeinden Informationen über die Positionen und das Geschlecht der Amtsträger(innen). Zum 7. August 2012 zählte dieser Gemeindebund 378 Frauen, die als Pastorinnen tätig waren, 46 als Interimpastorinnen, 37 als Co-Pastorinnen und 24, die neben dem Amt der Pastorin noch einer zweiten Arbeit nachgingen. Somit belief sich die Zahl auf insgesamt 485 Frauen.15 Unter moderaten baptistischen Gruppierungen, die aus dem Bund der Südbaptisten (Southern Baptist Convention = SBC ) hervorgegangen sind oder früher Verbindungen mit der SBC hatten, sind die Zahlen schwerer zu finden.16 Diese Gruppierungen tendieren dazu, keine guten Listen und Statistiken zu führen. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht wenige Gemeinden eine doppelte Mitgliedschaft, d. h. sowohl in der SBC als auch in der neuen Organisation, unterhalten.17 Eine inoffizielle Liste, die von der Organisation Baptist Women in Ministry (etwa: Baptistische Frauen 14

Carolyn Goodman Plampin, Email an Verfasserin vom 20. Juni 2006. ABC-USA Professional Female Summary, August 7, 2012. 16 Diese Gruppierungen sind „moderat“, weil die SBC als fundamentalistisch gilt. Unter anderen Faktoren ist die Ordination der Frau Stein des Anstoßes, weil sie innerhalb der SBC ausgeschlossen ist. Das wurde sogar in der im Jahre 2000 erfolgten Revision des Bekenntnisses „Baptist Faith and Message“ festgeschrieben (Anm. des Hg.). 17 Das geschieht, um zu vermeiden dass Familien auseinandergerissen werden oder bestehende Freundschaften zerbrechen, wenn etwa die Mehrheit einer Gemeinde für den Bruch mit der SBC eintritt, eine Minderheit aber trotzdem eingebunden bleiben möchte. Man spricht dann von „dual allignment“ (Anm. des Hg.). 15

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im Pastorenamt) für das Jahr 2012 geführt wird, wies 150 Pastorinnen auf, die der Allianz der Baptisten, der Baptist General Association of Virginia (BGAV), der Baptist General Convention of Texas (BGCT). und der Cooperative Baptist Fellowship (CBF) angehören. Von diesen 150 Frauen sind 106 als Pastorinnen und 44 als Co-Pastorinnen tätig. Wegen der doppelten Mitgliedschaft etlicher Gemeinden und wegen des Mangels an formalen Zugehörigkeitsmerkmalen ist eine Aufschlüsselung der Zahlen schwierig. Für das Jahr 2012 besteht die beste Schätzung jedoch darin, dass die Allianz der Baptisten 43 Frauen als Pastorinnen hat, die BGAV 25, die BGCT 25 und die CBF 90.18 Neben diesen gemäßigten Baptisten haben derzeit die Siebenten-Tags-Baptisten drei Frauen, die als Pastorinnen tätig sind. Statistische Informationen sind in keiner der afro-amerikanischen baptistischen Konventionen verfügbar. Jedoch dienen allein in der Stadt Memphis, Tennessee, drei Frauen als Pastorinnen in Gemeinden der National Baptist Convention. Gina Stewart ist Pastorin der Christ Missionary Baptist Church in South Memphis. Lynn Dandridge ist Pastorin der Central Baptist Church und Mary E. Moore ist seit 1998 Pastorin der New Salem Baptist Church.19 Dass Daten unvollständig sind macht es schwierig, Statistiken aufzustellen. Dennoch ist bekannt, dass es in den letzten Jahren zu einer erheblichen Zunahme von Frauen gekommen ist, die in pastoralen Diensten tätig sind. Im Jahr 2009 waren in den USA mindestens 526 baptistische Frauen als Pastorinnen und Co-Pastorinnen tätig. Drei Jahre später war die Zahl auf 638 gestiegen.20 Während die Zahl der Frauen, die im pastoralen Dienst stehen, dramatisch angestiegen ist, bleibt der Gesamtanteil der Baptistengemeinden, die eine Frau als Pastorin berufen haben, nach wie vor gering. Die baptistischen Körperschaften, von denen Sta18 Pamela

R. Durso, „Baptist Women in Ministry List of Women Pastors and Co-Pastors, 2012“ unveröffentliche Liste, 9. August 2012; Alliance of Baptists, „Congregations, Theological Schools, and Organizations,“ http://www.alliance­ ofbaptists.org/connect/congregations, aufgerufen am 9. August 2012. 19 Barbara Bradley, „Dynamic Pastor Dr. Gina Stewart Leads the Way as More Women Shepherd Black Protestant Flocks,“ The Commerical Appeal, July 18, 2010, http://www.commercialappeal.com/news/2010/jul/18/spreading-theword/, aufgerufen am 10. August 2012. 20 Durso, „Baptist Women in Ministry List of Pastors and Co-Pastors, 2012.

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tistiken erreichbar waren (ABC-USA, Allianz, BGAV, BGCT und CBF), haben zusammengenommen weniger als 5 % ihrer Gemeinden, die derzeit von Frauen pastoral versorgt werden. Nur in drei dieser Organisationen gibt es mehr Gemeinden: in der Allianz der Baptisten 31 %, in der ABAC-USA 9,8 % und in der CBF 5 %.21 Während der Gesamtanteil der Baptistengemeinden, die bereit sind, eine Frau als Pastorin zu berufen, immer noch gering ist, hat die Ordination von baptistischen Frauen seit den frühen 1960er Jahren spürbar zugenommen. Sarah Frances Anders, damals Professorin für Soziologie am Louisiana College, die statistische Daten über baptistische Frauen dokumentierte, hatte 1997 bereits 1.225 Ordinationen von Frauen im Bund der Südbaptisten erfasst.22 Im Jahr 2005 begann die Organisation Baptist Women in Ministry Aufzeichnungen über Ordinationen zu führen. Im Jahr 2007 schätzten Eileen Campbell-Reed und Pamela R. Durso in ihrem Bericht „Der Stand der Frauen im Leben der Baptisten 2007“, dass mindestens 2.000 Ordinationen stattgefunden hatten.23 Seither hat Baptist Women in Ministry weiter Informationen über Ordinationen gesammelt. Zu den dokumentierten Ordinationen zählen 45 im Jahr 2011, 42 im Jahr 2010 und 55 im Jahr 2009.24 Da nicht alle Informationen übermittelt oder dokumentiert werden, sind diese Zahlen als gering anzusehen. Aber nimmt man alle Informationen zusammen und führt eine fundierte Schätzung durch, beträgt die Gesamtzahl der Frauen, die seit 1964 in den meist im Süden gelegenen Baptistengemeinden ordiniert wurden, mehr als 2.200. Zählt man dazu Frauen, die in anderen baptistischen Bünden ordiniert wurden25, steigt diese Zahl vermutlich um das Doppelte. Eine Schätzung der Ordinationszahlen baptistischer Frauen weltweit ist derzeit 21

Eileen Campbell-Reed, „Baptists in Tension: The Status of Women in Leadership and Ministry, 2012,“ Review & Expositor 110 / 2 (Spring 2013). 22 Sarah Frances Anders, „Historical Record-Keeping Essential for WIM,“ Folio 15 / 2 (Fall, 1997): 6. 23 Campbell-Reed and Durso, „The State of Women in Baptist Life, 2007,“ 11. 24 Pamela R. Durso, „Baptist Women in Ministry List of Ordinations, 2011,“ unveröffentlichte Liste vom 9. August 2012. 25 Genannt seien American Baptists, Free Will Baptists, National Baptists, Progressive National Baptists, and Seventh Day Baptists.

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nicht möglich, wäre aber sicherlich ein interessantes Projekt für eine junge Wissenschaftlerin, die an der Erforschung baptistischer Frauen im Pastorenamt Interesse zeigt. Die große Mehrheit der kürzlich ordinierten baptistischen Frauen ist in Sonderämtern tätig oder gehört zum Mitarbeiterstab einer Gemeinde, arbeitet mit Kindern oder Jugendlichen oder dient als assoziierte Pastorin und ist Teil eines größeren Trends im Leben der Baptisten. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts begannen Baptisten, „ministers“ (= Diener der Kirche), Frauen und Männer, für andere Positionen als das Pastorat zu ordinieren, und dieser Trend spiegelte eine Änderung des baptistischen Verständnisses des Pastorendienstes wider. Wenn Baptisten während ihrer Geschichte das Wort „minister“ hörten, dachten sie an einen Pastor oder Prediger. Um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde jedoch das Verständnis der Rolle kirchlicher Mitarbeiter (außer der des Pastors) in der größeren christlichen Gemeinschaft und in den Baptistengemeinden neu definiert, da immer mehr Gemeinden damit begannen, neue Mitarbeiter einzustellen, die ihre Musikprogramme leiteten und planten, mit Vorschulkindern, Kindern, Jugendlichen, Studenten und älteren Erwachsenen arbeiteten und Verwaltung, Ausund Fortbildung und Freizeitaktivitäten beaufsichtigten. Schließlich haben einige baptistische Gemeinden diese Mitarbeiter als „minister“ anerkannt und öffentlich ausgewiesen. Manchmal zogen diese neuen Positionsbezeichnungen eine Ordination nach sich. Diese veränderte Haltung gegenüber „ministers“ und dem davon abgeleiteten „ministry“, also kirchlichen Dienern und Diensten, führte dazu, dass unter den Baptisten Tausende von Frauen den Titel „minister“ erhielten und ordiniert wurden. Baptistischer Widerstand gegen die Ordination von Frauen In den letzten dreißig Jahren haben viele baptistische Denominationen in den USA und auf der ganzen Welt damit begonnen, Frauen als Predigerinnen des Evangeliums anzuerkennen und sie zu ordinieren. Viele baptistische Gruppen sind jedoch weiterhin gegen Pastorinnen. Die ursprüngliche Free Will Baptist Denomination („Baptisten des Freien Willens“), die ihre Wurzeln auf die frühen Free Will Baptists in Neu England zurückführt und die schon früh Frauen im Pastorenamt unterstützte, begann in den 130

1950er Jahren, Frauen aus Führungspositionen auszuschließen. Während die Denomination keine offizielle Position gegen Pastorinnen und gegen die Ordinationen von Frauen bezogen hat, wurden seither Frauen nur selten Führungsmöglichkeiten in den Gemeinden angeboten oder zur Ordination zugelassen. Auch der Bund „Nationale Baptisten des Freien Willens“ sahen es ungern, dass Frauen in Positionen tätig wurden, die eine Ordination voraussetzt. In den letzten Jahrzehnten haben einige Vereinigungen dieses Bundes Frauen zum Dienst am Evangelium ordiniert, aber die meisten widersprechen dieser Praxis.26 Die offizielle Politik der National Baptist Convention of America, der zweitgrößten afroamerikanischen Baptistengemeinschaft, lautet, dass Frauen nicht ordiniert werden sollten.27 Die Südbaptisten bekräftigten 1984 ihren Widerstand gegen die Ordination von Frauen in einer Entschließung, die den Titel trug „Über die Ordination und die Rolle der Frau im kirchlichen Dienst“.28 Im Jahr 2000 überarbeitete die SBC ihre Bekenntniserklärung Baptist Faith and Message, so dass sie jetzt eine eindeutige Verurteilung der Ordination von Frauen und ihres Dienstes als Pastorin enthält: „Während sowohl Männer als auch Frauen für den Dienst in der Kirche mit Gaben ausgestattet sind, ist das Amt des Pastors auf Männer beschränkt, wie in der Schrift bestimmt.“ Fazit Offizielle und anerkannte Amtsführung baptistischer Frauen ist auf dem Vormarsch. Sie machen langsam aber stetig Fortschritte bei der Suche nach Gemeinden, die ihre gottgegebenen Gaben bestätigen und feiern. Zahlreiche kulturelle, theologische und konfessionelle Faktoren haben zu einer wachsenden Zahl von Frauen beigetragen, die als Pastorinnen dienen. Baptisten und Baptistengemeinden wurden durch die Frauenbewegung der 1970er Jahre und durch die zunehmende Sichtbarkeit von Frauen 26

J. Matthew Pinson, A Free Will Baptist Handbook: Heritage, Beliefs, Ministries (Nashville: Randall House Publications, 1998) 76. 27 Stephen John Thurston, der Präsident der National Baptist Convention of America, in einem Telefon-Interview mit der Autorin am 29. Juni 2006. 28 Annual, Southern Baptist Convention, 1984, 65.

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in allen Facetten des öffentlichen Lebens von der Politik über die Medizin bis zur Wirtschaft beeinflusst. Neuinterpretationen und neue Einsichten in die biblischen und theologischen Lehren über Geschlechterrollen haben ebenfalls zu mehr Offenheit im Leben der Baptisten beigetragen. Man muss jedoch auch die andere Realität anerkennen, dass nämlich traurigerweise die baptistischen Bünde und Gemeinden Hunderte, vielleicht Tausende Frauen verloren haben, die aus ihrer angestammten Gemeinde geflohen und zu anderen Kirchen gegangen sind, die ihre von Gott gegebene Berufung anerkannten: Methodisten, Presbyterianer, Jünger Christi und die Vereinigte Kirche Christi (United Church of Christ). Wie steht es um die Zukunft für baptistische Frauen im ordinierten Dienst? Die schlechte Nachricht zuerst. Der Widerstand gegen Predigerinnen und Pastorinnen wird in einigen Kreisen so schnell nicht aufhören. Die gute Nachricht ist jedoch, dass sich angesichts des Trends der letzten fünfzig, insbesondere der letzten zwanzig Jahre, die Baptisten in den nächsten zehn Jahren den anderen protestantischen Kirchen annähern und mindestens 10 % aller Baptistenpastoren Frauen sein werden. Die Zahl der ordinierten baptistischen Frauen, die in allen Funktionen dienen – als kirchliche Mitarbeiterinnen, als Seelsorgerinnen in speziellen Ämtern, als Mitwirkende in gemeinnützigen Organisationen, als Missionarinnen und als Professorinnen – ist sicherlich seit der Ordination von Addie Davis im Jahr 1964 dramatisch angestiegen. Doch das gesamte Spektrum des Dienstes ordinierter Frauen bedarf sicherlich noch mehr Aufmerksamkeit und Forschung. Die Geschichten einzelner baptistischer Frauen müssen erhalten, erzählt und interpretiert werden, um die Gemeinden über die Begabung und Bereitschaft von Pastorinnen aufzuklären und damit Mädchen und junge Frauen, die einen Ruf zu einem vollzeitlichen Dienst ernsthaft erwägen, in ihrer Entscheidungsfindung durch Vorbilder ermutigt werden.

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Eine kurze Geschichte der Baptistischen Union der Frauen des Südwestpazifiks Julie Belding Der Baptistische Bund der Frauen des Südwestpazifiks (nor­ malerweise als BWUSWP abgekürzt und informell als „Bizz-wup“ bezeichnet) gehört zu einer der sieben Regionen (auch „kontinentale Unionen“ genannt) des Frauen-Ressorts des Baptistischen Weltbundes (BWA) und wurde 1968 gegründet. Die Arbeit baptistischer Frauen geht jedoch viel weiter zurück. Schon bei der Bildung des Baptistischen Weltbundes 1905 konnte man ahnen, was kommen würde. Für dessen Gründung wurden im späten achtzehnten Jahrhundert bereits die Weichen gestellt, als britische Baptisten sich intensiv mit der ganzen Welt Gottes beschäftigten. Im Jahre 1790 hatte der Pionier der Weltmission, William Carey (1761–1834), darauf bestanden, dass Christen aller Generationen unter dem göttlichen Befehl stünden, allen Völkern das Evangelium der Erlösung zu verkünden. Während von britischen Baptisten zu dieser Zeit keine konkreten Maßnahmen ergriffen wurden, waren ihre Anführer gleichwohl aufgerüttelt. Nach nur zwei Jahren erfolgte bereits der organisatorische Anlauf für eine weltweite missionarische Eroberung, und William Carey sollte der erste Missionar der ersten ausländischen Missionsgesellschaft werden. Die Zahl der Baptisten hatte um 1840 stark zugenommen, und ihre Missionare waren geografisch nach Asien, Afrika, Australien und zu den Pazifikinseln vorgedrungen. Auch amerikanische Baptisten hatten eine Auslandsmission organisiert. Ein visionärer baptistischer Pastor aus Virginia schrieb 1843 von seinen Träumen für eine Weltgemeinschaft der Baptisten. Am 30. Juli 1896 und erneut im Dezember 1900 forderte Dr. Robert H. Pitt (1854–1937), Herausgeber der Zeitschrift Religious Herold, die Baptisten der Welt zu einem Treffen auf, bei dem ein Weltbund organisiert werden sollte. Ein anderer Herausgeber, Dr. John N. Prestridge (1853–1913) aus Kentucky, unterstützte seinen Kollegen, so dass der Britische Baptistenbund 1904 die Baptisten der Welt einlud, den ersten Kongress in London abzuhalten. Im Jahr 1905 kamen 3000 Delegierte aus 24 Ländern in London zusammen, und der Baptistische Weltbund wurde gegründet. 133

Es standen jedoch schwierige Zeiten bevor. Zwei Weltkriege und viele kleinere Konflikte spalteten den Weltbund, weil seine Jugend auf entgegengesetzten Einsatzfeldern kämpfte. Doch „der Funke der Liebe und Brüderlichkeit, der durch den Londoner Kongress von 1905 entzündet worden war, sollte nicht ausgelöscht werden.“1 Heute vereinigt der Weltbund 238 baptistische Gruppierungen, die insgesamt 48 Millionen getaufte Gläubige in 124 Ländern repräsentieren. Die erklärten Ziele waren und sind 1. Förderung von Mission und Evangelisation, 2. Förderung des Gottesdienstes, 3. Förderung der Gemeinschaft und Einheit, 4. Hilfen für bedürftige Menschen, 5. Verteidigung der Menschenrechte und Gerechtigkeit, 6. Förderung theologischer Reflexion.2

Baptistische Frauen Für diesen ersten Kongress waren 219 Frauen aus Ländern außerhalb Großbritanniens sowie zwei Frauenorganisationen aus den USA offiziell registriert – die „Gesellschaft Baptistischer Frauen für Außenmission“ aus Boston und die „Gesellschaft Baptistischer Frauen für Heimatmission“ aus Chicago. In einer Rede an alle Delegierten sagte Lucy Waterbury (1861– 1949)3 aus Boston: „Die Erde wird für unseren Meister kein perfekter Garten sein, außer wenn die Rosen und Lilien Europas und Amerikas dazu kommen. Er wird die Kirschblüten Japans finden, die Lotusblüten Indiens und die kostbaren schwarzen Stiefmütterchen Afrikas.“ Auf dem Londoner Kongress wurde keine besondere Anstrengung unternommen, um ein separates 1 Meine

Quelle für die frühe Geschichte ist ein kleines, undatiertes Buch mit dem Titel „Jesus Shall Reign“ – Highlights and Hopes of the Women United in the Baptist World Alliance. Es wurde von der North American Baptist Women’s Union vermutlich um 1950 herausgegeben. 2 Vgl. BWA’s website [email protected] 3 Lucy Whitehead McGill heiratete 1881 den baptistischen Pastor Norman W. Waterbury; er starb1886. Zwanzig Jahre später heiratete sie Henry W. Peabody, der 1908 verstarb. Man erinnert sich an sie, weil sie sich für einen jährlichen Gebetstag für die Mission einsetzte, der als Weltgebetstag bekannt wurde.

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Frauentreffen abzuhalten, aber bestimmte Frauen beobachteten die Beratungen, hörten den Botschaften zu und gingen nach Hause, um zu meditieren und zu beten. Auf dem zweiten baptistischen Kongress in Philadelphia wurde 1911 an einem Nachmittag ein Treffen für Frauen organisiert. Dreitausend Frauen waren bei dieser ersten Frauenversammlung unter der Leitung von A. G. Lester anwesend. Grüße wurden von Frauen aus vielen Ländern überbracht. Fannie Heck (1862–1915)4 aus den USA, eine der Hauptrednerinnen, sagte: „Dieses Treffen wird wenig bedeuten, wenn wir uns vertagen, auseinandergehen, und das war es dann. Wenn wir jedoch durch unsere Liebe und unser Mitgefühl so miteinander in Kontakt bleiben, dass baptistische Frauen in gewissem Sinn, ja im größeren, notwendigen Sinn eine Einheit auf der ganzen Welt darstellen, wird dieses Treffen sehr viel bedeuten.“ Bei diesem Treffen wurde das erste Frauenkomitee des Weltbundes unter Vorsitz von Martha Hilliard MacLeish (1856–1947)5 aus Chicago organisiert und ein Rundbrief ins Leben gerufen. Der dritte BWA-Kongress wurde 1923 in Stockholm, Schweden, abgehalten. Dort wurden die durch den Ersten Weltkrieg angespannten Beziehungen wieder gefestigt. Auf einer Sitzung des Frauenkomitees wurden drei Empfehlungen an die Exekutive des Weltbundes gerichtet: 7. dass der Frauenausschuss bestehen bleiben sollte; 8. dass zwei seiner Mitglieder durch den Nominierungsausschuss in das Exekutivkomitee des Weltbundes aufgenommen ­werden sollten; 9. dass kein Beschluss des Frauenausschusses zu wichtigen politischen Maßnahmen bis zur Bestätigung durch die Exekutive wirksam sein sollte.

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Sie war die erste Präsidentin der Union Baptistischer Frauen für Außenmission der Südbaptisten (1895–1899, 1906–1915). 5 Sie war mit dem Kaufmann und einem der Gründer der Universität von Chicago, Andrew MacLeish aus Chicago, verheiratet. Bei der Organisierung der Amerikanischen Gesellschaft Baptistischer Frauen für Außenmission war sie die treibende Kraft. Mit Jane Addams, der ersten Amerikanerin, die den Friedensnobelpreis erhielt, war sie eng befreundet. Diese Freundschaft half bei der Gründung des „Hull House“ für unterprivilegierte Menschen.

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Auf dem vierten BWA-Kongress in Toronto wurde 1928 ein Sonderkomitee ernannt, um „das Empfinden baptistischer Frauen in aller Welt zugunsten von Frieden und Abrüstung zu entwickeln und auszudrücken.“ Es wurde jedoch auch vereinbart, dass Frauen in das Exekutivkomitee des Weltbundes berufen werden sollten. Wegen dieser Entscheidung schien es nicht notwendig zu sein, eine eigene Organisation beizubehalten. So wurde das 1911 geborene Frauenkomitee erst 17 Jahre später wieder aufgelöst. Auf dem 5. BWA-Kongress in Berlin im Jahr 1934 wurde die Verfassung des Weltbundes dahingehend geändert, dass „nicht weniger als fünf Frauen“ dem Exekutivkomitee angehören sollten. Es wurde ein Frauentreffen durchgeführt, das von Dr. Rushbrook (1870–1947), dem Sekretär des Weltbundes, geplant war. Neunzehn Frauen beantworteten den Namensaufruf, aber man konnte Unruhe spüren. Ein Absatz von Dr. Rushbrooks Beobachtungen lautet: Ein gewisser Dienst, besonders für den Frieden, wurde auch von den Frauen geleistet, und es hat eine Schwäche in unserer Organisation aufgezeigt. Nach Meinung vieler hätte mehr und bessere Arbeit geleistet werden können, wenn es einen ständigen Ausschuss gegeben hätte, der die Frauen so führt, wie der Jugendausschusses die Jugend führt; auf diesem Kongress hatte die Exekutive bereits eine Verfassungsänderung angekündigt, damit sicher ist, dass künftig eine ausreichende Anzahl von Frauen zur Verfügung steht, um ein Sondergremium zu ermöglichen. Geist ist mehr als Organisation, aber wir möchten, dass unsere Organisation den Geist unseres (baptistischen) Volkes voll zum Ausdruck bringt!

Der sechste BWA-Kongress fand 1939 in Atlanta, USA, statt, und es wurde empfohlen: Dass die Frauen im Exekutivkomitee ein Frauenkomitee bilden sollten … und dass sie die Befugnis erhalten, eine gleiche Anzahl anderer Frauen zu kooptieren, und dass sie dem Exekutivkomitee Bericht erstatten.

Dr. Rushbrook machte wieder einige Beobachtungen: „Es wurde Kritik geäußert, dass [die Frauen] angesichts ihrer Stärke in den Gemeinden kaum einen gerechten Anteil hatten […]. Ich bin geneigt, die Überzeugungskraft dieser Kritik zumindest teilweise zuzugeben, aber das neu eingesetzte Frauenkomitee unter 136

der Leitung von Eva Brown6 wird es künftig unmöglich machen, ihre Forderungen zu übersehen.“ So war das Frauenkomitee des Weltbundes jetzt, zumindest auf dem Papier, in seiner Mitgliedschaft weltweit aufgestellt. Einen Monat nachdem die Delegierten nach Hause zurückgekehrt waren, brach der Zweite Weltkrieg aus. Im Chaos, was folgte, wurde das Frauenkomitee fast vergessen. Aber Eva Brown betete, plante und korrespondierte mit Frauen in den Nationen, die nicht durch Feindseligkeiten abgeschnitten waren. Nach dem Krieg fand 1947 der siebte BWA-Kongress in Kopenhagen statt, und Dr. Rushbrook, der jetzt Präsident des Weltbundes war, plante eine Versammlung für Frauen, bei der Brown zu Wort kommen sollte. Rushbrooks plötzlicher Tod bedeutete, dass die weiblichen Führungskräfte das Programm neu organisieren mussten. Es fand keine Geschäftssitzung des Frauenkomitees statt, und die Sektionssitzung wurde ohne Wahl von Amtsträgern geschlossen. Aber in den Händen der drei Mitglieder des Exekutivausschusses – Eva Brown, Marion Bates und Olive Brinson Martin – lag die Zukunft des Frauenkomitees. Im August 1948 traf sich dieser Ausschuss in London und bildete erneut ein Komitee für die Arbeit unter Frauen. Dieses Mal bestand das Komitee aus je zwei Vertreterinnen aus Afrika, Asien, Australien, Europa und Südamerika sowie vier Vertretern aus Nordamerika. Olive Martin wurde später zur Vorsitzenden dieses erweiterten Ausschusses ernannt. Die Europäische Baptistische Frauenunion Im Zusammenhang mit dieser Exekutivsitzung des Weltbundes im Jahr 1948 wurde die Europäische Baptistische Frauenunion als neue Einheit innerhalb des Frauenkomitees organisiert und nahm ihre eigene Verfassung an. Ein Flugblatt enthielt folgende Sätze: „Frauen, deren Ehemänner und Söhne während des Krieges auf verschiedenen Seiten gekämpft hatten, standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber – und entdeckten zwei Dinge: Zum einen erkannten sie ein Verlangen nach mehr Gemeinschaft und Versöhnung; andererseits offenbarten viele 6

Sie war die Ehefrau des britischen Abgeordneten Ernest Brown (1881–1962), der in verschiedenen Funktionen auch als Minister tätig war.

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der zwölf Frauen ihre Gefühle der Wut und Verbitterung – das Erbe des Krieges. Könnten in dieser kleinen Gruppe Fortschritte in Richtung auf Versöhnung erzielt werden?« Die folgende Aussage von Blanche Sydnor White (1891–1974), die von den Frauen abgegeben wurde, die sich 1948 in London trafen, und die aus dem Lied „Gesegnet sei das Band“ zitiert wurde, zeigte, dass die Gemeinschaft mit Gott die Voraussetzung für Gemeinschaft und Dienst unter seinen Nachfolgern war: Angesichts der Welt… heute, mit ihrem verzweifelten Verlangen nach Glauben, Hoffnung und Liebe, wenden wir uns an unseren himmlischen Vater zwecks Reinigung, Orientierung und Kraft. Er hat große Segnungen für uns bereit, die er uns senden möchte, die wir jedoch nur als Antwort auf unsere Gebete empfangen können. Lasst uns als europäische Frauen die erste Novemberwoche als Gebetswoche begehen. Wir beten gemeinsam füreinander und für die ganze Welt. Nie ist die Gemeinschaft tiefer, reicher und stärker als wenn wir wie ein Herz und eine Seele zusammen beten.7

Baptistische Frauen werden global Baptistische Frauen bewegten sich stetig in Richtung einer Weltorganisation. Von den offensichtlichen Misserfolgen der Vergangenheit nicht abgeschreckt und mit großen Hoffnungen und globalen Plänen wurde das dritte Frauenkomitee des Weltbundes ins Leben gerufen. Inspiriert von der Gründung der Europäischen Frauenunion beauftragte das Exekutivkomitee das Frauenkomitee, die Frauen auf allen Kontinenten zu organisieren. Auf dem achten BWA-Kongress, der 1950 in Cleveland (USA) stattfand, brachte das Frauenkomitee der BWA-Exekutive einen Vorschlag zur Kenntnis, dass die Frauen zur Arbeit des Weltbundes folgendes beitragen könnten: • Förderung enger Gemeinschaft, tieferes Mitgefühl und ein umfassendes Verständnis unter baptistischen Frauen auf der ganzen Welt; • Ermutigung, sich zu christlichen Diensten zusammenzuschließen; • Informationsaustausch über Aktivitäten, Ideen und Literatur. 7

Zitiert in: The European Baptist Women’s Union: Our Story 1948–1998, von Yona Pusey, 1998, 9.

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In Cleveland wurde der Appell der Nationen von Frauenvertretern aus Großbritannien, Kanada, Dänemark, Norwegen, Italien, Deutschland, Brasilien, Nigeria, China, Finnland, Hawaii, Indien und den USA beantwortet. Mitglieder des Frauen-­Ausschusses erörterten die Gründung anderer kontinentaler Unionen. Sie stimmten darin überein, dass die Sekretärin vierteljährlich einen Rundbrief versenden würde. Außerdem beschlossen sie, einen jährlichen Weltgebetstag durchzuführen, was sich zu einer Tradition entwickelte, die für die Frauenabteilung des Weltbundes von zentraler Bedeutung blieb. Am ersten Montag im November versammeln sich baptistische Frauen auf der ganzen Welt zum Gebet für weltweite soziale und evangelistische Nöte. Sie lernen von ihren Visionen und Kämpfen und geben und nehmen Gaben für besondere Projekte. Die Nordamerikanische Baptistische Frauen-Union Eine dritte kontinentale Union stand kurz vor ihrer Gründung, um der australischen und europäischen Frauenunion zur Seite zu treten, so dass die Tatkraft baptistischer Frauen auf drei Kontinenten zusammengeführt und geregelt werden konnte. Im April 1951 wurde die North American Baptist Women’s Union (NABWU), die nordamerikanische baptistische Frauen-Union gegründet. Ein Budget für 1951 / 52 wurde verabschiedet, der baptistische Gebetstag für Dezember 1951 wurde hervorgehoben, und Pläne wurden geschmiedet, damit diese neueste kontinentale Union 1953 zusammentreten könnte. Die NABWU war sich ihrer bevorzugten Stellung im Vergleich zu den baptistischen Frauen Europas bewusst, führten diese doch nach dem Krieg ein Leben in unglaublicher Not. „Von besonderer Dringlichkeit“, vermerkte die Vorsitzende der NABWU, Marion Bates, „ist die Vorbereitung unseres zweiten weltweiten baptistischen Gebetstages am Freitag, dem 7. Dezember. Es ist zu hoffen, dass sich jede Mitgliedsgruppe dieses Jahr treffen wird, um Gottes Versprechen für die Gebetsanliegen in Anspruch zu nehmen.“ Es wurde vorgeschlagen, am Gebetstag eine Sammlung zu erheben, um die Verwaltungskosten der Union zu finanzieren. Außerdem wollte man mit der Sammlung auch den lateinamerikanischen Frauen helfen, die 1952 eine eigene Union bilden wollten. 139

„Sehr wenige, die jetzt leben“, sagte Marion Bates, „hatten das Privileg, bei der Geburt des Baptistischen Weltbundes dabei zu sein. Was für eine Zeit der Begeisterung und Erregung war das!“ Sie wies darauf hin, dass jede Einzelne ihrer Zuhörerinnen automatisch ein Gründungsmitglied der NABWU sei und die Möglichkeit habe, an der ersten Hauptversammlung im November 1953 teilzunehmen. Eine Pionierin der Frauenabteilung war Lois Chapple, ehemalige Sekretärin des BWA-Frauenkomitees. 1956 schrieb sie: „Wenn unsere kontinentalen Unionen ihre beste Arbeit verrichten und ihre höchste Funktion erfüllen sollen, dürfen wir niemals die Tatsache aus den Augen verlieren, dass sie Teil eines großen Ganzen sind und zu einer Weltgemeinschaft baptistischer Frauen gehören. Wir müssen unsere Fenster zur Welt immer offen halten. “8 Die Baptistische Frauenunion im Südwestpazifik 1955 wurde die Australasia Baptist Women’s Union (bestehend aus Australien und Neuseeland) gegründet; jedoch fehlten der Historikerin Rena Smith zufolge die organisatorischen Möglichkeiten und die treibende Kraft, „jedes Jahr mehr als nur Gebetsmaterial für den Gebetstag zu verbreiten.“9 Als die Präsidentin der Frauenabteilung, Marion Bates aus Kanada, zusammen mit Mrs. Church Australien und Neuseeland bereisten, erkannten beide, dass die Frauen dieser Region hinter den anderen kontinentalen Frauenunionen in der Arbeit baptistischer Frauen zurückstanden. Daher ernannte die Frauenabteilung Mitglieder mit besonderen Befugnissen, Phyllis McIntosh aus Australien und Esme Denison aus Neuseeland. 1965 nahmen diese beiden Frauen zusammen mit Mrs. Church und Margaret Schroeder an dem Treffen der Frauenabteilung in Florida (USA) teil, und so begann ein Triumvirat, das in den kommenden Jahren ein Wachstum der Mitgliederzahlen bewirken und so eine Kraft in der Union darstellen sollte. Der Baptistische Weltbund war inzwischen in fünf politische Regionen unterteilt: Asien, Nordamerika, Südamerika, Europa 8 Zitiert

in dem Buch von Rena Smith, A History of Baptist Women in the South West Pacific, 1968–1993. 9 Ibid.

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und Afrika. Der Südwestpazifik wurde von der BWA-Verwaltung als Teil Asiens betrachtet, weil man vorerst keine andere Möglichkeit der „Verortung“ erkannte. Doch Asien war zu groß und von der Region zu weit entfernt. Darüber hinaus schien der Südwestpazifik politisch und ethnisch nicht in den asiatischen Raum zu passen. Baptistische Leiterinnen in der Region entschieden, dass die Frauen im Südwestpazifik ihre eigene Organisation brauchten. Dies war jedoch aus administrativer Sicht unangemessen, weil der Weltbund weiterhin aus fünf Regionen bestand, während das Ressorts für Frauen jetzt sechs Regionen umfassen würde.10 Gleichwohl wurde 1968 mit Unterstützung der Mandatsträgerinnen der Frauenabteilung ein Treffen nach Melbourne einberufen. Jetzt endlich wurde die Baptistische Frauenunion des Südwestpazifiks gegründet. Seiner Verfassung gemäß bestand der Zweck darin, „baptistische Frauen im Südwesten des Pazifiks mit Informationen über den baptistischen Weltbund zu versorgen und eine engere Beziehung zwischen baptistischen Frauen unserer Gegend und baptistischen Frauen in anderen Teilen der Welt zu fördern.“ Esme Denison schrieb: „Bei der Änderung des Namens hatten wir einen größeren Weitblick, um PNG [= Papua-Neuguinea] und Irian Jaya einzubeziehen.“ Sie fügte hinzu, dass die ersten fünf Jahre „harte Arbeit“ gewesen seien. Jede Präsidentin hatte eine Amtszeit von fünf Jahren, und die ersten neun Präsidentinnen wechselten zwischen australischen und neuseeländischen Frauen. 1969 wurde die erste Ausgabe von Involved veröffentlicht. Dies war der BWUSWP-Rundbrief mit dem Untertitel „Jede baptistische Frau INVOLVIERT für Christus im Südwestpazifik“. Dieser Rundbrief hatte eine anfängliche Auflage von 7000 Exemplaren. Wegen Schwierigkeiten der Verteilung und zur Reduzierung der Kosten wurde er jedoch nach drei Jahrzehnten ein- und auf E-Mails umgestellt. Die ersten Jahre der BWUSWP fielen mit dem missionarischen Verstoß aus Australien und Neuseeland nach Papua-Neuguinea (PNG) zusammen, und die Teilnahme von Frauen aus PNG an der ersten Generalversammlung löste große Freude in den Entsendeländern aus. Die Frauen der BWUSP mussten so viel voneinander lernen, wie sie über den Rest der Welt lernen 10

Später kam noch die Karibik als siebte Region hinzu.

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mussten, und die Generalversammlungen gaben die Gelegenheit und den Anstoß für dieses Lernen. Margaret Schroeder hatte sich mit Missionarinnen in PNG, Irian Jaya, Indonesien und auf den Salomon Inseln in Verbindung gesetzt und angefragt, ob sie Teil der BWUSWP werden und am Weltgebetstag der baptistischen Frauen teilnehmen möchten. „Die Antwort“, schrieb sie, „war ein überwältigendes ‚Ja!‘“ 1972 besuchte Margaret Schroeder PNG; es war das erste Mal, dass eine Vertreterin der BWA-Frauenabteilung diesem Gebiet einen Besuch abstattete. In ihrem Bericht schrieb sie: Als ich [die Frauen] einträchtig im Gebet hörte und wie sie dankten, als sie erkannten, dass auch sie Teil dieser wunderbaren Familie waren, war es wie ein Lobgesang an unseren himmlischen Vater. Ich hielt ein süßes, warmes, nacktes, vier Tage altes Baby in meinen Armen und dachte: ‚Für dich trage auch ich Verantwortung, und was du in Zukunft werden wirst, ist auch meine Sorge.‘ Ja, die Kleine und Hunderte wie sie, hängen von unseren Gebeten und unseren Gaben für die Menschen in dieser Region der Welt ab.

Die Berichte vom jährlichen Gebetstag waren erstaunlich. Missionare schrieben, dass Frauen viele Meilen zurückgelegt hatten, um zum ersten Mal am Gebet teilzunehmen. 400 Frauen besuchten die erste Gebetsversammlung in Tekin in PNG, und zum ersten Mal beteten schüchterne Frauen laut. In Baiyer River geschah es zum ersten Mal, dass sich Frauen untereinander zum Gebet getroffen hatten, und es drängten sich so viele, dass die Kirche geschlossen werden musste. In Irian Jaya waren 370 Frauen bei drei separaten Treffen anwesend, wobei das Programm in den westlichen Dani-Dialekt übersetzt wurde. Die Jahre 1973 bis 1978 Im Oktober 1973 fand im baptistischen Tabernakel zu Auckland die erste Generalversammlung der BWUSWP statt. Anwesend waren dreihundertfünfzig Frauen aus Australien, Neuseeland, Irian Jaya und PNG sowie Mandatsträgerinnen der BWA-Frauen­abteilung. Von einem riesigen Banner an der Rückwand war das alles beherrschende Thema zu lesen: Jesus ist Herr. Auf dieser Versammlung wurde Phyllis McIntosh zur Präsidentin gewählt. Von Anfang an war sie in die Arbeit der Union ein142

gebunden gewesen und hatte an dem Treffen der Frauenabteilung in Miami im Jahr 1965 teilgenommen. Zusammen mit Margaret Schroeder und Esme Denison hatte sie von einem Tag geträumt, an dem eine Union existieren würde, die alle ihre Frauen im Südwestpazifik einbindet. Über ihre vielen Kontakte mit den Frauen der Union schrieb Phyllis McIntosh, dass ein Besuch der Missionsstationen unter Ureinwohnern (Aborigines) 1976 ein Höhepunkt ihrer Amtszeit war. Sie sagte: „Ich habe erfahren, dass unsere Frauen in der Mission stets auf Gebete für Bewahrung und Mut in Gefahren und Trost in Einsamkeit angewiesen sind.“ Sie fügte fragend hinzu:, „Können Sie sich meine Gefühle vorstellen, als ich 1975 auf dem Stockholmer Kongress [des Weltbundes] war und vorn auf dem Podium stand, um Frauen aus PNG, Irian Jaya, Australien und Neuseeland vorzustellen, darunter eine Maori-Frau? Der Traum, den unsere Frauen in Miami hatten, war fast Realität geworden.“ Die Jahre 1978 bis 1983 Die zweite Versammlung der BWUSWP wurde 1978 in Melbourne am Whitley College abgehalten, dem Theologischen Seminar der Baptisten in Victoria. Joyce Nicholson, die zehn Jahre zuvor an der Gründungsversammlung der Union teilgenommen hatte, wurde für die nächsten fünf Jahre zur Präsidentin der BWUSWP gewählt. Anwesend waren 233 Frauen aus allen Ländern der Union sowie Fidschi. Aber es gab eine Tragödie. Bindi Doris aus dem Nördlichen Territorium (Northern Territory), eine Ureinwohnerin, starb in der ersten Nacht. Die scheidende Präsidentin Phyllis McIntosh beschrieb, was dann geschah: Während die Abkündigung gemacht wurde, hielt sich eine Gruppe von Maori-Frauen an den Händen und betete leise. Eine andere Aboriginal, Rosaleen, die noch ein kleines Mädchen war, zeigte die Wirklichkeit ihres Glaubens, als sie auf wunderbare Weise an dem Treffen teilnahm. Wenn eine Aboriginal eine tote Person ansieht, bedeutet dies auch ihren Tod, und Rosaleen hatte die tote Doris gefunden. Die Maori-Frauen unterstützten Rosaleen, und wir erkannten, worum es in der Frauenabteilung ging – eine Gemeinschaft von Schwestern in Christus. Christliche Liebe ist das Band, unabhängig von Farbe, Rasse oder Kultur.

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Während ihrer Amtszeit besuchte Joyce Nicholson die australischen Staaten, PNG und Irian Jaya. Sie berichtete: Dies war eine wertvolle Zeit, um die Freuden des Transports mit der ‚Missions Flug Gemeinschaft‘11 (Mission Aviation Fellowship) zu erleben, mit den australischen und neuseeländischen Missionaren zusammenzukommen und sich an verschiedenen Orten mit nationalen Frauen zu treffen und mit ihnen zu sprechen. Diese Frauen waren viele Meilen und viele Stunden zu Fuß unterwegs gewesen, um die Versammlungen zu besuchen, um begierig Fragen zu stellen und um gern mit anderen Gemeinschaft zu pflegen und ihren intensiven Glauben miteinander zu teilen.

Auf dem BWA-Kongress in Toronto 1980 wurde Joyce Nicholson ausgewählt, die Flagge Neuseelands bei der „Parade der Nationen“ zu tragen. Dies war am Abend der letzten Plenarsitzung, als über 20.000 Delegierte die Arena besetzten. Sie berichtete: Alle waren für den Beginn des Programms bereit, als Noni Ransfield, unsere neuseeländische Maori-Abgeordnete, mit einer Tasche durch die große Versammlungshalle zu mir kam und mich fragte, ob ich ihren Maori-Umhang bei der Parade tragen würde. Natürlich stimmte ich zu…. Als sich die Menschenschlange in einer langen Prozession durch die große Halle bewegte, war ich so stolz, die Vertreterin aller Frauen des Südwestpazifiks zu sein. Wir näherten uns dem Mikrofon und mussten dann als Antwort auf den Appell in unserer eigenen Sprache das Thema des Kongresses sagen: ‚Christi Gegenwart durch den Geist feiern.‘ Ich wünschte, ich hätte in allen Sprachen unserer Union sprechen können.

Die Jahre 1983 bis 1988 Die dritte Generalversammlung der BWUSP fand im August 1983 auf dem Ilam-Campus der Universität von Canterbury in Christchurch, Neuseeland, statt. Das Thema lautete: „Christus – Seine Liebe, – Sein Zweck, – Seine Herrlichkeit“. Anwesend waren einhundertsechzig Frauen – siebenundsechzig aus Aus­ 11

Mission Aviation Fellowship, ein christliches Missionswerk, verfolgt das Ziel, in unwegsamen Gebieten der Erde eine fliegerische Infrastruktur für Missions- und Hilfswerke bereit zu halten. In Deutschland befindet sich die Zentrale der MAFDeutschland in Stumme-Loch-Weg, 57072 Siegen (Anm. des Hg.).

144

tralien, einundneunzig aus Neuseeland und zwei aus PNG sowie fünf Besucherinnen aus dem BWA-Ressort für Frauen. Bei dieser Veranstaltung wurde Valma Manning für die nächsten fünf Jahre zur Präsidentin gewählt. Zum Zeitpunkt der Gründung der Union 1968 war Manning als Missionarin im Dschungel von PNG tätig. Sie war dort, als Margaret Schroeder ihren Besuch abstattete, und war von der Vision der BWUSWP ergriffen und von der Begeisterung der PNG-Frauen für den Gebetstag beeindruckt. Als sie während ihrer Amtszeit PNG besuchte, konnte sich Manning sowohl in einem lokalen Dialekt als auch auf Pidgin verständigen. Sie beschrieb die Erfahrung wie ein NachHause-Kommen „nach fast fünfzehn Jahren“. Sie stellte fest, dass die Frauenarbeit in PNG jetzt gefestigt sei und diesem Land gute Dienste leiste, und behauptete, dass das, was dort unter den baptistischen Frauen geschah, „eine Herausforderung für uns alle sein sollte.“ Zu der Zeit, als Valma Manning zur Präsidentin der BWUSWP gewählt wurde, vertieften sich die Beziehungen zwischen der BWA-Frauenabteilung und den verschiedenen kontinentalen Unionen. Die Präsidentinnen der kontinentalen Unionen waren jetzt alle ex officio Vizepräsidentinnen der Frauenabteilung und Mitglieder des BWA-Generalrats. Dies war zum Teil auf Änderungen der Verfassung und zum Teil auf den neuen Status der Frauenabteilung zurückzuführen, die jetzt eine Vollzeit-­ Exekutivdirektorin und ein ständiges Büro in der Zentrale in Washington (USA) hatte. Die Jahre 1988 bis 1993 Die vierte BWUSWP-Versammlung (oder „Konferenz“, wie man sie jetzt nannte) wurde 1988 in Brisbane abgehalten, und Janice Bowman aus Auckland, Neuseeland, wurde zur neuen Präsidentin gewählt. Während ihrer Amtszeit besuchte sie jeden australischen Staat sowie Fidschi. Zwanzig Jahre nach der Gründung der Union zeigten sich Veränderungen in den Führungsstrukturen. Diese spiegelten den veränderten Lebensstil von Frauen wider, nicht nur in der säkularen Welt, sondern auch im kirchlichen Leben. Von den sechs Präsidentinnen der kontinentalen Union, die 1987 und 1988 ihr Ämter übernahmen, waren zwei Schulleiterinnen von Sekundarschulen für Mädchen, 145

zwei waren Vollzeitbeschäftigte in ihren Kirchen, eine arbeitete als Psychologin und Lehrerin für begabte Kinder in den USA und die neue Präsidentin der BWUSWP, Jan Bowman, war Verwaltungssekretärin der Medizinischen Fakultät der Universität Auckland. Das Muster von gut besuchten, regelmäßigen Frauentreffen der 1960er Jahre hatte sich in den 1980er Jahren deutlich verändert, so dass es keine leicht erkennbaren Kommunikationsmöglichkeiten für Frauen gab. Hier waren die Führungsfähigkeiten von Jan Bowman besonders wertvoll. Sie war bereits in den Monaten vor dem Kongress von 1985 in Los Angeles maßgeblich an der Arbeit des Verwaltungsausschusses des BWA-Frauen-­ Ressorts beteiligt gewesen. Jan Bowman fasste ihre Präsidentschaftszeit zusammen und schrieb: Der Schwerpunkt während unserer Amtszeit lag auf der Kommunikation. Wir haben uns in Brisbane darauf geeinigt, dass wir während unserer fünf Jahre alles tun würden, um unsere Frauen über die Aktivitäten in unserer eigenen kontinentalen Union zu informieren. Unsere Herausforderung bestand darin, das Profil des Dienstes der Frauenabteilung hervorzuheben, das Bewusstsein dafür zu stärken sowie die Frauen zu begeistern, Teil einer weltweiten Gruppe zu werden. Wie das zu bewerkstelligen geht, ist nicht so einfach! Unsere Hauptkontaktquelle geht über den Rundbrief Involved, und deshalb habe ich als Redakteurin versucht, die vielfältigen Aktivitäten in unseren Ländern zu vermitteln, um Interesse und Gebete zu wecken. Weil es in unseren Gemeinden in Australien und Neuseeland viele Frauen gibt, die keinen baptistischen Hintergrund haben oder die nicht informiert oder nicht interessiert sind an den Diensten baptistischer Frauen, bin ich der festen Überzeugung, dass wir unser Material in die Hände unserer Frauen bekommen und sie über die Anregungen und über die Möglichkeiten des Dienstes baptistischer Frauen informieren müssen.

Ein Höhepunkt der Amtszeit von Jan Bowman war die Gründung der „Fidschi Gemeinschaft Baptistischer Frauen“ (Fiji Baptist Women’s Fellowship), die sich um die Mitgliedschaft in der BWUSWP beworben hatte. Tatsächlich plante diese Gemeinschaft, siebzehn Frauen zur nächsten Versammlung nach Auckland zu schicken. Nun bestand die Union aus fünf pazifischen Nationen: Australien, Neuseeland, PNG, Papua Indonesia (der neue Name für Irian Jaya) und Fidschi. Bei einigen Leuten kam 146

die Frage auf, warum die Frauen aus Papua in die BWUSWP aufgenommen wurden. Immerhin gehört Papua jetzt zu Indonesien, weshalb die Frauen, zumindest theoretisch, zu der asiatischen Union gehören sollten. Es war jedoch ihre Entscheidung, zum Südwestpazifik zu gehören, da sie ethnisch den Frauen im benachbarten PNG näher stehen als den Menschen in Indonesien. Die Jahre 1993 bis 2003 Auf der fünften BWUSWP-Konferenz, die 1993 in Auckland stattfand, wurde Jean McCallum aus Australien für die nächsten fünf Jahre zur Präsidentin gewählt. Sie und ihr Mann reisten in ihrem Wohnmobil durch Australien, um jeden australischen Staat zu besuchen. 1997 besuchte McCallum Frauengruppen auf der Nord- und Südinsel Neuseelands, und 1999 führte ihr Weg sie nach PNG, wo sie u. a. an einer Frauenkonferenz in Telefomin teilnahm. Im Oktober 1994 besuchte Catherine Allen, die Präsidentin der BWA-Frauenabteilung. die Region Südwestpazifik und ermutigte Frauen, wohin sie kam. Im darauffolgenden Jahr reiste eine repräsentative Gruppe der BWUSWP nach Buenos Aires, wo der BWA-Weltkongress stattfand. Auf der im April 1999 durchgeführten BWUSWP-Konferenz in Canberra nahmen 250 Frauen teil; hier wurde Olwyn Dickson aus Auckland, Neuseeland, die neue Präsidentin der BWUSWP. Als Frau eines Pastors hatte Dickson ein profundes Wissen über den Baptismus. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie mit baptistischen Frauen gearbeitet und kannte ihre Sorgen und Herausforderungen. Sie reiste viel durch die Region und besuchte zweimal Fidschi und einmal PNG. Wegen der instabilen politischen Situation konnte sie jedoch nicht nach Papua (der neue Name für Irian Jaya) reisen. Auch fand während ihrer Amtszeit in Fidschi ein politischer Putsch statt; niemand hatte erwartet, dass dies im Südpazifik passieren würde. Trotzdem entschied sie, dass die nächste BWUSWP-Konferenz in diesem Inselstaat stattfinden sollte. Es war an der Zeit, dass die baptistischen Frauen auf Fidschi mehr Anerkennung fanden. Ein Höhepunkt von Olwyn Dicksons Präsidentschaft war die Tatsache, dass der BWA-Generalrat einem Antrag zustimmte, dass der Südwestpazifik von der Asiatischen Baptistischen Föde147

ration (ABF) als ein besonderer und eigenständiger Partner und nicht nur als der Föderation untergeordneter Bereich anerkannt wurde. Bald darauf änderte die ABF ihren Namen in Asiatisch Pazifische Baptistische Föderation (Asia Pacific Baptist Federation = APBF), und die Präsidentin der BWUSWP wurde von Amts wegen Mitglied der APBF-Exekutive, so dass von da an die Präsidentin der BWUSWP an allen offiziellen Treffen der ABPF als stimmberechtigtes Mitglied teilnahm. Im Februar 2012 hielt die APBF ihre jährliche Sitzung der Leitung in Auckland ab, wobei die BWUSWP als Gastgeberin fungierte. Die Jahre 2004 bis 2012 Am Ende der Konferenz in Fidschi 2004 wurde Lorraine Walker aus Queensland, Australien (auch Frau eines Pastors und ausgebildete Krankenschwester) zur Präsidentin der BWUSP gewählt. Sie war zuvor Präsidentin der Baptistischen Union von Queensland (Baptist Union of Queensland) gewesen. Auch sie unternahm viele Reisen in der Region, einschließlich eines Besuchs in Neuseeland, und kommunizierte regelmäßig durch Rundbriefe per E-Mail. 2009 wurde Julie Belding aus Auckland auf einer Konferenz in Cairns, Queensland, als Nachfolgerin von Lorraine Walker gewählt. Sie war Autorin und Redakteurin und schrieb eine regelmäßige Kolumne für Frauen in der monatlich erscheinenden neuseeländischen baptistischen Zeitung (New Zealand Baptist) sowie einen gelegentlich erscheinenden Rundbrief namens Pacifica, der in der gesamten Region per E-Mail verschickt wurde. Sie reiste mindestens einmal in alle fünf Mitgliedsländer der BWUSWP und nahm an den jährlichen Vorstandssitzungen der Asiatischen Pazifischen Baptistischen Föderation teil. Mit der BWUSWP-Schatzmeisterin Judith Searle aus Queensland reiste sie in das Hochland von PNG, um bei einer nationalen baptistischen Frauenkonferenz zu sprechen. 2011 reiste sie nach Sorong in Papua, um auf dem 5. Kongress der Indonesischen Baptistischen Allianz (Indonesia Baptist Alliance) zu referieren. Der jährliche Gebetstag war immer noch der wichtigste Gegenstand im Kalender, und in Auckland fand die Veranstaltung verschiedentlich in Verbindung mit einem Frühstück, einem Abendessen, einem Mittagessen oder einem Nachmittagstee statt. 148

Ein Team von Baptistinnen aus Fidschi, angeführt von Amelia Gavidi, besuchte im Mai 2011 Neuseeland und präsentierte ein Programm in verschiedenen Gemeinden. Von 2014 an Im Jahr 2014 fand die BWUSWP-Konferenz wie die ersten vier Jahrzehnte zuvor wieder im baptistischen Tabernakel in Auckland statt. Besondere Gäste waren Raquel Contreras, die Präsidentin der Frauenabteilung, und Patsy Davis, die Geschäftsführerin. Das Präsidentinnenamt ging an Amelia Gavidi aus Suva, Fidschi, die Präsidentin der Gemeinschaft Baptistischer Frauen in Fidschi war. Sie wird diese Rolle bis zur nächsten Konferenz im August 2019 in Fidschi inne haben. Bei dieser Veranstaltung werden zum ersten Mal Frauen aus Vanuatu, einem anderen Inselstaat im Pazifik, teilnehmen. Die Gemeinschaft der Frauen im Südwestpazifik erweitert sich! Wohin gehen wir? Im Juli 2016 nahm Amelia Gavidi an der Vorstandssitzung der BWA-Frauenabteilung in Vancouver teil. Sie sagte, der Vorstand habe darüber diskutiert, warum es eine eigene Abteilung für Frauen geben müsse. Alle hätten bestätigt, dass Gott, als die baptistischen Frauen in Christus zusammenkamen, Shalom für alle geschaffen habe. „Amen!“ fügte Amelia Gavidi hinzu. Rena Smith hatte vor einem Vierteljahrhundert geschrieben: Die Frauen jeder neuen Generation müssen sich nicht nur im Kontext ihrer örtlichen Baptistengemeinde sehen, sondern als Mitglieder jener größeren Gruppe von Frauen, die weltweit ihre Schwestern in Christus sind, Frauen aus verschiedenen Kulturen, mit unterschiedlichen Herausforderungen und Möglichkeiten. aber alle darauf bedacht, demselben Herrn Jesus Christus zu dienen. Dieser Weiterbildungsprozess ist die Aufgabe, zu der die Baptistische Frauenunion des Südwestpazifiks berufen wurde.

In der September-Ausgabe (2018) von Pacific Waves, dem neuen E-Rundbrief, der von der Sekretärin Anne MacCarthy aus Auckland herausgegeben wird, wurde der jährliche Gebetstag hervorgehoben; er ist nach wie vor der Eckpfeiler der weltweiten 149

baptistischen Bewegung der Frauen. Das Programm für 2016, das von jeder kontinentalen Union der Welt genutzt wurde, war von den Frauen Nordamerikas vorbereitet worden und setzte das Thema „Steh auf und leuchte“ (Arise and Shine) fort. „Sie fordern uns heraus, die Bedürfnisse im gesamten Umfeld zu erkennen“, schrieb Anne MacCarthy. „Und um mit der Hilfe Christi… das Licht von Gottes Liebe den Bedürftigen zu bringen. Erinnere dich daran, dass du möglicherweise der einzige Jesus bist, dem manche Menschen jemals begegnen werden. Ksenija Magda [die damalige Weltpräsidentin] lädt uns ein, auf kleine Weise zu beginnen, jeweils nur eine Person.“

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E. BAPTISTEN IN ALLEN ERDTEILEN

Der Baptistische Weltbund Erich Geldbach 1. Über die Anfänge Zwischen dem 11. und 17. Juli 1905 versammelten sich dreitausend Delegierte aus 26 Ländern in der Exeter Hall in London, um den Baptistischen Weltbund ins Leben zu rufen. Zu einem letzten festlichen Treffen kam man am 18. Juli in der Royal Albert Hall zusammen, bevor die Delegierten in ihre Heimat zurückkehrten mit dem starken Eindruck, dass ein neues Kapitel in der fast dreihundertjährigen Geschichte der baptistischen Bewegung aufgeschlagen wurde. Warum wurde der Weltbund gegründet? Der erste Präsident des Weltbundes, der britische Pastor Dr. John Clifford (1836–1923), bemerkte 1911 in seiner Ansprache auf dem zweiten Kongress in Philadelphia (USA), dass die Schaffung des Weltbundes deshalb um so auffallender gewesen sei, als Baptisten Menschen seien, die völlig dem Individualismus ergeben wären und die beim geringsten Eingriff in ihre persönliche und kirchliche Unabhängigkeit in Angst und Schrecken gerieten. Ist Individualismus und Unabhängigkeit durch die neue weltweite Organisation der Baptisten einer Interdependenz gewichen? Auch wenn Cliffords Einschätzung zu streng gewesen sein mag, kann es keinen Zweifel darüber geben, dass Individualismus und Unabhängigkeit sowohl auf persönlicher als auch auf kirchlicher Ebene so tief in der baptistischen Denkweise und Praxis verankert waren, dass die neue Organisation so strukturiert werden musste, diese Eigenschaften zu berücksichtigen. Bevor dies weiter untersucht werden kann, sollte darauf verwiesen werden, dass die Gründung des Weltbundes dem „Zeitgeist“ unter Christen unterschiedlicher Denominationen entsprach. Sie alle wurden sich bewusst, dass ihre Kirchen in den unterschiedlichen Ländern der Erde gegründet worden waren. 151

Einige Christen hatten den Missionsbefehl Jesu Christi befolgt: „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (Matth. 28:19). Baptisten können behaupten, dass einer der Ihren, William Carey (1761–1834), heute als „Vater der modernen Missionsbewegung“ unter Protestanten bezeichnet wird. Als Carey 1806 ein Treffen aller christlichen Kirchen und Missionsgesellschaften am Kap der Guten Hoffnung für das Jahre 1810 vorschlug, hatte nicht nur der Name des Ortes eine höchst symbolische Bedeutung, sondern dieser „weitreichendste Missionsvorschlag aller Zeiten“1 nahm die Idee vorweg, dass christliche Mission und das Streben nach christlicher Einheit Hand in Hand gehen. Dies lässt sich beobachten, als 1910 die Weltmissionskonferenz in Edinburgh unter der energischen Leitung des methodistischen Laien John Mott (1865–1955) wichtige Schritte unternahm, einen von Careys „angenehmen Träumen“ genau 100 Jahre später zu erfüllen: Sowohl der Internationale Missionsrat (1921) als auch der Ökumenische Rat der Kirchen (1948) waren Ergebnisse der Konferenz von Edinburgh. Carey war als Missionar ein Vorläufer der interbaptistischen und interkirchlichen Zusammenarbeit. Die Erfolge der missionarischen Bemühungen, die auf Careys Initiative folgten, muss als ein Hauptgrund dafür angesehen werden, warum sich Konvertiten in Afrika, Asien, der Karibik und Lateinamerika in ihren jeweiligen Ländern zusammenschließen und sich mit anderen Baptisten auf der ganzen Welt verbinden wollten. In diese Richtung bewegten sich auch einige protestantische Kirchen, darunter Adventisten (1863), Anglikaner (1867), Reformierte und Presbyterianer (1877), Methodisten (1881) und Kongregationalisten (1891). Andere sollten später folgen. Der schon erwähnte britische Baptist John Clifford war zu dem Treffen eingeladen worden, als der Internationale Rat der Kongregationalisten gegründet wurde. Dort wurde die Hoffnung geäußert, dass der „andere große Zweig der kongregationalistischen Familie“, d. h. die Bap-

1

Ruth Rouse, „William Carey’s ‚Pleasing Dream,‘“ International Review of Mission 38, No.150, April 1949, 181.

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tisten, dem Rat beitreten würden.2 Zwar geschah dies nicht, aber es zeigt deutlich die Tendenz zur Zusammenarbeit, die Clifford beeindruckt haben muss. In den USA wurden von 1882 bis 1914 „Baptistische Kongresse“ zur „Diskussion aktueller Fragen“ einberufen. Die Teilnehmer kamen hauptsächlich aus dem Norden, aber es gab auch einige Südstaatler, Kanadier, wenige Briten sowie Afroamerikaner. Ebenso wichtig waren Einzelpersonen mit weitreichender Ausstrahlung wie der baptistische Pastor William W. Landrum, der in einigen seiner Predigten eine „Pan-Baptistische Konferenz“ empfahl. Diese Idee wurde von Robert Healy Pitt (1853–1937) aufgegriffen, der Herausgeber der Baptistischen Zeitung Religious Herald aus Virginia war. Sein Eintreten war nicht erfolgreich, aber es gab einen weiteren Herausgeber, John Newton Prestridge (1853–1913), der die Zeitung The Baptist Argus (seit 1908 unter dem Namen Baptist World) herausgab. In ihr veröffentlichte Archibald T. Robertson (1863–1934), Professor für Griechisch am Southern Seminary, Mitte Januar 1904 einen Leitartikel, in dem er zu einer Konferenz nach London über baptistische Weltprobleme für später im Jahr 1904 aufrief. Prestridge griff diese Idee sofort auf und warb bei verschiedenen baptistischen Organisationen in Amerika um Unterstützung. Am wichtigsten war jedoch, dass er die Rückendeckung der britischen Baptistischen Union gewinnen konnte, so dass diese am 4. Oktober 1904 eine Resolution verabschiedete, in der Vertreter baptistischer Gremien aus aller Welt nach London eingeladen wurden, um dort im folgenden Juli zusammenzukommen. So entstand die Idee eines panbaptistischen Kongresses. In Nordamerika wurde ein Komitee aus Vertretern der Südbaptisten und verschiedener anderer baptistischer Gruppen gegründet, um eng mit dem britischen Planungskomitee zusammenzuarbeiten, das vom Generalsekretär der Britischen Union, John Howard Shakespeare (1857–1928), und Pastor William T.

2

Horace O. Russell, „Early Moves in the Direction of Greater Cooperation“, in: Baptists Together in Christ 1905–2005. A Hundred-Year History of the Baptist World Alliance, Richard V. Pierard (General Editor), (Birmingham, AL: Samford University Press, 2005), 7.

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Whitley (1861–1947)3 angeführt wurde. Der Pastor der Union Kapelle in Manchester, Alexander Maclaren (1826–1910), wurde zum Präsidenten des Kongresses berufen und John Clifford4 von der Westbourne Park Kapelle in London als stellvertretender Vorsitzender. Clifford, ein wortgewaltiger Kritiker sowohl des Oberhauses (House of Lords) als auch der Konservativen Partei, war ein sozialer Aktivist für Religionsfreiheit, freikirchliche Anliegen und Verbesserung der unteren Klassen. Bei den Sitzungen des Kongresses wurde Maclaren von zehn Vizepräsidenten unterstützt, von denen sieben Laien5 waren. Bei der Eröffnung bat Maclaren alle Teilnehmer, das Apostolische Glaubensbekenntnis zu rezitieren. Das war ein wichtiger Schritt, weil so die Baptisten sicher stellen wollten, dass sie nicht nur zusammengekommen waren, um untereinander engere Beziehungen zu suchen, sondern auch, dass sie Teil der Universalen Kirche und keine sektiererische Randgruppe sind. Dieser Schritt hatte weitreichende ökumenische Implikationen, da sich die Baptisten nicht darstellten als eine von den Bemühungen um die Einheit der Christen abgetrennte Bewegung. Eine Reihe anderer Themen, die auf dem ersten Kongress im Jahr 1905 angesprochen wurden, sollte in nachfolgenden Kongressen erneut auftauchen. Ein Präzedenzfall war die Debatte darüber, wie die biblische Wissenschaft mit aktuellen Problemen verknüpft werden könnte. Professor Milton Evans vom Crozer Seminary in Upland, Pennsylvania, lobte die moderne Wissenschaft als Werkzeug, um „eine bessere Wertschätzung des frühen Christentums“ zu vermitteln, und verweist daher auf die wahrhaft „menschliche Natur des inkarnierten Wortes Gottes, ohne das Vertrauen auf die wahre Gottheit zu erschüttern“. Folglich ist das geschriebene Wort Gottes „wahrhaft menschliche Literatur, ohne seinen inspirierenden Charakter zu zerstören“. Nicht 3 Whitley

war von 1891 bis 1902 Direktor des Baptist College of Victoria in Melbourne, das heute nach ihm benannt ist. Eine kurze Einführung bietet Ian Sellers, W. T. Whitley. A Commemorative Essay, The Baptist Quarterly; 37, 1997, issue 4, 159–173. 4 Erich Geldbach, „John Clifford: Sein Konzept eines ‚individuellen Sozialismus‘“, in: ZThG 17, 2012, 62–83. 5 John H. Y. Briggs, „From 1905 to the End of the First World War“, in: Baptists Together in Christ 1905–2005, op.cit., 21.

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jeder mag mit dieser Einschätzung übereingestimmt haben, aber es gab keinen Kampf. Möglicherweise hat die Rede des Präsidenten des Southern Seminary, Edgar Young Mullins (1860–1928), dazu beigetragen, Missverständnisse zu vermeiden. Er kritisierte sowohl die alte als auch die neue Methode als fragwürdig und unterbreitete sechs „Axiome“. Er hielt diese für schriftbasiert, in Übereinstimmung mit christlicher Erfahrung und universellen sowie selbst-einleuchtenden Formen des religiösen Lebens: 1. Das theologisches Axiom: Der heilige, liebende Gott hat das Recht, Souverän zu sein; 2. Das religiöse Axiom: Alle Menschen haben das Recht auf direkten Zugang zu Gott. 3. Das kirchliche Axiom: Alle Gläubigen haben in der Kirche gleiche Privilegien. 4. Das moralische Axiom: Um verantwortlich zu sein, muss der Mensch frei sein; 5. Das soziale Axiom: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; 6. Das religiös-bürgerliche Axiom: Eine freie Kirche in einem freien Staat.6

In Übereinstimmung mit baptistischer Geschichte und bevorstehender Kongresse ist ein weiteres Themenfeld deutlich, nämlich die Betonung sozialer Fragen und insbesondere die Sorge um Religionsfreiheit. Dieses Thema wurde von jedem Kongress in der Geschichte des Weltbundes aufgegriffen. Selbst in Großbritannien stand die Frage auf der Tagesordnung ganz oben, da das Schulgesetz von 1902 die anglikanischen und römisch-katholischen Schulen bevorzugte, weil öffentliche Mittel für ihren Betrieb angewiesen wurden. Außerdem konnten Nicht-Anglikaner keine Schulleiter in den 11.731 staatlichen Schulen werden, wie John Clifford geschrieben hatte. Menschen mit freikirchlichem Hintergrund wurden auf diese Weise in die anglikanische Kirche gelockt, „und ich als Freikirchler werde aufgefordert, an dieser Bestechungsaktion teilzunehmen. Es wird eine Prämie auf Heuchelei ausgesetzt, und ich als ehrlicher Mann soll mich bei der Erschaffung von Heuchlern beteiligen“?7 6

Ibid., 27. Marchant, Dr. John Clifford, C. H. Life, Letters and Reminiscenses, (London: Cassell and Co., 1924), 126. 7 James

155

Als Ausweg aus diesem Dilemma organisierte George White, ein Abgeordneter im Unterhaus und 1903 Präsident der Baptisten Union, zusammen mit Clifford als treibende Kraft die Passive Widerstands-Bewegung und appellierte an Freikirchler, den Teil der Steuer einzubehalten, mit der die anglikanischen und katholischen Schulen finanziert wurden. Auf dem Kongress wurden die Baptisten aufgefordert, sich zu erheben, die als „passive Widerstandskämpfer“ inhaftiert worden waren. Zahlreiche Briten standen auf und zeigten, dass Verfolgungen nicht nur in Osteuropa, insbesondere in Russland und Rumänien erfolgten, sondern auch im Westen.8 Neben der Religionsfreiheit wurden auch andere soziale Fragen angesprochen, um das Evangelium nicht von der Sozialreform zu scheiden, wie E. Y. Mullins betonte. Ein anderes wiederkehrendes Thema war Mission und Evangelisation. In einigen Beiträgen wurde hervorgehoben, dass Mission, Bildung und ökumenische Bemühungen um eine vereinte protestantische Aktion in der Mission zusammen gehen sollten. Am ersten Tag des Kongresses wurde Präsident Maclaren einstimmig ermächtigt, einen Ausschuss für zukünftige Kongresse zu ernennen. J. N. Prestridge und Shakespeare sollten als Einberufer fungieren. Aufgabe des Ausschusses war es, bis zum 17. Juli eine Verfassung und eine Satzung für die neue Organisation zu erarbeiten. Nach Vorlage des Berichts wurde er angenommen und ein Nominierungsausschuss mit der Auswahl des Vorstands und eines Exekutivausschusses beauftragt. Die Präambel der Verfassung9 drückte die Notwendigkeit aus, „die wesentliche Einheit im Herrn Jesus Christus als ihrem Gott und Heiland der Kirchen der baptistischen Kirchenverfassung und des Glaubens für 8 Die

Passive Widerstands-Bewegung hatte weitreichende Auswirkungen, als durch einen der „Cliffords Boys“, wie die von Clifford ausgebildeten Prediger liebevoll genannt wurden, Rev. J. J. Doke, die Idee an Mahatma Gandhi vermittelt wurde, der indes das Wort „passiv“ nicht mochte, weil Widerstand ein sehr aktives Verhalten sei. Dem hätte Clifford zweifellos zugestimmt. Sowohl Gandhi als auch Martin Luther King gebrauchten „gewaltfrei“. Vgl. meinen Aufsatz „Von Gandhi zu Martin Luther King. Ein vergessenes Kapitel transkontinentaler baptistischer Geschichte“, in: ZThG 6, 2001, 60–101 and J. N. Jonsson, Gandhi Alive, n. p. 1995. 9 Für das Folgende vgl. John H. Y. Briggs, „From 1905 to the End of the First World War“, in: Baptists Together in Christ 1905–2005, op.cit., 31.

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den gesamten Dienst und die Zusammenarbeit untereinander auszudrücken.“ Obwohl sich der Weltbund „auf jeden Teil der Welt erstreckte“, war er keine Konföderation. Die Unabhängigkeit jeder Mitgliedskirche wurde anerkannt, und der Weltbund würde keine Funktionen der bestehenden Kirchen übernehmen. Einzelne Personen oder Gemeinden konnten keine Mitgliedschaft beantragen, sondern nur Unionen, Konventionen oder Vereinigungen baptistischer Kirchen. Der Vorstand setzte sich zusammen aus einem Präsidenten (John Clifford10), einem Vizepräsidenten aus jedem in der Allianz vertretenen Land, einem Schatzmeister (Henry Porter aus Pittsburgh, PA), und aus je einem Sekretär der östlichen Hemisphäre (britisch, Shakespeare) und der westlichen Hemisphäre (amerikanisch, Prestridge). Das Exekutivkomitee setzte sich aus dem Präsidenten, dem Schatzmeister, den zwei Sekretären und einundzwanzig Mitgliedern, entsprechend einer geografischen Quote, zusammen. Der Weltbund sollte alle fünf Jahre zu einer Vollversammlung zusammenkommen, wenn dann auch das Exekutivkomitee wieder gewählt würde. Nach dem Kongress wurde im „Baptist House“ in London ein Büro für den Weltbund zur Verfügung gestellt, von dem aus die neue Organisation geleitet wurde, bis deutsche Bomben das Haus zerstörten und der Sitz nach Washington, DC, verlegt wurde. Die Sprache der Präambel verwendet bekannte „ökumenische“ Begriffe: Jesus Christus als „Gott und Heiland“ war der „Pariser Basis“ des Christlichen Vereins Junger Männer von 1855 entnommen, und „Kirchenverfassung und Glaube“ wurde in umgekehrter Reihenfolge für die „Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung“ und später für die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen gebraucht. Die neue Organisation der Baptisten war so strukturiert, dass die Unabhängigkeit der einzelnen Kirchen und Gemeinden unberührt blieb. Gleichzeitig war die Frage unentschieden, was baptistische „Kirchenordnung“ und „Glaube“ in verschiedenen Ländern der Welt bedeuten kann. Der Weltbund war im Wesentlichen so aufgebaut, dass er „ein Forum für Gemeinschaft, eine Drehscheibe für Hilfsdienst, eine Stimme für 10 Der

Vorstand wurde am folgenden Morgen durch den Nominierungsausschuss vorgestellt und per Akklamation berufen.

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die Freiheit, ein Instrument der Evangelisation und ein Mittel der Kommunikation bot“.11 2. Welche Ziele hat der Baptistische Weltbund in seiner Geschichte erreicht? Ein systematischer Ansatz Im Folgenden wird der Versuch gemacht, die wichtigen Anliegen und Probleme systematisch aufzulisten, mit denen der Weltbund in den folgenden 110 Jahren konfrontiert war. Es ist nicht beabsichtigt, die verschiedenen Kongresse in der zeitlichen Reihenfolge vorzustellen, in der sie stattgefunden haben12, sondern die Fragen, die Kernpunkte und die möglichen Antworten systematisch darzustellen. Sie sind meist in den nicht-bindenden Resolutionen zu finden, für die besondere Ausschüsse eingesetzt wurden. Bevor darauf eingegangen wird, soll jetzt eine Liste der Kongresse wiedergegeben werden: Jahr

Ort

1909 1911 1923 1928 1934

London, England Philadelphia, PA, USA Stockholm, Schweden Toronto, Kanada Berlin, Deutschland

1939 1947 1950

Atlanta, GA, USA Copenhagen, Dänemark Cleveland, Ohio, USA

11

Thema Die Christianisierung der Welt Baptistisches Leben im Leben der Welt Ein Herr, Ein Glaube, Eine Taufe: Ein Gott und Vater Aller Einheit in Christus Und das Licht scheint in der Finsternis

John H. Y. Briggs, op cit., unter Verweis auf Walter B. Shurden, The Life of the Baptists in the Life of the World: 80 Years of the BWA (Nashville: Broadman, 1981), 13–14. 12 Wenn der Leser / die Leserin ein solches Narrativ sucht, sei verwiesen auf die schon mehrfach zitierte Festschrift, die zum einhundertjährigen Bestehen des Weltbundes erschien: Baptists Together in Christ 1905–2005. A Hundred-Year History of the Baptist World Alliance (Birmingham, AL,: Samford University Press, 2005). Am Ende des vorliegenden Kapitels gibt der frühere Generalsekretär des Weltbundes, Neville Callam, eine Zusammenfassung seiner Amtszeit von 2007 bis 2017. Eine kurze Geschichte des Weltbundes bietet Richard V. Pierard, „The Baptist World Alliance: An Overview of Its History“, in: Review and Expositor, 103, Fall 2006, 707–732.

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Jahr

Ort

1955

London, England

Thema

Jesus Christ, derselbe gestern, heute und in alle Ewigkeit 1960 Rio de Janeiro, Brasilien Jesus ist Herr 1965 Miami Beach, FL, USA Jesus Christus in einer sich wandelnden Welt 1970 Tokio, Japan Versöhnung durch Christus 1975 Stockholm, Schweden Neue Menschen für eine Neue Welt – durch das Christentum 1980 Toronto, Kanada Die Gegenwart Christi durch den Geist feiern 1985 Los Angeles, CA, USA Aus der Dunkelheit in das Licht Christi 1990 Seoul, Korea Zusammen in Christus 1995 Buenos Aires, Argentinien Christus feiern: Die Hoffnung der Welt 2000 Melbourne, Australien Jesus Christus, Für immer: Ja! 2005 Birmingham, England Jesus Christus Lebendiges Wasser 2010 Honolulu, Hawai’i, USA Hört den Geist 2015 Durban, Südafrika Jesus Christus, die Tür 2020 Rio de Janeiro Zusammen

Es ist offensichtlich, dass sich die überwältigende Mehrheit der Themen um christologische Fragen und den Ort Christi in der Welt von heute drehen. Als die Delegierten des Kongresses 2010 gebeten wurden, auf den Heiligen Geist zu hören, erfolgte eine etwas andere Betonung, die wohl darauf zurückzuführen ist, dass Generalsekretär Neville Callam ökumenische Erfahrungen gesammelt hatte und wusste, dass ein trinitarischer Ansatz erforderlich war. 2.1 Ökumene John Clifford sah die zentralen Ideen der Baptisten als ein zusammenhängendes Ganzes und daher hatte der Weltbund für ihn die Funktion eines universalen Konzils. Die „pfingstliche Gemeinschaft“ der Baptisten war „katholisch“, repräsentierte jedoch einen breiteren Katholizismus als der von Rom, und war „orthodox“, aber spiritueller und biblischer als die östliche Kirche.13 Als die Kirche von England 1920 in ihrem „Lambeth ­Appell“ 13

BWA, Congress 1911, 56–57, 62.

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verschiedene britische Freikirchen zu engeren Beziehungen einlud, reagierte der britische Sekretär Shakespeare von der Baptistischen Union positiv, während sein Kollege Rushbrooke zurückhaltend war. Er schrieb an Shakespeare, dass alle Freunde des Weltbundes in Nordamerika „auf das Entschiedenste gegen eine Kirchenunion sind“. Die Südbaptisten zeigten sich besorgt, diskutierten auf ihrer Jahresversammlung 1922 das Problem und drückten ihr Missfallen in einem Schreiben an die Briten aus. Erzbischof Nathan Söderblom, ein lutherischer Pionier der frühen ökumenischen Bewegung, lud Shakespeare ein, während des Kongresses von 1923 in Stockholm in der Kathedrale von Uppsala zu predigen.14 Die ökumenische Frage wurde heftig diskutiert, insbesondere nachdem die Baptisten zur Teilnahme an der Konferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1927 in Lausanne eingeladen worden waren. Mullins und Rushbrooke verfassten zusammen ein Dokument, in dem sie den Weltbund als eine freiwillige und brüderliche Organisation zur Förderung der Gemeinschaft und Zusammenarbeit unter Baptisten darstellten. Der Weltbund hat demnach keine administrativen, legislativen, rechtlichen oder autoritativen Befugnisse. Seine Autorität erstreckt sich lediglich auf die eigenen Aktivitäten; seine Ziele sind moralisch und spirituell. Er sucht, Einheit und Gemeinschaft unter den Baptisten weltweit auszudrücken und zu fördern, die Religionsfreiheit zu sichern und zu verteidigen und die großen Prinzipien unseres gemeinsamen Glaubens zu verkündigen.15 Auf dem Kongress in Toronto im Jahr 1928 beruhigte Rushbrooke die Delegierten, die möglicherweise wegen eines ökumenischen Engagements besorgt waren, dass eine „kirchliche Maschinerie, durch Papsttum, Episkopat oder Synode, Christen nicht zusammenhalten könnte.“ Der Weltbund zeige, dass „Freiheit in Christus“ zu „voller und freudiger Einheit in Ihm“ führe.16 In Atlanta 1939 wurde die Frage behandelt, welche besonderen Beiträge die Baptisten zur christlichen Einheit und zur ökumenischen Bewegung leisten könnten. 14

Baptists Together in Christ, op.cit. 56. Text in: F. T. Lord, Baptist World Fellowship, op.cit., 57–58. 16 Bernard Green, Tomorrow’s Man. A Biography of James Henry Rushbrooke (Didcot: The Baptist Historical Society) 1997, 109. 15

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Britische Baptisten waren seit Beginn des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) 1948 aktiv beteiligt. Ein Jahr vor der Gründung des ÖRK vernahm der Kongress in Kopenhagen einen dringenden Appell des britischen Pastors Henry Cook an die Baptisten, dieses Streben nach Einheit zu unterstützen: „Wenn nur alle Christen in allen Konfessionen und in allen Ländern zusammen handeln und sich dem einen Geist zur Verfügung stellen würden, welche enormen Dinge könnten wir dann wahrnehmen!“17 Bei der vierten Generalversammlung des ÖRK 1968 im schwedischen Uppsala wurde Ernest Payne von der britischen Union zu einem der sechs Präsidenten gewählt, sehr zur Freude von Martin Niemöller.18 Der Weltbund beteiligt sich aktiv an der Bewegung für die Einheit der Christen, indem er sich durch bilaterale Gespräche an ökumenischen Bemühungen beteiligt.19. Bislang wurden folgende Gespräche mit Weltweiten Christlichen Gemeinschaften geführt: Von 1973 bis 1977 mit dem Reformierten Weltbund; von 1984 bis 1988 mit dem Vatikanischen Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen; von 1986 bis 1989 mit dem Lutherischen Weltbund; von 1989 bis 1992 mit der Mennonitischen Weltkonferenz; von 2000 bis 2005 mit dem Anglikanischen Konsultativrat;

Diese Gespräche zielten nicht darauf ab, theologische Unterschiede zu überwinden, sondern vielmehr zu untersuchen, wie Anglikaner und Baptisten in verschiedenen Regionen der Welt 17

Baptists Together in Christ, op.cit., 108. Ich habe eine Rede Niemöllers an der Universität Marburg wahrscheinlich im Sommersemester 1962 gehört, in der er sich über Payne in dieser Weise äußerte. Niemöller war einer der führenden Köpfe der Bekennenden Kirche und war von 1938 bis 1945 in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau inhaftiert. Nach dem Krieg war er Präsident der Landeskirche von Hessen-Nassau und Leiter des Kirchlichen Außenamtes. 19 Ken Manley, Der Baptistische Weltbund und die zwischenkirchlichen Beziehungen, Theologisches Gespräch Beiheft 8, 2005, 3–38 und Erich Geldbach, „Die Dialoge des Baptistische Weltbundes mit anderen Weltweiten Christlichen Gemeinschaften“, in: ZThG 9, 2004, 92–111. Zum Dialog mit den Anglikanern: Uwe Swarat, „Baptisten im ökumenischen Gespräch“, in: Andrea Strübind / Martin Rothkegel (Hg.), Baptismus. Geschichte und Gegenwart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, 229–258. 18

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den christlichen Glauben und das Zeugnis teilen. Der Bericht „Conversations around the World 2000 to 2005“ wurde 2005 veröffentlicht. Der erste Teil beschäftigt sich mit theologischen Konvergenzen und Unterschieden, während der zweite Teil einige kreative Wege aufzeigt, wie Anglikaner und Baptisten auf der ganzen Welt im Leben und der Mission zusammengearbeitet haben. Es wurde ein neues Verfahren ausprobiert: Ein Kernausschuss aus je drei Personen sowie aus je einer Person der Leitungsebene trafen sich zu Beginn im Jahr 2000 in der Kathedrale von Norwich und in den folgenden Jahren in Yangon (Myanmar), Nairobi (Kenia), Santiago de Chile, auf den Bahamas und in Wolfville, Nova Scotia. Auf jedem Kontinent wurde diese Kerngruppe durch lokale Wissenschaftler ergänzt, die aus ihrer Perspektive an dem Gespräch teilnahmen. Paul Fiddes, Professor an der Universität Oxford, leitete die baptistische Delegation. von 2006 bis 2010 eine zweite Runde mit dem Vatikan; von 2014 bis 2018 mit dem Weltrat Methodistischer Kirchen;

Eine Besonderheit dieser Gespräche besteht darin, dass der Endbericht „Faith working through Love“ (Glaube, der durch die Liebe tätig ist) durch ein Studienbuch ergänzt wurde. Es ist für Gemeinden vor Ort gedacht und soll ihnen helfen, die Dialoge zu verstehen. Im Auftrag der Dialogpartner wurde diese Hilfe von der französischen baptistischen Theologieprofessorin Valerie Duval-Poujol und der deutschen methodistischen Professorin für Kirchengeschichte an der Theologischen Hochschule in Reutlingen Ulrike Schuler 2018 erarbeitet; 2017 begann eine dritte Runde mit dem Vatikan.

Der Versuch, einen Dialog mit dem Ökumenischen Patriarchat und Vertretern der orthodoxen Kirchen zu beginnen, war nicht erfolgreich, sondern endete lediglich in Vorgesprächen. Da es in einer Reihe von Ländern mit orthodoxen Mehrheiten Spannungen gibt, die manchmal zu diskriminierenden Maßnahmen führen, sollten, so war die Hoffnung, die bilateralen Gespräche zu besseren Beziehungen führen, aber die Orthodoxen brachen die Kontakte ab. 162

Warum werden solche Gespräche anberaumt? Die übliche Antwort lautet, dass das Streben nach Einheit dem Gebet Christi, dass „sie alle eins seien“ (Johannes 17,11), entsprechen soll. Die Einheit, um die Christus gebetet hat, ist jedoch nicht um ihrer selbst willen gemeint, sondern die Einheit verfolgt nach Johannes 17,21 das Ziel, „dass die Welt glaube“. Die Frage ist daher um so dringlicher, wie diese Einheit aussehen muss. In ökumenischen Debatten werden verschiedene Modelle wie „organische Union“ oder „föderative Union“ oder „Einheit im Vollzug“20 diskutiert, und einige Kirchen argumentieren, dass bestimmte Vorbedingungen, wie die Anerkennung der ersten sieben ökumenischen Konzilien oder des „historischen Epikopats“ oder des „Papstamtes“ erreicht sein müssen, bevor Einheit möglich werden könnte. Etliche Kirchen argumentieren, dass Baptisten wegen ihrer kongregationalistischen Verfassung und ihrer Betonung der „Autonomie der Ortsgemeinde“ sich der Schwierigkeit stellen müssen, wer mit einer gewissen Autorität für sie sprechen kann. Dies ist ein sehr wichtiges Thema, wenn es um die „Rezeption“, die Aneignung, der Ergebnisse zwischenkirchlicher Gespräche geht. Aus baptistischer Sicht lässt sich sagen, dass bereits die Tatsache laufender Dialoge ein Zeichen der Einheit ist; es ist eine „Einheit im Prozess des Werdens“. Die anderen Kirchen oder Denominationen werden vom Beginn der Gespräche an als Gemeinschaften anerkannt, die denselben Gott verehren, demselben Herrn nachfolgen und auf denselben Geist hören. Die Dialoge werden initiiert, um Wege zu einer engeren Zusammenarbeit in Gemeinschaft, Dienst und theologischen Lehren zu erkunden. Voraussetzung für Gespräche mit anderen Traditionen ist ein Bewusstsein für die eigene Identität, die weiter durchdacht werden kann, wenn die eigene Position einer kritischen Beurteilung durch andere ausgesetzt wird. Daher sind Gespräche zwischen den Kirchen für alle Beteiligten von Vorteil, und sie geben der Welt ein Zeugnis, wie Christen friedlich miteinander reden, exklusive Ansprüche überwinden und dennoch auf Unterschiede stoßen können, sich aber gleichwohl als Schwestern und Brüder im Glauben anerkennen. 20 Man

denke nur an den Unterschied zwischen „vereinigten“ und „sich vereinigenden“ Kirchen.

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Die nächste Phase der Gespräche betrifft nicht-christliche religiöse Traditionen. Dies ist sehr wichtig für Länder, in denen andere Religionen eine Mehrheit bilden oder sogar den Staat bestimmen. Eine BWA-Antwort wurde von einer Sonderkommission unter der Leitung des Oxford-Professors Paul Fiddes zu einem Dokument erstellt, das 138 muslimische Gelehrte am 13. Oktober 2007 mit dem Titel „Ein gemeinsames Wort zwischen uns und Ihnen“ veröffentlichten.21 Das Dokument geht davon aus, dass es eine gemeinsame Grundlage zwischen beiden Religionen gebe, die auf drei Prinzipien beruhe: Der Einheit Gottes sowie der Gottes- und Nächstenliebe. Die baptistische Antwort ist vorsichtiger und sagt, die „gemeinsame Grundlage“ müsse nicht dasselbe unter Gottes- und Nächstenliebe verstehen, sondern könne meinen, dass das Doppelgebot einen Raum oder einen Bereich eröffnet, in dem Anhänger beider Religionen zusammen leben, miteinander sprechen, Erfahrungen austauschen und zusammen arbeiten können, um das menschliche Leben zu bereichern und um die ewigen Wahrheiten, von denen unsere beiden Glaubensweisen Zeugnis ablegen, weiter zu erkunden.22 2.2 Soziale Fragen 2.2.1 Religionsfreiheit Die Situation in Russland und Rumänien war für die Baptisten besonders schwierig, da die orthodoxen Kirchen versuchten, die religiöse Kontrolle durch die Regierungen aufrechtzuerhalten und nicht nur Baptisten, sondern auch andere Gemeinschaften zu unterdrücken. In Toronto 1928 erklärte Rushbrooke den Delegierten, er habe wiederholt Rumänien besucht und einem Staatsminister gesagt, Baptisten seien nicht als „Anarchisten und Parias“ zu behandeln. Das Leiden könne vielleicht nur einige betreffen, aber „die Beleidigung berührt Millionen von Menschen auf der ganzen Welt, die sich erst dann zufrieden geben, wenn ihre Brüder frei sind“. Er versicherte den Delegierten, 21

Vgl. Baptist-Muslim Relations, in: Baptist World 2009–2 Common Word Between Us and You. 5-Year Anniversary Edition (Amman: MABDA, 2012), 53 f.; 214 f. 22 A

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worum es bei dem Weltbund ging: Es bedeutet „die Botschaft von Roger Williams bis ans Ende der Welt zu tragen.“ 23. Als Stalins Programm der Verfolgung aller Religionen die Inhaftierung von Baptistenpredigern und die Schließung von Gotteshäusern bedeutete, forderte der Weltbund den amerikanischen Präsidenten Roosevelt auf, seinen Einfluss zu nutzen, um eine Mäßigung der Verfolgung zu erreichen. Bei einem Empfang im Jahr 1937 bemerkte Rushbrooke: „Wenn der Weltbund im Interesse der Gewissensfreiheit, der Anbetung und der Predigt handelt, handelt er nicht nur für Baptisten, sondern für alle.“24 Als nach dem Ersten Weltkrieg eine Konferenz 1920 in London zusammentrat, wurde ein Manifest zur Religionsfreiheit veröffentlicht. Es betonte „das unveräußerliche und von Gott gegebene Recht eines jeden Menschen auf die freie Ausübung seines Geistes und seines Gewissens in allen religiösen Angelegenheiten“ und fuhr fort: „Die Religionsfreiheit setzt alle Menschen auf genau dieselbe Grundlage vor Gott und in Beziehung zu menschlichen Regierungen. Wir fordern daher die Regierungen der Welt auf, diesem unbezahlbaren Menschenrecht Gesetzeskraft zu verleihen und den Prozess nicht länger zu verschleppen.“25 Baptisten waren der Meinung, dass Religionsfreiheit in den internationalen Beziehungen eine Rolle spielt, weshalb führende Baptisten beteiligt waren, als im Mai 1945 die Vereinten Nationen organisiert wurden. Der damalige BWA-Generalsekretär Walter Oliver Lewis (1877–1965) eilte zusammen mit Joseph Martin Dawson (1879–1973) nach San Francisco, um sicherzustellen, dass „die zu verabschiedende Charta die Gewährleistung der vollen Religionsfreiheit für jeden Menschen beinhalten würde.“ Um dieses Ziel zu unterstützen, hatte Dawson „hunderttausend Petitionen von Baptisten, aus dem Norden und dem Süden, von Weißen und Schwarzen“, gesammelt.26 23

BWA, Congress 1928, 66–67. Bernard Green, Tomorrow’s Man: A Biography of James Henry R ­ ushbrooke, (Didcot: Baptist Historical Society) 125. 25 Ibid., 149. 26 Joseph Martin Dawson, A Thousand Months to Remember. An Autobiography (Waco, TX: Baylor University Press), 1964, 161. Dawson war der Gründer der baptistischen Lobby-Organisation „Gemeinsamer Baptistischer Ausschuss für Öffentliche Angelegenheiten“. 24

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Während des Kopenhagener Kongresses 1947 hatte das Exekutivkomitee eine Kommission beauftragt, ein „Manifest über Religionsfreiheit“ vorzubereiten. Die Grundlage aller Freiheiten ist die Würde der menschlichen Person, die für Baptisten in der Ebenbildlichkeit Gottes, imago Dei, begründet ist. Daher ist es die Pflicht eines jeden Christen, „die Gewissensrechte auf alle Menschen auszudehnen, unabhängig von ihrer Rasse, Hautfarbe, ihrem Geschlecht oder ihrer Religion (oder keiner Religion)“ Das baptistische Konzept der Trennung von Kirche und Staat wird feierlich bestätigt und religiöse „Establishments“ abgelehnt. Das Manifest endete mit einer „Charta der Freiheit“, die für alle Menschen forderte: • Freiheit, den eigenen Glauben und das Bekenntnis zu bestimmen; • Freiheit der öffentlichen und privaten Anbetung, Predigt und Lehre; • Freiheit vom Widerstand des Staates gegen religiöse Zeremonien; • Freiheit, die eigene kirchliche Verfassung und die Qualifikationen der Pastoren / Pastorinnen und der Mitglieder zu bestimmen, einschließlich des Individualrechts, Mitglied einer Kirche der eigenen Wahl zu werden und des Rechts, sich zwecks gemeinsamer Aktionen zu verbünden; • Freiheit, die Ausbildung der Pastoren / Pastorinnen zu kontrollieren sowie den religiösen Unterricht der Jugend; • Freiheit des christlichen Dienstes, der (Katastrophen)Hilfe und Missionstätigkeit im In- und Ausland; • Freiheit, Einrichtungen und Eigentum zu besitzen und zu nutzen, um die Verwirklichung dieser Ziele zu ermöglichen.27

Auf dem „Goldenen Jubiläumskongress“ in London 1955 wurde eine „Goldene Jubiläumserklärung zur Religionsfreiheit“ verabschiedet. Ihre fünf Punkte hielten feierlich fest (1) das Recht, in religiösen Angelegenheiten frei zu sein; (2) das Recht, seinen Glauben zu wählen oder zu ändern; (3) eine bloße Tolerierung reicht nicht aus, alle Kirchen müssen als gleichwertig akzeptiert werden; (4) Freiheit beinhaltet das Recht, das Evangelium Christi oder andere Überzeugungen offen und ohne Behinderung zu predigen, zu lehren, zu veröffentlichen und zu befürworten.

27

Zitiert in: Baptists Together in Christ, op.cit., 107 f.

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(5) Kirchen sind bereit, mit dem Staat zusammenzuarbeiten, müssen jedoch frei von seiner Einmischung sein.28 Theodore F. Adams forderte in seiner Ansprache als Präsident auf dem Kongress in Rio de Janeiro 1960 Freiheit für, Freiheit von, Freiheit durch, Freiheit in und Freiheit der Religion.29 Im Jahr 1974 wurde der Weltbund als Nichtregierungsorganisation (NGO) von der UNO anerkannt, was ein wichtiger Schritt war, um dem Einsatz für die Menschenrechte und insbesondere für die Religionsfreiheit weltweit Nachdruck zu verleihen. Während seiner Amtszeit als Generalsekretär war Denton Lotz unermüdlich als Botschafter für Religionsfreiheit aktiv und unternahm ausgedehnte Reisen, um mit Regierungsvertretern, Aktionsgruppen, Kirchenleitern und anderen zu konferieren, damit die Menschenrechte im Allgemeinen und die Religionsfreiheit im Besonderen gefördert würden. Manchmal betonten Baptisten, dass die Religionsfreiheit der Grundstein für alle Freiheiten und Rechte ist30, zu anderen Zeiten bezeichneten sie die Religionsfreiheit als ein wichtiges oder sehr wichtiges Menschenrecht. 2.2.2 Krieg und Frieden

Auf dem Zweiten Europäischen Kongress in Stockholm 1913 war die Friedensfrage ein wichtiges Thema, wie auch schon auf dem zweiten BWA-Kongress zwei Jahre zuvor. Der US-amerikanische Stahlindustrielle Andrew Carnegie (1835–1919) hatte die Kirchliche Friedensbewegung finanziell ausgestattet, um die Friedensbemühungen durch die Kirchen zu fördern. Das erste Treffen sollte vom 1. bis 5. August 1914 in Konstanz stattfinden, aber der Ausbruch des Ersten Weltkriegs machte es unmöglich, die Konferenz abzuschließen. Teilnehmer, die bereits in Kon­ stanz waren, wurden am 3. August zur Grenzüberschreitung nach Aachen transportiert. Als der Zug in Köln anhielt, organisierten einige Teilnehmer den Weltbund für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen unter maßgeblicher Leitung des deutschen Pfarrers Friedrich Siegmund-Schultze (1865–1969), einem 28

Ibid., 120. Ibid., 129. 30 George W. Truett nannte in seiner Ansprache als Präsident in Atlanta die Religionsfreiheit „die sorgende Mutter aller Freiheit“, in: BWA, Atlanta Report, 27. 29

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Pionier der ökumenischen Bewegung. Der Krieg brachte die Aktivitäten beider Allianzen zum Erliegen. Das Thema Krieg und Frieden wurde auf dem Berliner Kongress 1934 erneut aufgegriffen. Bevor dies dargelegt werden kann, sind einige Sätze zum Verständnis der Umstände nötig.31 Als auf dem Kongress 1928 die Entscheidung fiel, den nächsten Kongress 1933 in Berlin durchzuführen, wurde eine neue Methodik angewandt. Für die Plenarsitzungen wurden fünf Themen ausgewählt, und 155 Baptisten aus verschiedenen Ländern wurden in fünf Studienkommissionen berufen, die mit Hilfe von Fragebögen ihre Untersuchungen anstellen und Berichte über Nationalismus, Rassismus, Familienmoral, Mäßigkeit und Wirtschaftsfragen verfassen sollten. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Bedingungen im Jahr 1933 wurde der Kongress um ein Jahr verschoben.32 Angesichts des angespannten politischen Klimas im nationalsozialistischen Deutschland waren die Berichte bemerkenswert offen und kraftvoll. In der Tat haben einige der Erkenntnisse der Kommissionen im Laufe der Jahrzehnte ihre überzeugende Kraft nicht verloren und sind es wert, zitiert zu werden.33 Zusätzlich zu diesen Berichten führte der neu gewählte BWAPräsident George W. Truett (1867–1944) eine starke Resolution ein, die den Krieg ablehnte und den Frieden befürwortete. Dies war einer der Höhepunkte des Kongresses. Der erste Satz gibt die theologische Grundlage an: „Dieser Kongress bekräftigt seine tiefe Überzeugung, dass Krieg dem Geist Christi widerspricht.“ Daraufhin werden internationale Missverständnisse, Eifersüchteleien, Rivalitäten und insbesondere spezielle Interessengruppen identifiziert, für die Entwicklung und Produktion

31

Vgl. meinen Aufsatz „Gerechtigkeit in Berlin 1934? Ethische Fragen auf dem Fünften Kongress des Baptistischen Weltbundes“, in: Peter Dabrock et al. (Hgg.), Kriterien der Gerechtigkeit. Festschrift für Christofer Frey (Gütersloher Verlagshaus 2003), 87–105. 32 Im Jahr 1934 konnte man nicht nur des Ausbruchs des ersten Weltkriegs vor 50 Jahren gedenken, sondern auch auf 100 Jahre Baptismus in Deutschland zurückblicken. 33 Für den Kongress in Atlanta 1939 wurden drei Kommissionen (Krieg und Frieden, Baptisten und christliche Einheit und die ökumenischen Konferenzen von 1937 in Oxford und Edinburgh) gebildet, die Berichte verfassten.

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von Kriegsmunition einen kommerziellen Wert darstellen34; hier liegen die Ursachen, die es unmöglich machten, eine allgemeine Abrüstung zu sichern. Es muss eine internationale Agentur geben, die wirksam mit internationaler Ungerechtigkeit umgehen kann. Der praktische Schritt zur Einrichtung einer solchen Agentur ist die weitreichendste Idee der Entschließung. Der Vorschlag sah vor, die Doktrin der nationalen Souveränität wesentlich so abzuändern, dass bestimmte Rechte den nationalen Regierungen entzogen und in die zu schaffende Behörde übertragen werden.35 Um dies zu erreichen, sind alle Kirchen und Christen dazu aufgerufen, auf ihre Regierungen äußersten Druck auszuüben, damit eine internationale Stelle mit Machtbefugnissen für die Aufrechterhaltung des Friedens in der Welt „auf der Grundlage von Gleichheit und Recht“ geschaffen werden kann. Der Kongress empfahl außerdem nachdrücklich, dass „alle christlichen Männer und Frauen ständig ihr persönliches Zeugnis gegen den unmenschlichen und antichristlichen Charakter des Krieges ablegen“. Auch wurde im Weltbund erkannt, dass die eigene Kraft nicht ausreicht. Man appellierte daher an alle Kirchen: „Der Kongress würde die Einberufung einer internationalen Konferenz der christlichen Kirchen, falls irgend möglich, begrüßen, um Krieg abzuwenden und Frieden zu stiften, und er würde seine Mitgliedskirchen auffordern, sich einer solchen Bewegung anzuschließen.“36 Dieser ökumenische Vorschlag ist um so herausragender, als er keinen Präzedenzfall hatte. Wenige Wochen nach dem Kongress flehte der deutsche Märtyrer Dietrich Bonhoeffer (1906– 1945) auf einer ökumenischen Versammlung in Fanö, Dänemark, die Kirchen an, ein „Friedenskonzil“ einzuberufen. Die Zeit sei gekommen, sagte Bonhoeffer, dass die universale Kirche wie die Kirche der ersten Jahrhunderte in einem Konzil zusammenkommen müsse, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Da die 34 Der

Atlanta-Bericht von 1939 sagte unverblümt: „Wir drücken unsere Abscheu über die unmoralische Sichtweise aus, die es erlaubt, aus Krieg Profit zu schlagen […].“ 35 Anscheinend war diese Idee eine der Erkenntnisse von Rushbrooke. Er betont stolz, dass die Konferenz in Oxford sie im Jahr 1937 aufgegriffen hatte und dass der britische Botschafter in Washington, Lord Lothian, nachdrücklich und wiederholt auf die Bedeutung dieser Idee hinwies. BWA, Atlanta-Bericht, 38. 36 BWA, Report Berlin 1934, 14.

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Baptisten eine demokratischere Orientierung haben, forderten sie eine „Konferenz“ und kein „Konzil“, aber beide Gesuche zeigen die Dringlichkeit der Aufgabe zu einer Zeit, als der Nationalismus gerade dabei war, seine hässliche Fratze zu zeigen. Auf dem nächsten Kongress in Atlanta 1939, wenige Wochen vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, wurde die Frage gestellt, was Baptisten tun können, um den Krieg abzuwenden und den Frieden zu fördern.37 Die Studienkommission lehnte entschieden die fatalistische Vorstellung von der Unausweichlichkeit des Krieges ab und reflektierte zunächst über die Funktion des Staates. Der Staat muss Gerechtigkeit, Recht und Ordnung gewährleisten und ist daher „der wichtigste Ausdruck zur Förderung des menschlichen Gemeinschaftslebens“. Gerechtigkeit, Recht und Ordnung müssen auch in den internationalen Beziehungen vorherrschen. Im Einklang mit der Berliner Entschließung macht die Kommission geltend, dass die einzelnen Staaten bereit sein müssen, ihre Streitigkeiten vor einem internationalen Gerichtshof rechtlich beizulegen. Der Bericht beschreibt in sehr starken Worten das Wesen des Krieges: Krieg ist „erzwungene Feindschaft“, „diabolische Verletzung der menschlichen Persönlichkeit“, „Verzerrung der Wahrheit“, „Missachtung von Recht und Gesetz“, „Hass“, „systematische Brutalität“ und „eine der schrecklichsten Äußerungen menschlicher Sünde“. Als solcher ist Krieg „mit dem Ideal Jesu für das menschliche Gemeinschaftsleben unvereinbar“ und ist „etwas, von dem Christus uns erlösen möchte“.38 Trotz dieser Aussagen gibt der Bericht zu, dass es unter Christen Meinungsverschiedenheiten gibt. Die pazifistische Position fordert einen klaren Verzicht auf jegliche Teilnahme an militärischen Aktionen. Andere meinen, dass der Staat Macht ausüben kann und dass in diesem Rahmen der Krieg ein „letzter Ausweg“ oder ein „notwendiges Übel“ ist. Es gibt noch andere, die einen Mittelweg einnehmen: Krieg ist sündig und Christen müssen dem Krieg und seinen Ursachen entgegenwirken, aber er kann ethisch gerechtfertigt sein, „um Recht, Ordnung und Freiheit 37 38

BWA, Atlanta Report, 1939, 96–110. BWA, Atlanta Report, 1939, 101.

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aufrechtzuerhalten“.39 Unter den vorherrschenden Bedingungen der Zeit zieht die Kommission die dritte Position vor, obwohl sie auch die Meinung vertritt, dass Gott die Menschen zum Pazifismus rufen kann, um das Gewissen der Öffentlichkeit „angesichts des schrecklichen Übels des Krieges“ aufzurütteln. Später, als sich die Welt in Angst und Schrecken vor einer atomaren Vernichtung befand, verurteilte der Generalrat 1981 das Vertrauen auf atomare Waffen als „so abscheulich wie bakteriologische oder chemische Kriegsführung“. In seinem Weihnachtsbrief von 1940 an die Mitglieder des Exekutivkomitees schaute Rushbrooke über den Krieg hinaus und schrieb: Die Sicherheit eines jeden hängt letztendlich von der Gerechtigkeit für alle ab – das gilt auch für Deutschland oder Russland, für Italien oder Japan. Die Isolation muss der Zusammenarbeit weichen und die Frage „Bin ich meines Bruders Hüter?“ muss aufhören […]. Dies ist nur eine andere Art zu sagen, dass die Goldene Regel die Beziehungen von Gesellschaften, einschließlich Staaten, nicht weniger regeln muss als die von Einzelpersonen.40

Als die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa die „Helsinki-Vereinbarungen“ annahm und die nach dem Zweiten Weltkrieg gezogenen Landesgrenzen anerkannte und die Menschenrechte respektierte, begrüßte der Weltbund auf seinem Stockholmer Kongress 1975 diese Entwicklung. Auch als der Kalte Krieg noch nicht vorüber war, setzte sich der Weltbund weiter für den Weltfrieden und die Menschenrechte ein, wie es der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter in seiner Ansprache vor dem Kongress in Los Angeles tat. Eine internationale baptistische Friedenskonferenz wurde im August 198841 in Sjövik, Schweden, durchgeführt, und Glen Stassen (USA; 1936–2014), A. M. Bichkov (UdSSR) und Michael J. Cleaves (Vereinigtes Königreich) nahmen Bezug auf das Helsinki-Abkommen. An39

BWA, Atlanta Report, 1939, 101. B. Green, op.cit., 183 41 Seek Peace and Pursue It (Psalm 34:14). Proceedings from the 1988 International Baptist Peace Conference Sjövik, Sweden, August 3–7, 1988, edited by H. Wayne Pipkin (Memphis, TN, Rüschlikon, Switzerland: Baptist Peace Fellowship of North America and Institute for Baptist and Anabaptist Studies) 1989. 40

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dere beriefen sich auf die Geschichte des reformatorischen Täufertums und der Baptisten (H. Wayne Pipkin, Heather M. Vose und Paul R. Dekar). Als die Sowjetunion auseinander brach und die Länder des Warschauer Pakts von sowjetischer Kontrolle befreit waren, wurde von einer „Friedens­dividende“ gesprochen, und es eröffneten sich neue Möglichkeiten für Religionsfreiheit und Missionsarbeit. Der Rat des Weltbundes, der im Juli 2011 in Kuala Lumpur, Malaysia, tagte, befürwortete zehn Praktiken für die Schaffung eines „gerechten Friedens“42, die von Gelehrten unter der Leitung des baptistischen Theologieprofessors Glen Stassen entwickelt worden waren. Sie haben hier die Form eines Appells: • unterstütze gewaltfreie direkte Aktion; • ergreife unabhängige Initiativen; • setze kooperative Konfliktlösung ein; • anerkenne Verantwortung für Konflikte und Ungerechtigkeiten; • suche Buße und Vergebung; • fördere Menschenrechte, Religionsfreiheit und Demokratie; • fördere eine gerechte und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung; • arbeite mit kooperativen Netzwerken im internationalen System; • stärke die Vereinten Nationen und internationale Organisationen; • reduziere offensive Waffensysteme und Waffenhandel; • unterstütze Basisgruppen zur Friedensstiftung und freiwillige Vereinigungen.

2.2.3 Nationalismus

Der Berliner Kongress wusste um die enge Verbindung zwischen Krieg und Nationalismus. Der Bericht der Studienkommission zum Nationalismus43 hat den NS-Behörden zweifellos erhebliches Kopfzerbrechen bereitet. Er erklärte, dass der Nationalismus eines der größten Hindernisse für den Frieden und das Verständnis zwischen den Nationen darstellt. Die Kirche muss entscheiden, was legitimer Patriotismus und illegitimer Chauvinismus ist. Wenn der Staat Maßnahmen fordert, die dem christlichen Gewissen Gewalt antun, hat ein Christ keine Wahl: „Treue (Loyalität) zu Christus muss vor jeder anderen 42

Man spricht vom „gerechten Frieden“, um der Jahrhunderte vertretenen Lehre vom „gerechten Krieg“ etwas entgegenzusetzen. 43 BWA, Report Berlin 1934, 30–38.

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Loyalität stehen.“ Nationalistische Staaten sind gegründet auf der „absoluten und unbegrenzten Hoheit des Staates, so dass von jedem Bürger gefordert ist, sich seiner Autorität vorbehaltlos zu unterwerfen.“ Im Falle des nationalsozialistischen Deutschland wurde die staatliche Autorität zusätzlich durch die grobe Form eines sozialen Darwinismus und die Vorstellung der Überlegenheit der germanischen Rasse durch „Blut und Boden“ verstärkt. Wenn dieser chauvinistische Nationalismus nicht nur intern auf alle Bürger, sondern auch auf die internationalen Beziehungen angewendet wird, „verlieren die Bürger ihre Freiheit, und es entstehen Trennungen, Hass und Feindschaft zwischen den Nationen“. Ein Volk fördert seine eigenen Interessen durch Mittel, die die „Verletzung der Rechte anderer“ beinhalten.44 Im Gegensatz zu diesem Nationalismus besteht die christliche Verpflichtung darin, gegenüber allen Mitmenschen Liebe45 und „Opferbereitschaft“ zu zeigen und das Wohl aller Menschen zu fördern, unabhängig von Rasse, Nationalität, Religion oder sozialem Ansehen. Das Grundprinzip des moralischen Handelns im privaten wie im öffentlichen Leben ist die „dienende und opferbereite Liebe“, die mit einem „neuen Geist“ und einer „neuen Beziehung“ [zu allen Menschen] einhergeht. Für die christliche Mission ist der Nationalismus, dem Bericht zufolge, hinderlich, und er ist „im Verbund mit dem Militarismus“ am gefährlichsten. Wenn diese Kräfte „ihren zerstörerischen Einfluss unter den Völkern fortsetzen, wird die Menschheit mit Sicherheit einer sehr dunklen Zukunft entgegensehen.“ Eine nationale Isolierung muss durch internationale Freundschaft und Kooperation überwunden werden. Alle Kirchen müssen in der Verkündigung übereinstimmen, dass „selbstsüchtiger Nationalismus“ und die daraus entstehende Kriegsführung „mit dem christlichen Geist“ unvereinbar sind und dagegen „die Grundsätze von Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung fördern“. An diesen Grundsätzen müssen sich internationale Rechtsnormen orientie44

Als ein Beispiel nennt der Bericht den verletzenden und exklusiven Satz „my country – right or wrong“ – etwa: Recht oder Unrecht – es ist mein Vaterland. In der Zeit des Nationalsozialismus hatte man die erste Zeile des Deutschlandlieds von Hoffmann von Fallersleben so gedeutet. Eine Analogie gab es in der DDR: „Die Partei hat immer Recht“. 45 Diese Liebe darf nicht mit „Altruismus oder Gefühlen von Sympathie“ verwechselt werden.

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ren, für die sich die Kirche „unermüdlich“ einsetzen muss, damit internationale Streitigkeiten von einem internationalen Schiedsgericht beigelegt werden können. In diesem Zusammenhang wird die Arbeit des Völkerbundes betont, und die Kirchen werden aufgefordert, die moralischen Voraussetzungen für den Erfolg des Völkerbunds zu schaffen. Die Kirchen können unter anderem die Ausbildung der neuen Generation nutzen. Der Jugend darf nicht beigebracht werden, „auf andere Nationen als Feinde ihres eigenen [Landes] zu schauen“. Stattdessen ist es dringend notwendig, „eine neue Mentalität in Bezug auf den internationalen Frieden in der Jugend zu schaffen“. Im Mai 2001 war Berlin erneut der Ort für eine Konferenz über „Baptistische Identität und Nationale Kultur“. Diese Konferenz bestätigte das, was 1934 gesagt worden war, dass der Nationalismus, der die eigene Nation über andere erhebt, eine „Form des Götzendienstes“ und mit dem christlichen Glauben unvereinbar ist. 2.2.4 Rassismus

Der Bericht über „Rassismus“46 muss für die NS-Regierung ebenso bedrohlich gewesen sein wie der über Nationalismus. Dass die Themenbereiche Krieg, Frieden, Nationalismus und Rassismus eng verwandt sind, wurde immer wieder betont und als menschliche „Entstellungen“ verurteilt. Die Menschen in der damaligen Situation fragen nicht nur, „ob die Welt einen weiteren großen Krieg überleben könnte, sondern auch, ob eine Zivilisation am Leben bleiben kann, die das Weiterbestehen von Grausamkeit und Ungerechtigkeit einer Rasse gegen eine andere“ toleriert. Nichts könnte die Wahrheit trefflicher zum Ausdruck bringen als eine solche Aussage in der deutschen Hauptstadt 1934, als die NS-Propaganda und brutale Aktionen gegen jüdische Bürger des Landes das Leben für sie immer unerträglicher machten. Der Bericht macht es den Baptisten als einer weltweiten Gemeinschaft zur Aufgabe, das zu zerstören, was in den 46 Seit

der Nationalsozialismus sein Unwesen in Deutschland getrieben hat, kann man das Wort „Rasse“ eigentlich nicht mehr verwenden. In Ermanglung eines Ersatzes und weil es im Englischen weiterhin gebraucht wird, blieb es bei der Übersetzung stehen, manchmal unter Hinzufügung von Anführungszeichen.

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rassischen Beziehungen falsch ist. Zwar ist die biologische Tatsache der verschiedenen Rassen von Gott gewollt und sollte positiv gesehen werden, aber Rassenantipathien sind eine ethische Angelegenheit und basieren auf Angst, die aus „Stolz, schmutziger Gier und wirtschaftlicher Rivalität“ folgt. Es ist erstaunlich, dass es einen Artikel in der deutschen säkularen Presse gibt, in dem der Reporter sehr günstig über die Zusammenkunft in Berlin schrieb. Er wunderte sich, dass die „Vertreter von sechzig Nationen friedlich nebeneinander“ sitzen konnten: „der Neger neben dem Chinesen, der Engländer neben dem Argentinier, der Schwede neben dem Kapländer, der Neuseeländer neben dem Lappen. Ein unerhört farbiges Völkergemisch, ein Bild, wie es die Reichshauptstadt wohl noch nie gesehen hat. Und alle die Tausende waren eins in dem Suchen nach Wahrheit.“47 Der baptistische Bericht stellte fest, dass die antagonistischen Tendenzen in der Welt – die Vermischung der Rassen einerseits und die absolute Trennung auf der anderen Seite – die Baptisten nicht davon abhalten sollten, „ohne jede Unsicherheit“ und „in jedem Land“ zu erklären, dass Rassenunterschiede keine Rechtfertigung oder Entschuldigung für Ausbeutung oder selbstsüchtige Rassenherrschaft sind. In dem Bericht wurde dieses Prinzip auf bestimmte Situationen angewendet: • Eine Rassenbarriere beim Gottesdienst und Miteinander in der Kirche „ist eine monströse Leugnung des Herrn“. • Das Kastenwesen in Indien wird als „eine der heimtückischsten zivilisierten Sünden“ eingestuft. • Die Rivalität zwischen Juden und Arabern im britischen Mandatsgebiet Palästina ist seiner Natur nach „nicht wirklich rassistisch, sondern wirtschaftlich und kulturell“. Sie kann nur „unter freien und fairen Bedingungen des Austauschs“ beigelegt werden.48

47

Zitiert in: Carl A. Flügge, Die Botschaft der Baptisten im Echo der Presse. Erklärungen führender Männer über religiöse Duldsamkeit im Neuen Deutschland, (Kassel: Christliche Traktatgesellschaft, 31935), 39. Das Unterstrichene ist im Original gesperrt gedruckt. Flügge bezieht sich auf den Berliner Lokal-­Anzeiger vom 11. August 1934. Sein Büchlein erschien in hohen Auflagen, musste aber 1936 vom Markt genommen werden. 48 Zwischen dieser „Anwendung“ und der nächsten folgt im Original ein Abschnitt über den Antisemitismus, der im nächsten Absatz (2.2.5) behandelt wird.

175

• Die Ausbeutung „wehrloser Untertanenvölker jeglicher Rasse oder Hautfarbe“ und die „Aneignung von Grund und Boden der Eingeborenen“ durch mächtige kommerzielle Interessen oder zum Vorteil einer „begünstigten Rasse von Einwanderern“ wird als „schamlose Gier“ und als „Raub“ bezeichnet.

Wie konnten sich Baptisten auf den nächsten Kongress in Atlanta vorbereiten, herrschten dort doch Gesetze, die eine Segregation der ‚Rassen‘ nach der Hautfarbe legalisiert hatten. Diese Gesetze machten gemeinsame Gottesdienste verschiedener ‚Rassen‘ praktisch unmöglich. Das Organisationskomitee bestand jedoch aus weißen und schwarzen Baptisten, und für die Dauer des Kongresses wurden die Segregationsgesetze in Georgia aufgehoben, aber nicht abgeschafft. Stattdessen wurden gewaltige Ansprachen gehalten, die Rassismus und Rassentrennung verurteilten, und der Kongress wurde als Erfolg betrachtet. Viel später verurteilte der Rat des Weltbundes im Jahr 1986 den Rassismus und insbesondere das Apartheidsystem in Südafrika. Nach den Ausschreitungen in Südkalifornien organisierte der Weltbund eine Sonderkommission der Baptisten gegen Rassismus unter dem Vorsitz von John O. Peterson von den [zumeist afro-amerikanischen] Progressiven Nationalen Baptisten und Jimmy Carter als Ehrenvorsitzender. Die Kommission formulierte die Erklärung von Harare, in der die Baptisten aufgefordert wurden, die Sünde des Rassismus durch Evangelisation, Gottesdienste, Erziehung, Gemeinschaft und prophetisches Handeln aufzudecken und sich im Dienst der Versöhnung zu engagieren. Auf der Ratstagung des Weltbundes 1998 in Durban, Südafrika, stellte Erzbischof Desmond Tutu die Wahrheits- und Versöhnungskommission vor, deren Vorsitz er hatte. Er stellte sie als überzeugendes Modell zur Erreichung versöhnter Beziehungen innerhalb der Gesellschaft nach einem Konflikt wie dem der Apartheid vor. Im Januar 1999 kam es zu einem „Internationalen Gipfeltreffen der Baptisten gegen Rassismus und Ethnische Konflikte“ in der historischen Ebenezer Baptist Church in Atlanta, Georgia, wo sowohl Vater als auch Sohn Martin Luther King als Pastoren tätig gewesen waren. Vom Gipfeltreffen wurde ein Dokument, „Atlanta Covenant“, veröffentlicht, das alle Baptistische Unionen und Konventionen aufforderte, die Gerechtigkeit 176

zu fördern, indem sie a) Bemühungen unternehmen, um Rassismus zu beseitigen, wo immer er auftritt, b) sich im Kampf gegen ethnische Konflikte zu engagieren.49 2.2.5 Antisemitismus

Eine besonders hässliche Form der Entmenschlichung eines Volkes ist die Verachtung der Juden, die über Jahrhunderte wie ein Krebs am Leib Christi war. Erstmals 1873 benutzte ein deutscher Journalist den Begriff Antisemitismus als negative Charakterisierung von Juden, basierend auf einem biologischen Konstrukt aus überlegenen und unterlegenen Rassen. Vieles, was der Bericht über „Rassismus“ geltend gemacht hatte, wurde direkt auf die Frage des „Antisemitismus“ angewandt. „Der als Antisemitismus bekannte Geist des Argwohns und der Feindseligkeit, der sich in rassischer Verfolgung zeigt, hat mit Fragen der Hautfarbe nichts und mit der Religion nur sehr gering zu tun.“ Mit diesen Worten beginnt der Bericht über Rassismus seine vierte „Anwendung“.50 Der Antisemitismus ist nach Meinung der Kommission „fundamental eine Frage des politischen und wirtschaftlichen Wettbewerbs“. Ginge es um eine Frage der Religion, müssten die Baptisten als Nachfolger Jesu Christi „erklären, dass es unter allen anderen Glaubensrichtungen in der Welt keine gibt, für die wir eine ehrfurchtsvollere Achtung haben als für die der Juden.“ Der Bericht beklagt unzweideutig „die lange Geschichte des Missbrauchs von Juden auf Seiten christlich geprägter Nationen“ als „Verletzung der Lehre und des Geistes Christi“ und bringt gegenüber „den Juden durch Wort und Tat den Geist Jesu Christi, unseres Herrn, zum Ausdruck, ihres Erlösers und unseres Erlösers.“ Auch wenn der letzte Satzteil zu implizieren scheint, dass die Kirche der Heiden die Verpflichtung hat, die Juden zu evangelisieren, damit sie „ihren Erlöser“ erkennen, ist der Bericht dennoch eine starke Zurückweisung des Antisemitismus.

49

Baptists Against Racism. Addresses and Papers Delivered at the International Summit of Baptists Against Racism and Ethnic Conflict, ed. by Denton Lotz, (McLean, VA: BWA) 1999, 176. 50 Die anderen „Anwendungen“ sind im vorigen Abschnitt aufgeführt.

177

Im Zusammenhang mit der Frage des Antisemitismus ist die vom Kongress einstimmig angenommene Resolution zum Rassismus ebenso wichtig: Dieser Kongress, der die weltweite, ‚rassenübergreifende‘ Gemeinschaft der Baptisten repräsentiert, ist darüber erfreut, dass es trotz aller ‚Rassenunterschiede‘ eine allumfassende Einheit in Christus gibt […]. Dieser Kongress bedauert und verurteilt als eine Verletzung des Gesetzes Gottes, des himmlischen Vaters, alle rassischen Feindseligkeiten und jede Form von Unterdrückung oder unfairer Diskriminierung gegenüber den Juden, gegenüber farbigen Menschen oder gegenüber Untertanen unterschiedlicher Rassen in irgendeinem Teil der Welt. Dieser Kongress fordert die Förderung der christlichen Lehre hinsichtlich der Achtung der menschlichen Persönlichkeit unabhängig von der Rasse, und fordert als sicherstes Mittel zur Beförderung wahrer Brüderlichkeit aller Menschen die aktive Verbreitung des Evangeliums Christi in aller Welt.

Die Entschließung beginnt positiv, indem sie die „inter-rassische“ [‚rassenübergreifende‘] Natur der baptistischen Bewegung bekräftigt und ist erfreut wegen ihrer auf Christus zentrierten Einheit. Im zweiten Absatz werden sehr starke Ausdrücke verwendet, die zusätzlich durch „alle“ und „jede Form“ unterstrichen werden, um das Verurteilte zu kennzeichnen. Es ist die Art und Weise, wie Mehrheiten in Gesellschaften auf der ganzen Welt ihre Minderheiten behandeln, seien sie Juden, „farbige“ Menschen oder unterworfene ‚Rassen‘. Die Entschließung beruft sich auf die höchste Norm, das „Gesetz Gottes, des himmlischen Vaters“, wogegen das beklagenswerte Verhalten der Mehrheiten verstößt. Der letzte Abschnitt vereint zwei baptistische Prinzipien, die im Laufe der Geschichte stets aufrechterhalten wurden: (1) Jeder Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen und verdient daher den gleichen Respekt von allen anderen, da alle zusammen die „wahre Bruderschaft aller Menschen“ bilden. Der Bericht weiß, dass dieses Ziel noch nicht erreicht ist, weil Ideologien, insbesondere der Nationalsozialismus, nicht die Gleichheit aller ‚Rassen‘ fördern, sondern zwischen überlegenen und unterlegenen Rassen unterscheiden. (2) Um die Gleichheit aller, um die „Bruder“- und die Schwesternschaft aller, zu fördern, muss die Gute Nachricht als der beste Weg propagiert werden, damit 178

die eine Menschheit ohne Unterdrückung und Diskriminierung auf der Basis einer ‚Rasse‘ erreicht wird. Bedenkt man Ort und Zeit dieser Entschließung, muss man Lee Spitzer zustimmen, der schreibt: „Dies war der erste derartige Protest einer christlichen Organisation auf deutschem Boden gegen den deutschen Antisemitismus und verdient daher einen wichtigen Platz in der Geschichte der Kirche und des Holocaust.“51 Er hat auch recht, wenn er darauf hinweist, dass der Kongress von Atlanta im Jahr 1939 die Berliner Resolution lediglich wortwörtlich wiederholte, „als ob in der Zwischenzeit nichts geschehen wäre“. In Wirklichkeit war die systematischbürokratische Verfolgung der Juden, ihre Ausschaltung aus der Gesellschaft, das Verbrennen und Plündern ihrer Geschäfte und das Enteignen ihres Besitzes, die ständige Drohung, in Konzentrationslager deportiert zu werden, und viele andere Maßnahmen deutscher Behörden ständig weitergegangen und verschärft worden. Nicht zuletzt die abscheuliche „Kristallnacht“, also die Plünderung und Inbrandsetzung der Synagogen, markierte eine besondere Form der Verfolgung. Alle diese Umstände hätten, wie Spitzer feststellt, eine „Verstärkung der früheren [Berliner] Äußerung der Besorgnis“ gerechtfertigt.52 In Atlanta war es offensichtlich, vielleicht mehr noch als in Berlin, dass die deutsche baptistische Führung den Hitlerismus verteidigte und die baptistische Betonung des Prinzips der Trennung der säkularen Regierung von der Kirche nicht verstand, vor allem auch nicht die Verpflichtung der Kirche, in einer Zeit der schweren Krise prophetisch gegenüber den Machthabern aufzustehen. Der erste Kongress nach dem verheerenden Krieg fand 1947 in Kopenhagen statt. Die „Resolution die Juden betreffend“ bezog sich auf „die beispiellosen Leiden, durch die das Volk Israel gegangen ist“, und stellte fest, dass Millionen Juden „mit den unmenschlichsten Mitteln ausgerottet wurden“. Der Kongress drückte sein „Gefühl von Trauer und Scham“ aus, dass die 51 Lee

B. Spitzer, Baptists, Jews, and the Holocaust. The Hand of Sincere Friendship (Valley Forge: Judson Press, 2017), 405. Meines Wissens ist diese Resolution der einzige Protest seitens einer internationalen christlichen Organisation auf deutschem Boden gegen die Misshandlung der Juden während der Zeit der NS-Herrschaft. 52 Ibid., 422.

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„giftige Propaganda und destruktiven Entwürfe des Antisemitismus“ noch immer am Leben sind. Deshalb werden Baptisten aufgefordert, „den Geist Jesu Christi zu manifestieren, der selbst ein Kind Israels ist, und alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Leiden der Juden zu lindern “. Die Nationen sind aufgerufen, ihre Türen für die obdachlosen Flüchtlinge zu öffnen. Die Resolution appelliert dann an die Juden „überall, auf provozierende Handlungen zu verzichten und diejenigen unter ihnen, die Gewalt anwenden wollen, daran zu hindern“ Angesichts der Tatsache, dass die Juden erst zwei Jahre zuvor Opfer des Holocaust waren und erlebt hatten, was Martin Buber die „Verfinsterung der Zivilisation“ nannte, muss die Frage gestellt werden, ob Baptisten dazu berechtigt waren, Juden Ratschläge zu erteilen, wie diese sich verhalten sollten. Schlimmer noch, der Kongress stellte fest, der Missionsbefehl Christi bedeute, „das Volk Israel einzuschließen“. Daher wurden Baptisten dazu aufgerufen, „ihren Beitrag zur Unterstützung der Missionsarbeit unter den Juden zu leisten. Wir glauben, dass nur dann, wenn Christus als Herr akzeptiert wird, die Juden oder irgendein anderes Volk Erlösung, Frieden und Freiheit finden werden.“53 Diese Sprache kann nur als unsensibel gegenüber den Juden als dem Volk des Ersten Testaments beschrieben werden. 2.2.6 Fragen der wirtschaftlichen Ordnung Seit der baptistische Theologe Walter Rauschenbusch (1861– 1918) nachdrücklich zur Christianisierung der Gesellschaftsordnung aufrief, standen wirtschaftliche Fragen auf der Tagesordnung der Baptisten. Shailer Mathews (1863–1941), Theologieprofessor an der Universität von Chicago, meinte, die Evangelisierung sei mehr als eine Verkündigung mit dem Inhalt, dass Menschen dem zukünftigen Gericht und der Strafe entgehen können. Er bemühte einen Vergleich: So wie bei einer Bluttransfusion das Blut des einen auf einen anderen Menschen übertragen wird, so habe die Evangelisierung die Aufgabe, die Ideale des Evangeliums auf die maßgeblichen Kräfte der Zivilisation zu übertragen damit „Gerechtigkeit in die wirtschaftliche Ordnung“ übertragen wird. In Berlin stellte die Kommission, 53

BWA Report Copenhagen, 99.

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die sich mit wirtschaftlichen Fragen befasst hatte, die Frage, „wie Geist und Verhalten Jesu […] mit den wirtschaftlichen Bedingungen der Gegenwart zusammenhängen “ und „wie die geistigen Ressourcen unseres gemeinsamen christlichen Glaubens zu einer gerechten und unparteiischen (just and equitable) wirtschaftlichen Ordnung beitragen können “54 Der Bericht geht von drei Grundvoraussetzungen aus: Jesus habe „den absoluten Wert des Einzelnen gelehrt“, sodann „das soziale Prinzip der Zusammenarbeit und der Gegenseitigkeit“, und schließlich habe er für seine „soziale Konzeption“ am häufigsten vom Reich Gottes oder der Familie Gottes gesprochen. Daraus folgt für Baptisten die herausfordernde Aufgabe, die Demokratie „auf die Industrie und das Wirtschaftsleben“ auszudehnen. Dies beinhaltet die Ablehnung der Philosophie des Laissez-faire und des ungezügelten Wettbewerbs als nicht nur unethisch und unwissenschaftlich, sondern auch als anti-christlich. In einer Gesellschaft, in der „die Starken und Klugen und Selbstsüchtigen einen klaren Vorteil haben“, müssen die Christen versuchen, die Wirtschaftsordnung zu rekonstruieren, was ein sofortiges Handeln in drei Bereichen erfordert: (1) Ein existenzsichernder Lohn muss bezahlt werden; (2) Es muss auf einer Planwirtschaft bestanden werden, um die Ressourcen von Kapital und Arbeit korrekt zu nutzen. (3) Die Arbeitslosigkeit muss überwunden werden. Christen und Kirchen sollten sich an der Bekämpfung wirtschaftlicher Probleme beteiligen: Die Pastoren müssen als „Propheten der Kirche“ das soziale Gewissen in Bezug auf die Übel und Ungerechtigkeiten im System wecken, Christen müssen Gesetze unterstützen, mit denen antisoziale Praktiken eingedämmt werden, und alle sollten sich engagieren, um eine neue Form der „sozialen Evangelisation“ hervorzubringen, „die [wirtschaftlich] Starken zu den Grundsätzen Jesu zu bekehren“. Dies würde „die ältere individualistische Evangelisation ergänzen“ und christliche Kapazitäten für den wirtschaftlichen Wiederaufbau zur Verfügung stellen. Da diese Kommission direkt von einer „Planwirtschaft“ als Ziel sprach55, was für viele Baptisten aus den USA 54

BWA Report Berlin, 57–62. diesem Zusammenhang zitierte die Kommission zustimmend den ersten jüdischen Richter am Obersten Gerichtshof der USA, Louis D. Brandeis, der die Auffassung vertrat, dass Gerechtigkeit und Verantwortung zusammen gehören. 55 In

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nichts anderes als Sozialismus oder sogar Kommunismus bedeutete, wurde das Thema wirtschaftliche Gerechtigkeit nie wieder in einem Plenum diskutiert. Stattdessen wurde eine Kommission für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit geschaffen. Andere soziale Anliegen, die vom Weltbund aufgegriffen wurden, waren u. a.: Klimawandel – 2008–956; Klimawandel – 2009–4; Klimawandel und unsere Verantwortung –2012–5; Pariser Abkommen und Klimawandel – 2016–3 Menschenrechte: Ein Aufruf zum Handeln gegen Folter – 1984–7 Sklaverei und Menschenhandel – 2017–1 Die humanitäre Krise in Venezuela – 2017–5 Humanitäre Krise der Massenmigration unbegleiteter Minderjähriger in den Amerikas – 2014–6 Gegen Gewalt und Missbrauch von Frauen und Mädchen – 2018–2 Armut und die Nationen – 1993–4

2.3 Mission und Evangelisation Auf dem Europäischen Kongress in Berlin 1908 sagte John Clifford: „Mit einer Hand am Kreuz greifen wir mit der anderen Hand bis an den Rand der Menschheit heran. Wir sind daher missionarisch.“57 In Philadelphia 1911 argumentierte der britische Pastor J. E. Roberts von der Gemeinde Union Chapel in Manchester, dass die Evangelisierung der Städte unmöglich sei, solange die Kirchen untereinander zurückhaltend seien. „Der getrennte Zustand des Christentums ist ein Hauptgrund, dass wir unseren Einfluss auf die Massen verloren haben.“58 In StockEine Demokratisierung der Wirtschaft kann erreicht werden, wenn die Arbeiter „an der Verantwortung für das Geschäftsgebaren“ teilhaben und schließlich die volle Verantwortung übernehmen. Die Partizipation als erster Schritt und die Kontrolle der Industrie durch die Arbeiter als Endziel ist wesentlich für die Erlangung von Gerechtigkeit „in der Verteilung der Früchte des Fleißes“. Daher, so folgert die Kommission, muss sich die Kirche für die Rechte der Arbeiter einsetzen. Zitiert im deutschen Bericht, 231. 56 Das Jahr und die Nummer beziehen sich auf das Magazin des Weltbundes „Baptist World“. 57 BWA, First European Baptist Congress, 59. 58 BWA, Report Philadelphia Congress, 198.

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holm 1923 wurde argumentiert, dass die Verantwortung für die Missionsarbeit den Ureinwohnern übertragen werden muss, ohne dass die Missionsgesellschaften die Kontrolle behalten. Der Kongress in Tokyo, der erste Kongress in Asien, rief alle Mitgliedskirchen dazu auf, ein Missionsprogramm so zu gestalten, dass jede Region oder jedes Land die Art und Weise definieren sollte, wie das Evangelium kontextualisiert und kommuniziert werden kann. Der dringende Appell lautete „zur Versöhnung von sozialen, rassischen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen“ beizutragen durch geistige Erneuerung, eine aktivierte Laienschaft, ein kooperatives und mannigfaltiges Zeugnis sowie positive Äußerungen der Liebe Gottes durch den Dienst der Versöhnung. Mission, Evangelisation und Bildung wurden normalerweise in Resolutionen und anderen Verlautbarungen angesprochen, ja der Weltbund hat eine Abteilung für Evangelisation und Bildung. Diese Abteilung präsentierte dem Rat des Weltbundes 1989 das Dokument „Vision 2000“, das gebilligt wurde. Generalsekretär Denton Lotz schlug auf dem Kongress in Seoul vor, die Jahre 1990 bis 2000 zur „Dekade der Evangelisation“ zu erklären. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Befreiung der Länder des Warschauer Pakts aus sowjetischer Kontrolle ergaben sich neue Möglichkeiten für die Missionsarbeit. Soziale Anliegen, insbesondere Frieden und Versöhnung, waren Teil der Überlegungen zu Mission und Evangelisation. Evangelisation und Kontextualisierung des Evangeliums sollten zu einem „ganzheitlichen Ansatz“ führen.59 Unter der Leitung des australischen Theologen Tony Cupit veranstaltete die Abteilung für Evangelisation und Bildung Konferenzen zum Thema „Gemeindegründung“ in Berlin, Moskau, Bratislava, Culcutta, Pokhara (Nepal) und Toulouse. Weitere Treffen wurden als „Konferenzen zum Thema nichtevangelisierte Menschen“ bezeichnet und fanden in Larnaca (Zypern), ­Madras, Tura (Nordostindien) und Nordthailand statt. Zuvor waren Tagungen in Singapur, auf Kuba, in der Ukraine und Polen zum Thema Bildung und Evangelisierung einberufen worden. Im Mai 2003 berief Generalsekretär Lotz im englischen Swanwick einen „Gipfel über baptistische Mission im 21. Jahrhundert“ ein. Ein interessanter Aspekt war die neue Art und 59

Resolution 2008–4.

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Weise, wie die Mission im Westen durch eine „reverse mission“, eine „umgekehrte Mission“, durchgeführt wurde, d. h. dass ein neuer Missionsschub aus der Zwei-Drittel-Welt in die Länder erfolgen soll, aus denen einst die Missionare gekommen waren. Man kann auch sagen, dass das Missionsprogramm lautete: „Mission aus aller Welt in alle Welt“. Es folgten viele kleine Konferenzen auf der ganzen Welt. Von 2005 bis 2010 führte Tony Cupit „Living Water“(Lebendiges Wasser)-Seminare und -Konferenzen durch, um Baptisten für Evangelisation und Leitungsaufgaben auszurüsten. 2.4 Hilfe und Unterstützung Hilfe und Unterstützung standen nach beiden Weltkriegen ganz oben auf der Agenda. Einzelne und kleine Gruppen wurden in Gebiete geschickt, um die Situation zu erkunden und Berichte anzufertigen. Dann konzentrierte man sich auf die sofortige Hilfe, um die Hungersnot zu lindern, die Wohnungsnot zu beheben und den Bau von Kapellen auf den Weg zu bringen. Aber auch langfristige Planungen wurden unternommen. Ungeachtet religiöser oder anderer Unterschiede sollte allen geholfen werden, die gelitten hatten. Die langfristige Planung umfasste vor allem die Notwendigkeit, für die Ausbildung der Pastoren zu sorgen. Während des Zweiten Weltkrieges wurde ein Hilfskomitee eingesetzt, so dass der Weltbund vorbereitet war, nach dem Krieg in den durch Kriegshandlungen zerstörten Regionen und Ländern in großem Umfang Unterstützung zukommen zu lassen, oft in Zusammenarbeit mit anderen Kirchen und CARE sowie anderen derartigen Programmen. Das Problem des Welthungers wurde ab den 1960er Jahren untersucht. Die HIV / AIDS-Krise stieß auch auf eine positive Reaktion, obwohl einige einzelne Baptisten, die nicht Teil des Weltbundes waren, hässliche Interpretationen der Epidemie verbreiteten. Die Micha Initiative (Micah Challenge vgl. Micha 6, 8) und die Millenniums-­Entwicklungsziele der Vereinten Nationen zur Halbierung der weltweiten Armut wurden allen Mitgliedsorganisationen und ihren Kirchen empfohlen. Generalsekretär Gerhard Claas (1928–1988) betonte in seiner Antrittsrede auf dem Kongress 1980, dass sich „die christliche Pro-Existenz in finanzieller Unterstützung und Hilfe manifes184

tiert“. Claas war in der Organisation „Brot für die Welt“ aktiv gewesen, die sich für den langfristigen globalen Wandel einsetzt, und daher forderte Claas seine Zuhörer mit den Worten heraus, dass Christen zu oft nur „Krümel für die Welt“ geben. Er stimmte für einen „alternativen Lebensstil“ und gab einige Details an: Christen sind aufgerufen, Zeichen für den persönlichen Lebensstil zu setzen – durch Verzicht auf Konsumismus, durch Arbeit für Frieden und soziale Gerechtigkeit, durch Kampf gegen die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Verschmutzung, durch die Unterstützung der bildungsfernen Schichten und Minderheitengruppen und vor allem „durch den Dienst an den ärmsten und niedrigsten Brüdern Jesu“.60 In der Zeit nach Michail Gorbatschows Versuchen von Glasnost und Perestroika (Offenheit und Wandel) erlebten die osteuropäischen Länder eine massive Welle materieller Hilfe, die Paul Montacute, der 1990 die Leitung von BWAid übernahm, mit den Bemühungen des Weltbundes nach den beiden Weltkriegen verglichen hat. Dieser Vergleich provoziert die kritische Frage, warum dies der Fall war. Es wäre ein lohnendes Projekt, diese zweifellos beeindruckenden Leistungen des Weltbundes nach den zwei Weltkriegen und dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion mit der Höhe der finanziellen und sonstigen Hilfen des Weltbundes an so genannte „Zwei-Drittel-Länder“ nach Bürgerkriegen, Hungersnöten, Naturkatastrophen oder anderem Elend in diesen Regionen zu vergleichen. Gibt es ein Gleichgewicht bei der Versorgung mit Hilfsgütern in verschiedenen Teilen der Welt oder zeigen die Zahlen eine Präferenz? Wenn letzteres der Fall wäre, würde dies eine mangelnde Internationalisierung der BWA und eine Dominanz der nordamerikanischen und europäischen Führung widerspiegeln? Könnte man so weit gehen und sagen, dass es eine rassistische, wenn auch unbewusste Voreingenommenheit zugunsten der „Weißen“ gibt? Oder könnte es sein, dass Naturkatastrophen und Notlagen meist in Afrika und Asien auftreten und in den westlichen Medien nicht so viele Schlagzeilen verursachen? Oder ist es vielleicht eine Kombination dieser Faktoren und einiger mehr? Auf jeden Fall erscheint es bemerkenswert, dass 2019 ein „Forum für Hilfe und Entwicklung“ mit dem Ziel gegründet wurde, die 60

BWA Congress 1980, 99 f.

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Bemühungen nach einer Katastrophe zu koordinieren, größere Wirkung zu erzielen und die Partnerschaften vor Ort zu stärken. Es scheint, dass eine „Antwort“ nicht ausreicht, sondern dass Entwicklungsprojekte und deren Nachhaltigkeit stärker in den Vordergrund gerückt werden müssen. Dies würde ein größeres Budget erfordern, aber die finanziellen Mittel des Weltbundes lassen bisher keine höheren Ausgaben zu. Generalsekretär Denton Lotz bemerkte einmal, dass eine ziemlich große Anzahl von Gemeinden in Nordamerika ein viel höheres Budget hat als der Weltbund. Es stellt sich die Frage, ob baptistische Hilfs- und Entwicklungsprojekte nicht in größerem Umfang durchgeführt werden könnten, wenn Experten aus den betroffenen Ländern in enger Zusammenarbeit mit den Offiziellen des Weltbundes und mit Gemeinden mit hohen Budgets zusammenarbeiten, wobei Letztere freiwillig 10 % ihres Haushalts für nachhaltige Projekte an den Weltbund abführen. Gerhard Claas Traum von der baptistischen Pro-Existenz würde nicht nur auf individueller Basis in Erfüllung gehen, sondern auch in einer Form der Pro-Existenz der Gemeinden und des Weltbundes. Dies würde eine leichte Abweichung von dem geschätzten Erbe der Unabhängigkeit der Gemeinden und einen Übergang in eine neue Phase des interkontinentalen, interdependenten und authentischen Ressourcenaustauschs erfordern. 2.5 Baptistische Merkmale und Zusammenfassung Edgar Y. Mullins hatte während des Kongresses 1923 ein Dokument verfasst, das an die „Baptistenbruderschaft, an andere christliche Brüder und an die Welt“ gerichtet war. Seine Absicht war, den Lesern Einblick zu geben, wer Baptisten sind, wofür sie stehen und dass sie keine „gefährlichen Bürger“ sind. Er wollte auch, dass sein übersichtliches Dokument eine Atmosphäre für Baptisten unterschiedlicher theologischer Meinungen schafft, damit sie dennoch zum Zweck der Mission und Evangelisation zusammenarbeiten.61 Auf dem Kongress von 1939 in Atlanta untersuchte eine Kommission die Beziehung zwischen baptistischen „Merkmalen“ und der Einheit der Christen. 61

Vgl. Baptists Together in Christ, op.cit., 60.

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Das Bestehen der Anglikaner auf dem „historischen Episkopat“ wurde nicht als wesentlich für die Einheit der Christen betrachtet. Weder eine „organische“ Union noch eine „föderative“ Beziehung zu anderen Konfessionen war notwendig. Baptisten sollten mit Hilfe des Weltbundes mit anderen Kirchen im christlichen Dienst zusammenarbeiten.62 Die Kommission, die die ökumenischen Konferenzen von 1937 in Oxford und Edinburgh untersuchte, forderte dazu auf, die Exklusivität der Baptisten zu überdenken.63 Auch wenn sie die Schaffung eines Ökumenischen Rates der Kirchen nur zögerlich unterstützte, weil die meisten Kirchen „Staatskirchen“ seien, hierarchische Strukturen oder einen „Sakramentalismus“ befürworteten, empfand die Kommission „eine Sehnsucht nach dem ökumenischen Geist unter Baptisten“. Organische Union berge zwar die Gefahr, wichtige baptistische Besonderheiten zu vermindern, aber „Sektierertum“ oder „Provinzialismus“ unter den Nachfolgern Christi sei eine „tiefe Untreue“ ihm gegenüber.64 Die Kommission des Weltbundes, die sich mit dem baptistischen Erbe beschäftigt, wurde um die „baptistische Identität“ erweitert. 1999 veröffentlichte die Studien- und Forschungsabteilung eine Broschüre „Wir Baptisten“, die vom bekannten systematischen Theologen James Leo Garrett herausgegeben wurde.65 Was bedeutet es, Baptist in einer Welt zu sein, in der Unterschiede zwischen Kirchen immer weniger wichtig sind? Bewegen wir uns in Richtung des Nicht- oder Nachkonfessionalismus oder Nachdenominationalismus? Was lehren die Baptisten über die Kirche, über ihre Strukturen und Veränderungen, über ihre Autonomie oder ihre Wechselbeziehung zu benachbarten Kirchen, über die Rolle von Pastoren und Laien, über Frauen in Führungspositionen und ihre Ordination? Welchen Unterschied gibt es, wenn überhaupt, zwischen Ordinierten und anderen? Was bedeutet „Priestertum aller Gläubigen“? Vielleicht können all diese Fragen und wofür der Weltbund steht, einer Beantwortung zugeführt werden, indem 62

Lehre trennt, Dienst eint = doctrine divides, service unites war ein geflügelter Ausspruch in manchen ökumenischen Kreisen der Zeit. 63 Die Exklusivität war in der Vergangenheit entstanden, weil Baptisten durch andere Kirchen Verfolgungen erlitten. 64 Vgl. den gesamten Bericht in: BWA Atlanta Congress 1939, 126–138. 65 James Leo Garrett (1925–2020), ed., We Baptists (Franklin, Tennessee: Provi­ dence House Publishers) 1999.

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man die baptistischen Besonderheiten genauer unter die Lupe nimmt und die Bezeichnung „Baptist“ als Akronym verwendet.66 a.) Der Buchstabe „B“ steht für die Bibel als der obersten Autorität, der obersten Norm (der norma normans = der normierenden Norm im Unterschied zu norma normata = der genormten Norm) für Theologie, Leben und Dienst. Es muss jedoch ein Warnzeichen aufgerichtet werden, um nicht in die Falle des Fundamentalismus zu stürzen; denn der Fundamentalismus basiert auf nicht-biblischen Begriffen und behauptet, die Bibel sei „fehlerlos“ oder „unfehlbar“ und die Geschichte würde sich in „Dispensationen“ entfalten. Die Bibel muss als göttliche Offenbarung und menschliche Literatur gelesen werden. b.) Der Buchstabe „A“ steht für die Autonomie der Ortsgemeinde. Nur sie entscheidet über ihre Finanzen, ihren Pastor, ihren Leitungskreis, ihre Programme; keine andere kirchliche Autorität darf in ihre Angelegenheiten eingreifen. In der heutigen Welt muss die Autonomie jedoch durch eine wechselseitige Beziehung der Gemeinden ergänzt werden. Schon in der baptistischen Geschichte haben Gemeinden bestimmter Regionen Assoziationen organisiert, im Deutschen früher als „Vereinigungen“ bezeichnet. Heute geht dieses Schema weiter und umfasst nationale und kontinentale Unionen oder Konventionen und schließlich den Weltbund selbst. Das Prinzip der „Autonomie“ und der „Assoziationen“ muss heute über die eigene Konfession hinausgehen und sich auf Christen anderer Traditionen beziehen. c.) Der Buchstabe „P“ steht für das Priestertum aller Gläubigen, Frauen und Männer aller ethnischen Herkunft. Jeder Gläubige hat direkten Zugang zu Gott, jeder Gläubige hat eine Stimme, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, jeder Gläubige kann „priesterliche“ Funktionen ausüben, d. h. mit Menschen sprechen, die seelsorgerliche Hilfe benötigen, mit Menschen beten, die danach fragen, und andere Funktionen ausüben. Es gibt auch keinen ontologischen Unterschied zwischen Ordinierten und Nicht-Ordinierten, gemeinhin als Laien bezeichnet; der Unterschied ist funktional. Das „Priestertum aller Gläubigen“ spiegelt das egalitäre Prinzip des baptistischen Lebens wider. Die „Priester“ können auch, wenn Gelegenheiten 66

Vgl. Dietmar Lütz, Wir sind noch nicht am Ziel. Plädoyers für eine zukunftsoffene Freikirche (WDL-Verlag, Berlin, 2002), 24 ff.

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es erfordern, ihr „Prophetentum“ ausüben und ihre „prophetische“ Stimme in der Gesellschaft erheben. d.) Der Buchstabe „T“ steht für die Taufe. Sie hat der Bewegung den Namen gegeben, vom Griechischen baptizein = untertauchen / taufen. Die Taufe wird entweder als Sakrament wie zu Beginn der Bewegung und in letzter Zeit immer öfter, oder als „Verordnung“ Christi verstanden, aber stets nur an Gläubigen vollzogen, die bewusst ein öffentliches Bekenntnis ablegen können. Dieser Akt der Taufe hat Ausstrahlungen auf das Erscheinungsbild der Kirche, die als „Kirche der Glaubenden“ wahrgenommen wird. „T“ steht auch für Trinität. Gott ist der Schöpfer aller, der sich wie ein Vater verhält und die wie eine Mutter ihre Kinder tröstet. In der Kraft des Heiligen Geistes begegnen Menschen Jesus Christus als Erlöser der Welt und jedes einzelnen Gläubigen. Gott sandte Jesus Christus in diese Welt, um die gute Nachricht zu bringen, und Jesus Christus sendet sein Volk. Gott und Christus „senden“ und lassen die Gemeinde an der missio Dei teilnehmen. Baptisten scheinen eine Tendenz zu haben, nicht viel über die Trinität zu sprechen oder zu predigen, aber sie ist für die christliche und daher auch für die baptistische Theologie unerlässlich und lebenserhaltend. Baptisten taufen im Namen der Trinität, so dass bei jedem Taufgottesdienst der dreieinige Gott angerufen und die „missionale“ Kirche zu ihrer Aufgabe erneut aktiviert wird. „T“ steht auch für die Trennung der geisterfüllten Kirche vom Staat oder der Regierung. Das Prinzip der Trennung hindert den Staat daran, dass er die Kirche als sein Instrument benutzt oder dass die Kirche, indem sie die Regierung manipuliert, ihre eigenen Ansichten in bestimmten Fragen der Gesellschaft auferlegt. Die Kirche ist frei von staatlicher Kontrolle, ebenso wie die Regierung frei von kirchlicher Kontrolle ist. Die Beziehung zwischen beiden sollte eine kritische Zusammenarbeit und gegenseitige Nichteinmischung sein. Die Baptisten sind daher der Ansicht, dass die Regierungen bestimmte Grenzen einhalten müssen und dass es auch Grenzen gibt, die die Kirchen akzeptieren müssen, um echte Religionsfreiheit zu gewährleisten. Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft ist das baptistische Ideal, das auch impliziert, dass Demokratie, wie sie in Versammlungen der baptistischen Gemeinden praktiziert wird, der beste Weg ist, 189

um einen Staat zu lenken und zu verwalten, und die Gesellschaft frei zu halten. Der säkulare Staat kann auch keine säkularen Ideologien fördern, um die Kirche zu ersetzen, sondern muss neutral gegenüber allen Religionen und Weltanschauungen sein, was notwendigerweise alle Formen der Verfolgung aufhebt. e.) Der Buchstabe „I“ steht für Individualismus in dem Sinne, dass Gott jeden Menschen vor die Entscheidung stellt, auf die erlösende Liebe zu vertrauen, die Gott in Jesus Christus zeigt. Der christliche Individualismus ist kein roher Egoismus oder getrieben von Eigeninteressen oder Machthunger, sondern ist in die Gemeinschaft der Gläubigen eingebettet. „I“ kann auch für Internationalismus stehen. Im 19. Jahrhundert wurden beispielsweise Baptisten in Deutschland des „Internationalismus“ beschuldigt, weil ihre Religion angelsächsischer und nicht deutscher Herkunft war und sie deshalb als „religiöse Eindringlinge“ galten. Heute können Baptisten mit Stolz erklären, den Provinzialismus und den engen Nationalismus durch die weltweite Organisation, die als Baptistischer Weltbund bezeichnet wird, überwunden zu haben. Der Buchstabe „S“ steht für ein breites Spektrum sozialer Anliegen und sozialer Aktivitäten, die Baptisten im Laufe ihrer Geschichte gefördert haben. Der Kampf für Religionsfreiheit, Freiheit gottesdienstlicher Handlungen sowie der Gewissensfreiheit ist Teil des Grundsatzes der Trennung von Kirche und Staat und hat zugleich große soziale Auswirkungen auf Gesellschaften, die diese Freiheiten in ihren Verfassungen oder Rechtssystemen umgesetzt haben. Bildungs- und medizinische Einrichtungen sowie ein breites Spektrum sozialer Dienste wie Krankenhäuser, Seniorenheime, Kindergärten, Besuchsprogramme für Häftlinge, Suppenküchen, gemeindenahe Dienste usw. machen das aus, was christliche „Diakonie“ genannt wird. Der Buchstabe „S“ kann auch für Separation und Spaltung stehen. In ihrem Streben nach Freiheit sind Baptisten oft über das Ziel geschossen und haben sich z. T. wegen Kleinigkeiten gespalten. Lange Zeit war der Weltbund die Einrichtung, die unterschiedliche Gruppen zusammenhalten konnte. Das hat sich entscheidend 2004 verändert, als die weltweit größte baptistische Gruppierung, die Southern Baptist Convention, unter dem Einfluss eines separatistischen Fundamentalismus den Weltbund verließ. Den Fundamentalisten war es gelungen, diese Konvention 190

total nach ihren Maßstäben aufgrund der „Fehlerlosigkeit“, inerrancy, der Bibel auszurichten. Die sechs Theologischen Seminare wurden von sog. „liberalen“ oder „linken“ Kräften gesäubert und ein verpflichtendes Glaubensbekenntnis eingeführt, in dem festgehalten wurde, dass der Ehemann der „servant leader“ der Familie ist und die Frau ihm „gracefully submissive“ sein soll. Dieser männliche Chauvinismus wurde dadurch erweitert, dass Frauen das Pastorenamt verweigert wurde. Die Leitung dieser Kirche ist fast ausschließlich männlich und weiß. Seit Jahrzehnten werden auf den Seminaren Pastoren in diesem theologischen System ausgebildet. Die Konvention hat sich immer mehr von den in diesem Aufsatz festgehaltenen baptistischen Charakteristika verabschiedet, so dass sie eine fundamentalistische Kirche mit geringen baptistischen Bezügen geworden ist.67 g.) Das zweite „T“ kann auch für Transformation stehen. Nicht nur einzelne Menschen müssen transformiert werden oder eine „Bekehrungserfahrung“ machen, sondern auch Gesellschaften. Man kann an Südafrika denken, wo das unmenschliche Apartheidsystem gestürzt werden musste, oder an den tödlichen Rassismus in Nazi-Deutschland, als Baptisten, anstatt Zuschauer zu sein, ihr Leben hätten aufs Spiel setzen müssen, um die NaziIdeologie herauszufordern, oder an das System der Segregation in den Südstaaten der USA. Prophetische Äußerungen und Handlungen, wie etwa die Vorgehensweise des baptistischen Pastors Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung, sind Teil eines sozialen Transformationsprozesses. Die einzelnen Merkmale lassen sich auch in anderen Kirchen erkennen; das Besondere beim Baptismus ist jedoch das Ineinandergreifen dieser Elemente. Man könnte geradezu von einem „baptistischen Syndrom“ sprechen.

67 Erst

2017 kam heraus, dass die beiden maßgeblichen „Architekten“ dieses Umbaus sich schwerer moralischer Vergehen schuldig gemacht haben: Der eine, ein ehemaliger Richter aus Texas, soll minderjährige Jungen sexuell belästigt haben, berief sich aber vor Gericht auf Verjährung; der andere hatte einer von ihrem Mann blau geschlagenen Frau seltsame seelsorgerliche Ratschläge gegeben und in einer auf Video festgehaltenen Predigt anzügliche Bemerkungen über Frauen gemacht. Die #MeToo Bewegung zwang mit vielen Unterschriften den Aufsichtsrat des Seminars im texanischen Fort Worth, ihn fristlos aus seinem Amt als Direktor zu entlassen.

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2.6 Der Baptistische Weltbund: 2007–2017 Neville Callam Im Zeitraum von 2007 bis 2017 konzentrierte sich der Baptistische Weltbund auf eine theologische Interpretation seines Lebens. Unmittelbar vor dem Zeitpunkt hatte das „Komitee des 20. Jahrhunderts“ seine Bemühungen darauf konzentriert, die wichtigsten Merkmale des Dienstes zu klären, den die Organisation zu erfüllen suchte. Zu ihrem Teil entwickelte die Sondereinheit zur Umsetzung (Implementation Task Force) eine Struktur für effektive Arbeit des Weltbundes in Ausübung seines Dienstes. Der Weltbund versteht seine Sendung im Sinne mehrerer Prioritäten: Förderung des Gottesdienstes, der Gemeinschaft und der Einheit; Pflege der Leidenschaft für Mission und Evangelisation; Verteidigung der Religionsfreiheit und Gerechtigkeit; Förderung einer ganzheitlichen Gemeinschaftsentwicklung und Förderung theologischer Reflexion. Diese wurden auf der Grundlage einer Verständigung darüber bestätigt, was Teilnehmer an der weltweiten baptistischen Bewegung über den Zweck der Organisation dachten. In den Jahren 2007 bis 2017 konzentrierte sich die Organisation hauptsächlich auf Folgendes: 1. Neben dem Interesse an dem Zweck des Weltbundes prüfte er, wie er sein Wesen verstehen sollte. Der Weltbund konnte sich einer Konvergenz in Bezug auf sein kirchliches Wesen und seine Bedeutung versichern. Daraus folgte eine Feier des Abendmahls auf dem Kongress in Durban im Jahr 2015 unter dem Vorsitz des Präsidenten und des Generalsekretärs. Dies wurde ohne die Behauptung erreicht, dass der Weltbund eine „Kirche“ ist. 2. Wenn der Weltbund eine kirchliche Bewegung ist, welches sind die Normen, die sich auf Personen beziehen, die in der Bewegung miteinander verbunden sind? Als Antwort darauf hat der Weltbund Prinzipien und Richtlinien für innerbaptistische Beziehungen entwickelt und bekräftigt, die in vielen Sprachen veröffentlicht wurden (http://bwanet.org/about-us2/intra-baptist-relations). In diesem Zusammenhang hat sich der Weltbund intensiv bemüht, einen Konsens über ein theologisches Verständnis der Rolle der regionalen Organisation innerhalb des Bundes als globale Bewegung zu finden. 192

3. Da der Weltbund keine Organisation ist, die baptistische Gruppen der westlichen Welt mit den „jüngeren Organisationen“, die sie in Übersee gebildet hatten, zusammenhält, sondern um eine authentische, weltweite Organisation, änderte BWA die Art und Weise, wie Ausschüsse, Kommissionen und Studiengruppen gebildet wurden. Darüber hinaus hat der Weltbund die Verwendung mehrerer Sprachen während der Versammlungen und Kongresse intensiviert. In die vom Weltbund organisierten gemeinschaftlichen Gottesdienste wurden vielfältige Kulturformen einbezogen. 4. Wie ist die Beziehung zwischen dem baptistischen Weltbund und den anderen Weltweiten Christlichen Gemeinschaften? Viel Zeit wurde darauf verwendet, um den baptistischen Gemeinden, die mit dem Weltbund verbunden sind, ein Verständnis ihrer selbst zu vermitteln, dass sie ein authentischer Ausdruck der Kirche sind, aber keinen Anspruch auf Ganzheit erheben können, wenn sie von Beziehungen zu anderen Kirchen und Kirchengruppen absehen. Der Zeitraum von 2007 bis 2017 war eine Zeit spannender und engagierter internationaler bilateraler Dialoge. Es wurde auch angestrebt, die Rezeption dieser Dialoge zu fördern. Nach Ablauf des Zeitraums (2007–2017) war der Weltbund bereit, sich auf einen Prozess einzulassen, um ein Dokument anzunehmen, das vergleichbar dem Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus der römisch-katholischen Kirche von 1993 ist. Damit war die Hoffnung verknüpft, dass der Weltbund Klarheit und Bestimmtheit erlangen könnte mit Blick auf eine theologische Begründung für seine Beteiligung an bilateralen Dialogen, die sich auch vielen Mitgliedskirchen anempfehlen würde. Auch würde es den BWA-Mitgliedern helfen, sich auf die Legitimität des dialogischen Prozesses zu einigen, und so hoffentlich eine umfassendere Rolle bei der Rezeption (Aneignung) der Früchte der Dialoge spielen, an denen der Weltbund beteiligt ist. Außerdem würde es unerfahrenen Personen, die zu Dialogteams ernannt werden, helfen, den Zweck dieser Dialoge zu verstehen.

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3. Die organisatorischen Strukturen des Baptistischen Weltbundes 3.1 Die Regionalen Gemeinschaften Die regionalen Gemeinschaften sollen die Ziele des Baptistischen Weltbundes widerspiegeln. Es gibt sechs geographische Regionen. Diese sind in alphabetischer Reihenfolge: All Africa Baptist Fellowship (AABF) 21, Obafemi Awolowo Way, Oke Bola PMB 5113 Ibadan, Oyo NIGERIA Email: [email protected] Website: www.aabfellowship.org. Asia Pacific Baptist Federation (APBF) APBF Okinawa 3–22–5 Goya Okinawa City, Okinawa 904–0021 JAPAN Email: [email protected] Website: www.apbf.info Caribbean Baptist Fellowship (CBF) 27 Balmoral Avenue, Kingston 10 JAMAICA Email: [email protected] Website: www.caribbeanbaptistfellowship.com. European Baptist Federation (EBF) Baptist House Postjesweg 150, 1061 AX Amsterdam, THE NETHERLANDS Email: [email protected] Website: www.ebf.org. North American Baptist Fellowship (NABF) 6015 Walter Gage Road, University Endowment Lands, British Columbia V6T 1Z1 CANADA Email: [email protected] Website: www.nabfellowship.org. Union of Baptists in Latin America (UBLA) 822 e Higueras Urdesa Central Guayaquil, ECUADOR Email: [email protected] Website: www.ubla.net

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3.2 Die Gliederungen des Baptistischen Weltbundes a.) BWA Exekutivausschuss

Ausschüsse des Exekutivausschusses Rechnungsprüfungsausschuss Baptistische Welt Hilfe (BWAid) BWA Auszeichnungen Haushalts- und Finanzausschuss Kongress Ausschuss Ausschuss für Verfassung und Ausführungsbestimmungen Personalausschuss Mitgliederausschuss

b.) Beratende Ausschüsse

Beratungsausschuss für Kommunikation Beratender Ausschuss für Mission, Evangelisation & Gerechtigkeit Beratender Ausschuss für Förderung und Entwicklung

c.) Kommissionen

Kommission für Bewahrung der Schöpfung Kommission für Menschenrecht Kommission für Interreligiöse Beziehungen Kommission für Frieden und Versöhnung Kommission für Rassen- und Geschlechtergerechtigkeit Kommission für Religionsfreiheit Kommission für Soziale und Wirtschaftliche Gerechtigkeit Kommission für Baptistisches Erbe und Baptistische Identität Kommission für Baptistische Gottesdienstformen und Spiritualität Kommission für Christliche Bildung / Erziehung Kommission für Christliche Ethik Kommission für Baptistische Lehre und Christliche Einheit Kommission für Evangelisation Kommission für Pastorale Dienste Kommission für Mission Kommission für Theologische Ausbildung

d.) Ausschüsse des Allgemeinen Rates Nominierungsausschuss Entschließungsausschuss

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Der Allgemeine Rat (General Council) setzt sich aus Delegierten der Mitgliedskirchen zusammen und tagt jährlich auf unterschiedlichen Kontinenten. Dann treffen sich auch die Ausschüsse und Kommissionen. 3.3 Statistiken Gesamt für Afrika Gesamt für Asien Pazifik Gesamt für die Karibik Gesamt für Zentralamerika Gesamt für Europa Gesamt für Nahen Osten Gesamt für Nordamerika Gesamt für Südamerika

Gemeinden 43.857 34.530 2.854 3.349 13.132 106 55.649 15.014

Mitglieder 18.929.416 5.070.578 367.367 232.714 732.038 6.440 19.766.653 2.395.118

Länder und Territorien: 125 Mitgliedskirchen: 239 Gesamtzahlen am 31. Dezember 2017: 168.491 Gemeinden und 47.500.324 Mitglieder Gesamtzahlen am 31. Dezember 2016: 168.885 Gemeinden und 47.976.960 Mitglieder 3.4 Auszüge aus der Verfassung des Baptistischen Weltbundes in der Fassung des Allgemeinen Rats vom Juli 2018 in Zürich, Schweiz Präambel: Der Baptistische Weltbund, der sich über alle Teile der Welt erstreckt, besteht als Ausdruck der wesentlichen Einheit der Baptisten im Herrn Jesus Christus, um der Gemeinschaft Anregungen (Inspiration) zu geben und Mittel und Wege für den Austausch von Anliegen und Fähigkeiten in Zeugnis und Dienst zu bieten. Dieser Bund erkennt die traditionelle Autonomie und gegenseitige Abhängigkeit baptistischer Gemeinden und Mitgliedskörperschaften an. 196

II. Ziele Unter der Führung des Heiligen Geistes sollen die Ziele der Allianz sein: 1. Förderung der christlichen Gemeinschaft und Zusammenarbeit unter den Baptisten in der ganzen Welt. 2. Zeugnis vom Evangelium Jesu Christi zu geben und die Mitgliedsorganisationen bei ihrer göttlichen Aufgabe zu unterstützen, alle Menschen durch Jesus Christus als Retter und Herrn zu Gott zu bringen. 3. Das Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen baptistischen Körperschaften und mit anderen christlichen Gruppen im Einklang mit unserer Einheit in Christus zu fördern. 4. Als Stellvertretung für den Ausdruck biblischen Glaubens und der historisch gewachsenen Besonderheiten baptistischer Prinzipien und Praktiken zu fungieren. 5. Als Stellvertretung der Versöhnung zu fungieren, die den Frieden für alle Menschen sucht und die Ansprüche grundlegender Menschenrechte einschließlich der vollen Religionsfreiheit einhält. 6. Als Vermittlung zu dienen, um christliche soziale Sorgen auszudrücken und die menschliche Not zu lindern. 7. In Zusammenarbeit mit den Mitgliedskirchen als Ressource für die Entwicklung von Plänen für Evangelisation, Bildung, kirchliches Wachstum und andere Formen der Mission zu dienen. 8. Durch alle möglichen Medien Kommunikationsmittel bereit zu stellen, die sich auf die Arbeit mit den genannten Zielen beziehen. V. Baptistischer Weltkongress. Der Weltbund tritt in der Regel alle fünf Jahre zu einem baptistischen Weltkongress zusammen zum Zweck der Gemeinschaft, Anregung, Information, Bereicherung, Ermutigung sowie die in der Satzung vorgeschriebenen Obliegenheiten wahrzunehmen.

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3.5 Die Präsidenten des Baptistischen Weltbundes John Clifford, Großbritannien Robert Stuart MacArthur, USA Edgar Young Mullins, USA John McNeill, Kanada George Washington Truett, USA James Henry Rushbrooke, Großbritannien

1905–1911 1911–1923 1923–1928 1928–1934 1934–1939 1939–1947

Nach seinem Tod am 1. Februar 1947 berief der Exekutivausschuss für die Zwischenzeit bis zum nächsten Kongress zwei Vizepräsidenten, Elmer A Fridell und C. J. Tinsley. Tinsley leitete den Kongress in Kopenhagen 1947. 1947–1950 C. Oscar Johnson, USA Er wollte nur drei Jahre amtieren, um den Fünf-Jahres-Turnus ­wieder zu erreichen. F. Townley Lord, Großbritannien 1950–1955 1955–1960 Theodore F. Adams, USA Joao Filson Soren, Braslien 1960–1965 William R. Tolbert, Liberia 1965–1970 1970–1975 V. Carney Hargroves, USA David Y. K. Wong, China / Hong Kong 1975–1980 1980–1985 Duke K. McCall, USA G. Noel Vose, Australien 1985–1990 Knud Wümpelmann, Dänemark 1990–1995 Nilson do Amaral Fanini, Brasilien 1995–2000 Billy Jang Hwan Kim, Korea 2000–2005 David Coffey, Großbritannien 2005–2010 2010–2015 John Upton, USA Paul Msiza, Süd-Afrika 2015–2020 Tómas Mackey, Argentinien 2020–

3.6 Die Generalsekretäre des Baptistischen Weltbundes James Henry Rushbrooke, Großbritannien

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1928–1939

Walter O. Lewis, USA Arnold T. Ohrn, Norwegen Josef Nordenhaug, Norwegen Robert S. Denny, USA Gerhard Claas, Deutschland Denton Lotz, USA Neville Callam, Jamaika Elijah Brown, USA

1939–1948 1948–1960 1960–1969 1969–1980 1980–1988 1988–2007 2007–2017

3.7 Kontaktmöglichkeiten: Baptist World Alliance 405 N. Washington St. Falls Church, VA 22046, USA Tel. 703–790-8980 Fax: 703 893–5160 Email: [email protected] www.BAWNET.ORG

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NORDAMERIKA

Baptisten in den USA und Kanada William Brackney Wie kam es, dass Baptisten in Nordamerika sind? Baptistische Ursprünge in Nordamerika weisen eine Vielzahl von Umständen auf, die manchmal miteinander zusammenhängen und manchmal einzigartig sind. Nur eine polygenetische Erklärung wird der frühen baptistischen Geschichte in Amerika gerecht. Laut dieser These gibt es für die USA und Kanada keine gradlinige Erklärung baptistischer Ursprünge und Herkunft. Vielmehr ging die Bewegung aus einer Vielzahl von Umständen hervor, wie z. B. der Baptisten in Neu-England und Carolina, die eine allgemeine Versöhnung lehrten (General Atone­ ment Baptists), der calvinistischen Baptisten in Neu-England, den mittleren Kolonien und dem Süden, den Sabbat-haltenden Baptisten, den Schwarzen Baptisten, den Separaten Baptisten und schließlich den verschiedenen ethnischen und „rassischen“ Baptisten, die einen je besonderen Ursprung hatten, und endlich den unabhängigen Baptisten, die von Gemeinde zu Gemeinde entstanden sind. Die ersten Erwähnungen von Baptisten in Nordamerika finden sich in unklaren urkundlichen Erwähnungen der JamestownKolonie und den Kolonien Plimouth Plantation und Massachusetts Bay. In diesen Fällen sollen Personen, die als „Anabaptisten“1 bezeichnet werden, in anglikanischen und kongregationalistischen Kirchen gewesen sein. Zur Mitte des 17. Jahrhunderts konnte man eindeutig als Baptisten identifizierbare Personen in Massachusetts und Rhode Island und seit den 1680er Jahren auch in Pennsylvania, New York, den Jerseys und Carolina aus1

Ein allgemeiner Begriff für „Wiedertäufer“ des 16. Jahrhunderts, der für diese und später für Baptisten herabsetzend war.

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findig machen. Dies waren sehr unterschiedliche Beweise baptistischer Prinzipien. Roger Williams (ca. 1603–1684), der für kurze Zeit Baptist war, gründete mit der Hilfe von Ezekiel Holliman († 1640) 1638 / 39 die Baptistengemeinde in Providence, Rhode Island. Während ihrer Geschichte im 17. und frühen 18. Jahrhundert war sie eine Gemeinde, die sich auf die allgemeine Versöhnung konzentrierte. Williams ist auch in Erinnerung geblieben, weil er für die erste Erklärung zur Religionsfreiheit in Nordamerika den Grund legte. Südlich der Kolonie von Williams, in Newport auf der Insel Aquidneck, gründete John Clarke (1609–1676) 1649 eine Baptistengemeinde. Seit den 1660er Jahren lassen sich vereinzelte Hinweise auf Baptisten in verschiedenen Städten in Massachusetts finden, insbesondere in Rehoboth und Swansea in der Plimouth Kolonie und in Beverly, Mendon und Taunton in der Bay Kolonie. So z. B. gründete John Myles (1621–1684), der aus Ilston in Wales stammte, im Westen der Plimouth Kolonie eine neue Stadt, in der sich 1663 eine Gemeinde befand, in der Myles die Neugeborenentaufe und die Taufe erwachsener, glaubender Menschen akzeptierte. In den mittleren Kolonien errichteten Baptisten aus Irland die über Long Island gekommen waren, eine Gemeinde in Cold Spring in Pennsylvania, und breiteten sich zu beiden Seiten des Delaware Flusses in Ost Jersey und Pennsylvania aus. Im Jahr 1681 entstand eine theologisch gemischte Baptistengemeinde in Charleston, South Carolina; sie war Ableger einer gegen die Kindertaufe gerichteten Arbeit in Kittery, Maine, und der Baptistengemeinde in Boston in der Massachusetts Bay Kolonie. Ende des 17. Jahrhunderts war die Präsenz der Baptisten entlang der Kolonien der Ostküste bekannt, vor allem bei der Gründung von Vereinigungen von Gemeinden in der östlichen Region von Massachusetts (Allgemeine Sechs Prinzipien2) und im Tal des Delaware Flusses (calvinistisch, Fünf Prinzipien3). 2

„Allgemein“ bedeutet für die Befürworter, dass das Werk Christi eine „allgemeine“ Versöhnung einschließt. Die sechs Prinzipien sind Hebr. 6, 1 f. entnommen: Buße, Glaube, Taufe, Handauflegung, Auferstehung der Toten und ewiges Gericht. 3 Die fünf Prinzipien der calvinistischen Baptisten sind: total depravity, unconditional election, limited atonement, irresistible grace and perseverance of the saints. = TULIP: totale Verderbtheit der menschlichen Natur, bedingungslose Erwählung,

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In den amerikanischen Kolonien finden sich weiter die „General Baptists“, die sich bereits 1700 in der Meerenge von Albemarle an der Küste von Nord Carolina angesiedelt hatten. Noch vorhandene Korrespondenz mit ihren Brüdern in England verweist darauf, dass für die Menschen in Carolina ein Bedürfnis an Büchern und finanzieller Unterstützung bestand. Später konnte ihr Einfluss in den Kolonien Virginia und Maryland beobachtet werden. Sabbat haltende Baptisten ließen sich in Rhode Island nieder und gründeten wegen einer Kontroverse eine eigene Gemeinde in Newport. Später konnte man ihren Einfluss auch in den Kolonien West- und Ost-Jersey beobachten. Eine dritte Gruppe von Baptisten aus Wales wurde in allen drei Regionen der Kolonien an der Küste entdeckt: die Gemeinde in Swansea in Massachusetts sowie einzelne verstreute Kolonisten in Massachusetts, eine Gruppe im Delaware Tal und eine Gruppe, die sich an der Landenge Welsh Neck im südlichen Carolina ansiedelte. Baptisten aus Wales waren einheitlich calvinistisch geprägt. Schließlich kam 1719 die erste Gruppe deutscher Baptisten, die Dunkards oder Tunkers, in Philadelphia, Pennsylvania, an und gründete eine Gemeinde in Germantown.4 Aus ihnen entstand unter Conrad Beissel (1690–1768) in den Jahren 1721–28 das Kloster Ephrata; man hielt dort den Sabbat. Errichtung einer Basis in der Kolonialzeit Zwei Faktoren führten zu einem Wachstum der baptistischen Bevölkerung in der Kolonialzeit. Zum einen wurde an den Rändern der Westgrenze eine verstreute, aber effektive Evangelisierung durchgeführt. Dies führte dazu, dass sich calvinistische begrenzte Versöhnung allein für die aus Gottes Ratschluss von Ewigkeit Erwählten, irresistible Gnade und das Durchhalten (perseverantia) der Heiligen in der Gnade. 4 In der deutschen Literatur wird diese im deutschen „radikalen“ Pietismus verwurzelte und von Alexander Mack (1679–1735) angeführte Gruppe nicht als Baptisten, sondern als „Neutäufer“ bezeichnet. Mack wurde im August 1708 bei Schwarzenau in der Eder getauft; wegen des dreimaligen Untertauchens nannte man ihn und seine Anhänger auch „Tunker“. Vgl. Marcus Meier, Die Schwarze­ nauer Neutäufer. Genese einer Gemeindebildung zwischen Pietismus und Täufertum, (AGP 53). Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2008 (Anm. des Hg.).

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Gemeinden in Maine, New Hampshire, Zentralpennsylvania und Virginia bildeten. Zum anderen entwickelten sich zahlreiche „separate“ kongregationalistische Gemeinden durch Verwerfung der Kinder- und Einführung der Gläubigentaufe zu baptistischen Prinzipien. Diese Entwicklung wurde durch die „Große Erweckung“ und die baptistische Betonung einer Gemeinde der Gläubigen vorangetrieben, wie sie von Predigern artikuliert wurde, deren Bekehrung direkt oder indirekt mit den Erweckungspredigten George Whitefields auf seinen Reisen zu tun hatte. Unter den durch die Erweckung konvertierten Baptisten befanden sich Männer wie Isaac Backus (1724–1806), Ebenezer Moulton (1709–1783), Thomas Greene (1699–1773), James Manning (1738–1791) und Hezekiah Smith (1737–1805). Weil zahlreiche separate Gemeinden zu baptistischen Grundsätzen übergingen, erneuerten die Kongregationalisten ihre rechtliche Opposition gegen die baptistische Abwendung der Steuern, die zum Unterhalt der offiziellen Pfarr- und Stadtkirchen dienten. Gegen Baptisten wurde häufig der Vorwurf erhoben, sie gingen zu den Taufen in die Flüsse, um „ihre Steuern wegzuwaschen“5. Dennoch mehrten sich die Zahl ihrer Anhänger beträchtlich. Am Ende des „Franzosen- und Indianer- Krieges“ bzw. des Siebenjährigen Krieges (1754–1763) wurden die ersten Baptistengemeinden im heutigen Kanada errichtet. In den Jahren 1761– 1763 wurden zwei Gemeinden von Neuengländern gegründet. Eine Gruppe, die sich von der Gemeinde in Swansea, Massachusetts, abgespalten hatte, emigrierte unter Leitung von Nathan Mason (1726–1804) und Charles Seamans († 1760) nach Sackville, Neu-Braunschweig (New Brunswick), wo sie ein Gemeinwesen und eine Gemeinde ins Leben riefen. Nach einem neunjährigen Aufenthalt zog die gesamte Gemeinde nach Cheshire, Massachusetts, zurück. Etwa zur gleichen Zeit floh Ebenezer Moulton (1709–1783), ein Pastor des Neuen Lichts (New Light)6 aus South Brimfield, Massachusetts, 5 Bei

der Glaubenstaufe wurde häufig davon gesprochen, dass im Wasser die Sünde abgewaschen wird (Anm. d. Hg.) 6 Die „Neuen Lichter“ waren Befürworter der Großen Erweckung, die ein lebendiges Bekehrungserlebnis vortrugen und die mutmaßlich von einem „neuen Licht“ beeinflusst waren.

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vor seinen Gläubigern und ließ sich in Neu-Schottland (Nova Scotia) nieder. Er arbeitete als Landvermesser und gründete mehrere Predigtstationen, insbesondere 1763 in Mud Creek (Wolfville) im Kings County. Es ist die älteste ununterbrochen existierende Baptistengemeinde in Kanada. Moulton kehrte später als Pastor in seine Heimatkolonie Massachusetts zurück. In dem Maß wie Baptisten neue Gemeinden gründeten und predigend durch die Lande zogen, riefen sie den starken Widerstand der bestehenden protestantischen Konfessionen hervor, insbesondere der Kirche von England (Church of England ), der kongregationalistischen Staatskirche (Standing Order) und in geringerem Maße der Presbyterianer. Die Kongregationalisten lehnten in den Anfangsjahren in Neuengland die Praxis der Gläubigentaufe ab, weil diese ihr sakramentales System sowie ihre Verwaltungseinheit von Stadt und Kirche in Frage stellte. Die Behörden in der Kolonie Massachusetts Bay versuchten häufig, die evangelistischen Bemühungen der Baptisten zu kon­trollieren. Zum Beispiel wurde Obadiah Holmes (1607–1682) aus Newport, Rhode Island, 1651 inhaftiert und ausgepeitscht, weil er einen Besuch bei einem kranken Mann in Lynn, Massachusetts, gemacht hatte. Henry Dunster (1612–1659), der erste Präsident des Harvard College (von 1640–1654) wurde ein Gegner der Kindertaufe und deshalb seines Amtes enthoben und in die Kolonie Plimouth verbannt. Ein wohlhabender Kaufmann aus Kittery in Maine, William Screven (1629–1713), wurde aus der politischen Gemeinde vertrieben, weil er sich nicht an die Gesetze hielt, nach denen Säuglinge getauft werden mussten. Religionsfreiheit war ein wichtiges Kennzeichen des aufstrebenden Baptismus. Die Baptisten wollten Freiheit, ihre Gottesdienste durchzuführen, ihre Kinder zu erziehen, Menschen zum christlichen Glauben zu bekehren. Sie wollten auch von lokalen Steuern befreit werden, weil diese der finanzielle Rückhalt kongregationalistischer Kirchen und ihrer Pastoren waren. Isaac Backus (1724–1806) aus Middleborough, Massachusetts, bekämpfte an vorderster Front das koloniale Establishment des 18. Jahrhunderts, um Baptisten von den Steuerlasten zur Unterstützung der etablierten Kirche in der Kolonie Massachusetts Bay zu befreien. Backus war 1777 ein Delegierter aus Massachusetts zum Kontinentalkongress, und seine Korrespondenz veranlasste viele, sich der Sache der Religionsfreiheit anzuschließen. Sehr 204

ähnlich wie Backus argumentierte John Leland (1754–1841), der von Connecticut nach Virginia gezogen war, wo er zu einem wichtigen Befürworter der Religionsfreiheit wurde. Backus beeinflusste stark die Familie Adams in Neu-England, während Lelands Meinung zu einer wichtigen Quelle wurde, auf die sich James Madison (1751–1836) stützte.7 Während der amerikanischen Revolution befanden sich Baptisten auf beiden Seiten. Morgan Edwards (1722–1795), ein Einwanderer, der das Bristol Baptist College besucht hatte, ließ sich in Philadelphia nieder und unterstützte die britische Kolonialherrschaft. Unter Amerikanern wurde er beschuldigt, ein Tory zu sein. Hingegen schlossen sich andere wie David Jones (1736– 1820), Hezekiah Smith (1737–1805) und John Gano (1727– 1804) der Kolonialarmee an und kämpften für die patriotische Sache. Wieder andere wie Richard Furman (1755–1825), Oliver Hart (1723–1795) und Samuel Stillman (1737–1807), der als „patriotischer Redner“ bezeichnet wurde, haben in den Baptistengemeinden für die Sache der Unabhängigkeit geworben. John Hart (ca. 1706–1779), der zu der Hopewell Gemeinde gehörte, war ein Anführer des Widerstands in New Jersey und ein Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung. Mit dem Ende der militärischen Feindseligkeiten richteten baptistische Evangelisten und Gemeindegründer ihre Aufmerksamkeit nach Westen. In den 1790er Jahren führte Elkanah Holmes (1744–1832) eine Mission unter den Tuscarora-Indianern an der Grenze zu Niagara durch. John Gano aus New York ging nach Ohio und half mit, die erste Baptistengemeinde westlich der Appalachian Berge im späteren Cincinnati, Ohio, zu errichten. Andere wie die Familie von Daniel Boone durchquerten die Cumberland Schlucht, um Land in Kentucky urbar zu machen. Von Georgia und Virginia aus siedelten sich baptistische Pastoren in Alabama, Mississippi und Texas an. An der nördlichen Grenze zogen Hunderte Baptisten aus den östlichen Kolonien als Vereinigte Empire Loyalisten nach Neu-Braun7

Aus der Familie Adams ging John Adams (1735–1826) hervor, der nach George Washington von 1797 bis 1801 der zweite Präsident der USA war. James Madison war von 1809 bis 1817 der vierte Präsident. Die Nähe der beiden Baptisten Backus und Leland zu den Präsidenten lässt erkennen, wie stark sie sich politisch im Blick auf die Religionsfreiheit engagierten (Anm. des Hg.).

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schweig und Neu-Schottland, was die bedeutende Präsenz von Baptisten in den sich entwickelnden maritimen Provinzen Kanadas ursächlich erklärt. Die Gründung einer Hochschule in Rhode Island war eine bedeutende Errungenschaft der Baptisten im 18. Jahrhundert. James Manning, ein Absolvent des presbyterianischen „Log College“ und ein New Light8, entschied sich für die Gründung eines College und die Erlangung einer Charta. Manning stieß bei den Kongregationalisten wie Ezra Stiles (1727–1795) auf heftigen Widerstand, die die Kontrolle über die Institution übernehmen wollten. Die junge Ausbildungsstätte wurde während der Revolution aufgrund der militärischen Besetzung der Räumlichkeiten geschlossen, aber Manning verteidigte tapfer ihre Belange. Er arbeitete zunächst von seiner pastoralen Position aus in Warren, Rhode Island, und verlegte dann das College in die Provinzhauptstadt Providence. Schließlich setzte das College of Rhode Island den Standard für ein klassisches Modell der Grundausbildung für Baptisten und dies ohne einen religiösen Test für Lehrende und Studierende. Baptisten machten so eine wichtige Aussage im Blick auf ihre Unterstützung gebildeter Pastoren und ihren Wunsch, Teil einer konfessionellen Tradition in Amerika zu sein. Aufbau auf einer starken Basis Das 19.  Jahrhundert zeigte bedeutsame baptistische Tendenzen. Die Hauptgruppe beschäftigte sich energisch mit verschiedenen Arten von Missionseinsätzen. Ein zweites Merkmal, das in den Vordergrund trat, war die Mannigfaltigkeit der baptistischen Bewegung in den USA und Kanada. Um 1800 waren nur wenige Baptistengemeinden nicht mit dem Hauptstrom baptistischen Lebens, den Vereinigungen

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Die „Neuen Lichter“ waren bei ihren Bekehrungserlebnissen im Rahmen der Großen Erweckung von einem „neuen Licht“ erleuchtet. Das „Log College“, ein aus Holz roh errichtetes Gebäude, beherbergte das von dem in Irland geborenen William Tennent 1726 gegründete erste presbyterianische Seminar in Amerika. Er leitete die Bildungsstätte bis zu seinem Tod 1745. Später entwickelte sich daraus die Princeton University (Anm. d. Hg.).

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oder Verbänden, verbunden.9 Die wichtigsten Verbände befanden sich in Neuengland, New York, Pennsylvania, Virginia und Charleston. Teil eines Verbandes zu sein, bedeutete gegenseitige Unterstützung und Rechenschaftspflicht. Die inländischen Missionsbemühungen trugen wesentlich zur verbandsmäßigen Zusammenarbeit bei, und zwar in einem dreifachen Organisationsprogramm, indem zuerst Gemeinden gepflanzt, sodann in nahegelegene regionale Gemeindeverbände vereinigt und schließlich durch ein öffentliches Statut in staatlichen Konventionen organisiert wurden. Die Gemeinden schufen eine „Graswurzel-Basis“, die gemäß dem baptistischen Organisationsprinzip immer das Zentrum der Autorität ist. Die Verbände bündelten die Interessen und Bedürfnisse zur Validierung von Pastoren, gegenseitiger Unterstützung sowie Konfliktlösung zwischen den Gemeinden. Bei den Landesverbänden (State Conventions) handelte es sich um politische / geographische Einheiten, die sich für die Identität religiöser Gruppen gemäß den Staaten einsetzten, das Interesse an Missionsunternehmen und deren finanzielle Unterstützung weckten. Ein Forscher dieser Geschichte bezeichnete die Konventionen als „das Königreich innerhalb der Staaten“. Eine große kulturelle Errungenschaft der staatlichen Konventionen war die Gründung von mindestens einer baptistischen Akademie, eines College oder einer Universität in jedem Staat; hier wurden nicht nur baptistische Pastoren ausgebildet. sondern auch kompetente Bürger für die Republik. Die Diversifizierung des baptistischen Lebens folgte Mustern oder Typen. Einige neue baptistische Gruppen traten wegen theologischer Schwerpunkte auf den Plan, wie die „Baptisten des freien Willens“ und die „Baptisten des offenen Abendmahls“. Die Freewill Baptists waren Anhänger von Benjamin Randal (1749– 1808) aus New Durham, New Hampshire, dessen Erfahrungen mit seinen calvinistischen baptistischen Brüdern weitgehend negativ waren. Die andere Gruppe, die in den 1840er Jahren entstanden war, kam von der New Yorker Grenze und vertrat 9

Das Prinzip der Vereinigung bedeutet die Kooperation unter Gemeinden einer Region, die nicht weiter als eine Tagesreise voneinander getrennt sind. Seine Ursprünge gehen auf englische Baptisten zurück, die das kongregationalistische System der Konsoziation imitierten.

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die gleiche Betonung. Beide Gruppen verband der gemeinsame Widerstand gegen den Calvinismus und die geschlossene Abendmahlsfeier. Andere Gemeinden und Anführer verließen den baptistischen Hauptstrom wegen der Frage der Legitimität missionarischer Bemühungen. Historische Gemeinden in Hopewell, New Jersey, und Southhampton, Pennsylvania, entwickelten hyper-­calvinistische Identitäten nach der „Alten Schule“ und verließen den Philadelphia Verband. Im Ohio Tal hielten sich die Anti-­Missions-Baptisten die Waage mit denen, die Heimatund Außenmission unterstützten. In der Nachbarschaft des Anti-­ Missions-Typs befand sich eine Sammlung von Gemeinden, die sich einem örtlichen Gemeindeprotektionismus verschrieben hatten. Einige davon befanden sich in der Region Neuengland, wo eine ungestüme Unabhängigkeit der Gemeinden das Verbandsprinzip in den Schatten stellte. In den östlichen Bundesstaaten von New York und New Jersey konnte man solche aufspüren, die sich Hardshell (harte Schale = unnachgiebig) oder Primitive Baptisten nannten, noch andere in Maryland, die den Resolutionen von Black Rock aus dem Jahr 1832 folgten10, und viele im Süden, die die Stimme von Männern wie James R. Graves (1820–1893) gerne hörten, den Pionier der Landmarkist-Bewegung11 Ein weiterer wichtiger Grund für die Diversifizierung der Baptisten in Nordamerika war der Natur nach ethnisch. Frühe sprachliche Unterschiede waren in walisischsprachigen Gemeinden in Delaware, Pennsylvania und South Carolina zu beobachten. In den 1830er und 1840er Jahren kam eine bedeutende Anzahl von Einwanderern aus Nordeuropa in die USA, hauptsächlich Deutsche, Schweden, Dänen und Norweger. Die Amerikanische Baptistische Heimatmissions-Gesellschaft (American Baptist Home Mission Society) schickte inländische Missionare in diese Gemeinden und ermöglichte ihren Beginn in den USA in den Sprachen der Alten Welt. 10

Die Resolutionen wandten sich gegen Traktatgesellschaften, ­Sonntagsschulen, die Amerikanische Bibelgesellschaft, Missionsgesellschaften, Colleges und sog. „protracted meetings“, d. h. Evangelisationsveranstaltungen an aufeinanderfolgenden Tagen, weil dies alles nicht im NT zu finden sei (Anm. d. Hg.). 11 Die Landmarker verstanden die Terminologie wörtlich, wenn sie Sprüche 22,28 interpretierten. Im Englischen lautet der Text: „Remove not the ancient landmark which thy fathers have set“ (Anm.des Hg.).

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Deutsche Gemeinden begannen in Philadelphia, New York, Rochester und Chicago, schwedische in Chicago und im oberen Mittleren Westen. Dänische und norwegische Baptisten kamen nach Illinois, Iowa und Nebraska. 1845 wurde eine deutsche Baptistenkonferenz gebildet, und 1851 hielt eine schwedische Baptistenkonferenz ihr erstes Treffen ab. Dänen und Norweger folgten 1884 diesem Beispiel. Jede dieser ethnisch definierten Baptistengemeinschaften verstärkte ihre Kultur durch Liederbücher, Zeitungen und Zeitschriften und gründete Einrichtungen, um ihre Pastoren auszubilden. Typischerweise wurden ihre Gottesdienste in ihrer Muttersprache durchgeführt. Die Deutschen konzen­ trierten ihre Bemühungen in einer eigenen Abteilung am Theologischen Seminar in Rochester, die Schweden als Teil des Morgan Park Seminars in Chicago, und die Dänen und Norweger bündelten ihre Anstrengungen in mehreren Bildungseinrichtungen in Iowa. In den 1880er Jahren begann die Arbeit unter italienischen Einwanderern in Philadelphia und New York, unterstützt durch ein 1907 begonnenes Schulungsprogramm, das der Colgate Universität angegliedert war. Die Gesellschaft für Heimatmission vernachlässigte kleinere Einwanderergruppen wie Spanier, Ungarn, Polen, Tschechen und Portugiesen nicht, sondern gründete eigens das Internationale Baptistische Seminar als multiethnisches Seminar, das 1919 in East Orange, New Jersey, seine Pforten öffnete. Das spanischsprachige Seminario Bautista Hispano-Americano wurde 1922 in Los Angeles eröffnet, um den Bedürfnissen der Mexikaner, Kubaner und Puertoricaner nachzukommen. Ein ähnlicher ethnischer Faktor zeigte sich in späteren Generationen unter chinesischen Einwanderern in Kalifornien und im pazifischen Nordwesten. Auch im kanadischen Westen bildeten sich baptistische Gemeinschaften in Saskatchewan, Alberta, und in Britisch-Kolumbien. Diese ethnischen Gemeinden entwickelten erst im 20. Jahrhundert ihre Institutionen. Die kanadischen Baptisten begannen eine ethnische Missionsarbeit, die mit der Bewegung „His Dominion Movement“ zusammenhing. Es war ein Plan, nach dem ganz Kanada zu einem christlichen Land werden sollte.12 Bap12

Der Name der Bewegung leitet sich her von der seit dem 1. Juli 1867 offiziell gebrauchten Bezeichnung Kanadas „Dominion of Canada“. Auf Vorschlag von Sir Leonard Tilley aus New Brunswick wurde der Name in Anlehnung an Psalm 72,8 gebraucht, wo es heißt: „He shall have dominion from sea to sea“, was auf

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tisten bemühten sich um Ukrainer, Deutsche, Schweden, Russen, Ruthenen, Franzosen in Quebec sowie Chinesen in BritischKolumbien und schließlich Toronto. So wie sich die ethnischen Gruppen Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA vom Hauptstrom trennten, so gab es auch in Kanada das gleiche Trennungsmuster. Die daraus resultierenden kleineren Denominationen tendierten definitiv in Richtung evangelikaler Gruppen, wie die Fellowship Baptists und Evangelical Fellowship of Canada. Die Gesellschaft für Heimatmission befürwortete eine Politik der „Amerikanisierung“. An die Stelle der europäischen Ausrichtung der Migrationskirchen sollten englischsprachige Pastoren treten und eine vollständige Integration in bestehende englischsprachige Vereinigungen und Konventionen erfolgen. Diese Bemühungen scheiterten weitgehend, weil die ersten Generationen ihren Sprachen und den nach Sprachen differenzierten Verbänden sowie dem relativen Erfolg ihrer Bildungseinrichtungen treu blieben. Erheblichen Widerstand gab es auch gegen die modernistischen theologischen Tendenzen in den englischsprachigen Gemeinden. In den 1920er Jahren hatten sich die Deutschen und Schweden wohlwollend von der Northern (später: American) Baptist Convention getrennt, um ihre eigenen „Denominationen“ zu gründen, die Nordamerikanische Baptistische Konferenz und die Schwedische Baptistische Generalkonferenz.13 Die dänisch-­ norwegische Konferenz wurde 1957 formal in die American Baptist Convention (ABC) integriert, und die italienische Baptistenvereinigung wird als eigenständige Einheit in der ABC fortgeführt. Auch die Geographie spielte bei der Besiedlung von Baptisten in Nordamerika eine Rolle. Wie wir gesehen haben, wurden Mitte des 17. Jahrhunderts Gemeinden in den kanadischen Küstenprovinzen von amerikanischen Pastoren gegründet. Um 1800 existierten genügend Gemeinden in Nova Scotia, um nach Atlantik und Pazifik bezogen wurde (Deutsch: „Er wird herrschen von Meer zu Meer“). Zu den ursprünglichen Provinzen Ontario, Quebec, Nova Scotia und New Brunswick (1867) kamen Manitoba, Northwest Territories (1870), British Columbia (1871), Yukon Territory (1898) sowie Alberta und Saskatchewan (1905) hinzu (Anm. d. Hg.). 13 Die deutschen Baptisten nannten sich „North American Baptist Conference“. Die „Swedish Baptist General Conference“ (1879) strich Swedish 1945 aus ihrem Namen und fügt „of America“ hinzu. 2008 änderte man den Namen in „Converge Worldwide“ und seit 2015 heißt sie nur noch „Converge“ (Anm. d. Hg.).

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dem Muster in Neu-England den Nova Scotia und New Brunswick Verband zu gründen. In den 1790er Jahren begann eine Missionsarbeit mit Gemeindegründungen am nördlichen Ufer des Ontariosees vom Staat New York aus. So begann baptistisches Gemeindeleben in Ober-Kanada. Montreal war in den 1830er Jahren das Epizentrum des Einflusses englischer Baptisten. Dort wurde 1838 ein baptistisches College eröffnet, das erste seiner Art nördlich der amerikanischen Grenze. Ein letzter Anfang wurde im Ottawa Tal gemacht, wo sich schottische Baptisten niederließen und ihr einzigartiges Ethos für die aufkeimende baptistische Sache einbrachten. Sie wurden stark von Glasiten aus Schottland beeinflusst.14 Ein früher Höhepunkt der kanadischen baptistischen Organisation war 1846 die Gründung einer Regionalkonvention der Küstengebiete und der Missionsorganisationen in Oberkanada (Ontario) und Unterkanada (Quebec). Die 1838 in Nova Scotia gegründete Acadia University wurde für die Baptisten in den Küstengebieten zu einem dauerhaften Einfluss. Freiwillige Gesellschaften und Missionen begründen eine Denomination Was die Baptisten des Hauptstroms im US-Kontext drei Jahrzehnte lang zusammen hielt, war ihr Engagement für Missionsprojekte. Pastoren aus dem Philadelphia Verband begannen in den 1770er Jahren damit, evangelistische Veranstaltungen vor Ort und weit darüber hinaus durchzuführen. Diese Unternehmungen erstreckten sich auf das Land der Appalachian Berge, auf Virginia und die Carolinas. Ebenso schickte der New Yorker Verband seit den 1790er Jahren Missionare zu den Indianern an der Niagara Grenze. Ab dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gründeten Baptisten in Massachusetts eine Missionsgesellschaft, die kurz- und langfristige Beauftragte nach Kanada, Maine und an die westliche New Yorker Grenze entsandte. Das Modell einer Missionsgesellschaft sollte schnell und strategisch eingesetzt werden, um den allgemeinen Anforderungen in unterschiedlichen Kontexten gerecht zu werden. 14 Glasites

waren Anhänger des Schotten John Glas (1695–1773), der ein unabhängiger Denker war, dessen Ansichten denen der Disciples of Christ in Nordamerika ähnlich sind.

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William Careys (1761–1834) Tätigkeit für die englische baptistische Missionsgesellschaft ab 1792, die Gründung der Londoner Missionsgesellschaft und der Kirchlichen Missionsgesellschaft lenkten die Aufmerksamkeit auf Indien und angrenzende Länder und Königreiche. Carey folgte einem Muster von Gesellschaften auf freiwilliger Basis, denen sich zuerst dänische Missionare bedienten, um über die englischen Regionalverbände hinauszugehen. Baptisten in Neu-England erfuhren von der Idee solcher Gesellschaften aus den Periodischen Berichten (Periodical Accounts), die Baptisten in England unter den amerikanischen Gemeinden verteilten. Im Jahr 1812 trat eine noch größere Vision in den Vordergrund der zerstreuten Baptistengemeinden. Adoniram (1788– 1850) und Ann Hasseltine Judson (1789–1826) aus Massachusetts bewarben sich als erste protestantische Kandidaten aus Amerika für die Missionsarbeit im fernen Indien. Auf dem Weg dorthin lasen sie von William Careys Arbeit und wurden zu baptistischen Prinzipien bekehrt. Sie mussten sich von der sie aussendenden Missionsgesellschaft abwenden, die von Kongregationalisten und Presbyterianern getragen war.15 Als sie in Indien ankamen, wurden sie getauft und begannen ihre Tätigkeit als erste baptistische Missionare aus Nordamerika mit der Arbeit in Burma. Zu Hause in Amerika wurde 1814 ein wichtiger Schritt zur Gründung der Allgemeinen Baptistischen Missionskonvention für Auslandsmissionen in den Vereinigten Staaten von Amerika (General Baptist Missionary Convention for Foreign Missions in the United States of America = GMC) unternommen. In dieser neuen Organisation wurden die inländischen und ausländischen Missionen sowie die Hochschulbildung koordiniert. Sie erwuchs aus der Zusammenarbeit von Luther Rice (1783–1836) aus Massachusetts mit William Staughton (1770–1829) aus Philadelphia und Richard Furman (1755–1825) aus Charleston, SC. Rice war der organisatorische Genius, der kurze Zeit in Indien verbracht hatte, und Staughton und Furman unterstützten das Projekt mit ihrem beachtlichen pastoralen Ruf. Die Konvention, die im Volksmund 15 Der

Missionsbefehl („geht hin in alle Welt“ Matth. 28) wird im Englischen als „Great Commission“ bezeichnet. Entsprechend hieß das Aufsichtsgremium der das Ehepaar Judson aussendenden Gesellschaft „American Board of Commissioners for Foreign Missions“ (Anm. d. Hg.).

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als „Triennial Convention“ bekannt wurde, weil ihre Delegierten alle drei Jahre zusammenkamen, wurde zum Sammelpunkt für Baptisten im Hauptstrom in Amerika und für einige Gemeinden in Kanada. Erst die schwierige Frage der Sklaverei sollte 1844 / 45 zur Auflösung der Konvention führen. Die Treffen der Dreijahresversammlung fanden in Städten entlang der Ostküste statt, die durch Passagierboote erreichbar waren, und die großen Treffen organisierte man in den Großstädten Philadelphia, New York, Baltimore und Richmond. In den 1830er Jahren erstreckten sich die vereinten missionarischen Bemühungen der amerikanischen Baptisten von Europa nach Asien, von Afrika bis nach Lateinamerika und in die Karibik. Die ersten Stationen wurden in Burma und Madagaskar errichtet. Von Burma dehnten sich die missionarischen Aktivitäten nach Siam, Hongkong und auf das chinesische Festland aus. Als nächstes wurden amerikanische baptistische Missionare nach Griechenland, Deutschland und Russland ausgesandt. Die große heldenhafte Persönlichkeit für die Mission in Deutschland war Johann Gerhard Oncken (1800–1884), der langjährige Angestellte der amerikanischen Missionsgesellschaft. Nach und nach ernannte der Vorstand Personal für Afrika und Haiti, wie etwa Lott Carey (1780–1829) bzw. Thomas Paul (1773–1831). Als 1845 die Auslandsmission der Südbaptisten (Southern Baptist Foreign Mission Board) gegründet wurde, eröffnete man in China, Afrika und Lateinamerika neue separate Bereiche. J. Lewis Shuck (1812–1863) und seine Frau Henrietta Hall (1817–1844) waren Pioniere der Mission der Südbaptisten in China, nachdem sie zuvor für die Triennial Convention gearbeitet hatten. Mexiko wurde zu einem wichtigen Missionsgebiet für die Südbaptisten. Später arbeiteten sowohl Southern Baptists als auch American Baptists in Japan und auf den Philippinen in geografisch getrennten Gebieten. Viele der kleineren baptistischen Gruppen entsandten Missionare: die deutsche Konferenz aus den USA nach Kamerun, die Siebenten-Tags-Baptisten nach Indien, die amerikanischen schwedischen Baptisten nach Afrika und Indien; und die Baptisten des Freien Willens nach Bengalen / Orissa / Bihar. Als sie sich in den 1890er Jahren separat organisiert hatten, unterstützten afro-amerikanische Baptisten Missionen in der Karibik und in Afrika. Kanadische Baptisten arbeiteten zunächst mit amerikani213

schen Baptisten in Indien zusammen, gründeten dann aber ihre eigenen Werke in Bolivien, Indien und Korea. Amerikanische Missionen verfolgten mehrere Ziele. Zuerst wurde die Heilige Schrift übersetzt: Zum Erlernen der Sprache gehörten sprachliche Hilfsmittel wie Wörterbücher und Thesauri sowie die Übersetzung selbst. Als nächstes kamen Evangelisation und Gemeindegründung. Es folgten Institutionen wie Colleges, theologische Seminare, Krankenhäuser und Kirchengebäude und -verwaltungen. Printmedien, die vor Ort produziert wurden, erzählten die spannenden Geschichten der baptistischen Missionen, begleitet von Zeitschriften und solchen, die von den sendenden Organisationen veröffentlicht wurden. Die Spaltung zwischen den südlichen und den nördlichen Delegierten im Jahre 1845 war absichtlich und nicht wieder gut zu machen. Obwohl seit drei Jahrzehnten oberflächlich Harmonie herrschte, diskutierte man auf der jährlich stattfindenden Sitzung des Direktoriums fortwährend zwei Themen: die Moral der Sklaverei und den inklusiven Charakter der Konvention. Unter den Unterstützern der Nationalen Konvention befanden sich zahlreiche Gemeinden, die Sklavenhalter als Mitglieder duldeten. Hinter wachsenden Interessen an der Antisklaverei und danach am Abolitionismus16 standen Männer wie der Präsident der Brown University, Francis Wayland, so dass die Delegierten des Nordens ihre negativen Gefühle über die Sklaverei frei äußerten. 1843 wurde die abolitionistische Amerikanische Baptistische Freie Missionsgesellschaft (American Baptist Free Mission Society) gegründet. Um 1843 / 44 weigerte sich die Mehrheit des Direktoriums der Konvention aus dem Norden, einen Sklavenhalter als Missionar zu ernennen. Die südlichen Delegierten betrachteten dies als eine Beleidigung. Sie argumentierten, dass politische Fragen nicht in Zusammenhang mit Mission stünden. Südliche Delegierte plädierten für eine umfassende Organisation, die Heimat- und Außenmission und dazu Publikationen und Bildung unter einem Dach zusammenbrächte. Die Würfel waren bei dem Treffen der Konvention in Providence, Rhode Island gefallen, als die südlichen Delegierten für immer die Sitzungen verließen. 16

Diese Begriffe verweisen auf unterschiedliche Grade, wie man sich das Ende der Sklaverei dachte: Antisklaverei bedeutet eine allmähliche, schrittweise Abschaffung, während Abolitionisten für ein sofortiges Ende der Sklaverei eintraten.

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Veränderung war jetzt an der Tagesordnung. Im Mai 1845 wurde in Augusta im Bundesstaat Georgia die Southern Baptist Convention (Bund oder Konvention der Südbaptisten) ins Leben gerufen. Es war eine zentralisierte nationale Körperschaft mit einem regionalen Namen. Die Arbeit geschah durch Ausschüsse für Außen- und Heimatmission, Verlagswesen sowie ein Exekutivkomitee, das Personen für alle Tätigkeitsfelder vorschlug. In den Jahren vor dem Krieg zwischen den Staaten suchte die Konvention nach ihrer Identität und vermochte in Europa, China und Lateinamerika missionarisch tätig zu werden. Die Baptisten in den nördlichen Staaten suchten in einer Parallelorganisation ihre Außenmission durch die American Baptist Missionary Union (Amerikanisch Baptistische Missionsunion) zu reorganisieren. In den USA und ihren Territorien war die Heimatmissionsgesellschaft zuständig. So wurde die Arbeit der Baptisten in den USA eine zweigeteilte Bemühung. Die Geschichte des Zusammenwachsens schwarzer baptistischer Gemeinden ist ein bemerkenswerter Vorgang in der Ära nach dem Bürgerkrieg, die „Reconstruction“ genannt wird. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vereinigten sich schwarze Baptisten in den USA. Die frühesten schwarzen Gemeinden waren Sklavengemeinden wie die auf der William Byrd Plantage im Kreis James City im Staat Virginia, deren Aufzeichnungen in die 1750er Jahre zurückreichen. Man weiß, dass weiße Prediger Plantagen in Süd Carolina in den 1740er Jahren besucht hatten, was später zu der Gründung einer schwarzen Gemeinde in Silver Bluff, nahe Augusta im Staat Georgia führte. Eine wichtige Person in den Küstenregionen von Süd Carolina und Georgia in den 1770er Jahren war George Liele (ca. 1750–1800). In dieser Zeit bekehrte er sich unter Einfluss von Predigern des „neuen Lichts“ und ging als Wanderprediger in die Gegend des Savannah Flusses. Später gründete er die ersten Sklavengemeinden in Jamaika und stellte so eine historische Verbindung zum Festland her. Die afroamerikanische Baptistenbewegung wurde durch harte Sklavengesetze in den Südstaaten in der Zeit vor dem Bürgerkrieg negativ beeinflusst. So lag die Zukunft in der Flucht in den Norden und schließlich nach Kanada. Gemeinden befreiter Schwarzer wurden in Süd-Ohio, Illinois und im westlichen New York gegründet. In Schlüsselzentren der befreiten Bevölkerung wurden die großen schwarzen Kirchen von den weißen Gemeinden dieser Städte 215

unterstützt, wie die Abyssinian-Gemeinde in New York, UnionGemeinde in Philadelphia und die Erste Afrikanische Gemeinde in St. Louis, Missouri. Als Gruppen freier schwarzer Gemeinden entstanden, wurden die ersten schwarzen baptistischen Vereinigungen in Meigs County (Ohio), Wood River (Illinois) und Amherstburg (Oberkanada) gegründet. Die letztgenannte Vereinigung hatte um 1861 eine Mitgliedschaft von über tausend Mitgliedern. Nach bewährten baptistischen Organisationsprinzipien wurden 1853 die ersten afrikanischen Konventionen im Westen gebildet, mit ähnlichen Bemühungen im Raum Chicago. Während des Krieges zwischen den Staaten unterstützte die Heimatmissionsgesellschaft (American Baptist Home Mission Society) die Gründung von Kirchen, Schulen und Organisationen in den Grenzregionen und nach dem Krieg in allen südlichen Bundesstaaten. Schwarze Pastoren wie W. J. Simmons (1849–1890) in Kentucky und E. C. Morris (1855–1922) in Arkansas standen an der Spitzte bei der Gründung der American Baptist Missionary Convention und der American National Baptist Convention. Diese regionalen Bemühungen flossen 1895 zusammen, als die National Baptist Convention in the USA entstand; sie bildete die historische Errungenschaft des schwarzen baptistischen Lebens. Die Konvention war tatsächlich ein Verband schwarzer Baptisten unter der Schirmherrschaft schwarzer Anführer. Leider sollte die Einheit der National Baptist Convention USA nicht lange dauern. Eine neue Missionskonferenz der Schwarzen Baptisten entstand 1897 in Washington, DC: die Lott Carey Baptist Foreign Mission Convention. Sie konzentrierte ihre Bemühungen auf Westafrika und Haiti. Es folgte eine anhaltende Debatte zwischen den Leitern der Lott Carey Convention und denen der Nationalen Baptisten über die Art der Zusammenarbeit mit anderen baptistischen Organisationen. Ein zweiter großer Graben bildete sich 1915, als Richard H. Boyd (1843–1922) aus Texas die National Baptist Convention of America ins Leben rief. Boyd scheiterte bei seinem Versuch, die Kontrolle über die Verlagsabteilung der National Baptists zu erringen und verließ die National Baptist Convention USA. In den 1960er Jahren verließen Martin Luther King Jr. (1929–1968) und Gardner C. Taylor (1918–2015) unter dem Eindruck der Bürgerrechtsbewegung, mit zahlreichen Gemeinden die National Baptist Convention USA, um die Progressive Nationale Baptistische Konvention zu gründen. 216

Ein neues Jahrhundert und neue Einstellungen Baptisten unternahmen 1905 einen besonders wichtigen in­­ ter­nationalen Schritt, an denen die meisten großen Gruppen in Nordamerika beteiligt waren. In diesem Jahr wurde der Bap­ tis­tische Weltbund (Baptist World Alliance = BWA) gegründet. Diesem Ereignis gingen zwei Jahrzehnte der Planung in Großbritannien, Kanada und den USA voraus. In den USA waren die nördlichen (amerikanische), südlichen und schwarzen Baptisten führend beteiligt. Die Nördlichen Baptisten waren der kollektive Ausdruck der baptistischen Gesellschaften, Southern Baptists wurden von Absolventen des Southern Seminary und einem bekannten Herausgeber der baptistischen Zeitung in Kentucky geleitet. Zu den Schwarzen Baptisten gehörten die beiden Bünde National Baptist Convention und die Lott Carey Baptist Convention. Aus Kanada sandten die regionalen Konventionen, Maritimes, Ontario / Quebec und Gemeinden aus dem Westen Delegierte zum ersten BWA-Treffen nach London. Hinter der Gründung des Weltbundes standen mehrere Strömungen des Wachstums und der Entwicklung unter den Baptisten in Nordamerika. Zu Beginn des 20.  Jahrhunderts waren Baptisten in den USA und Kanada in allen Bundesstaaten und Provinzen stark etabliert und konzentrierten sich auf Mission. Ihre doppelten Bemühungen in einem bestimmten Gebiet führten zu Diskussionen über Zusammenarbeit und letztendlich zu einem Interesse an einer internationalen Organisation. Nördliche Baptisten in den USA folgten einem vereinheitlichenden Thema, das auf eine nationale Organisation verwies. Ab den 1890er Jahren gab es eine mit voller Energie geführte Diskussion unter den Leitern der nationalen Gesellschaften, begleitet von jährlichem wissenschaftlichen Austausch auf den baptistischen Kongressen und informellen Gesprächen mit den Freien Baptisten und den Jüngern Christi.17 Spezifische Schritte wurden 1896 mit einer „Kommission für systematische Mildtätigkeit“ und 1901 mit verstärkter Zusammenarbeit unternommen. Eine 17 Die

Disciples of Christ sind eine auf Thomas Campbell (1763–1854) und seinen Sohn Alexander (1788–1866) zurückgehende Gemeindebewegung, die ähnlich strukturiert ist wie die Baptisten. Sie zeigen an der Einheit der Kirche großes Interesse und befördern die ökumenische Bewegung (Anm. d. Hg.).

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wichtige kooperative Tendenz spürten Dekan Shailer ­Mathews (1863–1941) von der Universität von Chicago und J. Spencer Dickerson von der Chicagoer baptistischen Assoziation, die sich an die Spitze eines 1907 einberufenen vorläufigen organisatorischen Treffens in der Golgatha Gemeinde in Washington, DC, setzten. Die Erklärungen dieses Treffens umfassten die Unabhängigkeit der Ortsgemeinden und die beratende Funktion der lokalen, landesverbandlichen und nationalen Organisationen. Die neue Northern Baptist Convention schuf rasch ein einzigartiges baptistisches Zeugnis. Es wurden zwei nationale Gremien geschaffen: der „Ausschuss zur Unterstützung der Pastoren und Missionare“ und der „Ausschuss für Erziehung und Bildung“. Das erste Gremium reagierte auf die Notwendigkeit, die aus dem Amt geschiedenen Geistlichen zu versorgen, während der andere Ausschuss die Aufgabe übernahm, die Beziehungen zu Hochschulen und Universitäten sowie die Bildung insgesamt zu koordinieren. Die Northern Baptist Convention trat als erste baptistische Organisation dem 1908 neu gebildeten Bundesrat der Kirchen Christi in den Vereinigten Staaten (Federal Council of Churches of Christ in the United States) bei. Mit diesem Schritt traten Baptisten in den Vereinigten Staaten offiziell der ökumenischen Bewegung bei. Die Nördlichen Baptisten waren 1905 Gründungsmitglieder des Weltbundes. 1911 fusionierten die Nördlichen Baptisten offiziell mit der Generalkonferenz der Freien Baptisten in Amerika, wodurch die alten theologischen Unterscheidungen zwischen den calvinistischen und den arminianischen Täufergruppen an ein Ende kamen. Der eigentliche Anstoß unter den Nordbaptisten ging von einer Gruppe theologisch gemäßigter bis liberaler Anführer aus, darunter Shailer Mathews, Samuel Zane Batten (1855–1925), Harry Pratt Judson (1849–1927) und Walter Rauschenbusch (1861–1918). Die führenden intellektuellen Zentren waren die Universität von Chicago, die Newton Theologische Institution, das Crozer und das Rochester Theologische Seminar. Die 1845 entstandene Southern Baptist Convention gewann an Einheit und Geltungsbereichen. Durch eine Reihe von Höflichkeitsvereinbarungen mit den nödlichen baptistischen Gesellschaften expandierten die südlichen Baptisten nach New Mexico, Arizona und Südkalifornien. Nach Norden gründeten Südbaptisten Gemeinden in Kansas und im südlichen Illinois, 218

und Missouri wechselte allmählich ausschließlich zu den Südbaptisten. Diese übernahmen auch die Verwaltung von Missionen in Mexiko, Lateinamerika und auf Kuba. Die Südbaptisten debattierten 1914 darüber, ob sie sich der aufkommenden ökumenischen Bewegung anschließen oder ihre eigene Identität fortsetzen sollten. Unter dem Einfluss des Landmarkismus beschlossen sie, sich „mit Redlichkeit des Herzens“ dem Ziel zu widmen, ihre eigenen Tätigkeiten in Kommissionen und Schulen zu fördern, und sie begannen ein Programm, um ihre Kräfte in den Südstaaten zu bündeln und ihre Missionstätigkeit in Übersee zu verdoppeln. Indem sie sich von der Teilnahme an der Ökumenischen Bewegung abwandten, starteten sie zugleich die 75-Millionen-Kampagne zum 75. Jahrestag der Konvention. Eine Reihe von Empfehlungen der Konvention unterstützte ihre Bemühungen im Jahr 1914, und das Ergebnis war die Rückzahlung eines beträchtlichen Teils der Schulden der Konvention und die Schaffung eines neuen theologischen Konfessionalismus, der auf regionaler Solidarität beruhte: 1925 nahmen die Südbaptisten das Bekenntnis „Glauben und Botschaft der Baptisten“ an sowie eine dauerhafte Struktur für eine koordinierte Mittelbeschaffung (fundraising) und -verteilung, das „Kooperative Programm“. Eine weitere wichtige Initiative in dieser Zeit war die Stärkung des Exekutivausschusses des SBC, der alle Verwaltungsräte und Kommissionen sowie die Ausgaben der Mittel koordinierte. Dazu wurde ein neues geografisches Zentrum sowohl für den Exekutivausschuss als auch für die Verwaltung der Sonntagsschularbeit (Sunday School Board) in Nashville, Tennessee, geschaffen. Aufgrund ihres neuen Selbstverständnisses wuchs der Bund der Südbaptisten (SBC) von 2 % der US-Bevölkerung im Jahr 1925 auf 5 % im Jahr 1950 und wurde zu einem wichtigen Faktor des amerikanischen Protestantismus. Vor diesem Hintergrund von Wachstum und Konsolidierung gab es allgemein im amerikanischen Protestantismus eine Reihe von Ereignissen, die Grundlegendes neu definierten und die tiefgreifende Auswirkungen auf Baptisten in ganz Nordamerika hatten. Das Phänomen, das mit dem Sammelbegriff „Fundamentalismus“ bezeichnet wird, war im Kern ein Zurückdrängen des theologischen Modernismus, des Ökumenismus, der Veränderung des Führungsverhaltens und des allgemeinen kulturellen Wandels. Baptistische Wurzeln des Fundamentalis219

mus finden sich in der schismatischen Karriere von Charles Haddon Spurgeon (1834–1892), dem englischen „Fürsten der Prediger“. Er war ein Autodidakt und ungewöhnlich aktiv, aber stets kritisch gegenüber der Führung der britischen Baptistenunion. Bei der Gründung der Evangelischen Allianz im Jahr 1846, die über seine eigene Glaubensgemeinschaft hinausging, war er eine prägende Gestalt. Als Spurgeon in den 1860er Jahren mit zunehmenden liberalen Tendenzen in der Baptistenunion konfrontiert wurde, meinte er, dass dadurch die Union „mit halsbrecherischem Tempo abstürzen“ würde. Deshalb führte Spurgeon sein „Metropolitan Tabernakel“ aus der Union heraus und gab der Gemeinde einen unabhängigen Status. Die gesamte Geschichte von C. H. Spurgeon wurde monatlich in seiner Zeitschrift „The Sword and Trowel“ (Schwert und Kelle) auf beiden Seiten des Atlantiks in Umlauf gebracht. Am Beispiel Spurgeons betrachteten Baptisten in Nordamerika es als reale Option, aus ihren Kirchen auszutreten, wenn ähnliche Bedingungen wie in England eintreten würden. Der unmittelbare Auslöser für Besorgnis in Nordamerika war die Veröffentlichung des Buches „The Finality of the Christian Religion“ im Jahr 1905. Der Autor war Professor George Burman Foster (1857–1918) von der Universität von Chicago, ebenfalls baptistischer Pastor. Foster vertrat die These, dass das Christentum eine Religion sei, die sich entwickelt habe und dass der Wert anderer Religionen gebührend berücksichtigt werden sollte. Die „Endgültigkeit“ des Christentums war daher Gegenstand der Debatte. Baptisten und andere reagierten vulkanartig auf den Chicagoer Professor und gelobten, die altehrwürdigen wesentlichen Grundlagen des christlichen Glaubens wiederherzustellen und zu bestätigen. Zwei presbyterianische Brüder von der Westküste, Lyman (1840–1923) und Milton (1838–1923) Stewart, finanzierten eine Reihe von Flugschriften mit dem Titel „The Fundamentals“, die Themen abdeckten, die für wahre Christen als endgültig und nicht verhandelbar galten. Sie wurden jeder protestantischen Kirchengemeinde in den USA zugeschickt. Der Kampf um die „Fundamentalien“ war damit um 1920 voll entbrannt. Bei der Verteidigung des Glaubens bildeten Baptisten eine wichtige Teilnehmergruppe. Auf der einen Seite gab es führende Verfechter wie William Bell Riley (1861–1947), Jasper C. Massee 220

(1871–1965) und John Roach Straton (1875–1929), die unter den Nördlichen Baptisten eine Phalanx bildeten und die von Frank Norris (1877–1952) im amerikanischen Süden und Thomas Todhunter Shields in Kanada unterstützt wurden. In einem Leitartikel prägte ein Baptist aus Philadelphia, Curtis Lee Laws (1868–1946), 1925 den Begriff „Fundamentalist“, den er auf diejenigen anwendete, die an den historischen „Fundamentalien“ des Glaubens festhielten. Um nicht von ihren anti-modernistischen Gegnern übertroffen zu werden, beteiligten sich die anti-fundamentalistischen Baptisten an dem Streit mit dem Thema „Sollen die Fundamentalisten gewinnen“, um eine wichtige Predigt von Harry Emerson Fosdick (1878–1969) von der Riverside Church in New York City zu zitieren. Zu Fosdick gesellten sich Shailer Mathews aus Chicago, Henry C. Vedder (1853–1935) aus Philadelphia und Cornelius Woelfkin (1859–1928) aus New York City, zusammen mit William L. Poteat (1856–1938) aus North Carolina und L. H. Marshall (1882–1953) aus Toronto, Ontario. Eine „Weltweite Vereinigung [für] Christliche Fundamentalien“ (World’s Christian Fundamentals Association) wurde 1919 gegründet, in der Baptisten eine herausragende Rolle spielten. 1920 wurde die Baptistische Bibel Union (Baptist Bible Union) als Aktionsgruppe gegründet, um die Delegierten auf den Jahrestagungen der großen Konventionen auf eine fundamentalistische Tagesordnung einzustimmen. Angesichts ihrer hohen Erwartungen scheiterten die Fundamentalisten bei ihrem Versuch, ein verpflichtendes Glaubensbekenntnis zu verabschieden. Eine Mehrheit der Nördlichen Baptisten folgte der Meinung, dass die einzige Richtschnur für Glauben und Praxis das Neue Testament sein sollte. Den Vorsitz der Debatten hatte Helen Barrett Montgomery (1861–1934) aus Rochester, New York, die als erste Frau zur Präsidentin einer amerikanischen Denomination gewählt worden war, und die als Frau in dieser Position für die Fundamentalisten ein Stein des Anstoßes darstellte. Der unter Baptisten entwickelte und verwirklichte Fundamentalismus hatte mehrere Hauptmerkmale. Im Allgemeinen war er ein Rückblick auf eine romantisierende Sicht einer ländlichen christlichen Gesellschaft. Die evangelikalen Leistungen des 18. und 19. Jahrhunderts zu erhalten, war ein wichtiges Ziel. Die fundamentalistische Antwort auf existentielle Fragen enthielt we221

der nicht-theistische Vorstellungen von den Ursprüngen der Erde noch Ambivalenzen über das Ende der Welt. Die Fundamentalisten hielten an einer buchstäblichen siebentägigen Schöpfungswoche und an einer Wiederkunft Christi vor dem 1000jährigen Reich fest. Die Fundamentalisten befassten sich mit den Realitäten der Gegenwart, indem sie eine negative Weltanschauung aufrechterhielten, wonach die Welt mit Gericht und Zerstörung endet, und danach eine neue Weltordnung beginnt. Progressivismus und Projekte wie das Soziale Evangelium waren für Fundamentalisten ein Fluch. Die Wissenschaft war mit der Religion unvereinbar, und es wurde davon abgeraten oder sogar verboten, Verbindungen zu anderen Gruppen und Ideen zu unterhalten. Die Bibel war ein buchstäbliches Lehrbuch der Geschichte, Geographie, Theologie und Prophezeiung. Wunder wurden bei ihrem Eintreten bestätigt und nicht als naturalistische oder zufällige Phänomene erklärt. Die wahre Bedeutung des Evangeliums war die Seelenrettung, nicht die Transformation sozialer und wirtschaftlicher Strukturen. Krieg und Militarismus waren ohne große Diskussion zulässig, wenn sie die Wahrheiten des Evangeliums verteidigten. In den 1960er Jahren verbanden sich allmählich andere soziale Positionen und Einstellungen mit den klassischen fundamentalistischen Themen, darunter die Verteidigung der männlichen Führungsrolle in der Gesellschaft, die rassische Überlegenheit bestimmter Gruppen sowie heterosexuelle Beziehungen und Ehen als biblische Modelle christlicher Ethik. Innerhalb des Baptismus in Nordamerika war der Einfluss des Fundamentalismus zuerst bei den nördlichen Baptisten zu spüren. Nach dem gescheiterten Versuch, ein Glaubensbekenntnis für die „Northern Baptist Convention“ zu schaffen, erfolgte für einige Gemeinden und Pastoren eine ruhige Phase, unterstützt von neuen konservativen Seminaren wie Northern Baptist in Chicago, Eastern Baptist in Philadelphia, California Baptist in Los Angeles und Gordon Divinity School nahe Boston in Massachusetts. Die schrilleren Gruppen verließen die Konvention und bildeten neue Gruppierungen. Die Baptist Bible Union entwickelte sich 1932 zur „Allgemeinen Vereinigung der Regulären Baptistengemeinden“ (General Association of Regular Baptist Churches) und übernahm das Glaubensbekenntnis der Fundamentalisten. Innerhalb des nächsten Jahrzehnts verließ eine zweite Gruppe wegen der Berufung liberaler Missionare in der American 222

Baptist Foreign Mission Society die Denomination. Dies führte zur Gründung der Conservative Baptist Association, unterstützt von drei neuen Seminaren in Denver (Colorado), Minneapolis (Minnesota) und Portland (Oregon). In den 1920er Jahren verließen fast unbemerkt die alten ethnischen Gruppen der Deutschen und der Schweden die Denomination und bildeten theologisch konservative neue Baptistengemeinschaften, die von den Seminaren in Sioux Falls (South Dakota) bzw. St. Paul (Minnesota) ermutigt wurden. Schließlich tauchten in den 1950er Jahren quer durch die Northern Baptist Denomination unabhängige Baptistengemeinden auf, die sowohl als neue Gemeindegründungen in den nördlichen Staaten als auch als ältere Gemeinden die Konfession verließen und von größeren Vereinigungen unabhängig blieben. Ihre Bildungsidentität erfolgte durch mehrere baptistische Bibelschulen. Der verbleibende Kern der Baptisten im Norden durchlebte in der Nachkriegszeit zwei weitere große Veränderungen. Im Jahr 1950, als sie ihren verminderten Einfluss zurückgewinnen wollten, stimmten die nördlichen Baptisten dafür, ihren Namen in „American Baptist Convention“ zu ändern. In den späten 1940er Jahren gab es zahlreiche Gerüchte über das Interesse der südlichen Baptisten, einen inklusiveren Namen als die regionale Identität der „südlichen“ Baptisten anzunehmen. Im Norden ergriff man die Initiative in der Hoffnung auf eine Versöhnung aller großen baptistischen Gruppierungen in den USA unter dem Namen „American Baptists“. Die frühesten Beispiele baptistischer Gesellschaften trugen tatsächlich diesen Namen weiterhin. Während die nördlichen / amerikanischen Baptisten behaupteten, den neuen Namen in treuen Händen zu halten und weitere Zusammenschlüsse zu erwarten, war die einzige Gruppe, die darauf antwortete, die dänisch-norwegische Baptistenkonferenz, die 1957 formell mit den amerikanischen Baptisten verschmolz. Eine zweite, noch folgenreichere Namensänderung fand 1973 statt, als aus der American Baptist Convention die American Baptist Churches in the USA wurde; man hob so die Bedeutung der örtlichen Gemeinden hervor und betonte die anhaltende Spannung zwischen Autonomie und Interdependenz in dieser Gruppierung. Drei Jahrzehnte nach dem unmittelbaren Einfluss des Fundamentalismus unter den Baptisten im Norden der USA waren die Auswirkungen auf die südlichen Baptisten spürbar. Wir 223

haben bereits die Schaffung einer Bekenntniserklärung der Südbaptisten im Jahr 1925 zur Kenntnis genommen. Dieses Dokument, Baptist Faith and Message war eigentlich ein revidierter Text des Bekenntnisses von 1832, New Hampshire Baptist Confession of Faith, was Präsident E. Y. Mullins (1860–1928) vom Southern Seminary und ein Komitee inmitten des fundamentalistischen Ausbruchs im Norden erarbeiteten. Ironischerweise war das Glaubensbekenntnis von New Hampshire ein Beispiel für den lokalen Gemeindeprotektionismus in Neu-England, der unter den „Landmarkern“ im Süden viel Zuspruch fand. Mullins konnte sowohl „Landmarker“ als auch Fundamentalisten durch diesen Schritt abwehren. Der Konsens, den Mullins erreichte, hielt nicht lange an. Innerhalb des südlichen Baptistenbundes kam es seit den 1880er Jahren vermehrt zu Austritten wegen Streitigkeiten um die Autorität in der Konvention, um biblischen Literalismus, Rassismus und regionale Führung. Als Folge entstanden die landmarkistische Bewegung, die Baptist Bible Fellowship, die World Baptist Fellowship, die Southwide Baptist Fellowship und später die Alliance of Baptists und die Cooperative Baptist Fellowship. Die LandmarkerBewegung, angeführt von James R. Graves (1820–1893), Amos C. Dayton (1811–1865) und J. M. Pendleton (1811–1891), war in West-Kentucky, Tennessee, Arkansas und Texas konzentriert. Strikt gegen die Konvention gerichtet, konzentrierte sich diese Bewegung auf örtliche Gemeinden, die sich an eine Reihe von Landmark-Grundprinzipien hielten. Nach und nach bildeten große Verschmelzungen von Landmarkers die American Baptist Association (1924) und später die North American Baptist Association (1950). Neben den Landmarkern nach den 1920er Jahren gab es die Bewegung der prämillenialen18 Baptisten, angeführt von J. Frank Norris (1877–1952) und G. Beauchamp Vick (1901– 1975) aus Texas und Ohio, die die Konvention gleichermaßen kritisierten. Im Südosten führte Lee Roberson (1909–2007) aus Chattanooga, Tennessee, eine locker organisierte Revolte gegen die Konvention an, die sich selbst als Southwide Baptist Fellowship bezeichnete. Schließlich gründete Rev. Jerry Falwell (1933–2007) in Lynchburg (Virginia) 1978 die Liberty Baptist Fellowship, in 18

Premillennialists nennt man Vertreter einer heilsgeschichtlichen Lehre, die mit der „Wiederkunft“ Christi vor dem 1000jährigen Reich rechnet (Anm. d. Hg.).

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der die biblische Fehlerlosigkeit, das Abtreibungsverbot und die Bildung einer „moralischen Mehrheit“ als Hauptziele betont wurden. Die Spaltungen unter den Baptisten im Norden und Süden der USA sowie in Kanada, die sich zwischen den 1920er und den 1970er Jahren ereigneten, waren alle konservativ in ihrer theologischen Ausrichtung. Im Gegensatz zu den frühen SBC-Ablegern gab es zwei große Gruppen mit einer progressiven bis liberalen Einstellung, die die SBC verließen. In den späten 1960er Jahren kam es in der SBC zu einer theologischen Debatte über biblische Autorität und Konfessionalismus. Gemeinden in Texas, Arkansas, Georgia, Louisiana und Florida riefen gemeinsam zu einem biblischen Literalismus auf. Ihr Vorkämpfer war W. Amos Criswell (1909–2002) von der First Baptist in Dallas (Texas); er war Autor des Buches „Warum ich glaube, dass die Bibel wörtlich wahr ist“ (1970)19. Starke Meinungsverschiedenheiten wurden in den südbaptistischen Zeitungen geäußert. An den baptistischen Seminaren in New Orleans und in Fort Worth, Texas (Southwestern Baptist Seminary) wurden konservativen Kandidaten Studiengänge aufgedrängt. Mehrere Bibelschulen entstanden innerhalb der Konvention. Die Seminare Southern in Louisville (Kenntucky) und Southeastern in Wake Forest galten als Epizentren der Neo-Orthodoxie. 1963 errangen die Progressiven unter den Seminaren und andere prominente Pastoren wie Herschel H. Hobbs (1907– 1995) aus Oklahoma City einen Sieg, indem sie das Bekenntnis Baptist Faith and Message einer Revision unterzogen, um ein Verständnis der Bibel und der Christologie zu zeigen, das an Karl Barth (1886–1968) erinnert. Als Reaktion kam es zu einem Wiederaufleben der konservativen Evangelikalen, die um die Kontrolle der Konvention kämpften. Eine starke, kleine Sammlung von Gemeinden an der mittleren Atlantikküste und im oberen Süden bildete die Allianz der Baptisten, um ein progressives bis liberales Verständnis der baptistischen Prinzipien zu formulieren. Oben auf ihrer Tagesordnung standen vor allem Religionsfreiheit, christologische Hermeneutik, Frauen im pastoralen Dienst und die strikte Trennung von Kirche und Staat. Später zählten zu ihren Grundsätzen auch die gleichgeschlecht19

Why I Believe the Bible Is Literally True.

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liche Ehe und die Ordination Homosexueller. Die Allianz blieb im Leben der südlichen Baptisten eine liberale Außenseiterin. Als die Wahl eines moderaten Kandidaten für die SBCPräsidentschaft außerhalb der Reichweite der herkömmlichen Koalitionen war, bildete 1991 eine große Zahl von Progressiven die Cooperative Baptist Fellowship (CBF). Sie bestand aus theologisch moderaten Pastoren, die an den Seminaren Southern (Louisville) und Southeastern (Wake Forest) sowie an Fakultäten für Religionswissenschaft an vielen Colleges und Universitäten im Süden studiert hatten, und ihren Gemeinden. Die CBF bekräftigte progressive Ideen wie eine christologisch-orientierte Interpretation der Bibel, eine ökumenische Zusammenarbeit mit anderen Christen, Frauen im pastoralen Dienst und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den „Rassen“. Es bildeten sich neue Seminare, hauptsächlich im Zusammenhang kooperierender Universitäten wie Baylor und Mercer und verschiedene Colleges in Carolina und Virginia. Die SBC geriet unter die Führung konservativer Evangelikaler, und viele Gemeinden blieben in der SBC, weil sie sich ihrer Identität nicht sicher waren. In Texas z. B. gaben zahlreiche Gemeinden der theologischen Mitte den Vorzug, indem sie der Baylor University folgten, lehnten es jedoch ab, keine Gelder mehr dem „Kooperativen Programm“ der SBC zur Verfügung zu stellen. Dies führte zur Gründung paralleler baptistischer Körperschaften in Texas: der älteren Baptist General Convention of Texas und einer neuen Southern Baptist Convention of Texas. Diese Dualität wurde in den Bundesstaaten des baptistischen Südens kopiert. Auf nationaler Ebene lösten neue unerbittliche Führer die älteren progressiven Leiter von Verwaltungsräten und Agenturen ab. Zu den herausragenden konservativen „Wiederauflebenden“20 (= „Resurgents“) zählten der Richter Paul Pressler (* 1930) aus Houston, Texas, Richard Land (* 1946) und Paige Patterson (* 1942) aus Dallas, Texas, R. Albert Mohler (* 1959) aus Louisville, Kentucky, Bailey Smith (1939–2019) und Richard Mellick (* 1950) aus Arkansas, Jerry Vines (* 1937) 20 Der

Kampf um die Führung der SBC wird von den Befürwortern als „conservative resurgence“ = konservatives Wiederaufleben, von den Gegnern als hostile fundamentalist take-over = feindliche fundamentalistische Übernahme bezeichnet (Anm. d. Hg).

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aus Florida und Charles Stanley (* 1932) aus Georgia.21 Sie übernahmen Positionen in der Konvention und den dazugehörigen Institutionen, in die sie gewählt wurden, aber auch Positionen von Aufsichtsräten und Präsidenten der sechs Seminare, zu denen sie ernannt wurden. Ihre wichtigste Errungenschaft war die dritte Revision des Bekenntnisses Baptist Faith and Message, die von der Jahresversammlung 2000 verabschiedet wurde. Es handelt sich praktisch um ein bindendes Glaubensbekenntnis, weil es als Test für die Rechtgläubigkeit und Treue zur SBC fungiert. Bestätigt wird ein Verständnis der Schrift als fehlerlos, eine männliche Führung in christlichen Häusern und ein ausschließlich Männern vorbehaltener pastoraler Dienst. In relationaler Hinsicht zog sich die SBC aus dem Baptistischen Weltbund und dem Gemischten Ausschuss für öffentliche Angelegenheiten der Baptisten in den USA zurück; beide Organisationen waren von Südbaptisten mit begründet und finanziell unterstützt worden. Anstelle dieser beiden multi-baptistischen Organisationen bildeten die Südbaptisten ihr eigenes internationales Missionsnetzwerk, die „Missionsbefehlsgemeinden“ = Great Commission Churches und die Kommission für Ethik und Religionsfreiheit = Ethics and Religious Liberty Commission, die sich mit dem Verhältnis von Kirche und Staat in den USA befasst. Südbaptisten zogen ihre Unterstützung auch vom Internationalen Baptistischen Seminar in Rüschlikon (Schweiz) zurück und lähmten so ein Zentrum des baptistischen Lebens in Kontinentaleuropa. Seit 1970 hatten zwei unabhängige Institutionen immer mehr Einfluss auf die Führung der Südbaptisten: Die Liberty University, die vom unabhängigen Baptistenpastor und Evangelisten Jerry Falwell gegründet wurde, und das Dallas Theological Seminary,

21 Als

Architekten des konservativen Wiederauflebens gelten Paul Pressler und Paige Patterson (PPPP coalition), die beide in den letzten Jahren in Ungnade gefallen sind: Pressler soll über Jahre junge Männer sexuell belästigt haben, was er unter Berufung auf Verjährung abstreitet, während Patterson als Präsident des Southwestern Seminars in Fort Worth aus dem Amt entlassen wurde, weil er Vergewaltigungen von Studentinnen nicht zur Anzeige brachte und einer Frau, die mit blau geschlagenen Augen seinen seelsorgerlichen Rat suchte, nahe legte, sich ihrem Mann unterzuordnen (Anm. d. Hg.).

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das eine unabhängige fundamentalistisch-dispensationalistische Theologie vertritt.22 Baptisten in Kanada fanden ähnliche Wachstums- und Konsolidierungsmöglichkeiten wie ihre amerikanischen Nachbarn. Nach einem allgemeinen Aufschwung unter den Protestanten Kanadas um die Jahrhundertwende, schlossen sich die Baptisten an der Ostküste 1905 mit den Freien Christlichen Baptisten zusammen und bildeten eine Vereinigte Baptistische Konvention = United Baptist Convention. Im selben Jahr wurde durch die Vereinigung von Organisationen in den Prärieprovinzen und British Columbia eine Baptistische Union Westkanadas = Baptist Union of Western Canada gegründet. Diese Union wurde stark vom Missionsvorstand der Baptist Convention of Ontario und dem theologischen Programm der McMaster University beeinflusst. Eine vierte kleine Gruppe von Mainstream Gemeinden wurde in Quebec als L’Union d’Eglises Baptistes Françaises au Canada gegründet. Eine Zeitlang wurden kanadische Interessen in Übersee durch die American Baptist Missionary Union geleitet, bis ein eigenes Missionsbüro eingerichtet wurde, um die Arbeiten in Indien, Bolivien und Indonesien zu verwalten. Die vier regionalen Konventionen und Unionen in Kanada sowie der Missionsausschuss wurden 1944 zur Baptist Federation of Canada = Baptistische Föderation von Kanada zusammengeführt, die später als „Kanadische Baptistische Dienste“ = Canadian Baptist Ministries bezeichnet wurde. Der Begriff „Konventions-Baptisten“ wird auf diese sich so herausgebildete baptistische Familie angewendet. Der fundamentalistische Impuls hatte wie in den USA auch in Kanada seine Wirkung. Beeinflusst durch die von Spurgeon ausgehenden Trends in Großbritannien trennten sich die Baptisten in Toronto in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wegen der Ernennung von Professoren an der McMaster University. Der Anführer der Erzkonservativen war T. T. Shields (1873–1955), Pastor der einflussreichen Jarvis Street Baptist Church im Herzen von Toronto. Im Jahr 1925 führte Shields seine Gemeinde und hundert weitere Gemeinden aus der Konvention von Ontario und Quebec heraus und gründete eine neue Bewegung, die Union Regulärer Baptistischer 22

Vgl. dazu Erich Geldbach, „Der Dispensationalismus“, in: theologische beiträge 42, 2011, 191–210.

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Gemeinden = Union of Regular Baptist Churches. Mitte des Jahrhunderts schlossen diese sich mit einer ähnlichen fundamentalistischen Bewegung in Britisch-Kolumbien zusammen, um die Gemeinschaft der evangelikalen Baptistengemeinden in Kanada = Fellowship of Evangelical Baptist Churches in Canada zu gründen. Die Stärke dieser baptistischen Gruppe lag in Zentral-Kanada und in geringerem Maße im Fernen Westen und in Quebec. Der Fundamentalismus als breites Phänomen etablierte sich nur langsam unter den Gemeinden der Ostküste. In dieser Region entstanden kleine Gruppen von Kirchen, die gegen liberale Lehren der Acadia University und den Isolationismus in Zentral- und Nord-New Brunswick reagierten. Fremdeinflüsse aus Seminaren und Colleges in den USA führten zu einer selbstgemachten Form des dispensationalen und quer verlaufenden Konfessionalismus, deren Mittelpunkt das Bibel Institut von New Brunswick war. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kam es unter den Mainstream Christen / Calvinistischen Baptisten zu einer kleineren, aber regional bedeutsamen Kluft über die Heiligungstheologie. Indem Menschen Pastoren-Fürsprechern der völligen Heiligung (auch Perfektionismus genannt) folgten, entstand eine kleine Konfession der „reformierten Baptisten“ mit einer Reihe von Lagerversammlungen und auf der Grundlage fundamentalistischer Positionen. Diese Gruppe schloss sich schließlich den Wesleyanischen Methodisten an und war verantwortlich dafür, dass Gemeinden in den Küstengebieten der Provinzen die Konvention verließen. Im neuen Jahrtausend verfolgten Baptisten in Nordamerika einen fragmentarischen Kurs. Die amerikanischen (nördlichen) Baptisten, die unter internen Kontroversen zwischen nationaler im Gegensatz zu regionaler Kontrolle sowie gleichgeschlechtlichen und charismatischen Problemen litten, nahmen dramatisch ab. Südliche Baptisten stagnierten ebenfalls bei ihrem Versuch, die besondere baptistische Körperschaft in den USA zu werden. Kleinere baptistische Gruppen wandten sich einer verstärkten Zusammenarbeit mit evangelikalen Organisationen wie der National Association of Evangelicals und Projekten der „Emerging Church“ zu, während sie ihre zentralen Dienste und ihre nationale Präsenz reduzierten. Dies konnte man unter anderem bei der Conservative Baptist Association, der North American Baptist Conference, der Baptist General Conference und der Seventh 229

Day Baptist General Conference beobachten. Kanadische Baptisten zeigten ein ähnliches Muster wie ihre amerikanischen Kollegen. Aufbruch in eine neue Ära Baptisten in Nordamerika wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dauerhaft umgestaltet. Im Gegensatz zu Methodisten, Lutheranern, Presbyterianern und Kongregationalisten konnten die Baptisten nicht zu einem einheitlichen Zeugnis zurückfinden. Stattdessen haben theologische Unterschiede dauerhaft ein Zeugnis der Baptisten abgegrenzt. Ein großer Strom von Baptisten hat sich um historische, libertäre, ökumenische Prinzipien geschart. Diese Tradition erkennt ihre Wurzeln im englischen puritanischen Separatismus des 17. Jahrhunderts und findet Gemeinsamkeiten mit anderen Protestanten, insbesondere mit Anglikanern, Presbyterianern und Kongregationalisten. Im Gespräch und der Zusammenarbeit mit anderen Christen, in letzter Zeit sogar mit Katholiken und Orthodoxen, wird eine konfessionelle Ekklesiologie betont. Diese irenische Vision bekräftigt die vollständige Gewissensfreiheit und die volle Religionsfreiheit für alle Menschen. Man pflegt ein starkes soziales aktivistisches Interesse, das von der Bekämpfung der Sklaverei bis zur Anerkennung von Frauen und ihren Rechte sowie zur Befreiung von unterdrückten Völkern weltweit reicht. Baptisten dieser Orientierung stehen Personen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen pflegen, manchmal offen gegenüber, und sie überschreiten Grenzen der Farbe und der Ethnie. Als nationale Kirchenräte und später der Ökumenische Rat der Kirchen gebildet wurden, waren diese Baptisten jeweils Gründungsmitglieder. Der Baptistische Weltbund wurde aus dem Kreis dieser Baptisten gegründet, und die fortlaufenden Gespräche mit anderen christlichen Kirchen und Weltreligionen sind Teil der Erfahrung dieser baptistischen Gruppe. Speziell geht es hier um die Amerikanischen (nördlichen) Baptisten, die Kooperativen Baptisten, die Allianz der Baptisten, die Nationalen Baptisten der USA und kanadische Baptisten der Konvention. Eine zweite Gruppe von Baptisten fühlte sich zu einem erfahrungsorientierten Evangelikalismus hingezogen, der mit anderen Konfessionen gemeinsam ist. Seit ihren frühesten Jahren, die ebenfalls im 17. Jahrhundert verwurzelt sind, haben diese 230

Baptisten die Notwendigkeit einer tiefen religiösen Erfahrung in der Taufe der Gläubigen und in treuer Nachfolge unterstrichen. Sie schätzen die Schrift als Schatzkammer der geoffenbarten Wahrheit und verwenden Wörter wie „unfehlbar“ und „fehlerlos“, um die Bibel zu beschreiben. Diese Menschen sind ihrem Wesen nach im Laufe ihrer Geschichte stark konfessionell geprägt und definieren ihre Identität durch Lehraussagen und Bündnisse, die die persönliche und soziale Ethik erklären. Positionen, die die männliche Führung bekräftigen und sich gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen stellen, sind nicht ungewöhnlich. Das Prinzip der Vereinigung beschränkt sich in der Regel auf „Gemeinden desselben Glaubens und derselben Kirchenordnung“. Die Teilnahme in interkonfessionellen Gremien oder an interreligiösen Gesprächen ist selten. Das Bildungsniveau ist der christlichen Nachfolge und der Treue zu den Grundprinzipien untergeordnet. Schließlich greifen diese Baptisten auf ein anabaptistisches Sektenmodell zurück und passen sich nicht den modernistischen Ideen und Mustern an. Sie bevorzugen eine Haltung, die H. Richard Niebuhr (1894–1962) als „Christus gegen die Kultur“ bezeichnete. Ethnische Denominationen, Sabbatarier, Vereinigungen von solchen, die sich von anderen Kirchen gelöst haben, Nationale Baptisten von Amerika und schwarze Missionsbaptisten, Charismatische Baptistengruppen, Primitive Baptisten und Südliche Baptisten sind in dieser Kategorie zu finden. Es ist eine Tendenz erkennbar, dass diese Gruppen den historisch evangelikalen Traditionen nahe stehen, unbeschadet ihrer baptistischen Grundsätze. Eine dritte Sammlung von Baptisten in Nordamerika kann als unabhängig oder nicht angeschlossen bezeichnet werden. Diese schwer zu definierende Kategorie kann sowohl Evangelikale als auch Liberale umfassen. Was sie gemeinsam haben, ist ihr Selbstverständnis, nicht an Vereinigungen, Konventionen, Unionen oder Allianzen gebunden zu sein. Sie sind in der Regel das Ergebnis eines Pastors, der wie ein Unternehmer das Gewebe ihres Lebens webt. Unter diesen Baptisten ist die wahre Gemeinde die einsame Ortsgemeinde. Sie kann baptistisch sein, weil sie die Taufe der Gläubigen und die kongregationalistische Lenkung praktiziert, aber „Baptist“ erscheint möglicherweise gar nicht in ihrem Namen. Bildung kann missbilligt werden und wird als sekundär gegenüber dem Engagement in der Gemein231

schaft oder den Beziehungen angesehen. Nach biblischen Grundsätzen ist ihre Unabhängigkeit ihr Kennzeichen und ihre soziale Homogenität ist eindeutig. Baptistische „community churches“ = Gemeindekirchen und fundamentalistische Gemeinden gehören zu dieser Kategorie. Einige dieser Gemeinden haben möglicherweise entfernte Verbindungen zu unabhängigen fundamentalistischen Gruppen oder Koalitionen zu Zwecken der Gemeinschaft. Gemeinden nur mit der King James Version der Bibel, sowie die Riverside Church in New York City und die Church of All Nations in Los Angeles sowie föderierte Gemeinden veranschaulichen diesen Typ. Baptisten in Nordamerika haben sich als religiöse Gruppe auf ungewöhnliche Weise entwickelt. Dies ist zum Teil auf die Freiheit der Ortsgemeinden zurückzuführen, ihren Glauben zu verbreiten und Kraft aus der „Graswurzel“ Anhängerschaft zu gewinnen. Die Übernahme demokratischer Prinzipien in die politische Kultur ist eine Nahtstelle mit den baptistischen Grundprinzipien. Baptistische Missionsorganisationen waren bei den Bemühungen im Inland ungewöhnlich erfolgreich. Baptistische Befürworter der Trennung von Kirche und Staat und der Religionsfreiheit haben bei wichtigen politischen Führungskräften wie Thomas Jefferson (1743–1826) und James Madison (1751–1836) großen Anklang gefunden. Große Prediger wie George W. Truett (1867– 1944) und Billy Graham (1918–2018) haben die Gewissen der Öffentlichkeit herausgefordert. Tommy Douglas (1904–1986), ein Baptistenprediger, der zu einem Politiker und Urheber der nationalen Gesundheitsfürsorge wurde, gilt als der bedeutendste Anführer in der kanadischen Geschichte. Schließlich haben sich Baptisten dem amerikanischen Patriotismus angeschlossen und die amerikanischen und kanadischen Ideale jenseits von Nordamerika energisch verteidigt.

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Liste Baptistischer Gruppen in den USA und Kanada23 USA Alliance of Baptists (1987) American Baptist Association (1924) American Baptist Churches in the USA (1972, früher: American Baptist Convention) American Baptist Convention (1950, früher: Northern Baptist Convention American Baptist Evangelicals (1992) Antimissionary Baptists, auch als Hardshell oder Primitive Baptists bekannt Baptist Bible Fellowship (1950) Baptist Bible Union (1923) Baptist Church of Christ (1825, auch als Duck River and Kindred Baptists bekannt) Baptist General Conference (1856, auch als Swedish Baptists bekannt) Baptist Missionary Association of America (1969) Bible Baptists (1944) Caucus Nacional Bautista Hispano (1970) Conservative Baptist Association (1947) Conservative Baptist Fellowship (1965) Cooperative Baptist Fellowship (1991) Czecholovak Baptist Convention (1909) Danish Baptist General Conference (1910) Finnish Baptist Union (1901) Free Communion Baptists (1840) Freewill Baptists (1781, später bekannt als Free Baptists) French-Speaking Baptist Conference of New England (1895) Fundamental Baptist Fellowship (1974) Fundamental Baptist Missionary Fellowship (1939) General Association of General Baptists (1870) General Association of Regular Baptist Churches (1932) General Six Principle Baptists (1670) Great Commission Baptists (2005) Hampton (University) Ministers Conference (1914) Hardshell Baptists (1820, auch bekannt als Primitive Baptists) Hungarian Baptist Union (1908) Independent Baptist Fellowship International (1984) Independent Baptists (1756) 23 Die Liste findet sich in meinem Buch: William H. Brackney, Baptists in North

America: An Historical Perspective (Oxford: Blackwell, 2006), 270–272.

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Italian Baptist Association of America (1898) King James Only Baptists (1950) Liberty Baptist Fellowship (1977) Lott Carey Baptist Foreign Mission Convention (1897) Mainstream Baptists (2001) Mexican Baptist Convention of Northern North America (1910) Missionary Baptists (1901) Moderate Baptists National Association of Freewill Baptists (1935) National Baptist Convention of America (1915) National Baptist Convention USA, Inc. (1895) National Baptist Missionary Convention (1988) New Testament Association of Independent Baptist Churches (1974) Norwegian Baptist Conference of America (1864) North American Baptist Association (1950) North American Baptist Conference (1851, auch bekannt als ­German Baptists) Northern Baptist Convention (1907, später American Baptist Convention 1950, heute American Baptist Churches, USA 1972) Old Regular Baptists (1892) Old School Baptists (1832) Pentecostal Freewill Baptist Church (1959) Polish Baptist Conference (1912) Portuguese Baptist Conference (1919) Premillennial Baptist Missionary Fellowship (1933) Primitive Baptists (South 1829, North 1832) Progressive National Baptist Convention (1961) Regular Baptists (1707) Rogerenes (1674) Romanian Baptist Association of America (1913) Russian and Ukrainian Evangelical Baptist Union (1919) Separate Baptists (1754) Southern Baptist Convention (1845) Southwide Baptist Fellowship (1956) Two Seed in the Spirit Double Predestinarian Baptists (1817) Welcoming and Affirming Baptists (1993) World Baptist Fellowship (1950, früher: Premillennial Baptist ­Missionary Fellowship) Kanada AfriCanadian Baptists (1782) Amherstburg Association (1841) Association of Regular Baptist Churches (1957) Atlantic Baptist Fellowship (1970)

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Baptist Convention of Ontaria and Quebec (1888) Baptist Federation of Canada (1944, später genannt: Canadian Baptist Ministries) Baptist General Conference of Canada (1906; ursprünglich Swedish Baptists) Baptist Union of Western Canada (1905) Canadian Convention of Southern Baptists (1985) Convention of Baptists in Atlantic Canada (1846) Fellowship of Evangelical Baptist Churches (1953) Free Baptists (1832, auch bekannt als Freewill Baptists) Gathering of Baptists (1994) North American Conference Baptists (1902, ursprünglich German Baptists) Primitive Baptists (1875) Reformed Baptists (1886, sie traten der Wesleyan Church bei) Regular Baptists (1925) Scotch Baptists (1816) L’union d’Eglises Baptistes Francaises au Canada (1966)

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Die Afro-Amerikanische Baptistische Reise. „Rettung, Hoffnung und Befreiung. Eine Reise des Glaubens“ Edward L. Wheeler und Mary S. Wheeler Von den frühesten Anfängen in England und den Niederlanden ist die Geschichte der Baptisten eine Geschichte des Kampfes und der Opfer. Während dies allgemein für Baptisten gilt, gibt es wohl keine Gemeinschaft von Baptisten für die dieser Kampf tiefgreifender und langwieriger war als für die Gemeinschaft, die wir jetzt als schwarze oder afro-amerikanische Baptisten kennen. Geboren im Schmelztiegel unmenschlicher Sklaverei, rassischer Unterdrückung und heftiger Diskriminierung hörten die Afroamerikaner ein Evangelium, das ihr Mensch-Sein nicht bestätigte und mussten daraus die gewaltige Aufgabe ableiten, die Botschaft in ein Evangelium der Hoffnung für die Unterdrückten zu übersetzen. Schwarze Baptisten in Amerika sahen sich vor die Aufgabe gestellt, das Evangelium, das oft gebraucht wurde, um ihre Unterdrückung zu rechtfertigen, neu in ein verwandelndes, befreiendes Wort zu formen, das es ihnen ermöglichte, Glaubensgemeinschaften aufzubauen, die als Puffer und Schutzschilde gegen die Kräfte der Herabwürdigung und des Verderbens dienten, die sie sowohl im „freien“ Norden als auch in den Sklavenstaaten des Südens umgaben. Dass die schwarzen Baptisten im kulturellen Milieu des nordamerikanischen Rassismus und der Sklaverei existierten, sollte uns nicht die Augen davor verschließen lassen, dass die Sklaven mit einer religiösen Geschichte und einem religiösen Erbe an den Küsten Nordamerikas ankamen. Während man darüber streiten kann, wie groß der Einfluss dieser Geschichte und dieses Erbes auf die Art und Weise war, wie Sklaven das Evangelium gehört haben, stellten westafrikanische traditionelle Religionen und die Konfrontation mit christlichen Gottesverständnissen einen fruchtbaren „Boden“ für baptistische Themen der Freiheit in Christus dar, die gepflanzt werden mussten und dann Wurzeln schlugen. Dieses Kapitel versucht, Einblicke in die Geschichte schwarzer Baptisten in Amerika zu geben. Es ist eine schwierige Aufgabe, solch eine reiche Geschichte in einem Kapitel wiederzu236

geben, aber es ist eine Geschichte, die es verdient, selbst in einer verkürzten Version erzählt zu werden. Der Beginn des schwarzen Baptismus Trotz der Mythenbildung, dass die Religionsfreiheit, wie sie durch den christlichen Glauben zum Ausdruck kommt, der Hauptfaktor bei der Gründung englischer Kolonien in Nordamerika war, gilt es festzuhalten, dass die meisten Kolonisten bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts keine festen religiösen Bindungen hatten. Die große Ausnahme bildeten die frühen Siedlungen, die als Neu-England Kolonien bekannt wurden. Andere Kolonien, vor allem im Süden, wurden wegen ihrer zukunftsträchtigen Handelsmöglichkeiten geschätzt. Diese Perspektive beflügelte den Sklavenhandel und die Unterdrückung von Millionen Afrikanern. Im Gegensatz zu der Propaganda, die zur Rechtfertigung der Sklaverei verwendet wurde, waren die Afrikaner zivilisiert und religiös. Während sie lediglich ihre kollektiven Erinnerungen in die „neue“ Welt mit sich bringen konnten, beinhalteten diese ihre religiösen Praktiken und Glaubensinhalte. In Westafrika, von wo die meisten Sklaven stammten, war Gott in allen Dingen, und daher war ihnen die Vorstellung eines allmächtigen Gottes nicht fremd.1 Die christliche Überzeugung, dass Jesus unter die Menschen kam, dass er als Mensch und als Gott lebte und dass er um das tägliche Leben eines jeden Menschen bemüht war, passte gut mit afrikanischer Theologie zusammen. Westafrikaner kannten auch den Brauch, ihre religiöse Erfahrung der existenziellen Wirklichkeit anzupassen. Daher blieb Gott immer Gott, ganz gleich wo sie auch sein mochten. Mochte auch Gott an dem neuen Ort mit einem anderen Namen angerufen werden, so blieb er dennoch Gott.2 Trotz einiger früh erfolgter Versuche, Sklaven zu christianisieren, dauerte es bis zum Ausbruch religiösen Eifers während der Ersten Großen Erweckung (1730–1775), dass Sklaven in größerer Zahl mit dem christlichen Glauben in Berührung 1

Albert Robateau, Slave Religion (New York: Oxford University Press, 2004), 15–16. 2 Raboteau, Slave Religion, 22.

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kamen. Die Große Erweckung zeigte Elemente, die den afrikanischen Anbetungspraktiken ähnlich waren – ekstatischer Tanz, Schreien, Geistbesitz und Singen. Afroamerikaner reagierten darauf ohne Schwierigkeiten und nahmen auf allen Ebenen der gottesdienstlichen Erfahrung daran teil. Die Prediger der Lagerversammlungen präsentierten das Evangelium schlicht und klar. Sie waren zum größten Teil Analphabeten, die zu Analphabeten sprachen. Diese Prediger waren überwiegend Baptisten oder Methodisten. Eine bahnbrechende Gruppe afroamerikanischer Kirchenleiter entstand aus dieser Erweckung, die das Evangelium von ihrem Standpunkt aus an die afroamerikanische Gemeinschaft vermittelte. Obwohl oft unter den wachsamen Augen weißer Sklavenbesitzer, predigten diese Kirchenleiter das Evangelium als eine befreiende Kraft und nicht als einen Kontrollmechanismus, wie es weiße Prediger oft taten. Jesus war ein Befreier, dessen Liebe und Fürsorge sich auf jeden einzelnen erstreckten. Jeder, der bekehrt und getauft wurde, war in Jesus „neu“ und eine wertgeachtete Person. Die Geschichten der Hebräischen Bibel bestätigten, dass afrikanische Sklaven eines Tages von der Knechtschaft befreit würden, so wie sie von der Sünde befreit worden waren, weil die Schwachen mit Gottes Hilfe stets über die Starken triumphieren. Afroamerikaner identifizierten sich mit den Kindern Israels und ihrer Befreiung von der Knechtschaft.3 In diesem Kontext wurde die Schwarze Baptistische Kirche geboren. Obwohl einige Gelehrte meinen, die erste schwarze Baptistengemeinde sei in Virginia4 gegründet worden, folgt die große Mehrheit den Spuren von Carter G. Woodson und identifiziert die Gemeinde Silver Bluff als die erste offiziell gegründete afroamerikanische Baptistengemeinde in Nordamerika.5 Diese Gemeinde entstand irgendwann zwischen 1773 und 1775 auf dem Landbesitz eines prominenten Händlers und Unter3 Für

weitere Einzelheiten siehe George P. Rawick, From Sundown to Sunup, (Westport, Connecticut: Greenwood Publishing Company, 1972), 30–51 und Gayraud S Wilmore, Black Religion and Black Radicalism (Maryknoll, New York: Orbis Books, 1992), 1–28. 4 Mechal Sobel, Trabelin’ On: The Slave Journey to An Afro-Baptist Faith, (Westport, Connecticut: Greenwood Press, 1979), 83. 5 Carter G. Woodson, The History of the Negro Church, (Washington, D.C.: The Associated Publishers, 1985), 35–36.

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nehmers, George Galphin, entlang des Savannah Flusses in Silver Bluff, South Carolina, in der Nähe von Augusta, Georgia. Galphin erlaubte seinen Sklaven, sich zu versammeln, um den Predigten des Wanderpredigers Wait Palmer zu folgen. In dessen Abwesenheit predigte ein anderer Wanderprediger, George Liele, in der Silver Bluff Gemeinde. Liele war ein Schwarzer, dem man die Freiheit geschenkt hatte, damit er das Evangelium in der baptistischen Tradition verkündigen könne. Ein Mitglied der Gemeinde, David George, wurde zum Pastor berufen, nachdem der Unabhängigkeitskrieg ausgebrochen war und es für Wanderprediger immer schwieriger wurde, sich frei zu bewegen. Im Jahr 1778 eroberten die Briten Savannah, und die amerikanischen Revolutionäre gerieten unter Druck sowohl von Seiten der Briten als auch von solchen Amerikanern, die gegenüber England loyal waren. Irgendwann im Jahr 1779 führte David George die Silver Bluff Gemeinde nach Augusta, weil er anscheinend auf ein Angebot der Briten einging, den Sklaven die Freiheit zu schenken, die sich unter ihren Schutz begaben. George Liele befand sich bereits in Savannah als Diener des Kommandierenden Offiziers der britischen Streitkräfte, Oberst Kirkland, und hatte dort eine schwarze Baptistengemeinde gegründet. Zwei weitere schwarze Gemeinden wurden in Savannah innerhalb eines Jahrzehnts gebildet. Als jedoch die Briten 1782 Savannah räumten, verließen auch Liele und George die Stadt und wurden die ersten baptistischen Missionare, die Gemeinden außerhalb der entstehenden Vereinigten Staaten gründeten. Liele ging nach Jamaika, wo er den Baptismus begründete.6 David George ging 1782 nach Nova Scotia, wo er eine schwarze Baptistengemeinde ins Leben rief. Als er auf religiösen und rassistischen Widerstand stieß, zog er 1792 nach Sierra Leone, wo er eine weitere Gemeinde gründete.7 Mindestens zwei weitere Sklaven der Silver Bluff Gemeinde wurden Prediger und Pastoren. Andrew Bryan blieb in Savannah, während Jesse Peter mit etlichen Mitgliedern von Silver Bluff die erste afroamerikanische Baptistengemeinde in Augusta begründete. 6

David T. Shannon, Ed., George Liele’s Life and Legacy: An Unknown Hero, (Macon, Georgia: Mercer University Press, 2012). 7 Grant Gordon, From Slavery to Freedom: The Life of David George, Pioneer Black Baptist Minister, (Hantsport, Nova Scotia, Canada: Lancelot Press, 1992).

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Etwa zur selben Zeit, als die Silver Bluff Gemeinde ihre Spuren in der Geschichte hinterließ, wurden andere schwarze baptistische Gemeinden in Virginia gegründet. Im Süden waren die meisten baptistischen Sklaven zusammen mit Weißen im Gottesdienst, obwohl sie oft auf den hinteren Bänken oder der Empore Platz nehmen mussten. Unabhängige schwarz-baptistische Gottesdienste wurden nach den Sklavenrevolten 1822 und 1831 erheblich eingeschränkt.8 Im Norden, wo es vor dem Bürgerkrieg weniger Afro-Amerikaner gab, als im Süden, besuchten Schwarze die Gottesdienste in weißen Gemeinden. Doch mit dem 19. Jahrhundert gab es einige bemerkenswerte Ausnahmen. Die Erste Afrikanische Gemeinde in Philadelphia, die Gemeinde in der Joy Street in Boston und die Abyssinian Baptist Church in New York zählten zu den Gemeinden, die von Schwarzen im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gegründet wurden. Als die Staaten Ohio und Illinois besiedelt wurden, entstanden auch dort schwarze Gemeinden. Das numerische Wachstum in Ohio führte dazu, dass 1836 die erste Assoziation (Vereinigung) schwarzer Gemeinden organisiert wurde; sie hieß Providence Baptist Association. Zwei Jahre später bildeten zwölf schwarze Baptistengemeinden die Wood River Baptist Association. Diese beiden Vereinigungen fusionierten 1853 und bildeten die Western Colored Baptist Convention. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Fusion wegen einer Passage in dem beklemmenden „Gesetz über flüchtende Sklaven“ von 1850 erfolgte. Dieses Gesetz führte dazu, dass viele der entlaufenen Sklaven und andere Afro-Amerikaner die vorläufige Eigenart ihrer Freiheit erkannten und nach Kanada flohen.9 Der Wunsch, frei zu sein, beeinflusste wieder die Entwicklung des schwarz-baptistischen Gemeindelebens in den USA.

8

Vgl. Gayraud Wilmore, Black Religion and Black Radicalism, 57–73. L. Wheeler, „Beyond One Man: A General Survey of Black Baptist Church History,“ Review and Expositor, Vol. LXX, No. 3 (Summer 1973): 314– 315. 9 Edward

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Die Bemühungen schwarzer Baptisten um Außenmission und denominationelle Strukturen Selbst als die afro-amerikanischen Baptisten mit der Sklaverei im Süden und den Vorurteilen im Norden zu kämpfen hatten, nahm die Absicht Gestalt an, eine Missionsarbeit in Afrika zu beginnen. 1815 half Lott Carey, die afro-baptistische Missionsgesellschaft in Richmond zu begründen. Carey war ein „Ermahner“ in der Ersten Afro-Baptistischen Gemeinde in Richmond, Virginia, und er brachte Mitglieder dieser Gemeinde und Schwarze aus weißen Kirchen zusammen, um die Gesellschaft zu bilden. Bis 1821 war genügend Unterstützung eingegangen, um Carey, seine Frau und etliche andere Missionare nach Liberia auszusenden, damit sie ihre missionarischen Bemühungen beginnen konnten. Leider starben diese frühen Botschafter des Glaubens, kaum dass sie ihre Arbeit begonnen hatten. Trotz der Gründung der Amerikanischen Baptistischen Missions-Konvention 1840 durch afro-amerikanische Baptisten in Neu-England und den Mittleren Staaten wurde kein weiterer schwarzer baptistischer Missionar nach Afrika ausgesandt bis der Bürgerkrieg vorbei war. Nach dem Bürgerkrieg und dem Ende der Sklaverei wuchsen in deren Folgen die schwarzen Baptistengemeinden. Die Gewissensfreiheit, die Autonomie der Ortsgemeinde und die Möglichkeit, Gott auf ihre Weise anzubeten, haben zum Wachstum der Gemeinden nach 1865 beigetragen. Die zahlenmäßige Zunahme von Ortsgemeinden führte auch zur Schaffung denominationeller Strukturen auf Staats- und Bundesebene. Im Staat North Carolina entstand 1866 der erste Bund, gefolgt von Arkansas, Kentucky und schließlich aller anderen Südstaaten. Unter den ersten nationalen Bünden schwarzer Baptisten war der Bund für Außenmission der USA (Foreign Missions Convention of the United States of America), der wesentlich auf die Bemühungen von Pastor W. W. Colley zurückgeht und das Ziel hatte, in Westafrika eine Missionsarbeit zu beginnen. Colley hatte zuvor als Missionar für die Südbaptisten (Southern Baptist Convention) gearbeitet und war überzeugt, dass Afro-Amerikaner das Evangelium auf den afrikanischen Kontinent bringen sollten. Der Sitz dieses Bundes war in Richmond, Virginia, obwohl die 151 Delegierte, die die Organisation gründeten, 1880 in Montgomery, Alabama, zusammengekommen waren. In Richmond 241

hatte Lott Carey seine Missionsbemühung gestartet, und diese Region entwickelte eine Leidenschaft für die Mission. Sechs Jahre später trafen sich schwarze Baptisten in St. Louis, Missouri, um auf den deutlichen Bedarf an missionarischen Bemühungen unter den Freigelassenen in den USA zu reagieren. Pastor William J. Simmons, ein bekannter Prediger, Erzieher und Autor, war die treibende Kraft, die 600 Delegierte 1886 zusammenbrachte, um die Amerikanische Nationale Baptistische Konvention zu gründen. Simmons wurde zum Präsidenten gewählt und versah dieses Amt bis zu seinem Tod 1890. Die Notwendigkeit, eine nationale Organisation zu haben, um afro-amerikanische Kirchenleiter zu fördern, führte 1893 zur Bildung der Baptist National Education Convention. Ein Jahr später jedoch brachte Dr. Albert W. Pegues eine Resolution anlässlich der 14. Jahrestagung der Foreign Mission Convention ein mit dem Ziel, die drei nationalen Bünde zu verschmelzen. Diese Idee gewann zum Teil an Zugkraft wegen fehlender Möglichkeiten schwarzer Baptisten, ihre Werke durch die baptistische Verlagsgesellschaft zu veröffentlichen. Schwarze Baptisten waren davon überzeugt, dass sie durch die Zusammenlegung ihrer Organisationen und Ressourcen ihr eigenes Verlagshaus schaffen und gleichzeitig ihre anderen Tätigkeiten stärken könnten. Ihre Bemühungen führten 1893 zur Gründung der National Baptist Convention, USA, in Atlanta, Georgia. Pastor E. C. Morris wurde zum ersten Präsidenten gewählt. Dieser Bund entsandte Delegierte zu der Gründungsversammlung des Baptistischen Weltbundes 1905 in London. Trotz der Zusammenarbeit und der Einheit, die zur Bildung dieses Bundes geführt hatte, traten bald Spannungen hervor wegen der Rolle, die die Außenmission in der neuen Struktur spielen sollte. Die Wahl von Dr. Lewis Jordan zum Korrespondierenden Sekretär des Ausschusses für Außenmission wurde allgemein nicht begrüßt. Zudem entfremdete die Verlegung des Standorts von Richmond nach Louisville viele Personen, die sich der Außenmission verbunden fühlten. Daher zog sich eine kleine Gruppe vor allem aus Virginia 1897 aus der NBCUSA zurück und schuf die Lott Carey Missionary Convention. Seit ihrer Gründung konzentriert sich diese Konvention auf die Außenmission. Die Gründung des Verlagshauses, die ursprünglich ein Hauptfaktor war, um die afro-amerikanischen Baptisten zu vereinen, 242

entpuppte sich als Hauptursache für ein noch größeres und folgenreiches Zerwürfnis in der NBCUSA. Pastor R. H. Boyd übernahm in der NBCUSA führende Rollen als Korrespondierender Sekretär der Ausschüsse für Heimatmission und Verlagswesen. Die Bemühungen um ein Verlagshaus führte er erfolgreich zum Abschluss. In Nashville, Tennessee, war der Verlag als Aktiengesellschaft, d. h. als eigenständiges Unternehmen, ansässig. Das Haus wurde ohne Finanzmittel der Konvention auf dem Grundbesitz von Boyd gebaut. Von 1905 bis 1915 führte Boyd den Verlag als juristisch eigenständige Einheit. Als ein Versuch unternommen wurde, den Verlag der Kontrolle der Konvention zu unterstellen, erfolgte eine Spaltung. Boyds rechtlicher Anspruch war klar und führte zur Gründung der National Baptist Convention of America, Unincorporated. Das Verlagshaus war Zen­trum der neuen, nicht-eingetragenen Einheit. Die NBCUSA war zwar ohne einen Verlag, aber sie blieb juristisch eingetragen, um eine Wiederholung wie bei der Boyd-Spaltung zu verhindern. Die Frauenbewegung unter den schwarzen Baptisten Während die männliche Dominanz auf den Kanzeln der Gemeinden in den Jahren nach dem Bürgerkrieg und in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts als selbstverständlich galt, waren die afro-amerikanischen Frauen für das Kirchenleben vor Ort von entscheidender Bedeutung. Sie setzten sich auch für Ziele ein, die das Leben der schwarzen Amerikaner verbessern sollten. Denn ihr Leben war trotz der Emanzipation stark beeinträchtigt durch Diskriminierungen und einen offenen und manchmal gewalttätigen Rassismus, der das Gefühl erzeugte, Staatsbürger zweiter Klasse zu sein. Die Bewegung, die 1900 zu dem Frauendienst der National Baptist Convention, USA führte, begann auf der Ebene der Staaten kurz nachdem es dort auch zur Bildung von schwarzen Konventionen gekommen war. Unter der Leitung von William J. Simmons nahm die American National Baptist Convention die zuvor undenkbare Position ein, Frauen in Führungspositionen zu integrieren. Simmons hatte jedoch die Gründung einer eigenen Frauenorganisation abgelehnt. Frühe Versuche, eine eigene Organisation zu bilden, waren gescheitert, doch das Ziel wurde 1900 mit starker Unterstützung von Lewis G. Jordon und Charles Parrish erreicht, die beide Führungspositionen in 243

der Abteilung für Außenmission inne hatten. Allerdings war es dem Einsatz von Frauen wie Mary V. Cook, Lucy Wilmot Smith, Sarah W. Layten und Nannie Helen Burroughs zu verdanken, dass eine eigene Frauenorganisation begründet wurde, die über einen eigenen Haushalt verfügte und in völliger Unabhängigkeit ihre Tagesordnung bestimmen konnte.10 Die Frauenorganisation kooperierte mit der NBCUSA in vielen Bereichen, einschließlich der Heimat- und Außenmission. Sie arbeitete auch mit weißen Frauen bei der Förderung von Zielen wie Alkoholverbot und Frauenwahlrecht zusammen. Sie wandte sich beredt gegen das Lynchen und geschlechtsspezifische Diskriminierungen und stellte die Leitung der NBCUSA oft zur Rede. Dennoch lag der Schwerpunkt auf Bildung in allen Bereichen. Im Zuge der gesetzlich verankerten Segregation und dem systematischen Entzug der (Wahl)rechte von Schwarzen, besonders im Süden, betrachteten die afro-amerikanischen baptistischen Frauen Bildung als den Weg, den sozialen Aufstieg der schwarzen Bevölkerung zu ermöglichen. Ihre Aktivitäten auf diesen Gebieten erwiesen sich als wesentlich für den Fortschritt der Schwarzen. Schwarze Baptisten, Migration und die Bürgerrechtsbewegung Das Wachstum schwarzer Baptistengemeinden nach der Emanzipation war phänomenal, und um 1915 übertrafen schwarze Baptisten alle anderen religiösen Gruppen innerhalb der afro-amerikanischen Gemeinschaft um ein Vielfaches. Doch in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lebte die überwiegende Mehrheit der Schwarzen im ländlichen Süden. Das sollte sich aber bald ändern. Mehrere Faktoren führten zu der sog. „Großen Migration“, da Schwarze den ländlichen Süden in großer Zahl verließen und in den Norden und den Westen zogen. Zu den bedeutsamsten Faktoren gehörten die Aussicht auf Beschäftigung mit entsprechenden Gehältern und der offene Rassismus im Sü10 Für

eine tiefgehende Präsentation und Analyse des einzigartigen Beitrags und der allgemeinen Mitarbeit schwarzer baptistischer Frauen vgl. Evelyn Brooks Higginbotham, Righteous Discontent: The Women’s Movement in the Black Baptist Church, 1880–1920 (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1993).

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den. Die Verlagerung der Bevölkerung war so tiefgreifend, dass um 1950 die Mehrheit der Schwarzen in den Großstädten des Nordens wie New York, Detroit und Chicago zu finden war. Mit dieser Änderung veränderten sich auch die schwarzen Baptisten. Unter Leitung von Pastoren wie Adam Clayton Powell, Sr. und Lacy Kirk Williams entwickelten ältere Gemeinden wie die Abyssinian Baptist Church in New York und Mt. Olivet in Chicago Programme, die die sozialen, wirtschaftlichen und geistlichen Bedürfnisse der neuen Ankömmlinge aus dem Süden befriedigen sollten. Als die bestehenden Gemeinden sich jedoch den Ankömmlingen nicht genügend anpassten, entstanden neue Gemeinden mit Ausdrucksformen im Gottesdienst, die den Migranten aus dem Süden angenehmer waren. Sicherlich wären andere Optionen den Neuankömmlingen möglich gewesen, doch die große Mehrheit suchte oder gründete eine baptistische Gemeinde für ihre geistliche Pflege. Als Schwarze in den Norden und Westen zogen, um größere Freiheit und mehr Chancen in weniger offensichtlich rassistischen Situationen zu finden, akzeptierten diejenigen, die im Süden blieben, immer weniger den status quo und die sog. „Jim Crow“ Gesetze11, die eine Behandlung der Schwarzen als Bürger zweiter Klasse und Ungerechtigkeiten ihnen gegenüber kodifizierten. Baptisten waren sicherlich nicht allein in diesem Kampf, aber der bemerkenswerteste Anführer in dem „Feldzug“ für Gleichheit und Gleichberechtigung war der schwarze baptistische Prediger und Prophet Martin Luther King, Jr. Die „Fußsoldaten“ in dem Kampf, den man heute als Bürgerrechtsbewegung bezeichnet, waren Tausende unbekannte und namenlose Männer, Frauen und Kinder. Aber unter den führenden Köpfen waren baptistische Prediger bzw. Pastoren wie Fred Shuttlesworth, William Holmes Borders, Ralph David Abernathy, Thomas Kilgore, Adam Clayton Powell, Jr., Wyatt Tee Walker, und Gardner C. Taylor, um nur einige zu nennen. Unter den jüngeren mutigen schwarzen Baptisten waren Anführer wie Otis Moss, Jr., Prathia Hall Wynn, Jesse L. Jackson und Albert ­Brinson. Die führende Rolle schwarzer Baptisten in dieser Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit wurde nicht überall begrüßt. Viele weiße 11 Jim, die Krähe, ist ein stereotyper, tanzender, etwas dümmlicher Afro-Amerika-

ner, wie er von dem Komiker Thomas D. Rice geprägt wurde. (Anm. d. Übers.)

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Baptisten prangerten die Missachtung der per Gesetz existierenden Segregation an. Selbst viele schwarze Baptisten weigerten sich, an dem Kampf teilzunehmen. Ihre Gründe reichten von einer Zurückhaltung gegenüber „politischen“ Fragen, der Furcht vor weißer Vergeltung bis zur Opposition gegenüber der Methode des gewaltlosen zivilen Ungehorsams. Letzteres war auch der Hauptgrund der Spaltung, die sich 1961 in dem größten schwarzen Baptistenbund, der National Baptist Convention, USA, vollzog. Die Spaltung geschah auch vor dem Hintergrund einer über Jahre wachsenden Unzufriedenheit mit der Amtszeit des Präsidenten der NBCUSA. Doch der Stein des Anstoßes war die Strategie des gewaltlosen zivilen Ungehorsams, um soziale Veränderungen herbeizuführen. Die Opposition dagegen wurde von dem damaligen Präsidenten, Dr. Joseph H. Jackson, eindringlich vorgetragen, die viele entfremdeten, die Martin Luther King unterstützten. Es ist sicherlich sehr gut möglich, dass Jackson und die alte Garde King als Bedrohung ihrer Machtposition und Autorität ansahen. Dennoch führte die Unzufriedenheit mit der Politik der NBCUSA Pastor LaVaugh Venchael Booth dazu, einen Aufruf an Personen ausgehen zu lassen, die an der Bildung eines neuen Baptistenbundes Interesse zeigten. Er lud sie nach Cincinnati in die Zion Baptistengemeinde ein, wo er Pastor war. Aufgrund dieses Aufrufs wurde am 14. November 1961 die Progressive National Baptist Convention (PNBC) geschaffen. Der erste Präsident war Pastor T. M. Chambers. Die PNBC verabschiedete einen Grundsatz, der die Amtszeit des Vorstands eindeutig begrenzte. Außerdem nahm man eine starke positive Haltung gegenüber der Bürgerrechtsbewegung Kings ein.12 Schwarze Baptisten in der Zeit nach der Bürgerrechtsbewegung In vieler Hinsicht gehörte die Bürgerrechtsbewegung zu den auffallendsten Stunden in der Geschichte schwarzer Baptisten in den USA. Diese Bewegung trug dazu bei, die afro-amerikanischen Baptisten bei dem Versuch zu einen, die Loyalität gegenüber einem Baptistenbund zugunsten der Ideale von Freiheit und Selbstbestimmung, der Autonomie der Ortsgemeinde sowie 12 Edward

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L. Wheeler, Review and Expositor, 316–318.

der geistlich begründeten Bemühungen um Durchsetzung der Gerechtigkeit zu überwinden. Jedoch blieb diese Einheit nicht bestehen. Afro-amerikanische Baptisten sind immer noch die größte Glaubensgemeinschaft innerhalb der schwarzen Bevölkerung. Allerdings gab es zusätzliche Spaltungen und weitere Herausforderungen, denen sich schwarze Baptisten im 21. Jahrhundert gegenübersehen. Auch wenn viele Afro-Amerikaner von der Zunahme der Chancen profitiert haben und in den Hauptstrom der amerikanischen Kultur und Gesellschaft eingetreten sind, gilt dieser Fortschritt für viele nicht. Während viele schwarze baptistische Gemeinden weiterhin Wege gefunden haben, den „Geringsten unter ihnen“ zu dienen, haben einige Gemeinden ihren Dienst auf die „Auf- und Aussteiger“ gerichtet. Schwarze Baptisten waren stets eine verschiedenartige Gruppe, aber die Aussicht, dass afro-amerikanische Baptisten entlang der sozio-ökonomischen Grenzen geschichtet werden können, bereitet Sorgen. Seit über zweihundert Jahren sind schwarze Baptisten Teil der weißen Kirche gewesen. Selbst als schwarze Baptisten ihre eigenen denominationellen Strukturen gebildet hatten, war es nicht ungewöhnlich, dass schwarze Gemeinden auch in überwiegend weißen Baptistenbünden zusätzlich verankert waren. In den vergangenen vier oder fünf Jahrzehnten gab es jedoch eine wachsende Zahl schwarzer Baptistengemeinden, die sich ausschließlich einem überwiegend weißen Baptistenbund angeschlossen haben. Hinter dieser Wirklichkeit verbergen sich einige wichtige Gründe, darunter Ruhestands- und Gesundheitsregelungen sowie Programme und Dienstleistungen, die für die Entwicklung der Gemeinden von Vorteil sind. Einige schwarze Baptistengemeinden wurden von weißen Denominationen als Gemeindegründungen begonnen. Das ist nicht unbedingt eine negative Entwicklung, aber es wirft Fragen auf, wie gut schwarze Gemeinden in weißen denominationellen Strukturen in der Lage sind, solche Kernfragen anzusprechen, die sich direkt auf das Leben der Schwarzen beziehen. Das Verhältnis der sozialen Fragen zur schwarzen biblischen Hermeneutik ist auch eine Herausforderung im 21. Jahrhundert. Die bedeutsamsten sind die Rolle der Frauen in pastoralen Führungspositionen, Abtreibung und Rechte von Schwulen und Lesben. Das Hervortreten nicht-denominationeller Gemeinden 247

hat auch die schwarzen Baptisten beeinflusst. 1992 wurde jedoch ein neues organisatorisches Gefüge geschaffen, das zwar nicht behauptete, eine Denomination zu sein, aber gleichwohl Auswirkungen auf schwarze baptistische Traditionen, Theologie und Politik hatte. Es handelt sich um die Gründung der Internationalen Baptistischen Gemeinschaft des Vollen Evangeliums (Full Gospel Baptist Fellowship International) durch Pastor Paul S. Morton. Zur Zeit der Gründung war Morton Pastor der Greater St. Stephen’s Baptist Church in New Orleans. Er bemerkte, dass der Heilige Geist in neuer Weise unter seinen Gemeindegliedern wirkte. Diese bevollmächtigende Kraft zeigte ihm das Bedürfnis für eine eher „pfingstliche“ Art des Gottesdienstes, um hergebrachte baptistische Überzeugungen und gottesdienstliche Praktiken zu erweitern. Morton beschrieb die Leere, die er beobachtet hatte, weil Baptisten nicht von allen „Früchten des Geistes“, die der Gemeinde zur Verfügung stehen, Gebrauch machen. Dies bedeutete, dass Gottesdienstteilnehmer in Baptistengemeinden frei sein sollten, die Glossolalie als Teil des Gottesdienstes zu erleben und dass der geisterfüllte Lobpreis fest eingeplant werden sollte. Zu dieser ekklesiologischen Position, die von den meisten Baptisten in Frage gestellt werden würde, hat die FGBFI eine bischöfliche Hierarchie eingeführt, die der baptistischen Tradition fremd ist und die man als gegen die ausdrückliche Befürwortung der Autonomie jeder Ortsgemeinde betrachten könnte. Nur die Zeit wird zeigen, ob die FGBFI die Welle der Zukunft oder eine kurzfristige Abweichung ist. Zwei Dinge sind jedoch klar: Erstens ist die FGBFI seit ihrer Gründung auf über zwei Millionen Mitglieder gewachsen. Trotz der Behauptung, dass diese Gemeinschaft keine separate Denomination ist, erfordert die Struktur bestenfalls eine doppelte Loyalität. Zweitens hat die Gemeinschaft die „gute alte“ baptistische Sitte fortgeführt und hat sich bei der Wahl des Nachfolgers von Bischof Morton 2014 gespalten. Schwarze Baptisten in Amerika haben viel zum weltweiten baptistischen Zeugnis beigetragen. Sie haben angesichts von Unterdrückung, Entmenschlichung und Diskriminierung eine erstaunliche Treue gegenüber Gott an den Tag gelegt. Sie haben sich für Befreiung auf Gott verlassen; denn sie erkannten im 248

Wort Gottes Hoffnung angesichts hoffnungsloser Situationen. Schwarze Baptisten haben Häuser der Anbetung gebaut, wo sie Gott in Freiheit loben konnten. Sie haben Schulen für die Erziehung ihres Volkes gebaut. Schwarze Baptisten waren die ersten Baptisten in Amerika, die Missionare ins Ausland geschickt haben. Sie haben große Prediger hervorgebracht, deren gewaltige Verkündigung dazu beigetragen hat, ihre Gemeinschaften und die Welt zu verändern. Schwarze Baptisten halfen auch, den Kampf zu führen, um den gesetzlichen Würgegriff rassistischer Ungerechtigkeit in Amerika, der immer noch in der Welt widerhallt, zu durchbrechen. Die Geschichte der schwarzen Baptisten ist deshalb ein wesentlicher Bestandteil der weltweiten baptistischen Geschichte.

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Die fundamentalistische Kontroverse in den USA im 20. Jahrhundert Barry Hankins In den USA ist es oft so, dass drei Meinungen zu finden sind, wenn sich zwei Baptisten treffen. Dieser Scherz und andere solche Späßchen beziehen sich auf die Vorliebe der Baptisten für theologische Auseinandersetzungen, Dissens und Schisma. Während fast jede baptistische Denomination eine Geschichte der strittigen Schlachten über alle möglichen sozialen und theologischen Fragen hat, fanden die zwei bedeutendsten Kontroversen in den USA im Norden in den 1920er und im Süden in die 1980er Jahren statt.1 Die Kontroverse im Norden der USA Baptisten im Norden der USA erlebten erste Anzeichen der Kontroverse zwischen Konservativen und Modernisten ab 1890. Im Jahre 1918 brach eine neue Runde des Konflikts aus, die ihren Höhepunkt in der fundamentalistisch-modernistischen Kontroverse der zwanziger Jahre fand. Im Gefolge des Ersten Weltkriegs strotzten die protestantischen Kirchen in den USA vor Optimismus, der mit dem Sieg über Deutschland einherging. Aus amerikanischer Sicht war der Krieg ein idealistischer Kreuzzug für die Demokratie, der den Weg für eine weltweite Evangelisierung vorbereitete. Im Dezember trafen sich mehr als hundert protestantische Kirchenleiter in New York City, um die „Zwischenkirchliche Weltbewegung“ (Interchurch World Movement = IWM) ins Leben zu rufen. Angeführt von Presbyterianern, traten Nördliche Baptisten begeistert bei. Ein Teilnehmer jubelte, dass die Bewegung „nichts weniger als eine komplette Evangelisierung allen Lebens“ bringen würde, während das inoffizielle Motto lautete „das ganze Evangelium der ganzen Welt durch die ganze Kirche.“ Im folgenden Jahr baute sich eine Dynamik auf; im Januar 1920 kamen mehr als 1.800 Vertreter aus 42 Denominationen zusammen. 1

Vieles, was in diesem Kapitel dargelegt wird, findet sich ausführlich in: Thomas Kidd / Barry Hankins, Baptists in America: A History, New York (Oxford University Press), 2015.

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Curtis Lee Laws (1868–1946), der konservative Redakteur der baptistischen Zeitschrift Watchman Examiner, schrieb: „Als ein Baptist durch und durch hörte ich auf der Tagung kein einziges Wort, dem ich nicht zustimmen könnte.“ Aber andere Konservative in der Northern Baptist Convention fanden vieles, was ihnen missfiel. John Roach Straton (1875– 1929) von der Calvary Baptistengemeinde in New York City und Isaac Massey Haldeman (1845–1933) von der dortigen Ersten Baptistengemeinde wandten sich umgehend gegen die IWM. Der baptistische Unruhestifter und Organisator William Bell Riley (1861–1947) aus Minneapolis, Minnesota, schloss sich schnell der Opposition an. Es dauerte weniger als sechs Monate, um Laws umzustimmen, und schließlich überredeten sie die Northern Baptist Convention, sich aus der Bewegung IWM zurückzuziehen. Einige Baptisten sahen in der gemeinsamen Anstrengung der IWM eine Bedrohung der Autonomie der Ortsgemeinde. Haldeman z. B. nannte die Bewegung „ekklesiale Autokratie und kirchlicher Sowjetismus“, eine verletzende Beschuldigung, die an den Sieg der bolschewistischen „Sowjets“ während der Russischen Revolution 1917 anspielte. Die Konservativen meinten auch, IWM vertrete ein rührseliges „soziales Evangelium“ (social gospel), was kaum mehr als Sozialarbeit sei. Echte Evangelisation, die auf die Wiedergeburt in Christus abzielt, werde verdünnt. Dieses soziale Evangelium sei das Ergebnis „modernistischer“ Theologie, wie die Konservativen es sahen, und genau hier liege die verheerendste Funktion dieser Theologie. Die „modernistische“ Theologie drang im späten 19. Jahrhundert aus Deutschland in das amerikanische religiöse Leben ein und führte zu großen Verwerfungen bei den Nördlichen Presbyterianern und Nördlichen Baptisten sowie in geringerem Maße bei den Methodisten und Anglikanern.2 Der Name deutet an, dass der „Modernismus“ die evangelische Theologie in Einklang mit modernen Denkweisen bringen wollte. Wie in anderen Disziplinen hielten modernistische Theologen nicht nur am Darwinismus fest, sondern für sie galt das evolutionäre Modell auch für die Theologie. Sie argumentierten im Wesentlichen so, dass das Christentum, wie es in der Bibel überliefert ist, eine rudimentäre Religion war, die in den folgenden neunzehn Jahr2

In den USA heißen die Anglikaner Episcopalians (Anm. d. Hg.).

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hunderten sich weiter entwickelte. Der kongregationalistische Prediger Henry Ward Beecher (1813–1887) drückte es 1871 wie folgt aus: „Das Reich Gottes und das Reich der Wahrheit, wie im Neuen Testament festgelegt, ist ein Reich der Samen. Die Samen wurden ausgestreut und sind in der Welt gewachsen und haben sich entwickelt.“ Die Bibel war mit anderen Worten keine zeitlose Quelle der Autorität, sondern der uralte Ausdruck eines Glaubens, der Entwicklung und ständige Überprüfung nötig hat, insbesondere im Gefolge der modernen Wissenschaft. Religiöse Erfahrung übertrumpft die Bibel als ultimative Quelle der Autorität. „Modernisten“ wandten auch die Techniken der Literaturkritik auf die Schrift an und stellten die Geschichtlichkeit vieler alttestamentlicher Geschichten und den Wahrheitsgehalt vieler Wunder im Alten und Neuen Testament infrage. Dahinter stand ein modernes, wissenschaftliches, fast naturalistisches Weltbild, das viele orthodoxe Lehren des christlichen Glaubens über Bord warf. Der baptistische modernistische Theologe Harry Emerson Fosdick (1878–1969) sprach von der Jungfrauengeburt als „einem biologischen Wunder, das unsere modernen Köpfe nicht verwenden können“ und nannte die Wiederkunft Christi lediglich „eine alte Ausdrucksform von Erwartung.“ Die Wiedergeburt in Christus war weniger eine übernatürliche Verwandlung unserer sündigen Natur als vielmehr ein natürliches Wachstum als Kinder Gottes. All dies verwirrte natürlich die Konservativen, die darauf sowohl in baptistischen als auch in presbyterianischen Kreisen durch die Ausarbeitung verschiedener Versionen von „Fundamentalien des Glaubens“ reagierten, die man glauben müsse, um Christ bleiben zu können. Um 1920 wurden Modernisten als Liberale bezeichnet, und in diesem Jahr nahmen die Konservativen den Namen „Fundamentalisten“ an, ein Begriff, der von Laws geprägt wurde. Er definierte einen Fundamentalisten als einen theologisch Konservativen, der bereit ist, „den königlichen Krieg“ für die Fundamentalien des Glaubens auf sich zu nehmen. Auf der Jahrestagung3 der Nördlichen Baptisten in Buffalo diskutierten die beiden Seiten drei Stunden lang über IWM, und die Fundamentalisten gewannen: Die Nördlichen Baptisten zogen sich einen 3

Vergleichbar mit einer Synode (Anm. d. Hg.).

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Monat nach den Nördlichen Presbyterianer zurück. IWM brach daraufhin zusammen. Riley frohlockte: „Lasst die Liberalen nie vergessen, dass die größte Einzelbemühung, die je von ihnen versucht wurde, in einer außerordentlichen, wenn nicht sogar einer schändliche Niederlage endete.“ Der Kampf um IWM endete, aber diente nur als Auftakt für eine noch intensivere fundamentalistisch-modernistische Kontroverse, die in den nächsten zwei Jahren aufflammte. Im Mai 1922 hielt Fosdick eine Predigt mit dem Titel „Sollen die Fundamentalisten gewinnen?“ Fosdick war der berühmteste liberale Prediger in den USA. Ironischerweise war er Pastor der Ersten Presbyterianischen Kirche (Old First) in New York. Clarence Macartney (1879–1957) antwortete auf Fosdick für die Presbyterianer mit einer Predigt, die den Titel trug: „Soll Unglaube gewinnen?“, während der Unruhestifter Straton für die baptistischen Fundamentalisten seine Predigt betitelte: „Sollen die drolligen ‚Äffchenstämmigen‘4 gewinnen?“, was ein scherzhafter Verweis auf den Glauben der Liberalen an die Evolution darstellte. Der moderatere Laws schrieb Leitartikel in seiner Zeitschrift Watch­ man Examiner und argumentierte, dass die Liberalen größere Intoleranz an den Tag legen als die Fundamentalisten. In ihrem Höhenflug nach dem Sieg in der IWM-Debatte, gründeten die Konservativen einen „Fundamentalistischen Freundeskreis“. Das Treffen der Nördlichen Baptisten 1922 diente als Schauplatz für die nächste Schlacht. Davon überzeugt, dass die Kirche ihren orthodoxen Halt verloren hatte, schickten sich die Fundamentalisten an, Konservative in Führungspositionen zu wählen. Der fundamentalistische Jasper Cortenus Massee (1871–1965) drückte sich wie folgt aus: „Meines Erachtens sollte jeder Mann, der modernistische theologische Neigungen zeigt, auch wenn er im Herzen den Glauben an Christus halten kann, jedes Amt unter Nördlichen Baptisten aus dem einfachen Grund aufgeben, dass seine Neigung falsch ist.“ Fundamentalisten glaubten auch, dass die Kirche ein neues Glaubensbekenntnis benötigt. „Wir bedauern den Kurs, der von einer gesunden Lehre wegführt“ schrieb Massee in einem Brief an Fundamentalisten in der ganzen Kirche. „Wir lehnen die Leitung 4 „Funnymonkeyists“

heißt es im englischen Original: funny = drollig; monkeyists = vom Affen abstammend.

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von Männern mit liberalen theologischen Ansichten ab. Wir verwerfen die Überbetonung eines sozialen Evangeliums.“ Unterdessen forderte Laws auf den Seiten seiner Zeitschrift Watchman Examiner die Fundamentalisten auf, die modernistische „Kriegsführung gegen Supranaturalismus“ zu stoppen. Der Modernismus, schrieb er, „verachtet die Wunder des Alten Testaments, lässt die Jungfrauengeburt unseres Herrn unbeachtet, … lacht über die Leichtgläubigkeit derer, die viele der neutestamentlichen Wunder akzeptieren, reduziert die Auferstehung unseres Herrn auf die Tatsache, dass der Tod nicht seine Existenz beendete und fegt die Verheißungen seiner Wiederkunft hinweg als einen leeren Traum von Männern unter dem Einfluss jüdischer Apokalyptik.“ Die Liberalen konterten, dass jede Anstrengung, ein Bekenntnis zu verabschieden, auf einen „Credo-lismus“ hinauslaufen würde, was die baptistischen Grundsätze verletzen würde. Die Präsidentin der Nördlichen Baptisten, Helen Montgomery Barrett (1861– 1934), sagte in ihrer Eröffnungsrede: „Ein offizielles Glaubensbekenntnis zu haben würde für uns Baptisten bedeuten, sich der Gefahr zu nähern, eines unserer Grundprinzipien aufzugeben … Wir Baptisten sind die anerkannten Demokraten der protestantischen Welt.“ Am ersten Tag der Jahrestagung unterbreitete der Fundamentalist Frank Goodchild (1860–1928) aus New York eine Resolution, einen Ausschuss zu bilden, der eine „Erklärung des Glaubens“ schreiben sollte. Die Delegierten diskutierten diesen Vorstoß in den nächsten beiden Tagen, bevor William Bell Riley ungeduldig wurde. Am 16. Juni verursachte er einen Aufruhr, als er den Antrag stellte, die Nördlichen Baptisten mögen förmlich das Glaubensbekenntnis von New Hampshire als offizielles Credo annehmen. Dieses Bekenntnis war 1833 verfasst worden, als alle nordamerikanischen Baptisten sich in der „Triennial Convention“5 zusammenschlossen, um missionarische Einsätze zu planen. Nach Rileys Antrag ging der Liberale Cornelius Woelfkin von der Park Avenue Baptistengemeinde in New York auf das Podium und unterbreitete als Alternative, „dass die Nördlichen 5

Der Name kommt daher, dass Delegierte alle drei Jahre zusammenkamen. Die Convention zerbrach, als Baptisten aus dem Süden der USA einen Sklavenhalter als Missionar vorschlugen. Daraufhin entstand die Southern Baptist Convention (Anm. d. Übers.).

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Baptisten bekräftigen, das Neue Testament sei der all-genügsame Grund des Glaubens und des Lebensvollzugs und dass wir keinen anderen benötigen.“ Wie die New York Times berichtete, stand „von diesem Moment an das New Hampshire Bekenntnis gegen das Neue Testament.“ Eine kurze Debatte folgte, bevor jemand die Abstimmung beantragte, und Woelfkins Antrag mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit angenommen wurde. Dies war der Wendepunkt in der fundamentalistisch-modernistischen Kontroverse in der Northern Baptist Convention. Die Liberalen manövrierten die Fundamentalisten aus und gewannen. Seit diesem Zeitpunkt tolerierte die Kirche liberale oder fundamentalistische Gemeinden. Aber Führung und Missionsprogramme blieben ausgesprochen moderat bis liberal, was die Fundamentalisten in die unangenehme und manchmal unmögliche Lage versetzte, das finanziell zu unterstützen, was sie für ein falsches Evangelium hielten. Während der nächsten zehn Jahre entwickelten sich Spannungen zwischen den gemäßigteren und sich zur Denomination haltenden Fundamentalisten, die Laws folgten, und den Separatisten, die Riley folgten. Die Separatisten machten sich einen stramm anti-evolutionistischen Grundsatz zu eigen und förderten zunehmend einen interkonfessionellen Fundamentalismus. Während Riley selbst bis zu seinem Tod im Jahre 1947 in der Northern Baptist Convention blieb, ermutigte er Baptistengemeinden, die NBC zu verlassen und eigene fundamentalistische Gemeinden und Denominationen zu gründen. In den 1940er Jahren dominierten er und Pastoren, die in seinem Bibel College ausgebildet waren, eine Zeitlang den Landesverband von Minnesota und ermutigten Baptistengemeinden in anderen Staaten, sich ihnen anzuschließen. Die Kontroverse im Süden der USA Wie die nördlichen Baptisten erlebten ihre südlichen Brüder eine Kontroverse, die in den 1890er Jahren begann. Der Konflikt drehte sich nicht um den Modernismus, sondern um das, was „Landmarkism“ genannt wird, d. h. die Überzeugung, dass nur baptistische Gemeinden wahre Kirchen sind. Vertreter dieser Richtung waren überzeugt, dass eine ungebrochen-kontinuierliche Abfolge baptistischer Gemeinden, die die Immersionstaufe praktizierten, bis auf die apostolische Zeit zurückverfolgt wer255

den könnte. Diese Gruppe wuchs so stark an, dass sie 1899 den Präsidenten des Seminars der Südbaptisten, William Whitsitt (1857–1911), zum Rücktritt zwingen konnte. Er hatte ein Buch verfasst, in dem er eindeutig aufzeigte, dass die ersten englischen Baptisten die Taufe durch Übergießen praktizierten. Aber der Sieg der „Landmarker“ war nur flüchtig. Whitsitts Nachfolger, Edgar Young Mullins (1860–1928), zählte nicht dazu, und die Bewegung blieb eine, wenn auch nicht unbedeutende Minderheit innerhalb der Südbaptisten. In den 1920er Jahren, als nördliche Baptisten ihre fundamentalistisch-modernistische Kontroverse erlitten, vermochten moderate Südbaptisten fundamentalistische Bemühungen abzuwehren, wie sie u. a. von J. Frank Norris (1877–1952) von der First Baptist Church in Fort Worth, Texas und Clarence Perry Stealey (1868–1937), dem Herausgeber der Zeitung Oklahoma Baptist Messenger, ausgingen. Es gab viele Gründe, warum die moderate Partei gewann; einige haben mit Norris jähzorniger Persönlichkeit zu tun. Im Juli 1926 erschoss er in seinem Kirchenbüro einen Mann, wurde aber wegen Notwehr freigesprochen. Wichtiger war, dass sich die Begründung des Fundamentalismus auf eine Verteidigung der orthodoxen Lehren des Glaubens gegen modernistische Änderungen gründete. Die militante Natur des „Fundamentalistischen Freundeskreises“ innerhalb der Nördlichen Baptisten, die treffend in der Definition des Fundamentalismus durch Laws zum Ausdruck kam, entstand aus der Furcht, dass die Modernisten die theologische Verankerung des Glaubens bedrohten. Mit anderen Worten, es stand Wichtiges auf dem Spiel. Im Gegensatz dazu waren die Gemäßigten bei den Südbaptisten evangelikal, wenn nicht sogar fundamentalistisch. E. Y. Mullins, der Anführer der Gemäßigten, klang oft eher wie Laws als Fosdick in seiner Kritik der naturalistischen Voraussetzungen der liberalen Theologie. „Der Modernismus spült die Auferstehung weich oder bestreitet sie“, schrieb er in einem Buch, das kurz nach seinem Tod im Jahre 1928 erschien. „Man kann das Übernatürliche nicht streichen und die christliche Religion halten.“ Obwohl er mit liberalen Baptisten den Schwerpunkt auf die Zentralität der christlichen Erfahrung legte, warnte er in seiner systematischen Theologie „The Christian Religion in Its Doctrinal Expression“: „Es ist nicht stillschweigend vorausgesetzt …, dass die Daten der Erfahrung abgesehen vom Neuen 256

Testament ausreichen.“ Mullins bestand darauf, dass die übernatürlichen Elemente des Glaubens – die Gottheit Christi, die Menschwerdung und Auferstehung – wesentlich zum Christentum hinzugehören. Weil es unter den Südbaptisten wenige Modernisten gab, hatten es militante Fundamentalisten wie Norris und Stealy schwer, Menschen für eine Verteidigung der Orthodoxie zu mobilisieren. Aber sie befürworteten nach wie vor ein Glaubensbekenntnis, das eine Erklärung gegen die Evolution einschließen sollte. Mullins und die Gemäßigten begegneten der Herausforderung durch die Abfassung der Erklärung Baptist Faith and Message, dem ersten Bekenntnis in der Geschichte der Südbaptisten; es wurde auf der Jahrestagung 1925 angenommen. Die Erklärung sagte explizit nichts zur Evolutionslehre, aber ihre dogmatischen Positionen waren so evangelikal, dass die meisten zufrieden waren und die sich zusammenziehende Kontroverse unterdrückt war, bevor sie etwa die Dimensionen wie bei den nördlichen Baptisten erreichte. Die Gemeinde von Norris blieb nominell bei den Südbaptisten, selbst als er eine separatistische Denomination wie Riley gründete. Die beiden taten sich sogar zusammen und gründeten mit dem kanadischen Fundamentalisten Thomas Todhunter Shields (1873–1955) die baptistische Bibel Union. Durch eine Spaltung der Union in den 1930er Jahren entstand die General Association of Regular Baptists; dieser Verband blieb bis zum heutigen Tag eine konservativ-­evangelikale, manche würden sagen eine fundamentalistische baptistische Denomination. Obwohl keine so ausgeprägt war wie die fundamentalistisch-modernistische Kontroverse bei den nördlichen Baptisten, fand nach den zwanziger Jahren eine Reihe von kleineren Konflikten innerhalb der Südbaptisten statt. Der schwerste betraf 1962 Ralph Elliott (*1925), der Professor am Midwestern Baptist Seminary war und seinen Posten verlor, weil er die ersten elf Kapitel des Buches Genesis nicht wörtlich interpretierte. Diese sogenannte Elliott-Kontroverse führte zu einer Revision des Bekenntnisses Baptist Faith and Message. Das überarbeitete Bekenntnis von 1963 enthielt eine Aussage über die Grenzen der akademischen Freiheit in der christlichen Ausbildung. Die Revision von 1963 genügte wie die erste Fassung des Bekenntnisses von 1925 den meisten Südbaptisten. Aber im Zuge der Elliott-Kontroverse erwies sich eine Minderheit zunehmend 257

besorgt über den Liberalismus in der Denomination. In der Hoffnung, eine Bewegung zu entfachen, starteten einige Aktivisten eine konservative Zeitung, die dem Ziel gewidmet war, den Liberalismus in den Seminaren und Colleges des Südbaptismus aufzudecken. Die Wahl des geharnischten Konservativen Wallie Amos Criswell (1909–2002) von der Ersten Baptistengemeinde in Dallas zum Präsidenten der SBC 1968 trug wenig dazu bei, konservative Aktivisten zu besänftigen. In den 1970er Jahren fanden sich amerikanische Evangelikale verstrickt in das, was Historiker jüngst „ihre große Angelegenheit“ nannten, d. h. der Kampf um die Fehlerlosigkeit der Heiligen Schrift. Die führende Gestalt unter den Verteidigern der Fehlerlosigkeit war der baptistische Theologe Harold Lindsell (1913–1998). Er schrieb das Buch The Battle for the Bible (Die Schlacht um die Bibel), das 1976 erschien. Das Buch enthielt Kapitel über mehrere Institutionen und Denominationen, die angeblich aus ihrer Verankerung in der Fehlerlosigkeit geglitten waren und unaufhaltsam in Richtung Liberalismus drifteten. Eines seiner Kapitel berichtete über die südlichen Baptisten. Lindsells Buch ermutigte einige konservative Südbaptisten, versetzte andere wegen des Problems der Fehlerlosigkeit in Alarmbereitschaft und gab allen Konservativen Munition, die in einer Bewegung verwendet werden könnte. 1979 begann der ernsthafte Versuch dessen, was das „konservative Wiederaufleben“6 genannt wurde. Der texanische Richter Paul Pressler (* 1930) hatte herausgefunden, dass, wenn die Konservativen die Präsidentschaft des südlichen Baptistenbundes ein Jahrzehnt lang halten könnten, sie die Aufsichtsräte des Bundes und vor allem die der sechs Seminare neu besetzen könnten. Er rekrutierte den Großwildjäger Paige Patterson (* 1942) und den populären Prediger Adrian Rogers (1931–2005), der 1979 zum Präsident des Bundes gewählt wurde. Vorangegangen war eine Kampagne, die an alle konservativen Kräfte appellierte, zur jährlichen Bundesversammlung zu fahren, um Rogers zu wählen. Tausende wurden mit Bussen zum Ort des Geschehens transportiert, den sie direkt nach der Wahl wieder verließen. Die moderaten Kräfte reagierten nur langsam, weil sie meinten, dass Rogers Wahl wie 6 Der

englische Ausdruck conservative resurgence vermeidet das Wort „fundamentalistisch“ (Anm. des Hg.).

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die von Criswell ein Jahrzehnt zuvor, nichts anderes sei als ein gelegentliches konservatives Leuchtzeichen auf einem ansonsten moderaten Bildschirm. Die Gemäßigten täuschten sich jedoch. Sie hätten es besser wissen können, nachdem ein 1985 eingesetztes „Friedenskomitee“ zwei Jahre später die Empfehlung gab, dass Kandidaten für Aufsichtsräte und Abteilungen der SBC den Glauben haben müssten, der in der SBC „am meisten verbreitet“ ist. Die Konservativen waren in der Lage, die Präsidentschaft des Bundes für die erforderlichen zehn Jahre zu halten und wandelten die Denomination komplett um. Ab 1995 hörten die gemäßigten Kräfte völlig damit auf, sich an den Präsidentschaftswahlen zu beteiligen. Indem sie sich um die Fehlerlosigkeit der Heiligen Schrift scharten, gelang es den konservativen Südbaptisten, woran ihre nördlichen Vorläufer der 1920er Jahre gescheitert waren. Wie andere Evangelikale definierten die konservativen Südbaptisten die Fehlerlosigkeit als den Glauben, dass die Bibel nicht nur in der Theologie oder im christlichen Lebensvollzug, sondern in jedem Bereich der Wirklichkeit, also etwa auch in Bezug auf Geschichte und Wissenschaft, ohne Fehler ist. Während Wissenschaftler mehrere Theorien und Definitionen der Fehlerlosigkeit entworfen haben, bedeutet sie im populären Bereich und in der Kirchenpolitik das schlichte, auf dem gesunden Menschenverstand beruhende Lesen der Schrift. Das hatte den amerikanischen Protestantismus des 19. Jahrhunderts dominiert und übte weiterhin beispiellosen Einfluss im amerikanischen Evangelikalismus aus. Dieser schlichte, vernunftgeprägte Zugang zur Schrift leitet sich aus dem Einfluss des schottischen Common Sense Realismus und der Wissenschaft nach Francis Bacon (1561– 1626) ab. Postuliert wird, dass Passagen der Heiligen Schrift auf unkomplizierte Weise gelesen werden sollten, dass die Bibel selbst auch für theologisch Ungeübte zugänglich und verständlich ist und dass man sich relativ leicht von der biblischen Lehre zur sozialen Anwendung bewegen kann.7 Während der „Southern Baptist Kontroverse“, wie die Schlacht benannt wurde, konzentrierten sich die Konservativen auf die Fehlerlosigkeit der Heiligen Schrift. Aber andere theologische 7

Mark Noll, America’s God: From Jonathan Edwards to Abraham Lincoln (New York: Oxford University Press, 2002).

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Themen waren damit verflochten. Am wichtigsten war wohl die angemessene Rolle der Frau in Familie und kirchlichem Amt. Unter den Gemäßigten gab es einen wachsenden Konsens, dass die Ordination von Frauen biblisch war. Konservative waren anderer Meinung, denn sie nahmen an, dass dieses Problem lediglich eine Frage der Fehlerlosigkeit sei; denn eine schlichte Lektüre der Schrift mit gesundem Menschenverstand lässt Stellen wie 1. Kor. 14, Eph. 5 und 1. Tim. 2 nur so verstehen, dass Ehefrauen ihren Männern unterwürfig sein sollen und dass Frauen keine Autorität über Männer in der Familie oder der Gemeinde ausüben dürfen. Konservative setzten 1984 eine Resolution durch, die sich gegen die Ordination von Frauen wandte. Fünfzehn Jahre später überarbeiteten sie das Glaubensbekenntnis Baptist Faith and Message, indem sie eine „Aussage zur Unterwürfigkeit“ einfügten, die lautet: „Eine Ehefrau soll sich mit Grazie der dienenden Führung ihres Ehemannes unterwerfen, so wie die Kirche sich willig der Hoheit Christi unterwirft.“ Die Aussage fährt fort, dass ein Ehemann „seine Frau lieben soll, wie Christus die Kirche liebt“, dass er seine Familie versorgen, sie schützen und führen soll.8 Zwei Jahre später wurde das Bekenntnis erneut überarbeitet, und enthält jetzt eine Passage, dass nur Männer als Pastoren in den Gemeinden wirken dürfen, wodurch die Resolution von 1984 auf den Status einer Lehre erhoben wurde. Für die Konservativen bedeutete Fehlerlosigkeit auch die Verwerfung der Evolution. Einige evangelikale Theologen haben Theorien der Fehlerlosigkeit entwickelt, die eine theistische Evolution oder progressive Schöpfung zulassen. Sogar der Presbyterianer Benjamin Breckenridge Warfield (1851–1921), ein unerschütterlicher Verteidiger der Fehlerlosigkeit im frühen 20. Jahrhundert unter Presbyterianern, schien die Möglichkeit der Evolution anzuerkennen. Aber in einer populären politischen Szenerie, wo Fehlerlosigkeit als schlichte Lektüre der Heiligen Schrift mit gesundem Menschenverstand galt, argumentierten die konservativen Südbaptisten, dass Rechtgläubigkeit das Festhalten an einem wörtlichen Verständnis von Adam und Eva, wenn nicht sogar der wörtlichen Schöpfung in sieben Tagen verlangt. Außerdem argumentierten sie, dass der Apostel Paulus Adam als die 8 Das

Glaubensbekenntnis ist zugänglich unter: http://www.sbc.net/bfm/ bfm2000.asp

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Person bezeichnete, durch den die Sünde in die Welt kam, und Christus als den zweiten Adam, durch den die Welt erlöst ist. Dies bedeutet, dass das Neue Testament selbst einen wörtlichen Adam bezeugt und dass der Plan der Erlösung in Stücke zerbricht, wenn Adam und Eva metaphorisch interpretiert werden. Neben der Fehlerlosigkeit der Bibel und Fragen, die damit im Zusammenhang stehen, bildeten die Religionsfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat bedeutsame Themen in der Kontroverse. Beide Seiten erhoben gleichermaßen einen Anspruch auf diese alten baptistischen Unterscheidungsmerkmale, aber wandten sie aufgrund verschiedenartiger Interpretation auf sehr unterschiedliche Weise an. Die Gemäßigten meinten, dass volle Religionsfreiheit eine strenge Trennung von Kirche und Staat, häufig „strikte Trennung“ genannt, erforderlich mache. Konservative argumentierten hingegen, dass strikte Trennung zu weit gegangen sei, weil sie zur Feindseligkeit gegenüber der Religion, nicht zur Neutralität geführt habe. Sie waren für eine Angleichung von Kirche und Staat und wurden „Akkomodisten“ genannt, weil sie meinen, der Staat solle sich der Religion anpassen, was kein Verstoß gegen die Trennung von Kirche und Staat bedeute. Die beiden Seiten in der Kontroverse lasen ihre Geschichte anders. Die Gemäßigten interpretierten Baptisten der Kolonialzeit wie Isaac Backus (1724–1806) und John Leland (1754–1841) als solche, die beide eine strikte Trennung unterstützten, um Religionsfreiheit zu erreichen. Konservative dagegen meinten, dass Leland und Backus sich unterschieden, nachdem in der frühen Geschichte der USA (1787–1828) keine Kirchen mehr mit öffentlichen Steuern unterstützt wurden. Backus, so argumentieren sie, habe im Großen und Ganzen eine grob christianisierte Republik unterstützt, so dass sich der Staat der Religion angepasst habe. Schließlich kamen auch die Probleme der sog. Kulturkämpfe Amerikas in der Kontroverse ins Spiel. Am Theologischen Seminar der Südbaptisten9 z. B. mussten ab 1994 Kandidaten für eine Professur nicht nur für die Fehlerlosigkeit und gegen die Ordination der Frauen eintreten, sondern auch gegen Homosexualität und Abtreibung. Während die beiden letzteren 9 Das

Southern Baptist Theological Seminary in Louisville, Kentucky ist das älteste der sechs Seminare der Southern Baptist Convention (Anm. d. Übers.)

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Probleme noch nicht im Glaubensbekenntnis verankert sind, dienen sie gleichwohl als inoffizielle Kriterien für eine denominationelle Anstellung. Als Folge der Kontroverse ereignete sich eine Reihe von tiefgreifenden Veränderungen. Eine Gruppe von progressiven Südbaptisten bildete 1987 die „Allianz der Baptisten“. Sie sahen sich außerstande, die Lehre der biblischen Fehlerlosigkeit, eine ausschließlich männliche Pastorenschaft und deren autokratische Herrschaft in den Gemeinden, das Beenden ökumenischer Beziehungen, eine Frömmigkeit ohne einen Blick für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit sowie die Verletzung der Trennung von Staat und Kirche zu unterstützen, sondern nahmen Gegenpositionen ein, also auch die Ordination von Frauen. Das Exekutivkomitee der SBC entließ 1990 die Herausgeber von „Baptist Press“, so dass die neue Agentur „Associated Baptist Press“ gegründet wurde, um eine freie Presse für baptistische Nachrichten aufrecht zu erhalten. Heute heißt die Agentur „Baptist News Global“. Die SBC strich 1991 alle Mittel für den Gemeinsamen Ausschuss der Baptisten für Öffentlichkeitsarbeit. Pastor Joseph Martin Dawson (1879–1973) von den Südbaptisten war der erste hauptamtliche Geschäftsführer dieses Gremiums und war von 1946 bis zu seiner Pensionierung 1963 im Amt. Er hatte neue Maßnahmen zur öffentlichen Verteidigung der traditionellen baptistischen Grundsätze der Religionsfreiheit und der Trennung von Kirche und Staat eingeführt. Der Name des Ausschusses wurde 2005 geändert in „Baptistischer Gemeinsamer Ausschuss für Religionsfreiheit“, um die besondere Betonung der Fragen zur Religionsfreiheit Ausdruck zu verleihen. Die SBC erstellte ihre eigene Agentur, die zunächst „Christliche Kommission für das Leben“ genannt und später in „Kommission für Ethik und Religionsfreiheit“ umbenannt wurde. Seit ihrer Gründung stand sie unter der Leitung des fundamentalistischen Anführers Richard Land (* 1946), der 2013 wegen Plagiatsvorwürfen zurücktreten musste und von Russell D. Moore (* 1971) abgelöst wurde. Unterdessen gerieten mehr und mehr Kontrollgremien der Seminare in die Hände von Fundamentalisten, so dass die Präsidenten der Seminare entweder freiwillig zurücktraten oder entlassen und ersetzt wurden durch sog. „Inerrantists“, also Männer, die an der Fehlerlosigkeit der Bibel festhielten. Eine ganze Reihe von Professoren gaben freiwillig auf oder wurden durch die neuen Kontroll262

organe oder die neuen Präsidenten aus ihren Ämtern entfernt. Dies führte zur Schaffung einer Reihe von neuen Seminaren. Die Landesverbände von Virginia und Texas folgten nicht der fundamentalistische Linie, so dass seit 1998 die neuen „Südlichen Baptisten aus Texas“ als eine rivalisierende Gruppierung im Gegenüber zur „Baptist General Convention of Texas“ entstand. In Virginia wurde eine Gruppe namens „Southern Baptist Conservatists of Virginia“ 1996 offiziell als neuer Landesverband vom Exekutivausschuss der SBC anerkannt, nachdem man eine Trennung von der „Baptist General Association of Virginia“ vollzogen hatte. Als wichtigste Konsequenz der Kontroverse entstand eine neue baptistische Gemeinschaft. Gemäßigte, die nicht die neue fundamentalistische Führung in der SBC unterstützen konnten, trafen sich 1990 in Atlanta, und ein Jahr später bildeten mehr als 6.000 Delegierte die „Cooperative Baptist Fellowship“ (CBF), die ihren Sitz in Decatur, Georgia, hat. Die CBF beschreibt sich als „ein christliches Netzwerk, das Menschen hilft, ihren Glauben in die Praxis umzusetzen“. Die Gemeinschaft umfasst 1.900 Gemeinden und Tausende von einzelnen Mitgliedern. Sie fungiert wie eine neue Konvention der Baptisten. Der Exekutivausschuss der SBC forderte 1995 alle Landesverbände auf, ihre gesamten Verbindungen zur CBF zu beenden. Der Baptistische Weltbund (Baptist World Alliance) änderte seine Satzung, so dass diese Organisation in der Lage war, CBF, Baptist General Convention of Texas sowie Baptist General Association of Virginia als neue Mitglieder aufzunehmen, woraufhin die konservative SBC im Jahr 2004 den Weltbund verließ. Bei Gründung des Weltbundes 1905 gehörten Südbaptisten zu den Pionieren der neuen, weltweiten Organisation. Der Erfolg der Konservativen hatte das Ergebnis, dass die Denomination den größten und einflussreichsten Block innerhalb des amerikanischen Evangelikalismus bildet. Umgekehrt hat die führende Rolle der Südbaptisten in den Kulturkämpfen Amerikas dazu geführt, dass die Evangelikalen sich zu dem verlässlichsten Wählerblock innerhalb der Republikanischen Partei entwickelte. Das manifestierte sich in der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, als dieser fast 82 % der weißen evangelikalen Wählerschaft gewinnen konnte. Dies ist der Fall trotz der Tatsache, dass der zum dritten Mal verheiratete Schürzenjäger, der eine Form des weißen Ethnonationalismus zu unterstützen scheint, sein ganzes Leben damit verbrachte, die Normen 263

zu verachten, für die Evangelikale betont eintreten. Um nur ein Beispiel anzuführen, tauchte innerhalb der Christlichen Rechten eine Bewegung der „Werte-Wähler“ auf mit dem Slogan „I Vote Values“ = Ich wähle Werte. Diese Bewegung wurde zum Teil von Richard Land angeführt, der seinerzeit an der Spitze der „Kommission für Ethik und Religionsfreiheit“ der Südbaptisten stand. Zu den auffallendsten und stimmgewaltigsten Unterstützern von Trump gehören der Pastor einer südbaptistischen Megakirche, Robert Jeffress von der Ersten Baptistengemeinde in Dallas, ferner der Sohn von Billy Graham, Franklin Graham, sowie der Präsident der Liberty University, Jerry Falwell, Jr.10 Wie viele weiße Evangelikale in Amerika betrachten sie Trump als einen überzeugten Verteidiger der Religionsfreiheit für Evangelikale, der konservative Richter für den Obersten Gerichtshof der USA berufen wird.11 Diese Richter werden dann die Entscheidung in dem Prozess Roe v. Wade von 1973 umkehren, wodurch die Abtreibung im ganzen Land legalisiert wurde. Im Gegensatz zu Land hat sich sein Nachfolger als Präsident der „Kommission für Ethik und Religionsfreiheit“, Russell Moore, konsequent gegen Trump ausgesprochen, ebenso wie Beth Moore (keine Verwandtschaft), eine äußerst beliebte Anführerin der Frauen innerhalb der Südbaptisten. Aber unter den weißen Anführern der SBC scheinen die beiden Moores in der Minderheit zu sein; ihre Stimmen werden immer wieder von den evangelikalen Verteidigern Trumps übertönt.12 In letzter Zeit wurde auch kontrovers diskutiert, warum der „Architekt“ der konservativen Bewegung, Paige Patterson, aus 10 Sie

erscheinen oft als Gesprächspartner in Shows des TV Senders Fox, der wie eine Hofberichterstattung massiv Präsident Trump unterstützt. Jerry Falwell wurde inzwischen als Präsident der Universität entlassen. 11 Trump hat es geschafft, drei von ihm ausgewählte neue Richter vom Senat bestätigen zu lassen. Vor allem die Ernennung von Brett Kavanaugh war von wütenden Protesten begleitet, aber auch von dem Einspruch, den Hunderte Rechtsprofessoren in einem offenen Brief zum Ausdruck brachten. Er habe nicht die Unparteilichkeit (impartiality) und den Charakter (judicial temperament) bei den Anhörungen im Senat gezeigt, was unverzichtbare Voraussetzungen seien, um auf Lebenszeit dem höchsten Gericht des Landes anzugehören. Mit 52:48 Stimmen wurde er dennoch bestätigt. Auch bei der Ernennung von Amy Conney Barratt gab es Proteste; Beobachter erwarten, dass die jetzt konservative Mehrheit der Richter die Entscheidung Roe vs. Wade zurücknehmen, d. h. Schwangerschaftsabbrüche verbieten wird (Anm. d. Hg.). 12 Anfang 2021 hat Beth Moore die SBC verlassen.

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seinem Amt als Präsident des Theologischen Seminars in Fort Worth, Texas, entlassen wurde. Pattersons Untergang kam im Gefolge der #Me Too-Bewegung, die dazu führte, dass männliche Medienmogule aller Art sowie Film- und Fernsehpersönlichkeiten wegen sexueller Belästigungen oder Übergriffe entlassen wurden. Patterson wurde weder wegen des einen noch des anderen Vergehens beschuldigt; seine Schwierigkeiten rührten daher, dass er sich gleichgültig gegenüber zwei Studentinnen zeigte, die ihm berichteten, dass sie auf dem Gelände der zwei von ihm nacheinander geleiteten Seminare Opfer sexueller Übergriffe waren. Es ging auch um ein weit verbreitetes Video, in dem Patterson in einer Predigt unsensible sexistische Kommentare machte. Unterdessen berief sich Pattersons konservativer Mitstreiter, der ehemalige Richter Paul Pressler, der seit Jahren Beschuldigungen wegen sexueller Belästigung oder des Übergriffs auf junge Männer abwehren musste, in einem neuen Prozess auf Verjährung. Nachwort Die fundamentalistisch-modernistische Kontroverse bei den nördlichen Baptisten und die Kontroverse bei den Südbaptisten, die ungefähr ein halbes Jahrhundert auseinander liegen, hatten vieles gemein. In beiden Fällen stand die Autorität der Bibel gegen die Notwendigkeit, ein baptistisches Bekenntnis zu formulieren. Die Konservativen argumentierten, ein Bekenntnis sei zum Festhalten an der Bibel und der rechten Lehre notwendig. Liberale im Norden und Gemäßigte im Süden argumentierten hingegen für ein Konzept der „Kompetenz jeder Seele“13 oder des Priestertums der Gläubigen, was Baptisten erlauben würde, die Schrift individuell zu interpretieren. Eine weitere Ähnlichkeit besteht darin, dass es in beiden konservativen Lagern militante Fundamentalisten sowie moderatere Evangelikale gab. In beiden Auseinandersetzungen unterstützten alle Konservativen eine energische Verteidigung der rechten Lehre, aber auf beiden Seiten gab es diejenigen, die vor einem Separatismus zurückschreckten, den William Bell Riley und J. Frank Norris wollten. 13 Im

17. Jahrhundert wird der Ausdruck „Seelenkompetenz“ = soul competency in baptistischer Literatur gebraucht (Anm. d. Hg.).

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Aber die Unterschiede sind in beiden Fällen vielleicht stärker ausgeprägt. Erstens gab es im Norden der 1920er Jahre eine größere Zahl kompromissloser Modernisten. Die Südbaptisten hatten Seminar-Professoren, die hart bis an die Grenze der überlieferten Lehre gingen oder sie in einigen Fällen überschritten, aber es gab wenige Moderate in der Führung der SBC, die mit Harry Emerson Fosdick vergleichbar gewesen wären. Deshalb nennt man in den USA die ehemaligen Führungspersönlichkeiten der SBC „Moderate“ statt „Liberale“. Der größte Teil der Moderaten, vor allem diejenigen, die am deutlichsten im Kampf hervortraten, blieb im weitesten Sinn evangelikal. Zweitens spielten in der fundamentalistisch-modernistischen Kontroverse im Norden kulturelle Themen eine weniger offensichtliche Rolle. Die Prohibition14 war das religiös-kulturelle Leitthema der Roaring Twenties, wie die 1920er Jahre genannt werden. Liberale und Fundamentalisten unterstützten die Prohibition. Ein halbes Jahrhundert musste vergehen, bevor Abtreibung und Homosexualität die amerikanische Kultur durcheinander wirbeln sollten; diese Fragen waren in den zwanziger Jahren nicht im Spiel. Schließlich, und am offensichtlichsten, gewannen die Liberalen die Kontroverse im Norden, während im Süden die Fundamentalisten obsiegten. Wenn Historiker und Theologen darüber debattieren, warum dies so war, sollten kulturelle Themen nicht ignoriert werden. Wie viele andere Evangelikale in den USA meinen auch Baptisten, dass das amerikanische Leben im großen und ganzen eine christliche Weltsicht widerspiegeln sollte. Angesichts der Säkularisierung versuchen sie instinktiv, die theologischen Parameter ihrer Denominationen abzustützen. Sie müssen die Wahrheit gegen den Ansturm der liberalen Kultur verteidigen. Diese Ansichten sind von jeher im Süden stärker gewesen, wo die Säkularisierung etwa ein halbes Jahrhundert später kam als im Norden. Kurz gesagt: die südliche Kultur blieb bis zum letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts intakt. Die konservativen Südbaptisten nahmen Bezug auf die Erfahrung der nördlichen Baptisten und waren entschlossen, dass die Dinge in der SBC anders ausgehen würden. 14 Das Verbot von Produktion und Verkauf von alkoholischen Getränken (Anm.

d. Hg.).

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Der Ausschuss zur Unterstützung der Pastoren und Missionare. Eine kritische Ressource für Baptisten in den USA Everett C. Goodwin Der Ausschuss zur Unterstützung der Pastoren und Missionare der Amerikanischen Baptistischen Gemeinden (Ministers and Missionaries Benefit Board – MMBB – of the American Baptist Churches, USA) hat in seiner über einhundertjährigen Geschichte eine kritische Dienstfunktion ausgeübt. Durch die finanzielle Absicherung seiner Mitglieder im Ruhestand können pensionierte oder behinderte Pastoren in Würde leben. Für jüngere, noch aktive Pastoren bietet MMBB ein erhebliches Maß an Sicherheit, um sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Erreicht wurde dies durch ausgeglichene Maßnahmen wie kreativer Weitblick, großzügige Unterstützung, engagierte und effektive Führung durch eine professionelle Leitung und Vorstandsführung, erfolgreiche Programmstrategien und die Verpflichtung zu soliden Geschäftsprinzipien, die sich gleichermaßen auf spirituelle Zwecke und bedeutsame Autonomie zur Anpassung an sich ändernde kulturelle und wirtschaftliche Realitäten konzen­ trierten. Seine Geschichte verweist auf Begeisterung, Mitgefühl, Praktikabilität und beharrliche Hingabe. Allgemein lässt sich behaupten, dass baptistische Pastoren oft für geringen Lohn gedient haben und infolgedessen häufig Armut erlebten, weil sie wenig finanzielle Vorsorge für ihr Alter treffen konnten. Dies galt insbesondere in den USA im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Niedrige Gehälter in kleinen Gemeinden mit begrenzten finanziellen Mitteln waren ein weit verbreitetes Problem. Es war auch gängige Praxis in den Gemeinden, Wohnräume als einen wichtigen Teil der Entschädigung eines Pastors zur Verfügung zu stellen. Dies verhinderte häufig die Ansammlung von Ansprüchen auf ein Eigenheim, so dass Pastoren im Alter oft ohne Wohnsitz waren. In stabilen ländlichen Gemeinden konnten sich Pastoren oft da­ rauf verlassen, dass Gemeindemitglieder ihnen Brennholz, Nahrung und anderes zum Lebensunterhalt zukommen ließen. Aber diese Bräuche endeten gewöhnlich, wenn ein Pastor starb oder den aktiven Dienst beendete; sie hörten gänzlich auf, wenn die 267

Menschen aus kleinen Gemeinden in Städte umzogen, um nichtlandwirtschaftlichen Arbeiten nachzugehen. Deshalb war Armut oder zumindest schwere finanzielle Unsicherheit für baptistische Pastoren üblich: Witwen und Familien waren oft verarmt, wenn der Pastor starb. Gealterte oder kranke Pastoren mussten lange leiden. Darüber hinaus waren Gemeinden oft gezwungen, einen Pastor auch jenseits seiner Fähigkeiten im Dienst zu behalten, um für ihn oder seine Familie zu sorgen, oder ihn gefühllos in ein unsicheres Schicksal oder in die Armenfürsorge zu entlassen. Angesichts von dienstunfähig machenden Krankheiten oder fortschreitender Jahre waren Pastoren oder ihre Witwen oder Familien oft auf Almosen angewiesen oder mussten betteln gehen. Henry Lyman Morehouse, ein Pastor und später korrespondierender Sekretär der Amerikanischen Baptistischen Gesellschaft für Heimatmission (American Baptist Home Mission Society), untersuchte bereits 1882 die wirtschaftliche Misere der Pastoren und begann damit, die Baptistengemeinden und ihre Organisationen auf dieses Problem aufmerksam zu machen, was er über 25 Jahren regelmäßig tat. Letztlich war seine Beharrlichkeit erfolgreich: Bei der ersten Sitzung der neu gegründeten Nördlichen Baptistenkonvention1 im Jahr 1908 wurde eine Kommission eingesetzt, um seine Sorgen zu untersuchen. Im Jahr 1911 wurde der Ausschuss zur Unterstützung der Pastoren und Missionare zu dem Zweck ins Leben gerufen, Gelder zu sammeln und an Bedürftige auszuzahlen. Ein reicher anonymer Laie, der später als Milo C. Treat aus Washington im Bundesstaat Pennsylvania identifiziert wurde, hatte mit einer Zusage von $ 50.000 die Initialzündung zur Gründung des Ausschusses gegeben. Die Zusage des Geldes wurde an die Bedingung geknüpft, dass bis Weihnachten 1911 noch einmal $ 200.000 zusammengelegt werden mussten. Dieses Ziel wurde erreicht, so dass bis 1913 die rechtliche Registrierung abgeschlossen wurde. In der Charta findet sich als Zweckbestimmung der Ausdruck „für den besseren Unter1

Northern Baptist Convention in Abgrenzung zu den Südbaptisten, Southern Baptist Convention. 1950 änderte man den Namen in American Baptist Convention, und 1972 führte man die jetzige Bezeichnung ein: American Baptist Churches, USA. (Anm. d. Hg.).

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halt des Dienstes“, was immer noch als Kurzform des Leitbilds der MMBB Verwendung findet. Im selben Jahr wurden die ersten Zuschüsse an pensionierte Pastoren vergeben, gewöhnlich in bescheidenen Beträgen von $ 50 oder $ 100 Dollar pro Jahr. Erreicht wurde die Finanzierung durch die gemeinsamen Bemühungen von Morehouse und Everett C. Tomlinson, einem talentierten und fähigen Pastor, Pädagogen und Autor, den Morehouse engagierte, um die Mittel zu beschaffen. Bald danach konnte man Tomlinson davon überzeugen, der erste Direktor der neuen Organisation zu werden. Wenig später erwarben Tomlinson und der Ausschuss die Ressourcen mehrerer anderer Organisationen, die zuvor gegründet worden waren, um für ältere Pastoren Heime, Renten oder andere Formen der Hilfe bereitzustellen. Auf diese Weise konnte MMBB für das Jahr 1916 Vermögenswerte von $ 777.400 melden. Als Folge zusätzlicher Spenden von Treat und anderen großzügigen Gebern erreichte man bald die Summe von $ 2.000.000. Nach dem Tod von Henry Morehouse im Jahr 1917 war eine finanzielle Kampagne in Erinnerung an ihn, „The Morehouse Million“, sehr erfolgreich: u. a. kam eine Spende von $ 2.000.000 von John D. Rockefeller, dem amerikanischen baptistischen Ölmagnaten. Im Jahresbericht für 1920 wies MMBB einen Vermögenswert von $ 12.000.000 aus. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts kamen Schenkungen von großzügigen Spendern hinzu. Die Unterstützung durch Rockefeller belief sich auf insgesamt $ 7.119.293 und garantierte die langfristige finanzielle Lebensfähigkeit von MMBB. Das erste Jahrzehnt von MMBB war daher von Weitsicht und starker finanzieller Unterstützung geprägt. Aber jährliche Zuschüsse von $ 100 bis $ 300 Dollar waren nicht ausreichend. Die MMBB-Führung erkannte bald, dass es selbst auf diesem niedrigen Niveau unmöglich wäre, Mittel zu beschaffen, die ausreichen würden, um die Anzahl der bedürftigen Pastoren sinnvoll zu unterstützen. Eine Strategie für langfristiges finanzielles Wachstum war daher der Leitstern für das zweite Jahrzehnt. Anstatt sich auf „Zuschüsse“ oder „Spenden“ zu verlassen, wurde der Pensionsfonds geschaffen. Der Zweck des Fonds bestand darin, Ressourcen zu schaffen, die von den Pastoren und den Gemeinden, denen sie dienten, eingezahlt wurden. Dieses Programm folgte den Prinzipien, die einige Universitäten und 269

frühe Gewerkschaften entwickelt hatten. Der Ruhestandsplan sah einen jährlichen Beitrag von 6 % des Gehalts vor, der im Namen des Pastors von der Gemeinde, dem Pastor selbst oder in Kombination von beiden abgeführt wurde. In den Jahren des aktiven Dienstes eines Pastors würden dann die in einen Permanenten Fonds investierten Mittel ab dem 65. Lebensjahr ausreichen, ein würdiges Einkommen im Ruhestand zu bieten. Um einen Übergang zu diesem Programm zu ermöglichen, wurden die Beiträge ursprünglich ermäßigt und durch Ergänzungen aus nicht zweckgebundenen Mitteln unter MMBB-Kontrolle ausgeglichen. Während des zweiten Jahrzehnts hat MMBB seine administrativen Fähigkeiten durch neue Mitarbeiter, durch erfolgreiche Neubesetzung von Führungspersonen und durch die Identifizierung wichtiger Verfahrensgrundsätze weiter ausgebaut. Als Beispiel für eine frühe Pioniertat kann auf die strikte Einhaltung versicherungsmathematischer Grundsätze bei der Festlegung und Gestaltung von Vorsorgeleistungen und Beiträgen verwiesen werden. Man profitierte auch von einem Gesetz des Staates New York, das Investitionen in etwas anderes als Anleihen verhinderte. Ein Mitglied des MMBB-Vorstands, Arthur M. Harris, war ein hoch angesehener Spezialist für Anlagen in Anleihen. So wurde MMBB durch Gesetz und effektive Führung von der Beteiligung am überhitzten Aktienmarkt der 1920er Jahre abgehalten und war in der Lage, die Depression zu überleben. Zur selben Zeit begann MMBB mit der Veröffentlichung von Materialien, um ihre Mitglieder in ihren Diensten zu unterstützen und die Gemeinden und Pastoren in Bezug auf die Bedeutung von Gehaltsunterstützung und Finanzplanung sowohl für Pastoren als auch Gemeinden konsequent zu erziehen. Das Jahrzehnt der Depression und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stellten MMBB in vielerlei Hinsicht vor Herausforderungen. Man verlor Geld durch die Einschreibung neuer Mitglieder wegen des überdurchschnittlichen Nachlasses auf die Beiträge. Daher musste man die Aufnahme neuer Mitglieder für mehrere Jahre aussetzen. Gleichzeitig bekräftigte man den Hauptzweck, indem man sich den Bitten widersetzte, das Fondsvermögen für breitere wohltätige Zwecke zu nutzen. Dies führte zu erheblicher Kritik, da viele akute Bedürfnisse da waren, wie z. B. Gemeinden, die aufhörten zu existieren oder die Gehälter der Pastoren nicht zahlen konnten. So aber wurde bestätigt, dass 270

MMBB keine Wohltätigkeitsorganisation war, sondern ein Programm, um die Mitglieder im Ruhestand zu unterstützen. Infolge der finanziellen Verwerfungen der Depression und der Entscheidung, die Mitgliedschaft vorübergehend zu schließen, sank die Mitgliederzahl von 1935 bis 1940 um fast 25 %. Der Vorstand erkannte, dass MMBB seinen Zweck nicht erfüllte und begann 1939, neue Anträge zu bearbeiten. Dies wurde durch eine Aufstockung von Mitteln aus einer Kampagne möglich, die sich auf die ganze Denomination erstreckte, sowie durch eine Übertragung von Reservefonds. Darüber hinaus führte eine neue Betonung der Pflicht der Gemeinden, den Beitrag für die Teilnahme ihres Pastors zu leisten, zu einer Erweiterung der Mitgliederzahl. Der Slogan „Worry Free by 43“ (etwa „sorgenfrei bis vierzig drei“2) führte zur Aufnahme von 1.201 neuen Mitgliedern. Am Ende des Krieges 1945 gehörten 72 % der berechtigten Pastoren der Pensionskasse an. Dieser Erfolg markierte eine Ära, in der die Zweckbestimmung der Pensionskasse erheblich ausgeweitet wurde, da sie von der amerikanischen Wirtschaftsexpansion in den Jahren 1945 bis 1965 profitierte. Die Anfangsjahre dieser Periode spiegelten einen neuen Weitblick für die Aufgaben sowie großen Optimismus wider: die Vermögenswerte der Kasse wuchsen und damit auch ihre Möglichkeiten. Sie beteiligte sich an der Entwicklung des „Zwischenkirchlichen Zentrums“ in New York, wo sie ihre Büros einrichtete, stellte neue Mitarbeiter ein und erweiterte ihre Vorstellungen, wie man der Pastorenschaft in größerem Umfang dienen könne. Man tat sich mit anderen konfessionellen Leitern zusammen, um es den Pastoren zu ermöglichen, der Social Security3 anzugehören, und bemühte sich, die Pastoren zu ermutigen, sich ihr anzuschließen. Sie förderte auch eine angemessenere Entschädigung der Pastoren und schuf ein Programm für den Mindestlohn, um die Kirchen bei der Einhaltung von Mindeststandards zu unterstützen. Die Pensionskasse unterstützte auch die Bürgerrechtsbewegung in den USA, indem man Kirchenleiter für die Bedeutung des Bürgerrechtskampfes sensibilisierte, solchen Pastoren, die auf2

Gemeint ist das Jahr 1943 (Anm. d. Hg.). Unter Präsident Franklin D. Rossevelt wurde 1935 das öffentliche Rentensystem „social security“ eingeführt (Anm. d. Hg.). 3

271

grund ihrer Haltung gegen Rassismus ihre Stellung einbüßten, Hilfen in dieser Krisensituation anbot und sich schließlich an afroamerikanische Kirchenleiter und Pastoren wandte, um Lebensversicherungen und langfristige Rentenressourcen bereitzustellen. Es ist bemerkenswert, dass man Martin Luther King davon überzeugte, MMBB-Mitglied zu werden; man übernahm seine Versicherungs- und Pensionsverpflichtungen aus unterschiedlichen Quellen. Diese Vorsorge brachte nach seiner Ermordung seiner Familie ein lebenslanges Einkommen. Eine zunehmende Zahl von afroamerikanischen Kirchen, Leitern und Pastoren erwarb eine Mitgliedschaft in der Rentenkasse und war in der Führung des Unternehmens beteiligt. Die Ausweitung von Sozialleistungen war während der gesamten Geschichte der Rentenkasse die Norm: Zu einem frühen Zeitpunkt wurden Sonderbeihilfen für Witwen und Familien verstorbener Mitglieder sowie Stipendien für die Ausbildung von Kindern der Mitglieder ausgezahlt. Später kamen Lohnzuschläge für unzureichend besoldete Pastoren hinzu und man öffnete die Mitgliedschaft auch für denominationelle Arbeiter, Geistliche in Institutionen, Pastoren in nicht-kirchlichen Sonderämtern wie Evangelisten, Gemeindeentwickler, und Berater auf allen möglichen Feldern wie Kirchenorganisation, Gottesdienstgestaltung, Musik und vieles mehr. Die Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung lenkte die Aufmerksamkeit auf marginalisierte Personen im Kirchendienst wie die Rolle von Frauen oder die besonderen Bedürfnisse von Pastoren, die Gemeinden von Einwanderern dienen. Diese Ausweitung der Aktivitäten war von großem Optimismus getragen. Aber begleitet wurde diese Expansion auch von neuen Herausforderungen. Eine Herausforderung bestand darin, dass in diesem Zeitraum die Mittel zur Rentenversorgung weiter zunahmen und schneller expandierten, als sie ausgezahlt werden konnten. Dies war im Allgemeinen das günstige Ergebnis einer wachsenden Wirtschaft. Im Besonderen war dies jedoch auf eine Ausweitung der Gesetze zurückzuführen, die zuvor die Art von Investitionen, die eine Rentenorganisation nutzen konnte, stark einschränkten. Änderungen im Gesetz erlaubten jetzt aggressivere Investitionen. Die Nachkriegsexpansion ging auch mit einer steigenden Inflation einher, die den Wert der leistungsorientierten Rentenzahlungen jährlich reduzierte. MMBB begann mit einer jährlichen Vertei272

lung von Zusatzkosten, die durch höhere Mittel aus der Investitionserfahrung möglich wurde und die sich nach den Lebenshaltungskosten richteten. Im Jahr 1965 verlagerte MMBB den bisherigen Investmentansatz auf eine „Variable Jahresrente“, bei der die im Namen eines Mitglieds geleisteten Fonds in Aktienfonds investiert wurden und die daraus resultierende Rente dann vom Kapitalanlageergebnis profitierte, mit Garantien, um steile Kursrückgänge in Zeiten eines fallenden Marktes zu verhindern. Das Jahrzehnt der 1970er Jahre mit seinen stagnierenden finanziellen Renditen stellte diese Entscheidung auf die Probe, aber im Laufe der Zeit hat die Strategie der „Variablen Jahresrente“ den Wert der Renten stark erhöht. In den 1950er und 1960er Jahren sah sich MMBB mit der Herausforderung der frühesten Stadien der anhaltenden Gesundheitsversorgung konfrontiert und bot Krankenversicherung und später zusätzliche Zahnversicherung an. Langfristig entschied der Vorstand, Gesundheitspläne für aktive Mitglieder als Unterverträge abzuschließen und ergänzende Pläne für Pastoren im Ruhestand mit Medicare4 zu vereinbaren. Die Gesundheitsreform Präsident Obamas (Affordable Care Act, auch Obamacare genannt) und die politischen Kräfte um Donald Trump, die versuchen, das mit der Reform Erreichte wieder zurückzudrehen, stellen für die langfristige Reaktion seitens MMBB auf die Gesundheitsversorgung erneut eine Herausforderung dar. Von 1970 bis 1990 beteiligte sich die Rentenkasse aktiv an der Konfrontation mit dem kulturellen Wandel und dem Übergang, der viele Herausforderungen für Pastoren mit sich brachte. Ihr Eintreten für Frauen förderte die Präsenz von Frauen in den Reihen der Pastorenschaft. Ihre erzieherische Rolle beim Ausbruch von HIV / Aids in den 1980er Jahren bot sowohl den Pastoren als auch den vermittelnden Kräften in den Gemeinden eine seelsorgerliche Orientierung, um HIV als eine Krankheit und nicht als einen „Fluch Gottes“ zu begreifen. Auch nahm die Kasse weiterhin ihre erzieherische Rolle wahr, indem man den Pastoren half, Fragen des eigenen Umgangs mit Geld und 4

Medicare wurde am 30. Juli 1965 durch Zusätze zum Social Security Act als öffentliche Krankenversicherung für ältere und behinderte Menschen eingeführt (Anm. d. Hg.).

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der Finanzplanung zu klären. Dies hat die Kompetenz der Pastoren hinsichtlich ihrer eigenen Zukunft und Berufsplanung verbessert. Auf ruhige, aber beharrliche Weise hat man auch Pastoren in die Lage versetzt, mit den Spannungen fertig zu werden, denen sich viele Gemeinden bei Fragen der Homosexualität und damit verbundener Geschlechter- und Sexualitätsprobleme konfrontiert sahen. Im Jahr 1990 trat Dean R. Wright, der dienstälteste Direktor der Rentenkasse MMBB, nach sechsunddreißig Jahren in den Ruhestand. Seine langjährige Amtszeit war geprägt durch seine Empfindsamkeit für Stabilität, seine Reaktion auf Bedürfnisse nach Veränderung sowie seine wirksamen Beziehungen zu Pastoren und denominationellen Leitern. In den folgenden fünfundzwanzig Jahren haben seine Nachfolger die Stabilität der Kasse fortgesetzt, aber auch auf die Turbulenzen der sich verändernden Zeiten reagiert: Man stand vor der Notwendigkeit, die Kernaufgabe der Rentenkasse neu zu definieren, musste Turbulenzen aufgrund der Volatilität der Finanzmärkte abfedern, organisatorische Wachstums- und Managementexpertise zusätzlich gewinnen, die sich wandelnden Umstände der amerikanischen religiösen Praktiken einbeziehen und die Auswirkungen in Rechnung stellen, die durch aufeinanderfolgende nationale und internationale Krisen entstehen, die sowohl die Märkte als auch die öffentliche Meinung betreffen. In den 1990er Jahren richtete die Kasse ihre Energien und Ressourcen neu auf das Management und die Bereitstellung ihres Kerndienstes für Pastoren aus, einschließlich Versicherungen, Renten und Finanzbildung. Das Eintreten für ordinierte Frauen wurde beispielsweise in die denominationelle Verantwortung verlagert. Außerdem wurde mehr Energie auf die Schaffung von Kompetenz der Mitarbeiter konzentriert, was eine wirkungsvolle und bedarfsgerechte Betreuung der Mitglieder gewährleisten sollte, einschließlich des Einsatzes neuer Technologien, der Personalorganisation, der Ausbildung und der Evaluierung. Der Rückgang des Marktes einschließlich der „Internet-Blase“ von 2000, der Markteinbruch nach den Terroranschlägen von 9 / 11 und die Rezession nach der Banken- und Hypothekenkrise von 2007–2008 haben die Prioritäten und Energien der Kasse MMBB stark beeinflusst. Die Rezession hat zu einem Rückgang der Rentenzahlungen geführt. Obwohl durch „Garantien“ gegen 274

einen steilen Fall abgefedert, bildete die geringere Rente dennoch eine ernste Herausforderung an die Vertrauenswürdigkeit. Ende 2010 hatte das verwaltete Vermögen der Rentenkasse seine Werte wieder erreicht und belief sich auf 2,38 Milliarden USDollar. Seitdem haben sich die Finanzmärkte weiter verbessert, und damit werden die Rentenwerte wieder hergestellt. Änderungen der Regulierungen haben es der Rentenkasse ermöglicht, ihre Basis zu erweitern. Ursprünglich konnten nur amerikanisch-baptistische5 Pastoren und später Gemeinden und Organisationen derselben Denomination Mitglieder werden. In jüngster Zeit ist die Kasse in der Lage, eine größere Vielfalt von Baptisten und anderen „gleichgesinnten religiösen Organisationen und ihre Ableger“ einzubeziehen. Dies hat dazu geführt, dass die Mitgliederzahl und das „verwaltete Vermögen“ deutlich gestiegen sind. Das ist ein kritischer Faktor auf dem hart umkämpften Markt für Investitionen. Die Herausforderung von ganz unsicherer Reichweite und Intensität ist wohl diejenige, die sich durch die Veränderung religiöser Praktiken in den USA ergibt. Die denominationelle Identität nimmt ebenso ab wie in vielen Fällen die Teilnahme am Gemeindeleben. Eine Konsequenz besteht darin, dass mehr Pastoren „zwei-beruflich“ oder in Teilzeit sind. In vielen Fällen sind weniger Gemeinden mit hauptamtlichen Pastoren in der Lage oder bereit, die 16 % vom Lohn zu zahlen, die der Standardrenten- und Versicherungsplan der Rentenkasse erfordert. Das bedeutet eine größere finanzielle Unsicherheit für die Pastoren und ihre Familien in der Gegenwart und eine weniger aussichtsreiche Sicherheit im Ruhestand in der Zukunft. Dies ist eine Herausforderung für den Kerndienst. Wie der kürzlich pensionierte Direktor Sumner Grant sich ausdrückte, ist es Zeit für MMBB, „hurtig zu sein“. Mit einem begeisternden Anfang, mit einer über einhundertjährigen erfolgreichen Entwicklung, mit einer bemerkenswerten Geschichte der ausgezeichneten Führung, einschließlich Vorstand und Führungskräften, mit einer beharrlichen Hingabe an seinen ursprünglichen Zweck „für den besseren Unterhalt des Dienstes“, und mit einer Leistung, die Anpassung und Offenheit für Ver5

Amerikanisch-baptistisch meint hier die nördlichen Baptisten (Anm. d. Hg.).

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änderungen gleichermaßen beinhaltet, erscheint MMBB bestens geeignet, mit der Herausforderung fertig zu werden. Für detaillierte Informationen zu diesem Artikel vgl. Everett C. Goodwin, MMBB – Pioneer in Employee Benefits: The First 100 Years (Mercer University Press, 2012). 328 p.

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AFRIKA

Die All-Afrikanische Baptistische Gemeinschaft Isaac Duro Ayanrinola Ursprung der Baptisten Die Geschichte der baptistischen Bewegung ist komplex und vielfältig, und selbst ihre Herkunft ist umstritten. Während die moderne Wissenschaft davon ausgeht, dass die baptistische Bewegung im Jahr 1609 begann, als John Smyth sich und seine Anhänger, darunter auch seinen prominenten Freund Thomas Helwys, taufte, besteht eine Theorie des 19. Jahrhunderts auf einer baptistischen Sukzessionskette, die mit der „Ersten Baptistischen Gemeinde von Jerusalem“ begann. Nach dieser Theorie führt der Weg des treuen Zeugnisses zur Wahrheit Christi von dort über die frühe Kirche, die verschiedenen abweichenden oder „ketzerischen“ Sekten im Mittelalter, die „Wieder“täufer der Reformationszeit schließlich bis zur Entstehung der klar definierten Baptistengemeinde im England des siebzehnten Jahrhunderts.1 Ungeachtet der Komplexität ihrer Herkunft und Geschichte haben die Baptisten eine Anzahl von Kennzeichen, die sie nicht ersonnen haben; vielmehr entdeckten und artikulierten sie diese für ihre Zeit neu. Richard Pierard, der Herausgeber der Festschrift zur Hundertjahrfeier des Baptistischen Weltbundes, zitiert den Historiker Walter Shurden, der vier solche essentiellen „Freiheiten“ auswies, an die Baptisten glauben:

1

Richard V. Pierard (Hg.), Baptists Together in Christ 1905–2005: A Hundred-Year History of the Baptist World Alliance, (Birmingham, Alabama: Samford University Press, 2005), xv. Es sollte noch vermerkt werden, dass entgegen der Meinung einiger der Name „Baptist“ nicht von Johannes dem Täufer (= „Baptist“) abgeleitet wird, sondern von der besonderen Taufpraxis durch Untertauchen (Immersion).

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1. „Bibelfreiheit“: Die Freiheit und Verpflichtung jedes Christen, die Heilige Schrift zu studieren und ihr zu folgen; denn sie ist im Leben des Einzelnen und der Kirche von zentraler Bedeutung. 2. „Seelenfreiheit“: Die Verantwortung jeder Person, direkt mit Gott zu verkehren, ohne die Last eines Glaubensbekenntnisses, die Einmischung eines Priesters oder das Eingreifen der Zivilregierung; 3. Die Freiheit der Kirche: Die Autonomie der Ortsgemeinde, die frei ist, ihre Mitgliedschaft und ihre Leitung zu bestimmen, ihre Gottesdienste zu ordnen, diejenigen zu ordinieren, die sie als begabt für den Dienst ansieht, und sich am Leben des Leibes Christi zu beteiligen; 4. Religionsfreiheit: Die Freiheit der Einzelnen, ihre religiösen Überzeugungen ohne staatliche Einmischung zu vertreten und auszuüben.2 Der Baptistische Weltbund Der Baptistische Weltbund wurde 1905 gegründet, als Vertreter von Baptisten aus sechsundzwanzig Ländern in London zusammenkamen. Dreitausend Delegierte waren registriert und trafen sich vom 11. bis 19. Juli 1905 in der Exeter Hall. Zum ersten Präsidenten des Weltbundes wurde John Clifford aus London gewählt. Die Frage ist umstritten, wem das Verdienst zukommt, eine Weltorganisation zu organisieren. Waren es die Engländer oder entstand die Initiative in den Vereinigten Staaten? Heute (2019) ist der Baptistische Weltbund „eine Gemeinschaft von 239 Konventionen und Unionen in 125 Ländern und Territorien mit 48 Millionen Mitgliedern in 177.000 Ortsgemeinden. Seine Prioritäten sind „die Leidenschaft für Mission und Evangelisation zu erwecken; Gottesdienst, Gemeinschaft und Einheit zu fördern; auf Menschen in Not zu reagieren; Menschenrechte und Gerechtigkeit zu verteidigen; und relevante theologische Reflexionen zu verbreiten.“

2 Ibid.

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Die All-Afrikanische Baptistische Gemeinschaft Die All-Afrikanische Baptistische Gemeinschaft ist eine der sechs regionalen Einheiten des Weltbundes; sie wurde als letzte geschaffen. Die fünf früher organisierten Einheiten sind: die Europäische Baptistische Föderation (EBF), die am 8. Oktober 1949 gegründet wurde, die North American Baptist Fellowship (NABF) mit Gründungsdatum am 28. März 1966; die Caribbean Baptist Fellowship (CBF), gegründet im Juli 1969; die 1972 gegründete Asia Pacific Baptist Federation (APBF). Am 4. Juli 1982 wurde in Brackenhurst, Nairobi, Kenia, die All Africa Baptist Fellowship (AABF) ins Leben gerufen. Afrikanische Verbundenheit mit dem Weltbund vor 1982 Afrikaner waren schon vor Gründung der AABF mit dem Weltbund verbunden. Der Präsident von Liberia, William R. Tolbert, Jr., war von 1960 bis 1965 Präsident des Weltbundes. Viele Afrikaner dienten als Vizepräsidenten, zum Beispiel A. H. King aus Südafrika, 1928–1934; J. T. Ayorinde aus Nigeria, der zweimal, 1955–1960 und 1970–1975, zum Vizepräsidenten gewählt wurde; Advertus A. Hoff aus Liberia, 1970–1975; und Arthur Kinyanjui aus Kenia, 1970–1975.3 Ngwedla Paul Msiza, ein Afrikaner aus Südafrika, wurde am 25. Juli 2015 in Durban in sein Amt als Präsident eingeführt. Einige Afrikaner dienten als Redner auf Kongressen, wurden als leitende BWA-Mitarbeiter ausgewählt, oder standen Abteilungen vor (Männer-, Frauenund Jugendabteilungen). Viele dienten auch als Mitglieder des Exekutivausschusses, des Beratungskomitees und der Kommissionen, und haben ihr Bestes für den Fortschritt und das Wachstum des Weltbundes beigetragen. Der Beginn der AABF Samuel Ola Akande aus Nigeria, der erste AABF-Generalsekretär / Schatzmeister, bezeichnete die Geburt der AABF als ein „Wunder Gottes“. Es war ein Wunder, das durch das Bewusstsein afrikanischer baptistischer Leiter ausgelöst wurde, dass es 3

Richard V. Pierard, op.cit. 321–323.

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auf dem ganzen Kontinent ein Bedürfnis nach Zusammenarbeit auf den Gebieten der Evangelisation und der Ausbildung von Leitern gab.4 Frühere Versuche, die Gemeinschaft zu gründen, einschließlich der Bemühungen von Tolbert und Ayorinde, waren gescheitert. Auf der Ratstagung des Weltbundes in Brighton, England, im Jahr 1979 informierte Advertus Hoff, einer der BWA-Vizepräsidenten, den Rat über die 1980 anstehende Ein-Hundert Jahrfeier der Baptisten in Liberia. Er äußerte sich auch besorgt und enttäuscht darüber, dass die verschiedenen Anstrengungen, ein „Gründungs-Treffen“ im Mai 1979 einzuberufen, nicht zum Tragen gekommen war. Es überrascht daher nicht, dass S. T. Ola Akande die 1982 beschlossene Gründung von AABF als „Wunder“ bezeichnete. Auf der Ratstagung des Weltbundes in Puerto Rico im Jahre 1981 trafen sich die afrikanischen Leiter und legten die Grundsätze für die Gründung der Afrikanischen Baptistischen Gemeinschaft fest. Als diese Entwicklung dem Rat gemeldet wurde, verwies S. T. Ola Akande auf die „Schlussfolgerungen und Empfehlungen“, auf die sich die afrikanische Gruppe bereits geeinigt hatte. Der Rat entschied, dass Kopien der vorgeschlagenen Verfassung an alle Konventionen und Unionen in Afrika verteilt werden sollten. Es wurde vereinbart, dass die Gründung der Afrikanischen Baptistischen Gemeinschaft im darauf folgenden Jahr während des Treffens der BWA-Abteilung für Evangelisation und Erziehung und der Internationalen Missionssekretäre (IMS), die für Juli 1982 in Nairobi, Kenia, vorgesehen war, stattfinden sollte.5 Die Erste AABF Versammlung Die erste AABF Versammlung fand vom 17. bis 22. Januar 1984 in der Stadt Harare, Zimbabwe, statt. Veranstaltungsort war die Universität von Zimbabwe; das Land hatte 1980 politische Unabhängigkeit von Großbritannien erhalten. Der Staatspräsident war ein ordinierter Pastor. Nach S. T. Ola Akande war 4 The

Minutes, Reports and Messages of the First Assembly of the All Africa Baptist Fellowship, 1984, 5. 5 Neville Callam, Pursuing Unity Defending Right: The Baptist World Alliance at Work, (Virginia: Baptist World Alliance, 2010), 53.

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das Treffen der Spiritualität und der Gemeinschaft unter den afrikanischen Baptisten gewidmet; außerdem wurden verschiedene Ausschüsse eingerichtet, die regelmäßig zwischen dieser ersten und der nächsten Versammlung arbeiten sollten. Die Erfahrung der Gemeinschaft war einzigartig und ertragreich. Das Thema der Versammlung war „Jesus Christus, für die Heilung aller Völker“.6 Die Zahl der registrierten Delegierten und Beobachter bei der Versammlung betrug 136. Neun Länder, Angola, Kamerun, Kenia, Malawi, Nigeria, Ruanda, Südafrika, Sambia und Zimbabwe, waren vertreten. Drei Beobachter, angeführt von Dr. Pearl McNeil vom Union Theological Seminary in Richmond, Virginia, kamen aus den USA. Die BWA-Zentrale in Washington wurde von Dr. Archie Goldie und Mr. Samson Mathangani vertreten. Zwei Chöre aus Lusaka, Sambia (82 Sänger), aus den Matero und Chawama Gemeinden sorgten während der Konferenz für inspirierendes Singen. Wichtige Erfolge der Versammlung waren Gründung und Eröffnungssitzungen der folgenden Ausschüsse: 1. Zentraler Unterstützungs- und Hilfsausschuss; 2. Ausschuss für Männerarbeit; 3. Kommunikationsausschuss; 4. Ausschuss für Evangelisation und Christliche Erziehung (gegründet im Juli 1982 in Nairobi); 5. Ausschuss für Theologische Ausbildung (gegründet im Juli 1982 in Nairobi); 6. Die All-Afrikanische Baptistische Jugendgemeinschaft.7

Die gewählten Mitglieder des Exekutivausschusses waren: 1. Generalsekretär / Schatzmeister – Pastor Dr. Samuel T. Ola Akande aus Nigeria 2. Präsident – Pastor Joao Makondekwa aus Angola 3. Erster Vizepräsident – Pastor Dr. Derek Mpinga aus Zimbabwe 4. Zweiter Vizepräsident – Pastor Dr. Douglas Waruta aus Tansania 5. Erster Beigeordneter Sekretär – Pastor Wellington Selebano aus Südafrika 6. Zweiter Beigeordneter Sekretär – Pastor Kikama Kividi aus Zaire

6 7

The Minutes, Reports and Messages, 1984, 1 f. Ibid., 2.

281

Weitere Mitglieder des Exekutivausschusses: 7. Pastor Dr. Osadolor Imasogie aus Nigeria 8. Pastor Ziherambere O. Eleazar aus Ruanda.8

Es wurde berichtet, dass die folgenden Beiträge an die Gemeinschaft gespendet wurden: 1. Baptistische Mission aus Norwegen: $ 100 2. Nordamerikanische Baptistische Missionsgesellschaft: $ 500 3. Baptistische Union von Dänemark: $ 700 4. Nigerianische Baptistische Konvention: 4.500 US-Dollar (1982); 2.025 $ (1983).9

Die All-Afrikanische Gemeinschaft Heute Die AABF ist weiterhin das Regionalbüro des Baptistischen Weltbundes in Afrika. Es ist die Heimat von 61 Baptistenvereinigungen und Unionen in 32 Ländern mit insgesamt 16.625.608 Mitgliedern in 42.533 Gemeinden auf dem Kontinent. Nach den neusten statistischen Daten des Weltbundes ist das stärkste Wachstum der baptistischen Gemeinden weltweit in Afrika und weit weniger in Asien zu suchen, während in Europa und in den USA Rückgänge zu verzeichnen sind. Die Zahlen beziehen sich auf das Wachstum innerhalb des einen Jahres von 2017 auf 2018 und sehen wie folgt aus: 1. Die Baptistische Konvention von Kamerun verzeichnet eine Wachstumsrate von 85 %, in Zahlen: von 117.905 Mitglieder auf 218.230. 2. Die Reform-Baptistische Konvention in Ruanda berichtet von einer 50 %igen Wachstumsrate, in Zahlen: von 430.726 Mitglieder auf 644.363. 3. Die Addis Kidan Baptistische Kirche in Äthiopien hat bei insgesamt geringen Mitgliederzahlen eine Wachstumsrate von 46 %, in Zahlen: von 28.000 Mitglieder auf 41.000.

8 9

Ibid., 4. Ibid., 24.

282

4. Bei noch geringeren Ausgangszahlen weist die Evangelische Baptistische Glaubenskirche im Süd Sudan eine Wachstumsrate von 42 % aus, in Zahlen: von 7.750 auf 11.000 Mitglieder. 5. Die Baptistische Konvention von Tansania, eine sehr große Gemeinschaft, zeigt eine Wachstumsrate von 28 %, in Zahlen: von 2.082.000 auf 2.660.000). 6. Erst danach folgt die Konvention Philippinischer Baptistischer Gemeinden, Inc mit einer Wachstumsrate von 20 %, in Zahlen: von 500.000 auf 600.000 Mitglieder.10

In der geänderten Verfassung der AABF werden die Vision, Leitbilder und Ziele der Gemeinschaft genannt: Die Vision der AABF besteht darin, die Gemeinschaft unter den Konventionen, Unionen, Vereinigungen und zentralisierten Baptistengemeinden in Afrika zu vernetzen, zu unterstützen und zu stärken, um den Missionsbefehl zu erfüllen und sich kooperativen sozialen Maßnahmen zu stellen. Die Mission der AABF muss Folgendes umfassen: (a) sich mit kooperierenden Konventionen, Unionen, Vereinigungen und zentralisierten Baptistengemeinden in Afrika zu vernetzen und mit ihnen zusammenzuarbeiten; (b) Mission und Evangelisation der Völker Afrikas und darüber hinaus zu fördern; (c) die Errichtung von Baptistengemeinden in jeder Großstadt, in jeder Stadt und in jedem Dorf in Afrika zu erleichtern; d) das soziale Wohlergehen aller Völker Afrikas zu fördern. Um die in dieser Satzung festgelegten Ziele zu erfüllen, muss die AABF: (a) die Teilnahme afrikanischer Baptisten an der Arbeit der BWA fördern; (b) Evangelisation und christliche Erziehung fördern; (c) den Dienst an Männern, Frauen, Jugendlichen und Kindern fördern; (d) kontinentale und subregionale Programme, die für die Bedürfnisse der AABF in Verbindung mit dem Baptistischen Weltbund und anderen baptistischen Gremien von Bedeutung sind, regelmäßig organisieren; (e) Programme auf subregionaler Ebene in Verbindung mit den Verantwortlichen organisieren; 10 Die

Zahlen wurden freundlicherweise von Elijah M. Brown, dem Generalsekretär des Baptistischen Weltbundes, in einer Email vom 20.3.2019 an den Herausgeber zur Verfügung gestellt.

283

(f ) mit anerkannten ökumenischen christlichen Gremien nach Bedarf zusammenarbeiten; (g) sich an Investitionsmöglichkeiten beteiligen und die Einrichtung von Institutionen fördern, die das Wachstum der Organisation anregen.11

Regionale Gemeinschaften Nach dem Muster des Weltbundes teilt AABF den Kontinent in fünf Regionen auf, von denen vier jetzt aktiv sind. Die vier Regionen sind Westafrika, Ostafrika, Zentralafrika und das südliche Afrika. Teilregion Westafrika: Baptisten sind in jedem Land Westafrikas tätig. Insgesamt leben 80 % der Baptisten Westafrikas in Nigeria. Die Expansion der Baptisten vor 1950 war aus mehreren Gründen langsam: 1. Schwarze Kolonisten aus den USA gründeten baptistische Arbeit 1722 in Sierra Leone und 1852 in Liberia. Unglücklicherweise haben sie die Ureinwohner nicht evangelisiert. 2. Große baptistische Missionen begannen ihre Arbeit unter den englischsprachigen Ländern. Die französischsprachigen Länder wurden zunächst vernachlässigt. Heute gibt es baptistische Tätigkeiten in den folgenden Ländern Westafrikas: Baptistenkonvention von Benin, Baptistenkonvention von Burkina Faso, Baptistenvereinigung in Gambia, Ghanaische Baptistenkonvention, Liberianische Baptistische Missions- und Erziehungskonvention, Inc., Nigerianische Baptistenkonvention, Baptistenkonvention von Sierra Leone, TogoBaptistenkonvention, Association des Eglises Baptistes Evangeliques du Tchad, Mambilla-Baptistenkonvention und Meridional Evangelikale Gemeinden der Elfenbeinküste.12 Teilregion Ostafrika: Im Vergleich zu anderen Missionen sind Baptisten erst spät nach Ostafrika gekommen. Dänische Baptisten begannen nach dem Ersten Weltkrieg in Ruanda / Burundi, und andere Baptistische Missionen kamen erst im Zweiten Weltkrieg an. Heute breiten sich die Baptisten schnell aus. Das größte Wachstum war vor allem bei sesshaften Landwirten in Kenia, 11

All Africa Baptist Fellowship Constitution, 2013, 2–4. Albert W. Wardin, ed., Baptists Around the World: A Comprehensive Handbook, (Tennessee, Broadman & Holman Publ., 1995), 67. 12

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Tansania, Uganda, Burundi und Ruanda zu verzeichnen. Zu Ostafrika zählen: Freie Baptistengemeinden in Burundi, Union der Baptistengemeinden in Burundi, Emmanuel Baptistenkirche von Äthiopien, Äthiopische Addis Kidan Baptistenkirche, Baptistenkonvention von Kenia, Vereinigung von Baptistengemeinden in Ruanda, Gemeinschaft christlicher Kirchen in Afrika, Reformierte Baptistengemeinden in Ruanda, Union der Baptistengemeinden in Ruanda, Baptistenkonvention von Tansania, Uganda Baptistenkonvention, Baptistische Union von Uganda.13 Teilregion Zentralafrika: Für die bahnbrechende Arbeit in Zentralafrika geht das Verdienst an britische, deutsche, schwedische und amerikanische baptistische Missionsgesellschaften. Die Baptistischen Konventionen / Unionen in Zentralafrika sind: Baptistische Evangelische Kirche in Angola, Freie Baptistenkirche in Angola, Union der Baptistengemeinden, Baptistische Evangelische Gemeinschaft in Zentralafrika, Baptistenkirche des Kongo, Baptistengemeinschaft in Zentralafrika, Baptistengemeinschaft des Kongo-Flusses, Baptistengemeinschaft der Gläubigen in Afrika, Baptistische Evangelische Konvention des Kongo, Gemeinschaft der autonomen Baptistengemeinden Wamba-Bakali, Gemeinschaft der baptistischen Kirchen Union des Kongo, Gemeinschaft der Vereinigten Baptistengemeinden, Union der Baptistengemeinden im Kongo, Baptistenkonvention von Angola, Einheimische Baptistenkirche von Kamerun, Union der Baptistengemeinden in Kamerun, Union der Baptistengemeinden der Zentralafrikanischen Republik, Evangelische Baptistische Kirche der Zentralafrikanischen Republik, Brüderliche Union der Baptistengemeinden, Baptistische Gemeinschaft des Westlichen Kongo, Gemeinschaft der Baptistengemeinden des Ostkongo, Gemeinschaft der Baptistengemeinden in Nordkongo.14 Teilregion Südliches Afrika: Im Vergleich zu anderen Konfessionen hatten die Baptisten in Südafrika einen sehr schwachen Start und übten bis nach dem Zweiten Weltkrieg wenig Einfluss in der Region aus. Bis dahin waren die großen baptistischen Vertretungen, die Interesse an Afrika hatten, auf sich selbst gestellt. 13 14

Ibid., 13. Ibid., 27.

285

Die Ausnahme war der Ausschuss für Außenmission der Nationalen Baptistenkonvention in dem Territorium, das später die Republik von Südafrika wurde. Die Gemeindebünde im südlichen Afrika sind: Baptistenkonvention von Malawi, Baptistenvereinigung von Südafrika, Baptistenkonvention von Südafrika, Baptistenmission von Südafrika, Baptistenunion des südlichen Afrikas, Baptistenkonvention von Sambia, Baptistengemeinschaft von Sambia, Baptistenkonvention von Zimbabwe, Nationale Baptistenkonvention von Zimbabwe, Baptistenkonvention von Botswana, Vereinigung der biblischen Baptistengemeinden in Madagaskar, Afrikanische Baptistenversammlung Malawi, Inc., Evangelische Baptistenkirche von Malawi, Baptistenkonvention von Mosambik, Baptistenkonvention von Namibia, Baptistenunion von Zambia, Baptistenunion von Zimbabwe, Vereinigte Baptistische Kirche Zimbabwes.15 Die Struktur der AAB Die AABF ist wie folgt strukturiert: Die Generalversammlung tritt einmal in fünf Jahren zusammen; Der Generalrat tritt einmal in zwei Jahren und während der Generalversammlung zusammen; Der Exekutivausschuss tritt einmal im Jahr zusammen; Der Generalsekretär ist der Chief Executive Officer (das oberste ausführende Vorstandsmitglied) Die gegenwärtige Exekutive 1. Der Präsident: Earnest Adu-Gyamfi (Ghana) 2. Vizepräsidenten: Angelo Scheepers (South Africa) Kakule Molo (Kongo) 3. Generalsekretär: Isaac DurosinJesu Ayanrinola (Nigeria) 4. Stellvertretender Generalsekretär: Donald Nidichafah (Kamerun) 5. Regional Vorsitzende: Westafrika: Dickson O. E. Madoghwe Zentralafrika: Ncham Godwill Ostafrika: Joseph Maisha Südliches Afrika: Chris Dikana 15

Ibid., 43.

286

6. Zusätzliche Präsidenten: Baptistische Frauenunion von Afrika: Mrs Mathe Ekollo All-Afrikanische Gemeinschaft Baptistischer Männer: Dawari George All-Afrikanische Gemeinschaft Baptistischer Jugend: 7. Zusätzliche Mitglieder: Samson Olasupo Ayokunle Judith Wanke Isaac Zulu 8. Der Generalsekretär des Weltbundes oder sein Repräsentant, der von Amts wegen Mitglied ohne Stimmrecht ist 9. Der Vizepräsident des Weltbundes, der Afrika repräsentiert, auch ohne Stimmrecht.

Zusätzliche Möglichkeiten des Dienstes Traditionell arbeitet die AABF mit Hilfe ihrer Strukturen, hält Generalversammlungen, Generalratssitzungen ab und trifft sich jährlich zu Sitzungen des Exekutivausschusses. Die letzte Versammlung fand im Juli 2017 in Ghana mit dem Thema „Jesus die offene Tür“ statt. Das letzte Ratstreffen war vom 5. bis 11. Fe­ bruar 2018 in Blantyre, Malawi. Die anderen Gruppen (Männer, Frauen und Jugend) veranstalten kontinentale und regionale Treffen. Der Dienst an den Kindern In den letzten drei Jahren hat die Exekutive einen zusätzlichen Dienst an den Kindern genehmigt. In ganz Afrika gibt es eine stark wachsende Zahl von Kindern. Es ist unsere christliche Verantwortung, diese Kinder zu unterrichten, solange sie jung sind. Sie sind nicht die Kirche von morgen; sie sind die heutige Kirche. Materialien wurden hergestellt, und Seminare, Schulungen und Workshops wurden in allen Regionen des Kontinents durchgeführt. Baptistische Studentenarbeit Auch wenn es eine Abteilung für die Arbeit unter der Jugend gibt, ist die AABF zu der Überzeugung gelangt, zusätzlich Studenten an den Universitäten und Hochschulen zu erreichen. Die tertiären Bildungseinrichtungen erweisen sich als fruchtbarer Boden 287

für alle Arten von Weltanschauungen. Daher müssen Baptisten versuchen, Studenten auf ihrem Campus zu erreichen, sie für Mission zu mobilisieren und sie ermutigen, Gott mit der Kraft ihrer Jugend zu dienen. Die AABF arbeitet mit bestehenden Baptistischen Studentendiensten in Afrika, insbesondere in Nigeria und Ghana, zusammen, um diesen Dienst auch in anderen Regionen Afrikas zu verbreiten. Im Jahr 2016 organisierte die AABF ein Treffen in Nairobi, Kenia, um Studenten zu begeistern („Student-Ablaze“ = etwa Studenten sind Feuer und Flamme für…), und besuchte auch Uganda und Tansania für denselben Zweck. Literatur für Sonntagsschulen und Konferenzen für Verfasser von Materialien Es gibt eine Hungersnot in Afrika, die nicht durch Dürre oder Mangel an Nahrung verursacht wird, sondern durch den Mangel an Gottes Wort. Viele Konventionen und Unionen haben keine Literatur für Sonntagsschulen, um Gottes Wort zu lehren. Daher wächst ein Christentum „dem Namen nach“. Um das zu bekämpfen, führt die AABF Konferenzen durch, um potentiellen Verfassern beizubringen, wie sie ihre eigene Literatur in ihrer indigenen kulturellen Umgebung schreiben können. Solche Schulungen wurden in Nairobi, Kenia, Sambia, Burkina Faso und Abidjan durchgeführt. Gott sei Dank zeigen sich Früchte. Reaktionen auf Menschen in Not Es muss eingestanden werden, dass die AABF auf diesem Gebiet nicht gut arbeitet, einfach weil es schwierig ist, Geldmittel zu generieren. Dennoch arbeitet die AABF mit Baptistengemeinden in Deutschland zusammen, um Hilfsgüter für notleidende Menschen am Horn von Afrika bereit zu stellen. Einheit fördern Die AABF ist in Sorge um die Einheit sowohl in ihren Mitgliedsorganisationen als auch auf dem gesamten Kontinent. Der Herr hat in einigen Konventionen den Sieg über interne Krisen beschert: Baptistenkonvention von Kenia, Baptistenkonven288

tion von Sambia und Liberianische Baptistische Missions- und Erziehungskonvention, Inc. Schlussfolgerung Es gibt noch viele Herausforderungen für Afrikaner und Christen auf dem Kontinent; Islamischer Fundamentalismus, Korruption, Katastrophen, politische Instabilität und sogar ein Namenchristentum. Die AABF nimmt diese Herausforderungen wahr, indem sie ihre geringen personellen und finanziellen Ressourcen nutzt und in Zusammenarbeit mit anderen verbündeten Organisationen diese Probleme abmildert. Es wurden auch Anstrengungen unternommen, um Nordafrika zu erreichen, dessen Bevölkerung etwa 99 % muslimisch ist. Während wir uns weiter für den Frieden auf dem Kontinent engagieren, ist AABF offen für kollegiale Kooperationen, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, das Evangelium zu predigen, das Namenchristentum zu bekämpfen und die nächste Generation durch die Lehre des authentischen Wortes Gottes zu Jüngern zu machen.

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Die Geschichte des Bundes der Baptistengemeinden in Nigeria Solomon Ademola Ishola Einleitung Das Folgende ist eine narrative Geschichte der Nigerian Baptist Convention (nachfolgend NBC), des zweitgrößten Baptistenbundes außerhalb der USA.1 Nigeria ist nach China auch das zweitälteste Missionsfeld der amerikanischen Südbaptisten. Das biblische Mandat des Herrn Jesus Christus ist der sog. Missionsbefehl wie er Matth. 28,16–20 überliefert ist. Zusätzlich hat der Einfluss des Missionseifers von Menschen wie William Carey, dem „Vater der modernen Mission“2, und Adoniram Judson die Bewegung motiviert, sich in der Außenmission zu engagieren. Die Kinder Gottes der NBC leben in dem größten Land Afrikas, im Westen des Kontinents. Das Territorium, was jetzt Nigeria genannt wird, war vormals ein Konglomerat von vielen Stammes-Königtümern, die aus ca. 1.000 Sprachgruppen bestanden. Die beherrschenden Sprachgruppen sind die Hausas im Norden, die Jorubas im Westen und die Igbos im Osten, während andere Stammes- und Sprachgruppen unter diesen Hauptgruppen verteilt sind. Die Neugestaltung der modernen geographischen Welt, wie sie von den mächtigen europäischen Nationen und Großbritannien im Besonderen im 18. Jahrhundert vorgenommen wurde, brachte das gegenwärtige Nigeria im Jahr 1914 hervor. Im gleichen Jahr entstand die NBC.3

1

Gegenwärtig wird die Zahl der Gemeinden auf 13.000 mit 6 Millionen Mitglieder geschätzt; vgl. die website: www.nigerianbaptist.org 2 Justo L. Gonzalez, The Story of Christianity, Volume 2: The Reformation to the Present Day (New York: Harper & Row, 1999), 306. 3 Zu Einzelheiten über die Entstehung Nigerias vgl. T. M. Tamuno, The Evolution of Nigerian State: The Southern Phase, 1898–1914 (London: Longman, 1972); Michael Omolewa, Certificate History of Nigeria (Ikeja: Longman Nigeria Ltd., 1991); Michael Crowder, The Story of Nigeria (London: Faber and Faber, 1980). Vgl. auch den Überblick von Michael A. Ogunewu, „Nigeria: A

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Was wir heute eine große oder kleine Denomination nennen, begann oft geräuschlos oder ergab sich aus einer internen Krise. Die Geschichte der protestantischen Kirchen aller Schattierungen nahm inmitten einer Verfolgung ihren Ausgang. Martin Luther dachte nicht daran, eine Bewegung in Gang zu bringen, sondern wollte lediglich die Leitung der damaligen römisch-katholischen Kirche mit seinem Verständnis dessen, was die Bibel über das Heil lehrt, herausfordern: Das Heil geschieht allein durch Gnade durch den Glauben und gründet sich im wesentlichen auf das Wort Gottes und nicht auf die kirchliche Tradition. Aufgrund verschiedener Ereignisse meinten andere, dass Luthers Protest nicht weit genug ging, so dass unterschiedliche Dissenters wie die Täufer, die Puritaner und die Separatisten – sowohl in Deutschland als auch in Britannien – zum Entstehen des Baptismus beitrugen, vor allem in der Neuen Welt, wohin viele der Separatisten aufgrund heftiger Verfolgungen flohen. Der Beginn der baptistischen Bewegung in Nigeria Die NBC kam nicht als Ergebnis einer Krise zustande, sondern wegen des unmittelbaren Gehorsams gegenüber dem Missionsbefehl. Der Vorläufer war die Southern Baptist Convention in den USA, die am 10.  Mai 1845 entstand.4 Die Missionsgesellschaft, die gegründet wurde, um Missionare in andere Teile der Welt auszusenden, wurde Foreign Mission Board genannt (heute International Mission Board). Von dieser Gesellschaft wurde der erste Missionar, Thomas Jefferson Bowen, nach Nigeria ausgesandt, wo er am 5. August 1850 ankam. Er verbrachte die ersten achtzehn Monate damit, die Joruba-Sprache zu lernen und schrieb später ein Buch über die Grammatik dieser

Sovereign Nation’s Birth and Memorable History“ in: Nigeria Yesterday, Today & Beyond: Prophetic Journey of a Century, compiled & edited by Olajide Aderinto (Ibadan: Baptist Press, 2014), 3–47. 4 Für Einzelheiten zur Geschichte der Südbaptisten vgl. H. Leon McBeth, The Baptist Heritage: Four Centuries of Baptist Witness (Nashville: Broadman Press, 1987), bes. Kapitel 11.

291

Sprache.5 Im August 1853 schlossen sich zwei andere Missionare ihm an. Diese Männer kamen mit Bowen zurück, nachdem er in die USA gereist war, um zusätzliche Missionare anzufordern. Bowen war unverheiratet nach Nigeria gekommen, doch jetzt kam er mit einer Ehefrau zurück. Im Jahr 1854 ließen sich die Missionare in Ijave-Orile nieder, einer Stadt in der Nähe von Ibadan, und im Januar begann Frau Laurenna Bowen mit einer Sabbath Schule, der Vorläuferin der heutigen Sonntagsschule, und bis zum Juli 1854 war das erste Gebäude in Ijaye-Orile errichtet. Diese erste Gemeinde überlebte den Stammeskampf nicht, der 1862 die Stadt ausgeplündert zurück ließ. Die Zerstreuung der Flüchtlinge führte zur Gründung einiger anderer Gemeinden, besonders in Abeokuta, einer strategisch wichtigen Joruba Stadt. Die erste Gemeinde war in Ijaye-Abeokuta. Die baptistische Geschichte während der Missionszeit Der bedeutsame Augenblick in der baptistischen Geschichte war die Entsendung von Thomas Bowen als ersten Missionar nach Nigeria im Jahr 1850 durch die Südbaptisten in den USA. Die schmerzhafte Ironie liegt in der Tatsache beschlossen, dass der Bund der Südbaptisten deshalb entstand, weil man die Sklaverei freimütig unterstützte, und dass ausgerechnet sie Missionare zu den Verwandten der Sklaven aussandten, die sie sich noch immer hielten und die sie behandelten, als hätten sie keine „Seelen“, um das Evangelium empfangen zu können. Die Sklaven, die man zur Gemeinde mitnahm, durften sich nur im Keller des Kirchengebäudes aufhalten, in dem die Sklavenhalter Gottesdienst feierten. Während des Bürgerkrieges in den USA kam es erneut zu einem bedeutsamen Augenblick, als nämlich die Missionare ihre Posten aufgaben, um in die USA heimzukehren. Ihre Abwesenheit gab den afrikanischen Führungspersonen die Möglichkeit, ihre pastorale Kompetenz anzuwenden. Der amerikanische Bürgerkrieg verhalf der Mehrheit der Sklaven, ihre Freiheit zu erlangen, und einige von ihnen kamen über Sierra Leone 5

Thomas J. Bowen, Grammar and Dictionary of the Yoruba Language with an Introductory Description of the Country and People of Yoruba (Washington: Smithsonian Institute, 1858).

292

nach Nigeria, wo sie sich in der Missionsarbeit engagierten. Die Abwesenheit der südbaptistischen Missionare förderte das Selbstvertrauen der afrikanischen Pastoren, die sich fähig zeigten, die neuen Gemeinden geschickt zu führen.6 Als die Missionare zurückkehrten, hatte sich ein Paradigmawechsel vollzogen, weil die meisten Mitglieder der Gemeinden den einheimischen Pastoren größere Bewunderung und Respekt entgegenbrachten. Diese Situation führte den Samen der Zwietracht mit sich, so dass schließlich am 11. März 1888 ein Schisma zwischen den Missionaren und den nationalen Führungspersonen auftrat. Die missiologischen Implikationen sind 1. dass die Einheimischen am besten ausgerüstet sind, ihre Mitmenschen mit dem Evangelium zu erreichen und 2. dass der Paternalismus eine ernste Gefahr für den Fortschritt jeder missionarischen Unternehmung darstellt. Die „Einheimische Baptistengemeinde“, heute die Ebenezer Baptistengemeinde, die sich von der Gemeinde in Lagos trennte, ist immer noch sehr aktiv innerhalb der NBC. Die Spaltung half, die Zahl der Gemeinden innerhalb weniger Jahre zu vergrößern, weil die einheimischen Pastoren ihre Anstrengungen intensivierten, das Evangelium auszubreiten. Alle Gemeinden, die gegründet wurden, waren voneinander unabhängig, weil das Syndrom der sog. „Autonomie der Ortsgemeinde“ ohne einen Prozess der Kontextualisierung aus den USA übernommen und den Menschen auferlegt wurde. Die Vereinigung der Gemeinden, die von Einheimischen und die von der Mission gegründet worden waren, wurde am 11. / 12. März 1914 vollzogen, als die „Yoruba Baptist Association“ gebildet wurde. Zu dieser Zeit lagen die meisten Gemeinden im südwestlichen Teil von Nigeria, wo das Volk der Yoruba lebt. Die Statistik der teilnehmenden Gemeinden zeigt vierzehn Gemeinden mit 1.646 Gliedern aus den „einheimischen“ Gemeinden, während siebzehn Gemeinden mit 1.234 Glieder aus den „Missionsgemeinden“ kamen. Die Bildung der Vereinigung hob die Zweiteilung in „einheimische“ und „Missionsgemeinden“ auf, und die Synergie führte zu einem rapiden Wachstum der Gemeinden in Nigeria, wobei die Einheimischen aktive Rollen spielten. Wäh6

Vgl. Lamin Sanneh, West African Christianity: The Religious Impact (Mary­ knoll, Orbis Press, 1990), 174; E. A. Ayandele, The Missionary Impact on Modern Nigeria: 1842–1914 (London: Longman, 1966), 200.

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rend es eine Vereinigung gab, unterhielten die Missionare gleichwohl noch eigene von der nationalen Körperschaft abgesonderte Strukturen. Mit anderen Worten: die Leitung der eben flügge gewordenen Convention lag zumeist in den Händen der Missionare, während die Einheimischen den Gemeinden als Pastoren dienten. Diese Parallelstrukturen blieben bis in die jüngste Vergangenheit.7 Die Vereinigung entfaltete sich jedoch drei Jahre später zur NBC mit heute ca. 13.000 Gemeinden in jedem der 36 Staaten (Länder) Nigerias. Die NBC spielt eine aktive Rolle im sozio-politischen Leben Nigerias. Die fruchtbaren, ertragreichen baptistischen Missionsstationen Im April 1855 verließ Bowen Ijaye-Orile und zog nach Ogbomoso, um die Arbeit zu erweitern. Seine Absicht war es, in Ilorin zu bleiben, weil er hier das Tor zum Norden Afrikas wähnte. Das dortige islamische Kaliphat entbot ihm kein Willkommen, so dass er nach Ogbomoso zurückkehren musste, wo er herzlich aufgenommen wurde. In etwa sechs Monaten erzielte er mit seinen evangelistischen Einsätzen die Gründung der Okelerin Baptist Church im September 1855. Die Station in Ogbomoso wurde eine der ertragreichen evangelistischen Einrichtungen, zumal die Einheimischen, die zumeist Händler und Handwerker waren, in andere Städte und Dörfer der Yoruba zogen, um den baptistischen Glauben zu verbreiten. Einige zogen in den nördlichen Teil von Nigeria, wo der Islam die dominierende Religion ist und konnten gleichwohl Gemeinden unter den Stämmen gründen. Die andere Missionsstation, die Früchte hervorbrachte, war in Lagos. Andere Missionare gründeten die First Baptist Church in Lagos im Juli 1855, insbesondere durch Pastor J. M. Harden, einem Afro-Amerikaner, der von Liberia aus zur baptistischen Mission stieß. Von Lagos aus verbreitete sich die Arbeit in andere Teile des Landes, besonders auch in die östlichen Teile jenseits der Yoruba-sprechenden Gebiete.

7

Die Baptistische Mission Nigerias und die Nigerianische Baptistenkonvention hatten je eigene Verwaltungen bis die Missionsstrategie „New Direction“ in den 1990er Jahren von dem Ausschuss für Internationale Mission angenommen wurde, als die meisten Missionare abgezogen wurden oder zurücktraten.

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Die Ausbreitung der Arbeit in Nigeria und darüber hinaus Wachstum und Ausbreitung der baptistischen Arbeit war das Resultat einiger Herausforderungen. Es war zum einen der amerikanische Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865. Die Missionare mussten Nigeria verlassen, und damit fehlten die finanziellen Grundlagen. Während ihrer Abwesenheit übernahmen Afrikaner das angefangene Werk, das jedoch Wachstum und Ausbreitung erfuhr. Die amerikanischen Missionare mussten sich wegen der verheerenden Folgen des Bürgerkriegs in den Südstaaten, von wo die Hauptunterstützung für die Arbeit kam, nach dort zurückziehen. Gleichzeitig tobten interne Stammeskriege im Südwesten Nigerias, wo bereits Gemeinden entstanden waren. Es waren jedoch Afrikaner, die sich der Herausforderung stellten und die jungen Gemeinden förderten, während neue Gemeinden zusätzlich entstanden. Während der Abwesenheit der amerikanischen Missionare wurden etliche Gemeinden gegründet, besonders von den Stationen in Lagos und Ogbomoso. Ausbreitung nach Ghana Die baptistische Geschichte in Ghana hängt eng mit der NBC zusammen. Die frühen Versuche eines Ghanaers, Mark C. Hayford, der von Nigeria in seine Heimat zurückreiste, erbrachten einige Früchte, als Hayford den baptistischen Lebensstil verbreitete. Doch seine Arbeit kam mit seinem Tod 1935 an ein Ende. Heute gibt es eine Gemeinde, die nach ihm benannt ist und deren Glieder zumeist Kleinhändler der Yorubas sind. Der Hauptvorstoß der Baptisten kam aus Nigeria mit den Händlern der Yoruba aus Ogbomoso, einer alten Stadt, deren Einwohner zu 80 % Baptisten sind. Die Stadt erwies sich als fruchtbarer Boden für das baptistische Zeugnis, weil die Mehrheit der Bewohner das Evangelium annahm. Heute besteht die „Hauptindustrie“ in der Stadt aus den baptistischen Gemeinden. Die Kleinhändler von Ogbomoso nahmen ihre Bibeln und Exemplare des baptistischen Gesangbuchs auf Yoruba mit sich und begannen seit den 1920er Jahren, Gemeinden in Ghana zu gründen. Natürlich richteten sich die Gemeinden besonders an die Yoruba. Missionare der amerikanischen Südbaptisten kamen von Nigeria im Februar 1947 nach Ghana, und damals begannen Ghanaer, 295

Gemeinden beizutreten, die sie „Alata Azori“ nannten, wörtlich „Yoruba-Gemeinden“. Die baptistische Geschichte in Ghana wurde spannend als mehr und mehr Ghanaer den Herrn kennen lernten, als jedoch ein unerfreuliches Geschehen die meisten Yorubas aus Nigeria ereilte. Die ghanaische Regierung entschied sich für ein Gesetz, das Aliens Compliance Order genannt wurde und das alle illegalen Einwanderer zwang, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Das geschah gegen Ende 1969 und nahezu 80 % der Baptisten von Nigeria mussten über Nacht in ihr Land zurück. Das Resultat kann man nur als „Tod“ der meisten Yoruba Baptistengemeinden bezeichnen. Einigen jüngeren Leuten, wie dem gegenwärtigen Verfasser, fiel die Aufgabe zu, die kirchlichen Aktivitäten fortzuführen. In den 1970er Jahren kam es zu einem gewaltigen evangelistischen Aufbruch durch die Missionare, und glücklicherweise investierte man viel Geld in die Ausbildung von Studierenden an den Universitäten in Accra und Kumasi mit der Folge eines Zustroms von dynamischen jungen Männern und Frauen, die heute die Schlüsselfiguren der Ghana Baptist Convention sind. Wichtige Ereignisse der NBC Möglicherweise ist eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der NBC das Zerwürfnis, das sich in der First Baptist Church 1888 ereignete. Als die amerikanischen Missionare während des Bürgerkriegs außer Landes waren und die Einheimischen die Arbeit weiterführten, meinte vor allem Pastor Moses Ladejo Stone, der als Übersetzer der amerikanischen Missionare gedient hatte, dass sein Gehalt, was ihm von Pastor William J. David ausgezahlt wurde, zu gering sei. Es kursierte auch nationalistischer Eifer unter den Afrikanern, die meinten, sie könnten die Arbeit so gut vollbringen wie ihre amerikanischen Kollegen. Der Disput wegen des Gehalts führte zur einseitigen Kündigung von Stone durch David. Pastor David sah keinen Grund, die Mitglieder der Gemeinde zu informieren, die Ladejo Stone bewunderten, weil sie ihn für besser hielten als den amerikanischen Missionar. Als Ladejo Stone am folgenden Sonntag nicht anwesend war, konfrontierte die Gemeinde Pastor David, der indes keine befriedigende Antwort parat hatte. Die Mehrheit der Gemeinde trennte sich und gründete einen 296

Straßenzug entfernt von der früheren Gemeinde die Native Baptist Church. Diese Entwicklung war ziemlich einzigartig unter den Missionsgemeinden. Sie diente aber als ein Weckruf für andere, z. B. Anglikaner und Methodisten, die einen Paradigmawechsel vornahmen und ihren einheimischen Assistenten mit Respekt begegneten. Eine positive Folge des Schismas war die Versöhnung, die schneller eintrat als erwartet und die die abgespaltene Gruppe und die frühere Gemeinschaft in eine Arbeitsgemeinschaft zur Ausbreitung des Evangeliums führte. Diese Gemeinden wiederum gründeten neue Gemeinschaften in den Städten und Dörfern, besonders unter nicht-Yoruba Stämmen in östlichen und nördlichen Teilen Nigerias. Die Organisationsstruktur der NBC An der Spitze der NBC steht der Präsident, der für die gesamte Leitung als auch für den Haushalt die Verantwortung trägt. Er fördert und koordiniert die Dienste der NBC. Von drei Vizepräsidenten wird er unterstützt, nämlich dem für den pastoralen und kirchlichen Dienst, dem für Verwaltung und Personal und dem für das Finanzwesen und Investitionen. Es gibt dazu einen „Vorsitzenden“ der Konvention, der die Sitzungen des Exekutivausschusses leitet. Das ganze Land ist in 33 „Konferenzen“ aufgeteilt. Jede Konferenz umfasst mindestens sieben Assoziationen (Vereinigungen), die ihrerseits aus mindestens zehn Gemeinden bestehen müssen. Die Dienste der NBC umfassen Christliche Erziehung, globale Mission, Jugend- und Studentenarbeit, Publikationen, medizinische und soziale Angebote. Jede Abteilung wird von einem Direktor angeführt; alle haben Beiräte oder Aufsichtsräte, um der Rechenschaftspflicht Genüge zu tun. Das Verlagshaus Baptist Press druckt die pädagogischen und geistlichen Materialien sowie die Bücher der unterschiedlichen Abteilungen. Beiträge der NBC zur sozio-ökonomischen Entwicklung Nigerias Eine der Strategien der frühen Missionare war die Erziehung. Sie wollten Menschen unterrichten, damit diese sie in ihrer evangelistischen Arbeit unterstützen sollten. Das war der ernsthafte Wunsch des ersten Missionars. Thomas Bowen wollte wie die Anglikaner und die Methodisten einigen seiner Konvertiten die 297

beste Erziehung bieten. Auch deshalb veröffentlichte er als erster ein Yoruba-Wörterbuch, aber wegen schlechter Gesundheit und seiner Rückkehr in die USA konnte sein Traum nicht in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Ein zweiter Missionar, der die Notwendigkeit erkannte, mit der Ausbildung von einigen Eliten zu beginnen, war W. J. David, der die Beschleunigung der Ausbreitung des Evangeliums durch gebildete Afrikaner erreichen wollte.8 Zu dieser Zeit sah keiner der Missionare die Notwendigkeit ein, Afrikanern die Möglichkeit für eine Hochschulbildung in den USA zu bieten. Die Herausforderungen durch die Anglikaner und Methodisten bestanden darin, dass die amerikanischen Missionare eine Ausbildung nach der Grundschule begannen. Wie bereits erwähnt wurde die erste Sabbatschule von der Frau des ersten Missionars, Mrs. Bowen, begonnen. Durch Pastor Smith wurde in Ogbomoso eine Schule eröffnet, wo einige der ersten Konvertiten und ihre Kinder eine Schulbildung erhielten. In jeder Stadt, in der eine Gemeinde gegründet wurde, erfolgte zugleich die Gründung einer Grundschule, um die Jugendlichen zu erziehen, die an Sonntagen in den Gemeindechören sangen. Die erste Ausbildungsstätte war mehrdimensional, weil sowohl die Pastoren- als auch die Lehrerausbildung zusammengelegt waren. Die Idee dahinter war es, den Gemeindegründern die notwendige Ausbildung zu gewähren, während die in der Ausbildung Befindlichen den Pastoren helfen würden, die Konvertiten zu begleiten. Diese Lehrer arbeiteten als Musiker oder als Grundschullehrer in den von Ortsgemeinden gegründeten Schulen. Selbstverständlich unterstützten sie auch die Pastoren bei der Sonntagsschularbeit, der Männerarbeit und dem Frauendienst während der Woche. Die erste Ausbildungsstätte war die Baptist Training School, die Pastor Charles Smith 1896 mit einem Schüler – Nathaniel Oyerinda (später Professor) – ins Leben rief. Das Ziel war es, junge Männer als Lehrer und Pastoren zu schulen. Die Pastoren- und Lehrerausbildung begann am 3. Mai 1898 in Ogbomoso unter dem Namen Baptist College and Seminary. Erst 1939 wurde die Lehrerausbildung von der Pastorenausbildung getrennt und als Baptist College nach Iwo verlegt, etwa eine Autostunde von Ogbomoso entfernt. Dieses College hat viele Lehrer 8

Ayandele, The Missionary Impact on Modern Nigeria, 199.

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ausgebildet, die junge Menschen befähigten, Beamte, Bankiers, medizinisches Personal, Anwälte etc. zu werden. Einer der Missionare, Dr. E. G. McLean, gründete 1908 eine Berufsschule in einer anderen Yoruba Stadt namens Saki. Sie wurde Industrial Training School genannt und zog mit den Missionaren um, wenn diese den Ort wechselten. Schließlich wurde sie nach Iwo verlegt, wo auch die Lehrer ausgebildet wurden. Die Schule kam 1953 an ihr Ende, als einige ihrer Kurse in den Lehrplan der Lehrerbildung übernommen wurden. Jedoch hat die Schule so viele Handwerker hervorgebracht – Schreiner, Maurer, Elektriker und dergleichen –, die ihrerseits zahlreiche Lehrlinge ausgebildet haben, dass sie die Bauindustrie und infrastrukturelle Unternehmen im ganzen Land gestärkt hat. Man kann sie als Vorläufer der technischen und polytechnischen Fachhochschulen ansehen, die neben den Universitäten hervortraten. Ein weiterer wichtiger Beitrag war die Gründung weiterführender Schulen. Wie bereits angedeutet, hatten die meisten der in städtischen Zentren gegründeten Gemeinden auch Grundschulen gegründet. Die erste weiterführende Schule war die Baptist Academy in Lagos von 1886, während die Baptist Boys High School in Abeokuta 1923 entstand. Diese beiden Schulen haben etliche nationale Führungskräfte hervorgebracht wie Gouverneure von Staaten und einen Präsidenten in der Person des Häuptlings Olusegun Obasanjo. Etliche Muslime wurden in diesen Schulen ausgebildet, die sehr viel für Nigeria im Blick auf die aktive Teilnahme an der Politik und dem Management der Industrie sowie dem Rechtssystem geleistet haben. Heute gibt es unzählige Sekundarschulen, die von einigen der Baptistengemeinden gegründet wurden. In den 1970er Jahren erließ die Militärregierung ein Dekret, mit dessen Hilfe die meisten Grund- und Sekundarschulen, die im Besitz von Missionen oder Kirchen waren, gewaltsam verstaatlicht wurden. Einige weiterführende Schulen wurden von etlichen Staaten zurückgegeben, aber keine wurde von den Staaten im Norden Nigerias an die Gemeinden zurückerstattet, wo die meisten führenden Politiker Muslims sind. Infolgedessen haben die NBC und einige Kirchen damit begonnen, Grund- und weiterführende Schulen im Privatbesitz mit Regierungslizenz zu gründen. Das Ziel ist vor allem, der Erziehung eine geistliche Komponente beizugeben, was die Regierung buchstäblich verbietet aus Furcht, die 299

muslimischen Kinder zu evangelisieren oder Proselytenmacherei zu betreiben. Beiträge von namhaften nigerianischen Baptisten Es gibt viele amerikanische Missionare, die sich für die Entwicklung der NBC ausgezeichnet haben. Die Glanzlichter ihrer Beiträge sind an anderer Stelle dokumentiert.9 Die Afrikaner, die eine bedeutende Rolle spielten, sind für diesen kurzen Aufsatz zu zahlreich. Aber es ist wichtig, dass einige von ihnen aufgeführt werden sollten. Die führende Gestalt ist zweifellos Dr. Mojola Agbebi, der als erster Präsident der noch jungen Yoruba Baptist Association, die 1914 gegründet wurde, vorstand. Dass ein Nigerianer von einem Amerikaner nominiert wurde, um die Gründung der NBC zu betreiben, spricht Bände. Es gibt natürlich noch andere wie er, die unter Seinesgleichen herausragen, wie Moses Ladejo Stone, der der erste nigerianische ordinierte Pastor wurde und der die Abspaltung von der amerikanisch-geführten First Baptist Church in Lagos im Jahr 1888 anführte. Professor N. D. Oyerinde war der erste Missionsschüler, studierte in den USA und kam zurück, um an der Seite der Missionare zu dienen, die buchstäblich Versuche unternahmen, ihn zu entmutigen, dieses Wagnis einzugehen. Dr. J. T. Ayorinde war die erste einheimische Führungspersönlichkeit, die 1964 die Rolle des Generalsekretärs der NBC übernahm. Dr. Emmanuel Ajayi Dahunsi war der zweite einheimische Generalsekretär und ein angesehener Gelehrter auf dem Gebiet der neutestamentlichen Forschung. Er wirkte bei der Übersetzung des Neuen Testaments in die Yoruba-Sprache für die Nigerianische Bibelgesellschaft mit. Dr. S. T. Ola Akande zeichnete sich als Präsident und später als Generalsekretär der NBC aus. Er war auch der erste Generalsekretär der All-Afrikanischen Baptistischen Gemeinschaft, eine Position, die derzeit Dr. DurosinJesu Ayanrinola inne hat. Der Alttestamentler Dr. Samuel Ola Fadeji folgte auf Dr. S. T. Ola Akande. Dr. S. Ademola Ishola war der letzte Vorsitzende der 9 S.

Ademola Ishola, „Baptist Heritage: Contributions of Distinguished Baptists,“ in: A Century of Nigerian Baptist Convention: A Call for Celebration and Renewal, veröffentlicht von dem Nigerianischen Baptistischen Theologischen Seminar, (Ibadan: NBTS, Ogbomoso, 2014), 599–624.

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Geschäftsleitung, der den Titel eines Generalsekretärs von 2001 bis 2011 trug. Ihm folgte Dr. Samson Olasupo Ayokunle, der als erster den Titel Präsident trug. Der erste einheimische theologische Lehrer, der die Leitung des nigerianischen baptistischen theologischen Seminars seit seiner Gründung 1898 übernahm, war Professor Osadolor Imasogie im Jahr 1977. Die anderen Leiter des ältesten Seminars in Afrika sind Professor Yusufu Obaje, Professor. J. A. Ilori, Professor Deji Ayegboyin und gegenwärtig Dr. Emiola Nihinlola. Zahlreiche Nigerianer dienten dem Herrn mit Auszeichnung als Pädagogen, Mediziner, Anwälte, Politiker, Bankiers, Kaufleute, um nur einige unter vielen Bereichen zu nennen.10 Die Bowen Universität Über Jahre verfolgte die NBC den Plan, eine Universität zu gründen, wurde aber durch die Regierung bis in die frühen 2000er Jahre daran gehindert. Dann wurde das Verbot aufgehoben und private oder glaubensbasierte Institutionen konnten ihre eigenen Universitäten gründen. Der Hauptgrund dafür war die Unfähigkeit der staatlichen Universitäten und der weiterführenden Schulen, der großen Zahl von Jugendlichen, die sich nach einer höheren Bildung sehnten, genügend Plätze zur Verfügung zu stellen. Es entstand die Situation, dass über eine Million Jugendliche an die Universitäten drängten, aber nur für etwa 10 % von ihnen Studienplätze vorhanden waren. Außerdem machten immer mehr Eltern den Versuch, ihre Kinder ins Ausland zu schicken, wo jedoch die Studiengebühren außerhalb der Reichweite der meisten Eltern liegen. Als die Regierung der NBC die Genehmigung erteilte, ihre eigene Universität zu gründen, wurden die ersten Studierenden im November 2002 zugelassen. Die Universität befindet sich in der alten, überwiegend von Muslimen bewohnten Stadt Iwo im nigerianischen Staat Osun. Das Motto der Universität lautet „Exzellenz und Frömmigkeit“, und das Ziel ist die Verpflichtung, der höheren Bildung in Nigeria eine betont moralische Dimen10

Für weitere Einzelheiten vgl. Femi Okunlola, et al., eds., Analecta: Nigerian Baptist Convention @ 100: History of the Nigerian Baptist Convention (1914– 2014) [Ibadan: Publishing Board, NBC, 2014].

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sion und göttliche Werte hinzuzufügen. Die Studierenden wohnen auf dem Campus und sind verpflichtet, den Andachten in der Kapelle beizuwohnen, wo biblische Prinzipien vermittelt werden. Aktuell besuchen etwa 5.500 Studierende die Universität. Die baptistische Studierendengemeinschaft Eines der erfolgreichsten Mittel der Evangelisierung ist die Gründung der baptistischen Studierendengemeinschaft. Als Ergebnis der religiösen Erweckungen an angelsächsischen Universitäten entstanden Gruppen wie die Bibelunion in Großbritannien, die Navigatoren und Campus Kreuzzug für Christus in den USA, die von den späten 1960er Jahren bis in die 1970er Jahre ihre Missionare an die Universitäten und tertiären Bildungsinstitutionen Nigerias schickten, um ihre Jüngerschaftsschulungen für Studierende zu verbreiten. Sie überfluteten die Universitäten mit ihrer Literatur, die viele Studierende positiv beeinflussten, von denen nicht wenige aus Baptistengemeinden des ganzen Landes kamen. Einige von ihnen kehrten in ihre Heimatgemeinden mit der Absicht zurück, ihre konservativen Eltern und Familienmitglieder mit dem „Feuer der Erweckung“ zu beeinflussen. Der Versuch wurde zuerst von den Pastoren zurückgewiesen, die nie der seltsamen Art des unruhigen Christentums ausgesetzt waren, und dann natürlich auch von den Eltern und anderen, die jene Inbrunst nicht ausstehen konnten, mit denen die jungen Männer und Frauen ihren Glauben an den Tag legten. Die resultierende Wirkung war der Ausschluss einiger junger Männer und Frauen aus den Gemeinden. Andere verließen die Gemeinden und traten Kirchen bei, die ihnen Heimat boten. Der Hauptgrund, der die jungen Menschen gegen ihre Eltern und ihre kirchliche Tradition aufbegehren ließ, war die pfingstlich-charismatische Bewegung, besonders ihre Praktiken der Zur-Schau-Stellung der Geistesgaben wie Sprachen(Zungen)rede, Prophezeiungen, lang-anhaltende Gebetstreffen, Vigilien u. a. m. Dies fiel zusammen mit den tiefgängigen Lehren der Bibelunion und anderer, die durch Redner ausgeführt wurden, die keine Seminarausbildung hatten. Natürlich war diese Praxis nicht die Norm in den damals traditionellen baptistischen Gemeinden. Auch waren die Pastoren und Diakone diesen Tendenzen nicht ausgesetzt gewesen. Infolgedessen verlor die NBC 302

viele der lebhaften und viel verspechenden jungen Leute an andere Kirchen, die das Potential in ihnen erkannten. Eine der damals mutigen Missionare war Mary Frank Kirkpatrick, die sich entschied, einige Studierende dazu zu bringen, sich für die Sache zu engagieren, die dann 1965 die baptistische Studierendengemeinschaft wurde. Andere, die sie unterstützten, waren zumeist unverheiratete Damen wie Marie (Polly) Van Lear und Bettye Ann McQueen. Sie begannen, die jungen Menschen zusammenzubringen, um sie in den Gemeinden zu halten. Einige nigerianische Lehrer aus dem tertiären Bildungsbereich, die Verständnis für die jungen Leute hatten, gesellten sich dazu. Doch etlichen der damaligen Anführer der NBC war nicht wohl bei dem Gedanken, dass Frauen mit den Studierenden arbeiteten, auch wegen Exzesse einiger junger Leute. Im Jahr 1977 wurde Mary Kirkpatrick des Landes verwiesen. Dies geschah mit geheimer Zustimmung einiger Anführer, die verdeckt mit Regierungsvertretern zusammenarbeiteten, um sie der subversiven Aktivitäten zu bezichtigen.11 Diejenigen, die weitermachten, wo Kirkpatrick aufhören musste, bauten auf ihrer Vision auf, diese jungen Menschen in Fußsoldaten für Christus im Blick auf die ganze Nation zu verwandeln. Die Nachwirkungen dieser Bemühungen um die aufstrebenden Anführer sind die fruchtbaren Amtsführungen einiger der gegenwärtigen Pastoren, die im ganzen Land die pulsierenden Gemeinden pastoral begleiten. Einige dieser jungen Menschen sind jetzt Führungskräfte in verschiedenen höheren Institutionen, der Bankenindustrie, in der Politik und in anderen Bereichen. Sie tragen heute unermesslich viel zur Entwicklung der NBC und der ganzen Nation bei. Auf ihrer sechsten Jahresversammlung genehmigte die NBC am 16. März 1919 die Gründung der Frauenunion für Mission unter der Bezeichnung Baptist Women’s Missionary League.12 Die Organisation war an der Ausbildung von Kindern, jun11 Einzelheiten

bei Emiola Nihinlola, The Child has Survived: A Testimony of the Growth of the Baptist Student Fellowship in Nigeria (Ibadan: Sceptre Prints Limited, 2008). 12 Deji Isaac Ayegboyin, „Women in Missions: A Case Study of the Baptist Women’s Missionary Union in Nigeria,“ Ph.D Dissertation in the Department of Religious Studies, University of Ibadan, Nigeria, 1990, 61. Vgl. auch Aduke Akinola, ed., These Seventy Years of Baptist Women’s Missionary Union of Nigeria, 1919–1989 (Ibadan: Baptist WMU, 1989).

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gen Mädchen und verheirateten Frauen beteiligt, um sie zu verantwortlichen Gemeindegliedern zu bilden, besonders um dem Missionsbefehl nachzukommen. Vor dieser Entwicklung begann die Ausbildung von Mädchen buchstäblich mit einem jungen Mädchen, das mit Mrs. Bowen lebte, während sie in Ijaye waren. Das verwandelte sich in eine reguläre Sonntagsschule. Die erste formelle Ausbildungsschule für Mädchen wurde 1909 als Idi-Aba Baptist Girls School in Abeokuta eröffnet. Die Absolventinnen dieser Schule strebten ärztliche, diplomatische, pädagogische u. a. Berufe an. Natürlich heirateten die meisten von ihnen ausgebildete Pastoren, Lehrer, Beamte und Kaufleute, weil diese jungen Frauen für sie hohe christliche Ideale mit ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein verkörperten.13 Wegen des Erfolgs dieser Pionierschule für die Ausbildung von Kindern und Mädchen wurden etliche andere gegründet, darunter vor allem Elam Memorial Girls High School in Saki (1934), Reagan Memorial Baptist Girls High School in Yaba-Lagos (1941) und eine weitere in Agbor im Niger-Delta (1946). Natürlich gibt es zahlreiche gemischte Gymnasien, die dazu dienen, junge Menschen für ein Studium vorzubereiten, die zu Karrieren führen mit einem Wert für die ganze Nation. Die NBC bietet auch eine Plattform für Pastorinnen und Diakoninnen, die gleichberechtigt und mit gleicher Kompetenz mit Kollegen zusammenarbeiten. Das Gegenstück zu der Frauenunion für Mission ist die Männerunion, deren Aufgabe es ist, die „königlichen Botschafter“ zu beaufsichtigen, das sind die jungen Söhne bis sie verheiratet sind und sich einer Männergruppe in den verschiedenen Gemeinden anschließen. Eine weitere wichtige Evangelisierungstätigkeit für die NBC ist der medizinische Dienst. Schon als Thomas Bowen in Ijaye ankam, versuchte er, den Einwohnern der Stadt eine behelfsmäßige medizinische Versorgung zu ermöglichen. Nach der Ankunft des Arztes Dr. George Green wurde 1907 ein baptistisches medizinisches Zentrum errichtet. Die NBC hatte das Glück, die amerikanischen Missionsärzte, Krankenschwestern 13

Für Einzelheiten vgl. Oyeronke Alake Lawoyin, ed., Idi-Aba, Down Memory Lane (USA: Xulon Press, 2007); S. Ademola Ajayi, Idi-Aba Baptist Girls’School, Abeokuta: A Centenary History, 1909–2009 (Lagos: First Academic Publishers for Idi-Aba Baptist Old Students Association [IBOSA], 2009).

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und andere medizinische Fachkräfte gestellt zu bekommen, die in diesem medizinischen Zentrum viele Jahre arbeiteten bis es zur Umstrukturierung durch das International Mission Board kam, wodurch praktisch alle Missionare von ihren primären Dienststellen abgezogen und verlegt wurden. Das IMB ließ sich auf eine „neue Richtung“ ein, und die NBC erhielt 1990 die Warnung, dass nach zehn Jahren (2000) das gesamte Missionspersonal in den theologischen und medizinischen Bereichen den vom Evangelium noch unerreichten Personengruppen zugeteilt werde. Dies war natürlich das Muster der China Inland Mission oder das der damals bekannten Sudan Inland Mission (SIM). Bis spätestens 1998 traten die meisten Angehörigen des medizinischen Personals und die theologischen Lehrer entweder zurück oder wurden als „Notfall-Evangelisten“ eingesetzt, obwohl die meisten von ihnen noch immer in größeren Städten lebten. Während dieser Zeit begannen mehrere nigerianische Ärzte und Krankenschwestern sowie andere medizinische Fachkräfte die Leitung dieses Krankenhauses und anderer im ganzen Land zu übernehmen. Neben dem in Ogbomoso unterhält die NBC zwei weitere große Krankenhäuser in Saki im Staat Oyo und in Eku im Gebiet des Niger-Deltas. Diese nigerianischen Ärzte, Krankenschwestern und para-medizinischen Fachkräfte engagierten sich zunehmend in der Verwaltung und Beschaffung von Mitteln, was wegen der geringen Förderung durch die örtlichen (politischen) Gemeinden notwendig war. Dieses Personal hielt bei nur geringen Löhnen durch und erhielt monatelang überhaupt keinen Lohn. Der Grund war der Abzug von Personal und Geld durch die amerikanischen Partner. Der medizinische Dienst hat jedoch überlebt und versucht, heute wettbewerbsfähige Gehälter zu zahlen. Diese Krankenhäuser wurden Orte der Weiterbildung für das im Land an den staatlichen Medizinischen Hochschulen bzw. Fakultäten ausgebildete Personal. Das alte baptistische Medizinische Zentrum in Ogbomoso ist jetzt das Lehrkrankenhaus der Bowen Universität, wo Ärzte ausgebildet werden. Die erste Gruppe Studenten hat Ende 2015 den Abschluss gemacht. Mit den entsprechenden Finanzmitteln der Bowen University und der NBC kann das Krankenhaus bestehen und ist den Anforderungen der Nationalen Akkreditierungsagentur, der National Universities Commission, gerecht geworden. Dem Krankenhaus ist seit 1927 eine medizinische Fachschule zur 305

Ausbildung von Krankenschwestern und später auch von Hebammen angegliedert. Neben dem Hauptkrankenhaus gibt es das Leprosarium (Lepra-Zentrum in Ogbomoso seit 1930); das Kersey Heim für mutterlose Kinder in Ogbomoso seit 1926. Andere medizinische Dienste sind über das Land verteilt. Unter ihnen sind: das Krankenhaus in Iwo seit 1922, das jetzt eine medizinische Klinik der Bowen Universität ist; das Krankenhaus in Joinkrama im Niger Delta seit 1943, jetzt aber von der Regierung übernommen; das Krankenhaus in Eku seit 1947, das im Jahr 2010 von der Regierung des Bundesstaates Delta übernommen wurde; das baptistische Wohlfahrtszentrum in Iree seit 1946; das Krankenhaus in Saki seit 1952; die Zahnklinik in Enugu im Osten seit 1959; das Krankenhaus in Kontagora im Norden seit 1960, was aber von der Regierung übernommen wurde.14 Es gibt Pläne, neue Zentren zu eröffnen, sobald Gelder zur Verfügung stehen. Andere soziale Dienste Die Missionsstrategie der NBC schließt soziale Dienste nicht aus. Ein Bereich ist die Einführung der Erwachsenenbildung, die es vielen Analphabeten der örtlichen Gemeinden und der Moslems sowie der örtlichen Bevölkerung ermöglichte, Lesen und Schreiben zu lernen. Natürlich besteht das Ziel darin, den Mitgliedern zu helfen, die Bibel lesen zu können, insbesondere die indigenen Übersetzungen. Einige Menschen nutzten jedoch diese Erwachsenenbildung, um ihr Leben zu verbessern, indem sie einen Grundschulabschluss erwarben, während andere noch weiter gingen und das Abitur machten. Die NBC hat für diesen großen Beitrag zur nationalen Entwicklung mehrere Auszeichnungen von der Regierung erhalten. Es gibt auch einen Dienst für Gefangene durch die Bereitstellung von „Gefängnisgeistlichen“, die Gefangene besuchen und 14

Es gibt eine Reihe von Schulen und Medizinischen Zentren im von Muslims beherrschten Norden, die von der Regierung übernommen wurden, weil sie als Bedrohung empfunden wurden. Man weiß, dass wir diese Einrichtungen für evangelistische Zwecke brauchen. Es stimmt, dass viele Menschen durch die pädagogischen und medizinischen Dienste, die unserem missionarischen Mandat folgen, Christen geworden sind.

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entlassenen Strafgefangenen bei der Re-Integration in die Gesellschaft zur Seite stehen. Etliche Gefangene erhalten Gelegenheit, Lesen und Schreiben zu lernen, während andere beim Erlernen eines Berufes unterstützt werden. Die Hauptunterstützung erfolgt nach dem Gefängnisaufenthalt in Form von Beratung und dem Versuch, eine Verbindung mit örtlichen Gemeinden herzustellen, die dazu beitragen können, dass die Entlassenen wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden. Der Dienst an Waisen ist der Abteilung für soziale Dienste unterstellt, während die Heim-Fürsorge (Home Care) Senioren betreut, sie durch Freizeitaktivitäten unterstützt und sie mit Sozialeinrichtungen verbindet, von denen sie eine günstigere medizinische Behandlung erhalten können. Eine Einheit der Heim-Fürsorge kümmert sich um Witwen und Witwer. Für sie werden regelmäßig Programme entwickelt, bei denen einige mit Lebensmitteln und beruflicher Ausbildung unterstützt werden. In einigen Gegenden Nigerias können Familienmitglieder für einige Witwen zur Qual werden, wenn sie aus ihren Ehehäusern vertrieben werden. In diesem Fall wird eine Form von Anwaltstätigkeit angeboten, um ihre Rechte zu verteidigen und um mit Familienmitgliedern zu sprechen, damit sie die Belästigung der armen Witwen und ihrer Kinder unterlassen. Seit einigen Jahren sind durch den Aufstand der Boko Haram viele Nigerianer vertrieben und verschleppt worden, vor allem, als die Aufständischen damit begannen, Christen zur Zielscheibe ihrer Angriffe zu machen. Die christlichen Flüchtlinge werden mit Lebensmitteln versorgt, und es werden vorübergehende Unterkünfte bereitgestellt, wenn die Unterstützung durch das Rote Kreuz und ähnlicher Organisationen ausläuft. Einige Waisenkinder und vertriebene Erwachsene werden dabei unterstützt, mit ihren Verwandten im Land wieder in Kontakt zu treten. Es sollte noch angemerkt werden, dass die meisten Gemeinden an ihren Orten soziale Dienste anbieten, also gemeindenahe Diakonie betreiben. Die Finanzierung der Dienste Die Finanzierung der Missionsarbeit wurde über viele Jahre von den Missionaren durch ihr Heimatbüro getragen – die Abteilung für Außenmission (Foreign Mission Board) in Richmond, Virginia, der Südbaptisten. Während des Bürgerkriegs in den 307

USA wurde die Finanzierung gekürzt, da die südlichen Gebiete, aus denen die meisten Missionare kamen, vom Krieg zerstört wurden. Als die Missionare nach Nigeria zurückkehrten, wurde die Finanzierung jedoch zielgerichtet wieder aufgenommen, um die Kosten der Missionseinsätze zu decken. Als die Zahl der Gemeinden anwuchs, musste jede örtliche Gemeinde die Verantwortung schultern, für die Gehälter ihrer Pastoren zu sorgen. Die meisten Pastoren mussten ihren kargen Lohn zunächst durch etwas Landwirtschaft aufstocken, besonders in den Dörfern und kleinen Städten. Später gab es das „kooperative Programm“ zur Finanzierung der unterschiedlichen Dienste des Bundes. Das „kooperative Programm“ ist das Mittel, mit dessen Hilfe die Gemeinden ihre finanziellen Ressourcen bündeln, um die ihnen von Gott gegebenen Aufgaben gemeinsam zu bewältigen, was eine Gemeinde oder wenige Gemeinden allein nicht schaffen können. In Anlehnung an die „Drei-Selbst-Bewegung“15 bestand in Nigeria die Herausforderung zur „Selbstfinanzierung“ und „Selbstverwaltung“. Der Herausforderung wurde entsprochen, als während der Feier des Goldenen Jubiläums des Bundes im Jahr 1964 der erste Nigerianer in Person von Dr. J. T. Ayorinde zum Generalsekretär gewählt wurde. Dieser Schritt bildete den Beginn der Übertragung der Leitung des Bundes von den Missionaren auf die Einheimischen, obwohl die meisten Institutionen zu dieser Zeit noch von den Missionaren verwaltet wurden. Das nigerianische Baptistische Theologische Seminar war die erste Institution, die ab 1977 von einem Nigerianer geleitet wurde. Um die Arbeit des Bundes zu finanzieren, gaben die Gemeinden, was sie sich leisten konnten. Im Jahr 1924 wurde jedoch eine Resolution verabschiedet, „dass alle Gemeinden mit mehr als zwanzig Mitgliedern aufgefordert werden, an das Budget des Bundes einen Mindestbetrag von einem Pfund (1,00 £) pro Jahr zu zahlen.“16 1938 beschloss der Bund eine Umlage, wenn das Budget des Bundes auf die Basis der Vereinigungen verteilt werde; es funktionierte, weil das Budget um vier Pence über15 Gegenüber

einer zu starken Beeinflussung durch ausländische Missionare betont die Drei-Selbst-Bewegung die Verantwortung der Kirchen vor Ort zur Selbstverkündigung, Selbstverwaltung und Selbstfinanzierung. 16 Nigerian Baptist Convention, Golden Jubilee (1914–1964), Brochüre zusammengestellt von I. A. Adedoyin (1964), 7.

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zeichnet war. In diesem Jahr betrug die Umlage 350 Pfund und die Einnahmen 350:0:4 Pfund. Auf der Jahrestagung 1949 in Benin City bestand die Herausforderung für die Gemeinden, zehn Prozent ihres Jahreseinkommens bereitzustellen. Der auf die Gemeinden umgelegte Betrag wurde auf 15 % ihrer Einnahmen aus dem Zehnten und der Opfergaben erhöht und stieg bis heute auf 20 %. Man beachte, dass dies auf Beschlüsse zurückgeht, die jeweils auf verschiedenen Jahrestagungen gefasst wurden. Daraus resultiert, dass das jährliche Budget die Ausgaben für zehn theologische Einrichtungen, Subventionen für einige Krankenhäuser, die sozialen Dienste, ökumenische Ausgaben, Stipendien und natürlich die Gehälter der Angestellten des Bundes übernimmt. Das Globale Missionsbüro, das die Heimat- und Auslandsmissionseinsätze fördert, erhält 20 % der von den Gemeinden gezahlten 20 %. Allerdings muss man hinzufügen, dass etwa 25 % von den insgesamt etwa 13.000 Gemeinden aufgrund mangelnden Engagements und vor allem aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Stärke keinen regelmäßigen Beitrag leisten. Die städtischen Gemeinden sind im wesentlichen für 90 % der Gelder verantwortlich, die im Büro des Bundes eingehen und für die verschiedenen oben aufgeführten Dienste eingesetzt werden. Die internationale Sendung der Nigeria Baptist Convention Unsere baptistische Geschichte in Ghana ist eng mit der NBC verbunden, worauf wir oben hingewiesen haben. Es wurden mehrere Versuche unternommen, sich mit dem Evangelium direkt an andere Stämme zu wenden. Ausgangspunkt war der Norden Nigerias in den Bundesstaaten Kaduna und Kwara. Heute befinden sich in den meisten nigerianischen Staaten 36 Missionare und Gemeindegründer. Im Jahr 1961 eröffnete die NBC in Magburaka im Norden von Sierra Leone ihre erste Missionsstation im Ausland. Weitere kamen später in der Republik Elfenbeinküste, in der Republik Benin, in Burkina Faso, in Mali, in Tansania, in Mosambik und im Südsudan hinzu. Anstrengungen wurden unternommen, um eine missionarische Ausdehnung in das Vereinigte Königreich mit vier Gemeinden in Liverpool und London zu erreichen. Die Finanzierung der inländischen und ausländischen Missionsbemühungen kommt von den designierten 20 % der 20 % des Geldes, das von den treuen Gemeinden regel309

mäßig gegeben wird. Es gibt Einzelspender, die im Wesentlichen regelmäßig geben, während einige wenige Einzelpersonen eine Stiftung gegründet haben und wieder andere Landbesitz für die Verwendung des Globalen Missionsbüros gespendet haben. Das Missionsbüro wird von einem Direktor und einem Vorstand koordiniert, der die Leitung der Missionsgesellschaft überwacht. Die frühe Missionsstrategie konzentrierte sich auf ländliche Gebiete und Stammesgruppen am Rand; doch nach vielen Jahren waren hinreichend Ressourcen mit geringen Ergebnissen verschlungen. Dann bestand ein Teil der Strategie darin, das Missionsfeld nach zehn Jahren „abzunabeln“, doch können sich die meisten Missionsfelder nicht selbst versorgen. Ein wesentlicher Faktor für die schlechten Ergebnisse ist das raue Terrain im Blick auf die schlechte Wirtschaft, so dass junge Menschen in städtische Gebiete ziehen, wo sie vielleicht Arbeitsplätze sichern und sich weiterbilden können. Die gegenwärtige Strategie besteht darin, dem Missionsplan des Apostels Paulus zu folgen, der sich auf wichtige Großstädte konzentrierte, von wo das Evangelium in benachbarte Dörfer oder kleinere Städte ausstrahlte. Diese Strategie scheint bessere Ergebnisse zu erzielen als zuvor. Als Musterfall mag die Entscheidung für Magburaka im Norden von Sierra Leone dienen, als selbst in der Hauptstadt Freetown Anfang der 1960er Jahre kein kraftvolles baptistisches Zeugnis vorhanden war. Als der Bürgerkrieg kam, wurde die gesamte Arbeit vieler Jahre ausgelöscht, und man hat gerade eine neue Missionsarbeit mit bemerkenswertem Ergebnis in Freetown begonnen und dabei geholfen, junge Menschen auszubilden, die als aufstrebende Führungskräfte erkennbar sind. Diese Strategie wird auch in anderen ausländischen Missionsgebieten wie Mosambik, Burkina Faso, Mali usw. verwendet. Ein Paradigmenwechsel hin zu einem biblischen Muster von Mission mit der Betonung auf städtischen Zentren und dem Dienst auf dem Land als Nebenschauplatz scheint die heutige Missionsstrategie zu stärken. Die Rekrutierung und Ausbildung von Missionaren und Gemeindegründern wurde ebenfalls umstrukturiert. Die Idee, fast jeden Pastor zu rekrutieren, der an einem Seminar ausgebildet war, insbesondere auf der unteren Ebene der Ausbildung, hat sich geändert, indem man Berufungen gegenüber denjenigen ausspricht, die gut ausgebildet sind und über eine zusätzliche Qualifikation verfügen. Ausbildung in Kultur- und Sprachwissenschaften wurden in den Lehrplan auf310

genommen; das Nigerianische Baptistische Theologische Seminar bietet jetzt Abschlüsse im Fach Missiologie sowohl im Bachelor- als auch im Masterbereich. Die Absolventen bilden jetzt den Kern unserer missionarischen Stärke. Die NBC startete 2013 mit einem Kabelfernsehen namens New Frontier Cable Television, das Predigten und verschiedene christliche Programme überträgt, um Millionen Menschen auf der ganzen Welt zu erreichen. Die Programme werden auch live über das Internet gestreamt, sodass sie überall dort verfügbar sind, wo es Internet-Dienste gibt. Die Adresse lautet: www.nftv. info und http://www.fb.com/nftv1. Die Verwendung elektronischer Medien zum Zweck der Evangelisation und der Vertiefung in der Nachfolge ist notwendig geworden, um schwierige Orte zu erreichen, wo traditionelle Missionare und Gemeindegründer möglicherweise nicht zugelassen werden. Schlussbemerkungen Die Nigerianische Baptistenkonvention (Nigerian Baptist Convention) ist herangereift mit großem Potenzial, um mit Gottes Hilfe sein Reich auf Erden weiter auszubauen. Als eine der ältesten Konfessionen des Landes unterhält die NBC ökumenische Beziehungen mit anderen kirchlichen Traditionen, die zusammen die Christian Association of Nigeria (etwa: die Christliche Vereinigung von Nigeria) bilden, und ist Mitglied des Christian Council of Nigeria (Christlicher Rat von Nigeria) sowie der National Association of Protestant Churches (Nationalen Vereinigung Protestantischer Kirchen), einer angegliederten Organisation des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK). Die NBC spielt in diesen Gremien sowie in dem Baptistischen Weltbund (Baptist World Alliance) eine aktive Rolle. Als führende Baptistische Konvention in Afrika unterstützt die NBC einige der schwächeren Konventionen, indem sie Stipendien für den Aufbau von Kapazitäten gewährt und partnerschaftlich mit ihnen in der Mission zusammenarbeitet. Die Geschichte der NBC entwickelt sich immer noch weiter, da sie weiterhin entschlossen ist, mit anderen zusammen den Missionsbefehl zu erfüllen – das Evangelium auszubreiten und in allen Volksgruppen Jünger zu sammeln. Insgesamt sind die sozialen Auswirkungen der Dienste der NBC im ganzen Land und darüber hinaus spürbar. 311

Baptisten in Südafrika Louise Kretzschmar and Ngwedla Paul Msiza 1. Einleitung Das Ziel dieses Kapitels ist es, den Auf- und Ausbau der Baptisten in Südafrika in den weiteren Kontext der Geschichte des Landes zu skizzieren. Ebenfalls diskutiert werden die vielen Gruppen, die diese Denomination ausmachen, ihren Beitrag für Kirche und Gesellschaft, ihre internationalen Beziehungen mit Baptisten an anderen Orten sowie die Herausforderungen, denen sie ausgesetzt sind. 2. Historische Wurzeln 1820 markiert den Beginn der baptistischen Geschichte in Südafrika, als eine Handvoll Baptisten im östlichen Kap als Teil einer Gruppe von britischen Siedlern ankam. Nach den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sie während des langen Krieges zwischen Großbritannien und Frankreich erlebt hatten, hofften sie, ein besseres Leben für sich aufbauen zu können und ihr baptistisches Zeugnis in Südafrika auszubreiten. Zwischen 1857 und 1859 setzte die britische Regierung in diesem Gebiet eine Anzahl deutscher Soldaten ein, die für Großbritannien im Krimkrieg von 1854 gekämpft hatten, und dazu deutsche Zivilisten, von denen einige Baptisten waren. Diese Siedler wussten vor ihrer Ankunft nicht, dass sie von der britischen Regierung benutzt wurden, um einen menschlichen Puffer zwischen den bereits im östlichen Kap niedergelassenen weißen Bauern und Stadtbewohnern, und der afrikanischen Xhosa-Nation im Norden zu bilden. Es war eine Grenzregion, die durch militärische Feldzüge, gewaltsame Einfälle und Konflikte wegen Land und Viehdiebstahl auf beiden Seiten gekennzeichnet war. Im Jahre 1894 wurde das ganze Gebiet zwischen dem Fluss Kei und Natal von Großbritannien annektiert. Eine Folge davon war, dass die Xhosa Bevölkerung äußerst zögerlich war, auf die späteren evangelistischen Bemühungen der weißen Baptisten positiv zu reagieren. 312

Diese Baptisten waren keine ausgebildeten Missionare und erhielten wenig Unterstützung von Baptisten in England und Deutschland. Viele weiße Siedler hatten eine Abneigung gegen die früheren Missionare der London Missionary Society (LMS), wie Johannes van der Kemp, James Read und John Philip. Die Siedler betrachteten die Versuche der Missionare, die Rechte der schwarzen indigenen Einwohner als britische Untertanen zu sichern, als gegen ihre Interessen und ihre Sicherheit gerichtet. Die britische Baptist Missionary Society (BMS) und die LMS hatten sich darauf geeinigt, dass die BMS ihre Aufmerksamkeit auf Gebiete nördlich des Limpopo-Flusses (heute: Simbabwe, Sambia und Kongo) richtet, während die LMS im südlichen Afrika (modernes Südafrika, Lesotho, Swasiland, Botsuana und Namibia) wirken sollte. Diese Vereinbarung hatte zur Folge, dass keine Missionare der BMS in der Ostkap-Region arbeiteten und kaum Unterstützung aus Baptistengemeinden von woanders ankam. Auch waren Baptisten in Südafrika nur wenig beeinflusst von der wachsenden Beschäftigung der Baptisten und anderen Evangelikalen mit sozialen Fragen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz dazu führte die Arbeit der methodistischen Missionare, die Kirchen und Schulen gründeten, zu einer Kette von methodistischen Missionsstationen, die zwischen dem östlichen Kap und Durban gebaut wurden. Heute haben die Methodisten in Südafrika etwa 3,3 Millionen Mitglieder, während Baptisten etwa 100.000 getaufte Kirchenmitglieder zählen. Die wesentlichen Merkmale der frühen baptistischen Arbeit waren Evangelisation und Gemeindegründung in den weißen Ortschaften. Baptisten hatten Gemeinden in Salem und dann Grahamstown (1823) begonnen, aber die Arbeit der Gemeindegründung wurde von mehreren Grenzkriegen (1834 ff) unterbrochen. Später entstanden Baptistengemeinden auch in Port Elizabeth (1854), Durban (1864), Alice (1874) und Kapstadt (1876). Als Ergebnis der Arbeit deutscher Baptisten wie Carsten Langhein, Carl Hugo Gutsche und seiner Frau Maria wurden zwischen 1876 und 1892 ca. 25 Gemeinden eröffnet. Sie boten auch den Armen, Witwen und Waisen in ihren Gemeinden Hilfe an. Im Jahre 1867 wurde ein Afrikaans-sprechender Landwirt namens J. D. Odendaal von Gutsche getauft. Im Jahre 1876 gründete Odendaal die erste Afrikaans-sprechende Baptistengemeinde, die „Ebenhaezer Baptistegemeente van Cornelia“, im 313

Orange Freistaat; 1889 hatte diese Gemeinde 63 weiße und 73 schwarze Mitglieder. Im Jahre 1877 wurde die Baptist Union von Südafrika (BUSA) ins Leben gerufen. In Port Elizabeth und Kapstadt entstand eine Arbeit unter den sog. „­Coloureds“ („gemischt-rassische“ Menschen), und 1888 bildete sich die Coloured Baptist Association. Anfänglich feierten weiße und „farbige“ Baptisten gemeinsam Gottesdienste, doch später zogen weiße Mitglieder weg und bauten ihre eigenen Kirchengebäude. Im Jahre 1865 kam ein indischer Baptist namens Ingham Mausvales aus Bengal, wo William Carey als Missionar tätig war, in Südafrika an. 1860 und 1900 folgten andere, vertraglich gebundene Arbeiter und Immigranten aus Indien; viele arbeiteten in den Zucker- und Teeplantagen. Zu diesen Gruppen gehörten einige Telugu-sprechende Baptisten. Ein Laie, B. Benjamin, diente ihnen als Pastor. Im Jahr 1903 sandte die Telugu Baptist Home Mission Society (Heimatmissionsgesellschaft) Pastor John Rangiah und seine Frau zu den indischen Baptisten in Natal. Allerdings entstanden unter dieser Gruppe Gegensätze, so dass Rangiah im September 1914 von seinem Posten in der Missionsgesellschaft zurücktrat. Im Dezember 1914 bildete eine Gruppe unter Rangiah die Natal Indian Baptist Association, die später als Baptist Association of South Africa (BASA) bekannt wurde. 1915 wurde Pastor V. C. Jacob von der Gesellschaft beauftragt, die Arbeit mit den verbliebenen indischen Baptisten in Natal fortzusetzen. Sie wurden bekannt als die „Indische Baptistenmission“ (IBM), die heute „Baptistenmission in Südafrika“ (BMSA) genannt wird. Deutsche Baptisten waren die ersten, die unter dem Stamm der Xhosa Missionsarbeit betrieben. Sie bildeten 1868 einen Missionsausschuss und gründeten 1870 die Tschabo-Missionsstation. 1874 begann Carl Pape als Evangelist unter den Mfengu (Fingo) zu arbeiten, die in der Nähe von King William’s Town wohnten. Während des späten 19. Jahrhunderts wurden mehrere Baptistengemeinden unter den Xhosa gebildet. Sie gingen aus der Arbeit der American National Baptists, der Lott Carey Baptist Foreign Mission Convention und der Baptist Union von Südafrika hervor. Letztere bildete 1892 die südafrikanische BaptistenMissionsgesellschaft (SABMS). Nach der Entdeckung von Diamanten in den 1860er Jahren und Gold auf dem Witwatersrand im Jahre 1886 kamen viele 314

Einwanderer in Südafrika an. Evangelistische Arbeit unter ihnen führte zur Gründung von Baptistengemeinden außerhalb des östlichen Kaps. Die Burenkriege von 1880–1881 und 1899–1902 verursachten große Verwüstungen und führten zu Spannungen zwischen den Englisch und Afrikaans sprechenden Baptisten, nicht zuletzt als englische Soldaten die Baptistenkirche in Cornelia niederbrannten. Später wurden die Beziehungen wiederhergestellt, und der ABK (Afrikaanse Baptist Kerke) wurde 1944 gegründet und arbeitete hauptsächlich unter den Afrikaans Sprechenden. 3. Baptisten im 20. Jahrhundert Die Erklärung zur Bildung der Union von Südafrika im Jahre 1910 schloss die schwarzen Südafrikaner davon aus, gleiche politische und wirtschaftliche Rechte wie weiße Einwohner zu haben und verschärfte so den bestehenden Rassenkonflikt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Nationalistische Partei 1948 an die Macht, und ihre Politik der Apartheid erhob die langjährige Trennung zwischen den schwarzen und weißen Einwohnern zum Gesetz, diskriminierte so die schwarze Mehrheit und beutete sie aus. Während dieser Zeit wandten sich einige Baptisten gegen die Apartheid und / oder leisteten aktiv Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten des Systems. Doch viele fanden sich mit der Regierungspolitik ab. Seit den ersten demokratischen Wahlen 1994 haben einige versucht, die verschiedenen Baptistengruppen zu vereinigen; die größten sind die Baptistische Union und die Baptistische Konvention. Die Gründung der südafrikanischen Baptisten-Allianz 2001 hat den Kontakt und die Zusammenarbeit zwischen den baptistischen Kirchenleitern erleichtert. Allerdings bleiben baptistische Gruppen in Südafrika strukturell getrennt und lokale Gemeinden pflegen wenig Kontakt untereinander. 3.1 Die Gründung der Baptist Convention of South Africa (BCSA) Mehrere Gemeinden entstanden unter den Xhosa als Ergebnis der Missionsarbeit im östlichen Kapgebiet. Die Gemeinden waren nicht in einer Vereinigung organisiert, sondern blieben zersplittert als Missionsstationen oder Predigtplätze, die unabhängig 315

betrieben wurden. Die Organisation der schwarzen Baptistengemeinden kann auf die Arbeit der American National Baptists im östlichen Kap zurückgeführt werden. Einer ihrer ersten Konvertiten, William Mashologu, wurde angewiesen, Mission unter den Schwarz-Afrikanern zu betreiben und wurde einer der ersten ausgebildeten südafrikanischen schwarzen Baptistenpastoren. Er war ein Schullehrer, der die Chancen seines Lehrerberufs ausnutzte, um Gemeinden zu gründen. Es war Pastor Mashologu, der die schwarzen Baptistengemeinden im östlichen Kap herausforderte, zusammen zu kommen. Infolgedessen entstand die Bantu Baptist Church im Februar 1927. Bis dahin wurden schwarze Südafrikaner „Eingeborene“ genannt; jetzt aber wurde der Begriff „Bantus“ gebräuchlich. Wie in anderen Teilen der Welt wurde auch in Südafrika die Geschichte der Baptisten von der Politik des Landes beeinflusst. Die Baptistengemeinden wurden auf der Basis der Rassentrennung gegründet, und ihre Missionsarbeit wurde durch die Gesetze des Landes beeinflusst. Dies führte zu einer Kirche, die entlang der Rassen getrennt war. Schwarze Gemeinden in den ländlichen Gebieten und den sog. Townships (segregierte städtische Gebiete) verfügten in der Regel über wenig Mittel. Diese Gemeinden unterlagen der strengen Kontrolle der SABMS, besonders durch die Missions-Superintendenten. Weiße südafrikanische Missionare waren im Allgemeinen kritisch gegenüber der afrikanischen Kultur und den Bewegungen des politischen Widerstands unter den Schwarzen eingestellt. Der wachsende Kampf für die politische Befreiung innerhalb des Landes beeinflusste schwarze Baptistengemeinden in den frühen 1960er Jahren. Eine Gruppe von jüngeren Pastoren trat in Erscheinung, und ihr umgestaltender Dienst war besonders in zwei Bereichen zu spüren. 1. Es kam zu einer spirituellen Wiederbelebung, die auf evangelistischer Predigt basierte. Die BantuBaptisten-Kirche bewegte sich weg von einer Hervorhebung der Mitgliedschaft, der Kirchenuniformen und der Taufe zu einer Betonung des umgestaltenden Lebens. 2. Die Umgestaltung bezog sich auf das größere politische Bewusstsein. Infolgedessen wurde der Name dieser Gruppe in Baptist Convention of South Africa geändert. Auch die Baptistische Union sah sich herausgefordert, eine einzige baptistische Körperschaft in Südafrika zu bilden. Darauf reagierte die Union im Jahre 1967 tragischerweise 316

mit einer Resolution zur Gründung spezieller Vereinigungen für „nicht-weiße“ baptistische Gruppen. Die südafrikanische Baptisten-Allianz der sog. „farbigen“ Gemeinden entstand in den frühen 1960er Jahren, wurde aber 1977 aufgelöst; danach wurden diese Gemeinden Gliedkirchen der Baptistischen Union. Die Baptist Convention war eine Vereinigung (Assoziation) innerhalb der Baptistischen Union von 1967 bis 1987. Der Status einer Assoziation bedeutete zum Beispiel, dass nur zwei Delegierte aus der Konvention die vielen Tausend schwarze Baptisten auf der jährlichen Bundesversammlung der Baptist Union vertreten konnten, während jede weiße Gemeinde durch einen Delegierten oder durch zwei Delegierte vertreten war. Aufeinanderfolgende, aber fruchtlose, „Fusions“-Gespräche wurden mit den Leitern der Convention geführt. Die Vertreter der Union kämpften dafür, dass eine Kirche mit einer einzigen Verfassung, mit einem System der Ordination, mit einem Pastorenregister und einem College errichtet werden sollte. 1987 gab die Convention ihren Status als Assoziation der Baptistischen Union auf und wurde eine autonome baptistische Körperschaft. 3.2 Formale theologische Ausbildung Bis Mitte des 20. Jahrhunderts waren informelle Bildung, das Theologiestudium auf Teilzeit-Basis und das Mentoring das wichtigste Mittel der pastoralen Ausbildung. Im Jahr 1951 wurde das Baptist Theological College von der Baptistischen Union in Parktown, Johannesburg, gegründet. Es war vor allem für die weißen Studenten gedacht, die die schulischen Voraussetzungen der Sekundarstufe erfüllten. Später wurde dieses College nach Randburg, Johannesburg, verlegt. 1961 wurde das Teologiese Seminarium der Afrikaanse Baptiste Kerk für afrikaanssprachige Studierende gegründet. Im Jahr 1972 gründete die Baptistische Union ein Satelliten-College in Kapstadt für die Ausbildung von Pastoren, vor allem für die „farbigen“ Gemeinden. Ab 1974 wurden auch weiße und afrikanische Studenten zugelassen. Im Jahre 1940 war das Millard Bibel Institut in Soweto gegründet worden, um Pastoren für schwarze baptistische Gemeinden auszubilden. Dieses Institut betrieb die Ausbildung auf einem viel niedrigeren Niveau als die anderen Colleges und ließ Studierende mit nur einer Primär- oder anfänglichen 317

Sekundarschulbildung zu. Im Jahr 1950 erließ die Regierung das Group Areas Act Nr. 41, das nach Rassen getrennte Wohngebiete schuf und Schwarze gewaltsam aus Bereichen entfernte, die als „weiße“ Wohngebiete angesehen wurden. In Übereinstimmung mit diesem Gesetz verlegte die Baptistische Union dieses Bibel Institut in das Östliche Kap. Die Räumlichkeiten des Ennals Bibel Instituts in Debe Nek nahe King Williams’s Town wurden genutzt, und so entstand das Baptistische Bibel Institut (BBI). Hier wurden die Pastoren für die Baptist Convention of South Africa von 1961 bis 1987 ausgebildet, als die Baptist Convention von der Baptistischen Union unabhängig wurde. Im Jahr 1989 verkaufte die Baptistische Union das Institut an die Missionsabteilung der Südbaptisten der USA, und der Name war fortan Baptist International Theological Seminary (BITS). Als 1995 die Baptist Convention ihr eigenes theologisches College gründete, führte dies zur Schließung des BITS. Keines der Gebäude oder Vermögenswerte des BITS, mit Ausnahme der Bibliothek und ihrer Möbel, wurden auf die Baptist Convention übertragen. Nachdem 1993 eine Konferenz der BICTE (Baptist International Conference of Theological Educators) in Johannesburg stattgefunden hatte, verpflichteten sich die ABK, Baptist Convention und Baptist Union, sich zu einer „vereinten, relevanten und glaubwürdigen“ theologischen Bildung in Südafrika zu bewegen. Bis 2003 machten mehrere Anführer und theologische Erzieher aus diesen Gruppen anstrengende Versuche, die drei theologischen Hochschulen in oder in der Nähe von Johannesburg in einer föderalen Struktur zu vereinen. Ihre Bemühungen waren nicht erfolgreich, und die Gründe dafür sind umstritten. Klar ist, dass die Kongressführer eine frühere Überzeugung verfolgten, dass ein baptistischer „Körper“ gebildet werden musste und dieses Ziel nur realisiert werden konnte, wenn die baptistischen Pastoren zusammen ausgebildet würden. Innerhalb der Baptistischen Union, die erhebliche finanzielle und andere Ressourcen besaß, waren bestimmte Leiter nicht bereit, dieses gemeinsame Unternehmen zu unterstützen; auch waren sie misstrauisch gegenüber der Theologie der Konvention. Daher wurde eine wichtige Gelegenheit für eine Überbrückung der Unstimmigkeiten verpasst. Derzeit gibt es vier theologische In­ stitutionen, die von Baptisten in Südafrika geführt werden. Die Baptistische Union besitzt das Baptist Theological College in Rand318

burg, Johannesburg und das Cape Town Baptist Theological Seminary. Das Seminarium der Afrikaanse Baptiste Kerk im Kempton Park arbeitet mit dem College in Randburg zusammen, und das Baptist Convention College befindet sich in Soweto, Johannesburg. 4. Der Beitrag der Baptisten in Südafrika 4.1 Evangelisation und Gemeindeentwicklung Seit jeher haben Baptisten Evangelisation und Gemeindegründung stark betont. Das gilt für alle baptistischen Gruppen in Südafrika. Persönliche Evangelisation, Predigt und evangelistische Kampagnen führten zum Wachstum und zur Bildung neuer Gemeinden. Innerhalb dieser Gemeinden gehören zu den Schwerpunkten die Predigt, das persönliche Bibellesen, die christliche Erziehung, die sonntäglichen Gottesdienste, das Gebet, die pastorale Tätigkeit, die Betreuung der Kranken und der Mühseligen, die Bereitstellung der Gebäude sowie die Verwaltung. Alle Baptistischen Gruppen in Südafrika betonen auch die Bedeutung der Arbeit mit Jugendlichen, Frauen und Männern in den Gemeinden. Insbesondere Frauengruppen treffen sich regelmäßig, beten, sammeln Gelder für die Unterstützung von Projekten und die Betreuung von Familien in der Gemeinde und ihrem Umfeld. In den vergangenen zehn Jahren hat die Baptistische Union 150 neue Gemeinden in verschiedenen Teilen des Landes gegründet. Sie gibt die Zeitschrift Baptists Today heraus, und ihr Ausschuss für Publikationen bietet eine Reihe von Materialien für die Arbeit in den Gemeinden an. Das Seminar in Kapstadt zeichnet verantwortlich für die akademische Zeitschrift, South African Baptist Journal of Theology. In der Baptist Convention wird der Großteil der Evangelisation und der Gemeindegründung von örtlichen Gemeinden und Pastoren durchgeführt, unterstützt von der Missionsabteilung, die Einzelpersonen und Gemeinden finanzielle Unterstützung und Ausbildung bietet. Von 1998 bis 2014 wuchs diese Gruppe von 95 auf 198 Gemeinden. Das bedeutet, dass jedes Jahr etwa sechs Gemeinden „gepflanzt“ wurden. Die meisten Gemeinden wurden in den schwarzen Vierteln (townships) und Dörfern gegründet, und nur wenige befinden sich in den Vor­orten, wo zuvor nur 319

Weiße wohnen durften. Gegenwärtig gehören 23.000 getaufte Mitglieder und 198 Gemeinden zur Convention. Heute hat die Baptistische Union 50.000 getaufte Mitglieder in 650 Gemeinden. Zwischen 1889 und 2014 wuchs die ABK von 136 Mitgliedern (und einer Gemeinde) auf 1.700 Mitglieder in 31 Gemeinden. Die Baptist Association of South Africa (BASA) hat derzeit 3.500 Mitglieder in 26 Gemeinden, überwiegend in der Region Kwa-Zulu Natal. Die Baptist Mission of South Africa (BMSA) umfasst jetzt 2.500 Mitglieder in13 Gemeinden, ebenfalls in der Region Kwa-Zulu Natal. 4.2 Mission und soziale Fragen Im Jahr 1955 öffnete das „Jubilee“ Missionskrankenhaus seine Pforten in dem von Armut heimgesuchten Hammanskraals, das etwa 40 km nördlich von Pretoria liegt und später von vielen Tausend Schwarzen bewohnt wurde. Dieses Krankenhaus wurde gegründet und über viele Jahre von Gemeinden und medizinischem Personal aus der Baptistischen Union finanziert und unterstützt. Schwarze und weiße Baptisten unterstützten auch die Arbeit der Evangelisation und Fürsorge von Familien, die zur Behandlung in das Krankenhaus kamen. Nach 1994 wurde es schrittweise von der Regierung der Nordwestregion übernommen. Innerhalb der Baptist Union ist Mission weitgehend als Evangelisation und Gemeindegründung verstanden worden. Viele Gemeinden der Union könnten als moderate oder konservative Evangelikale beschrieben werden, dazu eine kleine, aber aktive Gruppe reformierter Baptisten, die die Verbindung zwischen Baptisten und calvinistischer Theologie betonen. Heute arbeiten Missionare der Union in Marokko, Kenia und Mosambik. Man fördert sowohl kurzzeitige als auch langfristige Missionsarbeit und unterhält Partnerschaften mit Baptistengemeinden in zehn afrikanischen Ländern. Auch die ABK betreibt Missionsarbeit, aber in geringerem Maße als die größere Baptistische Union. Missionsarbeit außerhalb Südafrikas wurde in sehr kleinem Maßstab durch die Baptist Convention durchgeführt. In Partnerschaft mit der European Baptist Mission International konnte sie zwischen 2002 und 2009 kurzzeitige Missionare nach Europa senden. Durch diese Mission wurde in Wien eine Gemeinde 320

gegründet (Baptistengemeinde in der Krummgasse). Einige Gemeinden und Pastoren betreiben Missionsarbeit in Ländern wie England, Uganda, Sambia, Simbabwe, Lesotho und Swasiland. Sowohl die  BASA als auch die BMSA haben sich in der Missionsarbeit in Indien und den benachbarten Ländern Mosambik und Swasiland engagiert. BMSA ist eine Partnerschaft mit 15 Gemeinden in diesen Ländern eingegangen. In Kwa-Zulu Natal wird die evangelistische Arbeit fortgeführt; außerdem erreicht man mit dem Kinderprogramm jedes Jahr 5.000 Kinder. Man arbeitet mit lokalen Schulen und politischen Gemeinden zusammen, um das Bildungsniveau zu verbessern. Überdies bietet man medizinische Versorgung, Hilfe für Senioren sowie HIVscreening und Beratung an. Auch die BASA engagiert sich in der Evangelisation und vielfältiger Sozialarbeit in der Kwa-Zulu Natal Region sowie Armenspeisung. Im Laufe der Jahre gab es innerhalb der Baptist Union etliche, die sich gegen eine Vielzahl von sozialen Ungerechtigkeiten ausgesprochen haben und die z. B. in Gemeinwesen gearbeitet haben, die unter Armut und Drogenmissbrauch leiden. Dennoch hat die konservative evangelikale Einstellung vieler Mitglieder diese Gemeinden weniger stark auf soziale Fragen reagieren lassen. Jedoch hat das Christliche Bürgerschafts-Netzwerk das Engagement für aktuelle städtische und politische Fragen wachgehalten. Viele führende Personen in der Baptist Convention stützten sich auf ihre eigene Erfahrung der Unterdrückung und auf die radikaleren Elemente ihres theologischen baptistischen Erbes. Dazu gehören Elemente aus der täuferischen Tradition des 16. Jahrhunderts, aus der radikalen englisch-baptistischen Bewegung des 17. Jahrhunderts und aus der gesellschaftskritischen Tradition von Baptisten im England des 19. Jahrhunderts. Sie stützten sich auch auf kontextuelle Theologien des 20. Jahrhunderts. Infolgedessen ist die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit und sozialen Engagements ein integraler Bestandteil der Missionsarbeit der Baptist Convention geworden. Drei Bereiche wurden hervorgehoben: Bildung, ökonomische Ermächtigung (empowerment) und soziale Fürsorge. Infolgedessen bieten eine Reihe von Gemeinden und Einzelpersonen eine Tagesbetreuung für Kinder an, und einige dieser Zentren sind wichtige Mittelpunkte des Gemeinwesens geworden. Im Jahr 1997 übernahm die Convention ein Ausbildungszentrum für Facharbeiter in Thusong (in der Nähe von 321

Soweto) von den Südbaptisten der USA. Angeboten werden Programme für EDV-Kenntnisse, Nähen, Backen, Gastronomie und Kfz.-Technik. Die Baptist Convention unterhält einen Dienstbereich zur Bewältigung der HIV / AIDS-Epidemie. Es werden Informationen zur Verhütung und weiteren Ausbreitung der Virus-Erkrankung angeboten. Außerdem werden Projekte unterstützt, die für Waisenkinder und unheilbar Erkrankte Hilfen anbieten. In einigen Gebieten des Landes war die Baptist Convention die erste Kirche, die einen solchen Dienstbereich ins Leben rief und die dann andere Kirchen unterstützte, ihre eigenen Dienste zu entwickeln. 4.3 Beteiligung in örtlichen ökumenischen Gruppen und in der weltweiten baptistischen Gemeinschaft Leider haben viele lokale Baptistengemeinden kein starkes Bewusstsein für regionale und überregionale Zusammenarbeit, noch weniger für eine ökumenische Zusammenarbeit. Sie neigen eher dazu, sich auf ihre eigenen Aktivitäten vor Ort zu konzentrieren. Dies trifft jedoch weniger für ihre konfessionellen Leiter zu. Sowohl die Baptist Union als auch die Convention sind Mitglieder der Evangelischen Allianz von Südafrika (TEASA). Zwischen 2001 und 2007 waren die Convention und die Union aktive Mitglieder des Interreligiösen Forums der Leiter. Nur die Convention ist Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen in Südafrika. Die Baptist Association of South Africa, die Baptist Mission of South Africa, die Baptist Union und die Baptist Convention sind Mitglieder des Baptistischen Weltbundes. Die Union und die Convention sind aktiv in der All-Afrikanischen Baptistischen Gemeinschaft (All African Baptist Fellowship). 5. Herausforderungen für Baptisten im heutigen Südafrika 5.1 Einheit über die Rassenschranken hinweg Wie aus obigen Darlegungen ersichtlich, bedarf es großer Anstrengungen, um die Einheit unter den Baptisten in Südafrika zu fördern. Südafrikanische Baptisten arbeiten bei bestimmten Projekten zusammen, wie z. B. bei der Vorbereitung des Kongresses des Baptistischen Weltbundes, der im Juli 2015 in Dur322

ban stattfand. Aber weitere Anstrengungen sind erforderlich, um Unwissenheit, Misstrauen und Verletzungen auf der lokalen, regionalen und nationalen Ebene innerhalb der verschiedenen baptistischen Gruppierungen entgegenzuwirken. 5.2 Wachstum Obwohl Baptisten seit fast 200 Jahren in Südafrika sind, bleiben die baptistischen Gemeinden relativ klein. Um sowohl an Zahl als auch an Reife zu wachsen, müssen die Wunden der Vergangenheit geheilt, die Pastoren zusammen ausgebildet und den jungen Menschen eine überzeugende Vision des Evangeliums von Jesus Christus geboten werden. Damit diese Ziele erreicht werden können, müssen Führungsverantwortung und Jüngerschaft neu beachtet werden. Jüngerschaft, ein ganzheitliches Verständnis des Evangeliums und ein engagierter christlicher Dienst seitens aller Mitglieder baptistischer Gemeinden müssen mit der Identifizierung, Entwicklung und Unterstützung der engagierten und glaubwürdigen Leiter kombiniert werden. Eine ernsthafte Herausforderung für viele Kirchen in Südafrika ist die Verbreitung des „Wohlstands“-Evangeliums, das von den USA kommt. Der falsche Fokus auf „Gesundheit und Reichtum“ ist vor allem für jüngere Pastoren verlockend und führt zur Bildung unabhängiger Gemeinden. Darüber hinaus zieht eine neue Welle des „heilenden und prophetischen“ Dienstes mit Ursprung in Nigeria Mitglieder aus etablierten Baptistengemeinden ab. Diese Gemeinden untergraben die Konzentration auf Mission bei den Mitgliedern der Kirchen, denn der „Dienst“ ist stattdessen auf die Arbeit des so genannten Propheten oder Heilers ausgerichtet. Solche Kirchen betonen den Wohlstand des Einzelnen anstelle der Jüngerschaft und des Dienstes aller Gläubigen und ignorieren oft die vielen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen das Land steht. 5.3 Die Rolle der Frauen und die Ordination von Frauen Wie in anderen Kirchen sind auch in baptistischen Gemeinden die Frauengruppen sehr aktiv. Frauen engagieren sich in einer Vielzahl von Diensten, auch durch die baptistischen Frauen-­ Vereine oder Frauen-Abteilungen. 323

Verschiedene Ansätze wurden im Zusammenhang mit der Ordination von Frauen übernommen. Statt offiziell Stellung zu diesem Thema zu beziehen hat die Baptist Union den Ortsgemeinden die Entscheidung überlassen, ob sie Frauen ordinieren oder nicht. Diese Haltung wird durch die konservative Theologie vieler Mitglieder beeinflusst. Innerhalb der Baptist Convention ermutigen viele Gemeinden Frauen dazu, am Sonntag zu predigen, in Zellgruppen zu lehren, aktiv in den verschiedenen Diensten der Gemeinde mitzuarbeiten und eine führende Rolle in der Gemeindeleitung zu spielen. Frauen werden auch zur theologischen Hochschule zugelassen. Im Jahr 1997 wurde die Resolution zur Ordination der Frau angenommen, und heute gibt es 31 Frauen von 190 Pastorinnen und Pastoren auf der Liste der Baptist Convention. Derzeit sind 14 Frauen als Hauptpastorinnen tätig, 17 sind assoziierte Pastorinnen und einige Pastorinnen haben sich entschlossen, zusammen mit ihren ordinierten Ehemännern zu dienen. 5.4 Aktuelle soziale Probleme Nach der Apartheid 1994 sieht sich Südafrika mit vielen soziopolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Dazu gehören Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, besonders unter jungen Menschen, Armut, mangelnde Sozialpolitik seitens der Regierung, Korruption, Kriminalität, Zerbrechen der Familien, eine hohe Verbreitung von HIV / AIDS und vieles mehr. Baptisten und andere Kirchen haben eine wichtige Rolle auf lokaler und nationaler Ebene, das „Gewissen des Landes“ zu spielen. Zeitgenössische Baptisten müssen jedoch aus der Vergangenheit lernen und die Extreme vermeiden, sich gänzlich dem sozialen Engagement zu entziehen oder von starken gesellschaftlichen Gruppen vereinnahmt zu werden. Um ihrem baptistischen Zeugnis gegenüber treu zu sein, müssen sie vom Staat institutionell getrennt bleiben, aber sowohl mit dem Staat als auch der Zivilgesellschaft aktiv auf der Basis ihrer theologisch-ethischen Überzeugungen engagiert arbeiten. Baptistische Gemeinden müssen der Herausforderung durch ein prophetisches Zeugnis gegenüber dem Staat gerecht werden und in einer Reihe von Projekten für das Gemeinwesen tätig sein. 324

Wir glauben, dass dieses Kapitel eine Gelegenheit für Baptisten in Südafrika bietet, Gott zu danken für das, was erreicht wurde und sich weiterhin an einer Selbstprüfung zu beteiligen. Wir müssen unsere vielen Versäumnisse bereuen, um Gott die Ehre zu geben, um vereint zu sein und um unsere Nächsten zu lieben. Wir können auch die Tatsache feiern, dass Baptisten über viele Jahre ihren Gemeinden und dem Gemeinwesen treu gedient haben. Wir hoffen, dass dieses Kapitel unsere örtlichen und internationalen Leser inspirieren, informieren und sie zugleich ermutigen wird, für das baptistische Zeugnis in Südafrika und anderen Ländern zu beten und sich dafür zu engagieren. Wir sind unseren baptistischen Kollegen der ABK, BASA, BCSA, BMSA und BUSA zu großem Dank für die Informationen verpflichtet, die wir von ihnen erhalten haben. Auswahlbibliographie: Hoffmeister, D., Gurney, Brian J. (eds.), The Barkly West National Awareness Workshop, Johannesburg 1990 (Awareness Campaign Committee of the Baptist Convention of South Africa). Hudson-Reed, S. (ed.), Together for a Century: The History of the Baptist Union, 1877–1977, Pietermaritzburg 1977 (SA Baptist Historical Society). Ders. (ed.), By Taking Heed: The History of the Baptists in Southern Africa 1820–1977, Roodepoort 1983 (Baptist Publishing House). Kretzschmar, L., Privatization of the Christian Faith: Mission, Social Ethics and the South African Baptists, Accra, Ghana 1998 (Legon Press & Asempa Publishers). – Journeying with God. The History of the Baptist Convention of South Africa, Johannesburg 2007 (Baptist Convention). – Msiza, P. and Nthane, J. (eds.), Being a Baptist in South Africa Today, Johannesburg (Baptist Convention of South Africa). – (ed.), Southern African Baptist Educators’ Conference 2003, Johannesburg 2003 (Baptist Convention College). Mogashoa, M. H., „The Millard Training Institute: The Black Perspective“, in: South African Baptist Journal of Theology 12, 2003, 134–147. Nicolson, G., God brought me here: The Story of Jubilee Mission Hospital 1955–2005, Doornpoort 2005 (Friends of Jubilee Hospital). Ntombana, L., Perry, A., „Exploring the critical moments when the Baptist denomination divided: Does revisiting these moments give hope to re­conciliation between the ‚Union‘ and ‚Convention‘?“, HTS Teologiese Studies / Theological Studies 68 (1), 2012 #Art. 1029, http://dx.doi. org/10.4102/hts. v68i1.1029.

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EUROPA

Die Europäische Baptistische Föderation (EBF) Ian Randall Die Europäische Baptistische Föderation (EBF) umfasst über fünfzig Mitgliedskirchen in Europa und dem Nahen Osten sowie eine kleine Zahl von Einzelgemeinden. Die EBF wurde 1950 mit folgenden Zielen gegründet: 1. Die Gemeinschaft der Baptisten in Europa zu fördern; 2. Die Evangelisation in Europa anzuregen und zu koordinieren; 3. Einen Konsultativrat für die Planung missionarischer Arbeit in Europa zu bestimmen; 4. Die Außenmission europäischer Baptisten, die kein eigenes Missionsfeld haben, anzuregen und zu koordinieren, wenn gewünscht. 5. Die baptistischen Hilfsmaßnahmen zu unterstützen, die in Europa gebraucht werden.

Die Wurzeln baptistischer Zusammenarbeit in Europa gehen zurück auf das 19. Jahrhundert. Die Entwicklung des Baptismus auf dem europäischen Kontinent begann im frühen 19. Jahrhundert aus ganz kleinen Anfängen, z. B. in Frankreich. Ein äußerst wichtiger Schritt nach vorn geschah, als Johann Gerhard Oncken (1800–1884) von dem baptistischen Professor Barnas Sears am 22. April 1834 bei Hamburg in der Elbe getauft wurde und dadurch baptistische Glaubensüberzeugungen und eine baptistische Gestalt des Gemeindelebens eingeführt wurden. Die Hamburger Gemeinde unter Oncken entwickelte sich zu einer vitalen Keimzelle, obwohl sie verfolgt wurde, und nahm Kontakte zu Kaufleuten und Handwerksburschen aus ganz Europa auf, die in der Hansestadt arbeiteten. Und so entstand ein ganzes Netzwerk deutschsprachiger Gemeinden in den folgenden Jahren in etlichen europäischen Ländern. Im Jahre 1849 trafen sich 56 Repräsentanten in Hamburg und gründeten den Bund der Gemeinden getaufter Christen in Deutschland und Dänemark. Oncken begründete diesen 326

Schritt theologisch und missiologisch. Er führte aus: „Jede apostolische Christengemeinde muss eine Missionsgesellschaft sein […] aber die Missionsarbeit muss befördert werden dadurch, dass Gemeinden sich zusammenschließen.“ Viele Gemeinden, die dazu beitrugen, nationale Bünde zu schaffen, erwuchsen aus der Arbeit Onckens und seiner Kollegen. Ein Beispiel eines strategischen Zentrums war die große Gemeinde in Memel, heute Klaipeda in Litauen. Oncken und seine Missionare bildeten viele führende Baptisten wie z. B. Gottfried F. Alf in Polen aus und legten großen Wert auf Gemeindegründungen. Oncken taufte nach dem großen Brand in Hamburg etliche Zimmerleute, die sich bekehrt hatten und die nach getaner Arbeit in deutschsprachige Gemeinschaften in verschiedene Länder Europas zurückkehrten. Dadurch entstand ein Netzwerk von Baptisten in ganz Europa, die Gemeinden gründeten und die in ihrem Zeugnis verbunden blieben. Während der frühen Entwicklung der kontinental-europäischen baptistischen Gemeinden legte man großen Wert auf eine gegenseitige Abhängigkeit und auf koinonia (Gemeinschaft) nicht nur in der Praxis, sondern auch in Glaubensbekenntnissen wie z. B. dem von Johann Kargel von 1913. Er war am baptistischen Seminar in Hamburg ausgebildet worden und wurde eine führende und sehr einflussreiche Persönlichkeit im russischen Baptismus. Sein Glaubensbekenntnis war noch bis in die 1980er Jahre bei russischen Baptisten im Gebrauch. In dem Artikel über die Gemeinde wird als wichtiges Element die Einheit zwischen den Gemeinden betont. Das war noch Jahrzehnte später bei Gründung der EBF ein Leitgedanke. In Kargels Glaubensbekenntnis heißt es: Die universale Kirche Christi ist gebaut auf dem Grund der Apostel und Propheten, und Jesus Christus selbst ist der Eckstein. Sie besteht aus denen, die gerettet sind, die glauben, die zu Heiligen berufen und die in dieser Welt sind sowie, die schon gegangen sind, um beim Herrn zu sein. Sie bilden einen Leib, dessen Haupt Christus ist. Und obgleich die Glieder dieser Kirche aus verschiedenen Nationen und unterschiedlichen Situationen sind und verschiedene Gaben haben, sind sie in Christus alle eins und untereinander Glieder. Die einzelnen lokalen Gemeinden sind Teil der einen universalen Kirche; sie sind vom Herrn in unterschiedlichen Ländern, Städten und Orten erbaut, um die geretteten Kinder Gottes auf Erden zu ver-

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einen, um Gott vereint zu preisen, um die Glieder in der Erkenntnis Gottes und Christi wachsen zu lassen, um sie in ihrem Glaubens­ leben nach dem Bild Christi aufzuerbauen, um sie an all diesem teilhaben zu lassen und um das Reich Gottes auf Erden auszubreiten.

Obwohl die deutschen und später die russischen Baptisten das deutlichste Beispiel für Gemeinschaft über nationale Grenzen hinweg abgeben, wurde diese Erfahrung auch in anderen Teilen Europas gemacht. Bis zu den 1930er Jahren hatten sich ähnliche Verbindungen ergeben wie z. B. die ‚lateinische‘ Gruppe aus Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal und Italien, die sich gemeinsam traf und zusätzlich Delegierte aus der angelsächsischen Welt eingliederte. Die Weltfamilie der Baptisten trat jedoch schon lange vor der EBF in Erscheinung, weil bereits 1905 der Baptistische Weltbund (Baptist World Alliance = BWA) in London gegründet wurde. Auf deren Gründungsversammlung erinnerte Joseph Lehmann, der Lehrer am baptistischen Predigerseminar in Hamburg, die Versammlung daran, wie schwierig es sei, sich vorzustellen, wie die Dinge auf dem Kontinent vor siebzig oder achtzig Jahren waren, als der „große Pionier“ der kontinentaleuropäischen baptistischen Bewegung, Johann Gerhard Oncken, zu den biblischen Einsichten über die Taufe und die Gemeinde Christi gelangte, weil er schlicht das Neue Testament las. Lehmanns Schilderung der Aufwärtsentwicklung in Europa wurde mit Applaus bedacht. Er vermittelte dem internationalen Publikum einen Eindruck von dem Wachstum baptistischen Lebens in Deutschland und ganz Europa. Andere Redner waren Baron Woldemar von Üxküll aus Estland und D. J. Masajew, die beide im Namen der russischen Gemeinden sprachen und von neuen Freiheiten in Russland zu berichten wussten, aber auch von vielen Mitgliedern, die Schlimmes erlitten hatten. Das löste ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Solidarität aus. Zwei aufstrebende britische Pastoren, Newton Marshall und James Henry Rushbrooke, trugen viel zu einer Nachfolgekonferenz für europäische Baptisten bei, die 1908 in Berlin durchgeführt wurde. Sowohl Marshall als auch Rushbrooke hatten dem einflussreichen britischen Baptisten John Clifford (1836–1923) viel zu verdanken, und beide hatten sich zu Studien in Deutschland aufgehalten. Auch der Generalsekretär der britischen Baptisten328

Union, John Howard ­Shakespeare (1857–1928) leistete einen Beitrag zur Durchführung des ersten europäischen Kongresses mit 1.800 Delegierten. Nach den schrecklichen Verwüstungen des Ersten Weltkrieges beauftragte der Weltbund J. H. Rushbrooke und den New Yorker Baptisten Charles Alvin Brooks, sich einen Überblick über das religiöse, speziell das baptistische Leben im Nachkriegs-Europa zu verschaffen und darüber zu berichten. Die zermürbende Reise dauerte neun Wochen und trug sie nach Deutschland, Polen, die baltischen Staaten, Schweden, Tschechoslowakei, Ukraine, Österreich, Ungarn, Rumänien, die Balkanstaaten, Italien, Schweiz und Frankreich. Um ihre Berichte zu hören, trafen sich vom 19. bis 23. Juli 1920 zweiundsiebzig Delegierte aus Britannien, den USA, Kanada, Australien und aus achtzehn europäischen Ländern in London. Man war entschlossen, den vielen verwüsteten Teilen Europas Hilfsmaßnahmen zukommen zu lassen. Eine Vielzahl von Anliegen und Aktionen wurde besprochen und veranlasst. Der Vorschlag von Brooks und J. W. Ewing, der das Denken der amerikanischen und britischen Baptisten widerspiegelte, Rushbrooke zum Bevollmächtigten des Weltbundes für Europa zu benennen, wurde mit Begeisterung und einstimmig angenommen. Mit besonderem Augenmerk auf Europa einigte man sich auch auf eine Erklärung zur Religionsfreiheit: „Religionsfreiheit stellt jeden Menschen auf genau dieselbe Grundlage vor Gott und in Beziehung zu menschlichen Regierungen. Daher appellieren wir an alle Regierungen der Welt, diesem unschätzbaren Menschenrecht unverzüglich Gesetzeskraft zu verleihen.“ Es gab Anzeichen für eine wachsende Zusammenarbeit der Baptisten in Europa. Die noch größeren Verwüstungen während des Zweiten Weltkriegs verstärkte unter Baptisten den Wunsch, Mittel und Wege zu finden, um noch wirkungsvoller zusammenzuarbeiten. Die Hoffnung der Gemeinden und Bünde, eine gesamteuropäische Organisation mit einer europäischen Identität und einer Vision für die Missionsarbeit zu haben, stand im Mittelpunkt einer vom 13. bis 17. August 1948 in London durchgeführten Konferenz, die vom Weltbund organisiert war. Auf dieser Tagung wurde eine Unterkommission ernannt, die sich der Frage einer engeren Zusammenarbeit widmen sollte und folgende Empfehlung abgab: 329

Dass die Baptisten in Europa ermutigt werden, Planungen zu einer engeren Zusammenarbeit der nationalen baptistischen Bünde auszuarbeiten und dass die europäischen Mitglieder des Exekutivkomitees des Weltbundes einen Planungsausschuss bilden, um ein Europäisches Baptistisches Komitee zur Zusammenarbeit zu bilden, damit die baptistische Arbeit in Europa befördert werde.

Diese Unterkommission, die als ‚Kommission der Sieben‘ bekannt wurde, schlug den europäischen Bünden mehr als nur die Schaffung eines ‚Komitees der Zusammenarbeit‘ vor. Die Kommission der Sieben, die später durch eine Gruppe abgelöst wurde, die eine Verfassung und Geschäftsordnung entwarf, empfahl vielmehr, ein europäisches Gremium zu schaffen, das offensichtliche Anklänge an die Theologie und Strukturen der nationalen Bünde hatte. Die EBF erklärt in ihren Statuten, dass nur Bünde, Konventionen oder ähnliche baptistische Organisationen Mitglieder sein können. Hier kommt das starke ekklesiale Denken deutlich zum Ausdruck. Die Kommission der Sieben aus Britannien, Dänemark, Deutschland, Italien, Frankreich, der Schweiz und Holland repräsentierte wichtige Strömungen im baptistischen Europa: englische General und Particular (calvinistische) Baptists, Gemeinden aus ganz Europa, die sich auf die Arbeit Onckens zurückführten und solche, die dem Erbe des Täufertums großen Wert beilegten wie die Schweizer und Holländer. Die Kommission repräsentierte daher das gemischte Erbe des europäischen Baptismus vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Auf der ersten Zusammenkunft am 8. Oktober 1949 in der Schweiz wich man von dem Vorschlag des Weltbundes zur Bildung eines Komitees der Zusammenarbeit ab und schlug stattdessen als Namen für die neue Organisation vor „Europäische Baptistische Föderation“. Hier kommt deutlich der Wunsch zum Ausdruck, mit der lokalen Gemeinde der Glaubenden zu beginnen und dann weiter in eine Beziehung zu anderen Gemeinschaften zu treten. Realistisch betrachtet musste die erste Initiative vom Weltbund ausgehen, aber es wurde von den Europäern als theologisch nicht korrekt oder angemessen betrachtet, wenn diese neue Organisation nichts anderes wäre als eine regionale Unterabteilung des Weltbundes. Es ist bedeutsam, dass die ursprüngliche Kommission der Sieben drei ihrer Mitglieder bat, die abschließenden Feinheiten der 330

ersten Verfassung der EBF zu erarbeiten, unter ihnen Henry Cook aus Britannien, der sich besonders mit der baptistischen Ekklesiologie beschäftigt hatte. Die beiden anderen waren Bredahl Petersen aus Dänemark und W. O. Lewis vom Stab des Weltbundes. Sie trafen sich am 23. Februar 1950 in Kopenhagen, um den Start der EBF zu planen. Cook erwähnte die Stärke des Prinzips der Interdependenz (und nicht der Independenz), wie es in den Glaubensbekenntnissen der frühen Baptisten erläutert wurde, und er bemerkte, dass sowohl die General als auch die Particular Baptists ihre Gemeinden absichtlich verzahnt hatten, damit sie sich in der Lehre gegenseitig aufrichteten und sich vereint vor der Welt zeigten, damit sie in Zeiten der Not gegenseitig zu Hilfe kommen würden und vor allem, damit sie ihre Ansichten verbreiten sollten. Weiter argumentierte Cook: Die Beobachtung ist interessant, dass dieser Sinn für die Einheit, der ein so auffallendes Merkmal der frühen baptistischen Gemeinden in England war, noch ausgeprägter in den täuferischen Gemeinschaften auf dem Kontinent betont wurde. Sie waren nie und wollten auch nie Independente sein; im Gegenteil: wenn sie die Freiheit hatten und einmal nicht unter Verfolgung standen, schufen sie eine Organisation; nach dem Beispiel der Waldenser oder der Böhmischen Brüder versäumten sie es nie, ein System der allgemeinen Leitung zu installieren, mit Wanderpredigern und einer klar definierten Interdependenz der Ortsgemeinden.

Um ja keinen Zweifel aufkommen zu lassen (und um diese Überzeugung mit in die Sitzung des Komitees zu nehmen, das die EBF schuf ), machte Cook folgendes geltend: Es läuft alles darauf hinaus, dass Baptisten zu Beginn Kongregationalisten und keine Independenten waren; das meint, sie glaubten an die versammelte Gemeinde […]. Sie widerstanden jedem Isolationismus, und sie betrachteten die Ortsgemeinden als in einer lebendigen Beziehung zueinander stehend mit dem gemeinsamen Ziel [der Verbreitung] des Evangeliums.

Cook, Petersen und Lewis trafen sich am 21. Oktober 1950 in der Baptistengemeinde auf der Rue de Lille Nr. 48 im Zentrum von Paris mit Repräsentanten aus zehn westeuropäischen Ländern, um die Gründung der EBF zu begehen. Aus Spanien, 331

Portugal und Finnland war der starke Wunsch zum Ausdruck gebracht worden, dabei sein zu können, aber es mangelte an Mitteln, um die Reisekosten zu begleichen. In einem Brief von Ende September 1950 schrieb Lewis an den Generalsekretär der britischen Baptisten: Ich hoffe, dass die EBF, die bald gegründet wird, einen Beitrag zur Einigung der baptistischen Arbeit in Spanien und ganz Europa beitragen kann. Die erste Zusammenkunft des Rates der Föderation wird vom 19.–22. Oktober in Paris stattfinden. Es versteht sich von selbst, dass sich diese Föderation, wenn sie einmal vollständig organisiert ist, aus Repräsentanten baptistischer Gemeinden aus ganz Europa bestehen wird.

Petersen wurde zum Präsidenten und Cook zum Vizepräsidenten der EBF gewählt. Der Zweck der EBF wurde eingangs aufgelistet; großes Gewicht lag auf Evangelisation, Gemeinschaft, Mission und gegenseitiger Hilfe. Mission außerhalb Europas geschah durch die Europäische Baptistische Missionsgesellschaft, die 1954 gegründet und später in Europäische Baptistische Mission umbenannt wurde. In der Zwischenzeit war das Baptistische Seminar in Rüschlikon bei Zürich 1949 gegründet worden. Baptisten hatten schon seit vielen Jahren über die Möglichkeit nachgedacht, eine theologische Ausbildungsstätte im Herzen Europas zu errichten. Solche Gedanken wurde bereits 1908 öffentlich geäußert. Als europäische Baptisten zu ihrem Kongress 1908 in Berlin zusammenkamen, wurde eine Resolution einstimmig verabschiedet, die mit Nachdruck die Errichtung „einer internationalen Europäischen Baptistischen Hochschule an einem zentralen Ort“ einforderte. Die Resolution enthielt eine Mahnung an Baptisten, die bestehenden Institutionen in Europa weiterhin zu unterstützen, die Gründung anderer, wenn nötig, zu befördern und einen Fonds einzurichten, um Stipendien für „besonders begabte junge Männer“ bereit stellen zu können, damit diese nach Abschluss ihrer Ausbildung in den jeweiligen nationalen Seminaren noch woanders sich weiterbilden könnten. Die Resolution richtete sich an den Weltbund, weil es in Europa keine andere baptistische Einrichtung gab, an die sich die Resolution gerichtet haben könnte. Der Direktor des Bethel Seminars in Stockholm, C. E. Benander, verlangte „eine große Europäische Baptistische Universität“ und verfolgte so die 332

Idee, dass die begabteren jungen Baptisten an einer Europa-weiten In­stitution weiter studieren könnten, nachdem sie in ihren Heimatländern die anfängliche theologische Ausbildung zum Pastorendienst durchlaufen hätten. Diese Vision konnte damals nicht weiter verfolgt werden, aber sie trat 1920 wieder auf die Tagesordnung während der Vorbereitung für Tagungen des Weltbundes zu Europa. In seinem Buch Crossing the Boundaries (Didcot: Baptist Historical Society, 1999) schrieb Bernard Green: Für Rushbrooke stellte sich die wichtigste Angelegenheit so dar, dass Prag große Möglichkeiten als Zentrum eines neuen baptistischen Seminars für die slawischen Länder Europas bot. Mit prophetischer Einsicht sah er die Möglichkeit eines evangelischen Wachstums unter der slawischen Bevölkerung und meinte, dass der Hauptvorstoß des Wiederaufbauprogramms des Baptistischen Weltbundes [nach dem ersten Weltkrieg] darin bestehen müsse, die Ausbildung von Predigern, Pastoren, Evangelisten und Lehrern zu ermöglichen. Dies sollte alle Ebenen der Ausbildung, einschließlich der universitären, umfassen.

Aber während dieser Phase verwandten die Leiter der europäischen Bünde wenig Gedanken auf ein solches gewagtes Unternehmen. Die Errichtung eines Seminars betrachtete man als abhängig von einer Initiative des Weltbundes. Im Protokoll der Konferenz 1920 heißt es: Der Teil, der die Tschecho-Slowakei betrifft, ist von eigenartigem Interesse. Die Kommissionsmitglieder konferierten mit Präsident Masaryk und dem Dekan der Protestantischen Theologischen Fakultät und finden heraus, dass von allen slawischen universitären Zentren Prag die besten Chancen für baptistische Studenten bereit hält.

Der Bericht gab zwar in positiver Weise die Notwendigkeit für ein zentrales europäisches Seminar wider, aber die Angelegenheit wurde in den folgenden Jahrzehnten nicht weiter verfolgt. Auf einer Europa gewidmeten Konferenz des Weltbundes 1948, das zeitlich mit den Sitzungen des Exekutivkomitees zusammenfiel, ergriff die Southern Baptist Convention aus den USA die Initiative und berichtete: „Die Southern Convention der USA hat darüber abgestimmt, $ 200.000 für ein Seminar in der Schweiz 333

zur Verfügung zu stellen, um den Bedürfnissen in Süd- und Zentraleuropa zu dienen.“ Eine Reihe von Möglichkeiten für einen Standort waren diskutiert worden, auch Rom, aber Rüschlikon schälte sich dann heraus – in einer Traumlage oberhalb des Zürichsees. Als erster Präsident des Seminars wurde George Sadler ernannt, der entschieden dazu beitragen wollte, dass die Institution sich für die europäischen Baptisten als nützlich erweisen sollte. Er war jedoch nur für eine Übergangszeit im Amt, weil seine Dienstzeit mit der Außenmissionsabteilung der Süd-Baptisten sich dem Ende näherte. Eine jüngere Person sollte an die Spitze treten. Die Wahl fiel auf einen Europäer, den 47 Jahre alten Norweger Josef Nordenhaug. Er hatte an der Universität in Oslo Naturwissenschaften studiert, fühlte sich dann aber berufen und studierte am Seminar der Süd-Baptisten in Louisville, Kentuckey, wo er zunächst einen Magister erwarb und dann im Neuen Testament promovierte. Er war Pastor in Oslo gewesen und später in den Staaten Kentucky und Virginia. 1950 wurde er in sein Amt eingeführt und konnte erreichen, dass das Seminar viel zum Leben der Baptisten in Europa beitrug. Obwohl das Seminar in den ersten Jahrzehnten nicht im Besitz der EBF war, verstärkte es das Thema der ekklesialen Gemeinschaft, ein Thema, das für das Leben und die sich entwickelnde Vision der EBF von zentraler Bedeutung war. Diese Vision musste klarer zum Ausdruck gebracht werden, weshalb der jährlich an unterschiedlichen Orten tagende Rat der EBF 1956 im norwegischen Langesund eine Kommission für die Verfassung einsetzte. In einem Brief an seine baptistischen Kollegen in New York schrieb der Nordamerikaner Edwin Bell: In vielerlei Hinsicht war diese Ratstagung der EBF die beste, die bisher stattgefunden hat, weil es eine definitive Entscheidung gab, die Zukunft der EBF und ihre Möglichkeiten zu bedenken. Diese Neuorientierung der Funktionen der Organisation schälte sich am Ende einer langen Diskussion über die Zukunft der Föderation und was zu tun sie planen solle, heraus.

Entscheidend war die Rolle der Generalsekretäre der EBF, um die Möglichkeiten auszuschöpfen. Anfänglich hatte W. O. Lewis, ein Amerikaner, dieses Amt inne, aber nach ihm folgten Europäer: 334

Walter O. Lewis Henry Cook Erik Rudén Ronald Goulding Gerhard Claas Knud Wümplemann Karl Heinz Walter Theodor Angelov Anthony A. Peck

Amerikaner Engländer Schwede Engländer Deutscher Däne Deutscher Bulgare Engländer

1950–1955 1955–1959 1959–1965 1965–1976 1976–1980 1980–1989 1989–1999 1999–2004 2004 –

Lewis war bereits stellvertretender Generalsekretär des Weltbundes, als er zu seinem Amt in der EBF ernannt wurde. Die ihm folgten waren alle zugleich die regionalen Sekretäre des Weltbundes für Europa, nachdem sie zuvor von der EBF ernannt worden waren. Erik Rudén und Ronald Goulding unterhielten klare Verbindungen nach Schweden und Britannien. Der Deutsche Gerhard Claas wurde vom Generalsekretär der EBF zum Generalsekretär des Weltbundes berufen; seine Amtszeit kam durch einen tödlichen Verkehrsunfall tragisch an ein vorzeitiges Ende. Nach seiner Zeit als Generalsekretär der EBF wurde Knud Wümpelmann zum Präsidenten des Weltbundes von 1990 bis 1995 berufen. Obwohl sich die europäischen Baptisten ihrer europäischen Identität bewusst waren, wollten sie doch nie vom Rest der weltweiten Familie isoliert sein. Die Mission war ein besonderes Anliegen der EBF. In frühen Zusammenkünften des Rats und der Exekutive finden sich zahlreiche Diskussionen über dieses Thema und Hoffnungen für Initiativen. So z. B. wurde 1950 in Paris die Ansicht vertreten, dass Spanien für Gemeindegründungen offen sei und dass Baptisten in Latein-Amerika ermutigt werden sollten, in eine Missionspartnerschaft mit spanischen Baptisten zu treten. Auf der Ratstagung in Hamburg 1951 wurde eine Prioritätenliste aufgestellt, und man fokussierte sich auf Brüssel, Island und Griechenland. Diese Betonung der Mission als ein Hauptmotiv für Ortsgemeinden, national und international zusammenzuarbeiten, ist auch ein Thema der „Rechenschaft vom Glauben“, die von Repräsentanten der deutschen, österreichischen und Schweizer Bünden zwischen 1974 und 1977 erarbeitet wurde. Der Abschnitt 5 Geistesgaben, Dienste und Ordnungen lautet: 335

[…] Jede Ortsgemeinde versteht sich als Manifestation des einen Leibes Christi und ordnet ihr Leben und ihren Dienst selbst. Untereinander sind die Ortsgemeinden verbunden nicht zuerst durch organisatorische Zusammenschlüsse, sondern durch den einen Herrn und den einen Geist. Die Gemeinden stärken sich aber gegenseitig durch Gemeinschaft im Glauben und Voneinander-Lernen, durch Fürbitte und gegenseitige Hilfe. Ordnung der Gemeinde und Verfassung des Gemeindebundes, Verwaltung und Finanzwesen, Einrichtungen und Werke sind nicht Selbstzweck, sondern Instrumente der Sendung der Gemeinde in dieser Welt.

Die Autoren aus diesen verschiedenen deutschsprachigen Baptistengemeinden zitieren 1. Kor. 1, 2, Eph. 4, 3–6 und 1. Kor. 16, 1–4 zur Begründung ihres Standpunktes. Die Sprache ist bemerkenswert: die Gemeinden sind ‚untereinander verbunden‘; sie stärken sich ‚gegenseitig‘ durch eine Vielzahl von Möglichkeiten und dies alles im Blick auf die Sendung der Kirche in dieser Welt. Es war stets die Ansicht der Baptisten in Europa, dass ihre Mission mehr umschließt als das Zeugnis des Evangeliums durch das Wort. Das Zeugnis durch Taten und die Sorge um eine gerechte Gesellschaft gehören dazu. Schon bald nach Bildung des Rats und der Exekutive der EBF kam die Frage der Religionsfreiheit auf die Tagesordnung. Diese Frage gewann zwangsläufig an Bedeutung, nachdem die sozialistischen Staaten des Ostblocks errichtet waren und viele kommunistische Regierungen die Unterdrückung des christlichen Glaubens betrieben. Darunter fielen auch Baptisten und andere evangelische Christen. Daher wurde dieser Bereich zu einem wesentlichen Merkmal der Arbeit des Rates der EBF und später der aufeinanderfolgenden Generalsekretäre. Eine Initiative zur Hilfe für die Gemeinden im Ostblock war die Arbeit des „Ausschusses für Bücher und Übersetzungen“ der EBF. Dieser lieferte Bibelkommentare und theologische Bücher für russischsprachige Pastoren. Obwohl von Baptisten viel unternommen wurde, um ihre leidenden Geschwister während des „Kalten Krieges“ zu unterstützen, folgte man doch erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auf der Ratstagung 1994 in Dorfweil der Empfehlung eines Sonderausschusses, der aus Thorwald Lorenzen (Deutschland), Per Midteide (Norwegen), Ebbe Holm (Dänemark), Anatoly Pchelincev (Russland) und Theo Angelov (Bulgarien) bestand, folgendes zu tun: 336

Material über Menschenrechtsverletzungen in jedem Land zu sammeln; Gebets-Informationen für die Bünde zur Verfügung zu stellen; eine Konsultation zu organisieren, um ein Netzwerk von Anwälten aufzubauen; Informationsmaterial für einen jährlichen ‚EBF Tag der Menschenrechte‘ bereit zu stellen; Religionsfreiheit für alle Menschen zu fördern.

Auf dieser Sitzung wurde ein Ausschuss für Menschenrechte gebildet, um diese Frage zu einer wichtigen Aktivität innerhalb der gesamten Sendung der EBF zu entwickeln. In ganz Europa waren Baptisten in missionarischen Aktionen aller Art aktiv. Darüber hinaus war es ein Anliegen, baptistische Überzeugungen zu artikulieren. In den 1960er Jahren gab es einige Diskussionen über die Möglichkeit zur Gründung einer baptistischen theologischen Zeitschrift durch die EBF, obwohl das Projekt erst einige Jahre später umgesetzt werden konnte. Um baptistische Überzeugungen und Anliegen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen, begann man ab 1969 auf den jährlichen Treffen des Rats der EBF Beschlüsse zu wichtigen Fragen zu fassen. Diese wurden im Allgemeinen durch einen Entschließungsausschuss vorbereitet, der zu jeder Ratstagung zusammengestellt wurde. Der Ausschuss bearbeitete dann Themen, die von den Mitgliedsbünden vorgelegt worden waren und unterbreitete dem Rat einen Textvorschlag. Themen für solche Beschlüsse waren im Laufe der Jahre: Frieden und Versöhnung unter Völkern (1969, 1975, 1979, 1982, 1984, 1986); Religionsfreiheit (1969, 1977, 1992, 1997, 1999); Gerechtigkeit und Menschenrechte (1980, 1984, 1991, 1998); Leidende, enteignete und heimatlose Menschen in der Welt (1969, 1975, 1979); Ruanda und Burundi (1972); Die Helsinki Schlussakte (1975, 1977, 1980, 1984, 1985); Arbeiter als Migranten und Immigranten (1975, 1987); Die evangelistische Aufgabe (1975, 1978, 1983, 1990, 2003); Nukleare Abrüstung (1977, 1979, 1981, 1983, 1985, 1987); Der Nahe Osten (1978, 1982, 2006); Das Internationale Jahr des Kindes (1978, 1979); Das Internationale Jahr der Jugend (1984, 1985); Rassismus (1985);

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Die Würde der Menschen (1981); Arbeitslosigkeit (1983); Zwischenkirchliche Gespräche (1982); Die europäische Vision und die Strukturen (1979, 1990); Frauen und kirchliche Leitung (1987); Menschenhandel (2003); Ausrottung der Armut und Schuldenerlass für ärmste Nationen (1998, 1999– Jubilee 2000; 2005– Die Micha Herausforderung); Das Jahrtausend – Verkündigung der Guten Nachricht (1998); Der Konflikt im Kaukasus (1999); Der Balkankonflikt (1999); Terroristische Anschläge in den USA, 9 / 11 (2001); Der Krieg im Irak (2002, 2004).

Die jährliche Tagung des Rats der EBF ist der sichtbarste Ausdruck der Solidarität der baptistischen Gemeinschaften in Europa und dem Nahem Osten, und die Treffen sind wichtig für Gemeinschaft, Diskussionen und Entscheidungen. Nachdem Knud Wümpelmann seine Zeit als Generalsekretär 1989 beendet hatte, wurde Karl-Heinz Walter aus Deutschland sein Nachfolger. Die bisherigen Generalsekretäre mussten in einem tief gespaltenen Europa ihrer Aufgabe nachgehen. Die Herausforderungen für die EBF in einer nachkommunistischen Welt wurden bei der Ratstagung der EBF im niederländischen De Bron 1990 sichtbar, weil sich die EBF mit Fragen baptistischer Identität konfrontiert sah, was den Rat in den 1990er Jahren vielfach beschäftigte, und weil viele neue baptistische Bünde in Osteuropa gegründet wurden. Die anfängliche Atmosphäre war euphorisch: Von einer neuen Ära religiöser Freiheit und Evangelisation war viel die Rede. Unter der Leitung von KarlHeinz Walter war die EBF sehr aktiv, humanitäre Hilfen für Osteuropa bereit zu stellen. Baptist Response Europe wurde von der EBF ins Leben gerufen und später in European Baptist Aid = Europäische Baptistische Hilfe umbenannt. In den Jahren nach dem Ende der kommunistischen Regime nahm die Euphorie ab, und die EBF sowie die einzelnen Bünde waren konfrontiert mit den Herausforderungen des Post-Modernismus und neuer Gesetze, die Rechte der Kirchen in etlichen Ländern der Region begrenzten. Diese Herausforderungen wurden von Theodor Angelov und nach ihm von Tony Peck aus Großbritannien aufgegriffen. Angelov, der auf Karl-Heinz Walter folgte, war der 338

erste Generalsekretär aus einem osteuropäischen Land, Bulgarien. Im Jahr 2003 startete die EBF das „Indigene Missionsprojekt“ (IMP), um Männer und Frauen zu unterstützen, neue Gemeinden in ihrem eigenen Umfeld zu pflanzen. Bis zum Jahr 2008 gab es sechzig einheimische Missionare in 25 Ländern. Seit Einführung des Projekts gab es zu unterschiedlichen Zeiten 23 Missionspartner. Mehr als zweihundert Missionare wurden unterstützt, und eine beträchtliche Zahl von Baptistenbünden haben mit transkontinentalen Missionsorganisationen in Nordamerika zusammen gearbeitet, um Gemeindegründungen voranzutreiben. In den frühen Jahren des IMP kamen ca. 80 % der Mittel aus Nordamerika, aber im Jahr 2015 lag der Anteil aus Europa bei 70 %. Die Missionare haben vornehmlich in ­Zentralund Osteuropa, Zentralasien und dem Nahen Osten gedient. Während der gesamten Zeit wurde das Projekt von einem polnischen Pastor, Daniel Trusiewicz, geleitet, der zuvor in Rüschlikon studiert hatte. In den späten 1980er Jahren, als die EBF im Begriff war, eine neue Phase ihres Lebens zu beginnen, erfolgte eine grundlegende Veränderung im Blick auf das Seminar in Rüschlikon. Die Außenmissionsabteilung der Südbaptisten in den USA (Southern Baptist Convention) traf die Entscheidung, die Eigentumsrechte des Seminars an die EBF zu übertragen. Es war eine Veränderung, die dazu führte, ein neues Bewusstsein des Zusammenhalts in der EBF zu entfalten und war, wie man in der Rückschau feststellen kann, ein vorbereitender Schritt vor dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa 1989 / 1990. John David Hopper wurde in dieser Zeit bedeutsamer Veränderungen zum Präsidenten des Seminars ernannt. Er war Historiker und Linguist und hatte lange für die Außenmission der Südbaptisten in Süd-Ost Europa, einschließlich Jugoslawien gearbeitet. R. Keith Parks, Präsident der Außenmission, überreichte dem EBF-General­ sekretär Knud Wümpelmann am 28. Mai 1988 die Schlüssel des Seminars. Allerdings bedeutete die anschließende Einstellung der Finanzierung des Seminars durch die Südbaptisten, dass sich der Verbleib an dem teuren Standort Rüschlikon als unmöglich erwies. Im Prozess der Entscheidungsfindung war die Tagung des Kuratoriums des Seminars im November 1993 entscheidend. Hier 339

wurden Optionen für einen Umzug nach Prag oder nach Berlin diskutiert. Schließlich wurde vereinbart, dass Prag die beste Option für die Zukunft darstellt. Dafür gab es verschiedene Gründe. Prag war ein kultureller Treffpunkt zwischen der slawischen und der lateinischen Welt. Auch die Kosten seien niedriger als in Berlin. Karl Heinz Walter schrieb an alle sechsundvierzig Mitgliedsbünde und fünfundzwanzig antworteten. Nicht alle waren für Prag, aber der Konsens zeigte angesichts der vorgebrachten Überlegungen in diese Richtung, so dass das EBFExekutivkomitee im Mai 1994 beschloss, ein Grundstück in Prag zu kaufen. Der Standort Jenerálka, in einem Gebiet von natürlicher Schönheit am Rande der Stadt, wurde bereits von einer gemeinsamen Suchgruppe bestehend aus dem Kuratorium und dem EBF-Exekutivkomitee für die Bedürfnisse des Seminars als geeignet befunden. Aufgrund weiterer Beschlüsse des EBF-Rates wurde der Prager Campus zu einem Zentrum für internationale Postgraduiertenstudien. Mit Keith Jones als Rektor erhielt das International Baptist Theological Seminary (IBTS) die Anerkennung, um postgraduierte Abschlüsse auf Master- und Doktorniveau der University of Wales anzubieten. Das Seminar wurde vom tschechischen Ministerium für Erziehung als private Universität anerkannt, und der Rektor wurde Mitglied der Tschechischen Rektorenkonferenz. Diese formale Anerkennung innerhalb der Europäischen Union war in der Schweiz nicht möglich. Dieser Schwerpunkt setzte sich auch 2014 fort, als das Seminar aus finanziellen Gründen nach Amsterdam verlegt werden musste. Es wurde in International Baptist Theological Study C ­ entre = Internationales Baptistisches Theologisches Studienzentrum umbenannt und begann, als Zentrum der Freien Universität von Amsterdam einen Master-Abschluss der Universität von Manchester sowie Promotionsmöglichkeiten durch die Freie Universität und in Zusammenarbeit mit der Acadia Divinity School in Nova Scotia, Kanada, anzubieten. Für das gesamte Leben des EBF war die Führung von Bedeutung. Autorität kommt nicht von oben herab, sondern findet sich im Leben der EBF selbst. Neben der Rolle der Generalsekretäre und der Rolle, die die Leitung des Seminars spielte, hat das Amt des Präsidenten der EBF das Mandat, die EBF zu führen, den Vorsitz bei Tagungen des Rats inne zu haben sowie die 340

Kongresse zu leiten. Die Präsidentschaft ist eine ehrenamtliche Teilzeitstelle für maximal zwei Jahre. Die meisten Präsidenten in der Geschichte der EBF waren leitende Amtsträger in ihren eigenen Unionen oder in einigen Fällen Rektoren von Seminaren, und sie waren nicht in der Lage, zwischen den Sitzungen viel Zeit für die Angelegenheiten des EBF aufzubringen. Daher hat das Amt des Generalsekretärs – in engem Kontakt mit anderen – eine hervorragende Rolle im Leben der EBF gespielt, weil die Inhaber dieses Amtes viel mehr waren als bloße Verwalter und Briefschreiber, sondern eher „lebendige Briefe“ (ein Begriff aus dem Neuen Testament, der oft gebraucht wurde), die Richtlinien der EBF entwickelten, sich zwischen den Unionen bewegten und auf diese Weise die Bindungen der Baptisten Europas und des Nahen Ostens untereinander stärkten. Diese Arbeit zur Stärkung der Beziehungen ging auch über das Leben der Baptisten hinaus. An der ökumenischen Führung Europas waren zahlreiche Baptisten beteiligt – sowohl in der nationalen als auch europaweiten ökumenischen Arbeit. In kirchlicher Hinsicht sind es Baptisten gewesen, die mehr als jede andere konfessionelle Gruppierung in Europa versucht haben, eine gesamteuropäische kirchliche Identität zu fördern. Es scheint auch, dass Baptisten die größte Verbreitung von allen Konfessionsgruppen in den Nationen Europas haben. Diese baptistische Präsenz wurde in Studien des Christentums oder der Religion im weiteren Sinne in Europa oft nicht anerkannt. Zugegebenermaßen können die Baptisten nicht an die zahlenmäßige Stärke der katholischen Kirche, der orthodoxen Kirchen oder einiger der wichtigsten protestantischen Traditionen in Europa heranreichen. Sie haben jedoch eine europäische Identität, die wohl stärker ist als die der anderen protestantischen Konfessionen. Dies ist zu einem großen Teil auf die Arbeit der Europäischen Baptistischen Föderation zurückzuführen.

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Literatur: Die Hauptquelle ist: Keith G. Jones, The European Baptist Federation (Milton Keynes: Pater­ noster, 2009).

Andere englische Quellen sind: Bernard Green, Crossing the Boundaries (Didcot: Baptist Historical Society, 1999). Anthony A. Peck, ‚European Baptist Federation‘, in J. H. Y. Briggs, ed., A Dictionary of European Baptist Life and Thought (Milton Keynes: Pater­noster, 2009). Irvin Barnes, Truth is Immortal: The Story of Baptists in Europe (London: Carey Kingsgate Press, 1955). Bernard Green, Tomorrow’s Man: A Biography of James Henry Rushbrooke (Didcot: Baptist Historical Society, 1997). K. G. Jones and I. M. Randall, eds., Counter-Cultural Communities: Baptistic Life in Twentieth-Century Europe (Milton Keynes: Paternoster, 2008). G. K. Parker, Baptists in Europe: History and Confessions of Faith (Nashville, Tenn.: Broadman, 1982). R. V. Pierard, ed., Baptists Together in Christ 1905–2005: A Hundred-year History of the Baptist World Alliance (Birmingham, Al.: Samford University Press, 2005). I. M. Randall, T. Pilli and A. R. Cross (eds.), Baptist Identities: International Studies from the Seventeenth to the Twentieth Centuries (Car­ lisle: Paternoster, 2006). I. M. Randall, Communities of Conviction: Baptist Beginnings in Europe (Prague: European Baptist Federation, 2009). I. M. Randall, ‚„Pious Wishes“: Baptists and wider renewal movements in nineteenth-century Europe‘, Baptist Quarterly, Vol. 38, No. 7 (July 2000), 316–31. I. M. Randall, ‚„Every Apostolic Church a Mission Society“: European Baptist Origins and Identity‘, in A. R. Cross, ed., Ecumenism and History: Studies in Honour of John H. Y. Briggs (Carlisle: Paternoster, 2002), 281–301. I. M. Randall, The English Baptists of the Twentieth Century (Didcot: Baptist Historical Society, 2005). Carol Woodfin, An Experiment in Christian Internationalism: A History of the European Baptist Theological Seminary (Macon, GA: Baptist History and Heritage Society, 2013).

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Die Verbindung östlicher und westlicher christlicher Traditionen in der Evangelisch-Baptistischen Kirche in Georgien Ilia Osephaschvili Die Evangelisch-Baptistische Kirche in Georgien verfolgt seit etwa zehn bis fünfzehn Jahren einen Weg der Inkultu­ ration. Damit setzt sie die von Erzbischof Malchas Songulaschwili begonnenen Reformen fort. Die Evangelisch-Baptistische Kirche blickt in Georgien auf eine einhundertfünfzigjährige Geschichte zurück. Ihre Gründung ist mit dem Namen eines deutschen Missionars, Martin Kalweit, verbunden. Dieser kam in den 1860er Jahren nach Tiflis und rief dort eine erste baptistische Gemeinde ins Leben. Martin Kalweit stand in regem Briefwechsel mit Johann Gerhard Oncken, der einen aktiven Beitrag zur Gründung baptistischer Gemeinden in Deutschland und vielen anderen Ländern des europäischen Kontinents leistete. Von Tiflis ausgehend entstanden weitere Baptistengemeinden sowohl im Kaukasus als auch im gesamten russischen Imperium. Der neuen Bewegung schlossen sich viele ehemalige Molokanen1 an, die aufgrund ihres Glaubens aus den zentralen Provinzen des zaristischen Russlands in dessen Randgebiete vertrieben worden waren. Grundzüge der molokanischen Frömmigkeit wirkten in der frühen baptistischen Bewegung im Russischen Reich spürbar nach und beeinflussten deren Theologie, Ekklesiologie und Ethik. Dies äußerte sich unter anderem in einer grundsätzlich negativen Einstellung der Baptisten gegenüber der orthodoxen Kirche und deren Traditionen. Auch in kultureller Hinsicht verstärkte der molokanische Einfluss eine Tendenz zur Abgrenzung der Kirche von der Gesellschaft. Dennoch entfalteten die Baptistengemeinden von Anfang an eine starke missionarische Aktivität. Auf diese reagierte sowohl die zaristische als auch die sowjetische Geheimpolizei mit Repressionen. 1928 1

Die Molokanen entstanden im späten 18. Jahrhundert als religiöse Bewegung in radikaler Opposition zur russisch-orthodoxen Staatskirche. Die Molokanen verwarfen Priestertum, Riten und Fastengebote der orthodoxen Kirche. Ihr Name (von „moloko“, russisch „Milch“) leitet sich davon her, dass sie das Verbot von Milchprodukten in den Fastenzeiten nicht beachteten.

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wurde der baptistische Missionar Ilia Kandelaki, der 1919 die erste georgischsprachige Baptistengemeinde gegründet hatte, auf Befehl der sowjetischen Geheimpolizei getötet. Er war der erste baptistische Märtyrer in Georgien. Die von ihm gegründeten georgischen Gemeinden waren sich von Anfang an der Notwendigkeit bewusst, mit der Kultur des Landes in Verbindung zu stehen und sich nicht abzugrenzen. Es muss eingestanden werden, dass die georgischen Baptisten über lange Zeit hinweg ihre Identität aus einer negativen Einstellung zur orthodoxen Kirche definierten. In der Kirche herrschte eine ablehnende Einstellung gegenüber jeglicher Liturgie. Auch in kultureller Hinsicht stand eine hohe Mauer zwischen der Kirche und der Gesellschaft. Bezeichnend für den Beginn der Reformen in der Evangelisch-Baptistischen Kirche Georgiens war der Tag, an dem das Kirchenoberhaupt Erzbischof Malchas Songulaschwili in einem Bischofsornat vor die Gemeinde trat, was unter den Gottesdienstbesuchern Irritationen hervorrief. Die Logik, mit der argumentiert wurde, war die folgende: „In dieser Gemeinde haben die Pastoren und Diakone noch nie liturgische Gewänder getragen, deshalb ist das für uns inakzeptabel.“ Doch sie konnten nicht begründen, warum die Pastoren und Diakone unbedingt bürgerliche Kleidung tragen sollen. Kurze Zeit später wurde in der Kirche ein Altar aufgestellt, und es wurden mehrere ikonenartige Bilder aufgehängt. Diese sind ein Zeichen der Identifikation mit dem kulturellen Erbe des georgischen Christentums und sind nicht mit Ikonenverehrung gleichzusetzen. Während des Gottesdienstes fanden nun unter anderem auch Kerzen und Weihrauch Verwendung. In der Gemeinde wurde ein liturgischer Kalender eingeführt, in den sowohl christologische Feiertage (Weihnachten, Jesu Darstellung im Tempel, Jesu Taufe, Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten) als auch Heiligengedenktage Eingang fanden, an denen der Verdienste der Heiligen gedacht wird. Mit dem Gedenken an Basilius den Großen, Gregor von Nazianz, Thomas von Aquin, Augustinus und andere wichtige Gestalten der Kirchengeschichte zeigt unsere Kirche, dass sie sich als Teil der weltweiten Kirche Christi versteht. Unsere Kirche hat auch Maria wieder den Platz eingeräumt, der ihr zusteht. In der Kathedrale der Evangelisch-Baptistischen Kirche in Tiflis gibt es ein Bild der Maria mit dem Kind. Der Erz344

bischof und die Bischöfe der Kirche tragen ein Pektorale, auf dem Maria mit dem Kind abgebildet ist. Vor den Reformen hat die Kirche nicht nur die Heiligen, sondern auch Maria mit Argwohn betrachtet. Dies war eine Gegenreaktion auf die im orthodoxen Volksglauben verbreitete Form des Heiligenkultes. Die Baptisten waren der Meinung, dass der volkstümliche Marienund Heiligenkult Jesus und sein Erlösungswerk in den Schatten stelle. Dies wäre in der Tat inakzeptabel, da nach baptistischem Verständnis die Kirche einzig und allein auf die Heilige Schrift gegründet ist. Seit die Gemeinde über die Rolle Marias und der Heiligen unvoreingenommen neu nachgedacht hat, haben Maria und die Heiligen wieder einen angemessenen Platz erhalten. Das Abendmahl nimmt in der Liturgie einen äußerst wichtigen Platz ein. Es wird in der Evangelisch-Baptistischen Kirche abwechselnd nach der Jakobusliturgie,2 den Liturgien des Johannes Chrysostomos und von Basilius dem Großen,3 der Markusliturgie4 und der ökumenischen Lima-Liturgie durchgeführt. Wie auch in allen anderen Kirchen stellt das Abendmahl in der Evangelisch-Baptistischen Kirche das Herzstück des Gottesdienstes dar, auf das sich „die Diener“, also die Bischöfe, Ältesten (Pastoren) und Diakone, und die Gemeindeglieder besonders vorbereiten. Das Abendmahl wird mit Brot und Wein durchgeführt, für welche in der Kirche besonderes Geschirr – Abendmahlskelch und Hostienteller – verwendet wird. Da das Abendmahl der Tisch des Herrn Jesu und nicht der Kirche ist, wird niemandem untersagt, daran teilzunehmen. Wir teilen das Abendmahl nicht nur an Baptisten aus, sondern an alle, die in Frieden mit Gott und ihrem Nächsten leben. Darüber muss aber jeder Teilnehmer des Abendmahlsgottesdienstes selbst entscheiden, unabhängig davon, welcher Konfession er angehört oder welche Stellung er hat. Die bereits oben berührte Frage des Gebrauchs liturgischer Gewänder soll an dieser Stelle nicht von der Bibel her, sondern im kulturellen Kontext Georgiens betrachtet werden. Georgien 2 Frühbyzantinische

(nach dem Herrenbruder Jakobus benannte) Liturgie des Patriarchats von Jerusalem, im 8. Jahrhundert ins Georgische übersetzt. 3 Die nach Johannes Chrysostomos und Basilius dem Großen benannten byzantinischen Liturgien sind die zwei Grundtypen des Abendmahlsgottesdienstes der orthodoxen Tradition. 4 Frühbyzantinische Liturgie des Patriarchats von Alexandrien.

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ist ein Land, in dem geistliche Würdenträger seit über 15 Jahrhunderten besondere Kleidung tragen, die sie von den weltlichen Bürgern unterscheidet. Die Einwohner Georgiens können sich geistliche Würdenträger ohne eine hervorgehobene Amtskleidung nicht vorstellen. Dass in der Vergangenheit die baptistischen Pastoren in weißem Hemd mit Krawatte predigten und Trauungen oder Beerdigungen leiteten, war völlig fremd für unsere Kultur. Liturgische Gewänder und andere visuelle Hilfsmittel erwiesen sich als gute Brücke zwischen der baptistischen Kirche und der Kultur unseres Landes. Heute predigen die baptistischen Diakone, Ältesten (Pastoren) und Bischöfe im Amtsgewand dasselbe, was sie früher mit Anzug und Krawatte predigten. Sie sind den baptistischen Prinzipien noch genauso treu, wie sie es früher waren. Hinzu kommt, dass es auch in diesem Fall, wie auch in allen anderen Fragen, jeder örtlichen Gemeinde völlig frei steht, ob sie liturgische Gewänder einsetzt oder nicht, wie ja auch den übrigen Gottesdienstbesuchern nicht eine bestimmte Kleidung vorgeschrieben wird. In der Kirche werden Taufen durchgeführt, die, wie in allen baptistischen Gemeinden, mit völligem Untertauchen geschehen. Getauft werden kann, wer den Sinn des Glaubens versteht. Deshalb ist das Taufalter nicht streng festgelegt. Natürlich bedeutet das nicht, dass Säuglinge oder Kleinkinder getauft werden, da in diesem Alter der Glaube noch nicht bewusst durchdacht ist, sondern dass Menschen jeden Alters, die bezeugen, dass sie Jesus Christus als ihren persönlichen Retter angenommen und eine lebendige Beziehung zu Gott haben, getauft werden. Es werden auch Salbungen durchgeführt, was der baptistischen Kirche früher fremd war, obwohl Salbungen im Neuen Testament oft bezeugt sind. Bei den Reformen wurde der östlichen Fastentradition ein wichtiger Platz eingeräumt. Neben dem persönlichen Fasten, bei dem jeder selbst den Fastentag und die Art und Länge des Fastens festlegt, wurde ein Weihnachts- und ein Osterfasten eingeführt, währenddessen die Kirche ein besonderes Augenmerk auf die Versorgung von Kranken, Unterdrückten und sozial schwachen Menschen richtet. Abgesehen davon beschäftigt sich die Kirche auch mit der Lösung ökologischer Probleme. Damit zeigt sie, dass auch die Sorge für die von Gott geschaffene Welt unter die Verantwortung der Kirche fällt. 346

Es wurden auch Reformen in Bezug auf die Struktur der Kirche durchgeführt. Zuvor gab es nur zwei Ämter, das des Diakons und das des Pastors. Nach der Reform wurde als drittes Amt das Bischofsamt eingeführt. Der Bischof ist ein geistlicher Würdenträger, der in einer bestimmten Region des Landes für die dortigen Gemeinden verantwortlich ist. Der Erzbischof ist der Oberhirte; er wird als „Erster unter Gleichen“ betrachtet. Es ist aber klar, dass damit nicht die kongregationale Struktur abgeschafft und völlig zur episkopalen übergegangen wird, sondern es werden manche Prinzipien der episkopalen Struktur in die kongregationale eingebracht, was für eine in unserer Kultur wirkenden Kirche einen guten Mittelweg darstellt. In der Evangelisch-Baptistischen Kirche Georgiens werden Frauen als Pastorinnen und Diakoninnen ordiniert. Natürlich finden wir weltweit in den verschiedenen Kirchen unterschiedliche Einstellungen zu diesem Thema. Bei den georgischen Baptisten dienten schon in den 1970er Jahren Frauen als Diakoninnen und Pastorinnen. Im Jahr 2008 kam auch eine Bischöfin dazu. Gleichberechtigung im christlichen Dienst ist unserer Kultur nicht fremd. Man beachte, dass Georgien durch eine Missionarin, die Heilige Nino, bekehrt wurde, die im 4. Jahrhundert aus Kappadozien kam und den Glauben an Jesus verbreitete. Sie predigte Gottes Wort und heilte Kranke durch Handauflegung. Durch ihre Missionstätigkeit wurde im Jahr 337 n. Chr. das Christentum als Staatsreligion ausgerufen. Es ist offensichtlich, dass die Heilige Nino eine außergewöhnliche Dienerin Gottes war. Der Herr verlieh ihren Worten und Taten Kraft und segnete sie. Kann man der Heiligen Nino, die fast ganz Georgien bekehrte, in der durch sie begründeten Kirche den geistlichen Leitungsdienst verbieten, nur deshalb, weil sie eine Frau ist? Schon der georgische Nationaldichter Schota Rustaweli sagte im 12. Jahrhundert in seinem berühmten Epos „Der Recke im Tigerfell“: „Löwenbrut, ob männlich, weiblich, zeigt doch gleichviel Löwenmut.“ Nur wenige Jahre nach der Gründung der Kirche finden wir schon Diakoninnen, die an der Seite des Apostels Paulus aktiv in der Kirche mitarbeiten. Am Ende des Römerbriefes, als der Apostel Paulus die Schwestern und Brüder im Glauben grüßt, nennt er eine weibliche Gottesdienerin, Phöbe, die in der Gemeinde von Kenchreä als Diakonin diente (Röm 16,1). 347

Die derzeitige Liturgie der Evangelisch-Baptistischen Kirche Georgiens ist eine Mischung aus liturgischen Elementen verschiedener Kirchen, was manchmal ein gewisses Unverständnis unter den Leuten auslöst. Es wurde oft der Meinung Ausdruck verliehen, dass die Evangelisch-Baptistische Kirche Georgiens mit dieser vielfältigen Liturgie ihr Gesicht verloren hat und dass sie versucht, verschiedene andere Kirchen nachzuahmen. Im Jahr 2002 wurde im Zusammenhang mit diesen Fragen eine spezielle Konferenz im Dorf Likani in der Nähe von Bordschomi einberufen, auf der die Evangelisch-Baptistische Kirche Georgiens eine Entscheidung über die Reformen treffen sollte. Damals einigten sich fast alle Gemeinden darauf, dass die Kirche für die Gesellschaft und die Menschen da sein sollte und nicht für sich selbst. Das Schlagwort war: „Kirche für das Volk und nicht Kirche für die Kirche.“ Diese Formulierung war entscheidend für die letztendliche genauere Festlegung der Identität der Kirche. Erzbischof Malchas Songulaschwili erklärte, dass in der Kirche der Inhalt des Glaubens für immer der gleiche bleiben, aber die Form der Glaubensausübung und die Tradition einem ständigen Wandel unterliegen sollte. Wenn wir das Alte und das Neue Testament lesen, finden wir nur zwei Gottesdienstformen und Traditionen, nämlich den Tempelgottesdienst und den Synagogengottesdienst. Jesus Christus besuchte regelmäßig beide, den Tempel und die Synagoge, womit er ihre Bedeutung unterstrich: „Als er in den Tempel kam und lehrte, traten die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes zu ihm.“ (Mt 21, 23). Im Lukasevangelium lesen wir: „Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen.“ (Lk 4, 16). Wir lesen, dass auch nach Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu seine Nachfolger, wie er selbst, regelmäßig sowohl in den Tempel in Jerusalem als auch in die Synagoge gingen: „Sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen.“ (Apg 2, 46). Weder Jesus noch seine Jünger hatten eine andere Gottesdienstform oder einen anderen Rahmen eingeführt. Wenn wir sagen, dass die Kirche ihren Gottesdienst auf die Heilige Schrift gründen und dass alles so ablaufen soll, wie es in der Heiligen Schrift vorgeschrieben ist, dann müssen wir den Synagogengottesdienst als einzig richtige Form des Gottesdienstes und der 348

Liturgie überhaupt betrachten. Dann hätte die Kirche überhaupt keine neuen gottesdienstlichen Formen entwickeln sollen. Aber Jesus ging es um die Universalität des Glaubens. Seine Kirche sollte bald über die Grenzen Judäas und Palästinas hinauswachsen und ihren Auftrag auf unterschiedliche Länder und Kulturen ausdehnen. Deshalb schenkten die Apostel den äußerlichen Formen des Gottesdienstes nur geringe Aufmerksamkeit. Darum ist der Streit darüber, welche Liturgie und Tradition „richtiger“ ist, die westliche oder die östliche, die orthodoxe oder die baptistische usw., sinnlos. Alle Kirchen müssen jeder Tradition und liturgischen Besonderheit den gleichen Wert beimessen, und alle müssen darin die gottgegebene Vielfalt erkennen, die letztendlich Ausdruck des einen Ganzen ist. Der Bibel zufolge ist es erlaubt, dass auch Gemeinden, die ein und derselben Konfession angehören, in Georgien andere Gottesdienstformen haben können als in Deutschland. Es ist darüber hinaus auch denkbar, dass eine Stadtgemeinde sich von einer Dorfgemeinde unterscheidet, da sich hier und dort Kultur und Traditionen stark unterscheiden. Die Evangelisch-Baptistische Kirche Georgiens ist offen für die Traditionen aller christlichen Kirchen, was ihr hilft, den Glauben an Gott besser verständlich zu machen. Für sie sind sowohl die westliche als auch die östliche christliche Tradition und deren liturgische Besonderheiten akzeptabel. Die Kirche erreicht eine Synthese der beiden auf solche Weise, dass sie nicht ihre Eigenständigkeit und die Treue zu den Prinzipien, die für den Baptismus bezeichnend sind, aufgibt: also die Autorität der Bibel, die Trennung von Kirche und Staat, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, das allgemeine Priestertum aller Gläubigen, die Selbständigkeit der Ortsgemeinde, die Taufe auf das Bekenntnis des Glaubens usw. Was die Ortsgemeinden untereinander und die verschiedenen Kirchen einen soll, ist der Glaube, nicht die Gottesdienstform oder die Tradition. Wenn wir es aus diesem Blickwinkel betrachten, haben alle Kirchen auf der ganzen Welt viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, ganz gleich, ob sie protestantisch, orthodox oder katholisch sind. Deshalb muss jede kirchliche Tradition für alle gleichermaßen akzeptabel und anerkennenswert sein. Keine Kirche darf vergessen, dass sie nur ein Teil des einen und unteilbaren Leibes darstellt, und innerhalb dieser Einheit muss sie Gottes Reich in dem Teil der Welt und in der Kultur bauen, in die sie von Gott gesandt ist. 349

Ein parteilicher Ausstieg aus der Käseglocke. Der ukrainische Baptismus seit Anfang 2014 William Yoder Der aus Russland stammende Michail Tscherenkow (auch „Mykhailo Tscherenkoff“), ein Vordenker des ukrainischen Baptismus, gehört zu denen, die für die Etablierung eines „modernen“, weltoffenen, ukrainischen Protestantismus plädieren. Das US-Modell zum Vorbild nehmend, will sich diese evangelikale Bewegung von der vermeintlich muffigen, kuscheligen und sektiererischen Kirchenkultur der Sowjetära verabschieden und den Sprung in die breite Öffentlichkeit wagen. Die Anliegen des Volkes sollen auch das Anliegen der Protestanten sein; in den politischen Belangen will man nicht mehr abseitsstehen. Diese Kirche will modern, zukunftsorientiert, innovativ und westlich sein.1 Dieser Ausstieg aus der Käseglocke ist ein höchst parteilicher Vorgang, denn er geht mit einer uneingeschränkten Parteinahme für das politische und militärisch-strategische Vorgehen des jetzigen Kiewer Staates einher. Tscherenkow ist neben Direktor Sergei Rachuba ein Hauptvertreter der in Wheaton bei Chicago beheimateten „Mission Eurasia“. Rachuba ist ein aus der Ost-Ukraine ausgewanderter Bewohner der USA. Tscherenkow lebt in Irpen bei Kiew, hält sich jedoch seit Juli 2018 für mehrere Jahre bei dieser Mission im US-Bundesstaat Illinois auf. Ganz als ob es die Zweidrittel-Welt nicht gäbe, setzen sich die Mission Eurasia und die baptistische Bundesleitung in Kiew mit wenig Rücksicht auf Verluste für die Lesart des politischen Westens ein. Schon im Sommer 2014 hieß es aus der Baptistenzentrale: „Unsere Brüder in Russland haben Putin mehr geglaubt als uns.“ Dabei gilt der umgekehrte Vorwurf ebenso: Die Ukrainer haben Victoria Nuland und dem verstorbenem US-Senator

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Siehe die in Zürch erscheinende Zeitschrift „Religion und Gesellschaft in Ost und West“, Ausgabe 2 / 2015.

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John McCain mehr geglaubt als den Verwandten und Glaubensgeschwistern nebenan.2 Waleri Antoniuk, Präsident der „All-Ukrainischen Union von Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten“, verteidigte 2014 den gewaltsamen Machtwechsel vom Februar jenen Jahres mit einem Verweis auf Dietrich Bonhoeffer und dessen Rechtfertigung des ethischen Grenzfalls Tyrannenmord: „Gehorsam gegenüber Tyrannen ist Ungehorsam gegenüber Gott.“ In Kirchenbüros und den sozialen Medien werden die Russen aufgefordert, einen neuen Dietrich Bonhoeffer hervorzubringen, der mutig die Schlacht gegen Wladimir Putin und den Kreml aufnimmt. Traditionelle, eher unpolitische Baptisten haben den baptistischen Laienprediger Oleksandr Turtschynow dafür kritisiert, dass er von Februar bis Juni 2014 als ukrainischer Interimspräsident fungierte. Doch Antoniuk nahm ihn in Schutz: „Als Martin Luther King (1963) seine berühmte Rede ‚Ich habe einen Traum‘ hielt, haben nicht alle amerikanischen Christen Beifall geklatscht. Nur im Nachhinein und im Laufe der Zeit kamen sie zu der Erkenntnis, dass es der Herr war, der ihn geführt hatte.« Es lässt sich konstatieren, die in Amsterdam beheimatete „Europäische Baptistische Föderation“ (EBF) habe den ukrainischen Baptistenbund bei seinem geostrategischen Bündniswechsel unterstützt. Ein „Hearing“ europäischer Baptisten im Londoner Lambeth Palace am 28. April 2015 ähnelte eher einer Solidaritätskundgebung als einer Friedenskundgebung. Dabei hatten sich Juri Sipko (Präsident des russischen Baptistenbundes 2002–2010) und Michail Panotschko an den Händen gehalten, während sie für die Menschen in der Ukraine beteten. Panotschko ist Leitender Bischof der „All-Ukrainischen Union der Evangelischen, Christlichen Kirchen – Pfingstler“. Doch als Erwiderung auf einen Friedensaufruf versicherte Panotschko, 2 Nuland

war von 2013 bis 2017 Unterstaatssekretärin für Europäische und Eurasische Angelegenheiten im US Außenministerium. Mit Unterstützung von McCain war sie während der Krise in der Ukraine eine Schlüsselperson, die angeblich fünf Milliarden US Dollar für die Opposition bereit hielt. In einem bekannt gewordenen Telefongespräch mit dem damaligen US Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, erwähnte sie die Europäische Union negativ und fügte hinzu: „Fuck the EU“. Seit Januar 2018 ist sie bei der „Denkfabrik“ Center for a New American Security (Anm. d. Hg.).

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dass Versöhnung inmitten eines Krieges „dem Flicken des Daches eines Hauses inmitten eines Wirbelsturms gleichkommt. Die Versöhnung beginnt erst wenn das Feuer gelöscht worden ist.“ Oleksandr Turtschynow, Sicherheits- und Verteidigungschef der Ukraine, ist auch nicht der einzige Baptist, der zu einem Durchhalten bis zum militärischen Endsieg aufruft. In London geißelte der ehemalige Baptist Anatoli Kaluschni, Bischof der „Union der Selbständigen Evangelischen Kirchen der Ukraine“, die Politik Putins als „die Werke des Antichristen“. Die Radikalität der Kiewer Haltung Den Angaben von Insidern zufolge ist das Gespräch zwischen den vor allem pfingstlerischen Kirchenleitungen aus Russland und der Ukraine in Jerusalem am 10. April 2014 an einer Forderung der ukrainischen Seite gescheitert. Es hatte damals geheißen: Erst nachdem sich alle einig geworden sind, dass Russland der Aggressor sei, sollten die Verhandlungen beginnen. Ein entscheidender Verhandlungsgegenstand – die Wertung des auf dem Maidan Vorgefallenen – sollte noch vor Aufnahme der Verhandlungen vorentschieden werden. Der englische Historiker Richard Sakwa berichtet von zwei überragenden Strategien in der Ukraine. Laut Sakwa besagt die vor allem in der westlichen Ukraine vertretene „monistische“ Sicht, die Ukraine sei „eine bodenständige kulturelle und politische Einheit“. Deshalb habe das Land die Aufgabe, „die ukrainische Sprache zu verstärken, das imperiale Erbe der Zaren und Sowjets zu verwerfen, die politische Schlagkraft der Russischsprachigen zu vermindern und das Land von Russland weg und nach ‚Europa‘ hin zu bewegen.“ Die „pluralistische“ Sicht hingegen „unterstreicht die Unterschiedlichkeit der historischen und kulturellen Erfahrungen der ukrainischen Regionen“. Die Schaffung eines erfolgreichen Rechtsstaates erfordert „die Annahme der Zweisprachigkeit, gegenseitige Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Traditionen und eine Verlegung der Macht vom Zentrum in die Regionen“. Hierfür plädiert auch der russische Staat. Doch schon in den 1990er Jahren hatten sich die Protestanten der Ukraine für die monistische Option entschieden. In einem Brief an den Staatspräsidenten Janukowitsch vom 3. Juli 2012 352

protestierten neun Denominationen gegen das Ansinnen, Russisch als zweite Amtssprache in bestimmten Gebieten zuzulassen. Zu den Unterzeichnern zählten der Baptistenbund und zwei Pfingstkirchen. Laut dieses Schreibens vertieft die Zweisprachigkeit „die gesellschaftliche Aufteilung, die politische Gegenwehr und untergräbt das Fundament des ukrainischen Staates“. Es ist nicht schwer, sich die Reaktion auf diesen Brief auf der Krim und in der Ost-Ukraine auszumalen. Russisch ist bekanntlich die einzige Sprache, die nahezu alle ukrainischen Staatsbürger beherrschen. So wurden die ukrainischen Protestanten für die spätere Aufspaltung ihres Mehrvölkerstaates mitverantwortlich. Zu den „Gewinnern“ vom Maidan gehören auch die seit 1596 bestehende „Unierte“, bzw. Griechisch-Katholische Kirche. Es lässt sich mühelos belegen, dass sie im Zweiten Weltkrieg am Holocaust – und an der Liquidierung des Polentums in Galizien – beteiligt war. Dafür u. a. wurde sie von der UdSSR vehement verfolgt. Seit Anfang der 1990er Jahre fühlt sich diese Kirche mit den Protestanten der Ukraine eng verbunden; sie begreifen sich als Verbündete im Kampf gegen ein übermächtiges Moskauer Patriarchat. Die heutige Ukraine versteht sich in der Tradition von antisowjetischen, faschistoiden und faschistischen Bewegungen. Turtschynow wird als ein Befehlshaber des rechtsextremen Regiments Asow eingestuft. Dem baptistischen Abgeordneten Pawel Ungurjan aus Odessa machte es nichts aus, am 21. März 2017 einen hohen Orden vom ukrainischen Parlamentspräsidenten Andrij Parubij entgegenzunehmen. Parubij hatte 1991 gemeinsam mit Oleh Tjahnybok die rechtsextreme „Sozial-Nationale Partei der Ukraine“ ins Leben gerufen. Im Oktober 2018 stattete eine Spitzendelegation, die u. a. die beiden Präsidenten und General-Sekretäre der EBF und des Baptistischen Weltbundes sowie die Leitung des ukrainischen Bundes umfasste, Parubij in seinem Kiewer Büro einen offiziellen Besuch ab. Andrij Parubij ist der ranghöchste faschistische Politiker der Ukraine: Sein äußerst fragwürdiges Wirken bei den Maidaner Schießereien im Februar 2014 bleibt bis dato im Dunkeln. Dennoch erkennen die mit Kiew liierten Protestanten in ihrem Lande keine braune Gefahr. „Der einzige echte Faschist ist Wladimir Putin“, versicherte dem Verfasser ein Spitzenvertreter des Baptistenbundes in Kiew am 2. April 2015. Nach Tscheren353

kows Überzeugung führe nur die Kiewer Ukraine einen konsequenten Kampf auf beiden Fronten – gegen Kommunismus und Faschismus. Das sieht der israelische Staat anders. Trotz aller geopolitischen Gegensätze sind sich Israel und Russland einig im Widerstand gegen die durch Mitwirkung am Holocaust kompromittierten Kräfte Osteuropas. Ferner sollten Zweifler, die die Auseinandersetzung in der OstUkraine als „Bürgerkrieg“ begreifen, mit einer Verbannung und Ächtung durch den Baptistenbund rechnen. Konkrete Fälle sind dem Verfasser bekannt. In der Ost-Ukraine darf es sich nach Kiewer Lesart nur um eine „russische Aggression“ handeln. In der Frontstadt Mariupol beteiligt sich der Pfingstpastor und Leiter eines Waisenhauses, Gennadi Mochnenko, am militärischen Kampf gegen den östlichen Nachbarn. Dieser häufige Besucher der USA ist bekannt u. a. dafür, den Tod des 500. Kämpfers der „Separatisten“ gefeiert zu haben und auch für seine öffentlich bekundete Bereitschaft, Wladimir Putin eigenhändig zu liquidieren. Am 5. Mai 2018 veröffentlichte Michail Tscherenkow auf Facebook ein Foto zweier seiner Töchter. Sie zeigen sich bewaffnet und in Kriegsmontur; beide scheinen etwa zehn Jahre alt zu sein. Ähnliches hat es bei den Protestanten auf russischem Boden noch nicht gegeben. Die Haltung der russischen Protestanten Der US-Mennonit und Dozent Harley Wagler, der seit 1994 in Nischni Nowgorod / Russland lebt, beschreibt den Unterschied zwischen den ukrainischen und russischen Baptisten als theologisch. Er schrieb 2015: „Gegenwärtig werden die russischen Evangelikalen von den ukrainischen an den Pranger gestellt. Ihnen wird vorgeworfen, Käuflinge Putins zu sein. Der Unterschied ist jedoch theologischer Natur. Russen sagen, die Kirche solle die Regierung ehren, auch wenn sie fehlerhaft sei, denn die Kirche stelle ein anderes Reich dar. Auch in den schlimmsten Jahren Stalins haben Baptisten den Staat nie kritisiert und erwiderten einfach, dass sie einer höheren Berufung nachgehen. Man denkt in diesem Zusammenhang an den Baptisten Aljoscha in Soltschenizyns ‚Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch‘.“ „In der Ukraine haben die Evangelikalen die entgegengesetzte Position eingenommen. Nun versichern sie, dass sie ihrem neuen 354

Staat unter die Arme greifen müssen, dass dies ihre patriotische Pflicht sei. Sogar der Präsident der Ukraine war für mehrere Monate ein baptistischer Laienprediger (Turtschynow). Nun wird er wegen seiner donnernden, militaristischen und antirussischen Aussagen als der ‚blutige Pastor‘ gegeißelt. Welche Haltung ist eigentlich dem biblischen Vorbild näher?“ Für Furore in Kiew sorgten zwei Erklärungen, die am 30. Mai 2014 auf dem Petersburger Vierjahres-Kongress („Synode“) der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ verabschiedet worden sind. Eine stellte die moralische Berechtigung des Aufstandes auf dem Maidan in Frage: „Wir fühlen uns der biblischen Lehre verpflichtet, die den gewaltsamen Sturz einer legalen Staatsmacht und den Nationalismus ablehnt und eine Lösung sozial-politischer Differenzen nur auf dem Wege von politischen Verhandlungen erlaubt.“ Daraufhin warf Antoniuk der russischen Union vor, die Stellungnahmen unter Druck verfasst zu haben. „Ich habe nicht den Eindruck, dass es sich um wirklich echte Dokumente handelt. Irgend jemand wollte sie eben haben. Einer Anzahl höchst umstrittener Aussagen kann ich nicht zustimmen. Man sollte für jene beten, die sich in ihrem Urteilsvermögen als schwach erwiesen haben.“ In einem Interview, publiziert am 17. März 2015, versicherte Aleksei Smirnow, der damalige Präsident der Russischen Union, der russisch-ukrainische Konflikt habe in baptistischen Kreisen unerträglichen Schmerz ausgelöst. Wie ein Messer habe der Konflikt „familiäre und zivile Verbindungen zerschnitten und den Menschen äußerst schwierige Entscheidungen aufgenötigt“. Der Konflikt habe „Ehepaare, Gemeinden und die Bruderschaft überhaupt gespalten“. Plötzlich haben sich Menschen „in hitzige politische Debatten“ hineinziehen lassen „und zeigen sich bereit, einen heiligen Krieg gegen Andersdenkende zu führen“. Das Evangelium habe sich seit 2.000 Jahren nicht verändert, versicherte er ferner. „Liebe den Herrn deinen Gott mit ganzem Herzen und liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Ohne den Maidan namentlich zu erwähnen, verteidigte der russische Präsident die Stellungnahme seiner Union vom 30. Mai 2014. In keinem Falle sollen die Gläubigen zur Gewaltanwendung gegen irgendeine Partei in einer Auseinandersetzung anstiften. Christus „hat nie zum Krieg gegen irgendjemanden 355

aufgerufen“. Nie forderte er Gewaltanwendung gegen den korrupten, römischen Besatzerstaat. Pastor Smirnow sagte, der Krieg in der Ukraine sei „nicht unser Krieg“. Zwischen den christlichen Gemeinschaften in Russland und der Ukraine gebe es keinen Krieg. „Wir mögen Fragen unterschiedlich werten, aber sie halten uns nicht davon ab, Brüder in Christo zu sein“. Er verwies mehrmals auf die Subjektivität des politischen Diskurses und zitierte ein russisches Sprichwort: „Jeder Mensch besitzt seine eigenen Wahrheiten (prawda), doch nur Gott besitzt die letzte Wahrheit (istina).“ Noch vor Ende der Konfrontation auf dem Maidan im Februar 2014 hatte auch Wjatscheslaw Nesteruk, der damalige Präsident der Baptistenunion der Ukraine, versichert, dass dies nicht „unser Krieg“ sei. Nach dem Maidan fragte dann der Verfasser die baptistische Führung in Kiew mehrmals, ob der gegenwärtige Konflikt weiterhin nicht „ihr Krieg“ sei. Der Äußerung Nesteruks stimmten sie nicht zu. Auf dem letzten Vierjahres-Kongress des russischen Baptistenbundes in Moskau Ende März 2018 war die ukrainische Union nicht vertreten. Doch in einem Brief hatten die Ukrainer die russische Seite aufgefordert, sich für die Stellungnahme auf dem Petersburger Kongress zu entschuldigen. Der ehemalige RUECBPräsident Juri Sipko brachte deshalb den Vorschlag ein, sich von der Stellungnahme vor vier Jahren zu distanzieren. Es wurde stattdessen beschlossen, die Kiewer Bundesleitung zu besuchen. Dies fand dann am 24. und 25. April 2018 statt. Da seit Ende 2014 ein faktisches Moratorium für Gespräche zwischen protestantischen Kirchengremien in der Ukraine und in Russland besteht, lässt sich der Besuch als Durchbruch verstehen. In der ukrainischen Pressemeldung danach riefen die Russen einerseits  – wie üblich  – für die Wiederaufnahme von Beziehungen und eine breit gefasste Zusammenarbeit auf. Die Ukrainer forderten andererseits „eine objektive und wahrhafte Berichterstattung über Ereignisse“. Der Angriff der Meldung auf „Zombifizierung“, „Hybridismus“ und „Post-Wahrheit“ richtet sich offensichtlich gegen alle, die Verständnis für die Position des russischen Staates aufbringen. Ukrainische Baptisten bleiben davon überzeugt, dass sie die Opfer einer Aggression sind. Baptisten weiter östlich orten die ursprüngliche Aggression im einseitigen Maidaner-Aufstand selbst. 356

Kommentar Es liegt keineswegs auf der Hand, dass ein zentralistischer, monistischer Staatsaufbau christlicher sei als ein föderativer, pluralistischer Aufbau – siehe z. B. Tschetschenien innerhalb der Russischen Föderation. Ebenfalls keineswegs zwingend ist die übliche Vorliebe von Protestanten für das westliche Staatensystem. Da der Globus nicht nur aus einem Westen besteht, hat diese Haltung Folgen für die kirchliche Theologie und Politik. Nur denke man einmal an die Bevölkerungszahlen von China und Indien gekoppelt mit der Landmasse Russlands. Eine rein westlich-orientierte Politik spiegelt die globalen Realitäten nicht wider. Fazit: Die ukrainischen Kirchen legen sich auf politische Interpretationen fest, die sich nicht automatisch aus dem Evangelium ableiten lassen. Und wie sollten die Kiewer Baptisten auf jene Millionen auf ukrainischem Boden zugehen, die Russisch sprechen und sich als eine Unterteilung des russischen Gesamtvolkes – Stichwort „Rus“ – begreifen? Die Ostgrenze der Ukraine ist auch keine ethnische Grenzziehung und ist auf die Regierungszeit des Wladimir Lenin zurückzuführen. Noch heute fällt es russischen Protestanten im angrenzenden Raum Rostow-na-Donu schwer, die Ost-Ukraine als Ausland zu akzeptieren. Das Gebiet östlich des Flusses Dnjepr hat sich geschichtlich nur bruchstückhaft zur ukrainischen Nation bekannt. Heute könnte nur eine ethnische Säuberung das Problem im monistischen Sinne „lösen“. Letztlich braucht die Anhänger der Kiewer Politik das Abspalten von Donbass und Krim nicht nur traurig zu stimmen. Der Wegfall dieser Stimmen hat das „ewige“ Hin-und-Her zwischen wechselnden pro-russischen und pro-westlichen Mehrheiten abgeschafft. Im Gegensatz zu früher können heute die pro-russischen Kräfte unentwegt überstimmt werden. Auch deshalb erkennt der russische Staat gewisse Vorteile bei einer Wiedereingliederung der Ost-Ukraine in den Kiewer Staat. Bis 2014 hatten die wechselnden Mehrheiten – einmal pro-russisch, einmal pro-westlich – das innerlich gespaltene Land zusammengehalten. Das ist übrigens noch heute in Rest-Moldawien (ohne Transnistrien) der Fall. Wir Christen sollten uns mindestens darauf verständigen, dass es für den Krieg im Donbass nur eine Lösung am Verhandlungstisch geben kann. Dann haben wir bereits dieselbe, sehr hilfreiche Ausgangsposition. 357

LATEINAMERIKA

Bedeutende Augenblicke in der baptistischen Geschichte Lateinamerikas Dinorah B. Méndez 1. Einführung Es ist wichtig, zu Beginn zu klären, dass der Titel zwar eine Diskussion über bedeutende Augenblicke in der Geschichte der Baptisten verlangt, dass dieser Ausdruck jedoch nicht notwendigerweise in einem triumphalen oder unkritischen Sinn verstanden werden muss. Tatsache ist, dass die Entwicklung des baptistischen Lebens nicht immer positiv oder fortschrittlich war; manchmal war sie statisch oder sogar rückschrittlich. Zumindest ist dies die Realität in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten, vor allem, wenn das Wachstum der Baptisten mit dem der evangelikalen Bewegung gegenübergestellt wird. Zur Illustration mag die Situation in Mexiko dienen, die der Autorin persönlich bekannt ist. Es wäre unehrlich, wenn man nicht erwähnen würde, dass es eine tiefgreifende Krise im Leben der mexikanischen Baptisten gibt. Insbesondere ist diese Krise im institutionellen Leben und auf organisatorischer oder struktureller Ebene offensichtlich. Es erscheint schwierig, die Gründe für diese Krise zu benennen, da eine Reihe von Faktoren die Situation verursacht haben können. Einerseits ist es möglich, kulturelle Bräuche zu benennen, aber auch kritische Probleme in den örtlichen Gemeinden wie mangelnde spirituelle Leitung, Abweichungen in der Lehre sowie ethische Widersprüche. Auf der anderen Seite gibt es viele Ortsgemeinden, die weiterhin standhaft und treu sind, aber manchmal wenig Engagement in der überörtlichen Organisationen der Denomination zeigen. Eine kritische und realistische Untersuchung unserer Geschichte beseitigt oder vermindert jedoch nicht die Freude der Erinnerung an die großen Taten, die Gott in unserer Mitte vollbracht hat, und die wir feiern dürfen. Die Worte einer Freun358

din scheinen sehr angemessen: „Die Gaben, die von unserem Gott Männern und Frauen verliehen wurden, erwecken tiefe Emotionen, während wir über die baptistische Geschichte in Lateinamerika nachdenken.“1 Durch die Erforschung einiger beispielhafter Kämpfe und Errungenschaften lateinamerikanischer Baptisten können wir sowohl unser baptistisches Erbe als auch unsere Identität erkennen und zugleich beides noch mehr schätzen, weil sie in einem ungünstigen Kontext entwickelt und kommuniziert wurden: Die baptistische Bewegung war eine dissentierende, abweichende Religion. Schließlich wird dieser Aufsatz am Ende einige Ideen darlegen, wie Baptisten in Lateinamerika den Herausforderungen und Chancen des 21. Jahrhunderts begegnen können. 2. Höhepunkte in der Geschichte lateinamerikanischer Baptisten Lateinamerikanische Baptisten sollten das Entstehen der baptistischen Bewegung im 17. Jahrhundert feiern, weil sie sich so daran erinnern können, dass sie viel ältere Wurzeln in der Geschichte haben als ihre eigenen Anfänge im 19. Jahrhundert. Sie sollten die Vorteile dieser Erinnerung nutzen, um ihre Geschichte zu überprüfen und das gemeinsame baptistische Erbe zusammen mit der Entwicklung und den Herausforderungen, denen sie sich in ihrem Kontext gegenüber sahen, wertzuschätzen. Darüber hinaus kann eine Feier und historische Reflexion der lateinamerikanischen Prozesse viel mehr bereichert werden, wenn man sich sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede in der Entwicklung der Geschichten von Baptisten auf der ganzen Welt und durch verschiedene Epochen vor Augen hält. Dann sollte die Analyse der lateinamerikanischen Geschichte der Baptisten weniger einseitig, sondern multilateral sein. Eine Geschichte der Baptisten in Lateinamerika zu schreiben, ist hier nicht der Zweck; das ist eine riesige Aufgabe, und nur wenige haben es riskiert, selbst nach Jahren intensiver Forschungen. Die Arbeit von Professor Justo Anderson sticht hervor.2 Andere sind 1

Clelia Machinandiarena, „El Progreso del Trabajo Bautista en América Latina: Argentina,“ persönl. e-mail vom 28. June 2009. 2 Justo Anderson, Historia de los Bautistas, 3 Volúmenes. El Paso, Texas: Casa Bautista de Publicaciones, 1990.

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mehr mit einem regionalen oder lokalen Ansatz befasst. Daher ist der folgende Abschnitt nur eine Auswahl von repräsentativen Fällen einer Geschichte, die fast 200 Jahre alt ist. Der Pionier der baptistischen Arbeit in Lateinamerika war der schottische Baptist Diego Thomson3, der während der Unabhängigkeitskriege (1810–1824) 1818 in Argentinien ankam. Thomson war mit den Anführern der Unabhängigkeitsbewegung auf dem ganzen Kontinent wie José de San Martín aus Argentinien, Bernardo O‘ Higgins aus Chile und Simón Bolívar aus Venezuela befreundet. Die liberalen Ideen der Erziehung waren sehr verschieden von denen der kolonialen Epoche, die von der römisch-katholischen Kirche kontrolliert worden war. Thomson arbeitete für die Britische und Ausländische Schul-Gesellschaft, einer pädagogischen Organisation, die das Monitorialsystem der Bell-Lancaster-Schulen förderte, ein zu jener Zeit fortschrittliches pädagogisches System.4 Thomson war auch mit der Britischen und Ausländischen Bibel Gesellschaft verbunden, so dass er die Verbreitung der Bibel gleichzeitig mit seinen pädagogischen Projekten förderte. Er reiste durch ganz Lateinamerika, von Chile und Argentinien bis nach Mexiko, immer getrieben von den pädagogischen Ideen und mit der Zielvorstellung, eine lateinamerikanische Gesellschaft zu bilden. Anführer der Unabhängigkeitsbewegung und sogar einige liberale Katholiken schlossen sich seinem Projekt an. Das öffnete den katholischen Kontext für eine neue Wirklichkeit und war „irgendwie“ zugleich eine Vorbereitung für die Zeit, als Baptisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ankamen.5 3 Dinorah

B. Méndez, „History and Development of Baptists in Mexico,“ in: Baptist Faith & Witness, Book 4: Papers of the Study and Research Division of the Baptist World Alliance 2005–2010. Hg. von Fausto A. Vasconcelos. Falls Church, VA: BWA, 2011, 57–58. 4 Das Monitorialsystem, das auf den britischen Pädagogen Andrew Bell zurückgeht und von dem Quäker Joseph Lancaster in einer in Southwark gegründeten Schule umgesetzt wurde, beruht darauf, dass erfahrene Schüler jüngere unterrichten sollten („Lernen durch Lehren“) und sie auf diese Weise zu Hilfslehrern heranwuchsen. Die Methode fand Verbreitung in südeuropäischen Ländern und auch in Schweden und der Schweiz, aber nur wenig in Deutschland (Anm. d. Hg.). 5 Vgl. Carlos Martínez-García, James Thomson: Un escocés distribuidor de la Biblia en México, 1827–1830. México: Maná Museo de la Biblia, 2014.

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Trotz dieser gemeinsamen „Vorgeschichte“ haben lateinamerikanische Baptisten eine multilaterale Herkunft oder vielfältige Quellen. Es scheint notwendig, sich jetzt zumindest einigen ausgewählten Fällen zuzuwenden, um die verschiedenen Ursprünge veranschaulichen zu können.6 Ein Pionier der Baptisten in Argentinien war Pablo Besson, ein Gelehrter und Pastor aus der Schweiz, der in Deutschland studiert hatte. Während des Studiums des Neuen Testaments wurde er Baptist. Er war mit Unterstützung des Missionsausschusses der amerikanischen Baptisten als Missionar in Frankreich tätig. In Argentinien und Brasilien wurde eine große Zahl von Einwanderern ansässig, so dass eine Gruppe französischer Einwanderer an Besson schrieb, um einen Pastor anzufordern. Als Besson keinen Kandidaten fand und da er unverheiratet war, entschied er sich, die Einladung selbst anzunehmen. Er verkaufte alles, um die Schiffspassage zahlen zu können, und kam 1881 an, um unter den französischen Kolonisten zu arbeiten. Er traf bald auf katholischen Fanatismus mit einem Monopol auf vielen sozialen Gebieten. So war es nicht-katholischen Bürgern verboten, Friedhöfe zu benutzen. Diese Konfrontation motivierte ihn zu seinem Kampf für Religionsfreiheit. Stets bemühte er sich um ein Gleichgewicht zwischen seinen Aufgaben als Pastor und Evangelist mit seiner herausragenden Tätigkeit als angesehener und engagierter Politiker und Journalist.7 Im Fall Brasiliens kamen Immigranten aus dem Süden der USA, um dem Bürgerkrieg zu entgehen. Sie baten 1871 die Southern Baptist Convention, Pastoren und Missionare zu entsenden, damit diese seelsorgerlich und evangelistisch tätig würden. Daraufhin kam 1881 die Familie Bagby, und ein Jahr später die Familie Taylor. Eine Einwanderungswelle seit 1892 brachte Baptisten aus Deutschland, Ungarn, Litauen und Bulgarien nach 6

Einigen Freunden bin ich dankbar für Informationen, die ich in diesem Abschnitt verarbeitet habe: Samuel Escobar, „Los Bautistas y la Misión Cristiana“, unveröffentliches Referat, 30–34; Clelia Machinandiarena, e-mail; die beiden folgenden Referate wurden im April 2009 auf der RIBET-UBLA Konferenz in Lima, Peru gehalten: Pablo Moreno, „History and Baptist Tradition in Latin America: An Indigenous Reading in Recognition of 400 years of Worldwide Baptist History“; Raúl Scialabba, „La Libertad Religiosa en la Sociedad Plural de América Latina“. 7 Scialabba, op. cit.

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Brasilien; deren Gemeinden arbeiteten mit den einheimischen Gemeinden zusammen und bildeten regionale Verbände. Das Jornal Batista wurde seit 1901 herausgegeben und erfüllte eine wichtige erzieherische und die Gemeinden verbindende Aufgabe. Die brasilianische Baptistenkonvention wurde am 22. Juli 1907 ins Leben gerufen. Die Missionare James Hickey und Thomas Westrup waren Pioniere der baptistischen Arbeit in Mexiko; sie begannen ihren Dienst vor 1860 und gründeten 1864 die erste baptistische Gemeinde des Landes in Monterrey zu einer Zeit, als Religionsfreiheit unbekannt war. Nach der Verabschiedung neuer Gesetze, einschließlich eines zur Religionsfreiheit (obwohl es bloße Toleranz statt Religionsfreiheit billigte), kamen Missionare von den nördlichen und südlichen Baptisten, um die Arbeit auszubauen. Am 13. September 1903 wurde die National Baptistische Konvention von Mexico organisiert. Seit 1885 erscheint die Zeitschrift La Luz Bautista.8 Die südamerikanischen Länder Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien bilden eine Region, die durch einen erzkonservativen Katholizismus und eine zutiefst populäre und indigene Religiosität geprägt war. Kanadische Baptisten schickten 1899 den ersten Missionar, Archibald B. Reekie, nach Bolivien. Er versuchte, Auseinandersetzungen mit Katholiken zu vermeiden und begann seine Arbeit als Erzieher von Kindern und Jugendlichen, die Inter­esse zeigten, Englisch zu lernen. Dies brachte ihn in Kontakt mit liberalen Politikern. In anderen Teilen des Subkontinents wurde eine ähnliche Vorgehensweise zur Erreichung religiöser Ziele angewandt; sie war ein zentraler Aspekt für die frühe Entstehung des Baptismus in Lateinamerika. Die Arbeit von Reekie wurde gut aufgenommen, und weil er nie vergaß, seine evangelistische Aufgabe Hand in Hand mit seiner pädagogischen Arbeit durchzuführen, begannen neue Gemeinden zu entstehen. Eine interessante Qualität der kanadischen Missionare war ihre große Initiative in der Evangelisation und ihre Entschlossenheit, diese Vision an die nationalen Leitungen weiterzugeben. So wurde 1936 die bolivianische Baptistische Union gegründet, und eines

8

Méndez, op. cit., 59–64.

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ihrer ersten Projekte war die Missionsarbeit in den Zentren für den Abbau von Mineralien.9 Eine große Ähnlichkeit zwischen den Anfängen der baptistischen Bewegung in Holland und den Anfängen in Lateinamerika besteht in dem anhaltenden Kampf für Religionsfreiheit, der mit den ersten Baptisten im 17. Jahrhundert begann und sich als ein leitendes Prinzip der ersten Baptisten in Lateinamerika zeigte. Viele Bahnbrecher des Baptismus erreichten den Subkontinent, als zeitgleich der liberale Idealismus des 19. Jahrhunderts die Eliten der Unabhängigkeitsbewegungen für die Freiheit ermutigte. An verschiedenen Orten versuchten später einige Radikalliberale eine Einschränkung oder Beseitigung der Privilegien des Katholizismus in den neuen unabhängigen Ländern zu erreichen. Dieser Blick in die Geschichte der lateinamerikanischen Ur­­ sprünge des Baptismus, obwohl nur in wenigen und gegensätzlichen Einzelfällen vorgestellt, zeigt die gemeinsamen Wurzeln der Baptisten in Lateinamerika und der ersten Baptisten in Holland. Eine andere Möglichkeit, diese Verbindung zu betrachten, besteht darin, auf die baptistische Identität und das Erbe zu ­blicken, und beide Merkmale durch die Erforschung der Kämpfe und Errungenschaften der lateinamerikanischen Baptisten in einem sehr schwierigen Kontext schätzen zu lernen. 3. Ein Rückblick auf die Entwicklungen des Baptismus in Lateinamerika Kann eine weitere Verbindung zwischen der Geschichte der baptistischen Bewegung, die in Holland entstand und sich vor über 400 Jahren nach England ausbreitete, und der Entstehung und Verbreitung der Baptisten in Lateinamerika gezogen werden? Ein Band, das diese Geschichten unterschiedlicher Zeiten und Orte verbindet, ist die gemeinsame und identische Erfahrung von Verfolgung und Intoleranz, aber zugleich der Mut, die sozio-­ religiöse Ordnung durch die Verkündung neuen Lebens, die Praxis der gemeindlichen Demokratie und die Betonung der Trennung von Kirche und Staat in Frage zu stellen. Dies alles ermöglicht es uns heute, sich daran zu erinnern und dies für 9

Moreno, op, cit., 2–3.

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unsere kollektive Erinnerung zu bewahren. So erhalten wir Antworten auf die Fragen, woher wir kamen und wie wir zu dem wurden, was wir sind.10 In nahezu allen lateinamerikanischen Ländern ist der Einfluss der katholischen Kirche seit der spanischen Eroberung im 16. Jahrhundert bis heute unbestritten. Die Ankunft der Baptisten und anderer evangelischer Christen im 19. Jahrhundert traf auf die rohe Realität der Intoleranz, der verbalen Aggression und in vielen Fällen, wie in Kolumbien, México und anderen Orten, auf physische Verfolgung. Diese Vorgeschichte hat die lateinamerikanischen Baptisten bis heute in ihrem Kampf um Religionsfreiheit geprägt, was sich viele Male in einem tiefgreifenden Anti-Katholizismus gezeigt hat. Die Verfasserin möchte erwähnen, dass sie sich dessen bewusst ist, in jüngster Zeit auf einige Kolleginnen und Kollegen dieses Kontinents getroffen zu sein, die Hoffnung auf bessere Beziehungen mit der katholischen Kirche hegen. Zum Beispiel gibt es durch UBLA (die Latein-Amerikanische Baptistische Union) und durch die Dialoge zwischen dem Baptistischen Weltbund und dem Vatikan viele neue Ansätze. Es ist auch notwendig zu sagen, dass die katholische Kirche vielfältig ist, und Baptisten aus anderen Regionen nicht die gleiche Art des Katholizismus gekannt haben, der in Lateinamerika erlebt wurde, und vielleicht besonders in Mexiko. Zum Beispiel kommentierte Dr. Paul Fiddes,11 dass die Katholiken für die englischen Baptisten Verbündete und sogar Freunde in der Geschichte waren und zusammen für Religionsfreiheit gegen die offizielle Church of England gekämpft haben. Er machte dieser Verfasserin klar, den großen Unterschied zwischen seinem und ihrem Kontext zu erkennen. Zugleich ist es angebracht, die seltsame Art zu erwähnen, mit der die katholische Kirche im Verlauf der Geschichte den Grundsatz der Religionsfreiheit interpretiert hat. In Zeiten und Orten, wann und wo die Kirche an der Macht war, hat sie diese Freiheit verurteilt (Pius IX, 1846) und natürlich Nicht-Katholiken verweigert, während in Zeiten und Orten, wann und wo dieser Kirche die Macht fehlte, verteidigte sie die Praxis, vor allem für sich. Das Prinzip kann 10

Escobar, op. cit., 40. Paul Fiddes, Ph. D., Former Director of Regent’s Park College, Oxford University. Persönliches Interview, Oxford, UK, September 2007. 11

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wie folgt zusammengefasst werden: Wenn die katholische Kirche in der Mehrheit ist, gewährt sie anderen so wenig Toleranz wie absolut notwendig, wenn sie jedoch in der Minderheit ist, verlangt sie für sich so viel Freiheit wie irgend möglich. Obwohl es möglich ist, die interkirchlichen Neuansätze zu würdigen, die geschwisterliche Beziehungen und den gemeinsamen und echten Kampf zugunsten von Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit hervorgebracht haben, muss man anerkennen, dass viele lateinamerikanische Baptisten diese Beziehungen immer noch mit Misstrauen beäugen. Dies gilt vor allem, wenn die Aggression der katholischen Kirche nicht nur eine Sache der Vergangenheit ist, sondern wenn sie heute an vielen Orten ihre Kraft erneuert und ihre wirtschaftliche, politische und soziale Macht, einschließlich ihrer Kontrolle über Volk und Staat wieder zu erlangen sucht, um frühere Privilegien zu bekommen. Zumindest ist dies in Mexiko geschehen, und aus Sicht dieser Realität ist dieser Artikel verfasst.12 Besonders ist zu bedenken: Wenn die Geschichte der lateinamerikanischen Baptisten im Zusammenhang mit der Feier der baptistischen Geschichte bedacht wird, darf der lateinamerikanische Kontext nicht minimiert oder vermindert werden, sondern muss in vollem Umfang Berücksichtigung finden. Manchmal wird die Kontroverse mit der katholischen Kirche als etwas längst Vergangenes betrachtet oder so, als ob diejenigen, die sich daran erinnern, von einer traumatischen Vergangenheit 12 Im

Augenblick der Bearbeitung dieses Artikels für die Veröffentlichung im Februar 2016, lebte ein Widerspruch von Prinzipien und Praktiken in Mexiko wieder auf, in einem Land also, das auf eine lange und starke Tradition der Laienbeteiligung und der Trennung von Kirche und Staat zurückblickt. Es erhielt einen weiteren Besuch (vom 12. bis 17. Februar 2016) des Papstes Franziskus, nicht nur in seiner Eigenschaft als Haupt des Vatikanstaates, sondern als Leiter einer bestimmten Kirche. Die Regierung war in vollem Umfang an der Rezeption, Feier und Finanzierung dieses Besuchs beteiligt. Dies wäre nicht das Schlimmste für religiöse Minderheiten, aber nur zwei Wochen vor dem Besuch wurde eine Gruppe von zehn Familien verfolgt und aus ihrer ethnischen Gemeinschaft in der Provinz Jalisco ausgewiesen, nur weil sie baptistische Gläubige sind. Weder die lokale noch die nationale Regierung haben etwas gegen diese Verletzung der Menschenrechte und der Religionsfreiheit unternommen, obwohl beides im mexikanischen Recht verankert ist. Dies ist ein kleines Beispiel für den Mangel an Respekt vor Minderheiten und für die Macht der katholischen Kirche in diesem Land. Trotz bestehender Gesetze sprachen die Tatsachen dagegen.

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gequält werden. Tatsächlich versuchen einige Lateinamerikaner, dieses Thema zu ignorieren oder zu vermeiden und so zu tun, als ob die Auseinandersetzung nie stattgefunden hätte. Andere meinen, es sei notwendig, diese Vergangenheit zu überwinden, zu vergeben und zu versuchen, sich vorzustellen, dass solche Verletzungen nie eingetreten seien; sie vermuten, dass Vergeben und Vergessen für die Dialoge und die neuen Ansätze notwendig sind. Nach meiner Meinung zeigt die Geschichte, dass diejenigen, die sie vergessen, dazu verurteilt sind, die gleichen Fehler wie ihre Vorfahren zu wiederholen. Darüber hinaus ist es absurd, etwas zu leugnen, das durch unsere Geschichte belegt ist und daher unsere Identität beeinflusst und das lateinamerikanische Erbe der Baptisten geprägt hat; dieses Erbe verbindet uns auch mit dem über 400jährigen Erbe des Baptismus als einer freien und abweichend-„dissidenten“ Gemeinschaft von Ortskirchen. Andererseits, wenn wir in unserem kollektiven Gedächtnis die Erinnerung an den Kontext, in dem die ersten Täufer auf diesem Kontinent gelebt haben, und den Kontext, in dem wir heute leben, lebendig erhalten wollen, wäre diese Erinnerung ein Hindernis für den Dialog mit Menschen anderen Glaubens oder nicht? Wiederum ist es unerlässlich, eine ständige Neubewertung dieses Kontexts vorzunehmen, um unser Erbe und unsere Identität als Baptisten in Lateinamerika zu pflegen. Es ist nicht minder wichtig, unsere baptistischen Geschwister aus anderen Regionen zu bitten, die Besonderheiten unseres Kontextes zu verstehen, wenn globale Projekte auf den Weg gebracht werden. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil an vielen Orten Lateinamerikas der Kampf um religiöse Freiheit nicht nur ein Unterfangen des 19. und 20. Jahrhunderts war, sondern fortgesetzt werden muss, da Religionsfreiheit wegen der mächtigen und dominierenden römisch-katholischen Kirche erreicht wurde. Ein weiteres Sinnbild unseres kulturellen Erbes ist der Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat. In den meisten unabhängig gewordenen Ländern Lateinamerikas war es möglich, diesen Grundsatz in ihr Zivilrecht aufzunehmen, zumindest seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In den meisten Fällen wurde die Trennung jedoch nie praktiziert, da die Allianzen zwischen Katholizismus und Regierungen der verschiedenen Länder seit dem Ende des Jahrhunderts bis heute unversehrt geblieben sind. Aus diesem Grund sollten lateinamerikanische Baptisten die 366

neuen Vereinbarungen zwischen einigen Regierungen und einigen Kirchen aufmerksam verfolgen. Heutzutage geschieht dies nicht nur mit der katholischen Kirche, sondern auch mit einigen sogenannten Mega-Kirchen aus der neo-pfingstlichen Bewegung. Zusätzlich zu jenen Kämpfen gesellte sich als Vermächtnis unseres baptistischen Erbes die Praxis der ortsgemeindlichen Demokratie. Die Errichtung und Struktur demokratischer Ge­­ meinden im Kontext autoritärer Regime ist ein wichtiger Beitrag. Die Baptisten appellierten an den freien Willen der Individuen, Christus anzunehmen und als Gläubige getauft zu werden und schufen damit Gelegenheit für die Praxis der Demokratie in den Gemeinden. Durch die ortsgemeindliche Demokratie hatten alle Mitglieder Zeit für Diskussionen über Ideen und Projekte, und man bot allen Gelegenheit, sich zu beteiligen und ihre Meinungen zu äußern. Diese Praxis war nicht nur zum Wohle der Kirche, sondern auch der Gesellschaft und erwies sich als ein alternatives Modell, von dem viele der demokratischen Ideen auf dem Kontinent gefördert wurden.13 Es ist notwendig klarzustellen, dass dieses kongregationalistische Modell von den Missionaren, die die lateinamerikanischen Kirchen gründeten, gelehrt und in die Praxis umgesetzt wurde. Es wurde jedoch nicht überall in einheitlicher Weise angewandt. Das Hauptproblem, das der Kongregationalismus in Lateinamerika hatte, ergab sich aus dem Zusammenstoß mit der Realität des Kontextes, wie sie sich durch Kolonialismus und Katholizismus sowie dem autoritären und hierarchischen Modell der lateinamerikanischen Gesellschaft ergab. Der Tendenz zu einer autoritären Führung und Geringschätzung gemeindlicher Teilnahme steht so dieses baptistische Merkmal gegenüber. Es ist zwar ein Problem der Lehre, aber auch des Kontextes, in dem die Demokratie eingeschränkt oder sogar aufgehoben ist. Dieser Überblick ausgewählter Elementen des baptistischen Erbes in Lateinamerika erlaubt eine Bewertung dieses Erbes und der Entwicklung der baptistischen Arbeit, indem wir uns die Schwierigkeiten und den Fortschritt vor Augen halten, wie sie sich kontextuell ergeben haben. Zugleich stellen sie einige Themen für das Nachdenken bereit und zeigen einige herausfordernde Aufgaben und Chancen, um im 21.  Jahrhundert 13

Moreno, op. cit., 4–5.

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weiterhin als Baptisten existieren zu können. Dabei ist es wichtig, uns einzugestehen, dass wir uns nicht immer der Perspektiven bewusst gewesen sind, denen wir in diesem Jahrhundert gegenüberstehen, und wir müssen über die aktuellen Veränderungen nachdenken, die in Gesellschaft und Kirche vor sich gehen. 4. Herausforderungen und Chancen Lateinamerikanischer Baptisten im 21. Jahrhundert: Pentecostalismus, ­ Neo-Pentecostalismus und Post-Denominationalismus Eine der religiösen Hauptbewegungen in Lateinamerika während des 20. Jahrhunderts war die Pfingstbewegung (Pentecostalismus) und die jüngste religiöse Welle, die Neo-Pentecostalismus genannt wird. Die Pfingstbewegung erreichte ihr demografisches Wachstum in den 1960er und 1970er Jahren. Während dieser Zeit bestanden zwischen ihr und dem historischen und evangelischen Protestantismus angespannte Beziehungen. Mit dem Aufkommen des Neo-Pentecostalismus haben wir jedoch innerhalb unseres religiösen Rahmens eine neue Weise der Beziehungen kennen gelernt, weil es nicht nur Spannungen gibt, sondern diese manchmal von denen kommen, die ein Interesse daran haben, den religiösen Rahmen zu homogenisieren in eine vorgeschlagene „Einheit des Leibes Christi“. Es ist ein ähnlicher Vorschlag zur Vision der Einheit, wie der von Katholiken in vielen Sitzungen und Konferenzen vorgeschlagene. So ist der Neo-Pentecostalismus nicht einfach eine andere Denomination, sondern eine eher quer laufende Kraft, die alle Denominationen durchkreuzt; der Einfluss schließt Gottesdienst und Theologie ein, wobei die Gefühle, nicht aber der Verstand betont werden, dazu eine einfache und leichte Verkündigung für die Konsumgesellschaft, einen Schwerpunkt auf dem materiellen Wohlstand für Gläubige und einen fest verankerten Vorschlag für die politische Eroberung als ein Mittel, die Gesellschaft zu christianisieren. Diese Art der religiösen Bewegung ist auch in Baptistengemeinden angekommen und hat sie beeinflusst. Die verschiedenen Reaktionen könnten gegenteiliger nicht sein. Einerseits findet man eine totale Ablehnung jedweder Veränderungen, was einen Rückzug in eine Art Traditionalismus als eine Form des Schutzes vor Veränderung mit sich gebracht hat. Veränderungen werden 368

als zerstörerisch empfunden. Diese Gemeinden scheinen nicht alles auf eine Karte zu setzen, um ein sensationelles Wachstum oder Änderungen hin zu zeitgenössischen Gottesdienststilen zu erreichen; es sind Gemeinden mit einem ruhigen Sinn für Wachstum, für Lobpreis und Treue zum Herrn, wie es immer war. Andererseits gibt es diejenigen, die versichern, die neopfingstliche Welle als eine große Erneuerung und als zeitgenössischer Ausbruch des Heiligen Geistes, als eine neue große Erweckung erhalten zu haben. Infolgedessen hat sich in jenen Gemeinden alles geändert. Der Name „Baptist“ gehört für einige ebenso wie das Gesangbuch der Vergangenheit an; die kongregationalistische Ordnung ist eine Krankheit, die schließlich überwunden werden muss. Der Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat ist irrelevant, weil es notwendig ist, in der Politik aktiv und in der Gesellschaft „an der Macht“ beteiligt zu sein. Armut ist ein Fluch, und Krankheiten gehen auf dämonische Handlungen zurück. Wegen der Relevanz für die Person fühlen sich viele von diesen Gemeinden als Alternativen angezogen. Eine der Folgen der neopfingstlichen Bewegung mit ihrer Fähigkeit, über die denominationellen Grenzen hinaus zu dringen, ist die Förderung eines postkonfessionellen Zeitalters, was durch den Gebrauch des Namens „Christ“ ohne „Nachnamen“ (Baptisten, Methodisten, Presbyterianer, usw.) charakterisiert ist. Diese neuen Gemeinden erklären, der Leib Christi unter der Einheit eines pastoralen Stabs von Mitarbeitern zu sein; sie fördern die Anwesenheit der Kirche in der Gesellschaft durch politische Handlungen und mit dem Ziel, die komplette Gesellschaft zu „christianisieren“. Diese Bewegung ist auch durch das „Wohlstands-Evangeliums“ gekennzeichnet, weshalb sie sich in Teilen des Mittelstands und der unteren Oberschicht einfügen konnte, ohne indes ihr Engagement für die Armen völlig aufzugeben; obwohl diese Theologie mit der Existenz der Armen nicht vereinbar ist, versucht die Bewegung, diese Realität auf eine geistliche Weise zu überwinden. Außerdem versucht sie, spezifische Pläne für den strategischen „geistlichen Krieg“ und die Eroberung von Stadtteilen aufzustellen. Die denominationellen Organisationen gelten als unzweckmäßig, langsam, traditionell und bürokratisch; man überlässt sie lieber sich selbst. Theologisch betont man eine einfache Theo369

logie, ohne den tiefen und komplizierten Diskussionen und Kontroversen in Lehrfragen viel Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Bewegung konzentriert sich mehr auf den Erfahrungsbereich als auf vernunftgeleitete Theologie.14 Deshalb vertreten der Neo-Pentecostalismus und sein Partner, der Nach-Denominationalismus, ein neues Szenarium und die Herausforderung für Baptisten, ihre eigene Identität nochmals zu überprüfen. Was bedeutet es, in einer Welt Baptist zu sein, in der diese Identifizierung oft minimiert wird oder völlig abgenommen hat? Es ist wahrscheinlich, dass viele unserer denominationellen Organisationen nicht länger überleben werden, ohne Änderungen vorzunehmen, aber um welche Änderungen geht es? Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass das Zeitalter, in dem wir leben, „postmodern“ genannt und durch schnelle Veränderungen charakterisiert wird, deren Auswirkungen relativ und vergänglich sind. Deshalb müssen wir in diesen Augenblicken des Rückblicks den vorläufigen Charakter unserer sich verändernden Realität bedenken, um Antworten auf die Herausforderungen und Chancen zu geben, denen wir gegenüberstehen, jedoch ohne die Grundsätze über Bord zu werfen, die unser Erbe und unsere Identität ausmachen. 5. Die sozio-ökonomische und politische Lage in Lateinamerika Die wirtschaftliche und politische Situation in Lateinamerika ist eine andere Realität, die von Baptisten als eine der großen Herausforderungen Antworten verlangt. Die weltweite sozioökonomische Realität ist eine Krise, die Lateinamerika betrifft, aber nicht als ein neues Ereignis. Seit Jahrzehnten ist der Kontinent durch skandalöse Armut und Ungleichheit gekennzeichnet, obwohl wir auf einem Kontinent leben, der seit Jahrhunderten „christlich“ gewesen ist. Als ob das nicht genug wäre, gab es verschiedene Wellen des Christentums, die nacheinander gekommen sind, um den vorherigen Rahmen und den damit verbundenen Dienst zu erneuern. Vielleicht gibt es in Lateinamerika mehr christliche Kirchengebäude pro Quadratkilometer und pro Einwohner als auf ande14

Zu diesem Abschnitt vgl. Pablo Moreno, op. cit., 7–8.

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ren Kontinenten, aber ebenso gibt es in demselben Verhältnis Armut und Elend. Hier liegt ein Missionsbefehl für Baptisten: Es ist die Herausforderung, im täglichen Leben unsere theologische Identität zu praktizieren. Diese wirtschaftliche Gegebenheit wird durch ein politisches Durcheinander begleitet. Als Antwort auf dieses Problem probiert die Regierungselite ein Regierungsmodell nach dem anderen aus. Derzeit herrscht das Modell „des starken Mannes“ („Caudillo“) vor, manchmal sogar mit Ausbrüchen zum Führerprinzip. Baptisten verwalten ein kongregationalistisches Erbe, das, während es nicht immer funktioniert und alle Probleme löst, dennoch Grundsätze enthält, die mit dem Konzept der „Caudillo“-­Führung oder des autoritären Führerprinzips Schluss machen, was in dieser Zeit nicht nur in der Gesellschaft, sondern sogar auch in unseren Kirchen hoch gehalten wird. Die Praxis dieses Modells der Kirchenverfassung muss durch die Wiedergewinnung anderer Teile unseres Erbes begleitet werden, nämlich der Grundsätze der Gleichheit und Gerechtigkeit, die als grundlegend anerkannt werden sollten. Diese Grundsätze sollten als logische Folgen des geistlichen Prinzips des Priestertums aller Gläubigen gelten. 6. Herausforderungen und Chancen christlicher Mission in Lateinamerika Schließlich ist eine Herausforderung, die gleichzeitig eine Chance ist, das Missionsfeld. Die Missionstätigkeit ist in den 400  Jahren der baptistischen Geschichte immer ein Unterscheidungsmerkmal gewesen, das nicht nur auf unserer Theologie fußt, sondern auch in unserem geistlichen Glauben verwoben ist. Heute sind die geistlichen Nöte und religiösen Verwirrungen eine allgemeine, weltweite Realität, und Lateinamerika bildet keine Ausnahme. Menschen suchen nicht nur materiell, sondern auch geistlich nach Antworten; sie suchen nach Zufluchtsorten, nach Heilung, ja sogar nach Normalisierung, um das Leben fortzusetzen oder den Sinn des Lebens zu finden. Daher ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um die Herausforderung und Chance wahrzunehmen, das Evangelium auf eine ganzheitliche Weise in Lateinamerika zu teilen. Das bedeutet, das ganze Evangelium mit allen seinen Implikationen für die ganze 371

Person im lateinamerikanischen Kontext zu bieten und dabei der Versuchung widerstehen, das Evangelium mundgerecht für den Konsum zu verkünden, ohne Bekehrung, ohne radikale Nachfolge und ohne ein soziales Engagement. Von unserem baptistischen Erbe können wir lernen, wie man diese Fehler vermeidet, weil seit den Anfängen die ersten Baptisten versucht haben, die ganze Botschaft des Evangeliums trotz materieller oder kultureller Barrieren an geistlich arme Menschen zu verkündigen.15 Ein anderer Faktor in diesem neuen Jahrhundert ist außerdem das Phänomen, das Globalisierung genannt wird, was eine planetarische Kultur bedeutet und auf dem Gebiet der Religion zur Folge hat, dass Dialoge und Analysen von Überzeugungen gläubiger Menschen verschiedener Religionen und Kontinente stattfinden. Eine Herausforderung dieser Realität ist der Relativismus des religiösen Pluralismus, aber bezüglich unseres globalen Gewissens gegenüber der Mission und unseres Feierns von 400 Jahren baptistischen Lebens können wir uns als lateinamerikanische Baptisten an eine Herausforderung erinnern, dass nämlich die Mission heute nicht mehr monozentrisch ist, die aus Europa oder den Vereinigten Staaten „zu uns an die Enden der Erde kommt“, sondern multizentrisch, die von vielen Zentren bis an „viele Enden der Erde“ kommt. Die Missionsbewegung geht nicht mehr von einem Zen­ trum, sondern von vielen Zentren aus. Dazu kommt, dass auch die eine Methode, Mission zu treiben, von vielen Methoden abgelöst wurde. Erst vor Kurzem haben lateinamerikanische Baptisten mit ihrer eigenen Geschichte begonnen, Missionare mit diesen Eigenschaften auszusenden, und indem sie dies taten, war es ihnen möglich, an einem wichtigen Teil unseres Erbes teilzunehmen.16 In diesem 21. Jahrhundert stehen viele Kirchen aktiv in der Missionsarbeit, nicht nur in Lateinamerika, sondern viel mehr noch in Asien und Afrika, wo Armut, Ungleichheit und Ungerechtigkeit vorherrschen. Trotz der widrigen Verhältnisse sind dort neue Formen christlicher Mission entstanden. Mehr noch: Diese neuen missionarischen Formen bilden eine neue und wirkliche Herausforderung für die ehemaligen Zentren in Europa und den USA, woher die Missionare einst ausgesandt wurden. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass in Europa und zu einem geringeren Grad 15 16

Escobar, op. cit., 39. Moreno, op. cit., 10.

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in den USA eine nachchristliche kulturelle Situation entstanden ist, in der selbst gut etablierte Kirchen dabei sind, rapide ihren Einfluss in ihren Gesellschaften zu verlieren. Einige Beobachter sagen, dass in jenen Ländern eine neue Art heidnischen Lebens mit wenigen Anzeichen des Christlichen auf dem Vormarsch ist.17 Dagegen ist es unentbehrlich, dass die Evangeliumsverkündigung einhergeht mit einer echten Übergabe des Lebens an Jesus Christus und zwar auf solche Art und Weise, dass jeder Glaubende einen neuen Lebensstil ergreift, damit Nicht-Glaubende wirklich angezogen und am Evangelium Gefallen finden. Wir müssen erkennen, dass die ersten Baptisten eine solche Qualität des christlichen Lebens hatten und ihr umgestaltetes Leben sie dazu brachte, sogar zum Leiden bereit zu sein. Sich zu erinnern und zu feiern bilden eine Herausforderung, die uns mit der Chance konfrontiert, die Bindung an unser Erbe zu erneuern. 7. Schlussfolgerungen Für lateinamerikanische Baptisten ist die 400-Jahr-Feier der baptistischen Geschichte eine Chance, uns in dieser Geschichte wieder zu erkennen, uns darin zu verorten und unser Erbe und unsere Identität als wertvoll und wirksam zu würdigen. Seit fast zwei Jahrhunderten gibt es auf dem lateinamerikanischen Kontinent das baptistische Zeugnis, das verschieden bewertet wird. Viele anerkennen seinen Einfluss mit unterschiedlichen Einschätzungen: Wir werden anerkannt als gebildete Menschen, mit einer guten Organisation in unseren Gemeinden, zeigen Interesse an der Mission, und bestehen auf der Gläubigentaufe durch Untertauchen (Immersion), auf Religionsfreiheit sowie der Trennung von Kirche und Staat. Wir werden jedoch auch als exklusive Gruppen wahrgenommen mit einem Mangel an sozialem Engagement und einer zweideutigen politischen Position wegen unseres Grundsatzes der Trennung von Staat und Kirche.18 Auch wenn wir das Recht haben, als Denomination weiter zu existieren und unser Erbe und unsere Identität zu pflegen, stehen die lateinamerikanischen Baptisten heute vor gewaltigen 17 18

Escobar, op. cit., 40. Moreno, op. cit., 14.

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Herausforderungen, die ein Zusammenwirken erzwingen, um Vorkehrungen für das 21. Jahrhundert zu treffen. Das charismatische Merkmal der neopfingstlichen Bewegung stellt eine Gefahr für unser Grundprinzip der Herrschaft Christi dar. Das ist so, weil in der neopfingstlichen Bewegung die Autorität bei der charismatischen Führung und der charismatischen Erfahrung der Gläubigen liegt; das Christus-zentrierte Grundprinzip unserer Gemeinden geht so automatisch verloren. Selbst einige Baptisten halten fest, dass die Teilnahme an interkonfessionellen oder ökumenischen Bewegungen kein Risiko enthält; in Lateinamerika müssen Baptisten jedoch sorgfältig da­ rauf bedacht sein, dass solche ökumenischen Ansätze die Integrität des gemeindlichen Grundsatzes unseres Erbes nicht betreffen, insofern es noch notwendig ist, die Identität durch den Gegensatz zu den Unterschieden anderer Kirchen herzustellen. Es ist auch gesagt worden, dass der kulturelle Kontext des lateinamerikanischen Kontinents einen willkürlichen, autoritären und hierarchischen Führungsstil fördert. Deshalb besteht weiterhin die Herausforderung, die Praxis der kongregationalistischen Ordnung, gestützt auf das Priestertum aller Gläubigen, aufrecht zu erhalten. Es ist auch gesagt worden, dass viele Länder in Lateinamerika Gesetze haben, die Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Kirche vorsehen. Es ist jedoch nötig, dass Baptisten, die bei dem Ringen zum Erreichen dieser Gesetze beteiligt waren, den gegenwärtigen Kampf nicht vernachlässigen, diese geschriebenen Gesetze auch in die Praxis umzusetzen, weil gegen diese Prinzipien in der politischen Wirklichkeit immer wieder verstoßen wird oder sie sogar verneint werden. Wir sollten Wert darauf legen, dass diese baptistischen Besonderheiten unseres Erbes nicht nur von den Regierungen, sondern auch intern in unseren Gemeinden respektiert werden. Schließlich sollten lateinamerikanische Baptisten in ihrer Treue zu dem missionarischen Auftrag, der eine andere Besonderheit unseres Erbes ist, wachsen. In dem neuen Kontext einer globalisierten Welt, die verzweifelt die Gute Nachricht nötig hat, können wir daher nicht nur das ganze Evangelium auf unserem Kontinent teilen, sondern auch fortfahren, dem Missionsbefehl nachzukommen, „bis an die Enden der Erde zu gehen“.

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Literatur: Anderson, Justo, Historia de los Bautistas, Tomo III, (El Paso, TX: Casa Bautista de Publicaciones), 1990. Bastián, Jean Pierre. Historia del Protestantismo en América Latina, (Méxi­ co, D. F.: Ediciones CUPSA), 1986. Deiros, Pablo A., Historia del Cristianismo en América Latina, (Buenos Aires: Fraternidad Teológica Latinoamericana), 1992. Deiros, Pablo A., Historia del Protestantismo en América Latina, (Nashville, TN: Editorial Caribe), 1997. Martínez-García, Carlos, James Thomson, un escocés distribuidor de la Biblia en México, 1827–1830, (México: Maná Museo de la Biblia), 2014. Méndez, Dinorah B., „History and Development of Baptists in Mexico,“ in: Baptist Faith & Witness, Book 4: Papers of the Study and Research Division of the Baptist World Alliance 2005–2010, hg. von Fausto A. Vasconcelos, (Falls Church, VA: BWA), 2011. Moreno, Pablo, „History and Baptist Tradition in Latin America: An Indigenous Reading in Recognition of 400 years of Worldwide Baptist History,“ unpublished paper presented to RIBET-UBLA Assembly in Lima, Perú, April 2009. Scialabba, Raúl, „La Libertad Religiosa en la Sociedad Plural de América Latina,“ unpublished paper presented in UBLA Assembly, Lima, Perú, April 2009.

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Herausforderungen für die Baptisten in Argentinien Tómas Mackey Die Ursprünge der ersten Baptisten, die in Argentinien ankamen, lagen in Europa und Amerika. Gleichwohl sollte man im Auge haben, dass die Arbeit der Baptisten in Argentinien schon sehr früh in ihrer Geschichte durch eine solide und effiziente lokale Führung bestimmt wurde. Dies war entscheidend für die weitere Entwicklung. Die erste baptistische Gemeinde in Argentinien wurde 1865 von walisischen Einwanderern gegründet, die sich im ChubutTal in den Tiefen Patagoniens im Süden des Landes niederließen. Wenig später lud die Gruppe Pastor William Rhys Casnodyn ein, der sein Amt lange Zeit ausübte und von der Gemeinschaft hoch angesehen wurde. Leider hatte die Gruppe ein tragisches Ende. Sie wurde 1899 in einer Flut weggefegt; die Überlebenden zerstreuten sich und schlossen sich anderen Kirchen an. Daher kann sich heute keine Gemeinde auf diese Gruppe zurückführen. Pablo Besson, ein französisch-schweizer Missionar, kam 1881 ins Land. Er ließ sich in Esperanza in der Provinz Santa Fe in einer der ersten Kolonien nieder, die aus Schweizern, Franzosen und Deutschen bestand. Wenige Jahre später zog Besson nach Buenos Aires, wo er 1883 eine Gemeinde gründete, die bis heute existiert und damit die älteste des Landes ist. Seinen hervorragenden akademischen Hintergrund nutzte Besson, um eine spanische Übersetzung des Neuen Testaments anzufertigen. Er schrieb viele Artikel zur Frage der Gewissensfreiheit, die von den angesehensten und bedeutendsten Zeitungen seiner Zeit veröffentlicht wurden. Er war ein unermüdlicher Kämpfer für die Rechte, die aus der Religionsfreiheit folgen, was ihn zu einem Vertreter großer Veränderungen werden ließ. 1894 kamen Deutsche aus Russland und begannen eine bis heute andauernde intensive Arbeit mit sehr guten Ergebnissen. Nach der kommunistischen Revolution kam eine große Zahl von Slawen (Russen, Polen, Ukrainer) in Argentinien an und gründeten wie die Deutschen ihre Kirchen mit ihren jeweiligen Sprachen, Stilen und Bräuchen. Es gilt zu beachten, dass Argentinien zu dieser Zeit Tausende von Einwanderern, insbesondere aus Europa und dem Nahen Osten, offen empfing, die seither 376

den größten Teil der argentinischen Bevölkerung bildeten. 1899 kam Robert Hosford aus Irland an. Der erste Missionar aus den USA, der sich in Argentinien niederließ, war Sidney M. Sowell, der 1903 ankam und von der Southern Baptist Convention unterstützt wurde. Er gründete bald Gemeinden, die bis heute überdauert haben, und er war ein Eckpfeiler beim Aufbau des Internationalen Baptistischen Theologischen Seminars in Buenos Aires. Als Folge beeinflussten die südlichen Baptisten die baptistische Arbeit im ganzen Land in mancherlei Hinsicht wie z. B. Kirchenorganisation, Ausbildung, Gemeindegründungen und der Bereitstellung von Lehrern für das Seminar. Erst 1957 entsandte eine zweite amerikanische Missionsorganisation, die Schwedisch-Nordamerikanische Baptistenkonvention, Missionare, die sich hauptsächlich in den nordwestlichen Provinzen niederließen. Mit welchen Herausforderungen sehen sich die argentinischen Baptisten heute konfrontiert? Es ist gut möglich, dass die Herausforderungen heute mit jenen Prinzipien übereinstimmen, die Baptisten seit ihrer Entstehung verfolgt haben. Auch ist es möglich, dass diese Grundsätze von anderen Baptisten der Welt geteilt werden. Die geeignetste Kontextualisierung der Kirchenarbeit sollte nicht von der Katholizität der Kirche entkoppelt werden. Eine ehrliche Suche nach einer relevanten Anwendung der Mission für die Kirche heute muss in Kontinuität mit der Mission der „einen“ Kirche vom Neuen Testament bis zu unseren Tagen sein. Die zu erwägenden Herausforderungen sind wichtig und bedeutend, aber keineswegs die einzigen, denen Baptisten in Argentinien gegenüberstehen. Eine Suche nach den Wurzeln, die für die Gegenwart relevant sein können Es wäre möglich, dass argentinische Baptisten eine Identitätskrise erleben. Baptistische Identität hat mit der Art und Weise zu tun, wie man die Mission versteht, die Kirche organisiert, die Führung praktiziert und die Kirche in die Gesellschaft ein377

fügt. Es hat nicht nur mit der Vergangenheit zu tun, sondern mit der zeitgemäßen Art und Weise, wie sich eine Gemeinschaft in Bezug auf den Sinn ihres Seins und Tuns darstellt. Einige der heute von argentinischen Baptisten zu beantwortenden Fragen zum Thema Identität lauten: • Ist es sachdienlich, heute über baptistische Identität zu sprechen? • Leben wir nicht in einem „nach-denominationellen“ Zeitalter? • Welchen Wert kann man einer „baptistischen Identität“ beimessen und welcher Grad von Bindung und Loyalität besteht zu der Denomination? • Wie weit ist es möglich, sich eine Vielfalt von Baptisten vorzustellen? • Wie viele „andersartige“ Baptisten können auf der nationalen oder regionalen Ebene in die baptistische Arbeit einbezogen sein? • Ist es möglich, mit mehrfachen baptistischen Identitäten eine kooperative Arbeit zu tun? • Lässt sich Vertrauen aufbauen ohne einen gewissen Grad von geteilter Identität? • Auf welcher Basis? • Kann es Einheit ohne Identität geben?

Die Antwort lautet, dass es sehr schwierig ist, den Frieden in einer Körperschaft zu erhalten ohne eine klare und vitale Identität, durch die Interessengruppen das Empfinden haben, zusammen zu gehören und sich gegenseitig unterstützen. Das Risiko besteht, dass man sich auf eine Identität als Rechtfertigung für ein defensives Sich-Verschließen einlässt; das sollte vermieden werden. Aber es stimmt auch, dass immer dann, wenn die Unterscheidungsmerkmale in die Irre führen, Institutionen Schmerz, Trennung und den Verlust von Relevanz erleiden. Genau das ist einigen baptistischen Institutionen in Argentinien zugestoßen. Schwierigkeiten mit baptistischem Anderssein Seit den Anfängen haben Baptisten einen gewissen Grad an Zersplitterung durchlaufen, aber zu bestimmten Zeiten hat die Einheit bedauerlicherweise traumatische Brüche erfahren. Argentinien bildet da keine Ausnahme. Eine lange Zeit ist Argentinien bereichert worden durch eine herkömmliche baptistische Arbeit, die seit 1909 zwischen der großen Mehrheit der Gemeinden ein enges Verbindungsnetz ermöglichte. Eine Reihe von Grün378

den einschließlich der charismatischen Bewegung, die viele Leiter und Gemeinden ergriff, führte 2005 zu einem Bruch der gemeinsamen Arbeit. Heute gibt es daher in Argentinien zwei nationale Körperschaften, die Argentinische Baptistisch-Evangelikale Konföderation und die Argentinische Baptistische Assoziation (ABA seit 2005). Besteht die Möglichkeit, die zerbrochene Einheit zu beheben? Jesu Gebet für die Einheit (Joh. 17) und die paulinische Lehre zur Einheit (Phil. 4, 2–3; Eph. 2, 14–22; 4, 3–6.11–13) sind Herausforderungen, die Einheit zu suchen, ohne die unentbehrlichen Wahrheiten des Evangeliums aufzugeben. Versöhnung benötigt Zeit und Energie, und es ist notwendig, Gelegenheiten zur Versöhnung zu entwickeln, die, obgleich sie zerbrechlich erscheinen mögen, dennoch Wege darstellen, um tiefe und bleibende Wirkungen zu erzielen. Bedeutsame ethische Herausforderungen Baptisten haben keine gemeinsame Hermeneutik im Blick auf moralische und ethische Fragen, aber das entbindet sie nicht davon, stets nach Antworten zu suchen. In gewisser Weise ist Ethik heute „in Mode“. Daher beruht die große Herausforderung nicht darin, die Ethik zu vernachlässigen, sondern nach ihren Inhalten zu fragen. Zeitgenössische Ethik tendiert dazu, die Trans­zendenz auszuschalten bzw. eine „Ethik des Vergnügens“ ohne leitende Werte zu vertreten, was jedoch oft unethischen Interessen in die Hände spielt. Korruption, Immoralität und Straflosigkeit haben bereits ein unzulässig hohes Niveau erreicht. Nötiger denn je ist heute geboten, dass Christen ethisch denken und handeln. Was aber sind die Parameter, die angelegt werden, um zu messen, was fair, angemessen, zwingend oder wünschenswert ist? Was muss verbindlich sein? Es ist fast unmöglich, über Ethik nachzudenken, ohne einen gewissen Grad von Regulierung mit zu bedenken. Ethische Fragen, mit denen sich die Kirchen konfrontiert sahen, gab es seit den Tagen des Neuen Testaments bis heute im Überfluss. Der Säkularismus z. B. ist für Christen auf der ganzen Welt von Interesse, natürlich auch für Baptisten in Argentinien. Sieht man sich diesem Problem oder vielen anderen gegenüber, bedeutet dies, eine viel größere Verpflichtung einzugehen als „einen Standpunkt in einer Debatte zu vertreten“. Es bedeutet, 379

die Muster des Verhaltens als Teil der Sendung der Kirche zu bewerten. Zu der Bandbreite ethischer Fragen gilt es zudem, das Tempo zu bedenken, mit dem die Meinungen zu den Problemen sich verändern. Was jüngst in Argentinien geschah, mag zur Illustration dienen. Argentinien war eines der letzten Länder der Welt, das ein ziviles Ehescheidungsrecht eingeführt hat, und ist heute eines der ersten Länder weltweit, das ein Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe erlassen hat. Zudem wurde 2015 die Zivilprozessordnung, die Jahrzehnte gültig war, abgeändert. Das bedeutet, dass neue Maßstäbe das zivile Leben des Landes bestimmen. Die Frage stellt sich, von welcher Art die Mitwirkung der Baptisten sein sollte. Nähe und totale Verschiedenheit. Liturgische Reformen In den letzten Jahrzehnten hat sich eine Anzahl charismatischer Formen entwickelt, von denen einige in einer Reihe von Gemeinden eine hochgradige Spannung erzeugten. Das machte die Koexistenz mit den „anderen“, die bis dahin den Ton angaben, sehr schwierig und schuf eine ernste Notlage im Blick auf die Kontinuität gemeinsamer Arbeit auf der Ebene eines Landesverbandes oder einer Ortsgemeinde. Charismatische Systeme haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen und sind heute eine Wirklichkeit unter verschiedenen Aspekten des kirchlichen Lebens. Am meisten macht sich dies bei der Gottesdienstgestaltung bemerkbar. Das erzeugte eine Reihe von Fragen, wie bspw. gibt es eine liturgische Form, die am besten eine „baptistische Gemütsart“ einfängt und die zwischen den verschiedenartigen Baptisten eine Integration erzeugt und keine Kontroverse ermutigt? Formen müssen wie ein Kanal sein, der die Nähe Gottes mit seinem „völligen Anderssein“ verbindet. Helmut Thielicke sagte einmal sinngemäß, dass sich die liturgische Präsentation der Majestät Gottes, die sich über Jahrhunderte erstreckt und die in der Sprache der Tradition den gegenwärtigen Augenblick überschreitet, verbinden muss mit der Nähe Gottes auf unseren Marktplätzen, den Landstraßen, an den Hecken und Zäunen. Der gemeinschaftliche Gottesdienst trifft Vorsorge für pastorale Arbeit, fördert große Veränderungen, erleichtert die Einheit und dient als evangelistischer Kanal. 380

Der evangelische Liederschatz ist Teil der Identität. Ein Teil baptistischer Frömmigkeit drückt sich in Gebeten und im Singen aus. Ein Teil der Theologie wird durch Lieder bekannt gemacht. Wenn Lieder wenige oder schlechte biblische Inhalte haben und sehr subjektiv sind, zeigt die Theologie in die gleiche Richtung, die zu einer Verarmung des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens führt. Es stimmt, dass Formen im Gottesdienst nicht wesentlich sind, aber sie sollten auch nicht unterschätzt werden. Jeder individuelle und gemeinschaftliche Ausdruck der Anbetung umfasst Formen. Der Ausdruck „im Geist und in der Wahrheit“, der von Jesus gebraucht wird, bedeutet keine Missachtung oder Disqualifizierung der Formen für den Gottesdienst. Formen können und sollten wie ein Vehikel für den besten Gottesdienst dienen. Die Formen sollten jedoch den Gottesdienst nicht erdrücken, sondern seiner Durchführung dienlich sein. Man kann sagen, dass Unbeweglichkeit in kultischen Formen nicht für die Freiheit, die der Geist bringt, geeignet ist; auf der anderen Seite garantiert die Nachlässigkeit im Blick auf Formen nicht die Freiheit des Geistes. Die Lösung besteht darin, Wege zu finden, um die Freiheit des Geistes und nicht den persönlichen Geschmack derer, die die Liturgie leiten, zu unterstützen; das sollten argentinische Baptisten anstreben. Wo findet man die neuen Formen der Predigt? Die Verheißung besteht und die Aufgabe bleibt, denn Gott erneuert seine Kirche immer durch neue Formen der Predigt […]. Wo diese Verkündigung dem lebendigen und geschriebenen Wort Gottes treu und durch den Geist belebt ist, ist sie ein wirksames Mittel der Gnade und ein sicheres Zeichen der wahren Kirche. (Timothy George, Jesus Came Preaching, First Things, 16.06.2014).

Das argentinische baptistische Werk wurde durch große Prediger bereichert, die einen Weg markierten, der sogar in benachbarte Länder wies. Leider ist es zu einer Verarmung dieser Funktion unter argentinischen Baptisten heute gekommen. Die Rolle der Kanzel in der Welt hat sich bestimmt verändert. Allerdings muss das Predigen in seinen vielfachen Möglichkeiten (den Text erklärend, pastoral, erzieherisch, prophetisch, und viele andere) von jeder Gemeinde und jeder Organisation, welche die damit 381

verbundene Arbeit zu fördern sucht, als wichtig angesehen werden. Man kann sich fragen, ob die Aufgabe des Predigens heute die Relevanz hat, die es einst hatte. Wenn die Antwort negativ ist, könnte es wichtig sein, die Gründe für das Fehlen solcher Stimmen zu kennen, und auch zu wissen, warum es verdrängt worden ist, oder was seinen Platz eingenommen hat, oder wie diese bedeutende Aufgabe heute durchgeführt wird. Wenn die Rolle, die einst von der Kanzel eingenommen wurde, abgelöst werden soll, wäre es gut zu fragen, was an die Stelle tritt und mit welcher Qualität. Gibt es eine Möglichkeit, die Kirche aufrechtzuerhalten und zu reformieren, ohne zu predigen? Es ist wahr, dass die Sendung der Kirche nicht nur durch das Predigen geschieht, aber sicherlich wird die Predigt eingeschlossen sein müssen. Priestertum der Gläubigen – Religionsfreiheit Das Priestertum der Gläubigen, die „Kompetenz der Seele“ und die Religionsfreiheit sind verschiedene Fragen, die aber miteinander verbunden sind. Sie waren und sind weiterhin von tiefem Interesse für Baptisten und waren in der Geschichte der argentinischen Baptisten bis heute von hoher Dringlichkeit. Argentinien ist ein Land, in dem die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der römisch-katholische Kirche angehört, die große Macht über die verschiedenen Lebensbereiche der Gesellschaft ausübt; die Bundesregierung unterstützt die römischkatholische Religion (Art. 2 der nationalen Verfassung Argentiniens). Die Einführung der religiösen Erziehung an öffentlichen Schulen hat die Situation noch verschärft. Seit den Anfängen haben Baptisten die Prinzipien der Trennung von Kirche und Staat, konfessionell nicht gebundene öffentliche Schulen, die Freiheit des Gewissens und gleiche Rechte für alle verteidigt. Pablo Besson, der baptistische Pionier in Argentinien, hatte nicht nur im Baptismus, sondern darüber hinaus in der evangelischen Welt eine Schlüsselrolle inne und verteidigte mit Intelligenz und Mut die Religionsfreiheit. Aus diesen Gründen ist in Argentinien das Verhältnis der Evangelischen und der Baptisten insbesondere zur katholischen Kirche komplex und kritisch, und es erklärt die Schwierigkeit, eine Einigung über den besten Weg zu erzielen, wie man das 382

Verhältnis zueinander gestalten soll. Es ist schwierig zu sagen, ob ein Papst aus Argentinien für diese Beziehung von Vorteil ist oder nicht. Kirchen riskieren ihre Freiheit, wenn sie in ihre vier Wände (auch ideologisch) eingeschlossen sind, oder wenn sie ihre Überzeugungen privatisieren und annehmen, dass sie keinen Platz in der Öffentlichkeit haben. Sie sollten auch nicht den Glauben derer akzeptieren, die behaupten, dass, wenn man einen Glauben vertritt, dies bedeuten muss, diejenigen zu diskriminieren, die nicht glauben. Für baptistische Gemeinden ist es gut, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, aber zugleich nicht, dem Kaiser zu geben, was Gottes ist. Die Frage der Religionsfreiheit zu stellen ist erforderlich und dringlich angesichts grausamer Verfolgung, der viele Christen (und nicht nur Christen, sondern auch Anhänger anderer Religionen) unterworfen sind, sogar bis zum Tode. Wenn dies geschieht, kann die Frage der Religionsfreiheit einen zweiten Platz einnehmen? Die Antwort kann nur „Nein“ lauten. Ein ernsthaftes, aber subtiles Problem bei der Auseinandersetzung mit dieser Frage ist die Tendenz zu einem Reduktionismus, insbesondere die Religionsfreiheit zur Freiheit der Anbetung zu reduzieren. Dies verkürzt die wesenhaft öffentliche Natur des bib­lischen Glaubens und verwandelt den Glauben in einen der geschlossenen Türen. Dieser Reduktionismus führt zu einer falschen Vorstellung von der Mission der Kirche, weil diese dann nur als eine private Aktivität konzipiert ist, ohne Einfluss auf die Gesellschaft und ohne Rechenschaftspflicht in der Öffentlichkeit. In diesem Fall ist der Glaube reiner Individualismus und Subjektivismus. Ein anderer Reduktionismus ist die „Diktatur des Relativismus“, die den Relativismus paradoxerweise als universelle Form ausgibt. Schließlich ist es innerhalb dieses großen Themas, aber aus einer anderen Perspektive, hilfreich, zwei Risiken zu benennen, der sich argentinische Baptisten stellen müssen: Das erste Risiko besteht darin, das kongregationalistische System mit einer defensiven Haltung zu schließen. Wenn dies geschieht, ist es ein Zeichen der Furcht und nicht einer der örtlichen Verantwortlichkeit, und es wird sicherlich das Wachstum der Gemeinde und die volle Nutzung des Potenzials aller Gläubigen begrenzen. 383

Das zweite Risiko lautet, dass Megakirchen sowohl die örtliche Verwaltung der Gemeinde als auch die volle Ausübung des Priestertum aller Gläubigen ignorieren. Stehen wir in der Gefahr, die Praxis einer wiedergeborenen kirchlichen Mitgliedschaft zu verlieren? Ein charakteristisches baptistisches Prinzip ist die Mitgliedschaft der Wiedergeborenen. Schattierungen desselben Themas können wahrgenommen werden als „Gemeinde der Gläubigen“, „Freiwilligengemeinde“, „Gemeinde der Wiedergeborenen“, „Gemeinschaft der Erlösten“. Mehrere baptistische Prinzipien sind mit dieser Frage verbunden, wie bspw. Gläubigentaufe, Selbstverwaltung der Gemeinde, Autonomie der Ortsgemeinde, Priestertum der Gläubigen, Kirchenzucht. Auf dem ersten Baptistischen Weltkongress 1905 in London, sagte J. D. Freeman: „Mehr als alles andere kennzeichnet das Prinzip der Kirchenmitgliedschaft der Wiedergeborenen unsere Besonderheit in der heutigen Welt.“ Lange vor Freeman erklärte das Somerset Bekenntnis von 1656, dass bei der Zulassung eines neuen Mitglieds die Gemeinde ein deutliches Zeichen seiner / ihrer „neuen Geburt“ haben muss. William R. Estep sagte über die Baptisten im Süden der USA, dass diese „gefährlich nahe sind, ihr Beharren auf einer Kirchenmitgliedschaft der Wiedergeborenen zu verlieren.“ Das könnte auch für argentinische Baptisten heute gelten, und wenn dies so ist, wäre es ein sehr schmerzlicher Verlust. Damit ist nicht beabsichtigt, eine Gemeinde der „Elite“ zu propagieren, sondern eine Gemeinde, die Rechenschaft über die Ausübung einer guten Pflege ihrer Mitglieder ablegen kann. Argentinische baptistische Gemeinden stehen in der Gefahr, einem numerischen Wachstum hinterherzulaufen, ohne Begleitung durch Schulungsprogramme der Mitgliedschaft, ohne systematisches Bibelstudium, oder einer Seelsorge mit einer eher klinischen als theologischen Basis. Es ist wichtig, den Grundsatz einer Kirchenmitgliedschaft der Wiedergeborenen zu unterstreichen, um erlösende Disziplin, Reinheit der Lehre, Heiligkeit des Lebens und wachsende Einheit zu fördern.

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Pastorale Arbeit Pastorale Arbeit erfordert zweifellos überall auf der Welt eine laufende Überprüfung. Die Definition der pastoralen Rolle, die Bedeutung der Berufung, die Rekrutierung und Ausbildung von Pastoren sind Schlüsselthemen. Es sind große Herausforderungen für argentinische Baptisten. Die Antwort auf diese Probleme wirkt sich auf die Art der Ausbildung zukünftiger Pastoren aus. Auch Themen wie die Anzahl der Pastoren, die gebraucht werden, und ihre finanzielle Versorgung sind wichtig. Die Mission der Kirche Man sollte sich stets daran erinnern, dass es keine Kirche ohne Mission oder keine Mission ohne Kirche gibt. Das Bekenntnis zum Evangelium lässt die Kirche missionarisch sein. Dies setzt voraus, dass der Sinn für die Universalität der Mission nicht von der geographischen Verortung der Gemeinschaft abhängt, sondern von der göttlichen Absicht, alle mit seiner rettenden Liebe zu erreichen. Jüngst waren die argentinischen baptistischen Gemeinden verschiedenen Gefahren ausgesetzt. Eine davon war, die Gemeinde als Zweck in sich zu verstehen und nicht zu erkennen, dass die Gemeinde für die Mission existiert, die sie transzendiert. Eine weitere Gefahr besteht darin, sich so sehr mit weltlichen Prozessen zu identifizieren, dass darüber die Rettungstat Christi vergessen wird, durch welche die Gemeinden ins Leben traten. Ein weiteres Risiko war es, eine religiöse Bewegung zu werden, deren Identität dadurch gegeben ist, einem Führer und nicht Christus zu folgen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die örtliche Gemeinde als Beauftragte der Sendung Gottes wiederzuentdecken. Die soziale Situation Soziale Fragen sind mehrdimensional und von tiefem Inte­r­ esse für die Sendung der Kirche. Gemeinden müssen präventive Aktivitäten und Entwicklungsmaßnahmen ergreifen, sie müssen eine Erlösung antizipieren, die „schon jetzt, aber noch nicht“ ist, und sie müssen unmittelbar acht geben auf konkrete mensch385

liche und soziale Krisen. Gemeinden müssen als Vermittler von Wandel, Hoffnung, Ärgernis und Erneuerung dienen. Argentinien ist ein Land großer Ressourcen. Es gibt eine Vielzahl von Klimazonen, alle Arten von Böden, Süßwasser, Küste, eine Bevölkerung, die durch die Anwesenheit von verschiedenen Kulturen und Religionen bereichert wird, die in Frieden miteinander leben, und dennoch erreicht die Armut beunruhigende Ausmaße. Ein komplexes und destruktives Problem, das die Situation verschlimmert, hat mit Drogen zu tun. Argentinien ist ein Land mit hohem Drogen-Konsum und hoher Drogen-Produktion, und hat sich in großem Ausmaß als Heimat von Drogendealern erwiesen. Trotz vieler verfügbarer Ressourcen besteht ein Grund für mancherlei Mängel Argentiniens in dem hohen Maß an Korruption, das seine politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen ergriffen hat. Es betrifft eben nicht nur korrupte Einzelpersonen, sondern ein korruptes System und Praktiken, die nicht angemessen kontrolliert oder missbilligt werden. Eigentlich ist es unmöglich, die Korruption weltweit nicht zu erkennen; Korruption ist Teil einer gefallenen Menschheit. Aber der Unterschied liegt in dem Ausmaß der Korruption und in der Art, wie Familien, das Erziehungswesen, der Gerechtigkeitssinn und die Kirche mit ihrer Sendung daran arbeiten, die Situation zu heilen. Die Arbeit der argentinischen Baptisten hat die gewünschte Wirkung auf den gesellschaftlichen Kontext nicht erreicht. Sicherlich müssen wir anerkennen, dass es nicht einfach ist, aber Kirchen können und sollten Werkzeuge für den Dienst sein und das Licht Jesu in richtige Bahnen lenken. Ein Blick in die Zukunft mit einem Gefühl der Erwartung und Hoffnung Die Bewältigung der erwähnten Herausforderungen verlangt Anstrengung und Hingabe, die aber zugleich sehr anregend für die Baptisten im Land sind. Argentinien ist ein fruchtbarer Boden für die Mission der Kirche, und argentinische Baptisten verfügen bereits über gute Erfahrungen im Dienst für das Land und haben ausgezeichnete Veranlagungen und Ressourcen. Aus diesen Gründen ist es möglich, die Zukunft der Baptisten in Argentinien im Blick auf sinnvolle Herausforderungen mit Zuversicht zu betrachten. 386

Aus der Karibischen Baptistischen Gemeinschaft. Baptisten in Jamaika Devon Dick Dieser Beitrag beinhaltet eine Reise seit der Ankunft des amerikanischen baptistischen Missionars George Liele bis zur Gegenwart. Die Betonung liegt auf dem Wachstum, dem Kampf gegen die Sklaverei und den Kolonialismus und der Entwicklung zu einem unabhängigen Jamaika. Während dieser Zeit spielten die Baptisten in Jamaika eine bedeutsame Rolle bei der Hervorbringung der Nation (nation building), und es ist daher nicht überraschend, dass drei der sieben Nationalhelden Baptisten waren: Samuel Sharpe, Paul Bogle and George William Gordon. Liele, ein ehemaliger Sklave, kam 1783 in Jamaika an und begann damit, baptistische Gemeinden in einer Zeit zu gründen, als die auf Sklaverei beruhende britische Kolonialherrschaft in ihre letzte Phase eintrat. Es war der erste erfolgreiche Versuch einer Missionsarbeit unter den Versklavten. Die Arbeit wuchs, und die Pioniere Liele und Moses Baker benötigten Hilfe. Sie wandten sich an die Baptist Missionary Society in London, die im Februar 1814 zunächst John Rowe sandte. Er war der erste in einer langen Kette englischer baptistischer Missionare, einschließlich William Knibb und James Phillippo. Diese Missionare unterstützten die Entwicklung der Arbeit unter den Sklaven ungeachtet der Tatsache, dass sie ihr Hauptaugenmerk auf die Rettung der Seelen richteten und zumindest anfänglich den Kontext der Sklaverei übersahen. Die Sklaven lasen dieselbe Bibel wie die Missionare, aber gaben ihr eine andere Auslegung. Einer dieser Sklaven war der Diakon Sam Sharpe (1805–1832), der behauptete, dass die Sklaverei mit den Lehren der Bibel unvereinbar sei. Sein Begehren war es, wie ein Arbeiter behandelt und bezahlt zu werden, und er leistete aus Protest passiven Widerstand in Form eines Streiks. Dieser Widerstand war der Auslöser, der schließlich 1833 zu dem Gesetz der Emanzipation führte. Eine „Lehrzeit“ von vier Jahren folgte, die jedoch nichts anderes war als die Fortsetzung der Ausbeutung der Afrikaner. Als die „Lehrzeit“ 1838 um war, dachten die Lehrlinge, dass die Häuser, die sie bewohnt und das Land, das sie bewirtschaftet hatten, jetzt ihnen gehöre. Aber die Kolonisten verlangten von den emanzi387

pierten Afrikanern einen Pachtzins, widrigenfalls würden sie vertrieben. Die Missionare und die Afrikaner mussten daher alternative wirtschaftliche Lösungen suchen. Die Missionare bauten „Freie Dörfer“ – das erste wurde 1838 durch James Phillippo begonnen –, die aus Häusern, Straßen, Schulen und Kirchengebäuden bestanden. Diese wirtschaftliche Grundlage erleichterte es, einen angemessenen Lebensstandard, ein stabiles Familienleben und einen Ort für die Gottesdienste zu erlangen. Um 1840 waren innerhalb des Systems der „Freien Dörfer“ 52.903 Parzellen übertragen worden. Um 1837 brachen ‚Einheimische Baptisten‘ mit der durch die Engländer dominierten Kirche, und gründeten eigene Gemeinden, die den Kern der Jamaica Native Baptist Missionary Society (JNBMS) bildeten, die 1839 / 40 gegründet wurde. Bereits 1841 umfasste sie 13.687 Mitglieder. Einer der Gründe für die Entstehung der JNBMS bestand darin, das Übel zu beheben, dass Personen afrikanischer Herkunft bei den englischen Missionaren auf Vorurteile stießen, wenn sie etwa Pastoren werden wollten. Sie forderten die Auslegung der Bibel durch die Kolonialherren heraus, indem sie einer „Hermeneutik des Verdachts“ folgten, wie man das heute nennen würde. Sie verteidigten den Grundsatz, dass sie frei seien, ihre eigene Auslegung zu haben. Die ‚Einheimischen Baptisten‘ wurden 1883 in die Jamaica Baptist Union eingegliedert, die allerdings von englischen Baptisten dominiert wurde. Die JNBMS existierte nicht mehr; die meisten ihrer Anführer wurden getötet. George William Gordon (1815–1865) wurde 1863 in das Parlament gewählt; er repräsentierte St. Thomas im Osten und gewann die Wahl mit großer Unterstützung der ‚Einheimischen Baptisten‘. Gordon hatte Besitzungen in vielen Kirchspielen, und überall, wo er Land besaß, versuchte er, Kapellen zu errichten und das Evangelium zu fördern. Paul Bogle (1820–1865) war ein enger Gefährte von Gordon; er war Pastor, organisierte die Taufen und hatte die Aufsicht über Gemeinden in den Distrikten Mount Zion und Sunning. Sowohl Bogle als auch Gordon, die heute Nationalhelden sind, standen in den 1860er Jahren an der Spitze, wenn es galt, sich öffentlich für Personen einzusetzen, die in wirtschaftliche Not oder in das tyrannische Justizsystem geraten waren. Im August 1865 marschierten Bogle und seine Anhänger etwa 40 Meilen von Stony Gut nach Spanish Town, 388

um mit dem Gouverneur zusammenzutreffen und ihm den Ernst der Lage zu schildern. Sie wurden aber nicht zugelassen und marschierten daraufhin zu dem ‚Morant Bay‘ Gerichtsgebäude, um gegen die fortwährenden Ungerechtigkeiten zu protestieren. Es wurde auf sie scharf geschossen, so dass in dem folgenden Gemetzel 18 Personen der herrschenden Klasse und Tausende Bauern getötet wurden. Dieses Schlüsselereignis ging als „der ‚Einheimische Baptisten‘ Krieg von 1865“ in die Geschichte ein. Was folgte war dann eine bessere Regierungsführung, und die Anglikanische Kirche verlor ihren Status als etablierte Kirche. 1843 waren Baptisten die ersten, die eine theologische Ausbildung anboten; auch ein Lehrerseminar war angegliedert. 1912 wurde eine höhere Bildungsanstalt für Jungen errichtet. Erziehung und Bildung spielten im Leben der Baptisten eine bedeutende Rolle. Im Jahre 2014 betreiben Baptisten 154 Schulen, das sind 10 % aller Schulen in Jamaika. Im Einzelnen sind dies drei High Schools, 85 Kindertagesstätten, 66 Schulen für Kinder im Alter von 6 bis 15 und 6 bis 12 Jahren. Baptisten haben das Erziehungssystem verbessert, indem sie mehr einheimische Materialien einführten und Behinderten Zugang ermöglichten. Unter Pastor Neville Callam, der seit seiner Wahl auf der Sitzung des Rates (General Council) 2007 bis 2017 als erster Generalsekretär des Baptistischen Weltbundes afrikanischer Herkunft amtierte1, wurde durch den Landesverband Tarrant / Balmagie im April 1998 die Radiostation TBC 88.5 in Betrieb genommen. Es war die erste christliche Radiostation in Jamaika, und sie war im Besitz einer Baptistengemeinde und wurde von ihr betrieben. Im Februar 1993 nahm die Radiostation LOVE FM ihre Sendungen auf; es ist eine religiöse Radiostation, an der innerhalb der Besitzstruktur auch Baptisten beteiligt sind. LOVE FM erreicht 14 % der jamaikanischen Zuhörerschaft. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in der Karibik wird am Sonntag in Jamaika selbstverständlich Gospelmusik gespielt. Seitdem 1

Vgl. sein Buch From Fragmentation to Wholeness. Race, Ethnicity, and Communion, (Valley Forge, PA: Judson Press), 2017. Callam zeigt Wege auf, wie die Feier des Abendmahls zu Versöhnung, Heilung und Ganzheitlichkeit in den Gemeinden führen kann. Er greift zurück auf seine „karibische Theologie“ und die imago Dei jeder Person als Modelle, um die Sünden des Rassismus und exklusiven Ethnozentrismus zu überwinden. Bei der Feier des Abendmahls soll die inklusive Gemeinschaft hervortreten.

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christliche und religiöse Radiostationen entstanden sind, ist mehr als zuvor der Gospelmusik Sendezeit gewidmet, selbst während der Woche, und Künstler haben mehr Gelegenheit, das Evangelium zu verkünden. Diese Medien bieten eine Gelegenheit, die Wahrheiten des Evangeliums zu verbreiten und mehr Menschen schneller mit der guten Nachricht des Heils zu erreichen. Literatur: Devon Dick, The Cross and the Machete – Native Baptists of Jamaica: Identity, Ministry and Legacy, Ian Randle Publishers, 2009.

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ASIEN

Baptisten in Asien im 21. Jahrhundert. Wachstum und Entwicklungshilfe, Erziehung und Ausbildung Erin Sessions Seit William Carey 1793 seine Arbeit in Indien aufnahm, kann man davon sprechen, dass es ein baptistisches Zeugnis in Asien gibt. Denn seit dieser Zeit haben asiatische Länder baptistische Missionare aus Europa und den USA aufgenommen. Australien und Neu-Seeland haben sich später den missionarischen Anstrengungen angeschlossen. In den meisten asiatischen Ländern gibt es heute Ortsgemeinden, Verbände von Ortsgemeinden oder Unionen. Dieses Kapitel beginnt mit einer Einführung in die Arbeit der Asien-Pazifischen Baptistischen Föderation und ihrer Abteilungen: APBAid (Hilfe), APBYouth (Jugend), die Union Asiatisch-Baptistischer Frauen und der Ausschuss für Theologische Ausbildung (TEC). Danach folgt ein Überblick über die baptistischen Tätigkeiten in Ländern von Bangladesch bis Vietnam. Hervorgehoben wird jeweils das örtliche Gemeindewachstum, die Entwicklungshilfe sowie Erziehung und Ausbildung.1 Der Baptistische Weltbund rief 1973 in Hongkong die Asiatische Baptistische Gemeinschaft ins Leben. Auf dem siebten Asiatischen Baptistischen Kongress 2007 in Chiang Mai wurde der Namen geändert. Fortan hieß die Organisation AsiatischPazifische Baptistische Föderation, um so die mannigfaltige Zusammensetzung der Region besser zum Ausdruck zu bringen. Während der letzten vierzig Jahre sind Vertreter der baptistischen Konventionen, Bünde und Verbände des gesamten 1 Während

die Mitgliedskirchen der APBF von Japan und Korea im Norden, nach Neuseeland und Australien im Süden zu den Philippinen im Osten bis Indien und Sri Lanka im Westen reichen, konzentriert sich dieses Kapitel auf asiatische Länder mit Ausnahme Chinas, Zentralasien, Indien und Sri Lanka.

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asiatisch-pazifischen Raumes zusammengekommen, um sich gegenseitig zu inspirieren, den Geist der Gemeinschaft zu fördern, durch Mission und Evangelisation zu dienen und zu kooperieren, um Unterstützung und Entwicklungshilfe zu leisten, um Friedensnetzwerke aufzubauen, um Führungspersönlichkeiten auszubilden, um theologische Ausbildung zu fördern und und um Informationen zu teilen. APBF repräsentiert mehr als 33.000 Ortsgemeinden und 59 Bünde in 21 Ländern.2 Weil Asien der Kontinent mit den meisten Naturkatastrophen ist, schuf APBF die strategisch wichtige Hilfsorganisation APBAid. Im Jahr 1975 als Ausschuss für Hilfe und Unterstützung gegründet, hat APBAid den Auftrag aktiv ausgeführt, indem man die Mitglieder über humanitäre Notlagen in der Region informierte, sie dazu anhielt, das Evangelium ganzheitlich darzubieten, einschließlich den Armen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und indem man Schulungen durchführte, um eine umweltverträgliche Entwicklung zu praktizieren. Am 26. Dezember 2004 war die Welt schockiert über das massive Erdbeben und den nachfolgenden Tsunami, der Länder um den Indischen Ozean verwüstete. Dieser Tsunami löste eine erneuerte Verpflichtung aus, den von plötzlichen Katastrophen betroffenen Gesellschaften zu Hilfe zu kommen, so dass als Ergebnis im Jahr 2008 APBAid ins Leben gerufen wurde, um die Arbeit des Ausschusses zu organisieren und zu lenken.3 Der Auftrag für APBY besteht darin, ein enges Netzwerk unter den Mitgliedern aufzubauen und jungen Menschen zu helfen, sie zu fördern und als zukünftige Führungspersonen auszubilden. Ein Beispiel dieser Art ist die 2016 vollzogene Reise nach Vietnam. Dort hatten Jugendorganisationen Ausschau gehalten, um von Nachbarorganisationen Unterstützung zu erhalten. ABPY besuchte Jugendliche in baptistischen Gemeinden mit dem Ziel, eine Konferenz in Ho Chi Min Stadt durchzuführen. Etwa 400 Delegierte aus diesem Distrikt kamen zusammen, und 25 junge Leute erhielten weitere Schulungen durch den Präsidenten der APBY.4 2

Asia Pacific Baptist Federation: http://apbf.info/ Zugriff am 15.2.2017. Asia Pacific Baptist Aid: http://apbf.info/apbaid/ Zugriff am 15.2.2017. 4 Asia Pacific Baptist Youth: http://apbyouth.org/visit-to-baptist-convention-ofvietnam-youths/ Zugriff am 14.2.2017. 3

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Die Asiatisch-Baptistische Frauenunion (ABWU) hat die Vision, Frauen in Asien zu ermächtigen, Führungsaufgaben zu übernehmen, sich in verschiedenen traditionellen und kreativen Diensten überzeugend zu engagieren und das Evangelium den Verlorenen zu bringen. Die Frauenunion führt eine große Bandbreite von Aktivitäten durch, nicht zuletzt, weil der Status der Frauen von Land zu Land unterschiedlich ist: Die Konvention Philippinischer Baptistischer Gemeinden (CPBC) praktiziert seit 1979 die Ordination von Frauen, so dass heute fast die Hälfte der Gemeinden von Frauen geleitet wird. In Indonesien wurde die erste Konferenz für Frauen in Führungspositionen 2016 durchgeführt, und im November 2016 nahmen 32 Frauen an der Schulung für Frauen in Führungspositionen der Christlichen Frauen in Bhutan teil, die von der ABWU im indischen Dalsingpara verwirklicht wurde. Die Schulung umfasste die Rolle von Frauen in der Familie, der Gemeinde, der Gesellschaft und im kirchlichen Amt.5 Der Zweck des Ausschusses für Theologische Ausbildung, der mehr als fünfzig Bibelschulen und Seminare beaufsichtigt, besteht darin, seelsorgerlich und pädagogisch begabte Führungspersönlichkeiten durch Seminare, Kolloquien, Konsultationen auszurüsten und weiterzubilden sowie herumreisende Lehrer zur Verfügung zu stellen. Im Jahre 2014 veranstaltete das APBaid Friedensnetzwerk und der Theologische Ausschuss ein Friedensforum in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Friedensstudien des Instituts für Theologie in Myanmar. Theologen, Entwicklungshelfer und Friedensaktivisten dachten im Blick auf einen Entwurf für Erziehungsstrategien über Frieden und Konflikte nach, um Führungspersonen und Ortsgemeinden mit Fähigkeiten zum Friedensstiften auszurüsten. Dies ist besonders sachdienlich, wenn man den extremen und weitergehenden Konflikt in Myanmar und die große Zahl der intern verschleppten Personen bedenkt.6 Vor dem 20. Jahrhundert war die Geschichte der Baptisten in Asien durch westliche Missionare dominiert. Die Entwicklung änderte sich während des 20. Jahrhunderts, als das Christentum 5

Asian Baptist Women’s Union: http://www.abwu-asia.org/ Zugriff am 15.2.2017. Education committee: http://apbte.org/xe/board_koqb50/1277 Zugriff am 14.2.2020. 6 Theological

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in Asien sich mehr und mehr indigenisierte und sich eine ausgeglichene Partnerschaft zwischen ausländischen Missionaren und den Gläubigen vor Ort entwickelte. Wendet man sich einem Überblick über die einzelnen Länder zu, wird deutlich, dass die jüngste Geschichte der Baptisten in Asien gekennzeichnet ist durch • ein Wachstum, manchmal beispiellos, was die Zahl der Gemeinden und Gläubigen betrifft; • eine Verpflichtung zur Hilfe und Entwicklungsarbeit, besonders nach Naturkatastrophen; • eine Konzentration auf Erziehung und Schulung, besonders theologische Ausbildung.

Bangladesch Bangladesch ist eine junge Nation mit einer reichen Geschichte; die baptistische Präsenz reicht bis zu Carey zurück. Gegenwärtige Herausforderungen sind Armut, politische und religiöse Spannungen und Naturkatastrophen wie Wirbelstürme, Überschwemmungen, Schlammlawinen und Tornados, die die Infrastruktur zerstören und jährlich über eine Million Menschen obdachlos werden lassen. Die Bevölkerung ist zu 90 % muslimisch, dazu kommen 9 % Hindus; Baptisten bilden die größte protestantische Gruppierung. Die APBF arbeitet mit der Bangladesh Baptist Church Fellowship (BBCF), der Bangladesh Baptist Church Sangha (BBCS) und der Garo Baptist Convention zusammen.7 Die BBCF geht zurück auf die Arbeit der neuseeländischen baptistischen Mission 1886. Sie ist heute eine Gruppe von 502 Ortsgemeinden mit über 45.000 Mitgliedern, die vor allem Stammesgruppen dienen, aber auch den Hindu Gemeinschaften und der muslimischen Mehrheit. BBCF konzentriert sich auf Wachstum: Seit 1990 hat man 259 Gemeinden gegründet, einschließlich 35 Gemeinden mit Menschen muslimischer Vergangenheit; gegenwärtig arbeiten 28 vollzeitliche Evangelisten in entlegenen Dörfern. BBCF betreibt ein in der Region bekanntes Entwicklungsbüro, das Notfallhilfen und Wiedereingliederungen 7

Baptist World Alliance statistics: https://www.bwanet.org/about-us2/stats Zugriff am 15.2.2017.

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anbietet, dazu Schulungen für Erwachsene und Kinder, medizinische Erstversorgungen, wirtschaftliche Entwicklung, Förderung von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Geschlechtergleichheit, Verbesserung sozialer und geistlicher Werte sowie nachhaltige Umweltmaßnahmen.8 Das rapide Wachstum hat auf der untersten Ebene ein von Laien betriebenes System hervorgebracht; ein Herbergs-System erlaubt es, dass Kinder aus dörflicher Umgebung eine Erziehung erhalten und dass sie mit Nahrung und sicherer Unterkunft versorgt werden.9 Bangladesh Baptist Church Sangha (BBCS oder Sangha) ging aus der Baptistenunion von (West) Bengal und Ost Pakistan hervor. Sie besteht aus 373 Gemeinden mit über 23.000 Mitgliedern und betreibt zielgerichtet Wachstum unter der Santal Stammesbevölkerung und unter den Mru in den Bandarban Bergen. Man konzentriert die Ressourcen auf Entwicklungshilfe und Schulungen und unterstützt verschiedene Gesundheitsprogramme und Schulen.10 Die Kirche bemüht sich, Führungspersonen auszubilden, um mit dem Wachstum Schritt zu halten. Laien, Jugendliche und Frauen werden ermutigt, an einem theologischen Fernlehrgang des College of Christian Theology Bangladesh (CCTB) teilzunehmen. Die Fernlehrgänge sind besonders ausgerichtet, Laienkräfte schnell und flexibel auszubilden. CCTB war das erste zwischenkirchliche Ausbildungsinstitut in Bangladesch. Die Sangha Kirche hat derzeit über dreihundert Studierende in diesem College.11 Kambodscha Seit 1953 gibt es Baptisten in Kambodscha, die sehr stark von der jüngsten turbulenten Geschichte beeinflusst wurden. Das Land war vom Rest der Welt abgeschottet, seine Infrastruktur wurde zerstört, die Bevölkerung dezimiert, und die nachfolgende Generation wuchs ohne Schulbildung auf. Missionare wurden 8

Baptist Aid – Bangladesh Baptist Church Fellowship: http://www.baid-bbcf. org/ Zugriff am 15.2.2017 9 Partners International: https://partnersinternational.ca/global-projects/bbf/ Zugriff am 14.2.2017. Einige der Kinder sind inzwischen erwachsen und haben Leiungsfunktionen in Kirche und Gesellschaft übernommen. 10 Bangladesh Baptist Church Sangha: http://bbcs.org.bd/ Zugriff am 15.2.2017. 11 Asia Theological Association: http://www.ataasia.com/visit-to-college-of-christian-theology-bangladesh/ Zugriff am 15.2.2017.

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ausgewiesen, Christen ermordet, so dass um 1990 die evangelische Bevölkerung auf 600 Gläubige dezimiert war. Das Blatt wendete sich jedoch für Christen, besonders für Baptisten, die in den 1990er Jahren Gemeinden pflanzten. Einem Missionar der Südbaptisten aus den USA wurde die Aufgabe eines strategischen Koordinators zugewiesen. Er entwickelte ein Handbuch für Gemeindepflanzungen und begann, mit sechs Khmer zu arbeiten. Um 1993 war die Zahl der Gemeinden von sechs auf zehn gestiegen. Ein Jahr später hatte sich die Zahl verdoppelt. Als 1995 insgesamt 43 Gemeinden bestanden, beschloss man einen Verband der Gemeinden zu gründen, die Khmer Baptist Convention. Im Jahr 1996 stieg die Zahl auf 78, und ein Jahr später gab es 123 Ortsgemeinden in 53 der insgesamt 117 Bezirken des Landes.12 Das Hauptaugenmerk der Arbeit lag auf dem Gebiet der Gemeindepflanzungen. Der strategische Koordinator legte 1996 die Arbeit in die Hände eines Teams von Missionaren und lokalen Führungspersonen. Das unerwartete Wachstum führte er auf eine Reihe von Faktoren zurück: Gebet, das Programm zur Schulung dörflicher Leiter, Beratung und Indigenisation – jede Gemeinde wurde von einem Kambodschaner gepflanzt. Die Khmer Baptist Convention, die jetzt Union der Baptisten in Kambodscha heißt (Cambodia Baptist Union = CBU), billigte das Ziel des Teams, in jedem Distrikt Kambodschas eine Gemeinde zu pflanzen.13 Der Präsident der CBU, Rev. Nhem Nivath, sagte 2013, dass es „das Ziel der nächsten fünf Jahre“ sei, „1.621 Gemeinden zu gründen, eine in jedem Dorf.“14 Dieses Modell der Gemeindegründungen ist für andere Länder und Kontexte bearbeitet worden. Hong Kong Als Hong Kong 1842 dem Vereinigten Königreich überlassen wurde, siedelten die Familien Dean und Shuck dorthin

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Mission Frontiers: http://www.missionfrontiers.org/issue/article/case-studiesof-cp ms-the-khmer-of-cambodia Zugriff am 15.2.2017 13 Ibid. 14 Christians Sharing Christ Film Ministries: http://www.cscfm.org/from-cambodia-update-by-bro-nivath-cambodian-baptist-union/ Zugriff am 15.2.2017

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und gründeten die Queens Road Baptist Church.15 Die Familie Shuck gründete auch eine Schule, und diese Tradition setzt sich bis heute in der Baptist Convention of Hong Kong (BCHK) fort; denn dieser Bund unterhält mehr als dreißig Kindergärten, sieben Grundschulen, acht Sekundarschulen und zwei tertiäre Institutionen.16 Neben dieser Konzentration auf schulische Bildung arbeiten die Baptisten daran, Missionspartnerschaften zu verstärken und in den Neuen Territorien Gemeinden zu gründen. Die baptistische Universität von Hong Kong ist eine der beiden tertiären Einrichtungen, die auf über 60 Jahre zurückblicken kann. Die BCHK begann 1920 mit den Überlegungen, eine Universität zu gründen. 1956 wurde das Hong Kong Baptist College gegründet, das in den nächsten fünfzig Jahren den Status einer Universität erlangte, internationale Partnerschaften knüpfte, und innovative Entwicklungen einleitete, besonders auf den Gebieten der Künste und der chinesischen Medizin. Die Universität hat das Ziel, den ganzen Menschen zu bilden und hat eine Vision für 2020 entwickelt, die vorsieht, einen hohen Qualitätsstandard in der Lehre und beim Lernen zu erreichen, innovative Forschung zu betreiben und der Gesellschaft zu dienen.17 In Hong Kong und besonders in den Neuen Territorien gibt es viele Ortschaften ohne eine Gemeinde. Die extrem hohen Kosten für den Lebensunterhalt und die Schwierigkeiten, die Missionare erleben, wenn sie versuchen, in die Besondere Administrative Region Eingang zu finden, bilden Hindernisse für die Gründung neuer Gemeinden. Fast jede Gemeindegründung außerhalb einer Hauskirche verlangt hohe Geldsummen. Daher konzentriert sich die BCHK, lokale Gläubige darin zu unterstützen, Hauskirchen zu beginnen. Außerdem versucht die Missionsabteilung, Partnerschaften mit Japan, China, der Mongolei, Burma, Nepal, Malaysia und Indonesien aufzubauen. 15

William Dean arbeitete unter den Chaozhou sprechenden Chinesen in Thailand und war Pastor der Maitrichit Chinese Baptist Church – die erste chinesische protestantische Gemeinde der Welt. Rev. Jehu Lewis Shuck und seine Frau Henrietta Shuck arbeiteten unter Kantonesisch sprechenden Chinesen in Portugiesisch Macau.­ 16 Baptist Convention of Hong Kong: http://www.hkbaptist.org.hk/acms/?site= bchk Zugriff am 14.2.2017. 17 Hong Kong Baptist University: http://hkbu60.hkbu.edu.hk/en/history/ Zugriff am 13.2.2017.

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Indonesien Obwohl Indonesien ein mehrheitlich muslimisches Land ist, hat es die größte protestantische Bevölkerungsgruppe in SüdostAsien. Seit Australier 1956 damit begannen, in Irian Jaya (heute West Papua) zu arbeiten, sind Baptisten in Indonesien aktiv. Gegenwärtig gehören zur APBF die Convention of Indonesian Baptist Churches (Kerapatan Gereja-Gereja Baptis Indonesia); die Fellowship of Baptist Churches of Papua (Peresekutuan GerejaGereja Baptis Papua); und the Union of Indonesian Baptist Churches (Gabungan Gereja Baptis Indonesia). Zusammen haben sie über 700 Gemeinden und 100.000 Mitglieder. Wegen der Verfolgung von Christen waren nur wenige Informationen verfügbar. Die strategischen Ziele sind: Evangelisierung und Jüngerschaftsschulung, besonders unter der akademischen Jugend; die Zurüstung zukünftiger Führungspersonen mit einer auf die Mission konzentrierten Theologie, um die mehr als 200 noch unerreichten Bevölkerungsgruppen in Indonesien zu erreichen; Entwicklungshilfe, besonders Hilfen bei Katastrophen, Schulung von Frauen und Kindern sowie die Entwicklung von Unternehmungen. Die Indonesische Baptistische Allianz organisierte 2016 die erste baptistische Konferenz für Frauen in Führungspositionen. Zum ersten Mal kamen Frauen aus ganz Indonesien, einschließlich Papua, und aus den verschiedenen baptistischen Organisationen und Gemeinden zu einer Tagung zusammen. Mehr als 200 Frauen von allen Inseln versammelten sich und erhielten Schulungen, wie man eine Führungsperson wird, die den sich verändernden Bedingungen in Gesellschaft und Kirche entspricht und welche Rolle in der menschlichen Entwicklung der Kirche, der Regierung und der Gesellschaft zukommt. Im September 2017 war Jogjakarta Gastgeber des Kongresses der APBF. Japan In Japan gibt es vier Mitgliederorganisationen der APBF: Japan Baptist Conference; Japan Baptist Union; Okinawa Baptist Convention; und – bei weitem die größte – Japan Baptist Convention. Zwei Missionare der Südbaptisten aus den USA begannen 1889 die baptistische Arbeit in Japan. Nach dem Zwei398

ten Weltkrieg organisierten 16 Gemeinden die JBC in der Seinan Gakuin Gemeinde. Als Ziel wurde angegeben, in jeder Hauptstadt einer Präfektur eine Gemeinde zu gründen und sich von dort auszubreiten. Die JBC ist weiterhin der Mission in Übersee verpflichtet und sandte 1965 Missionare nach Brasilien aus, später nach Indonesien, Thailand und Singapur.18 Am Ende des Zweiten Weltkrieges gab es Pastoren wie Noguchi Sensei und Gemeindemitglieder, gegen die man Nachsicht üben musste. Es gab einmal 29.000 renmae, wie die Gemeinden der Südbaptisten genannt werden.19 In dem Maße wie sich die japanische Gesellschaft veränderte und immer mehr Menschen behaupteten, keine Religion zu haben (selbst Shinto und Buddhismus nehmen ab), griffen die ‚alten Methoden‘ nicht mehr wie früher. Die Familie Woods erfuhr eine Abnahme, dann Stagnation und sodann eine Rückkehr zum Wachstum, wenn auch sehr langsam. Die Statistik des Baptistischen Weltbundes unterstreicht dies. Die Schwierigkeiten, das Evangelium zu verbreiten, wird auf den Wohlstand und das Fehlen geeigneter Pastoren zurückgeführt, die in die Fußstapfen der Pensionäre treten. Baptisten repräsentieren immer noch die größte Gruppe der Protestanten in Japan. Die Weichen wurden früh gestellt, als ein Krankenhaus und ein Schulsystem aufgebaut wurden. Kindergärten haben immer noch eine große Außenwirkung. Die meisten Japaner neigen zu christlichen Kindergärten, weil sie hier ihre Kinder wohl behütet wissen, bevor das harte Schulsystem beginnt. Das baptistische Krankenhaus und die Seinam Gakuin

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Japan Baptist Convention, Cooperative Missions Pamphlet, 2010: http://www. bapren.jp/uploads/photos/536.pdf Zugriff am 30.11.2016. 19 Um einen Einblick in die Lage der Baptisten in Japan zu erhalten, interviewte ich die südbaptistischen Missionare Tony und Marsha Woods, die fast vier Jahrzehnte für die Missionsgesellschaft International Mission Board (IMB) gearbeitet hatten. Sie gaben einen Überblick über die baptistische Arbeit in Japan seit dem Zweiten Weltkrieg und erzählten die Geschichten von ihren japanischen Mitarbeitern Naoki Noguchi Sensei und Makato Sato. Für witerer Informationen vgl. Woods, Tony. Sacrificed, Given to an Empire; Found by God, 2011. Weitere Informationen über Makato Sato vgl. Woods, Marsha. Trevor & Makoto, friends since age 6, 2011: http://bpnews.net/36309/trevor-and-makoto-friends-sinceage-6 Zugriff am 30.11.2016.

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Universität20 sind zwei Arbeitszweige, durch die Baptisten der Gesellschaft dienen. „Heute gibt es viele wachsende und starke Gemeinden mit neuen, progressiven Pastoren, besonders in den nördlichen Gebieten.“ Pastoren wie Makato Sato arbeiten im Sinne des Gemeindewachstums, unterstützen den Ausschuss für Katastrophenhilfe und ermutigen ihre Gemeinden, sich theologisches Wissen anzueignen. Makato wandte sich durch die Familie Woods dem christlichen Glauben zu und wurde 2011 ordiniert und in die Gemeinde eingeführt, die er zum ersten Mal betrat, als er sechs Jahre alt war. Als Noguchi Sensei und seine Frau bereits über 80 Jahre alt waren, betreuten sie über 4.000 freiwillige Helfer, die nach Japan gekommen waren, um nach dem Tsunami von 2011 zu helfen. Auch Makato führte seine Gemeinde an, Katastrophenhilfe nach dem Tsunami zu leisten, besonders in dem Gebiet von Fukushima. Diese Dienste und die Kooperation tragen zu langsamem, aber stetigem Wachstum in ganz Japan bei.21 Südkorea In starkem Kontrast zu Japan haben Baptisten in der Republik Korea besonders in den letzten dreißig Jahren ein spektakuläres Wachstum erlebt. Die Zahl der Christen, besonders der Protestanten, hat sich in jedem Jahrzehnt verdoppelt. Das Christentum wächst in Korea schneller als in jedem anderen Land. Nach dem Buddhismus ist das Christentum die zweitgrößte Religion; fast 30 % der 50 Millionen Koreaner identifizieren sich als Christen. Der Katholizismus wurde zuerst 1784 in Korea bekannt; protestantische Missionare folgten ein Jahrhundert später. Korea Baptist Convention (KBC) ist eine der größten Denominationen und geht zurück auf das Jahr 1889, als die „Kirche Christi in Ost-Asien“ mit den Südbaptisten in den USA eine Partnerschaft einging.22 20 Seinan

Shin Gakko (früher Seinan Baptist Seminary, heute Seinan Gakuin University) beging 2016 die Hundertjahrfeier. 21 Japan Baptist Convention Disaster Relief Committee, Bond of Prayer Issue #40, October 19,2016: http://baptist2.exblog.jp/ Zugriff am 30.11.2016. 22 Es gibt genügend Informationen zur baptistischen Geschichte und dem explosiven Wachstum des Christentums in Korea. Daher werde ich die jüngste Geschichte hier nur streifen. Die gesamte Geschichte der Baptistenkonvention

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Historisch war Korea gegenüber China und Japan verwundbar, und die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges und des Koreakrieges sowie die darauf folgende Modernisierung führten zu einer Gesellschaft, die für die sie ermächtigende Botschaft des Christentums bereit war. Die baptistische Geschichte in Korea kennt zwei deutlich getrennte Einflüsse: der konservative Einfluss der Südbaptisten und der charismatische Einfluss des frühen Missionars Malcolme Fenwick.23 Im Jahr 1978 übernahmen koreanische Baptisten die Leitung der Convention und die Verantwortung für die meisten Gebiete des kirchlichen Lebens, und die beiden verschiedenen Einflüsse bestehen weiterhin nebeneinander in der KBC. Gegenwärtig hat die KBC zwei Hauptzweige: theologische Ausbildung und kirchlicher Dienst und Mission. Das Koreanisch-­ Baptistische Theologische Seminar ist das größte Seminar außerhalb der USA und das größte in Asien. Die Programme schließen ein: das für die globale Mission wesentliche „Ausbildungszentrum für Weltmission“, das „Institut für Lebenslanges Lernen“, das eine offene Erziehungsplattform ist, um die sich verändernden Anforderungen der Gesellschaft zu bedenken, sowie das „Songkang Zentrum für Soziale Wohlfahrt“, das einen Beitrag zu Wohlfahrts-Entwicklungen vor Ort leistet.24 Nicht uninteressant ist, dass die Theologische Fakultät konservativ ausgerichtet ist, während viele Studierende charismatisch sind. Insgesamt zeigt die Studierendenschaft die unterschiedlichen theologischen Anschauungen der KBC: calvinistische, dispensationalistische, arminianische und charismatische Christen sind Partner in der Mission und der humanitären Arbeit. Koreanische Baptisten bilden die größte Gruppe von überseeischen Missionaren, die in ganz Asien und darüber hinaus arbeiten. Die meiste kirchliche Arbeit in der Mongolei wird durch Koreaner geleistet. Koreaner sind auch in großer Zahl an von Korea findet man ausgezeichnet dargestellt bei Yu, Kun Jae, „An Analysis of the Historical and Theological Identity of the Korean Baptist Convention: An Indigenous Charismatic Movement“ Diss. The University of Birmingham, 2014. 23 Fenwick war der Anführer der Denomination bis 1944. Seit 1945 sind Missionare der Südbaptisten für die Entwicklung und Gestaltung der Theologie in der Konvention verantwortlich. 24 Korean Baptist Theological University / Seminary: http://eng.kbtus.ac.kr/mission&vision.html Zugriff am 14.2.2017

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der Grenze zwischen Thailand und Myanmar, wo sie unter den intern geflüchteten oder verschleppten Menschen arbeiten. Eine bedeutsame koreanische Diaspora existiert in großen westlichen Städten und bildet einen fruchtbaren Boden für kirchliche Netzwerke und Verbreitung. Und weil Nordkorea Anzeichen eines Zusammenbruchs bietet, deuten anekdotische Anzeichen darauf hin, dass das Christentum bereits Wurzeln unter der Bevölkerung geschlagen hat. Malaysia Die ersten baptistischen Gemeinden in Malaysia waren von baptistischen Immigranten aus Swatow, China, gegründet worden, und die Südbaptisten unterstützten sie, was Lehre, Organisationsform und Dienst anbelangt. Große Veränderungen ereigneten sich in den 1950er Jahren, als Malaysia die Unabhängigkeit erlangte und die Malaya Baptist Convention sowie das Malaysische Baptistische Theologische Seminar (MBTS) gegründet wurden. Seither steht der Bund in der Pflicht, Katastrophenhilfen zu leisten sowie das MBTS zu unterhalten und die Mission, vor allem in Zentralasien, zu unterstützen.25 Als am zweiten Weihnachtsfeiertag 2004 der Tsunamie viele asiatische Länder verwüstete, forderte der Bund die Ortsgemeinden auf, an den Tsunamie Hilfsfond Gelder abzuführen. Es wurden insgesamt RM 1.157.525,22 gespendet. Nach dieser bedeutsamen Leistung wurde der Malaysisch Baptistische Hilfsfond gegründet, was den Bund in die Lage versetzt, schnell auf Naturkatastrophen zu reagieren. Nach dem Jogjakarta Erdbeben 2006 konnte der Bund mit Kirchen und Organisationen in Indonesien Partnerschaften eingehen, um Hilfe zu leisten. Das Gleiche geschah nach dem Wirbelsturm auf den Philippinen im selben Jahr. Die Nachwirkungen des Durian Wirbelsturms machten den Philippinen auch 2007 noch zu schaffen, so dass eine Sonder-

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Die Konvention feierte 2003 ihr 50jähriges Bestehen. Bei dieser Gelegenheit erschien das Buch von Bobby und Dorothy Evans, Great things He has done! A Century of Malaysian Baptist History, 2003. Dort findet man ausführliche Informationen zur Geschichte.

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kollekte erhoben wurde, um denen gezielt zu helfen, die durch die Flutwelle betroffen waren.26 Das Theologische Seminar (MBTS) wurde 1954 gegründet; sein Ableger in Singapur 1983. In den folgenden dreißig Jahren ging das Seminar internationale Partnerschaften mit den USA, Australien und Korea ein. Gemeinsam entwickelte man Programme wie Christliche Weltbegründungen, Ganzheitliche Entwicklung des Kindes, Arbeit mit Jugendlichen, Seelsorge und ein Doktorat in Missiologie auf Koreanisch.27 Die gegenwärtige Aufgabe des Seminars besteht darin, das Volk Gottes zu mobilisieren, um vollzeitliche Pastoren und Laienprediger zu unterstützen, die geistliche Betreuung der Ortsgemeinden zu leisten und die Studierenden ganzheitlich auszurüsten. Weitere wichtige Bereiche, die MBC finanziell ausstattet, sind: • Wachstum – der baptistische Neue Arbeitsfond unterstützt Gemeindegründungen; • Schulungsprogramme – den Gemeinden durch Lehre und Schulung in Form von Seminaren und Workshops zu helfen; • Mission – Fortsetzung der Arbeit in Ost Malaysia und den Tamil-­ sprachigen Dienst; • Arbeit im Ausland, einschließlich des Projekts, 2.000 Bibeln nach Zentralasien zu befördern; • Entwicklungshilfe, insbesondere den Frauen zu helfen, den Armutskreislauf durch Nähmaschienenkurse in Zentralasien zu durchbrechen.

Im Jahr 2012 war Kuala Lumpur der Austragungsort des achten Kongresses der APBF.28 Die Verantwortung lag bei Rev. John Kok, dem Pastor der Gemeinde in Kuala Lumpur. Mongolei Der erste protestantische Missionar in der Mongolei war John Gibbons, der seit den 1970er Jahren mit Übersetzungen und 26

Malaysia Baptist Convention: http://www.mbc.org.my/index.php?option=com_ content&view=article&id=22&Itemid=29 Zugriff am 14.2.2017. 27 Malaysia Baptist Theological Seminary: http://www.mbts.org.my/en/history Zugriff am 14.2.2017. 28 Malaysia Baptist Convention, op.cit.

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humanitärer Hilfe beschäftigt war, sich aber nach dem Zerfall der Sowjetunion als Missionar zu erkennen geben konnte. Es gibt weiterhin eine Reihe von Herausforderungen für die relativ junge Arbeit und ebenso Herausforderungen für solche, die von der Arbeit zu berichten versuchen. Die wachsende Popularität des Shamanismus ist ein Grund zur Sorge, aber auch die unklare Definition von Kirche oder das noch lockerere Konzept einer Denomination erschweren es, den gegenwärtigen Zustand ausfindig zu machen. Es ist jedoch klar, dass das Christentum im Wachsen begriffen ist und dass ein Schlüssel zum Fortschritt die Partnerschaften sind. Die Mongolen zeigen sich gegenüber dem Übernatürlichen offen, und ein Faktor, der für die Zahl der von 50 auf 12.000 gestiegenen Christen entscheidend ist, besteht in der bereitwilligen Annahme der Auferstehung. Ihr Interesse an dem Mysterium bedeutete auch, dass der Shamanismus, die Religion der Genghis Khan, für viele Mongolen eine natürliche seelische Regung ist. Die Gemeinden haben es schwer, dagegen anzugehen. Viele Gemeinden kommen immer noch in Hauskirchen zusammen, so dass es schwierig ist, genaue statistische Angaben für protestantische Gemeinden zu erlangen. Mongolische Kirchenleiter haben angedeutet, dass die offiziellen Statistiken die Hauskirchen nicht einbeziehen, und sie schätzen, dass es ca. 45.000 Mitglieder in 500 dieser Kirchen gibt. Ein Viertel von ihnen wurde durch Mongolen gegründet. Die Mongolei besteht aus 21 Länder (aymars), die wiederum in 330 Kreise (sums) unterteilt sind. Nur 40 % der sums haben Ortsgemeinden. Gegenwärtig gibt es über 500 ausländische Missionare, und die größte Gruppe dieser ‚gemischt-kulturellen‘ Arbeiter, etwa 400, kommt aus Korea. Sie arbeiten in Partnerschaft mit Mongolen. Es scheint keine genaue Unterscheidung zwischen Missionaren und christlichen Vertretern von NichtRegierungs-Organisationen zu geben, was auch zu der Schwierigkeit beiträgt, genaue statistische Angaben zu bekommen. Weil die Grenzen zwischen den Denominationen unscharf sind, lassen sich baptistisch-spezifische Daten schwer erheben. Missionare in der Mongolei, ganz gleich von welcher Denomination, haben miteinander und mit Einheimischen zusammen gearbeitet und interdenominationelle Gemeinden hervorgebracht. Viele Gemeinden tendieren zu einer presbyterianischen 404

Identität – obwohl sie sich oft so nicht bezeichnen –, weil die Mehrheit der koreanischen Missionare von presbyterianischen Kirchen gesandt werden. Heute gibt es zehn Gemeinden, die sich als ‚baptistisch‘ bezeichnen; neun dieser Gemeinden werden von Koreanern geleitet, eine von einem mongolischen Pastor. Außerdem gibt es viele kleine Gemeinden in Baihangar, die massiv von der Suwon Central Baptist Church unterstützt werden. Viele Gemeindeleiter dieser Gemeinden haben Korea besucht und an Schulungen der Suwon Gemeinde teilgenommen. Obwohl sie baptistische Merkmale aufweisen, zögern sie, sich Baptisten zu nennen, zum Teil, weil sie Unterstützungen von anderen Denominationen erhalten. Eine von koreanischen Missionaren betriebene baptistische Bibelschule und ein Seminar bilden durchschnittlich fünf bis zehn Studenten pro Jahr aus. Die Gesamtzahl der Abgänger hat bisher über 30 erreicht. Bis heute gibt es noch keinen baptistischen Landesverband oder einen Bund. Pastor Oggie Yoshua, ein mongolischer Pastor der Holy Foundation Baptist Church hat die Absicht, in Kürze einen Verband zu gründen. Er genießt Respekt und Vertrauen vieler mongolischer Baptisten und Missionare und wird sich mit ihnen zusammensetzen, um die Grundlage für einen Verband zu schaffen. Er deutete an, dass viele baptistische Persönlichkeiten die Notwendigkeit eines derartigen Netzwerkes erkannt haben.29 Myanmar Es gibt über einhundert ethnische Gruppen in Myanmar (Burma), von denen viele eine eigene Sprache oder einen eigenen Dialekt haben. Sie haben einige der längsten Bürgerkriege in der jüngsten Geschichte und eine fast 50jährige Militärherrschaft erlebt, bis es vor kurzem brüchige Waffenstillstandsvereinbarungen zwischen dem Militär und verschiedenen ethnischen Gruppen gab. 700 Dörfer wurden seit 1996 zerstört, umgesiedelt oder aufgegeben, und nach konservativen Schät29

Informationen verdanke ich dem Werk von Timothy Hyun-Mo Lee, Professor für Missiologie an der Koreanischen Baptistischen Theologischen Universität und seinem Bericht vom 3. September 2015 an den Exekutivausschuss der Asien-Pazifischen Baptistischen Föderation.

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zungen gab es bis Ende 2012 400.000 verschleppte Personen.30 Während die Reformen von 2012 und die einen Wendepunkt markierende Wahl Aung San Suu Kyis von 2015 Fortschritte bedeuteten, und viele diplomatische Beziehungen wieder aufgenommen wurden, haben Konflikte und Verfolgungen nicht aufgehört, und Baptisten wirken noch immer im Schatten eines vernachlässigten Gesundheitssystems, ethnischer Streitigkeiten und Menschenrechtsverletzungen. Die Geschichte der Baptisten in Myanmar begann mit Adoniram und Ann Judson, und ihr Erbe schließt die 1865 gegründete Myanmar Baptist Convention ein, die heute nahezu eine Million getaufte Mitglieder zählt.31 Myanmar ist ein überwiegend buddhistisches Land mit einem Bevölkerungsanteil von ca. 6 %, der sich christlich definiert. Von diesen sind 2 / 3 Protestanten, von denen sich etwa die Hälfte als Baptisten versteht. Die Myanmar Baptist Convention umfasst 18 sprachlich und regional unterschiedliche Bünde, von denen die Karen Baptist Convention der größte ist und 2013 die Hundertjahrfeier begehen konnte. Bald danach gedachte man der Ankunft des Ehepaares Judson in Burma vor 200 Jahren. Die vier Tage währende Feier wurde von dem Myanmar Theologischen Institut (MIT) organisiert, und es war bemerkenswert, dass Tausende Baptisten aus der ganzen Welt in einem Land zusammenkommen konnten, in dem während der fast 50jährigen Militärherrschaft eine Versammlung von mehr als fünf Personen streng untersagt war.32 Die Convention betreibt das Theologische Institut, das im Juni 1927 auf dem Seminar Hügel in Yangon gegründet wurde. Die Studierenden kommen aus mehr als zwanzig ethnischen Gruppen und zehn christlichen Denominationen. Ursprünglich benutzte das Institut die Einrichtungen des Karen Theologischen Seminars (heute: Kayin Baptist Theological Seminary) mit. Seitdem die Missionare der American Baptist Convention (heute: American Baptist Churches) 1966 Burma verlassen mussten, hat sich das Institut gut entwickelt und wird ausschließlich 30 The

Border Consortium, Changing Realities, Poverty and Displacement in South East Burma / Myanmar. 31 October 2012. 31 Baptist World Alliance statistics: https://bwanet.org/about-us2/stats 32 Baptist News: https://baptistnews.com/article/baptists-celebrate-judsons-inburma/#.UqHSLvRDtqU Zugriff am 15 / 02 / 2017.

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von Einheimischen betrieben.33 Während der letzten 50 Jahre musste das Institut die Schwierigkeiten einer sehr verschiedenartig zusammengesetzten Studentenschaft und die vielen Herausforderungen durch das Militärregime bewältigen. Auf diesen Erfahrungen aufbauend plant die Convention, eine christliche Universität zu eröffnen. Neben dieser Betonung der Bildung sind die Baptisten in Myanmar aktiv an ethnischen und gemeindebasierten Gesundheitsorganisationen beteiligt, vor allem in von Konflikten belasteten und abgelegenen Regionen im Osten Myanmars, wo Gesundheits- und Hygienefragen immer noch Probleme verursachen. Dr. Cynthi Maung, die Direktorin der Mae Tao Klinik, ist eine vertriebene Karen und Baptistin, die 1988 während der pro-demokratischen Aufstände gezwungen war, aus Burma zu fliehen. Knapp dreißig Jahre arbeitete sie in Mae Sot an der thailändisch-myanmarischen Grenze, wo sie Flüchtlinge medizinisch versorgte und ihnen Schutz gewährte. Die derzeitige Betonung der Programme zur primären Gesundheitsvorsorge wie in der Mae Tao Klinik sind auf den Gebieten der reproduktiven Medizin, der Mütterberatung und der Kindervorsorge. Baptistische Gesundheitsorganisationen haben das Ziel „sicher zu stellen, dass die Menschen in Burma ermächtigt sind, sich für ihre eigenen Bürgerrechte einzusetzen und sie einen gerechten Zugang zu grundlegenden Diensten wie Gesundheit und Bildung haben.“34 In dem Maße wie die entsetzliche Behandlung ethnischer Minderheiten mehr und mehr ans Licht kommt, hat es verstärkte Bemühungen in strategischer humanitärer Interventionsarbeit gegeben.

33

Myanmar Institute of Theology: https://www.scribd.com/document/6991805/ Myanmar-Institute-of-Theology Zugriff am 15 / 02 / 2017. 34 Health Information System Working Group (HISWG), The Long Road to Recovery: Ethnic and Community-Based Health Organizations Leading the Way to Better Health in Eastern Burma, 4. Februar 2015.

407

Nepal Nach den politischen Reformen von 1990 war Nepal offener für die Ausbreitung des Evangeliums. Der Baptistische Kirchenrat von Nepal (Nepal Baptist Church Council = NBCC = die Vertretung aller Baptistengemeinden in Nepal) wurde am 11. April 1992 von acht Gemeinden gegründet. Wenn dieser Kirchenrat nicht auf Naturkatastrophen reagieren muss, konzentriert er sich auf Mission, Evangelisation, Jüngerschaftsschulung, Gemeindegründung, Entwicklung von Führungspersonen, Sozialarbeit und die Zurüstung der Ortsgemeinden zu gesunden und sendenden Gemeinden. Nach der Statistik des Weltbundes von 2015 umfasst der Kirchenrat 176 Ortsgemeinden, 250 Gemeinschaften mit zusammen 18.000 getauften Mitgliedern.35 Am 25. April 2015 wurde Nepal von einem Erdbeben der Stufe 7,8 auf der Richter-Skala verwüstet. Über 5.800 Tote waren zu beklagen, und Tausende wurden obdachlos. Die Nachbeben verursachten weitere Schäden und erschwerten eine koordinierte Hilfe. Ortsgemeinden in der Gegend von Kathmandu bildeten sofort einen Katastrophen-Hilfsausschuss. Francis Horton, der Gebietsdirektor für Zentral- und Südasien der baptistischen Katastrophenhilfe (Baptist Global Response), stellte sicher, dass alle Ausschussmitglieder ein Krisentraining erhielten. Erst dann arbeiteten sie mit der Katrastrophenhilfe und anderen nationalen und internationalen Organisationen zusammen wie der Coopera­ tive Baptist Fellowship aus den USA und der Ungarischen Baptistischen Hilfe, um dringend benötigte Hilfen zu leisten, in der Logistik zu helfen und zu beurteilen, welche dringenden Mängel noch nicht von anderen Organisationen behoben worden waren. Horton erkannte, dass „Partnerschaft ein Schlüsselelement ist – wirklich unerlässlich, um die Bedürfnisse angemessen zu erfüllen.“36 Der NBCC hat für die nahe Zukunft Wachstumsziele gesetzt: „Ortsgemeinden zu mobilisieren, um neue Gemeinden zu gründen“ – der Plan ist, dies durch Evangelisation, Jüngerschaft35

Nepal Baptist Church Council: http://nbccnepal.org/About%20us.html Zugriff am 15 / 02 / 2017. 36 Baptist Standard: https://www.baptiststandard.com/news/world/17737-baptists-respond-to-needs-in-earthquake-ravaged-nepal Zugriff am 25.2.2017.

408

training u. a. Ausbildungen zu erreichen; die fähigen christlichen Führungspersonen für die Sendung in alle Bereiche der Gesellschaft zu entwickeln – auch das soll durch Ausbildung erreicht werden, aber auch durch die Gründung von Bibelschulen oder Bibelzentren, durch die Entwicklung von Stipendienprogrammen und durch die Unterstützung von Kirchenverwaltung und Management; um mehr humanitäre und soziale Arbeit durch Gemeinschaftsentwicklungsprogramme und soziale Dienste durchzuführen, einschließlich Projekte, die Einkommen generieren, Gesundheitserziehung, Reaktion auf Naturkatastrophen, Klimaschutz und Konfliktmanagement; „organisatorische Entwicklung zu erleichtern“ durch den Kauf von Grundstücken, die Errichtung von Gebäuden, die Entwicklung von politischem Verhalten und das Auf-den-neusten-Stand-Bringen von Strukturen und Systemen. NBCC zielt darauf ab, strategische Partnerschaften zu entwickeln, um diese Ziele zu erreichen. Die Philippinen Nach Jahren spanischer Kolonialherrschaft, umfangreichem katholischen Einfluss und den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs mussten die philippinischen Pastoren und Gläubigen ihre Identität und ihre Sendung neu entdecken und neu definieren. Es wurde immer deutlicher, dass sie ihre eigene philippinische Ausdrucksweise des Glaubens entwickeln wollten. Heute gibt es fast 4.000 Gemeinden mit annähernd 600.000 Mitgliedern auf den Philippinen. Diese bestehen aus der Convention of Philippine Baptist Churches (CPBC), Baptist Conference of the Philippines (BCP), Convention of Visayas and Mindanao of Southern Baptist Churches, Luzon Convention of Southern Baptist Churches 37 und General Baptist Churches of the Philippines.38 Als die 1980er Jahren anbrachen, beschrieb Pastor Rudy Acosta die Situation treffend als eine Identitätskrise: „Die Chinesen haben Stäbchen, was aber ist mit den Filipinos? Was haben wir? Wir wissen nicht, was wir sind. Wir sind wie ein Hambur-

37 Diese

beiden Bünde sind mit der Southern Baptist Convention aus den USA eng verbunden, wie der Name besagt. 38 Baptist World Alliance statistics: https://www.bwanet.org/about-us2/stats.

409

ger.“39 Innerhalb einer Gesellschaft, die nach der Unabhängigkeit ihrer Nationalität weiter nachging, erlebten auch die Baptisten eine Periode der Selbstreflexion. Die Zeit war reif, um durchzubuchstabieren, wie eine kontextuelle Theologie für die Philippinen aussehen könnte und die Frage zu stellen, wie sich Baptisten in der sich verändernden und sich entwickelnden Kultur engagieren könnten. Die Pastoren beschäftigten sich mit den praktischen Problemen des Alltags. Fragen des kirchlichen Alltags und wie Christen und die Gemeinde zu ihren Nachbarn in Beziehung treten könnten, wurden untersucht. Die Direktorin des Bibel-Colleges der Baptist Convention, Pastorin Angelina Buensuceso, reagierte darauf, indem sie neue Bildungs- und Ausbildungschancen entwickelte und feststellte: „Kultur und christliche Spiritualität sind miteinander verflochten. Die eine erscheint fremd und ungewohnt ohne die andere. Eine Spiritualität, die losgelöst ist von der Kultur, entwickelt ein (geistiges) Leben ohne Sinn. Eine Kultur, die losgelöst ist von Spiritualität entwickelt ein (kulturelles) Leben ohne feste Grundlage.“40 Das Leben und die Arbeit der Baptisten auf den Philippinen sind heute von dem Versuch geprägt, die eigene baptistische Identität klarzustellen und sie mit ihrer gesellschaftlichen Umgebung in Beziehung zu setzen. Ermutigt durch die Arbeit von Buensuceso und anderen, legt die CPBC heute einen besonderen Schwerpunkt auf Bildungsprogramme. „Die Abteilung für Christliche Erziehung ist damit beauftragt, die Ortsgemeinden darin zu unterstützen, eine kirchliche Arbeit zu entwickeln, durch die Menschen und Gemeinschaften kontinuierlich erneuert, gefördert, umgestaltet und ermächtigt werden, um an Gottes erlösendem Handeln teilzunehmen, damit Gottes Herrschaft noch offenkundiger in Erscheinung tritt.“41 Zusätzlich wurde eine Abteilung für theologische Ausbildung mit der Aufgabe betraut, die Bibelschulen und Bibel-Colleges zu beaufsichtigen und eine Weiterbildung für 39

Auszüge aus: Pastor Francis Neil G. Jalando-on, A History of Philippine Baptist Pastors 1898–2002. Dieser Artikel wurde publiziert in dem Buch: Managing Faith Resources, N. Bunda, R. Faulan, F. N. Jalando-on, J. Narciso, 2003. 40 Ibid. 41 World Council of Churches: http://www.oikoumene.org/en/member-churches/convention-of-philippine-baptist-churches Zugang am 12 / 02 / 2017.

410

Pastoren zu organisieren. Partnerschaften mit indigenen Stämmen, ökologische Programme und Alphabetisierungskampagnen für Erwachsene sind Teil der Arbeit, mit der CPBC in die Gesellschaft hineinwirken möchte. Die anderen baptistischen Bünde konzentrieren sich weiterhin auf Wachstum, Entwicklungshilfe und Bildung. Die BCP konzentriert sich auf Überseemission, sendet und unterstützt 40 Missionare in 12 verschiedenen Nationen. Der Bund von Visayas und Mindanao unterhält blühende Männer- und Jugendwerke. Bei den General Baptist Churches of the Philippines konzentriert man sich auf Gemeindegründungen und die beiden Bibel-Colleges, die man unterhält: General Baptist Bible College and Matigsalog Bible Institute.42 Der Luzon Bund richtet seine Bemühungen auf soziale Gerechtigkeit, Jugend- und Männerwerke, den Frauen-Missionsbund und die weltweite Mission. Singapur In starkem Gegensatz zu Ländern wie Kambodscha oder Myanmar steht Singapur in Asien ganz oben auf dem UN Index für menschliche Entwicklung43, einem Wohlstandsindikator, der Bildung, Gesundheitsfürsorge, Lebenserwartung, Wohnraum, persönliche Sicherheit und allgemeine Lebensqualität umfasst. Um 1970 waren die ursprünglich zwei Gemeinden auf elf autonome Ortsgemeinden angewachsen. Diese Gemeinden waren Teil der Malaysia Baptist Convention bevor sich Singapur von Malaysia selbständig machte. Weil man einige negative Erfahrungen gemacht hatte, gab es etliche Beratungen über den Begriff Convention, den man fallen ließ und stattdessen 1971 die Singapore Baptist Churches’ Fellowship gründete. Es bedurfte jedoch nur weniger Jahre bis die Befürchtungen, die mit dem Wort Convention verbunden waren, abgeklungen waren, weil inzwischen die unterschiedlichen Gemeinden es gelernt hatten,

42 General

Baptist Church of the Philippines: http://www.generalbaptistphil. org/ Zugang am 12 / 02 / 2017. 43 UNDP Human Development Report: http://report.hdr.undp.org/ Zugang am 12 / 02 / 2017.

411

zu kooperieren.44 Die Singapore Baptist Convention (SBC) hat die Schwerpunkte Evangelisation, Gemeindegründung, theologische Bildung und Außenmission. Das Theologische Seminar Singapurs wurde 1983 als Zweig des Malaysischen Seminars eröffnet, weil die Studierenden aus Singapur Schwierigkeiten hatten, nach der Unabhängigkeit Singapurs Visa zu erhalten, um in Malaysia studieren zu können. Schließlich wurde das Seminar unter dem Schirm der SBC eine eigenständige Institution. Derzeit bietet das Seminar einen Doktorgrad (Doctor of Ministry, etwa in Praktischer Theologie) durch Union University, Tennessee, USA. Die Gesamtzahl der Studierenden ist von 22 im Jahr 2004 auf 90 im Jahr 2016 gestiegen. Das englischsprachige Programm wird von Studierenden aus Myanmar, den Philippinen, Thailand, Korea, Indien, Indonesien, Vietnam und den USA belegt. Für Studierende aus Singapur und China wird ein chinesischsprachiges Programm angeboten.45 Die ersten zwei Jahre nach Gründung der Convention waren wichtig für viele Schlüsselprogramme der nächsten dreißig Jahre. Eine strategische Partnerschaft mit den Südbaptisten der USA und kooperative Beziehungen zu internationalen baptistischen Organisationen ermöglichten konzertierte Anstrengungen auf den Gebieten des Gemeindewachstums, der Mission, der Entwicklung neuer Kurse und Programme im Seminar und eine Kooperation mit chinesischen Baptisten.46 Um 2015 umfasste der Bund 37 Ortsgemeinden mit etwa 10.000 getauften Gläubigen. Derzeit konzentriert sich die Arbeit auf Gemeindewachstum, die Entwicklung und Akkreditierung neuer Kurse und Programme für das Seminar; Mission – weiterführende Arbeit auf den Riau Inseln Indonesiens und in Isaan im Nordosten Thailands; Versuch der Vereinigung chinesischer baptistischer Organisationen auf der ganzen Welt (die achte Konferenz der weltweiten chinesisch-baptistischen Mission fand 2017 in Bangkok statt); Pflege 44 Morris,

Russell A. The Singapore Baptist Family Story 1970–2000, (Singapore: Singapore Baptist Convention, 2007), 30. Die meisten Informationen über Singapur stammen aus dem Buch von Morris. Hier findet man noch mehr Informationen über die baptistische Geschichte von 1970 bis 2000. 45 Baptist Theological Seminary (Singapore) http://www.bts.org.sg/index. php?option=com_content&view=article&id=354:presidents-message-jan2016&catid=39:news-a-updates&Itemid=289 Zugriff am 15 / 02 / 2017. 46 Op.cit., Morris, 34.

412

für Alte – Bereitstellen von finanziellen, geistlichen, sozialen und erzieherischen Hilfen für Benachteiligte und spezielle Pflege für Senioren; Entwicklungshilfe – Baptist Global Response ist eine Katastrophenhilfe- und Gemeinde­entwicklungsorganisation, die die Arbeit der Südbaptisten weltweit unterstützt; mehrere Arbeitszweige für Ausbildung und Unterstützung von Pastoren und führenden Laien. Thailand Es gibt vier Mitgliedsorganisationen, die in Thailand zur APBF gehören: der 12. Distrikt der Kirche Christi in Thailand, Thailand Baptist Convention, Thailand Karen Baptist Convention, und Thailand Lahu Baptist Convention. Die Karen Convention ist die größte.47 Thai zu sein bedeutet gleichzeitig Buddhist zu sein; daher sind die ethnischen Thai schwer zu bekehren. Unter anderen ethnischen Gruppen wie den Karen und den Lahu gibt es mehr und einfacheres Wachstum. Neben Gemeindegründungen und Erziehung ist ein Großteil der Arbeit der Baptisten der humanitären Hilfe und der Entwicklung gewidmet, vor allem angesichts der Nähe zu Myanmar. Die Kirche Christi in Thailand (CCT) ist die älteste Denomination im Land und geht auf das Jahr 1934 zurück, als sich von den nördlichen Baptisten aus den USA gegründete Gemeinden mit presbyterianischen Kirchen zusammenschlossen. Es ist die größte protestantische Denomination und macht etwa die Hälfte aller Protestanten aus. Es gibt heute thai-, chinesisch-, karen-, lahu- und englischsprachige Gemeinden. Diese Kirche konzentriert sich auf Bildung und Hilfeleistungen. Sie betreibt derzeit zwei Universitäten, zwei theologische Seminare, sieben Krankenhäuser und nahezu dreißig Schulen. Ihre Hilfs- und Entwicklungsarbeit umfasst Sozialarbeit in den Slumgebieten von Bangkok, landwirtschaftliche und Gemeindeentwicklung in ländlichen Gebieten. In den 1970er Jahren war ihre Arbeit unter kambodschanischen Flüchtlingen entscheidend, und sie arbeiten heute weiter mit Flüchtlingen aus Myanmar48, darunter 47

Baptist World Alliance statistics: https://www.bwanet.org/about-us2/stats World Council of Churches: https://www.oikoumene.org/en/member-churches/church-of-christ-in-thailand Zugriff am 14 / 02 / 2017. 48

413

HIV / AIDS Erziehungs- und Präventionsprogramme. Außerdem bieten sie Berufsausbildung für weibliche Stammesangehörige als Alternative zur Sexindustrie.49 Die Thailand Baptist Convention ist eine vergleichsweise kleine Denomination baptistischer Gemeinden. Missionare der Südbaptisten legten den Grundstein in den frühen 1900er Jahren, und dieser Bund ist jetzt eine von nur fünf christlichen Organisationen, die von der Regierung anerkannt sind. Gegenwärtige Bemühungen richten sich darauf, dass die Einwohner leichten Zugriff auf Informationen über jede der Ortsgemeinden haben. Diese Informationen finden auch intern Verwendung, um zu entscheiden, wo neue Gemeinden gegründet werden sollten.50 Die Karen Convention ist ein Zweig des gleichnamigen Bundes in Myanmar, der wiederum mit 18 weiteren Mitgliedsbünden die Karen Baptist Convention of Myanmar bildet. Die Lahu sind eine ethnische Gruppe, die ursprünglich aus Tibet stammt, die aber heute in China, Myanmar, Thailand und Laos zu finden ist. Ein Überblick über Thailand wäre unvollständig, ohne die bemerkenswerte Arbeit der Kawthoolei Karen Baptist Bibelschule zu erwähnen. Sie stellt eine der größten theologischen Ausbildungsstätten in Südostasien dar, die 1983 gegründet wurde, aber 1986 an ihren jetzigen Standort umzog, um Verfolgungen zu entgehen. Sie befindet sich in dem Mae La Karen Flüchtlingscamp im Song Yang Distrikt. Die Bibelschule ist zu einer „vertriebenen“ Institution geworden, die einer „vertriebenen“ Volksgruppe dient und sie ausbildet.51

Vietnam Vietnam gilt als eines der am wenigsten religiösen Länder der Welt. Über 70 % der Bevölkerung identifizieren sich mit einer nominellen Form vietnamesischer Volksreligiosität, einer Kombination von Elementen des Konfuzianismus und des Taoismus. 49 Global

Ministries: http://www.globalministries.org/the_church_of_christ_ in_thailand Zugriff am 14 / 02 / 2017. 50 Thailand Baptist Convention: https://thaichurches.org/directory/denomination/Thailand%20Baptist%20Convention Zugriff am 14/02/2017. 51 Kawthoolei Karen Baptist Bible School https://sites.google.com/site/kkbbsc/ home/brief-history

414

Dennoch sind in der Statistik des Baptistischen Weltbundes für 2015 über 500 Gemeinden mit 40.000 Mitgliedern aufgeführt.52 Obwohl der Krieg 1954 ausbrach, begann die baptistische Arbeit erst 1959, und die erste Gemeinde, Grace Baptist Church in Saigon, wenig später. Der erste vietnamesische Konvertit war Le Quoc Chanh, der 1970 ihr Pastor wurde und die Gemeinde die nächsten dreißig Jahre leitete. Um 1975 hatten sich vierzig Missionsfamilien der Arbeit angeschlossen und waren auf das ganze Land verteilt und schulten Gläubige vor Ort.53 Nach zwei Jahrzehnten des Krieges zwischen Nord und Süd Vietnam, fiel Saigon 1975. Vietnam war verwüstet und die Bevölkerung wusste nicht, was von der neuen kommunistischen Regierung zu erwarten war. Obwohl die Abteilung für Außenmission der Südbaptisten in den USA entschieden hatte, seine Missionare aus Vietnam abzuziehen, hielt die Grace Baptist Church ihre Pforten geöffnet und führte trotz des politischen Klimas weiter Gottesdienste durch. Es war die einzige Kirche, die dies in den ersten Tagen nach Ende des Krieges tat.54 Seitdem hat die Regierung Beschränkungen auf die öffentlichen Bekundungen des Glaubens verhängt, und Kirchen dürfen weder Land noch Gebäude besitzen. Das bedeutet, dass viele vietnamesische Baptisten sich in Hauskirchen treffen. Durch dieses Modell sind Menschen zum Glauben gekommen, aber es hat auch zu Dutzenden von kleinen, unverbundenen Gruppen geführt.55 Weitgehend durch die Leitung von Le Quoc Chanh und seinem Sohn Huy wurde eine neue nationale baptistische Konföderation gebildet, und die Grace Baptist Church wurde offiziell von der Regierung anerkannt.56 Die Gemeinde kommt immer noch an ihrem ursprünglichen Standort zusammen, und

52

Baptist World Alliance: https://www.bwanet.org/about-us2/stats Baptist Press News: http://bpnews.net/31767/baptists-celebrate-50-years-invietnam-with-hugs-tears Zugriff am 13 / 02 / 2017. 54 Ibid. 55 Baptist Press News: http://www.bpnews.net/46324/unity-for-vietnams-­baptistsis-pastors-next-goal Zugriff am 15 / 02 / 2017. 56 Mission Network News: https://www.mnnonline.org/news/baptist-churchcelebrates-vietnam-recognition/ Zugriff am 15 / 02 / 2017. 53

415

man konnte 2009 die Fünfzig- Jahr-Feier begehen.57 Im Jahr 2010 folgte Huy seinem Vater als Hauptpastor der Gemeinde. Anfang 2016 machten die Baptistengemeinden erneute Anstrengungen, einen Bund (convention) zu gründen und weitere Anerkennung seitens der Regierung zu erhalten. Die Ziele des neuen Bundes sind neue Gemeinden zu gründen, die Gläubigen zu schulen, Missionsarbeiter auszubilden, Führungskräfte zu entwickeln, Ausbildungsmaterialien zu veröffentlichen und menschlichen Nöten im Namen Jesu zu begegnen.58 Der nationale Bund wird auch dazu beitragen, Missionare in benachbarte südostasiatische Länder wie Laos und Kambodscha zu entsenden. Schlussfolgerung Baptistengemeinden und Organisationen in ganz Asien sind überwiegend auf Wachstum im In- und Ausland ausgerichtet, und während ein beträchtlicher Schwerpunkt auf Bildung und Ausbildung liegt, ist man weniger mit theologischen Fragen beschäftigt. Die katastrophalen Kräfte der Natur, die Asien heimsuchen, hat dazu geführt, dass Organisationen wie APBAid in der Lage sein müssen, schnell auf ein Unglück zu reagieren und strategisch in Kommunikation, Partnern und Ausbildung zu sein. Bangladesch betreibt eine Entwicklungsagentur, die in der Region eine Schlüsselstellung einnimmt und hat schnelles Wachstum erlebt. Die bemerkenswert erfolgreiche Methode der Gemeindegründung in Kambodscha hat zu ähnlichen Modellen in anderen Kontexten geführt. Die baptistische Universität in Hong Kong führt innovative Forschungen durch und ist auf dem Gebiet der Geographie führend in der Welt. Indonesien erlebt eine verstärkte Zusammenarbeit der verschiedenen Bünde und war Gastgeber eines Kongresses der APBF. Japan wird von jungen Pastoren neu belebt. Koreas beispielloses Wachstum und Engagement in der Außenmission stechen hervor. Malaysia hat sich bei Hilfs- und Notstandsmaßnahmen nach mehreren Naturkatastrophen in der Region ausgezeichnet. In der Mongolei strebt man danach, eine Vereinigung von Ortsgemeinden zu organisieren. Angesichts von 57 Baptist

Press News, op.cit.: http://bpnews.net/31767/baptists-celebrate-50-­ years-in-vietnam-with-hugs-tears 58 Ibid.

416

Aufruhr und Streit arbeiten Baptisten in Myanmar und Thailand daran, eine ganzheitliche Betreuung für verfolgte und vertrieben Völker zu bieten. In Nepal setzt man während des Wiederaufbaus nach dem Erdbeben auf Gemeindegründungen. Auf den Philippinen ermutigt man Frauen, Pastorinnen und Erzieherinnen zu werden, und hat hart daran gearbeitet, einen entschieden philip­ pinischen Glauben zu entwickeln. Das Theologische Seminar in Singapur wächst sowohl im Blick auf die Zahl der Studierenden als auch in Bezug auf die angebotenen Lehrveranstaltungen. Die vietnamesischen Hauskirchen wachsen weiter trotz fehlender Religionsfreiheit. Die Früchte des innerhalb der APBF herrschenden Geistes der Gemeinschaft, des Dienstes, der Kooperation, Mission, Evangelisation, Entwicklungshilfe sowie theologische Bildung sind in den Mitgliedsorganisationen sehr deutlich er­­ kenn­bar. Hilfsmittel: Asian Baptist Women’s Union: http://www.abwu-asia.org/. Asia Pacific Baptist Federation: http://apbf.info/-Asia Pacific Baptist Aid: http://apbf.info/apbaid/. Asia Pacific Baptist Youth: http://apbyouth.org/visit-to-baptist-conventionof-vietnam-youths/. Asia Theological Association: http://www.ataasia.com/visit-to-college-­ofchristian-theology-bangladesh/- Bangladesh Baptist Church Sangha: http:// bbcs.org.bd/. Baptist Aid – Bangladesh Baptist Church Fellowship: http://www.baid-bbcf.org/. Baptist Convention of Hong Kong: http://www.hkbaptist.org.hk/ acms/?site=bchk. Baptist Theological Seminary (Singapore) http://www.bts.org.sg/index.php?. Baptist World Alliance statistics: https://www.bwanet.org/about-us2/stats. The Border Consortium, Changing Realities, Poverty and Displacement in South East Burma / Myanmar. 31 October 2012. Evans, Bobby & Dorothy. Great Things He has done!: A Century of Malaysian Baptist History, 2003. General Baptist Church of the Philippines: http://www.generalbaptistphil. org/. Global Ministries: http://www.globalministries.org/the_church_of_christ_ in_thailand. Graham, Don. „New hope dawns for Vietnam“, IMB Connecting: Commission Stories, July 18, 2011: http://stories.imb.org/asia/stories/view/ new-hope-dawns-for-vietnam.

417

Health Information System Working Group (HISWG), The Long Road to Recovery: Ethnic and Community-Based Health Organizations Leading the Way to Better Health in Eastern Burma, February 2015. Hong Kong Baptist University: http://hkbu60.hkbu.edu.hk/en/history/. Jalando-on, Francis Neil G. „ A History of Philippine Baptist Pastors 1898– 2002“. Dieser Artikel erschien auch in dem Buch Managing Faith Resources, N. Bunda, R. Faulan, F. N. Jalando-on, J. Narciso, 2003. Japan Baptist Convention, Cooperative Missions Pamphlet, 2010: http:// www.bapren.jp/uploads/photos/536.pdf. Japan Baptist Convention Disaster Relief Committee, Bond of Prayer Issue #40, October 19, 2016: http://baptist2.exblog.jp/. Kawthoolei Karen Baptist Bible School https://sites.google.com/site/kkbbsc/home/brief-history. Korean Baptist Theological University / Seminary: http://eng.kbtus.ac.kr/ mission&vision.html. Malaysia Baptist Convention: http://www.mbc.org.my/index.php?option=com_content&view=article&id=22&Itemid=29. Malaysia Baptist Theological Seminary: http://www.mbts.org.my/en/history. Mission Frontiers: http://www.missionfrontiers.org/issue/article/case-studiesof-cpms-the-khmer-of-cambodia. Mission Network News: https://www.mnnonline.org/news/baptist-church-­ celebrates-vietnam-recognition/. Morris, Russell A. The Singapore Baptist Family Story 1970–2000, Singapore: Singapore Baptist Convention, 2007. Myanmar Institute of Theology: https://www.scribd.com/document/ 6991805/Myanmar-Institute-of-Theology. Nepal Baptist Church Council: http://nbccnepal.org/About %20us.html. Partners International: https://partnersinternational.ca/global-projects/bbf/. Thailand Baptist Convention: https://thaichurches.org/directory/denomination/Thailand %20Baptist %20Convention. UNDP Human Development Report: http://report.hdr.undp.org/. Singapore Baptist Convention: http://baptistconvention.org.sg/community/. Woods, Tony. Sacrificed, Given to an Empire; Found by God, 2011. World Council of Churches (Philippines): http://www.oikoumene.org/en/ member-churches/convention-of-philippine-baptist-churches. World Council of Churches (Thailand): https://www.oikoumene.org/en/ member-churches/church-of-christ-in-thailand. Yu, Kun Jae, „An Analysis of the Historical and Theological Identity of the Korean Baptist Convention: An Indigenous Charismatic Movement“ A Thesis Submitted to The University of Birmingham, 2014.

418

Stämme, Marginalisierte und Unabhängige. Baptisten im heutigen Indien Dietmar Schulze Abkürzungsverzeichnis ABC: American Baptist Churches APBF: Asian Pacific Baptist Federation BWA: Baptistischer Weltbund CBCNEI: Council of Baptist Churches in North East India Crore: 10 Millionen KJV: King James Bibel SC: SC bezeichnet Bevölkerungsgruppe, die als unterprivilegiert angesehen werden STBC: Samavesam of Telegu Baptist Churches TBC: Telangana Baptist Convention

Es gibt viele Bücher über die Geschichte der Baptisten in Indien, aber es ist schwer ein einziges Buch in deutscher oder englischer Sprache über alle Baptistenbünde im heutigen Indien zu finden. Dieser Umstand erleichtert nicht gerade die Erarbeitung dieses Themas. Es wird noch schwieriger, wenn man bedenkt, dass es 22 bzw. 24 baptistische Bünde in einem Land mit rund 1,3 Milliarden Menschen gibt. Die Mehrheit dieser Bünde wiederum ist in dem Teil Indiens zu finden, der sich im Nordosten des Subkontinents geographisch und kulturell vom Rest Indiens abgrenzt. Dazu gibt es noch die unabhängigen Baptisten, die sich zwar nicht in einem Bund organisieren, aber dennoch durch ein ähnliches Glaubensbekenntnis und gemeinsame Merkmale miteinander verbunden sind. In diesem Kapitel geht es um drei verschiedene Gruppen von Baptisten, die beispielhaft die denominationelle Bandbreite in Indien veranschaulichen sollen. Auch wenn hier nur drei exemplarische Gruppen vorgestellt werden, soll jedoch der Eindruck vermieden werden, dass der Autor vereinfachend in Schubladen sortieren möchte. • In der ersten Gruppe geht es um Stammes-Baptisten in Nordost Indien. Bis ins 20. Jahrhundert hinein praktizierten noch einzelne

419

Stämme die Kopfjagd, bevor sie sich dem Christentum anschlossen. Die Stammeskultur hat entscheidend zur heutigen Gestalt dieser Gruppe beigetragen. • In der zweiten Gruppe stehen die Marginalisierten im Mittelpunkt. Diese Baptisten gehören größtenteils zu den Dalits. Es sind Telugu sprechende Menschen im Osten Indiens, schwerpunktmäßig in Andhra Pradesh. Die Mitgliedschaft ihres Bundes wurde von der BWA wegen finanziellen Unregelmäßigkeiten ausgesetzt. Im Jahr 2016 wurde ein alternativer Bund ins Leben gerufen. • Schließlich gibt es noch die Unabhängigen, vorwiegend im Süden Indiens. Es gibt zwei bedeutende Merkmale der Unabhängigen Baptisten in Indien. Das erste Merkmal ist die Nähe zu Kirchen in den USA, die nur die King James Version (KJV) der Bibel verwenden. Zweitens gehören fast 20 Millionen Christen in Indien unabhängigen Kirchen an. Man könnte sich fragen, warum KJV im 21. Jahrhundert in Indien noch gelesen wird. Einige dieser unabhängigen Kirchen dienen als Illustration für den Einfluss westlicher Gemeinden.

Die unterschiedliche Länge der einzelnen Abschnitte liegt vor allem darin begründet, dass der Verfasser dieses Kapitels aus unterschiedlich großen Informationsquellen schöpfen konnte. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf den Nordosten des Landes. Der Autor ist ein außenstehender Betrachter, der diese drei Gruppen aus der Distanz beschreibt. In seiner Dissertation1 hatte er sich mit Baptisten in Nordost Indien auseinandergesetzt. Als Quellen werden Bücher, Artikel, Nachrichten und Webseiten verwendet. Bevor näher auf die drei Gruppen eingegangen wird, sollen einige einleitende Bemerkungen Orientierung über die Gesamtsituation der Baptisten im heutigen Indien vermitteln. Baptisten in Indien In Indien gibt es derzeit 22 Bünde,2 die eine Mitgliedschaft im Baptistischen Weltbund (BWA) unterhalten, weitere zwei Bünde,

1 Dietmar

Schulze, Baptisten in Nordostindien – eine Mitgliederstudie, Baptismus-Studien 11 (Wuppertal, Kassel: J. G. Oncken, 2006). 2 „Statistics“ (Baptist World Alliance), zugegriffen 6.12.2018, http://www.bwanet.org/about-us2/stats.

420

die unabhängig vom Weltbund sind,3 sowie über einhundert unabhängige KJV-Only Gemeinden. Diese Vielfalt ist das Ergebnis vieler Faktoren. Ein entscheidender Faktor ist die Pionierarbeit britischer und amerikanischer Missionare, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Später kamen kanadische, australische und schwedische Baptisten hinzu. Die spezielle denominationelle und kulturelle Prägung hielt für Jahrzehnte an und hat Auswirkungen bis heute. Die Mehrheitsdenomination in einer Region ist oft dadurch zu erklären, dass die ersten Missionare dieser Denomination angehörten. Während beispielsweise Nagaland mehrheitlich baptistisch ist, so ist Mizoram mehrheitlich presbyterianisch. Baptistische Unionen in Indien (BWA)

 

 

 

Zugriff 12 / 02 / 2018

 

Jahr

Gemeinden

Mitglieder

Jährl. ­ achstum W Gemeinden

Jährl. ­Wachstum Mitglieder

Arunachal ­Baptist Church Council

2015

1.024

91.990

 

 

 

2017

1.150

122.880

6,2 %

16,8 %

Assam Baptist ­Convention

2015

746

35.169

 

 

(Axom Baptist ­Convention)

2017

860

35.389

7,6 %

0,3 %

Baptist Church of ­Mizoram

2015

642

116.687

 

 

(Mizoram Baptist Kohhran)

2017

677

120.460

2,7 %

1,6 %

Baptist Union of North India

2014

53

14.203

 

 

 

2016

54

15.700

0,9 %

5,3 %

Bengal Baptist Union

2015

130

14.000

 

 

 

2017

137

7.552

2,7 %

–23,0 %

Bengal Orissa Bihar ­Baptist Churches ­Association (BOBBCA)

2009

105

21.000

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: http://bwanet. org/about-us2/stats

2018 nicht ­verzeichnet

3 „Member

bodies“ (Asian Pacific Baptist Fellowship), zugegriffen 6.12.2018, (http://apbf.info/member-bodies).

421

Baptistische Unionen in Indien (BWA)

Zugriff 12 / 02 / 2018

Convention of ­Baptist Churches of the Northern Circars

2004

255

165.400

Evangelical Baptist ­Convention of India

2015

199

36.283

2017

237

39.045

2015

5.452

295.406

Garo Baptist Convention of India

2017

230

314.390

India Association of General Baptists

2004

121

10.300

India Baptist Convention

2012

80

8.000

Karbi Hill Baptist ­Convention

2015

315

31.746

(Karbi Anglong Baptist Convention)

2017

331

34.479

Karnataka Baptist ­Convention

2012

685

56.950

Lairam Jesus Christ ­Baptist Church

2015

103

17.766

(Lairam Isua Krista ­Baptist Kohhran) 

2017

110

18.570

Lower Assam Baptist Union

2015

320

36.942

2017

327

37.654

2015

253

9.240

Maharashtra Baptist Society

2016

321

10.245

Manipur Baptist ­Convention

2015

1.303

196.217

Nagaland Baptist Church Council

2015

1.585

586.593

2016

1.615

610.825

2015

1.111

85.901

North Bank Baptist Christian Association

2016

1.136

88.976

Orissa Baptist Evangelistic Crusade (OBEC)

2013

3.421

388.577

Samavesam of Telegu Baptist Churches

1995

893

475.639

422

9,5 %

3,8 %

–47,9 %

3,2 %

2,5 %

4,3 %

3,4 %

2,3 %

1,1 %

1,0 %

26,9 %

10,9 %

1,9 %

4,1 %

2,3 %

3,6 %

Baptistische Unionen in Indien (BWA)

 

Mitgliedschaft wird ­überprüft Tripura Baptist Christian Union

2015

 

 

 

Zugriff 12 / 02 / 2018

 

 

 

 

 

845

84.795

 

 

2017

943

70.604

5,8 %

–8,4 %

Summe: 12 / 2018

 

14.991

2.848.852

 

 

Jährl. Bevölkerungswachstum in Indien

 

 

 

 

1,5 %

Weitere Faktoren sind die Diversität und Größe des Landes. Die Bevölkerung unterteilt sich in drei ethnische Gruppen: indoarisch (72 %), dravidisch (25 %), mongolisch und andere (3 %).4 Die größten Sprachgruppen sind: „Hindi 41 %, Bengali 8,1 %, Telugu 7,2 %, Marathi 7 %, Tamil 5,9 %, Urdu 5 %, Gujarati 4,5 %, Kannada 3,7 %, Malayalam 3,2 %, Oriya 3,2 %, Punjabi 2,8 %, Assamese 1,3 %, Maithili 1,2 %, andere 5,9 %.“5 Baptisten im Nordosten des Landes gehören zu Stämmen mongolischer Herkunft. Die Zahl der Mitglieder in den Unionen, die dem Weltbund angeschlossen sind, beträgt rund 2,8 Millionen Menschen, die sich auf rund 15.000 Gemeinden verteilen. Denton Lotz vermutet, dass es insgesamt ca. 5 Millionen Mitglieder sind.6 Nagaland ist der Bundesstaat mit dem höchsten Prozentsatz von Baptisten weltweit. Lotz ging in seinem Artikel davon aus, dass Baptisten nach Katholiken die zweitgrößte christliche Denomination sind. Das trifft nicht zu, wenn nur die mit dem Weltbund assoziierten Bünde gezählt werden. Die von ihm genannte Zahl der Mitglieder im Bund der Samavesam of Telegu Baptist Churches ist mit einer Million fast doppelt so groß wie in der Statistik des Weltbundes vermerkt. Das könnte aber damit zusammenhängen, dass die dort gelistete Zahl aus dem Jahr 1995 stammt.

4

https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/in.html, zuletzt besucht am 06.12.2018. 5 Ebd. 6 Denton Lotz, „Who and Where in the World Are the Baptists?“, Baptist History and Heritage, Winter 2005, 8–22.

423

Im Jahr 2001 betrug die Zahl der Baptisten in Nordost Indien knapp 1,1 Millionen.7 Heute sind es vermutlich mehr als 1,5 Millionen Mitglieder. Angaben über die Größe von christlichen Denominationen variieren ja nach Quelle signifikant. Die Summe der Mitglieder von christlichen Denominationen beträgt nach der World Christian Database rund 62 Millionen.8 Jedoch kommt die letzte offizielle Volksbefragung aus dem Jahr 2011 nur auf 27.819.588 Christen.9 Diese Zahl findet sich aktualisiert auf 28 Mill. (2,1 %) bei Joshuaproject wieder.10 Die zehn größten Denominationen in Indien worldchristiandatabase.org Denomination Name

Zugriff: 12 / 06 / 2018

angegliedert 2000

angegliedert 2015

Jährl. Wachstum

Catholic Church in India

16.715.745

19.881.774

1,3 %

Church of South India

3.450.000

4.400.000

1,8 %

United Evange­ lical Lutheran Chs in India

1.757.511

4.042.543

8,7 %

Low-caste Hindu believers in Christ

2.000.000

3.000.000

3,3 %

Orthodox Syrian Church: C The East

2.350.000

2.700.000

1,0 %

Seventh-day Adventist Church

609.000

1.973.000

14,9 %

New Apostolic Church, India

1.500.000

1.800.000

1,3 %

Council of Baptist Chs in NE India

1.329.300

1.604.400

1,4 %

7 Schulze,

Baptisten in Nordostindien – eine Mitgliederstudie. Kap. 2.3.1.1 Die Auswahl der Gemeinden: 1.089.260 Mitglieder (31.12.1999). 8 https://worldchristiandatabase-org.aaron.swbts.edu/wcd/#/detail/country/ 96/98-churches, Zugriff am 6.12.2018. 9 http://www.censusindia.gov.in/2011census/c-01.html. Zugriff am 28.09.2016, 10 https://joshuaproject.net/countries/IN, besucht am 16.7.2017.

424

Church of North India

1.200.000

1.500.000

1,7 %

Presbyterian Ch in India

880.000

1.405.781

4,0 %

Jährl. Bevöl­ke­ rungswachstum in Indien

 

 

1,5 %

Christen insgesamt: 61.464.889 (4,70 % der Bevölkerung). ORTHODOX: 4.975.000 (0,38 %), KATHOLIKEN: 19.881.774 (1,52 %), PROTESTANTEN: 21.477.902 (1,64 %), Unabhängige: 19.109.648 (1,46 %)11. Nach dieser Übersicht stehen nun die drei Gruppen im Fokus. Stammes Baptisten Krishna Chandra Pal, der erste Hindu, der sich bei William Carey bekehrte und im Dezember 1800 getauft wurde, machte sich von Serampore aus auf den Weg in das Gebiet der Stämme. Doch auch seine Arbeit begründete keine bis heute bestehende Tradition in Nordost Indien, ganz im Gegensatz zu seinem Dienst in Kalkutta. Pal war ein wichtiger Wegbereiter der Serampore Baptisten.12 Aus den kleinen Anfängen entstand im Laufe der Zeit durch mehrere Erweckungsbewegungen eine große christliche Bevölkerung. In meiner Dissertation hatte ich vier förderliche Begleitumstände identifiziert, die zum enormen Wachstum der Baptisten in Nordost Indien beigetragen haben.13 • Erstens: mit dem Verbot der Kopfjagd kam es zu einer Identitätskrise, weil die Stämme ein wichtiges identitäts-stiftendes Merkmal verloren. Missionare konnten den Stämmen helfen, eine neue Identität durch den Glauben zu finden. • Zweitens: die überwiegend evangelistische Arbeit wurde von den lokalen Christen selbst geleistet. Es war eine Jugendbewegung, bei der junge Menschen singend von Dorf zu Dorf zogen und predigten. Aus marodierenden Horden waren Evangelisationsteams geworden. 11 https://worldchristiandatabase-org.aaron.swbts.edu/wcd/#/detail/coun-

try/96/98-churches. 12 Schulze, Baptisten in Nordostindien – eine Mitgliederstudie. 13 Der folgende Teil stammt weitestgehend aus der Dissertation des Verfassers.

425

• Drittens: Kirchenstrukturen traten an die Stelle der zerbrochenen Stammesverbände. • Viertens: Menschen erfuhren Befreiung von geistlichen und traditionellen Bindungen.

Es war ein Transformationsprozess, in dem einerseits die Kultur des Nordostens ein geeigneter Boden für die Saat des Evangeliums darstellte, und andererseits die Kultur durch das Evangelium stark verändert wurde. Heute gibt es christliche Schulen, soziale Dienste und Christen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Je nach Region beträgt der Anteil der Baptisten an der Gesellschaft in Nagaland 60–90 %.14 Es gibt aber auch Konflikte und Probleme. Einzelne Stämme sind untereinander verfeindet; jahrelanger Guerillakrieg für die Unabhängigkeit und Kontakte zur Unabhängigkeitsbewegung führten zu einer kritischen Beobachtung durch die Regierung. Korruption sowie eine zunehmende Drogenabhängigkeit unter Jugendlichen zeigen, dass jede Generation neu für das Evangelium gewonnen werden muss. Die Zahl der vielen Baptisten sollte nicht über die zunehmende Abschwächung des Glaubens und des Verbundenheitsgefühls zur Gemeinde hinwegtäuschen.15 Trug einst die britische Kolonialisierung mit ihrem Verbot der Kopfjagd mit dazu bei, dass Menschen offen für das Christentum wurden, so ist es heute die Globalisierung, die zu einer Neuausrichtung der Stammesgesellschaften führt. Unterhaltungsmedien und Internet vermitteln Trends in der Mode, in der Musik, im Fastfood, im Lebensgefühl usw. Die englische Sprache verbindet Menschen, die sich sonst nicht verständigen konnten. Das rasante Wachstum der Metropolen führt weltweit zu vergleichbaren Milieus. Als Gegenkraft zur Globalisierung findet sich das rückwärtsgewandte Bemühen, ethnische, sprachliche, kulturelle und religiöse Traditionen wieder zu entdecken, wieder zu beleben und zu überliefern. Die wenigsten in meiner Umfrage von 2001 befragten Baptisten bezeichneten sich einfach nur als „Inder“, sondern waren sich ihrer Stammeszugehörigkeit durchaus bewusst. Durch die Hinwendung zum christlichen Glauben kam 14 15

Lotz, „Who and Where in the World Are the Baptists?“ Das ist eines der Ergebnisse meiner Umfrage von 2001.

426

es zunächst zum Bruch mit den alten Traditionen der Stämme. Heute stellt sich die Frage, welche kulturellen Formen der Vergangenheit ein Comeback erleben. In Nordostindien leben nach wie vor noch viele Menschen auf dem Land. Doch auch hier gibt es Gemeinden, die in einen großstädtischen Kontext eingebunden sind. Der Vergleich der Merkmalsgruppen Dorf / Stadt sollte den unterschiedlichen Einfluss dieses Kontextes aufzeigen. Immer wieder konnten signifikante Unterschiede festgestellt werden. Die Pastoren von morgen werden heute durch den Kontext der Großstadt geprägt, da die meisten Theologiestudenten Mitglieder in Gemeinden sind, die sich in Städten und Großstädten befinden. Council of Baptist Churches in North East India (CBCNEI) Rat Baptistischer Gemeinden in Nordost Indien Der „Rat Baptistischer Gemeinden in Nordost Indien“ schließt jene Gemeinden zusammen, die sich auf dem wohl erfolgreichsten Missionsfeld der Amerikanischen Baptistengemeinden befinden. Rev. Dr. Solomon Rongpi als Vertreter dieses Rates, dem größten Zusammenschluss von Baptisten, stand Rede und Antwort bei meiner Umfrage im Jahr 2016. Er ist Generalsekretär des Rates und der erste Angehörige der Karbi in dieser Position.16 Einige dieser Antworten sollen im Folgenden wiedergegeben werden, weil sie einen guten Einblick in diesen großen Bund bieten. CBCNEI wurde 1950 gegründet. Ausländische Missionsorganisationen, die diesen Bund prägten, waren die American Baptist Foreign Mission Society, die heute als International Ministries of the American Baptist Churches, USA bekannt ist. CBCNEI repräsentiert 1.210.440 Mitglieder in 7.518 Gemeinden. Es gibt acht theologische Colleges und ein säkulares College. Mehr als 1.000 Missionare sind für Gemeinden und Werke des Bundes tätig. Der Generalsekretär wird berufen, der Präsident wird jährlich gewählt. Seit dem 1. Juni 2014 ist Solomon Rongpi Generalsekretär der CBCNEI. Er wurde von Reid Trulson eingesetzt, dem Exekutivdirektor des Vorstands der Internationalen Dienste 16

http://www.kabc.in/2014/05/dr-rev-solomon-rongpi-first-karbi-to.html, Zugriff am 27. Juli 2017.

427

(BIM) des amerikanischen Baptistenbundes ABC während der 64. CBCNEI-Hauptversammlung, die in der Mirbuk Baptist Church, Pasi Ghat (in der Siang Adi Baptist Association), Arunachal Pradesh stattfand. CBCNEI unterstützt jährlich Veranstaltungen für Evangelisation und Diakonie. Kooperation mit anderen baptistischen Verbänden in Indien gibt es mit der Baptist Church of Mizoram und North Bank Baptist Christian Association. Eine Zusammenarbeit besteht mit Presbyterianern, der römisch-katholischen Kirche, der Gemeinde Gottes und vielen anderen. Dieser Bund gehört zum Baptistischen Weltbund. Der folgende Teil enthält eine Einschätzung Dr. Rongpis zu theologischen Positionen, die seiner Meinung nach am charakteristischsten für diesen Bund sind. Diese Einschätzung wird mit den Ergebnissen meiner Umfrage unter Baptisten aus dem Jahr 2001 (zweite Zahl) verglichen. Bei der ersten Frage mussten die Befragten eine Gewichtung der Antworten vornehmen, bei der sie die Zahlen 1–16 vergaben. 16 ist besonders typisch und 1 ist unwichtig. Diese Gewichtung musste Dr. Rongpi nicht vollziehen, was einige abweichende Ergebnisse erklären könnte. Dennoch wird ein Trend in den Antworten erkennbar. Was kennzeichnet einen Baptisten? Die Aussagen geben die Ansichten der meisten Mitglieder in baptistischen Gemeinden wieder, die mit Ihrem Bund verbunden sind. Kennzeichnen Sie die Zahlen, die Ihrer Meinung nach am besten diese Ansichten beschreiben. 0 bedeutet nicht wichtig, 4 bedeutet sehr wichtig. Ein Baptist ist eine Person, die • von spirituellen Belastungen befreit wurde (3 / 2,7), • glaubt, dass die Taufe ein Zeichen der Umkehr ist (4 / 3), • Mitglied in einer Baptistengemeinde ist (4 / 2), • regelmäßig in die Kirche geht (3 / 1,8), • glaubt, dass die Bibel die einzige Richtschnur des Lebens und des Glaubens ist (3 / 3,2), • eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus hat (4 / 3,5), • etwa 10 % des Einkommens der Gemeinde gibt (3 / 2,2), • Teil des Priestertums aller Gläubigen ist (4 / 2,5), • evangelistisch ist (4 / 2,4), • für Menschenrechte eintritt (4 / 1,5), • sein / ihr Kreuz trägt (4 / 2,9),

428

• verfolgt wird (3 / keine Daten von 2001), • mit Gesundheit und Wohlstand gesegnet ist (3 / 0,7), • für die Freiheit des Glaubens und Gewissens ist (4 / 2,2), • die Autonomie der Ortsgemeinde unterstützt (3 / 1,6),

Bedeutung der Taufe Es gibt unterschiedliche Meinungen über die Bedeutung der Taufe. Welche der folgenden Überzeugungen scheint die Mehrheit der Mitglieder in Ihrem Bund zu haben? Die Zahl 1 steht für „Nicht meine Meinung“, 5 steht für „Genau meine Meinung. A. Die Taufe ist ein Zeichen der Eingliederung in den Leib Christi: 5 (4,49); B. Nur durch die Taufe ist die Mitgliedschaft in einer Baptistengemeinde möglich: 1 (3,05); C. Die Taufe ist eine wichtige Familienzeremonie 1 (1,67); D. Die Taufe ist ein normaler Schritt des Erwachsenwerdens: 1 (2,27) E. Durch die Taufe erhält der Gläubige den Heiligen Geist: 1 (3,2); F. In der Taufe stirbt die alte Person: 4 (3,36); G. Durch die Taufe antwortet der Gläubige auf die Verheißungen des Evangeliums: 1 (3,48).

Theologische Kontroversen17 Wie schätzen Sie die Positionen der Mehrheit der Gemeindemitglieder in den folgenden theologischen Kontroversen ein? Bitte kreuzen Sie die Zahl an, die am besten die Sicht der meisten Mitglieder beschreibt. Für jede Seite einer Kontroverse konnten bis zu 3 Punkte vergeben werden. Fundamentalismus vs. Liberalismus (2); Calvinismus / TULIP (2) vs. Arminianismus; Irrtumslosigkeit der Bibel (2) vs. Fehler in der Bibel; Cessationism (Wundergaben gibt es nicht mehr) vs. Continuanism (Wundergaben weiterhin vorhanden) (2); Stellvertretendes Sühnopfer Christi (3) vs. Jesus Tod bringt kein ewiges Leben; Ewige Hölle (3) vs. keine ewige Hölle; Keine Mitgliedschaft für homosexuelle Menschen vs. Homo­ sexuelle können Gemeindemitglieder werden (1); 17

Zu diesen Fragen gibt es keine Vergleichswerte aus dem Jahr 2001.

429

kein weiblicher Leitungspastor vs. weiblicher Leitungspastor (3); Keine Wiederverheiratung nach Scheidung vs. Wiederverheiratung nach einer Scheidung (2); Kirche hat Israel ersetzt (3) vs. separate Zukunft für Kirche und ­Israel; Nur wahre Christen kommen in den Himmel (3) vs. jeder / niemand kommt in den Himmel; Gott schuf die Erde in 6 Tagen (3) vs. Gott hat irgendwie Evolution verwendet.

Gründe für die Mitgliedschaft in einer Baptistengemeinde Menschen haben unterschiedliche Gründe für ihre Mitgliedschaft in einer Baptistengemeinde. Welche der folgenden Gründe gelten für die meisten Mitglieder? Bitte beantworten Sie auf der Grundlage dieser Skala mit 7 Feldern. Die Zahl 1 steht für „Nicht meine Meinung“, 7 steht für „Genau meine Meinung.“ An zweiter Stelle stehen wieder die „Ich bin Mitglied einer Baptistengemeinde, weil …“ A. die Kirche gute Taten tut: 1 (4,23), B. die Kirche armen, alten und kranken Menschen hilft: 1 (3,84); C. ich ein Christ bin: 4 (5,05); D. ich mit der christlichen Lehre übereinstimme: 1 (4,84); E. ich an die Zeit nach dem Tod denke: 2 (4,52); F. die Kirche sich für Gerechtigkeit in der Welt und eine bessere Zukunft für alle Menschen einsetzt: 3 (5,04); G. die Kirche mir die Gelegenheit für sinnvolle Mitarbeit gibt: 3 (4,23); H. ich für meine Kinder sorge: 3 (3,28); I. ich die Gemeinschaft brauche: 3 (4,87); J. die Kirche mir Trost in dunklen Stunden gibt: 2 (4,79); K. ich Gemeinschaft mit Menschen in meiner Kaste / in meinem Stamm suche: 1 (2,97), L. ich eine christliche Trauung und Trauerfeier wünsche: 2 (2,93); M. ich religiös bin: 2 (3,16), N. die Kirche mir innere Stärke gibt: 2 (5,56); O. die Kirche mir Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des Lebens gibt: 2 (5,10); P. meine Eltern in dieser Kirche waren / sind: 2 (4,75); Q. es Arbeitsplatz ist: 2 (2,83).

430

Welche Altersgruppe ist am stärksten in den meisten Gemeinde vertreten? A. 10–20 Jahre_ /  B. 20–30 Jahre (X) /  C. 30–40 Jahre X /  D. 40–50 Jahre_ /  E. 50–60 Jahre_ /  F. 60–70 Jahre_ /  G. 70–80 Jahre_ /  H. 80 Jahre und älter_ / 

Anzahl der aktiven Mitglieder in den durchschnittlichen baptistischen Ortsgemeinden A. weniger als 10 % der Mitglieder der Kirche_ /  B.10–20 %_ /  C. 20–30 % D. 40–50 % X /  E. mehr als 50 % (X) /  F. Ich weiß es nicht_ / 

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Gemeinden im CBCNEI sowohl von theologischen Positionen der heutigen ABC geprägt sind, wie z. B. Ordination von Frauen und Wiederverheiratung von Geschiedenen. Auf der anderen Seite sind auch konservative Überzeugungen vertreten, wie z. B. Kreationismus, der Glaube an die Irrtumslosigkeit der Schrift, die ewige Verdammnis und der stellvertretende Sühnetod Christi. Die Gemeinden sind eher calvinistisch ausgerichtet und sind von der Ersatztheologie im Blick auf Israel überzeugt. Es ist erstaunlich, wie in vielen Bereichen die Einschätzung von Dr. Rongpi sich mit den Ergebnissen der Umfrage aus dem Jahr 2001 deckt. Die starken Abweichungen bei der Frage nach den Kennzeichen eines Baptisten sind mit der unterschiedlichen Methodik zu erklären. Bei der Frage nach den Gründen für die Mitgliedschaft hat Dr. Rongpi keine Zahlen, die größer als 4 sind, vergeben. Das führt ebenfalls zu starken Abweichungen. Im Gegensatz zu Baptistengemeinden der westlichen Welt überrascht das junge Alter der Mitglieder und die Mitarbeit von fast 50 % der Mitglieder. War es im Westen im 20. Jahrhundert noch typisch für evangelikale Christen, fast jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, so gilt dies heute nur noch für 58 % der 431

Evangelikalen in den USA.18 In Nordost-Indien ist allerdings der wöchentliche Gottesdienstbesuch nach wie vor ein Kennzeichen der Baptisten. Marginalisierte Baptisten Die zweite Gruppe, die hier exemplarisch vorgestellt werden soll, sind die Marginalisierten. Diese Baptisten gehören größtenteils zu der Gruppe der Dalits. Diese Bezeichnung hat sich gegenüber den Begriffen Unberührbaren und Kastenlosen durchgesetzt. In Indien leben ca. 201 Millionen Dalits, die von der Regierung als „Scheduled Castes“ statistisch erfasst werden.19 Diese Zahl dürfte aber um 100 Millionen unter der tatsächlichen Zahl liegen, weil Christen und Muslime hier nicht berücksichtigt werden. While the 200 million SCs constitute a significant proportion of India’s population, the total, if unofficial, number of Dalits in the country is almost certainly considerably higher, as Christian and Muslim Dalits are not registered as ‚Scheduled Castes‘. Hence, they are not entitled to so-called ‚reservations‘ in the education system and government jobs and other constitutional safeguards. According to some estimates, there are 15–20 million Christian Dalits in India, while the number of Muslim Dalits may be as high as 100 million or more. Were these figures to be confirmed, the number of Dalits in India could exceed 300 million – or a quarter of the country’s population of 1.2 billion people.20

Bei der Wahl zum Präsidenten Indiens waren die beiden wichtigsten Kandidaten Dalits. Am 20. Juli 2017 wurde der 71 Jahre alte Ram Nath Kovind, der aus der untersten DalitsGruppe kommt und zur Bharatiya Janata Party gehört, von fast 5.000 indischen Vertretern zum Präsidenten gewählt.21 Diese 18

http://www.pewforum.org/religious-landscape-study/religious-tradition/evangelical-protestant/, besucht am 26.07.2017. 19 http://www.census2011.co.in/scheduled-castes.php, besucht am 23.7.2017. 20 http://idsn.org/india-official-dalit-population-exceeds-200-million/, besucht am 28.7.2017. 21 http://presstv.com/Detail/2017/07/20/529124/India-Dalit-Ram-Nath-Kovind-BJP-Congress, besucht am 27.07.2017.

432

Tatsache darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dalits in Indien benachteiligt und diskriminiert werden. In den vergangenen Jahrzehnten war der Anteil der Hindus, die Christen wurden, unter den Dalits höher als bei dem Rest der Inder, die einer der vier Kasten angehören. Diese Tatsache hatte dazu geführt, dass die Hindutva22-Bewegung sich verstärkt um Dalits bemüht.23 Zu diesen Bemühungen für eine Konversion zurück zum Hinduismus gehören finanzielle Anreize und Druck in Form von Enteignungen.24 In der Geschichte der christlichen Kirche in Indien ist im Zusammenhang mit Dalits der Name V. S. Azaraiah und die Dornakal Erweckungsbewegung zu nennen.25 Im Jahr 1912 wurde Azaraiah der erste indische Anglikanische Bischof in Dornakal, das bis vor ein paar Jahren zu Andhra Pradesh gehörte und heute im Bundesstaat Telangana liegt. Seine Erweckungsbewegung hat auch direkt und indirekt zur Gründung vieler Baptistengemeinden in dieser Region beigetragen: Der führende indische Anglikaner V. S. Azariah betonte in seiner Ansprache in Edinburgh 1910 [auf der Weltmissionskonferenz] den riesigen Abstand zwischen dem, was die Missionare leisten konnten und dem gewaltigen Mangel, der bei dem Wachstum der Bevölkerung die jährliche Versorgung durch die Missionare um ein Vielfaches übertraf. Er machte auf das ‚Problem der Rassenbeziehungen‘ aufmerksam und forderte eine Kultur der gegenseitigen Annahme und Hilfe als die Norm und nicht als eine ‚erfreuliche Ausnahme‘. Es gab eine zunehmende Zahl von Menschen, die bereit waren, durch Innovationen die Herausforderung Azariahs anzunehmen. Samuel Stokes z. B. entwickelte mit Sundar Singh die Idee einer ‚Bruderschaft der imitatio Jesu‘, was in Indien eine überraschende Neuerung

22

https://de.wikipedia.org/wiki/Hindutva, besucht am 23.7.2017. Lazar Thanuzraj Stanislaus, „The Hindutva and the Marginalized – A Christian Response“, o. J., http://www.missionstudies.org/archive/IACM/Papers/Hinduvata%20and%20Marginalised.htm. 24 http://www.thehindu.com/todays-paper/Conversion-to-Hinduism-a-condition-for-Christians-to-return-home-in-Kandhamal/article15314596.ece, besucht am 28.07.2017. 25 Mark Shaw, Global Awakening: How 20th-century Revivals triggered a Christian Revolution. (Downers Grov, IL: InterVarsity Press, 2010). 23

433

einpflanzte: ‚ein Leben des wörtlichen Gehorsams und der ausführlichen imitatio Christi‘.26

Allerdings reichen die Wurzeln des Baptismus in dieser Gegend bis in die 1860er Jahre zurück.27 Die marginalisierten Baptisten, um die es hier geht, sind Telugu sprechende Menschen in Andhra Pradesh. Über 640.000 Baptisten leben vorwiegend in den Küstengebieten. Ihre Gemeinden gehörten zu den Samavesam of Telegu Baptist Churches (STBC). Die BWA Mitgliedschaft der STBC wurde 2004 ausgesetzt, weil es beim Verkauf von denominationellen Grundstücken und Eigentum an Transparenz und Rechenschaft mangelte.28 Asia Pacific Baptist Federation (APBF) folgte mit einem vergleichbaren Ausschluss im Jahr 2005. Erst faire und demokratische Wahlen sollen eine Wiederaufnahme in den Weltbund ermöglichen. Bis heute ist die Wiederaufnahme nicht erfolgt.29 Eine Alternative zum STBC ist ein neuer Bund in Telan­ gana. Telangana ist der 29. Bundesstaat Indiens, der am 2. Juni 2014 gegründet wurde. Anlässlich der 100-Jahrfeier der Baptisten in Secunderabad kamen am 12.01.2016 170 baptistische Leiter aus allen Teilen Telanganas, insbesondere aus den Bezirken von Warangal, Nalgonda, Suryapet, Hyderabad, und Ranga Reddy, zusammen.30 Bei diesem Treffen wurde die Telan­ gana Baptist Convention (TBC) gegründet, zu der die baptistischen Gemeinden innerhalb Telanganas eingeladen werden sollen. Diese Entwicklung ist bedeutsam, wenn man bedenkt, dass diese Gemeinden Teil der einstigen STBC waren. Obwohl die meisten der Gemeinden an diesem Konflikt nicht beteiligt waren und in ihren diversen Dienstbereichen großes Wachstum verzeichneten, waren sie offiziell von der weltweiten und regionalen Gemeinschaft der Baptisten isoliert worden. Der 26

Mark Hutchinson und John Wolffe, A Short History of Global Evangelicalism (Cambridge: Cambridge University Press, 2012). S. 167 f. 27 James Elisha Taneti, „Telugu Baptist Christianity: A Religion of the Marginalized“, o. J. 28 Lotz, „Who and Where in the World Are the Baptists?“, 12. 29 Taneti, „Telugu Baptist Christianity: A Religion of the Marginalized“. 30 „A New Day for Telugu Baptists!“, APBDigest VIII, Nr. 12 (2. Januar 2016): 5., http://content.yudu.com/Library/A3ze69/APBDigestJanuary2016/resources/ index.htm?referrerUrl=, besucht am 20.07.2017.

434

neue Bund sei auf Wunsch von „Tausenden von Baptisten in Tausenden von Gemeinden“31 der ehemaligen STBC gegründet worden. Die TBC soll Gemeinschaft, Mission und Evangelisation fördern und ist zunächst eine vorläufige Organisationsform. Ein Komitee erarbeitet einen Plan für die nächsten Schritte. Bei diesem Gründungstreffen wurde die APBF durch Edwin Lam, den Vizepräsidenten der APBF, Bonny Resu, den Generalsekretär der APBF und Bijoy Sangma, den Vorsitzenden des Ausschusses der APBF vertreten. Die Geschichte der marginalisierten Baptisten ist eine Geschichte der erfolgreichen Inkulturation oder um die Terminologie von Andrew Walls und Lamin Sanneh zu verwenden, eine Geschichte der re-translation und re-transmission des Evangeliums. Diese indigene Geschichte reicht vom indischen anglikanischen Bischof V. S. Azaraiah bis hin zur Neugründung des TBC, die aufgrund der Bundesstaatsgründung Telangana erst möglich geworden war. Die Attraktion des christlichen Glaubens ist nicht allein mit einem Social Gospel und einer Form der Befreiungstheologie zu erklären. Nach Mark Shaw ist es der holistische Ansatz, der das Evangelium für arme und entrechtete Inder übersetzt und ihnen eine neue Identität gibt.32 Unabhängige Baptisten Die Autonomie der Ortsgemeinde ist ein wichtiges Kennzeichen für Baptisten. Einigen Gemeinden ist dies so wichtig, dass sie jegliche Mitgliedschaft in Bünden und hierarchischen Strukturen, die den Gemeinden übergeordnet sind, ablehnen. Unabhängige Baptisten formierten sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zunächst in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien. Heute gibt es diese Gemeinden in fast 100 Ländern.33 Trotz der Ablehnung von übergemeindlichen Organisationsstrukturen, gibt es ein Verbundenheitsgefühl und eine Zusammenarbeit unter unabhängigen Gemeinden.34 Das Phänomen der unabhängigen Gemeinden gibt es nicht nur bei Baptisten. 31 Ebd.

32 Shaw,

Global Awakening: How 20th-century Revivals triggered a Christian Revolution. 33 http://fundamental.org/fundamental/churches, besucht am 21.7.2017. 34 http://fundamental.org/schools#schools, besucht am 21.7.2017.

435

Die vielen unabhängigen Gemeinden in der Wadiaram Gegend (Süd-Indien) sind alle erst nach der Studie von 1959 gegründet worden, die meisten erst in den letzten 25 Jahren. Dahinter stehen Entwicklungen im Christentum Indiens, die vor mehr als einhundert Jahren begannen. Diese standen im Zusammenhang mit Erweckungen in anderen Teilen der Welt, aber auch mit bemerkenswerten neuen Bewegungen in Indien. Viele dieser Bewegungen kann man ‚pentekostal‘ oder ‚charismatisch‘ nennen, aber es gibt eine Tradition, die man besser ‚unabhängig-baptistisch‘ nennen sollte, und andere Stränge des modernen Evangelikalismus sind ebenfalls repräsentiert.35

Kennzeichen unabhängiger Baptistengemeinden sind eine konservativ-fundamentalistische Theologie (Dispensationalismus, anti-charismatisch, Anti-Wohlstandsevangelium, usw.), die alleinige Verwendung der King James Version Bibel (KJV) ohne oder mit Anmerkungen von Cyrus I. Scofield (Scofield Reference Bible), ein formeller Dresscode in den Gottesdiensten und eine Ablehnung von modernen Musikstilen. In Südindien gehört der Großteil der Gemeindeglieder zu den Dalits.36 Der Betrachter mag sich wundern, wie es kommt, dass die KJV der Bibel auch noch im 21. Jahrhundert in Indien verwendet wird. Am 15. August 1947 wurde Indien unabhängig vom British Empire. In den folgenden Jahrzehnten wurde seitens der Politik darauf gedrängt, die Spuren der Kolonialzeit nach und nach zu beseitigen. Dies beinhaltet auch die Umbenennung der Städte. Aus Bombay wurde Mumbai, aus Madras Chennai, aus Bangalore wurde Bengaluru usw.37 In den Kirchen änderte sich der Musikstil, weg von westlichen Hymnen hin zu indischen Rhythmen und Instrumenten. Umso sonderbarer erscheint es, wenn indische Baptistengemeinden ihre Webseiten mit amerikanischen Hymnen im Stil der 1950er Jahre musikalisch unterlegen und in ihrem Glaubensbekenntnis die alleinige Verwendung der KJV betonen, wie bei „The Pillar and Ground of the Truth Baptist Church“ 35

John B. Carman und Chilkuri Vasantha Rao, Christians in South Indian Villages, 1959–2009: Decline and Revival in Telangana, Studies in the History of Christian Missions (Grand Rapids, Michigan: Eerdmans, 2014), http://aaron. swbts.edu/login?url=http://search.ebscohost.com/login.aspx?­direct=true&db=n lebk&AN=1058386&site=eds-live. P. 68. 36 Ebd., Kapitel 6. 37 https://en.wikipedia.org/wiki/Renaming_of_cities_in_India, besucht am 17.7.2017.

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von Dr. Enoch C. Kumar in Moolekate, Bhadravathi.38 Klickt der Betrachter sich erst einmal durch die weiteren Seiten dieses gemeindlichen Internetauftritts, dann sind vom Pastor produzierte indisch klingende christliche Lieder in der südindischen Sprache Kannada zu finden. Pastor Kumar kam durch amerikanische Missionare zum Glauben und hatte Theologie in den USA studiert. Die unabhängigen Baptisten in Indien sind eine recht gemischte Gruppe von Kirchen. Zunächst fällt auf, dass das Verzeichnis auf http://www.fundamental.org39 nicht mehr aktuell ist, es mehrere Doppeleinträge gibt und die meisten Webseiten nicht funktionieren. Bei den Gemeinden mit funktionierenden Webseiten ist in der Regel eine Verpflichtung zur KJV zu finden. Die Heritage Baptist Church von Pastor Adrian Hendricks begründet die alleinige Verwendung von Übersetzungen, die auf dem Masoretischen Text und dem Textus Receptus basieren, mit zwei Bibelstellen: Wir glauben, dass Gott bestrebt ist, Menschen aller Sprachgruppen sein konserviertes Wort hören und verstehen zu lassen. Daher sind die einzigen Übersetzungen, die im öffentlichen Gottesdienst der Heritage Baptist Church gebraucht werden, solche, die genaue, Wortfür-Wort Übersetzungen sind, die auf dem Massoretischen Text und dem Textus Receptus (Offbg. 22,19; Joh. 12,48) beruhen.40

Diese Begründung verwundert sehr, weil der Masoretische Text aus dem 7.–10. Jahrhundert und der Textus Receptus aus dem 17. Jahrhundert den Autoren der Offenbarung und des Johannesevangeliums nicht vorliegen konnten. Unklar bleibt auch, um welche Ausgabe des Textus Receptus es eigentlich geht.41 Der Autor dieses Artikels konnte nicht herausfinden, ob in indischen unabhängigen Gemeinden die Behauptung, dass der Textus Receptus seit 2000 Jahren von Christen verwendet wird, diskutiert oder sogar in Frage gestellt wird. Zumindest lässt der Internetauftritt einiger Gemeinden darauf schließen, dass es neben dem Glauben an die unfehlbare Heilige Schrift auch den Glauben an eine fehlerlose Textüberlieferung in der KJV gibt. Möglicher38

http://www.1timothy315.org, besucht am 17.7.2017. http://www.fundamental.org/fundamental/churches/, 40 http://www.heritagebaptist.in, besucht am 17.7.2017. 41 http://www.pewid.ch/Bibelheim/7scofield.pdf, besucht am 17.7.2017. 39

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weise hat aber die kritische Auseinandersetzung mit den Lehren der unabhängigen Baptisten in Indien wie in den USA längst begonnen. Auch wenn der Autor für diese kritische Auseinandersetzung mit der theologischen Tradition der unabhängigen Baptisten in Indien keine englischen Texte gefunden hat, so wäre eine Reflexion in einer der Landessprachen durchaus vorstellbar. Im Gespräch mit einem indischen Doktoranden in Texas erfuhr der Autor, dass es manchen Gemeinden in Indien wichtig ist, sich in ihrer Gemeindeform auf die Unterstützergemeinden in den USA einzustellen. Diese Loyalität hat zwei Ebenen. Die erste Ebene ist die Beziehungsebene zwischen indischem Pastor und einer Gemeinde in den USA. Die zweite Ebene ist die Beziehung der indischen Gemeinde zu ihrem Pastor. Während auf der ersten Ebene häufig eine theologische Ausbildung und Spenden das theologische Profil des Pastors prägen, so dürfte er auf der 2. Ebene von indisch kulturellen Werten geprägt sein. Für indische Tempelbesucher ist es zweitrangig, welcher Gott dort verehrt wird – die Wahl der Gottheit ist eine Sache der Tradition, bei neuen Tempeln eine Frage der Ausbildung des Priesters oder drittens es wird pragmatisch gehandhabt. Vergleichbare Motivationen sind auch in christlichen Gemeinden zu finden. Entweder gibt es die Gemeinde vor Ort schon lange, so dass die Tradition gewahrt wird, oder der Pastor bringt seine Prägung in die neugegründete Gemeinde ein, oder die Gemeinde ist ganz pragmatisch nach dem Motto „wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Einem Außenstehenden steht es aber letztlich nicht zu, da­ rüber zu befinden, warum indische Gemeinden an den oben beschriebenen Formen festhalten. Möglicherweise sind es echte, reflektierte Überzeugungen, welche diese Gemeinden prägen. Letztlich ist eine Folge der Struktur der unabhängigen Gemeinden dafür verantwortlich, dass es infolge fehlender Rechenschaftspflicht gegenüber übergeordneten Organen an Transparenz mangelt. Dies könnte zumindest eine Erklärung sein, weshalb es zu dem kuriosen Fall kommen konnte, der im Folgenden beschrieben wird. Die Rose of Sharon Gemeinde der Pastorin Soroja in Mumbai ist eine Outlier42-Gemeinde – sie fällt aus dem Rahmen der 42 Der

Begriff ist durch Malcolm Gladwells Buch „Outliers: The Story of Success“, 2011, neu ins Gespräch gebracht worden.

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Independent Baptist Churches. Diese Gemeinde wird zwar auf der Webseite der Independent Churches gelistet,43 doch entspricht sie überhaupt nicht dem Bild einer typischen fundamentalistischen, King James Only, anticharismatischen und gegen Ordination von Frauen eingestellten Gemeinde. Die Bibel wird auf der Webseite zwar als Quelle für die Schriftzitate verwendet, doch dann heißt es ganz untypisch: „We believe that the Lord speaks to us today through His chosen apostles and prophets (Ephesians 2:20; 3:5).“ 44 Vollmundig heißt es über die Pastorin und Prophetin: „There rests the calling of a prophetess on her life. Just as in the days of old, today the Lord speaks to her in visions and dreams. Every prophecy and revelation has [sic!] been confirmed as coming from the Holy Spirit of God.“45 Diese Aussagen haben den Verfasser überrascht und gezeigt, dass theologische Schubladen nicht immer das enthalten, was auf ihrem Etikett steht. Denton Lotz verwies im Vorwort zu meiner Dissertation auf den Unterschied zwischen „Walk and Talk,“ zu Deutsch: Es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Independent ist ein dehnbarer Begriff, besonders dann, wenn es ums Geld geht. Fundamental ist längst keine klar abgrenzbare Theologie mehr, und King James Only beinhaltet indische Übersetzungen, solange sie auf dem Masoretischen Text und den Textus Receptus basieren. Indien ist ein großes, vielschichtiges, buntes und geheimnisvolles Land, das den größten Teil des Subkontinentes bedeckt. Es verwundert nicht, dass es keine Monographie über indische Baptisten der Gegenwart gibt. Sie würde vermutlich – um das bereits verwendete Bild zu gebrauchen – aus dem Rahmen fallen.

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http://fundamental.org/fundamental/churches/index.php3?action=viewchurch&ChurchID=5993, besucht am 17.7.2017. 44 http://roschurch.org/?page_id=361, besucht am 17.7.2017. „Wir glauben, dass der Herr heute zu uns durch seine erwählten Apostel und Propheten spricht (Eph. 2,20; 3,5).“ 45 http://roschurch.org/?page_id=277, besucht am 17.7.2017. „Die Berufung einer Prophetin ruht auf ihrem Leben. Wie in den vergangenen Tagen spricht der Herr heute zu ihr in Visionen und Träumen. Jede Prophetie und jede Offenbarung ist als vom Heiligen Geist Gottes kommend bestätigt worden.“

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Baptisten in Australien Ken R. Manley In den Anfängen der europäischen Besiedlung Australiens (1788) waren Baptisten nicht beteiligt und blieben stets eine konfessionelle Minderheit; sie erreichten 1901 einen Spitzenwert von nur 2,37 % der Bevölkerung. In den letzten Jahrzehnten kreiste der Anteil nach Daten der Volkszählung um 1,6 %. Das späte Auftreten in der Kolonie und ihre kleine Zahl minimierten ihre Wirkung. Außerdem verhinderte ihre Betonung der Freiwilligkeit, dass sie aufgrund der verschiedenen Kirchengesetze finanzielle Unterstützung erfuhren, was vielen anderen Konfessionen zu ihrer frühzeitigen Expansion verhalf. Einige frühe Gemeinden akzeptierten die Übertragung von Landbesitz und argumentierten später, dass die koloniale Situation eine Ausnahme war: Hilfe sei nicht mit Kontrolle gleichzusetzen. Die Anfänge im 19. Jahrhundert Der erste baptistische Gottesdienst in Australien wurde am 24. April 1831 in Sydney von Rev. John McKaeg (1789–1851) durchgeführt, der auch die erste Gläubigentaufe 1832 in der Woolloomooloo Bucht in Sydney vornahm. McKaegs kleine Gruppe erhielt von dem Gouverneur einen Bauplatz für eine Kapelle. Nachdem einige Gelder gesammelt und Pläne vorbereitet waren, scheiterte McKaegs Tabakgeschäft, er fiel als Trinker in Schande und wurde wegen Schulden eingesperrt. Obwohl er später ein glühender Befürworter totaler Abstinenz wurde, war die noch junge Arbeit der Baptisten in Unordnung geraten. Die Bereitstellung geeigneter Pastoren erwies sich für australische Gemeinden als ein ständiges Ringen, obwohl ihre Tradition der Leitung durch Laien bedeutete, dass Gemeinden gegründet und versorgt werden konnten, auch wenn ein Pastor nicht zur Verfügung stand. Dennoch gab es Netzwerke, die baptistische Siedler willkommen hießen und sie bei der Anpassung an die Fremdheit des kolonialen Lebens unterstützten, was eine strategische Rolle der Religion in der Gesellschaft war. Wenn Themen, die in Großbritannien eine Debatte und sogar eine Teilung verursacht hatten, in die australische Umgebung umgesetzt wur440

den, konnten sie zu Schwerpunkten tragischer Zwietracht führen. Dazu gehörten subtile theologische Variationen innerhalb des Calvinismus, offene oder geschlossene Mitgliedschaft, offenes Abendmahl und Muster der gemeindlichen Leitung. Viele Baptisten wurden durch diese Kämpfe für einen Großteil ihres frühen Lebens in den Kolonien in eine Stagnation von Selbstbeobachtung und Irrelevanz versetzt. Die Mehrheit der britischen Siedler waren Particular Baptists, obwohl meistens in der Art des evangelischen Calvinismus, der William Careys Missionsarbeit unterstützt hatte. Einige ganz streng calvinistische Gemeinden wurden schon früh gegründet, waren aber niemals zahlreich, während die schottischen Baptisten mit ihrer Ablehnung eines bezahlten Pastors ein weiterer Ausdruck des britischen Baptistenlebens waren, das die Gemeinden in der neuen Kolonie beeinflusste. Während einige wenige Pioniere aus der Tradition der General Baptist stammten, bildeten sie nie eine rivalisierende Gruppe, und die britischen Unterscheidungen wurden in Australien zunehmend irrelevant. Die verschiedenen Stränge der baptistischen Tradition des Dissentertums wurden allmählich in die nationale Identität der australischen Baptisten integriert. Die Entwicklung Australiens als britische Siedler-Kolonien prägte unweigerlich das Muster des baptistischen Gemeindelebens. Jede einzelne Kolonie entwickelte ihr eigenes Leben, und obwohl ein interkolonialer Austausch ermutigt wurde, waren Fragen der Identität und der Mission sowohl auf einer kolonialen (heute: staatlichen) als auch auf nationaler Ebene immerwährende Fragen für australische Baptisten. Gleichzeitig zeigten einige wichtige Baptisten eine bedeutende Führungsrolle. Dies ist das dominierende Muster des baptistischen Einflusses der ersten Generation. Als eine Denomination waren sie über viele Jahre nicht so strukturiert, dass sie gemeinschaftlich hätten auftreten können – jeder Einfluss musste durch Einzelpersonen erfolgen. Die frühen Strukturen, die Assoziationen und später Unionen genannt wurden, waren hauptsächlich zur gegenseitigen Unterstützung und Planung gebildet: Victoria (1862), Südaustralien (1863), New South Wales (1868), Queensland (1877), Tasmanien (1884) und West Australia (1896). Die rasche Expansion der Bevölkerung während der Zeit des Goldrausches der 1850er Jahre führte zu zahlreichen 441

evangelistischen Bemühungen und Gemeindegründungen, vor allem in Victoria. Die Wirtschaftskrisen der 1890er Jahre, die Föderation einer neuen Nation (1901) und die Traumata des Ersten Weltkrieges wurden von einem sich entwickelnden konfessionellen Bewusstsein und Vertrauen begleitet. Baptisten handelten zunehmend in einem gemeinschaftlichen Sinne, obwohl der Einfluss von Schlüsselpersonen immer noch die Geschichte begleitete. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die australischen Baptisten in der australischen Gesellschaft in kohärenter und zunehmend korporativer Weise gehandelt. Das betrifft insbesondere Evangelisation, Gemeindegründung, theologische Ausbildung, Wohlfahrtspflege, Gesundheitswesen und Bildung. Pastor John Saunders (1806–59) aus Sydney war unter Baptisten im 19. Jahrhundert ein hervorragender Pionier, der ein bemerkenswertes Muster der pastoralen Tätigkeit und der Öffentlichkeitsarbeit entwickelte. Saunders gründete die erste Baptistengemeinde und eröffnete 1836 die erste Kapelle in der Bathurst Street. Er engagierte sich auch nachdrücklich für verschiedene religiöse, moralische und philanthropische Belange, widersetzte sich dem barbarischen Sträflingssystem und forderte eindringlich die Abschaffung des Transports der Gefangenen. Aber sein öffentliches Bild in der Kolonie spiegelte sich vor allem in zwei Bereichen wider: seine unerschütterliche Befürwortung der Abstinenz und seine leidenschaftliche Verurteilung der europäischen Ungerechtigkeit gegenüber den Aborigines. Während der in der Kolonie geführten Debatte über das Gerichtsverfahren und die Hinrichtung der Myall-Creek-Mörder, hielt Saunders im Oktober 1838 eine Predigt, die ihn zu einer bekannten Persönlichkeit machte, zumal sie in vollem Wortlaut in der Kolonialpresse veröffentlicht wurde (Colonist, 17., 20., 24. Oktober 1838). Er verurteilte in markigen Sätzen die Mörder und die sie verteidigt hatten. Der Historiker Henry Reynolds beschrieb sie als „eine der ausdrucksstärksten Darbietungen humanitärer Grundsätze“ aus der Zeit. Mittlerweile hatte in Van Diemans Land ein älterer Pastor, der düstere Calvinist Henry Dowling (1780–1869), seit seiner Ankunft die Gemeindearbeit in Launceston und Hobart geleitet. Er durchwanderte die ganze Kolonie, fungierte als Seelsorger für Gefangene und verteidigte mit Blick auf diesen Dienst die finanzielle Zuwendung von der Krone. 442

Baptisten lieferten eine andere Art des Beitrags zur Gründung der südaustralischen Kolonie im Jahre 1836. Weitblick und Einfluss von George Fife Angas (1789–1879), einem englischen baptistischen Diakon und Geschäftsmann, waren bedeutsam bei der Bildung der South Australian Company. Er hoffte, eine freie christliche Siedlung ohne Verurteilte und als Grundlage für die „Verbreitung des Christentums in der südlichen Hemisphäre“ zu errichten. Der schottische Baptist David McLaren (1785–1850) war der koloniale Manager der South Australian Company und fungierte auch als baptistischer Laien-Prediger, als er von 1837 bis 1841 in der Kolonie war. Unter den ersten, die von Tasmanien zur neuen Siedlung in Port Phillip (im heutigen Victoria) wanderten, war Thomas Napier (1802–81), ein willensstarker schottischer Baptist, der in der Collins Street Land kaufte, wo die ersten Gottesdienste 1839 stattfanden. Die Collins Street Church wurde 1843 mit einem kürzlich aus England angekommenem Pastor, Rev John Ham (1792–1852), gegründet. Die Sorge um die Not der Aborigines führte einige Baptisten in Port Phillip dazu, 1845 eine Schule an der Kreuzung von Merri Creek und dem Yarra River zu gründen. Ein führender Laie aus dieser Zeit war Henry Langlands (1794– 1863), der 1847 ankam, um sich seinem Bruder anzuschließen; ihre Gießerei war einer der größten Arbeitgeber in der Kolonie. Zu den führenden Pastoren in diesen Entwicklungsjahren gehörten James Taylor (1814–96) und Isaac New (1803–86) aus Birmingham in England, James Martin (1821–77) und Samuel Chapman (1831–99). F. J. Wilkin (1845–1940) wurde ein Pionier der Heimatmission und theologischer Lehrer. Der umstrittene presbyterianische Kleriker John Dunmore Lang (1799–1878) gründete 1849 eine vereinigte evangelische Kirche aus Presbyterianern, Kongregationalisten und Baptisten in Moreton Bay (Brisbane). Der erste Geistliche war ein junger Baptistenpastor, Charles Stewart (ca. 1820–58), der es „ein schönes Experiment“ nannte, was als die Vereinigte Evangelische Kirche bekannt wurde. Doch die Vision verblasste und konfessionelle Ambitionen konnten nicht unterdrückt werden. Schließlich kam ein baptistischer Pastor, Benjamin Wilson (1823–78), 1858 an, um die baptistische Gemeindearbeit zu leiten. Ein unterscheidendes Merkmal der frühen Gemeindearbeit in Queensland war der Beitrag einer bedeutenden Anzahl von deutschen 443

Baptisten, die starke Netzwerke für Gemeindegründungen und Evangelisation unter deutschen Siedlern schufen. In Tasmanien wurde die Arbeit, die unter Dowling begonnen hatte, durch die Großzügigkeit des reichen Pastorenehepaares William (1820–92) und Mary Gibson (1811–1903) massiv verstärkt. Sie waren Bewunderer des englischen Predigers C. H. Spurgeon und wurden durch Besuche seines Sohnes Thomas in der Kolonie inspiriert. Die Gibsons bauten schließlich fünfzehn Kapellen und viele Pfarrhäuser; sie holten eine Abfolge von Absolventen aus dem Spurgeon College in die Kolonie. Spurgeon hatte einen starken Einfluss auf die konservative Theologie der Baptisten, vor allem in Tasmanien, aber auch in New South Wales und Queensland. Der bekannteste Absolvent des Spurgeon College war zweifellos der angesehene Essayist und Prediger Dr. F. W. Boreham (1871–1959), der Pastorate in Neuseeland, Hobart und Victoria inne hatte. Die Arbeit in Westaustralien begann erst 1895, als J. H. Cole (1840–1915) die erste Gemeinde in Perth anführte, aber wertvolle Pionierarbeit durch William Kennedy (1868–1929) verhalf dazu, dass mehrere ländliche Gemeinden in der Kolonie gegründet wurden. Einfluss baptistischer Laien in der Öffentlichkeit Die baptistische Bewegung mit der starken Betonung der Laien in der Leitung tendierte dazu, schroffe Individualisten hervorzubringen, die Möglichkeiten ergriffen, im öffentlichen Leben der wachsenden Kolonien tätig zu sein. Insbesondere in Queensland und Südaustralien gab eine bemerkenswerte Zahl von führenden Laien – in der Hauptsache Kaufleute und Fabrikanten – den Baptisten einen gewissen Status und leisteten im 19. Jahrhundert einen bedeutenden Beitrag zum gesellschaftlichen Leben. Männer wie Charles Swan (1811–1891), Besitzer des Moreton Bay Courier und Bürgermeister von Brisbane (1873–1875); Thomas Symes Warry (1775–1864), der erste Baptist, der dem Parlament von Queensland angehörte (1860–1863); sein Bruder R. S. Warry († 1891), Oberbefehlshaber der Kolonie und ein Bürgermeister der Stadt Brisbane. Baptisten waren eine kleine Minderheit in der Kolonie, spielten aber eine aktive Rolle im Handel, in der Politik und im philanthropischen Leben der Gesellschaft. 444

In Südaustralien waren noch mehr Baptisten im öffentlichen Leben präsent. Nach seiner Ankunft im Jahre 1851 brachte George Fife Angas Männer wie William Kyffin Thomas (1821–1878), Inhaber der Zeitung The Register und erfolgreiche Geschäftsleute wie J. A. Holden (1834–1887) und David Fowler (1826–1881) zusammen. Sie beschlossen, eine neue Gemeinde zu gründen und ließen aus England einen neuen Pastor kommen. Mit der Gründung der Flinders Street Church und der Ankunft ihres Gründungspastors, dem inspirierenden Silas Mead (1834–1909) im Jahre 1861, wurde die Gemeindearbeit stimmig und nahm rasch zu. Andere Leitfiguren in Südaustralien waren u. a. James Smith (1819–1900), Vorsitzender der Direktoren der Bank von Adelaide, G. W. Cooper (1858–1906) Geschäftsführer von Elder Smith und Präsident der Handelskammer, John Darling (1831–1905) und sein Sohn John (1852–1914), die eine bemerkenswerte Dynastie gründeten: Die Firma John Darling & Son entwickelte sich zum größten Exporteur von Getreide aus Australien, beide saßen im Parlament und John Jun. wurde Vorsitzender der Broken Hill Propriety. James Holden war ein Gründer der südaustralischen Kammer der Fabrikanten, während sein Sohn (Sir) E. W. Holden (1885–1947) Vorsitzender von General Motors Holden war und als MLC von 1935 bis 1947 diente. George Swan Fowler (1839–1896) gründete mit seinem Bruder die Lebensmittelfirma D. & J. Fowler, die dazu bestimmt war, eines der führenden Handelshäuser in der südlichen Hemisphäre zu sein. Sir Charles Henry Goode (1827–1922) war in fast jeder evangelischen und philanthropischen Initiative im Staat aktiv. Diese bemerkenswerte Gruppe von Männern brachte den Baptisten im Staat ein Gefühl der Stabilität und des Status. In Victoria wurde 1884 eine anonyme Schenkung über 25.000 Pfund von dem Viehzüchter Silas Harding (1816–1894) aus Geelong gemacht, um den Viktoria Baptisten Fonds zu gründen; Voraussetzung war, dass die Gemeinden denselben Betrag aufbringen sollten. Dies wurde erreicht, so dass die theologische Hochschule gegründet werden konnte, die Heimatmission ausgedehnt wurde und bedürftige Pastoren Unterstützung erfuhren. Die Treuhänder, die zur Verwaltung des Fonds ernannt wurden, erwiesen sich als eine Gruppe bedeutender Laien: William McLean (1845–1905), ein reicher Kaufmann; C. J. Ham (1837– 1909), MLC und Oberbürgermeister von Melbourne (1881–82); 445

T. W. Jackson (1830–1918), stellvertretender Postminister; J. M. Templeton (1840–1908), ein Oberst der in den Anfängen steckenden Miliz und eine wichtige Persönlichkeit in der Geschichte der Lebensversicherung in Australien; J. M. Bruce (1840–1901), ein Geschäftsmann, der in zahlreichen Zivilprojekten tätig war und Vater von Stanley Bruce, dem späteren Premierminister von Australien. In New South Wales war ein führender Laie zweifellos Sir Hugh Dixson (1841–1926), der Tabakimporteur und Fabrikant, der mit William Buckingham (1854–1928) großzügig zahlreiche Grundstücke für Baptistengemeinden erwarb und eine breite Palette evangelischer Missionswerke unterstützte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Baptisten in jeder Kolonie aktiv und ihre Art, den Baptismus zu verkörpern, wurde weitgehend aus Großbritannien hergeleitet. Die Helden für australische Baptisten waren noch weitgehend englisch. Außer Spurgeon war „unser heroischer William Carey“, wie dieser von Allan Webb (1839–1902), einem australischen Anführer genannt wurde, die Leitfigur für Mission und der Impuls, eine Arbeit in Indien zu übernehmen. John Clifford war eine umstrittenere Figur, aber er inspirierte viele, die die Dimension sozialer Gerechtigkeit deutlich in ihren Dienst zu integrieren suchten. Diese vielfältigen Figuren des Gemeindelebens der Baptisten in England fanden in Australien ihre Entsprechungen. Suche nach nationaler baptistischer Identität Es gab allerdings einen wachsenden Wunsch der Zusammenarbeit, um eine nationale baptistische Identität zu finden. Man suchte das zu entwickeln, was ein Leiter 1918 „unsere eigene Kirche in unserem eigenen Land“ nannte. Als Meilenstein erwies sich seit 1895 die Veröffentlichung einer vierzehntägigen Zeitung, The Southern Baptist, die Victoria, Südaustralien und Tasmanien bediente, während kleinere Zeitungen in den anderen Kolonien erschienen. Repräsentative Versammlungen wurden einberufen, um die Zusammenarbeit quer durch die Kolonien zu fördern. Delegierte wurden zu den jährlichen Versammlungen der anderen geschickt, und so wie die politische Föderation an Fahrt aufnahm, so versammelten sich die Baptisten 1897 in Melbourne, wo jede Kolonie und Neuseeland vertreten waren. Die 446

Möglichkeiten, eine gemeinsame theologische Hochschule mit einer Akkreditierung der Pastoren, eine nationale Zeitung und eine nationale Missionsgesellschaft zu gründen, wurden erforscht. Weitere Treffen folgten, und im Jahre 1908 waren die Hoffnungen hochgespannt, dass eine Bundes-Körperschaft geschaffen werden könnte. Doch der Erste Weltkrieg ereignete sich, und daher dauerte es bis zum 25. August 1926, als die Baptist Union of Australia (BUA) in Sydney gegründet wurde. Neuseeland hatte sich aus den Verhandlungen zurückgezogen, obwohl die Zusammenarbeit auf mehreren Ebenen fortgesetzt wurde. Jede staatliche Union blieb eine unabhängige Körperschaft, und die BUA koordiniert Arbeiten im christlichen Erziehungswesen, für Publikationen, Heimatmission und verschiedene evangelistische Programme. Eine nationale Wochenzeitung, Australian Baptist, erschien von 1913 bis 1991, als sie durch verschiedene monatliche Publikationen auf Länderebene ersetzt wurde. Baptisten verfügten zunächst über keine eigenen Sozialprogramme, sondern unterstützten eine breite Palette evangelischer Missionsorganisationen. Joseph Palmer (1841–1930) z. B. war der Gründer dessen, was die NSW Bush Missionary Society wurde. George Ardill (1857–1945) gründete die Christian Sydney Rescue Work Society1, während etliche baptistische Frauen in der Arbeit der Stadtmission aktiv waren. Margaret Bean (1854– 1940), die allgemein als „Schwester Gnade“ bekannt wurde, leitete von 1912 bis 1929 eine Rettungsmission für junge Frauen in der Stadtmitte von Melbourne. Baptisten waren wichtige Unterstützer der Sozialarbeit dieser vielfältigen Missionen. Im Blick auf die Beeinflussung der öffentlichen Moral unterschieden sich Baptisten nur gering von anderen konservativen Protestanten. Moralische Fragen mit gesellschaftlicher Bedeutung wurden zu politischen Fragen, vor allem Sonntags-, Alkoholund Ehegesetze. Ein verwirrendes Spektrum von Gesellschaften und Programmen förderte die baptistische Opposition gegen alkoholische Getränke. Bands of Hope wurden in den meisten Gemeinden gefunden und die Blue Ribbon Bewegung war in vie1

Eine christliche Gesellschaft, die Menschen zu „retten“ suchte, die im Leben Schiffbruch erlitten hatten wie Alkoholiker, Prostituierte, Drogenabhängige oder Menschen in Not.

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len Kirchen beliebt. Die christliche Temperenz- (oder Abstinenz-) vereinigung der Frauen (WCTU) war die bedeutendste dieser Bewegungen, und baptistische Frauen waren in jedem Staat auffallend aktiv, und einige, wie Margaret McLean (1845–1923) in Melbourne, wurden in der internationalen Bewegung führend. Baptisten teilten mit anderen Christen einen starken Glauben an die Ehe als göttliche Institution. Im Gegensatz zu Anglikanern und einigen anderen Denominationen unterstützten Baptisten die Vorschläge zur Reform der Scheidungsgesetze in NSW im Jahre 1886, die die Scheidung für „Imstichlassen“, Trunkenheit, wiederholte Tätlichkeiten und langfristige Gefängnisstrafe zuließen. Das Glücksspiel wurde nicht von allen Kirchen abgelehnt, aber von konservativen Protestanten einschließlich der Baptisten verurteilt. Für Baptisten war das Glücksspiel gleichbedeutend mit Gier, das ein die Herzen verhärtendes Laster werden würde. Die Rolle eines modernen Anführers gegen organisiertes Glücksspiel, wie Rev. Tim Costello in Melbourne, weist einen Zusammenhang mit früheren baptistischen moralischen Argumenten auf, aber sein Ansatz beruhte auf harten Fakten, um eine breite Unterstützung der Öffentlichkeit zu erlangen. Australische Baptisten waren sich der internationalen Bewegungen für soziale Reformen unter protestantischen Christen bewusst. Einige Pastoren unterstützten die Arbeiter in den Arbeitskämpfen am Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem W. T. Whale in Brisbane, der als Vermittler im bitteren Stiefel-Streik von 1895 fungierte. Nur wenige Pastoren waren energische Befürworter des Sozialismus in einer christlichen Gestalt, vor allem A. H. Collins (1853–1930) in Fitzroy (Victoria) und in Südaustralien. Samuel Pearce Carey (1862–1953) wurde so mit John Clifford, dem her­ ausragenden baptistischen christlichen Sozialisten aus England, identifiziert, um als „der Dr. Clifford aus Australien“ während seiner Amtszeit (1900–1908) als Pastor der Collins Street Gemeinde in Melbourne gefeiert zu werden. Carey führte spezielle Gottesdienste für die Arbeitslosen durch und war Mitglied in einem Ausschuss der Regierung für Tarifverhandlungen. Die frühe Anteilnahme der Baptisten an der Not der Aborigines war zwar sprunghaft, aber ihre Haltung war kaum von der ihrer evangelischen Kollegen zu unterscheiden. Sie beklagten die Ungerechtigkeiten, die gegen die Aborigines begangen wurden, unterstützten evangelische Missionen, um sie zu bekehren, aber 448

im Allgemeinen waren sie ebenso herablassend und machtlos, wie alle anderen auch, wenn es darum ging, wie man ihnen am besten helfen könnte. Die Baptisten hatten im 19. Jahrhundert Beschlüsse gefasst, die die Rassenbehandlung der chinesischen und anderer ethnischer Gruppen beklagten, und einige Schlüsselfiguren ungeschminkt einer Politik des „Weißen Australiens“ bezichtigt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als Baptisten ihre eigene Mission gründeten, um unter dem Stamm der Warlpiri in Yuendumu zu arbeiten, lässt sich eine dauerhafte Bemühung feststellen, die in der Wüste lebenden Aborigines zu betreuen. Aus dieser Arbeit gingen einige bemerkenswerte baptistische Anführer der Ureinwohner (Aborigines) hervor. Auch entwickelte man imposante kulturelle Ausdrucksweisen der christlichen Kommunikation wie christliche Ikonographie und Corroborees.2 Viele Baptisten, wie die Union des Northern Territory 1972, unterstützten die Ansprüche der Ureinwohner auf Land. Während der Bestrebungen zur Versöhnung gegen Ende des 20. Jahrhunderts entschuldigten sich Jahresversammlungen der Baptisten in aller Form bei der indigenen Gemeinschaft und führten Gottesdienste der Versöhnung durch. Einige bekannte indigene Anführer mit baptistischen Verbindungen, wie Lowitja O‘Donoghue, führten den Baptisten die Schrecken der „gestohlenen Generation“ deutlich vor Augen. Viele Baptisten widersetzten sich der obligatorischen militärischen Ausbildung für Jungen und junge Männer im Jahre 1911, aber nur wenige waren aktive Pazifisten. Während des Ersten Weltkrieges waren Baptisten begeisterte Anhänger der imperialen Sache, Tausende eilten zu den Fahnen und mindestens 750, die mit Baptistengemeinden verbunden waren, wurden während des Krieges getötet. Baptisten waren unerschütterliche Anhänger der von Premierminister Billy Hughes angesetzten Volksabstimmungen 1916 und 1917, um zu erreichen, dass mehr Truppen in den Krieg geschickt werden könnten. Beide Abstimmungen waren erfolglos, doch in den Debatten trat T. E. Ruth (1875–1956), der feurige Prediger der Collins Street Gemeinde in Melbourne, als ein energischer Gegner des Erzbischofs Daniel Mannix (1864–1963) in Erscheinung. In den 2 Corroborees

sind von Clan zu Clan sehr unterschiedliche Riten mit Musik, Tanz, Gesang und Körperbemalung.

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Jahren nach dem Krieg stimmten Baptisten der konservativen protestantischen Reaktion auf Sozialismus und Kommunismus zu. Während der Jahre der Depression mühten sich Baptisten darum, ihre Arbeit zu erhalten und mit den gewaltigen Bedürfnissen der Arbeitslosen fertig zu werden. Einige entwarfen Projekte, aber das Problem war zu groß, um wesentliche Wirkungen zu erzielen. Dennoch erwarben sich bestimmte Pastoren in Arbeiterwohngebieten wie J. H. Goble bei Footscray in Melbourne den Ruf, fürsorgliche und einfühlsame Diener einer hart bedrängten Gemeinschaft zu sein. Als Goble 1932 starb, errichtete diese eine lebensgroße Statue des Predigers, die noch immer auf der Geelong Road steht – ein in Australien einzigartiger Tribut an einen Baptistenpastor. Während dieser schwierigen Jahre des Krieges und der Depression spielten viele baptistische Frauen bedeutende öffentliche Rollen. Herausragend war Cecilia Downing (1858–1952). Obwohl sie in baptistischen Frauenorganisationen extrem aktiv war, wurde sie für ihr bürgerschaftliches Engagement am meisten bekannt. Sie war ein langjähriges Mitglied der WCTU,3 gehörte zur Exekutive des Nationalen Frauenrates (Sekretärin von 1928–36), war Präsidentin der Gesellschaft zur Hilfe für Reisende, eine Bewährungshelferin des Kindergerichtes und Mitglied des Interkirchlichen Frauenrates. In diesen Jahrzehnten spielten die Baptisten auch eine wichtige gesellschaftliche Rolle wegen der Sonntagsschularbeit und einer breiten Palette von Aktivitäten für die Jugend. Allgemein kann man davon ausgehen, dass Baptisten sich in den Vorstädten, wo die Mittelklasse wohnt, gut entwickelten. Dennoch stellten die Gemeinden eine Reihe von Aktivitäten zur Förderung von Führungseigenschaften unter der Jugend wie Christian Endeavour, Diskussionsvereine und uniformierte Gruppen wie Jun3

WCTU = Women’s Christian Temperance Union ist eine ursprünglich gegen Produktion und Konsum von alkoholischen Getränken kämpfende Frauenorganisation, deren erste lokale Gruppe 1873 in der Baptist Church in Fredonia im Bundesstaat New York gegründet wurde. Im November 1874 erfolgte die Gründung der USA-weiten Organisation in Cleveland, Ohio. 1882 entstand in Sydney die erste Gruppe in Australien, und 1891 folgte der Zusammenschluss lokaler und regionaler Gruppen zur National Women’s Temperance Union of Australia in Melbourne. (Anm. des Hg.).

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gen- und Mädchenbrigaden zur Verfügung. Das alles begünstigte die Vermittlung einer Vorstellung des christlichen Lebens, die nicht ohne Auswirkung auf die Bildung von Werten in einer signifikanten Zahl der Jugend der Nation blieb. Die Sonntagsschulbewegung brach weitgehend in den späten 1960er Jahren zusammen, und Baptisten mussten eine vielfältigere und weniger pädagogisch strukturierte Art finden, ihrer Jugend dienlich zu sein. In Carlton (Vic) hatten Baptisten 1901 einen Ganztagskindergarten begonnen. Das waren die Anfänge der KindergartenBewegung in diesem Staat. Heute betreiben Baptistengemeinden in der ganzen Nation zahlreiche Spielgruppen, Kindergärten und Kinderbetreuungsprogramme. Baptisten haben sich aber nicht wie einige andere Konfessionen so intensiv für den Unterhalt von Schulen engagiert. Die erste konfessionelle Schule war Carey Baptist Boys’ Grammar School in Melbourne. Sie wurde 1923 eröffnet und ist jetzt eine große koedukative Schule und eine der führenden Privatschulen im Staat. In Victoria wurden auch zwei einflussreiche baptistische Mädchenschulen ins Leben gerufen: Strathcona wurde 1943 eröffnet und Kilvington begann 1948. Die Kongregationalisten und Baptisten eröffneten 1924 in Adelaide King’s College, eine Jungenschule, die mit dem Girton College verschmolzen wurde, um 1973 das Pembroke College zu bilden. Einige Baptisten in New South Wales nahmen in diesem Staat eine neue Art christlicher Schule in Angriff, als 1976 die Christian Community High School mit 14 Lehrern auf kirchlichem Grundbesitz in Lidcombe und Regent’s Park eröffnet wurde. Die baptistischen Gemeinschaftsschulen haben sich zu einer großen Bewegung entwickelt, und die „Australische Vereinigung Christlicher Schulen“ umfasst jetzt über 250 angeschlossene Schulen. Diese Schulen neigen dazu, mit dem politischen Konservatismus verbunden zu sein und erhalten teilweise eine staatliche Finanzierung. Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Politik der aggressiven Evangelisation wirkungsvoll, vor allem in New South Wales, wo der Pastor in Stanmore, C. J. Tinsley (1876–1960), den anderen ein markantes Beispiel abgab. John Ridley (1896–1976), der in der Schlacht bei Fromelles schwer verwundet worden war, wurde unter den Gemeinden zu einem dynamischen Evangelisten, während A. J. Waldock (1872–1961) 451

eine erweiterte Politik der Heimatmission verfolgte. Der Direktor des NSW College, George H Morling (1891–1974), vertrat eine ausgewogene evangelische Grundlage für pastorales Wirken und beeinflusste andere Staaten. Was australische Baptisten am stärksten zusammenführte, war die Missionsarbeit, die in jeder der Kolonien einzeln begonnen wurde. Die erste Gesellschaft wurde in Südaustralien unter dem maßgeblichen Einfluss von Silas Mead in der Flinders Street im Jahre 1864 gegründet. In Zusammenarbeit mit der britischen Missionsgesellschaft unterstützte man die Arbeit in Faridpur (Indien). Die Gesellschaft in Victoria wurde 1865 gegründet und förderte eine Missionsarbeit in Mymensingh. Die ersten australischen baptistischen Missionare wurden 1882 von Südaustralien ausgesandt, als Marie Gilbert († 1926) und Ellen Arnold (1858–1931) die Arbeit in Bengalen begannen. Arnold kehrte kurz wegen schlechter Gesundheit zurück, durchreiste aber die Nation und begeisterte die Baptisten für die Mission. Fünf Frauen wurden 1885 von Adelaide verabschiedet: Arnold, Martha Plested († 1923) aus Queensland, Marion Fuller († 1897) und Ruth Wilkin († 1910) aus Victoria mit Alice Pappin († 1935) aus Südaustralien. Nach Meads Predigt über die Speisung der Fünftausend, als er gefragt hatte, was diese wenigen Frauen unter so vielen wären, wurden sie als „die fünf Gerstenbrote“ bekannt. Die Frauen taten die ersten Schritte, und man traute ihnen zu, die Arbeit unter den Frauen zu beginnen. Rosalie McGeorge aus Neuseeland trat 1886 dem Team bei. Arthur Summers († 1945), der erste männliche Missionar, ging 1887 nach Indien. Die Missionsgesellschaften der einzelnen Staaten schlossen sich 1913 zur australischen baptistischen Außenmissionsgesellschaft zusammen; zu dieser Zeit waren 65 Personen aus australischen Gemeinden ausgesandt worden. Später bekannt als die Australische Baptistische Missionsgesellschaft (1959) und seit 2002 als Global Interaction sind Baptisten intensiv in interkultureller Mission hervorgetreten. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen australische Baptisten mit der Arbeit in Papua-­ Neuguinea und später in Indonesien, Afrika, Thailand und einigen asiatischen Ländern. Die zeitgenössische Zielvorstellung von Global Interaction ist es, „Gemeinschaften zu befähigen, ihre eigene unverwechselbare Art zu entwickeln, Jesus nachzufolgen“. Derzeit arbeiten über 60 Mitarbeiter in rund zwölf Ländern mit 452

neun Gruppen, die bisher am wenigsten erreicht sind, sie unterhalten aber auch weiterhin Partnerschaften an einigen Orten, wo sie zuvor gedient hatten. Im Jahr 2012 waren die Ausgaben weit über 7,7 Millionen Dollar. Theologische Ausbildung und Ordination In fünf Unionen sind fünf unabhängige theologische Hochschulen gegründet worden, was auf die Wichtigkeit hindeutet, die jeder Staat der pastoralen Ausbildung sowie der „Tyrannei der Distanz“ beimisst, die eine Zusammenarbeit der Baptisten behindert hat. Die erste Hochschule wurde 1891 in Melbourne begonnen und ist heute nach ihrem Gründungsrektor Dr. W. T. Whitley (1861–1947) benannt. Die anderen Hochschulen sind in: Brisbane, 1904 gegründet und heute Malyon College, nach dem Gründungsrektor T. J. Malyon (1844–1921) benannt; Sydney, 1916 gegründet und heute als Morling College nach Rev G. H. Morling benannt, der vierzig Jahre (1921–61) Rektor war; Adelaide, 1952 gegründet und nach dem ersten Rektor E. C. Burleigh (1901–74) benannt, (obwohl heute nicht mehr existent); Perth, 1963 gegründet und Vose Seminar nach seinem Gründungsrektor Dr. Noel Vose (1921–2016) genannt, der als erster Australier von 1985 bis 1990 Präsident des Baptistischen Weltbundes war. Baptisten in Victoria beteiligten sich bei der Gründung des ökumenischen Melbourne College of Divinity im Jahr 1910 (heute University of Divinity). Alle Colleges sind mit Hochschulen verbunden, die akademische Grade verleihen. Diese baptistischen Colleges bieten heute eine breite Palette von Kursen für alle Interessierten und nicht nur für Kandidaten des Pastorenamtes an. Einige australische Baptisten haben internationale Anerkennung für ihre wissenschaftlichen Leistungen gefunden. John Drakeford und George Peck leisteten bedeutende Beiträge in nordamerikanischen Seminaren. John Thompson und Mark Brett, mit Terry Falla ein anerkannter Gelehrter des Altsyrischen, sind unter Alttestamentlern gut bekannt ebenso wie Thorwald Lorenzen in der Systematik und Michael Frost in Missiologie. In Australien werden Ordinationen in der Regel von den Bünden in den einzelnen Staaten durchgeführt. Rev. Marita Munro war die erste Frau, die in Melbourne 1978 ordiniert wurde; seither sind Frauen auch in Südaustralien, Tasmanien und New 453

South Wales ordiniert worden. In Queensland dienen Frauen als Pastorinnen, sind aber nicht ordiniert. In Westaustralien sind weder Frauen noch Männer ordiniert. Von 1.877 baptistischen Pastoren im Jahr 2011 waren rund 415 (oder 22 %) Frauen. Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Bindungen an Großbritannien allmählich abgebrochen, und es gab eine nachweisbare Verschiebung von einer britischen protestantischen Kultur zu einer amerikanischen protestantischen Kultur. Eine populäre Theologie wurde weitgehend durch amerikanische Verlage verbreitet. Etwa ein Jahrzehnt lang galt das Bildungsmodell der Sonntagsschule für alle Altersstufen und das kooperative Budget wie bei den Südbaptisten in den USA als attraktiv. Während die amerikanische protestantische und politische Kultur in vieler Hinsicht einer zunehmenden „Entzauberung“ unterworfen sind, ist es wahrscheinlich richtig, dass viele Aspekte des kirchlichen Lebens nach wie vor nachgeahmt werden; vor allem gelten „erfolgreiche“ nordamerikanische evangelikale Kirchen als Vorbilder. Spannungen unter amerikanischen Evangelikalen waren in Australien zu spüren. Der Fundamentalismus hat die Identität von zumindest einigen bedeutenden Teilen der australischen baptistischen Gemeinschaft geprägt. Das heißt, dass der militante Anti-Liberalismus, das Beharren auf biblischer Irrtumslosigkeit, der Millenarismus und ein Anti-Ökumenismus Teil der baptistischen Identität sind, obwohl dadurch die Spaltungen, wie sie in einigen anderen Teilen des Baptismus zu beobachten sind, in Australien im Allgemeinen nicht hervorgerufen wurden. Australische Baptisten haben in der Regel die Teilnahme an konziliaren Formen der ökumenischen Bewegung zurückgewiesen. Doch auf andere Weise sind viele Barrieren abgebaut worden, und die meisten Baptisten nehmen eine „pragmatische ökumenische Haltung“ ein, die auf vielen Gebieten zu einer Kooperation führt: in der theologischen Ausbildung, bei der Erprobung von gottesdienstlichen und spirituellen Traditionen, bei der Evangelisation und der Lösung sozialer Fragen. Während des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts waren Baptisten in der Debatte über eine breite Palette von sozialen und moralischen Themen beteiligt. Spannungen zwischen eher konservativen Baptisten, wie denen, die das „Festival des Lichts“ von 1973 unterstützten, und denen, die in ihrer Kritik an der Rolle 454

der Kirchen in der Gesellschaft radikaler waren, wurden immer deutlicher. Dies war in Victoria offensichtlich geworden, wo die Opposition gegen den Vietnamkrieg und insbesondere gegen die Methode der Einberufung eine spaltende Debatte angestoßen hatten. Das Eintreten für den Frieden ist unter vielen Baptisten gewachsen, und führende Baptisten in Victoria und Südaustralien wandten sich gegen eine Beteiligung Australiens im Irakkrieg. In baptistischen Versammlungen und Seminaren wurde eine Reihe von gesundheits- und bioethischen Fragen untersucht: Abtreibung, In-vitro-Fertilisation, Sterbehilfe, Alkohol- und Drogenmissbrauch und die Tragödie der Selbstmordrate unter Jugendlichen. Heftige Debatten gab es zu Familien- und Sexualfragen, und besonders die Haltungen gegenüber Homosexualität haben erhebliche Spannungen hervorgerufen. Sexueller Missbrauch, ein in vielen Denominationen leider kein unbekanntes Phänomen, wurde mit starken Worten verurteilt, und es wurden Leitlinien für die Art und Weise verabschiedet, wie straffällig gewordene Pastoren oder Gemeindeleiter behandelt werden sollen. Eine breite Palette von sozialen und moralischen Fragen wird ständig debattiert: Fragen der Armut, Einstellung zur Arbeitslosigkeit und eine Reihe von Fragen zu Umwelt und Ökologie. Menschenrechtsverletzungen, ob unter den Aborigines in Australien oder anderen Völkern, sind regelmäßig verurteilt worden. Baptisten haben auch gegen die Behandlung von Flüchtlingen durch die australische Regierung protestiert. Die bedeutendste institutionelle Rolle der Baptisten gegenüber der Öffentlichkeit wird jedoch sichtbar durch den Betrieb von Seniorenheimen und einer Vielzahl gemeinnütziger Dienste. Baptisten hatten sich darauf geeinigt, staatliche Mittel für ihre Schulen zu akzeptieren, weil sie argumentierten, dies sei kein Verstoß gegenüber ihrer traditionellen Ablehnung staatlicher Finanzierungen. Das Geld diene nicht religiösen Zwecken, sondern sei für einen gemeinnützigen Zweck bestimmt. Infolgedessen erhielten Baptisten staatliche Unterstützung für ihre sozialen Dienstleistungen. Das erste Heim wurde 1945 in einem Vorort von Melbourne eröffnet. Ähnliche Schritte erfolgten in anderen Staaten, und nach 1952, als staatliche Mittel für solche Unternehmungen flossen, erfolgte eine schnelle Expansion. 455

In jedem Staat wurden Trägerorganisationen für „Baptistische Heime“ gegründet, und obwohl staatliche Hilfen viel dazu beitrugen, die Expansion zu erleichtern, kamen die ersten Ideen und die Bereitstellung von Ressourcen von baptistischen Laien. Heute ist das, was als „Baptcare“ bekannt ist, ein großes Unternehmen mit einem Multi-Millionen-Dollar Umsatz und einem breit gefächerten Angebot gemeinnütziger Dienste. Ein Schwerpunkt ist nach wie vor die Altenpflege. Ein Faktor bei der Vorbereitung auf diese neuen Formen des Engagements unter Baptisten war die Gründung einer Reihe von Gemeinschaften zur Förderung einer radikalen Jesus-Nachfolge, vor allem das „Haus der Neuen Welt“ in Sydney (1970), das „Haus der Freiheit“ in Brisbane (1972) und das „Haus des Zarten Bunyip“ in Melbourne (1975) durch Dr. Athol Gill (1937– 92)4, der ein bedeutender Ideengeber dieser Bewegung war, die Baptisten herausforderte, sich für zielgerichtete Missionsarbeit zu engagieren und klare Kante als Aktivisten für soziale Gerechtigkeit zu zeigen. Viele örtliche Gemeinden führen ein breites Spektrum sozialer Dienste als normaler Ausdruck ihrer Sendung durch: Rechtsberatung, Unterstützung von Obdachlosen, Jugendherbergen, Notunterkünfte oder andere spezialisierte Dienstleistungen wie Hilfe für neu angekommene Flüchtlinge, Englischkurse für Migranten, ein Zentrum zur Tagespflege von Alzheimer-Kranken sowie Unterstützung von psychisch Kranken oder Drogenabhängigen. Australien ist heute multikulturell sowie multiethnisch und hat mehr Buddhisten als Baptisten. Dementsprechend ist ein Merkmal des baptistischen Gemeindelebens die wachsende Zahl von ethnischen oder multikulturellen Gemeinden. Die letzte Volkszählung (2011) zeigte, dass ein wachsender Anteil (30 %) der Baptisten in Übersee geboren wurde. Unter den Protestanten 4

Bunyip ist ein Fabelwesen, das in Erzählungen der Aborigines in Flüssen und Wasserlöchern haust und unvorsichtige Tiere oder Menschen mit großem Gebrüll verschlingt. Athol Gill, der in Rüschlikon studiert und in Zürich promoviert hatte, war von 1979 bis zu seinem unerwarteten Tod Professor für Neues Testament am Whitley College in Melbourne und gründete 1975 eine Kommunität, die mit dem „Haus des Zarten Bunyip“ verbunden war. Gill griff zurück auf die Mythologie der Ureinwohner, aber für ihn ist der Bunyip nicht blutrünstig, sondern „gentle“, also zart, mild, gutmütig, sanft – diese Eigenschaften sollen in der unbedingten Jesus-Nachfolge zum Klingen kommen. (Anm. d. Hg.).

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waren Baptisten vielleicht die erfolgreichsten bei der Gründung dieser Gemeinden. Baptistische Migranten kommen aus vielen europäischen Nationen und in den letzten Jahren aus Südostasien und Afrika. Es gibt heute weit über 100 „ethnische“ Gemeinden, die arabisch, slawisch, deutsch, ukrainisch, rumänisch, slowakisch, griechisch, mazedonisch, kambodschanisch, chinesisch (viele davon sind chinesisch-anglo integrierte Gemeinden), estnisch, japanisch, koreanisch, laotisch, spanisch, und vietnamesisch sind. Andere Gruppen kommen aus dem Libanon, Indonesien, Iran, Fidschi, Samoa, Polen und Mazedonien. Eine Reihe von Flüchtlingen aus Lateinamerika, vor allem aus El Salvador, und kürzlich aus Burma (Chin und Karen) und dem Sudan wurden auch willkommen geheißen und unterstützt. Dieser Dienst an den multikulturellen Migranten hat der Identität australischer Baptisten eine zusätzliche Dimension verliehen. Mehr und mehr Gemeinden, die traditionell anglo-australisch in Mitgliedschaft und Bräuchen sind, passen sich der Präsenz und den Werten von Migranten an, die in das kirchliche Leben integriert werden – ein Prozess, der für ihre Integration in die australische Gesellschaft nicht unwichtig ist. Nach den Zahlen der Volkszählung erreichten Baptisten in Bezug auf den Prozentsatz der Bevölkerung ihren Höhepunkt im Jahr 1901, als sie 2,37 % der Bevölkerung ausmachten. Nach einem Rückgang auf 1,60 % im Jahr 1933, waren sie bei der letzten Volkszählung (2011) 1,64 % der Bevölkerung, als sich 352.499 als Baptisten identifizierten. Diese Zahlen müssen mit denen der Mitgliedschaft und der Anwesenheit verglichen werden. Im Jahr 2011 gab es 959 Gemeinden (659 im Jahre 1966), wobei die meisten in New South Wales (350) und Victoria (203) zu finden sind. Die Gesamtzahl der Mitglieder betrug 62.719, obwohl Schätzungen von 141.900 ausgehen, die insgesamt zur Gemeinschaft der Baptisten gehören. Einige haben im akademischen und öffentlichen Leben einen prominenten Platz, doch leben die meisten unauffällig, sind aber Teil einer Kirchenbewegung, die eine Rolle bei der Gestaltung der modernen aus­ tralischen Gesellschaft gespielt hat, ein Einfluss, der größer ist als ihre numerische Größe. Außerhalb der Union gibt es mehrere kleine Gruppen. Im Jahr 2013 gab es 196 unabhängige oder fundamentalistische Gemeinden in Australien. Die meisten von ihnen haben weni457

ger als fünfzig Mitglieder bei einer Beteiligung (z. B. an Gottesdiensten) von etwa 8.000 Personen. Einige wenige baptistischreformierte Gemeinden, die einem strengen Calvinismus anhängen, bildeten 1982 ein Gemeinschaft. Nur vier Gemeinden der strengen, „particular“ Richtung überleben in Australien mit einer Gesamtmitgliedschaft von 24. Eine Handvoll SiebentenTags- Baptisten findet sich auch in Australien. Literaturhinweise: Ken R. Manley, From Woolloomooloo to ‚Eternity‘: A History of Austral­ ian Baptists (Milton Keynes: Paternoster, 2006, 2 Bände), die umfassendste Darstellung mit Lit. T. Cupit, R. Gooden and K. Manley (eds), From Five Barley Loaves. Australian Baptists in Global Mission 1864–2010 (Preston, Vic: Mosaic Press, 2013). P. J. Hughes und D. Cronshaw, Baptists in Australia. A Church with a heritage and a future (Nunawading, Vic.: Christian Research Association, 2013), enthält wertvolle Analysen der „Erhebung zum Nationalen Kirchenleben“. Ken R. Manley, ‚„Planted in a new land“: German Baptists in Australia (ca. 1860–1914)‘ in: L. Lybaek, K. Raiser, S. Schardien (eds), Gemeinschaft der Kirchen und gesellschaftliche Verantwortung (Festschrift für Professor Dr. Erich Geldbach) (Münster: Lit Verlag, 2004), 108–23.

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Baptisten in Neuseeland und ihr Ringen um Identität Martin Sutherland Seit den Anfängen der Kolonisierung im 19. Jahrhundert haben Baptisten in Neuseeland darum gerungen, ein Gefühl der Identität an einem fremden Ort zu finden. Aufeinander folgende Versuche, ein neues Zuhause zu bauen, wurden aufgegeben, und Baptisten blieben zerstreut und geistlich vereinzelt. Die Bevölkerungsstatistik lässt sich schnell zusammenfassen: Baptisten waren nie eine große Gruppe. Diejenigen, die sich bei Volkszählungen als „Baptisten“ identifizierten, erreichten in den 1880er Jahren ihren Höhepunkt, verblieben aber während des zwanzigsten Jahrhunderts bei 1,6 bis 1,7 % der Bevölkerung. Die frühen Zahlen bezogen sich auf eine niedrige Bevölkerungszahl, so dass die Auswirkung einer einzigen sehr großen Gemeinde sich verstärkte. Die Zahlen im 20. Jahrhundert blieben bemerkenswert konstant; sie liegen wenig über entsprechenden Zahlen für Australien und deutlich über denen in Britanien.1 Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die Zahl der Mitglieder anschaut. Auf dieser Grundlage (die natürlich Kinder ausschließt) konnte die Denomination bis 1990 ein reales Wachstum erreichen, was sich jedoch in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts änderte. Seitdem nahm die Zahl ab. Mit Statistiken sieht man nur wie „durch einen Spiegel ein dunkles Bild“2. In diesem kurzen Aufsatz will ich versuchen, die Suche der Baptisten in Neuseeland nach Identität nachzuzeichnen und hoffe, dass dadurch die trockenen Zahlen verlebendigt werden. 1. Die Anfänge Die Geschichte der Baptisten in Neuseeland ist nur kurz. Die erste Gemeindegründung geschah erst 1851. Entscheidend ist, dass es keine begründende „Idee“ gab, Baptist in der Kolonie zu sein. Baptisten kamen nicht als Missionare, wie Angli1

P. J. Hughes, The Baptists in Australia, Canberra, Commonwealth of Australia, 1996, 38–40. 2 Vf. bezieht sich auf die Redeweise des Apostels Paulus in 1. Kor. 13, 12 (Anm. d. Hg.).

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kaner, Methodisten und Katholiken. Sie gründeten auch keine großen religiösen Siedlungen. Stattdessen kamen sie vor allem aus Großbritannien als anonyme Einzelpersonen und Familien wie zufällig „hereingeschneit“ und waren in dem neuen Land verstreut. Erst allmählich erkannten sich Baptisten gegenseitig und suchten regelmäßige Gemeinschaft. Dieser ungeordnete Anfang und die manchmal überraschende Beschaffenheit des kolonialen Lebens barg unvorhergesehene Herausforderungen. Die meisten der frühen baptistischen Anführer wussten selbstsicher, wer sie waren. Sie waren Briten, und sie waren Nonkonformisten. Als kulturell selbstbewusste Menschen fanden sie Gefallen an ihrer Rolle innerhalb der Kultur als religiöse Außenseiter, als „Sekte“, als „Kontrastgemeinschaft“. Die erste Generation stellte sich vor, ein neues Britanien zu errichten, ein „glücklicheres Britanien“.3 Eine fast naive Zuversicht, die zusätzlich durch die scheinbar unendlichen Möglichkeiten des Lebens in einem neuen Land aufgeheizt wurde, führte unter der ersten Generation zu aggressiven evangelistischen Bemühungen. Dafür gab es kein größeres Symbol als die Karriere von Thomas Spurgeon in Neuseeland. Als Sohn des berühmten Charles4, konnte er seit 1881 auf eine außerordentlich erfolgreiche Amtszeit in Auckland zurückblicken, hatte er doch die größte Gemeinde in Australasien gesammelt. Als Spurgeon 1889 aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt zurücktrat, wurde er zum „Kolonialen Evangelisten“ ernannt und führte bis zu seiner Rückkehr nach England 1891 Erweckungsversammlungen im ganzen Land durch. Die Version der Religion, wie Spurgeon sie vertrat, dominierte das Leben der Baptisten in Neuseeland in den 1880er Jahren und verkörperte evangelistischen Erfolg und diente als direkter Draht zu den Unruhen und Kontroversen in Großbritannien. 3

So der Titel einer öffentlichen Rede, die Thomas Spurgeon während eines Besuchs in Britanien 1884 hielt. Für die These, dass nach den 1880er Jahren eine Revision der Idee „Neuseeland“ einsetzte, was auf eine „Rekolonisierung“ hinauslief, vgl. James Belich, Making Peoples: A History of the New Zealanders from Polynesian Settlement to the End of the Nineteenth Century, Auckland 1996, 446–50. 4 Charles Haddon Spurgeon (1834–1872) gilt als einer der berühmtesten Prediger des 19. Jahrhunderts, oft als „Fürst unter den Predigern“ tituliert (Anm. d. Hg.).

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Britische Strukturen wurden automatisch übernommen. Eine Union wurde 1882 gegründet, gefolgt von der 1885 ins Leben gerufenen Neuseeländischen Baptistischen Missionsgesellschaft, um in Bengalen aktiv zu werden. Allerdings funktionierte in den ersten Jahren weder die Union noch die Missionsgesellschaft. Die Union wurde von zwei möglichen Spaltungen in den ersten zehn Jahren bedroht, und die Missionsgesellschaft, obwohl sie eine Reihe von engagierten jungen Frauen nach Bengal senden konnte, war 1899 mit einem Skandal konfrontiert und stand kurz vor dem Zusammenbruch. Beide waren zu früh gegründet worden, und beide konnten in der Kolonie kaum überleben. Neuseeland war nicht Großbritannien. In der neuen Umgebung griffen nur wenige der alten Regeln. In diesem dürren, bergigen Land, wo sich die Kommunikation schwierig gestaltete, war die Dynamik des baptistischen Lebens zentrifugal und lokal. Die Bedürfnisse der beiden zentralen Organisationen zog zu viel Energie ab und führte zu einigem Unmut in den Gemeinden. Das Gefühl füreinander und ihre Beziehungen zu anderen mussten sich anpassen. Eine bloße Verpflanzung kirchlicher Formen reichte nicht aus. 2. Pragmatische Neuerungen Es hatte natürlich bereits Zugeständnisse an die neue Realität gegeben. Die Erfordernisse der kolonialen Umwelt erzwangen ein Maß an pragmatischen Neuerungen. Das traditionelle Modell der „versammelten Gemeinde“ passte nicht in die dünn besiedelte Landschaft. Als Reaktion darauf wurde eine frühe Form der Gemeindegründung versucht. Viele lokale Gemeinden entstanden auf Initiative von einigen wichtigen großen Gemeinden. Man versuchte, wahrscheinliche Wohngebiete oder das Bevölkerungswachstum zu ermitteln, um Standorte zu sichern. Oft geschah dies mehr als ein Jahrzehnt vor der Nutzung. Die neuen Ursachen blieben oft abhängig von der fördernden Gemeinde.5 Als Alternative legte sich nahe, die Erweiterung regional zu organisieren. Eine kleine, aber vitale Vereinigung 5

Für eine entsprechende Studie vgl. M. P. Sutherland, „Cohesion and Conflict in 1880s Cambridge“, N.Z. Journal of Baptist Research 4, October, 1999, 3–21.

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wurde 1873 in Canterbury zu dem Zweck organisiert, einen Evangelisten anzustellen. Um 1900 nahm der britische Einfluss ab. Nach dem Tod des Vaters und der Abreise des Sohnes schwand die Bedeutung von Spurgeon. Die Mängel der nationalen Organisationen – zuerst die der Missionsgesellschaft und dann die der Union – wurden offensichtlich und immer drängender. Dass man sich zu den Nonkonformisten zählte, erwies sich in einem Land ohne etablierte Kirche als grundsätzlich bedeutungslos. Baptistische Kolonisten waren mit einem starken „sektiererischen“ Gedächtnis angekommen. Dies hatte seine Vorteile. Es war relativ einfach, ein Gefühl von Identität zu erhalten, weil man sich im Gegenüber zu anderen definierte. Aber was bedeutet es, eine „Kontrastgemeinschaft“ in Neuseeland zu sein? Wenn Baptisten „Abweichler“ waren, von wem wichen sie ab? Die koloniale Kirche von England konnte nicht das alte Spiel spielen, weil Neuseeland sich selbstbewusst als säkularer Staat definierte. Im Ergebnis wurden „sektiererische“ Probleme oft von politischen Fragen unterschieden. Eine „sektiererische“ Identität überlebte eine Zeitlang, aber es musste ein neuer Schwerpunkt gefunden werden. Die zweite Generation der baptistischen Pastoren, vor allem diejenigen, die in den Kolonien aufgewachsen, geformt und ausgebildet waren, grenzten sich nicht so sehr von Anglikanern und Presbyterianern, sondern von Katholiken ab. Tatsächlich bestand eine Zeitlang die Gefahr, dass der Anti-Katholizismus die baptistische Identität in Neuseeland definieren würde. Seine Erscheinungsformen konnten extrem sein. Während des Ersten Weltkrieges gründete ein Baptistenprediger (Howard Elliot, nur knapp für die Präsidentschaft der Union im Jahre 1917 unterlegen) die radikale „Protestantische Politische Vereinigung“ mit dem ausdrücklichen Ziel, die Katholiken von der Macht auszuschließen. Elliot war so berüchtigt, dass sich die Union in einer Erklärung von seinen Aktivitäten distanzieren musste.6

6 Vgl.

Gustafson, s.v. H. L. Elliot, in: New Zealand Dictionary of Biography, 3, Auckland: Auckland University Press, 1996; auch G. T. Beilby, A Handful of Grain: The Centenary History of the Baptist Union of N.Z., Wellington, N.Z., Baptist Historical Society, 1984, 96–98.

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3. Die nächste Generation Seit den 1920er Jahren wurde der Aufbau zentraler Strukturen zunehmend wichtiger. Eine subtile Veränderung fand statt. Als die dritte Generation heranwuchs, trat der Sinn für eine „Kontrastgemeinschaft“ mehr und mehr in den Hintergrund. Eine Dynamik, die auf das Zentrum gerichtet war, setzte sich durch. Baptisten entschieden sich für den religiösen Hauptstrom, um sich den Anglikanern, Presbyterianern und Methodisten anzuschließen mit dem natürlichen Anspruch auf einen Platz am protestantischen Tisch. Für eine solch kleine Gruppe war dies in vielerlei Hinsicht Ausdruck eines absurden Ehrgeizes, aber der Versuch wurde mit Nachdruck und einigem Erfolg unternommen. Die Konservativen wurden an anderer Stelle eingesetzt; die strengeren „Sektierer“ spielten kaum noch eine Rolle. Der Weg in die Zukunft schien klar. In der Mitte des Jahrhunderts mussten die Baptisten in Neuseeland ihren Part im breiten kirchlichen Spektrum spielen. Das Signal für diese neue Ära der verstärkten Fokussierung auf Organisation und Struktur war die gesetzliche Eintragung der Baptistischen Union von 1923. In erster Linie war dies ein Mittel zur Sicherstellung des Besitzes von Eigentum und zugleich der höchste Ausdruck für den Antrieb zur Zentralisierung, die in den 1920er Jahren begann. In den nächsten Jahrzehnten wurde eine Reihe von Ausschüssen eingesetzt, um die Arbeit der Denomination effizienter zu gestalten. Im Jahre 1915 hatte die Jahresversammlung sechs Ausschüsse berufen; 1945 waren es dreiundzwanzig.7 Die Hinwendung zum Hauptstrom hatte Auswirkungen auf die Beziehungen zu anderen Denominationen. Dies wurde ein Hauptthema in den 40er und 50er Jahren. Baptisten versuchten, ein Profil von sich zu erstellen, das verhindern sollte, sie als sektiererische Außenseiter abzustempeln. Dies gelang nur teilweise. Es blieb ein harter Kern im Baptismus, für den biblische Reinheit von höchster Bedeutung war und für den die Herzensreligion eine größere Bedeutung besaß als die Akzeptanz durch den Hauptstrom. Dennoch war der zentripetale Ansatz in der Mitte des Jahrhunderts ein echter, wenn auch nicht ausdrücklich 7

Beilby, A Handful of Grain, 30–32.

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dargelegter Versuch, eine neue Identität der Baptisten in Neuseeland zu konstruieren. Baptisten waren weiterhin Verfechter evangelischer Begeisterung und Gewissensfreiheit, aber man hoffte, dies in einer Weise zu tun, ohne die anderen Denominationen zu entfremden: Baptisten sollten auch als Säulen des Christentums angesehen werden. Die 1950er Jahre waren eine Zeit erheblichen Wachstums; denn die Mitgliederzahlen stiegen um mehr als 45 %. In Proportion zur Bevölkerung wuchs die Zahl der Mitglieder auch, obschon insgesamt die Zahl der Anhänger stabil war. Obwohl keineswegs beweiskräftig, ist diese Schließung der Lücke zwischen Mitgliedschaft und Anhängerschaft interessant. Wir müssen aufpassen, nicht zu viel da hinein zu lesen. Dennoch könnte die relative Bereitschaft nominaler Baptisten, sich durch Taufe und Mitgliedschaft zu verpflichten, als Indikator für konfessionelle Loyalität und als ein grober Hinweis für die Stärke der baptistischen Identität gewertet werden. Wenn dem so ist, dann hat die Periode der Anpassung an den Hauptstrom die Identität der Baptisten nicht geschwächt. 4. Beunruhigende Fragen Im Jahre 1964 stellte jedoch der Generalsekretär L. A. North „beunruhigende Fragen was das Leben unserer Denomination betrifft, unsere Ziele und die erreichten Ergebnisse.“8 Die charismatische Bewegung begann ihren Lauf. Anders als in einigen anderen Ländern wurde in Neuseeland die größte Wirkung der zunächst so genannten „Neo-Pfingstbewegung“ innerhalb der bestehenden konfessionellen Strukturen erzielt. Unabhängige Gemeinden bildeten sich und kleine pfingstkirchlichen Denominationen entstanden, aber ansonsten wurden die Kirchen des Hauptstroms am meisten von Erneuerungsbewegungen beeinflusst. Dies ist sicherlich bei Baptisten der Fall. Die junge charismatische Bewegung wurde jedoch in den 1960er Jahren von der Führung mit großem Argwohn als spaltend angesehen. Diese negative Antwort auf charismatische Regungen berührte primär eine Schlüsselfrage im Leben der Baptisten, nämlich die Frage 8

Baptist Union Year Book 1964–1965, Wellington, Baptist Union of New Zealand, 1964, 17.

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der Autorität. Es ist vorausgesetzt, dass die religiöse Autorität von informierten individuellen Gewissen innerhalb vereinbarter Strukturen ausgeübt wird. „Das Werk des Heiligen Geistes“ war in erster Linie zu finden in der geordneten Demokratie der Kirchenversammlung. Die Vorstellung, der Geist würde ausschließlich zu einigen sprechen, war verfemt. Zwei Jahrzehnte gab es Versuche, die Ausbreitung charismatischer Ausdrucksformen und Praktiken zu unterbinden. Die Bewegung war eine Herausforderung für geordnete Verhältnisse und stellte in den Augen der Führung eine Bedrohung dar, die Baptisten wieder an den religiösen Rand zu verweisen. Gleichwohl gewann die charismatische Bewegung bei Baptisten in Neuseeland weiter an Boden. Die Leidenschaft und die emotionale Bindung der charismatischen Bewegung fügte sich ganz natürlich in die „sektiererische“ Begeisterung der früheren Gruppen ein, ja unter Baptisten verband sich die Erneuerungsbewegung mit dem auf Spurgeon zurückgehenden biblischen Konservatismus zu einer mächtigen neuen Kraft, die in den 1980er Jahren das baptistische Leben dominierte. Es erwuchsen unvermeidliche Konsequenzen für die Organisation. Die Dynamik des baptistischen Lebens wurde wieder auf das zentrifugale Modell zurückgeworfen. Die Gesellschaft war einem rapiden Änderungsprozess unterworfen und wie viele andere begannen sich auch Baptisten, bedroht zu fühlen. Eine Reihe von „Umstrukturierungen“ wurden in den 1980er Jahren beschleunigt. In dieser Dekade war die gesamte Gesellschaft von Neuseeland in dem Reformeifer der vierten Labour-Regierung gefangen. Herzstück der Reform von Verwaltung und Wirtschaft war die Reduzierung des Regierungsapparats und die Betonung des individuellen Unternehmertums. Auch Baptisten gingen daran, ihre zentralen Strukturen abzubauen. Als Gerard Marks 1990 seine Zeit als General Superintendent an sich vorbeiziehen ließ, identifiziert er die Dezentralisierung als ein wiederkehrendes Thema.9 Man argumentierte zunehmend, dass der Fokus von der Denomination zu den Ortsgemeinden hin verschoben werden sollte. Dadurch wuchs der wesenhaft sektiererische charismatische Einfluss. 9 Baptist

Union Year Book 1990–199, Auckland: Baptist Union of New Zealand, 1990, 33.

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Der Sinn von „Kontrast“ kehrte zurück. Der Kontrast blieb jedoch vage, und das Ergebnis war eine Abkehr vom Engagement. Der Ausschuss für öffentliche Fragen wurde abgeschafft. Als eine neue ökumenische Körperschaft 1985 gebildet wurde, entschieden die Baptisten, sich nicht zu beteiligen. Der Nachfolger von Marks, Ian Brown, warnte 1992, dass „unser Gefühl der Identität und unser Grund für die Existenz als Baptistengemeinden – Gemeinschaften des Glaubens – in Gefahr ist zu verschwinden.“ Dennoch kam ein erneuertes Gefühl der Identität dadurch zustande, dass man sich als eine „Bewegung“ und nicht als eine „Denomination“ betrachtete.10 Die Jahresversammlung 1993 wurde von der Vorstellung aufgeschreckt, dass „die Zeit der institutionellen Kirche vorbei ist, und der Tag der verbundenen Gemeinschaft begonnen hat.“11 5. Einführung Regionaler Superintendenten Im Jahr 1991 wurde eine neue Führungsebene, regionale Superintendenten, eingeführt. Auf den ersten Blick war dies eine Dezentralisierung. Aber bedeutende Persönlichkeiten standen jetzt zur Verfügung, um zu ermutigen und um lokale Bemühungen zu koordinieren. Die nationale Führung blieb bestehen. Die Superintendenten waren eine zusätzliche Ebene, die von der Zentrale mitfinanziert wurde. Vor allem aber entpuppte sich ihre Rolle entwicklungsfähig. Anfänglich waren die Superintendenten gedacht als Seelsorger für die örtlichen Pastoren und die Gemeindeleitungen, aber ihr Fokus wurde bald die Mission. Ian Brown, der Marks 1991 nachfolgte, identifiziert eine weitere Rolle. „Die Superintendenten werden sicherlich den Gemeinden und Pastoren Seelsorge und Anweisungen geben, aber ebenso wichtig wird ihre apostolische Rolle sein.“12 Wenn Ian Brown von „apostolischer Rolle“ sprach, meinte er eine Verantwortung der Achtsamkeit, um Übersicht und Zusammenhalt zu bieten, und kein autoritatives Amt in einem pfingstlichen Sinn. Dennoch schwang in der Sprache eine Verschiebung mit, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten statt10

N.Z. Baptist, December 1992, 3. Rev. Murray Robertson, reported in N.Z. Baptist, December 1993, 20. 12 Yearbook 1992, 38. 11

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gefunden hatte, in denen sich einige Gemeinden und Leiter in Richtung charismatischer Stile und Modelle bewegt hatten. Diese Kräfte – Dezentralisierung / Deinstitutionalisierung und apostolische Führung – sind offenbar nicht völlig deckungsgleich. Dieses Missverhältnis führte unweigerlich zu gemischten Signalen, eine Verwechslung von Nachrichten über das weitere Vorgehen. Im Jahr 1997 wurde beispielsweise eine neue Erklärung zur Rolle der Superintendenten angenommen. Dabei verlagerte sich der Schwerpunkt etwas; die wichtigsten Aspekte der Rolle werden wie folgt definiert: 1. Den örtlichen Kirchenleitern geistliche Führung bieten. 2. Wirksame Seelsorge für die Mitarbeitenden sicherstellen. 3. Gesunde Gemeinden fördern.

Als man eine fortgesetzte Tendenz im konfessionellen Leben wahrnahm, appellierte die neue Führung um Ian Brown und die regionalen Superintendenten im selben Jahr an die Jahresversammlung, „Neue Wege“ zu gehen; es war das Bemühen, die „Bewegung“ auf Mission und Evangelisation zu konzentrieren. Die Stärke dieses Vorschlags beruhte auf der Organisationstheorie und der Gefühlsbetontheit, doch war er schwach im Konkreten. Obwohl die Versammlung den Vorschlag annahm, räumte Brown später ein, dass er „nicht die Akzeptanz fand, wie wir meinten.“ Sehr wenige Änderungen ergaben sich.13 6. Kontakte zu den American Baptists und die Auswirkungen Dies war eine herbe Enttäuschung für die Leitung. Ihre Bemühungen schienen am Boden zerstört. Dennoch wurde ein Neustart zu den Themen versucht. Auf der Versammlung im November 1999 erhielt Ian Brown den Auftrag, einen Prozess des Nachdenkens über Wesen und Auftrag der Baptisten in Neuseeland im 21. Jahrhundert und über die erforderlichen Strukturen und Leitungsmodelle in Gang zu setzen.14 Erwartet wurde, dass Dokumente für eine Diskussion bis Februar 2000 bereit 13

Ian Brown, ‚Annual Report‘ N.Z. Baptist, November 2000, 1. Ian Brown „Towards Bethlehem 2000“, in: N.Z. Baptist, December 1999, 5. 14 Vgl.

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seien. Diese Zeitleiste musste aufgegeben werden, weil die Ereignisse eine unerwartete Wendung nahmen. Der frühere Kontakt mit Paul Borden von den American Baptists führte im Februar 2000 zu einem Informationsbesuch einer Gruppe unter Leitung von Ian Brown bei dem westlichen Regionalverband der American Baptists in Nord-Kalifornien. Der Besuch hatte eine tiefgreifende Wirkung. Die Reisegruppe war von dem Schwerpunkt des Regionalverbandes „Wachsende Gesunde Gemeinden“ nachhaltig berührt. Nach Rückkehr stand dies im Mittelpunkt des Nachdenkens über die Lage in Neuseeland. Verblüffender für die Gemeinden war Ian Browns Entscheidung, die er bald nach seiner Rückkehr aus Kalifornien bekannt gab, ein Jahr vor Ablauf seiner Amtszeit als Geschäftsführender Sekretär zurückzutreten. Er erklärte, es seien „ein neuer Stil und jüngere Kräfte“ erforderlich.15 Paul Borden und John Kaisar vom westlichen Regionalverband der American Baptists kamen 2001 nach Neuseeland, um in der neu ausgerichteten Union Schulungen und Gemeindekonsultationen durchzuführen. In diesem Jahr wurden auch die Schlüsselstellungen des Nationalen Beraters und des Nationaler Leiters besetzt. Unumstritten war die Besetzung der ersten Stelle. Die Besetzung der zweiten Position geriet in schweres Fahrwasser. Im Dezember 2000 einigte sich der Rat der Versammlung (das ausführende Organ zwischen den Jahresversammlungen), dass die Position einen „Praktiker“ verlange – d. h. dass der neue Nationale Leiter nicht nur eine Person mit einer nachgewiesenen Erfolgsbilanz in Gesunden Wachsenden Gemeinden aufweisen, sondern auch die Denomination leiten solle, während er weiterhin in der gegenwärtigen gemeindlichen Leitungsrolle verbliebe.16 Dies war für viele ein neues Konzept und erzeugte erhebliche Unruhe in den Gemeinden. Daher wurde beschlossen, einen Interimsleiter bis zur Jahresversammlung 2002 zu ernennen und auf der kommenden Versammlung 2001 dieses Modell zur Diskussion zu stellen; die Versammlung billigte es schließlich.17 Ein Folge der Umstrukturierungen im letzten Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts bestand darin, dass Baptisten apostolische 15

N.Z. Baptist, April 2000, 5. Brian Kenning, „Council Comment“ N.Z. Baptist, April 2001, 5. 17 Brian Kenning, „Council Comment“ N.Z. Baptist, Juni 2001, 5. Vgl. die Debatte in der Zeitschrift N.Z. Baptist, Juni 2001, 16–17 und Juli 2001, 8. 16

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Zugänge zu Leitungsfragen stillschweigend billigten. Dies traf auf lokaler Ebene zu, wo man das von einem Stab geführte Modell mit der unvermeidlichen Abstufung der Mitglieder­versammlung förderte. Noch deutlicher ist es auf nationaler Ebene. Das Ergebnis ist eine deutliche Verschiebung der kirchlichen Praxis. Das betraf nicht nur Baptisten. Eine allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber kirchlichen Strukturen führte in Neuseeland zu zahlreichen Neuausrichtungen und zum Niedergang der bisher wichtigen Gremien. Bei Baptisten war jedoch die Auswirkung besonders tiefgreifend. Die alte Frage nach der Identität war jetzt so unklar wie noch nie. 7. Die Frage der Identität neu gestellt Nirgendwo trat dies deutlicher in Erscheinung als bei den Auseinandersetzungen in der Denomination, um eine Antwort zu finden auf die Gesetzgebung der Regierung, gleichgeschlechtliche Ehen zu legalisieren. Als im Jahr 2013 die Ehe-Gesetzgebung mit einer Schnelligkeit und großem Rückhalt in der Öffentlichkeit verabschiedet wurde, zeigten sich viele in den christlichen Gemeinschaften schockiert. Angesichts der jahrelangen und schleichenden Veränderungen in einer zunehmend säkularen Gesellschaft hatten konservative Christen sich selbst eingeredet, dass sie zumindest in Bezug auf die „Familienwerte“ im Einklang mit der Mehrheitsmeinung (wenn auch einer oft stummen) in der Kultur seien. Sie hatten sich geirrt. Für Baptisten, die Jahrzehnte wenig Interesse für öffentliche Angelegenheiten gezeigt hatten, war das Problem plötzlich sehr akut. Auf der Jahresversammlung 2013 wurden Vorschläge unterbreitet, Gemeinden und Pastoren zu disziplinieren, falls gleichgeschlechtliche Ehen durchgeführt werden sollten. Dies erzeugte erhebliche Ängste. Tiefe Unsicherheit über die Grundsätze der Baptisten tauchten auf. Welche Rolle würde die Denomination spielen, wenn sie Gemeinden disziplinierte? Die Vorschläge der Leitung schienen im Widerspruch zu den Grundprinzipien der „gesetzlichen Eintragung“ von 1923. Eine Kommission zu diesen Fragen wurde eingesetzt, die zwei Jahre später ihren Bericht vorlegte. Die Jahresversammlung 2015 befürwortete Maßnahmen, die durchblicken ließen, dass die Zentrale der Denomination die Aufgabe hat, Gemeinden und Pastoren in der Frage auf eine 469

Linie zu bringen. Die Frage blieb bisher ungeprüft, ja sie stellt ihrerseits eine Prüfung der Identität dar. Während Baptisten in Neuseeland sich einer rasch verändernden sozialen Struktur gegenübersehen, bleiben sie durch die Grundsatzdebatte herausgefordert, die sie teils mehr teils weniger durch ihre gesamte Geschichte begleitet hat: Was bedeutet es, an diesem Ort und zu dieser Zeit Baptist zu sein?

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VERZEICHNIS DER AUTOREN

Ayanrinola, Isaac Duro, PhD, arbeitete acht Jahre als Missionar der Baptisten-Konvention von Nigeria in Sierra Leone. Danach promovierte er in den USA im Fach Missiologie. Gegenwärtig ist er Generalsekretär der All-Afrikanischen Baptistischen Gemeinschaft. Bebbington, David, PhD, war Professor für Geschichte der Universität von Stirling, Schottland, und Gastprofessor für Geschichte an der Baylor University in Waco, Texas. Er ist Mitglied der Königlichen Gesellschaft von Edinburgh und der Königlichen Gesellschaft für Geschichte. Belding, Julie, ist eine Journalistin und Autorin aus Neuseeland und war eine Amtszeit Präsidentin der Baptistischen FrauenUnion des Süd-West Pazifiks. Brackney, William, PhD, war Professor für Baptistische Theologie und Ethik am Carey Theological College in Vancouver, Kanada und der Millard R. Cherry Professor für Christliches Denken und Ethik der Acadia Universität in Wolfville, Nova Scotia. Er ist ein weithin bekannter Autor zu Themen baptistischer Geschichte und Theologie. Briggs, John, PhD, war Professor für Geschichte an der Keele University, Rektor des Westhill College (1997–9), Vizekanzler der Universität von Birmingham (1999–2001), Mitglied des Zentral- und Exekutivausschusses des ÖRK und in verschiedenen Komitees der Baptistischen Union; er ist Forschungsprofessor am Regent’s Park College, Oxford und IBTS, Amsterdam. Bowers, Faith, ist eine baptistische Historikerin und seit 1961 Mitglied der Bloomsbury Central Baptist Church in London, über die sie zwei Bücher geschrieben hat. Callam, Neville, Ausbildung: United Theological College, University of the West Indies und Harvard Divinity School; war 471

Pastor und Dozent an theol. Institutionen in der Karibik und Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK, gründete christliche Radio- und Fernsehsender, hatte mehrere Funktionen in der Baptisten Union von Jamaika und dem Baptistischen Weltbund inne, dessen Generalsekretär er von 2007 bis 2017 war. Autor mehrerer Bücher. Cross, Anthony, PhD war Pastor baptistischer Gemeinden, Lektor an den Universitäten von Roehampton und Oxford; er hat Bücher und Artikel veröffentlicht mit besonderem Schwerpunkt auf der Taufe als Sakrament. Gegenwärtig ist er am IBTSC, Amsterdam aktiv. Dick, Devon, PhD, war Präsident der Baptisten-Union von Jamaika und ist gegenwärtig Pastor der Boulevard Baptistengemeinde in Kingston, Jamaika. Durso, Pamela, PhD, war Exekutivdirektorin baptistischer Pastorinnen in Atlanta, Georgia und ist seit Juni 2020 Präsidentin des Central Baptist Theological Seminary in Shawnee, Kansas, USA. Geldbach, Erich, Dr.theol. war Universitätsprofessor für Ökumenische Studien an der Ruhr-Universität Bochum, hat viele Bücher und Artikel veröffentlicht, war 10 Jahre Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Theologischen Hochschule Elstal und ist Mitglied der Kommissionen für Christliche Einheit und für Religionsfreiheit des Baptistischen Weltbundes. Goodwin, Everett C., PhD, war Pastor von Baptistengemeinden in Rhode Island, Connecticut, Virginia und Washington, D.C. Dort war er Seniorpastor der historischen Ersten Baptistengemeinde. Er ist Autor verschiedener Bücher zu Themen des Baptismus. Gouldburne, Ruth, PhD, war Dozentin am Bristol Baptist College, bevor sie einen Ruf als Ko-Pastorin an die Bloomsbury Central Baptist Church annahm; seit 2018 ist sie Pastorin der Grove Lane Baptistengemeinde in Cheadle Hulme. 472

Gushee, David, PhD, ist Universitätsprofessor für Christliche Ethik und Direktor des Zentrums für Glauben und Öffentliches Leben der Mercer Universität in Atlanta, Georgia. Er war Präsident der Gesellschaft für Christliche Ethik, ist aktiv in Initiativen, um Folter zu beenden und das Klima zu retten, schreibt regelmäßig Kommentare für Pressedienste und wurde zu einem Mitglied der Kirchen zur Verbindung mit dem Komitee des US Holocaust Museums ernannt; er hat wichtige Bücher zu ethischen Fragen verfasst. Hankins, Barry, PhD, ist Professor für Geschichte und Direktor des Graduiertenprogramms der Baylor University in Waco, Texas. Er ist ein Experte auf dem Gebiet der Bedeutung der Religion in der amerikanischen Gesellschaft. Harmon, Steve, PhD, Professor für Historische Theologie der Theologischen Fakultät der Gardner-Webb University in Boiling Springs, NC, USA. Er ist Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK und der Kommission für Christliche Einheit des Baptistischen Weltbundes. Ishola, Solomon Ademola, PhD war Generalsekretär der Nigerianischen Baptistenkonvention von 2001 bis 2011; er war Pastor etlicher Gemeinden und ist vielfältig im nationalen Leben Nigerias tätig. Kretzschmar, Louise, PhD, ist seit 1991 Professorin für Christliche Ethik in der Abteilung für Philosophie, Praktische und Systematische Theologie der Universität von Süd-Afrika in Pretoria. Mackey, Tómas, PhD, ist Pastor und Seminardozent am Baptistischen Theologischen Seminar von Argentinien. Für die Amtszeit von 2020 bis 2025 wurde er zum Präsidenten des Baptistischen Weltbundes gewählt. Manley, Ken R., PhD, war Prinzipal und Professor für Kirchengeschichte am Whitley College der Universität von Melbourne in Australien. 473

McSwain, Larry L., PhD, war stellvertretender Dekan für das Doktorprogramm in Praktischer Theologie und Inhaber des Watkins Christian Foundation Lehrstuhls der McAfee Fakultät für Theologie der Mercer University in Atlanta, Georgia. Mendez, Dinorah, PhD, Professorin für Theologie und Christliches Erbe am Baptistisch-Theologischen Seminar in Mexiko und Mitglied der Kommission für baptistisches Erbe des Baptistischen Weltbundes. Msiza, Paul Ngwedla, war von 2001 bis 2010 Generalsekretär der Baptistischen Konvention von Süd-Afrika, von 2006 bis 2011 Präsident der All-Afrikanischen Baptistischen Gemeinschaft und von 2015 bis 2020 Präsident des Baptistischen Weltbundes. Er ist Pastor der Peniel-Salem Baptistengemeinde in Pretoria. Nash, Robert N., ist stellvertretender Dekan für das Doktorprogramm in Praktischer Theologie und Professor für Mission und Weltreligionen der McAfee Fakultät für Theologie der Mercer University in Atlanta, Georgia. Osephashvili, Ilia, Bischof der Evangelisch-Baptistischen Kirche in Georgien, verantwortlich für die Region Kachetien im Osten des Landes. Randall, Ian, PhD, war Pastor in Baptistengemeinden, hat Kirchengeschichte sowohl am Spurgeon’s College London und am IBTS in Prag unterrichtet und ist jetzt Mitarbeiter in der Forschung am Cambridge Centre for Christianity Worldwide und Forschungs-Fellow am Spurgeon’s College sowie am IBTSC in Amsterdam. Er hat eine ganze Reihe Bücher zu evangelikalen und baptistischen Themen verfasst. Rubboli, Massimo, PhD, ist em. Professor für Nordamerikanische Geschichte in der Abteilung für Politische Wissenschaft der Universität von Genua in Italien. Eines seiner gegenwärtigen Projekte ist ‚Das Vermächtnis der Radikalen Reformation‘. Schulze, Dietmar, Dr. theol., unterrichtet in den USA, Deutsch­land und online an vier theologischen Seminaren auf 474

den Gebieten der Missionswissenschaft und der Systematischen Theologie. Sessions, Erin M. hat ein namhaftes Stipendium erhalten und arbeitet an ihrer Promotion zum Hohenlied als Modell zur Verhinderung häuslicher Gewalt. Sie ist Dozentin auf dem Gebiet Integrativer Studien am Excelsia College, das von Australian Baptist Ministries akkreditiert ist. Sie beschreibt sich als eine „agilvitale Poetin und pedantische Gelehrte“. Sutherland, Martin, PhD, war bis Januar 2020 Dekan und CEO des Theologischen College von Australien. Er lebt jetzt in seinem Heimatland Neuseeland. Edward L. Wheeler, PhD, ist baptistischer Pastor, war von 2015 bis 2019 Präsident des Interdenominationellen Theologischen Zentrums in Atlanta, Georgia; davor war er vierzehn Jahre Präsident des Christlichen Theologischen Seminars (CTS) in Indianapolis, Indiana. Er war in vielen akademischen, kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen aktiv und ist ein herausragender Repräsentant der Afro-Amerikaner. Seit 1969 ist er mit Mary Susan Wheeler glücklich verheiratet. Yoder, William, Dr. phil., wurde in Florida geboren, zog 1971 nach Berlin, wo er als Journalist arbeitete. Seit 2001 lebte er in Moskau und seit 2010 in Orscha (Belarus). Als Spezialist für Öffentlichkeitsarbeit war er für die russische Baptisten Union und die russische Evangelische Allianz tätig. Regelmäßig berichtet er auf Englisch und Deutsch über Entwicklungen bei Baptisten, Mennoniten, Lutheranern und Orthodoxe. Er betrachtet es als seine Aufgabe, das gegenseitige Verständnis zu fördern. Mit seiner russischen Frau lebt er gegenwärtig in Kaliningrad, dem früheren Königsberg.

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Bensheimer Hefte im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen Die Reihe „Die Kirchen der Gegenwart“ wird herausgegeben von • Prof. Dr. theol. Gury Schneider-Ludorff, Lehrstuhl für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Hochschule Augustana Neuendettelsau und • Dr. theol. Walter Fleischmann-Bisten M. A., ehem. Direktor des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim und Generalsekretär des Evangelischen Bundes Dargestellt werden die Entwicklung und die gegenwärtige Situation aller christlichen Kirchen in den fünf Erdteilen. Die 19 Bände haben einen Umfang zwischen 150 und 300 Seiten. Sie sind nach folgendem Schema aufgebaut: A Geschichte (Ursprünge und historischer Abriss) B Lehre (Theologie und Strukturen) C Geographische Verbreitung D Heutige Situation in den fünf Erdteilen: • • • • • • •

Historische Entwicklung und rechtliche Situation Mission und Evangelisation Wachstum und Schrumpfung Gottesdienste, Liedgut, Liturgie Verhältnis zur jeweiligen Kultur Verhältnis zur jeweiligen Gesellschaft Ökumenische Situation

1. Lutherische Kirchen Hg. Prof. Dr. Michael Plathow, Leimen 1.Aufl. 2007, vergriffen [Neubearbeitung erfolgt durch Prof. Dr. Bernd Oberdorfer, Augsburg] 2. Methodistische Kirchen Hg. Bischof em. Dr. Walter Klaiber, Tübingen (2011, 330 S.) 3. Die katholischen Ostkirchen Prof. Dr. Andriy Mykhaleyko, Lviv/Lemberg (2012, 183 S.) 4. Freie Evangelische Gemeinden Hg. Pastor Dr. Johannes Demandt, Düsseldorf (2012, 229 S.) 5. Alt-Katholische Kirchen Hg. Prof. Dr. Günter Eßer, Bonn (2016, 152 S.) 6. Herrnhuter Brüdergemeine (Unitas Fratrum) Hg. Pfarrer Dr. Matthias Meyer, Weinheim und Pfarrer Dr. Peter Vogt, Herrnhut (2020, 262 S.) 7. Baptisten weltweit Hg. Prof. Dr. Erich Geldbach, Marburg (2021, 478 S.) 8. Mennoniten Hg. Prof. Dr. Fernando Enns, Amsterdam 9. Reformierte Kirchen Hg. Prof. Dr. Georg Plasger, Siegen 10. Anglikanische Kirchen Hg. Prof. Dr. Charlotte Methuen, Glasgow 11. Östliche Kirchen der byzantinischen Tradition Hg. Dr. Dagmar Heller, Bensheim 12. Östliche Kirchen der nicht-chalzedonensischen Tradition Hg. Prof. Dr. Karl Pinggéra, Marburg 13. Adventisten Hg. Dozent Dr. Johannes Hartlapp, Friedensau 14. Pentecostale Kirchen Hg. Prof. Dr. Michael Bergunder, Heidelberg 15. Unierte Kirchen Hg. N. N. 16. Die römisch-katholische Kirche Hg. Prof. Dr. Wolfgang Thönissen, Paderborn 17. Unabhängige Kirchen Hg. Pfarrer Martin Bräuer D. D., Bensheim 18. Quäker, Nazarener, Heilsarmee u. a. Hg. Dr. Walter Fleischmann-Bisten, Bensheim 19. Die Neuapostolische Kirche Hg. Andrea V. Huber, Heidelberg und Dr. Lothar Triebel, Bensheim