BAND Wandlungen des Neoliberalismus: Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society“ 9783828260184, 9783828204416

Ein Gespenst geht um in Europa: der Neoliberalismus. Der „Neoliberalismus“ ist zu einem meist negativ konnotierten Schla

235 18 39MB

German Pages [528] Year 2008

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

BAND Wandlungen des Neoliberalismus: Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society“
 9783828260184, 9783828204416

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Teil: Die Geburt des Neoliberalismus aus dem Geist der Krise
I. Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus
II. Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung
III. Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus
2. Teil: Ortsbestimmung des Neoliberalismus
IV. Der lange Weg zum Mont Pèlerin
V. Aufbau, Strategie und Krise der MPS
3. Teil: Die MPS bezieht Stellung: Auf verlorenem Posten?
VI. Positionen und Kontroversen in der frühen MPS
VII. Neoliberale in der Politik: Durchbräche und Durststrecken
4. Teil: Beginn einer neoliberalen Gezeitenwende
VIII. Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens
IX. Der Neoliberalismus an der Macht?
X. Resümee und Ausblick
Anhang: „Statement of Aims“
Literaturverzeichnis

Citation preview

Philip Plickert Wandlungen des Neoliberalismus

Marktwirtschaftliche Reformpolitik Schriftenreihe der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft N.F.

Herausgegeben von Rolf Hasse und Joachim Starbatty

Bd. 8: Wandlungen des Neoliberalismus

Wandlungen des Neoliberalismus Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society"

Von Philip Plickert

Lucius & Lucius • Stuttgart

Anschrift des Autors: Philip Plickert [email protected]

Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

ISBN 978-3-8282-0441-6 (Lucius & Lucius) © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2008 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen.

Druck und Einband: Rosch-Buch, Scheßlitz Printed in Germany

Vorwort Ein Gespenst geht um in Europa: der Neoliberalismus. So allgegenwärtig das Wort ist, so wenig bekannt sind meist die Hintergründe jener Wirtschaftspolitik, die als „neoliberal" bezeichnet wird. Der „Neoliberalismus" ist mithin zu einem, meist negativ konnotierten Schlagwort verkommen. Dieses Buch möchte einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten und die geistes- und zeitgeschichtlichen Ursprünge des Neoliberalismus erhellen. Dazu eignet sich der Blick auf und in die Mont Pèlerin Society, das intellektuelle Zentrum der neoliberalen Debatten. Mitglieder und Sympathisanten dieser Gesellschaft konnten in den nun sechzig Jahren seit ihrer Gründung zum Teil erheblichen Einfluss auf die Politik nehmen, zugleich zeigt diese Studie jedoch auch, wie relativ die Erfolge jeweils waren. Entstanden ist die Studie als Dissertation von 2004 bis 2007. Mein großer Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Joachim Starbatty von der Universität Tübingen, der mir viel Freiheit gab, die Fragestellung nach meinen Vorstellungen anzugehen, und zuletzt sehr großzügig mit der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft den Druck finanziell unterstützt hat. Ebenfalls ein herzlicher Dank gebührt dem Zweitkorrektor, Prof. Josef Molsberger, der einige kritische Anmerkungen gemacht hat. Für vielfache geistige Anregungen und die Durchsicht des Manuskripts bin ich ferner Herrn Prof. Dr. Gerd Habermann und dem HayekBiographen Herrn PD Dr. Hans Jörg Hennecke zu tiefem Dank verpflichtet. Ein Promotionsstipendium der Hanns-Seidel-Stiftung aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hat die Arbeit finanziell unterstützt, wofür ich hiermit danken möchte. Mein größter Dank gilt meinen Eltern, die stets an mich geglaubt und mich unterstützt haben, mir ein Studium an der London School of Economies ermöglicht haben und mich in vielfältiger Weise geprägt und gefördert haben. Danken möchte ich auch dem Personal der Hoover Institution Archives in Stanford (Kalifornien) sowie dem des Liberaal Archief in Gent (Belgien), die mir Zugang zu wichtigen Dokumenten der MPS gegeben haben. Die gut drei Jahre intensiver wissenschaftlicher Arbeit an dieser Dissertation fallen zusammen mit den ersten drei Lebensjahren meines lieben Sohnes Lukas. Ihm und meiner Frau Katharina möchte ich dieses Buch widmen.

Frankfurt, 10. April 2008 Philip Plickert

Inhaltsverzeichnis Einleitung 1. Forschungsstand und Quellenlage 1.1. Zur MPS und zum Neoliberalismus 1.2. Verschiedene „Schulen" des Neoliberalismus 1.3. Quellenlage 2. Aufbau der Darstellung

1 5 5 8 13 14

1. Teil: Die Geburt des Neoliberalismus aus der Krise

19

I. Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus

21

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Absolutismus, Merkantilismus und das liberale Plädoyer für den Freihandel Das neunzehnte Jahrhundert: Entfesselung der Märkte und Industrialisierung Liberale Ermüdungserscheinungen und „New Liberalism" Die Abkehr vom „kapitalistischen Ethos" in Amerika Visionen einer geplanten Gesellschaft Der Krieg 1914-1918 - Ende des alten Liberalismus

II. Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung 1. 2. 3. 4. 5.

Zur Wirtschaftsrechnung im Sozialismus Die Osterreichische Schule: Ludwig von Mises' Privatseminar Die Londoner Schule: Edwin Cannan und die LSE-Liberalen Liberale Ursachenforschung zur Weltwirtschaftskrise Die „General Theory" von Keynes: Abschied von der klassischen Theorie 5.1. Keynesianische Erfolge? Deutschland und Schweden nach 1933 5.2. Kritiker des Keynesianismus im Abseits 5.3. Konjunkturpolitische Ideen früher Neoliberaler: Röpkes „Initialzündung" 6. Die Freiburger Schule und das Wettbewerbsproblem 6.1. „Liberaler Interventionismus" und „starker Staat" 6.2. Das Ende der Weimarer Republik: Verfolgung und Emigration 7. Amerikanische Wirtschaftspolitik in der Krise 8. Eine liberale Widerstandsbastion: Die Chicagoer Schule 8.1 Konjunkturpolitischer Aktivismus der Chicago-Liberalen 8.2 „A Positive Program for Laissez Faire"

22 28 33 40 43 46 49 50 54 56 59 63 64 67 69 70 73 75 78 80 83 84

VIII • Wandlungen des Neoliberalismus

III. Krisenbewußtsein und Revisionismus des Liberalismus 1. Walter Lippmanns Aufruf zur liberalen Revision: „The Good Society" 2. Louis Rougier und die französischen Liberalen 3. „Le Colloque Walter Lippmann" 1938 3.1. Abschied vom Laissez-faire 3.2. Überlegungen zur Monopolpolitik 3.3. „Liberale Wehrwirtschaft" 3.4. „Der Liberalismus und die Soziale Frage" 3.5. Die „Agenda des Liberalismus" 3.6. Bewertung des Colloque Walter Lippmann 4. Der Neoliberalismus als Krisenprodukt 5. Zwei Pole des erneuerten Liberalismus 6. Die Entstehung des Neoliberalismus im Spiegel der Wissenschaftstheorie 6.1. „Paradigmen" und „Forschungsprogramme" 6.2. Revolution in der Wirtschaftswissenschaft? 6.3. Wandlungen des Neoliberalismus

87 87 91 93 95 96 97 99 100 102 103 105 106 106 109 110

2. Teil: Ortsbestimmung des Neoliberalismus

113

IV. Der lange Weg zum Mont Pèlerin

115

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

The Road to Serfdom Reaktionen: Gegner und Gleichgesinnte Hayeks Rede am King's College und der Kontakt zu Röpke Das Zeitschriftenprojekt „Occident" und die Rolle Albert Hunolds Letzte Vorbereitungen und Kontroversen Konkrete Bedrohung und Hayeks langfristige Strategie Der Mont Pèlerin: Ortsbestimmung des Neoliberalismus 7.1. Wettbewerbsordnung statt „Laissez-faire" 7.2. Neoliberale Positionen zur Sozialpolitik 7.3. Zukunft Deutschlands und Europas 7.4. Kontroversen zu Liberalismus und Christentum 7.5. „Statement of Aims" und Namensgebung

V. Aufbau, Strategie und Krise der MPS 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Langsamer Anlauf der Aktivitäten „Kampf der Ideen" und „Mut zur Utopie": Haykes strategische Perspektive Organisation und Aufbau der Gesellschaft: Das Tandem Hunold und Hayek Die wichtigsten Mitglieder und Redner in den fünfziger Jahren Zerwürfnisse, Querelen und ein erfolgreiches Jubiläum Die Finanzierung der Gesellschaft

116 119 123 127 132 137 138 139 142 144 147 150 155 156 158 162 164 171 174

Inhaltsverzeichnis • IX

7. Die „Hunold-Affäre": Die große Krise der MPS 7.1. Spannungen und Empfindlichkeiten 7.2. Die Krise spitzt sich zu 7.3. „Gefahr der Spaltung": Bonn ist besorgt 7.4. Vorletzter Akt des Dramas 7.5. Ein tragisches Ende 8. Gewichtsverschiebung innerhalb des Neoliberalismus

178 179 181 183 186 188 190

3. Teil: Die MPS bezieht Stellung: Auf verlorenem Posten?

195

VI. Positionen und Kontroversen in der frühen MPS

197

1. Zur Wettbewerbspolitik: Zwischen Regulierung und Liberalisierung 1.1. Auflösung aller Monopole und Kartelle 1.2. Die dynamische Sicht des Wettbewerbs 2. Zu Keynesianismus und Gewerkschaften 2.1. Die „orthodoxe" Kritik an Keynes: Mises, Hayek und Hütt 2.2. Friedmans empirische Einwände gegen Keynes 3. Zur Währungsordnung 3.1. Goldstandard und Warenwährung 3.2. Friedmans Plädoyer für „fiat money" 3.3. Kritik am Bretton-Woods-System 4. Zu Wohlfahrtsstaat und neoliberaler Sozialpolitik 4.1. Die Alternative: „Vitalpolitik" statt Sozialpolitik 4.2. Hayek: Was ist und was heißt „sozial"? 4.3. Freiheitliche „Soziale Sicherung" 4.4. Die Umverteilung am Siedepunkt 4.5. Pragmatische Kritik der Effizienz des Wohlfahrtsstaats 5. Zum Agrarprotektionismus 5.1. Regulierung und Inflexibilität 5.2. Hilfen für den Strukturwandel 6. Zu Kolonialismus und Entwicklungshilfe 6.1. Schutzherren oder „Uberlagerer" 6.2. Umverteilung global 7. Europa zwischen Integration und Zentralisierung 8. Zusammenfassung: Auf verlorenem Posten? VII. Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken 1. Deutschland: Neuanfang in Ruinen 1.1. Der Überzeugungstäter: Ludwig Erhard 1.2. Ordoliberale Vorarbeiten zur Wirtschaftsreform 1.3. Auftakt zum „Wirtschaftswunder" und die Rolle der MPS

198 198 202 207 210 213 216 217 218 220 223 225 229 230 232 234 235 235 238 240 240 242 246 251 253 254 257 259 262

X • Wandlungen des Neoliberalismus

2. 3.

4.

5.

1.4. Müller-Armack und die „Soziale Marktwirtschaft" 1.5. Der zähe Kampf um die Wettbewerbsordnung 1.6. Das „Sündenregister" der soziale Marktwirtschaft 1.7. Auseinandersetzung mit dem Ostblock Italien: Stabilisierung in unsicheren Zeiten Frankreich: Etatismus mit Tradition 3.1. Laboratorium der „indikativen" Planung 3.2. Ein neoliberales Intermezzo: Rueffs Reformen Großbritannien: Der Weg zum keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens 4.1. Labours Marsch in den Sozialismus 4.2. Gegenkräfte: Antony Fisher und das Institute of Economic Affairs Vereinigte Staaten: Die Nachwirkungen des New Deal 5.1. „Liberale" und Konservative 5.2. Hayek: „Why I am Not a Conservative" 5.3. Hoffnungsträger Barry Goldwater

269 272 276 279 284 287 288 290 292 294 296 301 306 309 311

4. Teil: Beginn einer neoliberalen Gezeitenwende

315

VIII. Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens

317

1. Die MPS konsolidiert sich: Neue Attacken gegen den Keynesianismus 2. Die Revolte von 1968 und die Reaktionen der Neoliberalen 3. Deutschland: Bedeutungsverlust des Ordoliberalismus 3.1. Neuer Planungsglaube 3.2. Übergang zur keynesianischen Globalsteuerung 4. Vereinigte Staaten: Das Erbe der Reformära 4.1. Hoffnung auf Nixon 4.2. „Schlimmer als Watergate" 5. Großbritannien: Der erstarrte Konsens 5.1. Das IEA sammelt Verbündete 5.2. Enttäuschung mit Heath und die „britische Krankheit" 6. Chile: Ein warnendes Beispiel 7. „Hochgemuter Pessimismus": das 25-Jahr-Jubiläum der MPS 8. Akademischer Durchbruch der Neoliberalen 9. Die MPS zwischen „Monetaristen" und „Strukturalisten" 10. Währungssystem und Geldstabilität 10.1. Das Ende des Bretton-Woods-Systems 10.2. Hayeks Vorschlag: Entnationalisierung des Geldes 11. Die Wandlung des Neoliberalismus: Revision der Wettbewerbspolitik 11.1. Die jüngere Chicagoer Schule 11.2. Der Staat als Wettbewerbshüter? 12. Ausbau des weltweiten neoliberalen Netzes 13. Zwischen Hoffen und Bangen: „Is the Tide Turning?"

318 323 330 332 335 339 340 341 343 344 345 350 358 361 364 366 366 369 372 372 375 382 386

Inhaltsverzeichnis • XI

IX. Der Neoliberalismus an der Macht?

389

1. Großbritannien: Josephs „Konversion" und der Aufstieg Thatchers 1.1. Die Rolle des IEA und der neoliberalen Intellektuellen 1.2. Die „gemütliche Welt" am Ende 1.3. Intellektuelle Konterrevolution und Praxistest 1.4. Zweifel und Kritik aus den Reihen der MPS 1.5. Zeit der Ernte und Bilanz 2. Vereinigte Staaten: Der Aufstieg Ronald Reagans 2.1. Zwischen MPS und „New Right" 2.2. Wirtschaftspolitik nach Art der „Supply Siders" 2.3. Die Fed-Geldpolitik und die Rezession 2.4. Haushaltsdefizite und Ausgabenwachstum 2.5. Debatten über den Wohlfahrtsstaat 2.6. Eine neoliberale Revolution? 3. Frankreich: Ein schwieriges Pflaster für die Neoliberalen 4. Deutschland: Abschied von der Globalsteuerung 4.1. Die halbherzige „Wende" 4.2. Reformstau und Fehler der Wiedervereinigung 5. Europa: Festung oder offener Markt? 6. „Socialism is dead, but Leviathan lives on"

390 393 397 401 404 408 415 417 420 426 429 431 435 437 439 442 447 449 457

7. Die MPS nähert sich dem Laissez-faire

462

X. Resümee und Ausblick

467

Anhang: „Statement of Aims" der MPS

480

Literaturverzeichnis

481

Einleitung Eine Woche vor seinem Tod im Januar 1950 hielt Joseph Schumpeter einen Vortrag mit dem Titel „The March into Socialism". Bei diesem letzten öffentlichen Auftritt bekräftigte der große Ökonom noch einmal seine Erwartung, der „Kapitalismus", also die auf Privateigentum beruhende Marktwirtschaft, werde am eigenen Erfolg zugrunde gehen und in eine bürokratische, staatlich gelenkte Wirtschaft übergeführt.1 Fast alle Ökonomen, so erklärte Schumpeter, befürworteten nun eine weitreichende staatliche Kontrolle des Wirtschaftslebens, egalisierende Einkommensumverteilung und eine „unendliche Ausdehnung der Sphäre von Bedürfnissen, die ... von öffentlichen Unternehmen befriedigt werden sollen, entweder gratis oder nach irgendeinem Postamt-Prinzip". Allerdings, fügt Schumpeter hinzu, habe er gehört, „daß es einen Berg in der Schweiz gibt, wo Ökonomen Kongresse abgehalten haben, die ihre Abneigung gegen alle oder die meisten dieser Dinge ausgedrückt haben" (Schumpeter, 1950, S. 448). Gemeint war der Mont Pèlerin am Genfer See. Im dortigen Hôtel du Parc hatte Friedrich August von Hayek gemeinsam mit Wilhelm Röpke und Albert Hunold über die Ostertage 1947 eine Gruppe von 39 Wissenschaftlern und Publizisten aus aller Welt versammelt, die nach zehntägigen Beratungen die Mont Pèlerin Society (MPS) gründeten. Ziel der Vereinigung war es, gegen kollektivistische ideologische Tendenzen zu kämpfen und die Marktwirtschaft als freiheitsgerechtes System zu retten. Schumpeter, von der Sinnlosigkeit dieses Unternehmens überzeugt, erklärte sarkastisch: Die „Bannflüche" der Ökonomen vom „Berg in der Schweiz" hätten nicht einmal Gegenangriffe provoziert, so isoliert und unbedeutend seien die Anhänger einer nicht-sozialistischen Wirtschaftsordnung (ebd.). In den kommenden Jahrzehnten sollte sich dies jedoch ändern. Die Gründung und erste Konferenz der MPS, so schätzte es Hayek (1983, S. 19) rückblickend ein, war der „Beginn des Wiederauflebens einer freiheitlichen Bewegung in Europa". Hatte sich am Mont Pèlerin zunächst eine politisch und wissenschaftlich marginalisierte Minderheit versammelt, so wurden die MPS-Treffen ein Jahrzehnt später bereits „große Heerschauen des ökonomischen Liberalismus" (Hennecke, 2000, S. 262). Die MPS entwickelte sich zur wohl bedeutendsten internationalen Vereinigung neoliberaler Intellektueller — eine Art „Generalstab" der marktliberalen Ökonomen, wie Hunold einmal stolz bemerkte. Allein acht ihrer Mitglieder erhielten bis heute den Wirtschaftsnobelpreis: Ihr Gründer und erster Präsident Hayek im Jahr 1974, Milton Friedman 1976, George Stigler 1982, James Buchanan 1986, Maurice Allais 1988, Ronald Coase 1991, Gary Becker 1992 und zuletzt Vernon Smith 2002. Am Mont Pèlerin begann nach dem Zweiten Weltkrieg die Formierung der intellektuellen Truppen eines erneuerten Liberalismus, der schon beim Pariser „Colloque Walter Lipp1 Die Ursachen dieses angeblich unvermeidlichen Prozesses hatte Schumpeter 1942 in seinem Buch „Capitalism, Socialism and Democracy" dargelegt: Zum einen sah er das Wachstum von immer größeren Konzernen und Trusts, in denen aber keine kreativen und dynamischen Unternehmer, sondern nur noch angestellte Verwalter tätig seien. Schließlich werde der Kapitalismus an Schwung verlieren und in einen stationären Zustand geraten, bis die Unternehmen staatlich übernommen würden. Ein weiterer Grund für den Trend zum Sozialismus sei auch der wachsende Einfluß links orientierter Intellektueller, die zwar höhere Bildung, doch kein gesichertes Auskommen hätten. Dieses „akademische Proletariat" verstärke den Chor der Unzufriedenen, die gegen den Kapitalismus agitieren. Nach Ansicht Schumpeters war der kommende Sozialismus unter Beibehaltung des demokratischen politischen Systems vorstellbar (vgl. Schumpeter, 1942/1993).

2 • Wandlungen des Neoliberalismus mann" 1938 in Umrissen sichtbar geworden war. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Entwicklung und Ausstrahlung der MPS darzustellen und zu bewerten. Dazu ist ein Rückblick auf die Vorgeschichte des historischen Liberalismus, seinen Niedergang bis zum Ersten Weltkrieg und die weitere Erosion liberaler Prinzipien in der Zwischenkriegszeit notwendig. Die Geburt des Neoliberalismus vollzog sich in der existentiellen Krise des Liberalismus in den dreißiger Jahren, so die These der Studie. Um dies zu verdeutlichen, wird die Entwicklung der MPS eingebettet in die Ideengeschichte des Liberalismus und des Neoliberalismus sowie in zeitgeschichtliche Studien zur Wirtschaftspolitik verschiedener Staaten der westlichen, besonders der angelsächsischen Welt. MPS-Mitglieder waren maßgeblich daran beteiligt, sozialistische und keynesianische Ideen zu diskreditieren. Zeitweilig konnten sie in verschiedenen Staaten entscheidenden Einfluß auf das intellektuelle und politische Klima nehmen und tatsächlich Reformen anregen, ausarbeiten und umsetzen. Besonders in drei Fällen hatten sie damit Erfolg: Zunächst in Westdeutschland, wo es einer Gruppe von Ökonomen mit Ludwig Erhard an der Spitze gelang, im Jahr 1948 eine dramatische Wende einzuleiten. Unter den wissenschaftlichen Beratern und Unterstützern dieser marktwirtschaftlichen Reformen waren Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Franz Böhm, Leonhard Miksch und Alfred Müller-Armack, die sich alle in der MPS sammelten. Dieser erste, unerwartete Sieg der Neoliberalen war von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da er die verbreitete Erwartung vom unaufhaltsamen Marsch in den Sozialismus widerlegte. Der stürmische Aufschwung der westdeutschen Wirtschaft diente Erhards neoliberalen Freunden als Bestätigung ihrer These von der Überlegenheit der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung. „Je herausragender dieser Beweis ist, desto mehr betrachten ihn [Erhard] alle Sozialisten, Planer und Inflationisten mit Haß", erklärte Röpke. Nach dem Krieg, als viele Intellektuelle die „Stunde Null der Geschichte" gekommen sahen, habe Erhard den Mythos von der historischen Notwendigkeit der Uberwindung des Kapitalismus praktisch widerlegt und eine „ökonomische Gegenrevolution" eingeleitet (Röpke, 1953a, S. 845). Drei Jahrzehnte später wurden Großbritannien und die Vereinigten Staaten zu Schauplätzen „neoliberaler Revolutionen" erklärt, als dort Margaret Thatcher und Ronald Reagan den bisherigen keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens in Frage stellten und tiefgreifende wirtschaftliche Reformen durchsetzten. Wieder gab es eine Reihe von MPS-Mitgliedern, die diese Wende 1979/1980 wissenschaftlich, publizistisch und politisch vorbereitet hatten. Mehrere von Thatchers wichtigsten Ministern und Staatssekretären, allen voran Keith Joseph, Geoffrey Howe und John Biffen, waren Sympathisanten oder Mitglieder der MPS. Auch die große Zahl von MPS-Mitgliedern im Umfeld von Reagan zeigte, wie nahe diese ans Zentrum der Macht gelangt waren. Während des Wahlkampfs 1980 rekrutierte Reagan fast ein Drittel seiner wirtschaftspolitischen Berater aus den Reihen der MPS, später rückten einige in entscheidende Positionen in Ministerien, im Council of Economic Advisers und bei der Federal Reserve. Mit Blick auf solche Tatsachen wurde der Erfolg der MPS teilweise überschwenglich kommentiert. Die Gesellschaft, so befand die Sunday Times in einem Rückblick anläßlich des fünfzigsten Jahrestags der MPS-Gründung, sei „der einflußreichste, aber kaum bekannte Think Tank des zwanzigsten Jahrhunderts" gewesen. Weiter hieß es: „Tatsächlich

Einleitung • 3 sind Hayek und die Mont Pèlerin Society für das zwanzigste Jahrhundert das, was Karl Marx und die Erste Internationale für das neunzehnte Jahrhundert waren" (Cockett, 1997). 2 Die erstaunliche Geschichte der MPS-Neoliberalen erscheint vielen geheimnisvoll. Immer wieder hat die relative Diskretion, mit der die Gesellschaft ihre Tagungen ausrichtete, zu verschwörungstheoretischen Spekulationen verleitet, wie sie besonders Autoren der extremen Linken anstellen, obwohl die MPS niemals eine geheime Organisation sein wollte. 3 Zumindest in der deutschsprachigen, bürgerlichen Tagespresse wurde über ihre Treffen ausführlich berichtet. Eine kleine Auswahl von Zitaten zeigt die Bandbreite und den Wandel der Urteile über die MPS: Anfangs klangen diese noch verhalten und skeptisch. Röpke bemerkte nach dem Gründungstreffen halb ironisch in einem Brief an Alexander Rüstow, es sei fraglich, wie die Gesellschaft „mehr als eine Art von internationaler fünfter Kolonne des Liberalismus, eine Art von liberaler Freimaurerei" werden könne. Was langfristig dabei herauskomme, bleibe abzuwarten (Röpke an Rüstow, 24.4.1947; Ders., 1976, S. 97). Weit optimistischer war Friedman, einer der jüngsten Teilnehmer der Gründungskonferenz, der erklärte: „Die Bedeutung dieses Treffens war, daß es uns zeigte, daß wir nicht alleine waren" (zit. n. Nash, 1976, S. 21). Für viele wurden ihre Treffen zum „spirituellen Jungbrunnen, zu dem wir alle uns einmal im Jahr begeben konnten, um unseren Geist und Glauben in einer wachsenden Gesellschaft von Gleichgesinnten zu erneuern" (Friedman, 1977, S. XXI). In ihren Heimatländern und Universitäten waren die Neoliberalen anfangs isoliert. Bei den Treffen der MPS konnten sie in offenen Diskussionen alle Fragen und Anregungen austauschen und ihren Standpunkt klären. R. M. Hartwell, von 1992 bis 1994 Präsident und als Haushistoriker der MPS tätig, hat den lockeren Aufbau der Gesellschaft und ihr Ziel, gegenseitige Bildung und freie wissenschaftliche Debatten zu ermöglichen, mit großen historischen Vorbildern verglichen: von Piatons Akademie bis zur britischen Fabian Society (Hartwell, 1995, S. XV). Andere Autoren urteilten weniger wohlwollend. Volker Hentschel (1998, S. 269) etwa bezeichnete die MPS als einen „gralsartig-elitären Club neoliberaler Ökonomen"; zwei sozialistische Autoren erwähnen die MPS als „rechtsradikalen Think Tank" (Schui/Blankenburg, 2002, S. 114). Seit ihrer Gründung habe die Gesellschaft das strategische Ziel verfolgt, weltweit eine „intellektuelle Hegemonie" zu erobern, hat Bernhard Walpen, einer der eifrigsten marxistischen Kritiker der MPS, in seinem Buch „Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft" (2004) behauptet. Darauf aufbauend meinte Nordmann (2005, S. 223), die MPS sei tatsächlich eine große Verschwörung: „Kernorganisation und Kampfinstrument eines großen Plans zu einem neoliberalen Griff nach der Macht". In welchem Maße die im Rahmen der MPS geleistete Arbeit über die Wissenschaft hinaus politische Früchte getragen und tatsächlich den Lauf der Geschichte verändert hat, ist eine schwierige Frage. Die Einschätzungen der Mitglieder selbst variieren erheblich. Ein Frage-

Es bleibt unklar, weshalb Cockett die Bedeutung der MPS mit der 1864 gegründeten I. Internationalen vergleicht, die schon nach wenigen Jahren im Streit zwischen Marx und Michail Bakunin versank und 1876 an programmatischen und auch nationalen Gegensätzen zerbrach. 3 Zur Frage der Bekanntheit der MPS in seinem Land erklärte Antonio Martino, Wirtschaftsprofessor an der Universität Rom und Mitte der neunziger Jahre italienischer Außenminister, später Verteidigungsminister: „Die MPS ist total unbekannt in Italien." Dies sei aber „nicht notwendigerweise ein Nachteil. Bei der großen Zahl von italienischen ,Verschwörungstheoretikern' ist es wahrscheinlich besser, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen" (Fragebogen Martino, o. Dt. [1984], in: HIA, Slg. Hartwell 1). 2

4 • Wandlungen des Neoliberalismus

bogen, den Hartwell 1984 an alle Mitglieder verschickte, ergab höchst unterschiedliche Antworten. „Ohne die MPS gäbe es keine Frau Thatcher", erklärte Ralph Harris, der langjährige Direktor des Institute of Economic Affairs (IEA) und damals MPS-Präsident (Fragebogen Harris, 14.9.1984, in: HIA, Slg. Hartwell 1). Dagegen hielt Arthur Shenfield, ebenfalls ein prominenter britischer Neoliberaler und früherer Präsident der MPS, deren Einfluß für gering. Zur Frage, welchen „impact" sie in seinem Heimatland gehabt habe, meint er: „keinen besonderen" (Fragebogen Shenfield, 12.4.1984, in: ebd.). Der scheinbare Widerspruch läßt sich auflösen: Mitglieder der MPS haben als Wissenschafder und Publizisten, als Berater oder als Politiker individuelle Beiträge zur intellektuellen und politischen Entwicklung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geleistet. Als Organisation und Kollektiv aber hat die MPS keine öffentlichen Stellungnahmen abgegeben und war um Distanz zu politischen Parteien oder Regierungen bemüht. Die einzige politische Erklärung, welche die MPS als Organisation je abgegeben hat, war ihr „Statement of Aims" von 1947. Darin drückte sich das Gefühl unmittelbarer und existentieller Bedrohung aus: Die menschliche Würde und Freiheit seien gefährdet durch die Ausbreitung von politischen Bewegungen und Ideologien ohne Respekt vor den Rechten der Individuen und freiwilligen Assoziationen. Diese Entwicklung resultiere aus dem Niedergang des Glaubens an Privateigentum und Wettbewerbsmärkte. Ohne Gewaltenteilung und private Initiative sei eine freie Gesellschaft aber nicht vorstellbar. Als vorrangige Ziele der Arbeit der MPS wurden zunächst die Analyse der „gegenwärtigen Krise", sodann eine „neue Definition der Funktionen des Staates" genannt, „so daß klarer zwischen der totalitären und der liberalen Ordnung unterschieden werden kann" („Statement of Aims", in: HIA, MPS-Slg. 5; vollständig dokumentiert im Anhang). Daraus ergab sich eine weltanschauliche Stoßrichtung, die in dieser Arbeit als „Neoliberalismus" bezeichnet wird, dessen Ideengestalt sich aber erst im Laufe der Jahre konkretisierte und teilweise auch erheblich änderte. Diese Entwicklung und Wandlung des Neoliberalismus spiegeln sich in der Geschichte der MPS, den Diskussionen und den Publikationen ihrer Mitglieder. Zunächst entstand die neoliberale Wirtschaftstheorie als Reaktion auf die historische Krise des Liberalismus. Der Selbstregulierungsmechanismus des Marktes schien in der Zwischenkriegszeit schwer beschädigt. So wurde auf dem Colloque Walter Lippmann 1938 explizit Abschied genommen von der älteren liberalen Lehre des Laissez-faire und eine aktive Rolle des Staates in der Wettbewerbspolitik gefordert. In der Nachkriegszeit bildete sich der Neoliberalismus zu einer reifen Wirtschafts- und Sozialphilosophie. Unterschiedliche Strömungen, die emigrierte Österreichische Schule, die deutschen Ordoliberalen und die Chicagoer Schule, setzten je eigene Akzente. Die Gewichte einzelner „Lager" in der MPS und der ideologische Schwerpunkt des Neoliberalismus insgesamt verschoben sich mit den Jahren - von der deutschen, ordoliberal und soziologisch orientierten Richtung zur amerikanischen, eher radikal-liberal bestimmten Richtung, die wieder dem wettbewerbspolitischen Laissez-faire zuneigte. Diese Wandlung war teils eine Generationenfrage, teils politischen Entwicklungen und Veränderungen des ökonomischen Umfelds geschuldet, allerdings auch, so ist zu zeigen, durch interne Konflikte in der MPS bedingt.

Einleitung • 5

1. Forschungsstand und Quellenlage 1.1. Zur MPS und zum Neoliberalismus In den ersten Jahren ihres Bestehens wurde die Existenz der MPS durch Berichte ihr nahestehender Journalisten bekannt. 4 Allgemein war die Wertschätzung des von den Mitgliedern der MPS vertretenen Neoliberalismus in den fünfziger und sechziger Jahren aber gering. Entsprechend hielt sich das wissenschaftliche Interesse an der Gesellschaft in Grenzen. Lediglich im deutschsprachigen Raum gab es vereinzelt dogmengeschichtliche Arbeiten zum Neoliberalismus, seinen Schulen und Hauptvertretern, in denen die MPS kurze Erwähnung fand (vgl. Nawroth, 1961, S. 5-6). Kleinere geschichtliche Abrisse über das Werden und Wirken der MPS entstammten der Feder des MPS-Sekretärs Hunold, dem sie zur persönlichen Profilierung dienten, später auch in der Auseinandersetzung mit Gegnern in der Gesellschaft (vgl. Hunold, 1961). Wenn die Beziehung von zeitgeschichtlichen Persönlichkeiten zur MPS thematisiert wurde, dann meist am Beispiel Westdeutschlands, wo der Einfluß des Neoliberalismus auf die Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft diskutiert wurde. So thematisierte etwa ein Aufsatz über Altkanzler Erhard dessen Verbindung zur MPS (vgl. Schmölders, 1972). Als Mitte der siebziger Jahre das bis dahin geltende keynesianische Paradigma auf breiter Front zu bröckeln begann, wuchs das Interesse für alternative Theorien neoliberaler Provenienz. Schon 1968 hatte ein Autor der Fabian Society in einer Schrift die Rückkehr wirtschaftsliberaler Konzepte in Großbritannien erkannt und diese unter dem Titel „The New Right" politisch verortet (vgl. Collart, 1968). In den Vereinigten Staaten erschien eine erste umfassende Darstellung der amerikanischen „konservativen intellektuellen Bewegung" und ihrer verschiedenen Stränge, die den Anteil der Neoliberalen wie Hayek und Mises und auch der MPS an der Wiedergeburt einer ernstzunehmenden, liberal-konservativen Rechten nach 1945 würdigte (vgl. Nash, 1976). Mit der Verleihung der Nobelpreise für Wirtschaft an Hayek (1974) und Friedman (1976) nahm die Aufmerksamkeit für ihre Thesen sprunghaft zu. Auf die Wahl von Thatcher und Reagan folgte eine anhaltende Welle von Veröffentlichungen zu Fragen der neoliberalen Ideologie, teils hoffnungsfroh, teils äußerst skeptisch, da nun möglich schien, daß Hayek und Friedman zu geistigen Paten einer neuen Wirtschaftspolitik avancieren könnten. Die meisten dieser Schriften konzentrierten sich auf einzelne Intellektuelle oder politiknahe Institutionen (vgl. etwa Smith, 1991). Die wissenschaftliche Dachorganisation der MPS kam allenfalls am Rande vor. Eine breitere Studie zur Entstehung, Entwicklung und Ausstrahlung der Gesellschaft fehlte. Hartwells 1995 abgeschlossene „History of the Mont Pelerin Society" war der erste Versuch, diese Forschungslücke zu füllen. 5 Die Arbeit, die sich auf die in

In der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ab 1950, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ab 1958 lange Berichte über die Treffen, die recht ausführlich die Vorträge und Debatten wiedergaben und kommentierten. Auch in amerikanischen Zeitschriften, etwa in der National Review, gab es ab den sechziger Jahren regelmäßig Berichte über die Tagungen der Gesellschaft. 5 Hartwell begann bereits Anfang der achtziger Jahre mit einer Stoffsammlung, sichtete die Archive und verschickte einen Fragebogen an alle Mitglieder. Auf den MPS-Treffen 1986 und 1988 referierte er über die Anfänge der Gesellschaft, schloß das Buch aber erst Jahre später ab. Diese Entstehungsgeschichte mag erklären, weshalb die politischen Umwälzungen der späten achtziger und neunziger Jahre nur mit wenigen Worten abgehandelt werden. 4

6 • Wandlungen des Neoliberalismus

den Hoover Institution Archives (HIA) gelagerten Nachlässe und Sammlungen sowie auf Befragungen führender MPS-Mitglieder stützt, bietet eine eher trockene Vereinschronik. Sie krankt an einer übermäßigen Betonung organisatorischer Fragen auf Kosten der wissenschaftlichen und politischen Verortung der Gesellschaft. Rund drei Viertel des Buchs beziehen sich auf die interne Abstimmung über Tagungsorte, Mitgliederverwaltung, Satzungsänderungen, Publikationsfragen und Probleme der Finanzierung. Uber den Inhalt der Vorträge und Debatten, auch über Meinungsverschiedenheiten bei MPS-Konferenzen erfährt der Leser wenig. Die Erörterung des ideengeschichtlichen Beitrags der MPS zur „Wiedergeburt des Liberalismus" und der politischen Relevanz ihrer Existenz bleibt auf allgemeine Aussagen beschränkt (vgl. Hartwell, 1995, S. S. 193-217). Eine historisch-empirische Studie zum Einfluß der wirtschaftswissenschaftlichen Theorien der in der MPS versammelten Neoliberalen und ihres Umfelds in Großbritannien hat Richard Cockett (1994) vorgelegt. Seine quellengesättigte Darstellung „Thinking the Unthinkable" stellt die Aktivitäten der Mitglieder und Sympathisanten der MPS in einem dichten Geflecht von wissenschaftlichen Think Tanks und politischen Netzwerken dar und untersucht, wie anfangs marginalisierte Wirtschaftsliberale in beharrlicher Arbeit eine „ökonomische Konterrevolution" vorbereiten und letztlich unter Thatcher mitgestalten konnten. In ähnlicher Weise, aber zurückhaltender, argumentiert die systematische Darstellung der „Thinktanks of the new right" von Andrew Denham (1996). Andere Autoren haben die Möglichkeiten einzelner Think Tanks, konkrete Entscheidungen der Regierungen Thatcher und Reagan in ihrem Sinne beeinflussen zu können, noch stärker angezweifelt (vgl. Hames/ Feasey, 1994). Von marxistischer Seite wurde ab Mitte der achtziger Jahre die Behauptung einer von rechten Ideenfabriken etablierten „Hegemonie" marktwirtschaftlicher Ideen aufgestellt. Im Vordergrund steht hier die Erringung einer intellektuellen Deutungsmacht, weniger die politische Aktion. Diese von Stuart Hall entwickelte These wurde auch anhand der von Hayek der MPS zugedachten Strategie zu belegen versucht (vgl. Desai, 1995). Auf der Linie dieses „hegemonietheoretischen" Ansatzes liegt die Dissertation eines Schweizer Soziologen zur MPS, der sich auf Arbeiten von Marx und Antonio Gramsci beruft (vgl. Walpen, 2004). Mit Marx nimmt er einen Antagonismus von „Arbeit" und „Kapital" an, wobei der MPS von Hayek 1947 die Aufgabe zugedacht worden sei, „das kapitalistische Sonderinteresse durchzusetzen" (ebd., S. 116). Im Unterschied zu orthodoxen Marxisten, die von einem durch die Gesetze des Materialismus bestimmten Lauf der Geschichte ausgehen, betonte Walpen aber mit Gramsci die ideellen Faktoren, also den „Überbau". Der italienische kommunistische Parteiaktivist und Vordenker Gramsci sah die Intellektuellen in einer Schlüsselposition zur Etablierung der „kulturellen Hegemonie" und, davon abgeleitet, der politischen Macht. Diesem Denkschema folgend, arbeitet Walpen in einer detailreichen, doch wenig systematischen Darstellung die Vernetzungsstrategie der MPS und einige Beiträge ihrer Mitglieder zum Vormarsch des Neoliberalismus in Wissenschaft und Politik heraus. Ihren Erfolg führt er auf die beharrliche Verfolgung des „hegemonialen" Ziels und eine geschickte Vernetzung zurück. Richtig ist dabei, daß sowohl Hayek als auch sein Lehrer Mises die Bedeutung von Intellektuellen für die politische Meinungsbildung sehr hoch einschätzten. Sie hatten dazu das Beispiel der sozialistischen Bewegung vor Augen (vgl. Hayek, 1949/1967). Allerdings ver-

Einleitung • 7

säumt es Walpen zu fragen, unter welchen Bedingungen die Ideen und Visionen der Intellektuellen politisch wirkmächtig werden. Theorien und Konzepte, die ohne plausiblen, explikativen Bezug zur realen Welt sind, würden schwerlich „hegemonial", also in der Fachwelt und darüber hinaus anerkannt werden. Voluntarismus allein reicht sicher nicht, um einer ökonomischen Richtung dauerhaft Einfluß zu verschaffen. Eine schlüssige wissenschaftstheoretische Erklärung, weshalb der akademische Durchbruch der neoliberalen Bewegung in den siebziger Jahren erfolgte und es ihr nun gelang, die bisherige Dominanz der keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Richtung zu brechen, liefert Walpen nicht. Auch nimmt er den Anspruch und Willen des frühen Neoliberalismus nicht ernst, eine echte inhaltliche Neubestimmung und Revision der älteren liberalen Lehren, besonders in seinem wettbewerbspolitischen Ansatz, zu entwickeln. 6 Grundlegend für das Verständnis der in der MPS diskutierten Entwürfe zur Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist die ideengeschichtliche Analyse des sich seit den dreißiger Jahren in Abgrenzung zum klassischen Liberalismus entwickelnden Neoliberalismus. Hier ging der Dominikaner Egon Nawroth 1961 mit seinem ersten Uberblick zur Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus voran. Vom Standpunkt der christlichen Soziallehre argumentierend sah Nawroth im Neoliberalismus lediglich eine anders verpackte Neuauflage des Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts. Wie jener sei er letztlich einem überzogen individualistischen, gar atomistischen Menschenbild und der klassischen, aus der Aufklärung stammenden Harmonielehre verpflichtet (vgl. Nawroth, 1961, S. 307-308, 425). Die ebenfalls von Arthur F. Utz von der Universität Freiburg in der Schweiz betreute Dissertation „Die soziale Frage im Neoliberalismus" (Becker, 1965) kritisierte die Gleichsetzung von wirtschaftlicher mit persönlicher Freiheit besonders beim „extremen Flügel" des Neoliberalismus um Mises und Hayek und kam zu dem Schluß, wie der klassische Liberalismus habe auch der Neoliberalismus kein sozialpolitisches Konzept jenseits seiner wirtschaftspolitischen Vorstellungen einer Wettbewerbsgesellschaft (vgl. ebd., S. 335-336). Die Eigenständigkeit des wirtschafts- und gesellschaftstheoretischen Ansatzes des Neoliberalismus gegenüber der Philosophie des älteren Liberalismus hat die gut belegte Untersuchung der Historikerin Milene Wegmann betont. Ihre ideengeschichtliche Rekonstruktion des „frühen Neoliberalismus" von 1932 bis 1965 arbeitet dessen „positive" Staatsphilosophie heraus, jenen revisionistischen Ansatz, mit dem dieser vom Laissez-faire Abschied nahm und eine Neubestimmung des Verhältnisses von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft forderte. Als neuartig betont sie die Konzeption einer Wettbewerbsordnung, durchgesetzt von einem starken, weil über den Interessengruppen stehenden Staat, der so das Entstehen von konzentrierten Marktstrukturen verhindern könne. Diese antimonopolistische Tendenz weist Wegmann besonders in den Schriften der Freiburger Schule, aber auch bei der frühen Chicagoer Schule nach. Zudem sei die Idee des „Dritten Wegs" zentral für den Neoliberalismus, wobei sie sich in erster Linie auf Rüstow und Röpke stützt.

6 Dies sind in der Perspektive des Gramscismus nur taktische Manöver, ein von der herrschenden kapitalistischen Klasse als günstig erkannter Umbau der ideologischen Verteidigungsanlagen. Die Periode der intellektuellen Selbstfindung des durch Wirtschaftskrise und Krieg geschwächten Liberalismus in den dreißiger bis frühen sechziger Jahren wäre demnach die Phase des „Stellungskrieges", dem darauf in den siebziger Jahren der Angriff, der „Bewegungskrieg" folgte, der zu der erneuerten „Hegemonie" führt. Zur Theorie von Gramsci und ihrer Bedeutung für die extreme Linke vgl. Moreau (2002).

8 • Wandlungen des Neoliberalismus Insgesamt sieht sie im Neoliberalismus eine neuartige wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzeption, die das Begriffspaar Freiheit und Ordnung in essentiell anderer Weise als der ältere Liberalismus verknüpfe (vgl. Wegmann, 2002, S. 101-213). 7

1.2. Verschiedene „Schulen" des Neoliberalismus Um das Spannungsfeld zwischen Liberalismus und Neoliberalismus zu vermessen, bietet eine Untersuchung der MPS beste Möglichkeiten. Hier sammelten sich die wichtigsten jener Intellektuellen, die ab den dreißiger Jahren das Forschungsprogramm des Neoliberalismus in Abgrenzung zum Liberalismus entworfen hatten. Dabei sind mehrere „Lager" mit verschiedenen Ansätzen und Schwerpunkten zu unterscheiden, woraus Differenzen in wirtschaftstheoretischen und -politischen Fragen resultierten. Die Entstehung dieser „Lager" innerhalb des Neoliberalismus und in der MPS läßt sich aus entsprechenden historischen „Schulen" herleiten, die sich in der Zwischenkriegszeit in unterschiedlichen nationalen und politischen Kontexten bildeten. Hayek hat in seinem Aufsatz „Die Uberlieferung der Ideale der Wirtschaftsfreiheit" 1951 vier Gruppen aufgezählt, die daran arbeiteten, „daß durch jenen Tiefpunkt in der intellektuellen Geschichte des Liberalismus ... nicht nur das liberale Gedankengut herübergerettet, sondern sogar gerade während jener Zeit die Grundlagen für eine neue Entwicklung gelegt wurde" (Hayek, 1951/1992, S. 55). Die vier Entstehungszentren des Neoliberalismus wären demnach erstens der an der London School of Economics tätige Kreis von Schülern und Kollegen des britischen Ökonomen Edwin Cannan, darunter Theodore Gregory, Lionel Robbins, Arnold Plant, F. C. Benham, W. H. Hütt sowie F. W. Paish; zweitens die an Mises orientierte Wiener Gruppe mit dessen Schülern Gottfried von Haberler, Fritz Machlup und Hayek; drittens die Chicagoer Gruppe um Frank H. Knight und Henry C. Simons, zu der Aaron Director und eine jüngere Generation mit George Stigler und Milton Friedman gehörten; viertens eine deutsche Gruppe um Walter Eucken, der Röpke verbunden war (vgl. ebd., S. 55-59). Hayek deutete an, daß eine fünfte Gruppe in Italien bestehe, als deren Oberhaupt der damalige Staatspräsident Luigi Einaudi bekannt war. Auch in der Schweiz gab es eine aktive Gruppe von Liberalen, zu der etwa William Rappard oder Hunold, der MPS-Mitbegründer, zählten. Eine weitere, von Hayek übergangene Gruppe existierte in Frankreich. Zu ihr gehörte der Philosoph Louis Rougier, der 1938 das Colloque Walter Lippmann organisiert hatte. Die Hauptvertreter der vier Schulen, die sich in London, Chicago, Wien und Freiburg formierten, fanden nach dem Krieg in der MPS zusammen und wurden die prominentesten Exponenten des frühen Neoliberalismus. Zu den meisten gibt es biographische Arbeiten oder thematische Monographien, jedoch sind die einzelnen Schulen höchst unterschiedlich erforscht: Erst in jüngster Zeit sind mehrere Studien erschienen, die sich dem Colloque Walter Lippmann und Rougier, seinem umstrittenen Organisator, widmen (vgl. Denord, 2001; Marion, 2004; Steiner 2005). Das Treffen fand 1938 unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs statt und spiegelte die krisenhafte Atmosphäre wider. Einige Teilnehmer Allerdings deutet sie an, daß ab den sechziger Jahren eine gewisse Rückwendung von Teilen des Neoliberalismus, besonders der jüngeren Chicagoer Schule, zum älteren Liberalismus und zum Laissez-faire erfolgte (vgl. Wegmann, 2002, S. 13 u. 189). 7

Einleitung • 9 gingen sehr weit in ihrer Bereitschaft zu einer konzeptionellen Revision des Liberalismus. 8 Allerdings war die Stimmung 1938 in Paris eine andere als 1947 auf dem Mont Pèlerin. In der MPS spielte Lippmann keine Rolle mehr, und die Franzosen waren eine kleine Minderheit. Es dominierten bald die vier von Hayek genannten Schulen. Der Kreis um Edwin Cannan an der LSE, wo Hayek ab 1931 selbst lehrte, ist bislang nur in einer einzigen, sozialdemokratisch gefärbten Studie untersucht worden (Apel, 1961). Das Leben und Werk von Cannan hat Ebenstein (1997) dargestellt, der die teils orthodoxen, teils heterodoxen wirtschaftstheoretischen Ansichten des lange Zeit prägenden LSE-Professors hervorhebt. Von dessen Schülern und Kollegen erlangte Lionel Robbins die größte Bekanntheit, auch als Berater der Politik. Die Entwicklung seiner wirtschaftswissenschaftlichen Uberzeugungen, insbesondere seine Übernahme moderat keynesianischer Ansichten, hat D. P. O'Brien (1988) dargestellt. Kleinere Monographien gibt es auch zu Hütt und Frankel, die beide nach Kapstadt auswanderten und Präsidenten der Economic Society of South Africa wurden (vgl. Botha, 2002). Bestens erforscht sind mitderweile Leben und Werk des MPS-Gründers Hayek. Das wissenschaftliche sowie populäre Interesse an ihm hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. War er in den Jahrzehnten nach dem Krieg beinahe vergessen (vgl. Hicks, 1967), so stehen seine wissenschaftlichen Beiträge heute hoch im Kurs. Den ersten größeren Uberblick zu Hayeks Wirtschafts- und Sozialphilosophie hat Norman P. Barry (1979) vorgelegt; es folgte Eamonn Butler (1983). Im Sammelband von Christoph Frei und Robert Nef (1994) kamen auch kritische Stimmen aus dem radikal-libertären Lager zu Wort. Seit der Jahrtausendwende sind gleich drei umfangreiche Biographien erschienen: Herausragend ist die Studie des Politologen Hans Jörg Hennecke (2000), die ein urteilssicheres Bild des Gelehrten zeichnet und dabei sein Engagement wie seine Bedeutung für die MPS erhellt. Auch die Biographie von Alan Ebenstein (2001) stellt Hayeks Entwicklung dar, geht aber ideengeschichtlich weniger in die Tiefe. Seine Diskussion der monetären Konjunkturtheorie sowie der Methodologie Hayeks orientiert sich an der Kritik Friedmans. Die Studie von Bruce Caldwell (2004) legt den Schwerpunkt auf wissenstheoretische und methodologische Fragen und untersucht die verschiedenen Phasen in Hayeks intellektueller Entwicklung. Auch das Interesse an Mises ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Eine Wiederentdeckung seines Werks scheint im Gange, wenn auch die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten noch überschaubar ist. Über die Zeit bis zur Emigration nach New York existiert eine 1940 beendete autobiographische Schrift (Mises, 1978). Die zweite Hälfte seines Lebens schildert anekdotenreich seine Frau Margit von Mises (1981). Es waren bislang vor allem Schüler und Anhänger, die Mises' Bedeutung dargestellt haben: Biographische Skizzen finden sich bei Hans Sennholz (1978) und mit hagiographischer Tendenz bei Murray Rothbard (1988); Einführungen in Leben und Werk bieten Hans-Hermann Hoppe (1993) sowie Albert Zlabinger (1994). Eine fundierte, auch kritische Diskussion von Mises' ökonomischem und methodologischem Standpunkt hat sein Schüler Kirzner (2001)

Den Versuch, die philosophischen sowie wirtschafts- und staatstheoretischen Positionen der wichtigsten französischen und deutschen Neo- bzw. Ordoliberalen miteinander zu vergleichen, hat Bilger (2003) unternommen, wobei er erstere Gruppe stärker in einer anti-etatistischen Tradition verortet. 8

10 • Wandlungen des Neoliberalismus

vorgelegt. 9 Jüngst hat Carsten Pallas (2005) die geld- und konjunkturtheoretischen Ansichten Mises' analysiert. Eine äußerst materialreiche Biographie hat jüngst Jörg Guido Hülsmann (2007) vorgelegt. Einflußreich wurde Mises in den zwanziger Jahren mit seinem Nachweis, daß eine rationale Kostenrechnung im Sozialismus unmöglich sei. Zu der von Mises begonnenen und von Hayek weitergeführten „Kalkulationsdebatte", die damals hohe Wellen schlug, sind mehrere Studien erschienen (vgl. Lavoie, 1985; Caldwell, 1997). Wichtige historische Orientierung zur Österreichischen Schule sowie deren Emigration in angelsächsische Länder gibt die Arbeit von Earlene Craver (1986). 10 Die Ursprünge und Charakteristika der Chicagoer Schule sind, gemessen an ihrer Bedeutung, bisher nur erstaunlich wenig untersucht worden. Die Bezeichnung „Chicago School" scheint erst nach dem Krieg aufgekommen zu sein und wurde dann meist pejorativ benutzt. Erstmals versuchte H. Laurence Miller (1962), den für die dortige ökonomische Fakultät spezifischen Wirtschaftsliberalismus zu beschreiben. Daß es einen erheblichen Unterschied zwischen den Ansichten der älteren Generation von Frank H. Knight und Henry C. Simons und der jüngeren Generation, angeführt von Friedman, gab, deutete er nur an (vgl. ebd., S. 65). Die Vielfalt theoretischer Ansätze an der Chicagoer Wirtschaftsfakultät und den doch signifikanten Wandel nach 1945 hat Melvin Reder (1982) systematisch dargestellt. Ausführliche Porträts von Knight und Simons wie auch ihres Schülers Friedman finden sich in dem Buch von William Breit und Roger L. Ransom (1982). Eine erste Monographie zu Friedmans ökonomischem Werk hat Eamonn Butler (1985) vorgelegt. Die vornehmlich ethischen Bedenken Knights gegenüber dem „Kapitalismus" haben John McKinney (1976) und Sheryll Kasper (1993) diskutiert. Die Distanz der jüngeren zur älteren Chicagoer Schule wird verdeutlicht durch die Tatsache, daß Simons' marktwirtschaftliche Überzeugungen von Schülern später in Zweifel gezogen wurden, wogegen ihn J. Bradford De Long (1990) verteidigte. Von eher sozialdemokratischer Warte aus haben sich die Autoren des Sammelbands von Warren J. Samuels (1976) der Chicagoer Schule kritisch genähert. In der Friedman-Biographie von Frazer (1988) sowie in den Autobiographien von Stigler, Buchanan und Friedman findet sich weiteres Material zur Entwicklung und Be-deutung der Chicagoer Schule (vgl. Stigler, 1988; Buchanan, 1992a; Friedman/Friedman, 1998). Die nach dem Weltkrieg in den Vereinigten Staaten fortgesetzte Tradition der „Austrians" führte dort neben der Chicagoer Schule eher ein Schattendasein. Mises konnte an amerikanischen Universitäten nie richtig Fuß fassen, seine Schüler und Anhänger standen stets weit abseits vom ökonomischen Mainstream, der sich ab den siebziger Jahren in Richtung der an Friedman orientierten Chicagoer Schule bewegte. Der Frage, weshalb der „österreichische" Ansatz, der die dynamischen und ungleichgewichtigen Merkmale des Wirtschaftsprozesses betont, gegenüber dem statischen, gleichgewichtsorientierten „neoklassischen" Ansatz der Chicagoer Schule so stark zurückfiel, sind William Bellinger und Gordon Darin nimmt Kirzner den Vorwürfen, Mises sei ein unannehmbar „extremer Apriorist", ein wenig die Spitze: Nach Kirzners Ansicht ruhte Mises' „Praxeologie", also die reine, rationale Lehre von den menschlichen Wahlhandlungen, letztlich doch auf einer empirischen Basis, wenngleich dies nur widerwillig zugestanden wurde (vgl. Kirzner, 2001, S. 88-89). 10 Die spätere Entwicklung der „Austrian economics" in den Vereinigten Staaten stellt die Arbeit von Karen Vaughn (1994) dar. Den jüngeren Ökonomen wie Rothbard, Kirzner und Ludwig Lachmann, deren Forschung an Mises anschließt, widmet Sandye Gloria-Palermo (1999) je ein Kapitel. 9

Einleitung • 11 Bergsten (1990) nachgegangen. Auch bei MPS-Treffen wurden methodologische Differenzen und die Dominanz der Chicagoer erörtert (vgl. Streißler, 1996; Rosen, 1996; Yeager, 1996/1997). Mit einem breiteren Fokus und unübersehbaren Sympathien für die „Österreicher" hat jüngst Mark Skousen (2005) die unterschiedlichen Paradigmen der Chicagoer und der „Austrians" sowie ihre Positionen zur Konjunkturtheorie und den Ursachen der Großen Depression der dreißiger Jahre dargestellt. Die historische und theoretische Entwicklung und der wirtschaftspolitische Einfluß der deutschen Neo- bzw. Ordoliberalen, die sich nach 1947 in der MPS sammelten, sind in zahlreichen zeitgeschichtlichen, biographischen und ideengeschichtlichen Studien erforscht worden. Das Interesse an ihnen war und ist groß, da sie als Vordenker der von Erhard popularisierten „Sozialen Marktwirtschaft" gelten. Den Hintergrund der Freiburger Schule in den dreißiger und vierziger Jahren hat Christine Blumenberg-Lampe (1973) dargestellt, die hervorhebt, in welch starkem Maß die Vorstellungen des Kreises um Eucken die Wirtschaftspolitik der frühen Bundesrepublik konzeptionell prägten (vgl. dazu auch Nicholls, 1984; Rieter/Schmolz, 1993). Im Jahr 1989, als der Systemwettbewerb zwischen marktwirtschaftlicher Ordnung und Sozialismus historisch entschieden wurde, erschien ein Sammelband von Alan Peacock und Hans Willgerodt, worin die verschiedenen Aspekte des deutschen Neoliberalismus, etwa die Rolle des Staates, der Wettbewerbs- und der Sozialpolitik, beschrieben wurden (vgl. Lenel; Kloten; Barr}'; Tumlir; Möschel; Wiseman, 1989 bzw. 1989a). Die Phase der Emigration von Röpke und Rüstow und der „inneren Emigration" des Kreises um Eucken hat darin Paul Johnson (1989) beschrieben, der wie viele andere den freiheitlichen Gehalt ihrer ordnungspolitischen Konzeption und deren fundamentalen Widerspruch zum Nationalsozialismus hervorhebt." Von den neueren Studien zur Vorgeschichte und Umsetzung des Konzepts der „Sozialen Marktwirtschaft" sticht die umfassende Darstellung von Anthony Nicholls (1994) heraus. Er präsentiert in einer detaillierten zeitgeschichtlichen Darstellung das Geflecht von wissenschaftlichen und politischen Kontakten der deutschen Neoliberalen seit den frühen dreißiger Jahren, ihre vielfältigen Beiträge zu einer neuen Wirtschaftstheorie sowie deren teilweise Verwirklichung in der Nachkriegszeit. Nicholls betont die lange ideengeschichtliche Genese des Projekts. Die Gruppe der deutschen MPS-Neoüberalen ist in vieler Hinsicht die wissenschaftlich interessanteste, da sie seit Mitte der dreißiger Jahre weit stärker als die anderen den Anspruch erhoben, einen Neoliberalismus in Abgrenzung zum älteren Liberalismus zu vertreten. Sowohl innerhalb der MPS wie auch in der Forschung blieb dies eine umstrittene Distanzierung, die von der vorliegenden Arbeit jedoch bestätigt wird. Während Eucken eine strenge, abgeschlossene ordnungspolitische Konstruktion vorlegte, ging es Röpke, Rüstow und Müller-Armack um die Einbettung der marktwirtschaftlichen in eine soziale und moralische Ordnung. Zu Eucken, dem Kopf der Freiburger Schule, liegen biographische Studien von seinem Schüler Hans Otto Lenel (1989b) und von Wendula Gräfin Klinckowstroem (2000) vor. Das theoretische Werk Euckens haben besonders Lüder Gerken und Andreas Renner (2000) sowie Nils Goldschmidt (2003) analysiert. Auch zu 11 Eine entgegengesetzte Interpretation hat Dieter Haselbach (1991) versucht, der den Ordoliberalismus eines „autoritären" Staatsverständnisses bezichtigte, was auf scharfen Widerspruch gestoßen ist (vgl. Willgerodt, 1998, S. 51-54; Wegmann, 2002, S. 61-64).

12 • Wandlungen des Neoliberalismus

Röpke gibt es zahlreiche Arbeiten: die Dissertation von Sylvia Hanna Skwiercz (1989), insbesondere zur Frage des „Dritten Weges", die weit ausholenden zwei Bände von Helge Peukert (1992) zu Röpkes sozialökonomischem Werk und die Studie von Roland Hahn (1997), der Röpke teilweise sozialromantische Ansichten vorwirft. Kritisch hat sich auch Michael Zöller (1999) geäußert. Dagegen stellte John Zmirak (2001) in seiner in journalistischem Stil gehaltenen Biographie Röpke als Denker einer zukunftsweisenden humanen und freiheitlichen Gesellschaftsordnung vor. Mit ähnlicher Tendenz, doch mit größerem analytischem Tiefgang und auf reiches Archivmaterial gestützt, hat Hennecke (2005) das Leben und Werk Röpkes gewürdigt. Zu Rüstow, dem wohl eigenwilligsten, vom linken Flügel stammenden Vertreter des deutschen Neoliberalismus, gibt es eine kurze Darstellung von Lenel (1986), eine längere Studie zu den geistesgeschichtlichen Hintergründen von Kathrin Meier-Rust (1993) sowie eine Arbeit von Jan Hegner (2000), der die bundesdeutsche Realität an Rüstows wirtschaftspolitischen Idealen mißt. Müller-Armack, der Schöpfer der suggestiven und vieldeutigen Parole „Soziale Marktwirtschaft", stieß erst später, nach dem Zweiten Weltkrieg zur Gruppe der deutschen Neobzw. Ordoliberalen. In welcher Beziehung er zum ordoliberalen Denken steht, ist eine strittige Frage. Zumeist werden seine Ansichten, insbesondere seine sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen, als vollkommen kompatibel mit der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung gedeutet (vgl. Starbatty, 1982; Koslowski, 1998; Watrin, 2000a), wobei hervorgehoben wird, daß Müller-Armack das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft" als „offenen" und wandelbaren „Stilgedanken" betrachtete, der umfangreiche gesellschaftspolitische Aktivitäten einschließen könne. Daß die Staatsauffassungen Müller-Armacks und der Schule von Eucken unvereinbar seien, haben Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner (1998) zu belegen versucht, damit aber nur ein geringes Echo gefunden. 12 Die Zahl der Monographien zur Freiburger Schule und zum Ordoliberalismus ist mitderweile kaum noch überschaubar. Seltener sind dabei ideengeschichtliche Studien, die etwa Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem marktwirtschaftlichen Purismus von Mises und den Vorstellungen der Ordoliberalen betrachten, wie die von Richard Ebeling (2003b), der aus libertärer Perspektive argumentierend den Ordoliberalen zu starke interventionistische Neigungen vorwirft. Systematische Vergleiche des eher konstruktivistischen Ansatzes der Freiburger Schule und des evolutorischen Ansatzes von Hayek und seinen Anhängern, denen unterschiedliche Wettbewerbsbilder zugrunde liegen, haben Manfred Streit und Michael Wohlgemuth (2000) sowie Viktor Vanberg (2003) angestellt. Daß es hier nicht nur oberflächliche Divergenzen gab, konnten aufmerksame Beobachter schon früh an den wettbewerbspolitischen Debatten in der MPS zwischen Eucken und Mises sowie ihren jeweiligen Anhängern erkennen.

12 Von den neueren wirtschaftshistorischen Arbeiten bezieht sich einzig Prollius (2005, S. 59-61) positiv auf ihre Überlegungen, der den Ordoliberalismus der Freiburger Schule eher als „regelorientiert", die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft nach Müller-Armarck eher als „zielorientiert" betrachtet.

Einleitung • 13

1.3. Quellenlage Die vorliegende Arbeit basiert auf drei Arten von Quellen: Erste Orientierung zu den verschiedenen Strömungen des Neoliberalismus vermittelt die oben erwähnte Sekundärliteratur. Weiter wurde eine Auswahl von Veröffentlichungen der wichtigsten Mitglieder der frühen Zeit der MPS herangezogen, besonders von Hayek, Mises, Röpke, Eucken, Rüstow, Knight, Simons und Friedman, die Aufschluß über ihren jeweiligen wirtschaftspolitischen Standort und ihre Interpretation des Neoliberalismus geben. Zudem wurden umfangreiche Archivmaterialien wie Vortragsmanuskripte und Briefwechsel ausgewertet und Gespräche mit Zeitzeugen wie Milton Friedman, dem letzten Überlebenden des Gründungstreffens, sowie Hans Otto Lenel, Hans Willgerodt, Christian Watrin und Leonard P. Liggio geführt. Die wichtigsten Dokumente zur Entwicklung der frühen MPS befinden sich in den Hoover Institution Archives (HIA) an der Universität Stanford, Kalifornien. Dort lagern in drei Dutzend Kartons die hauptsächlich noch von Hunold gesammelten Bestände der MPSCollection sowie fünf Kartons mit Unterlagen, die Hartwell kopiert hat.13 Eine besser geordnete und vollständigere Sammlung der Referate der MPS-Haupttagungen (General Meetings) von 1947 bis 1998 besitzt das Liberaal Archief (LA) in Gent, die diesem zum einen vom dänischen Ökonomen Christian Gandil, MPS-Mitglied seit 1949 und später Vize-Präsident, sowie vom ehemaligen belgischen Handelsminister Jacques van Offelen überlassen wurde (vgl. dazu Liberaal Archief, 2004). Hieraus wurden knapp 250 Vorträge ausgewählt und für die vorliegende Arbeit ausgewertet. Weitere Informationen zur Entwicklung der MPS und zum komplexen Beziehungsgeflecht ihrer Mitglieder geben deren persönliche Papiere. Ausgewertet wurden selektiv der Nachlaß von Hayek und die Sammlung Friedman in den HIA, der Nachlaß von Röpke und der Teilnachlaß von Hunold im Kölner Institut für Wirtschaftspolitik (IWP) sowie der Nachlaß von Rüstow und Akten aus Erhards Wirtschaftsministerium aus den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren, die im Bundesarchiv Koblenz (BÄK) lagern. Um den Einfluß von Mitgliedern der MPS auf die Wirtschaftspolitik einzelner Staaten zu bewerten, wurde auf historische Studien zu den betreffenden Ländern sowie Publikationen und Einschätzungen von MPS-Mitgliedern zurückgegriffen. Die oben genannten Archivmaterialien beziehen sich größtenteils auf die vierziger bis sechziger Jahre. Zum langsamen Paradigmenwechsel der Wirtschaftstheorie ab den siebziger Jahren und der behaupteten Revolution der Wirtschaftspolitik unter den Regierungen Thatcher und Reagan ist die Quellenlage sehr viel dünner. Hierzu konnten für die vorliegende Arbeit nur wenige unveröffentlichte Dokumente herangezogen werden. Die entsprechenden Kapitel stützen sich hauptsächlich auf die Referate bei den MPS-Tagungen, auf einige Rundbriefe bzw. „Newsletter" an die Mitglieder sowie auf publizierte Quellen von MPS-Mitgliedern, die in den siebziger und achtziger Jahren in der wissenschaftlichen, publizistischen oder politischen Debatte von Bedeutung waren.

13 Die Dokumente in der Hoover Institution decken vor allem die Zeit bis zur Mitte der sechziger Jahre ab, danach werden die Informationen spärlicher. In erster Linie enthält die MPS-Sammlung die recht ungeordnete Korrespondenz zu organisatorischen Vorgängen der Gesellschaft aus der Zeit, als Hunold ihr Sekretär war, die Manuskripte einiger Vorträge meist aus den frühen Jahren sowie andere Materialien zu den Mitgliedern und dem Umfeld der Gesellschaft.

14 • Wandlungen des Neoliberalismus Die Beantwortung der Frage, in welchem Maße einzelne Mitglieder der MPS, die Regierungsämter oder Beraterfunktionen innehatten, konkrete wirtschaftspolitische Entscheidungen bestimmen konnten, ist schwierig. Zu berücksichtigen ist, in welcher machtpolitischen Konstellation sie wirkten, welche Beschränkungen ihrem Handeln und Wollen gesetzt waren und welche Rolle dabei weltwirtschaftliche und zeithistorische Umstände, realpolitische Zwänge sowie der Druck gesellschaftlich relevanter Gruppen und anderer Akteure spielten. Für die Zeit der frühen Bundesrepublik liegen gute Untersuchungen vor (vgl. etwa Ambrosius, 1977; Berghahn, 1984; Giersch/Paque/Schmieding, 1992; Nicholls, 1994). Um für die siebziger, achtziger und neunziger Jahre, besonders im Falle der „neoliberalen" Regierungen Thatcher und Reagan, befriedigende Antworten zu erhalten, wäre ein umfangreiches Studium der Regierungsakten erforderlich, das im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden konnte. So müssen Vorträge vor der MPS, Äußerungen in Interviews, Zeitungsartikel, Memoiren sowie andere Schriften für eine vorsichtige und vorläufige Bewertung reichen.

2. Aufbau der Darstellung Die vorliegende Arbeit ist in vier Teile mit jeweils zwei oder drei Kapiteln gegliedert. Insgesamt orientiert sich die Darstellung an der Chronologie, wenn auch immer wieder thematische Schwerpunkte gebildet werden. Die übergeordnete Fragestellung bezieht sich auf Entstehung und Wandlungen des Neoliberalismus, also die ideengeschichtliche Genese, die am Beispiel der Theorien der sich in der MPS sammelnden Wissenschaftler dargestellt wird. Der Neoliberalismus, so die These der vorliegenden Studie, war ein Krisenprodukt der Zwischenkriegszeit. Seine Vordenker suchten vom Liberalismus einen Kern von marktwirtschaftlichen Uberzeugungen zu retten, entwickelten aber den neuen theoretischen Ansatz einer staatlich gestützten Wettbewerbsordnung. Der erste Teil zur „Geburt des Neoliberalismus aus der Krise" skizziert Aufstieg und Niedergang des historischen Liberalismus bis zum Versuch einer Revision während der Zwischenkriegszeit. Um den Neoliberalismus richtig einzuordnen, ist zunächst ein Rückblick auf die Vorgeschichte des Liberalismus bis 1914 unabdingbar. Das 1. Kapitel stellt die wirtschaftsliberale Forderung nach Freihandel als Antwort auf die merkantilistisch-lenkungswirtschaftliche Politik des achtzehnten Jahrhunderts dar. Mit der Entfesselung der Marktkräfte begann im neunzehnten Jahrhundert eine beispiellose ökonomische und soziale Umwälzung, die Industrielle Revolution, deren Ergebnisse teilweise auch von späteren Neoliberalen kritisch gesehen wurden. Gegen die Dynamik weitgehend unregulierter Märkte erhoben sich von sozialistischer, konservativer und nationaler Seite bald Einwände, die mehr staatliche Eingriffe propagierten, bis hin zur Forderung nach einer völligen kollektiven Kontrolle des Wirtschaftsgeschehens. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs brach die alte liberale Ordnung zusammen. Das 2. Kapitel nimmt die schwierige Phase der liberalen Selbstfindung zwischen den beiden Kriegen in den Blick. Weltweit waren wirtschaftspolitische Konzepte auf dem Vormarsch, die den dezentralen Markt durch zentrale Planung und Führung ersetzen wollten. Grundlegend für die neoliberale Zurückweisung zentralistisch-planwirtschaftücher Experimente

Einleitung - 15 wurde Mises' vernichtende Kritik der Kostenrechnung im Sozialismus. Darüber hinaus reagierten die verbliebenen Liberalen unterschiedlich auf die neuen interventionistischen und kollektivistischen Herausforderungen. In diesem Zusammenhang geht es darum, die Schulen in Wien, London, Freiburg und Chicago in den jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen. Unterschiedliche ökonomische und politische Entwicklungen und Erfahrungen bedingten verschiedene neoliberale Ansätze. Die Bereitschaft, eine Revision des klassischen liberalen Paradigmas zu wagen, war bei der Wiener Schule um Mises und der Londoner Gruppe deutlich geringer ausgeprägt als bei der Freiburger Schule und der Chicagoer Schule mit ihren wettbewerbspolitischen Forderungen. Wissenschaftsgeschichtlich ist die Frage von Belang, welche Umstände die schnelle Übernahme der keynesianischen Theorie begünstigten und weshalb die neoliberalen Argumente in der Großen Depression wenig Gehör fanden. Ausgehend vom wachsenden Krisenbewußtsein beleuchtet das 3. Kapitel die Hintergründe des Colloque Walter Lippmann von 1938, beginnend mit einer Analyse des Manifests „The Good Society" des amerikanischen Publizisten. Die Zustimmung, die dieses heterodoxe Buch in frühen neoliberalen Kreisen erhielt, war Anzeichen für deren Entschlossenheit, eine in wesentlichen Punkten neue Ideologie zu entwickeln. Das Lippmann zu Ehren gehaltene Pariser Kolloquium wurde so zur eigentlichen Geburtsstunde des Neoliberalismus. Die Analyse der Diskussionen zeigt jedoch, wie weit man 1938 von einer kohärenten Definition des Neoliberalismus tatsächlich entfernt war. Als wichtigste Ergebnisse zeichneten sich damals der Abschied vom Laissez-faire sowie ein neuer Ansatz zu einer staatlichen Wettbewerbspolitik ab. Ergänzend dazu gab es neue Überlegungen zu sozialpolitischen Fragen und Versuche, Formen der Intervention zu finden, die mit dem Markt kompatibel sein würden. Wissenschaftstheoretisch kann das Bemühen der Neoliberalen um eine neue Theorie unterschiedlich bewertet werden. Dem epistemologischen Schema von Imre Lakatos folgend erscheint es als Versuch, ihr in der Krise „degenerierendes Forschungsprogramm" durch modifizierte Hilfsannahmen zu retten. Der zweite Teil rekonstruiert den langen Weg zur Gründung der MPS im Jahr 1947 sowie den Aufbau der Gesellschaft im ersten Jahrzehnt. Ausgehend von Hayeks intellektueller Entwicklung seit dem Colloque Walter Lippmann wird im 4. Kapitel dargestellt, wie seine Überlegungen für eine internationale Vereinigung freiheitlicher Intellektueller sich in mehreren Etappen entwickelten. Eine Kontroverse zwischen Hayek und Röpke um die Möglichkeit eines „Dritten Weges" verdeutlichte die unterschiedlichen Perspektiven der neoliberalen Diskussion. Welche Aufgaben dachte Hayek der zu gründenden Organisation zu und wer sollte dort mitarbeiten? Die kritischen Reaktionen von Mises und Popper auf seine Pläne zeigten das breite Meinungsspektrum, das beim Gründungstreffen der MPS im April 1947 vertreten war. Wichtig ist daher, vom Neoliberalismus nicht als monolithischem Block auszugehen, sondern die Vielfalt der Meinungen sorgsam zu trennen und zu strukturieren. Von Anfang an ergaben sich zwei Pole, vertreten durch Mises auf der einen und Rüstow auf der anderen Seite, deren Vorstellungen zum Neoliberalismus höchst unterschiedlich waren. Im 5. Kapitel liegt ein Schwerpunkt auf der Frage, welche Strategie die MPS verfolgte. Hayek propagierte eine langfristige, auf rein intellektuelle Arbeit konzentrierte Strategie und setzte sich damit gegen andere Ansätze durch. Sein Ziel bei der Gründung der MPS war es, der verbreiteten antikapitalistischen Mentalität der westlichen Intellektuellen entgegenzuwirken,

16 • Wandlungen des Neoliberalismus die einen Wandel in der öffentlichen Meinung herbeiführen könnten. Wichtig war hier Hayeks Unterscheidung zwischen den „original thinkers" (Vordenkern), den „second hand dealers in ideas" (den Multiplikatoren) und der eher passiven, von Intellektuellen geführten Masse der Wähler. Die fünfziger Jahre wurden eine Zeit des erfolgreichen Aufbaus der Gesellschaft, obwohl es vereinzelt persönliche Zerwürfnisse und Querelen unter MPS-Mitgliedern gab. Hier ist besonders die sogenannte „Hunold-Affäre" zwischen 1960 und 1962 von Bedeutung, an der die MPS beinahe zerbrach. Zu untersuchen ist, welche Ursachen dem Konflikt zugrunde lagen und welche Konsequenzen er hatte. Im Ergebnis brachte er eine Verschiebung der intellektuellen Gewichte innerhalb der MPS, nachdem mit Röpke und Rüstow die zwei wichtigsten Vertreter des soziologisch orientierten Neoliberalismus die MPS verließen und amerikanische Mitglieder, besonders die der jüngeren Chicagoer Schule, ab den sechziger Jahren immer stärker die Richtung der Gesellschaft prägten. Der dritte Teil fragt nach der Konkretisierung der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie und den Möglichkeiten, diese in der Nachkriegszeit politisch umzusetzen. Das 6. Kapitel stellt ausführlich die am häufigsten und intensivsten in der MPS in den fünfziger und frühen sechziger Jahren diskutierten Themen vor: Kontroverse Debatten gab es um eine adäquate Wettbewerbspolitik, zum Keynesianismus sowie zur Frage nach der optimalen Währungsordnung. Unterschiedliche kritische Ansätze zum Wohlfahrtsstaat und die Suche nach sozialpolitischen Alternativen lassen sich auf divergierende neoliberale Gesellschaftsbilder zurückführen. Trotz des Fundaments an gemeinsamen Uberzeugungen gab es also eine erstaunliche Meinungsvielfalt. Zu untersuchen ist, ob sich klar umrissene Lager bildeten, die eine gemeinsame Linie verfolgten. Als ein solches lassen sich etwa die deutschen Ordoliberalen identifizieren, die am konsequentesten die Abkehr von der älteren liberalen Vorstellung einer sich komplett selbst regulierenden Wirtschaft und Gesellschaft verfolgten. Dies läßt Rückschlüsse auf unterschiedliche Strömungen sowie auf hybride Formen eines sozialkonservativ gefärbten Neoliberalismus zu. Im 7. Kapitel wird die Entwicklung der Wirtschaftspolitik nach 1945 in fünf wichtigen westlichen Industriestaaten, in Deutschland, Italien, Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten, aus neoliberalem Blickwinkel untersucht. Welchen direkten oder indirekten Einfluß konnten Mitglieder der MPS auf bestimmte politische Entscheidungen nehmen? Dargestellt wird die jeweilige Ausgangssituation und wie die Erinnerung an Depression und Krieg die öffentliche Meinung in bezug auf marktwirtschaftliche oder interventionistische Konzepte prägte. Dabei wird deutlich, wie stark die mehr oder weniger kollektivistischen Reaktionen auf die Krise der dreißiger Jahre sowie die der Kriegführung immanenten planwirtschaftlichen Tendenzen besonders in Großbritannien, aber auch in den Vereinigten Staaten nach 1945 nachwirkten und einen keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens etablieren halfen. Deutschland stellte eine Ausnahme dar, da hier die lenkungswirtschaftliche jüngste Vergangenheit in Verbindung mit einer diskreditierten politischen Führung stand. Der vierte Teil stellt die neoliberale Gezeitenwende ab den siebziger Jahren dar, die schließlich in die Wirtschaftsreformen der Regierungen Thatcher und Reagan mündete. Die übergeordnete Frage im 8. Kapitel lautet, welche Rolle die intellektuellen Beiträge der MPS-Mitglieder spielten und welchen Anteil das Scheitern der keynesianischen „Vollbeschäftigungspolitik" und die Eintrübung des ökonomischen Umfelds mit der beginnenden Stagflation

Einleitung • 17 hatten. Die heiße Phase der theoretischen Abrechnung mit dem Keynesianismus leitete Friedman 1967 mit seiner Ansprache vor der American Economic Association (AEA) ein, die den Beginn der neoliberalen „Konterrevolution" markierte. Diese blieb aber zunächst auf akademische Kreise beschränkt und erreichte auf politischer Ebene wenig. Als im negativen Sinne prägende Erfahrungen erwiesen sich die Episoden der Regierungen Nixon und Heath, denen MPS-Ökonomen beratend zur Seite gestanden hatten. In beiden Fällen wurden die anfänglichen Hoffnungen durch Nixons und Heaths wirtschaftspolitische Kehrtwenden enttäuscht. Dargestellt wird ferner die dramatische Entwicklung in Chile, wo auf das Scheitern eines sozialistischen Experiments eine Militärregierung folgte, die neoliberale Reformen einem Praxistest unterzog. Den akademischen Durchbruch erzielte die Bewegung der Neoliberalen mit der Verleihung der Nobelpreise an Hayek 1974 und an Friedman 1976. Trotz grundsätzlich ähnlicher marktwirtschaftlicher Ideale repräsentierten die beiden prominentesten Ökonomen der MPS doch unterschiedliche Denkrichtungen, wie die Debatten zwischen Monetaristen und Strukturalisten zeigten, die auch auf Tagungen der Gesellschaft geführt wurden. Besonderes Augenmerk verdient die Entwicklung der wettbewerbspolitischen Vorstellungen der verschiedenen Lager in der MPS, besonders der jüngeren Chicagoer Schule. Welche Ursachen hatte die hier stetig betriebene Revision der im frühen Neoliberalismus so energisch betonten Forderung nach einem starken und aktiven Staat als Hüter eines vollkommenen Wettbewerbs? Verschiedene Faktoren, sowohl neue Ansätze der dynamischen Kartelltheorie und der „Public Choice"-Schule als auch eine veränderte Wahrnehmung des ökonomischen und politischen Umfelds, wirkten hier auf eine bemerkenswerte Wandlung hin, die auf eine „Rolle rückwärts" des Neoliberalismus zum älteren Liberalismus mit seiner Empfehlung des Laissez-faire hinauslief. Die neoliberale Bewegung hatte damit einen weiteren entscheidenden Schritt in die Offensive getan. Das 9. Kapitel befaßt sich mit der These einer „neoliberalen Revolution" in den achtziger Jahren, vor allem in den angelsächsischen Ländern. Hintergrund war die verschärfte Krise der keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Wirtschaftspolitik ab Mitte der siebziger Jahre, als steigende Inflations- und Arbeitslosenraten die ökonomischen Fundamente der westlichen Welt bedrohten. Welche Antworten entwickelten Politiker wie Thatcher und Reagan auf diese Herausforderung, und wie wurden sie darin von MPS-Ökonomen geleitet und beraten? Zu zeigen ist, wie neoliberale Think Tanks den Boden für Veränderungen bereiteten und konkrete Reformstrategien ausarbeiteten. Teilweise übten prominente Neoliberale aber auch scharfe Kritik an den wirtschaftspolitischen Strategien der Regierungen von Thatcher und Reagan. Unter den amerikanischen MPS-Mitgliedern bestanden auch erhebliche Spannungen zwischen Monetaristen, Strukturalisten und „Supply Siders". Ein wichtiger Streitpunkt war der Kurs der Geldpolitik, den einige zu restriktiv, andere zu unstetig fanden. Ein Zerbrechen der gemeinsamen neoliberalen Front schien möglich, wie die scharfen Dispute unter MPSMitgliedern über die richtige Abstimmung von geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen zeigten. Während die auf die monetäre Konsolidierung folgende gute wirtschaftliche Entwicklung die Reformen, insbesondere die Steuersenkungen, Liberalisierung und Privatisierung, bestätigte, blieb der von den Neoliberalen erhoffte Umbau des Wohlfahrtsstaats aus. Auch die Ankündigung, den Staat „zurückzurollen", blieb Rhetorik. So kann allgemein höchstens von einer „halben Revolution" im neoliberalen Sinne gesprochen werden.

18- Wandlungen des Neoliberalismus Allerdings bewirkten die Regierungen Thatcher und Reagan im politischen Diskurs eine Tendenzwende, eine Art Beweislastumkehr für staatliche Intervention und Regulierung, die noch länger nachwirkte. Von einem solchen Umbruch war in den kontinentaleuropäischen Ländern weniger zu spüren. In Frankreich blieben MPS-Mitglieder trotz vereinzelter Kontakte zu führenden bürgerlichen Politikern eine isolierte intellektuelle Minderheit. In Deutschland kam nach dem Regierungswechsel 1982 in neoliberalen Kreisen zwar die Hoffnung auf, durch tiefgreifende Reformen die beklagte institutionelle „Sklerose", also die kartellistische Erstarrung insbesondere des Arbeitsmarkts in Verbindung mit überlasteten Wohlfahrtsapparaten, zu überwinden. Die Regierung Kohl bemühte sich wohl um eine fiskalische Konsolidierung, die von MPS-Mitgliedern geforderte angebotstheoretische Wende blieb allerdings aus. Die letzten Abschnitte des 9. Kapitels behandeln die kritische Haltung, die prominente MPS-Mitglieder gegenüber der Politik der Europäischen Integration einnahmen, sowie ihre Reaktion auf den Zusammenbruch des Ostblocks. Hier ist festzustellen, daß das Jahr 1989 zwar als eine für die Welt einschneidende Zäsur begrüßt wurde, von Triumphgefühl nahmen die meisten MPS-Mitglieder jedoch Abstand. Sie schätzten den Untergang des kommunistischen Imperiums allenfalls als Etappensieg ein; Buchanan prägte hierfür die Formel „Socialism is dead, but Leviathan lives on". Auf Treffen der Gesellschaft beklagten Redner, daß nach 1989 nicht das liberale, sondern ein sozialdemokratisches Modell weltweit triumphiert habe. Im abschließenden Bjsümee werden solche Einschätzungen einer kritischen Würdigung unterzogen und der Versuch einer Bilanz der MPS unternommen. Es folgen Überlegungen zum Erfolg oder Mißerfolg der neoliberalen Bewegung, eine konsistente Philosophie für eine freiheitliche und humane Gesellschaft zu entwickeln.

1. Teil: Die Geburt des Neoliberalismus aus dem Geist der Krise

I. Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus Die Mont Pèlerin Society ist Teil der jüngsten Geschichte des Liberalismus. Dessen Entwicklung vollzog sich in bislang drei Phasen des Aufstiegs im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, des dramatischen Niedergangs ab dem späten neunzehnten Jahrhundert und in der Zeit zwischen den Weltkriegen sowie des erneuten Aufstiegs in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Grundlagen der liberalen Philosophie entstanden im Kampf gegen den fürstlich-zentralistischen Absolutismus und die merkantilistisch-interventionistische Wirtschaftsdoktrin. Adam Smiths Untersuchung zum „Wealth of Nations" mit der Entdeckung der dezentralen Koordinierung wirtschaftlicher Aktivitäten durch die „unsichtbare Hand" begründete eine liberale Wirtschaftspolitik, die im neunzehnten Jahrhundert zur vollen Entfaltung kam. Die weitgehende Befreiung der Märkte von staatlicher Regulierung beschleunigte den Übergang von der traditionellen zur industriellen Gesellschaft. Doch schon bald setzte eine intellektuelle und politische Gegenbewegung ein, die rasch an Kraft gewann und erneut Ansätze staatlicher Regulierung und Wohlfahrtspolitik erzwang. Die Tour d'horizon der Geschichte von Triumph und Krise des Liberalismus bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs liefert den ideengeschichtlichen Hintergrund zur Entstehung des Neoliberalismus und der Mont Pèlerin Society. Besonderes Augenmerk verdient dabei die Geschichtsschreibung des „Kapitalismus" und der „Industriellen Revolution". Hayek beurteilte sie als verzerrt und sah darin eine der Ursachen für falsche Zukunftskonzepte. Aber auch im Kreis der MPS gab es höchst unterschiedliche Meinungen zur Wirtschaftspolitik im neunzehnten Jahrhundert, die mit Laissez-faire gleichgesetzt wurde. Dies führte zu Auseinandersetzungen darüber, was den Neoliberalismus, was sein Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatsbild auszumachen habe. Ansätze zur Modifizierung liberalen Gedankenguts hatte es bereits im späten neunzehnten Jahrhundert gegeben: Die Darstellung des englischen „New Liberalism" verdeutlicht allerdings, daß hier klassisch-liberales Denken aufgelöst, nicht reformiert wurde. Mit dem Aufkommen der Idee einer „positiven Freiheit" wurde das Tor zu einer kollektivistischen Umdeutung des klassischen Liberalismus geöffnet. Besonders deutlich wurde diese am Beispiel der „progressiven" Intellektuellen in den Vereinigten Staaten, wo das Etikett „liberal" bald das Gegenteil der einstigen Philosophie bezeichnete. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs galt die liberale Sozialphilosophie als nicht mehr zeitgemäß. An den Rändern des ideologischen Spektrums, bei Sozialisten und National-Sozialisten, kursierten Visionen einer umfassenden Planung von Wirtschaft und Gesellschaft als Volkskollektive. Das Jahr 1914 brachte die Schicksalswende für den klassischen Liberalismus. Erstmals wurde der Versuch einer totalen Mobilmachung unternommen, der das gewaltige Potential staatlicher, kollektiver Lenkung erahnen ließ. In den Zwischenkriegsjahren ersetzten zunehmend Autarkiestreben und Machtrivalitäten das einstige liberale Ideal wirtschaftlicher und bürgerlicher Freiheit und veranlaßten die Staaten zu einer Abschottung ihrer Märkte und immer tieferen Eingriffen in die Wirtschaft. In den Augen der verbliebenen Liberalen hatte sich das Rad der Geschichte und der Ideologien einmal gedreht, vom Merkantilismus über die Marktwirtschaft zum Neo-Merkantilismus. Allerdings tendierte das zwanzigste Jahrhundert zu einer Steigerung ins Extreme. Neue administrative Techniken ermöglichten nun eine umfassende Kontrolle des wirtschaftlichen und sozialen Lebens durch

22 • Wandlungen des Neoliberalismus obrigkeitliche Instanzen - bis hin zum totalen Staat. Auf diese Herausforderung suchte der Neoliberalismus eine Antwort.

1. Absolutismus, Merkantilismus und das liberale Plädoyer für den Freihandel Die Grundzüge der Wirtschaftslehre des Liberalismus schärften sich in der Auseinandersetzung mit dem lenkungswirtschaftlichen Merkantilismus und seiner Außenhandelstheorie. Deren Entstehung datiert in das siebzehnte und frühe achtzehnte Jahrhundert, die Zeit des neuzeitlichen Wachstums der europäischen Nationalstaaten und der damit einhergehenden steigenden Finanzbedürfnisse zur Kriegsführung. In den Jahrhunderten zuvor hatte es Staaten im Sinne von territorialen Monopolisten der Sicherheitsproduktion nur in Ansätzen gegeben. Im gesamten Mittelalter war Europa ein Flickenteppich von konkurrierenden Jurisdiktionen. Der eher schwachen kaiserlichen Zentralmacht standen eine Vielzahl von rechtlich semiautonomen Körperschaften gegenüber: die freien Städte, die Universitäten, die Orden und auch die universalistische Institution der katholischen Kirche. Sie alle verteidigten ihre althergebrachten Rechte und Freiheiten. Der extreme Dezentraiismus des europäischen Mittelalters brachte dynamischen institutionellen Wettbewerb. Kein Herrscher konnte es sich leisten, eine eigentumsfeindliche Politik oder konfiskatorische Besteuerung zu betreiben, ohne den Exodus wirtschaftlicher Leistungsträger zu riskieren. Nach der bekannten Interpretation von Eric L. Jones (1987) legte dieser institutionelle Wettbewerb den Grundstein für den späteren wirtschaftlichen Aufstieg, „Europas Wunder". Entgegen dem Klischee vom „finsteren Mittelalter" als einer von Unterdrückung gekennzeichneten Zeit, die kaum persönliche und ökonomische Freiräume kannte, war damals die absolute Herrschaftsdichte weit geringer als in späteren Jahrhunderten. 1 Auch die Wirtschaftslehre war im frühen Mittelalter nicht derart rigide und wettbewerbsfeindlich, wie oft angenommen. Trotz aller theologischen Verteufelung des „Wuchers" und dem Festhalten an einem „gerechten Preis" gab es bereits seit dem dreizehnten Jahrhundert originelle Ansätze einer freiheitlichen Wirtschaftsphilosophie. 2 Daran gemessen bedeutete der zentralisierende Absolutismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts mit seinem wirtschaftpolitischen Gegenstück des merkantilistischen

1 Erst mit der Entstehung der frühmodernen Staaten, die ein territoriales Herrschaftsmonopol errichten konnten, war die Bedingung für eine effektive Regulierung der Wirtschaft gegeben. Im Zusammenspiel mit den ebenfalls gestärkten Zünften und anderen kartellistischen Organisationen konnten sich nun die Fürsten der anükompetiüven Regulierung und dem Rentenstreben widmen (vgl. Volckhart, 2002, S. 166-179). 2 A m bekanntesten ist die Marktpreislehre der spätscholastischen Schule von Salamanca in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Der Kreis um Francisco de Vitoria plädierte in der Regel für kaufmännische Handlungsfreiheit und wandte sich gegen Versuche einer behördlichen Festsetzung „angemessener" oder „gerechter", also objektiver Preise (vgl. Chafuen, 2003). Doch schon vor diesen Spätscholastikern hatten Albertus Magnus und der heilige Thomas von Aquin einen freien Gebrauch privaten Eigentums und eine freie, marktorientierte Preisbildung befürwortet, vorausgesetzt, es lägen keine monopolistischen oder andere Wettbewerbsverzerrungen vor. Eine eindeutig „subjektivistische" Wertlehre findet sich auch bei Bernadino, dem toskanischen Prediger des vierzehnten Jahrhunderts, der diesen Gedanken wohl von Petrus Olivi übernommen hatte (vgl. Kaufer, 1998, S. 92-118).

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 23 Dirigismus eine Verengung wettbewerblicher Freiräume. Nach der maßgeblich von einzelnen Kaufleuten formulierten merkantilistischen Auffassung sollte eine positive Handelsbilanz, also das Erzielen eines Überschusses der Exporte über die Importe, Ziel der staatlichen Wirtschaftsförderung sein.3 Der stete Zufluß an Zahlungsmitteln, so versprachen die Kaufmannsökonomen dem Herrscher, festige dessen wirtschaftliche und auch militärische Macht. Das merkantilistische Denken beruhte dabei auf einer spezifischen Nullsummenlogik, der Vorstellung, daß der Reichtum auf Erden, daher auch die aus Handel und Austausch zu ziehenden Vorteile, und die Macht der Staaten in festgefügten Quantitäten existieren. Was des einen Gewinn, sei des anderen Verlust (vgl. Spiegel, 1999, S. 115). Folglich ergriffen die Herrscher zahlreiche handels- und industriepolitische Maßnahmen, um ein möglichst großes Stück vom Wohlstandskuchen der Nationen zu ergattern. Der Phantasie waren dabei kaum Grenzen gesetzt. Hohe Zölle oder gar Einfuhrverbote für bestimmte Waren zielten auf eine Minderung des Importvolumens, während mittels gezielter Investitionslenkung, beispielsweise durch Gründung und finanzielle Förderung von Manufakturen, das Volumen der Ausfuhren gesteigert werden sollte. Die freie Konkurrenz der merkantilistischen Unternehmungen wurde durch koordinierende Maßnahmen unterbunden und ihre Produktion auf die Bedürfnisse des Exports abgestimmt. Neben dem Versuch der zentralen Lenkung von monopolisierten oder straff regulierten Industrien und Handelsunternehmen entfalteten kontinentaleuropäische absolutistische Herrscher seit dem späten siebzehnten Jahrhundert vermehrt wohlfahrtsstaatliche Initiativen. In Preußen beispielsweise intervenierte der Staat kräftig auf dem Arbeitsmarkt, regelte etwa für das Gesinde gesetzlich Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen sowie Löhne. Auch entwickelte er frühe Ansätze einer staatlichen Vollbeschäftigungspolitik mittels öffentlicher Arbeitshäuser oder der Rekrutierung von Soldaten für die Armee. Das Allgemeine Landrecht von 1794 postulierte gar ein „Recht auf Arbeit". Weitere Maßnahmen staatlicher Wohlfahrtspolitik und Daseinsfürsorge umfaßten die Kontrolle von Lebensmittelpreisen, den Verbraucherschutz, zaghafte Anfänge staatlicher Gesundheitspolitik und die Übernahme von erzieherischen Aufgaben durch den Staat (vgl. Habermann, 1997a, S. 25-30). An die Stelle der noch im Mittelalter vorherrschenden christlich-karitativen Motive traten nun vornehmlich utilitaristische Leitgedanken: Indem der Fürst sowohl für die körperliche als auch die geistig-sittliche Gesundheit seiner Untertanen Sorge trug und deren Handlungen reglementierte, suchte er dauerhaftes Wachstum und steigende Produktivität seiner arbeitsfähigen Bevölkerung zu sichern. Der preußische Monarch und seine Berater, darunter Männer wie Johann Heinrich Gotdob Justi, Joseph von Sonnenfels oder Chrisdan Wolff, kleideten ihre Bemühungen in eine Rhetorik der Fürsorge für das Glück der Menschen. Friedrich der Große erklärte in exemplarisch paternalistischer Weise, der Herrscher habe sich um sein Volk wie um ein „krankes Kind" zu kümmern. Dennoch gaben letztlich machtpolitische Erwägungen den Anstoß für die merkantilistische beziehungsweise kameralistische

Die Kaufleute und Produzenten spannten damit den Herrscher für ihre Zwecke des Rentenstrebens ein, indem ausländische Konkurrenz ausgeschaltet, inländische Konkurrenz durch Stillhalte- und Kartellvereinbarungen gemildert wurde. 3

24 • Wandlungen des Neoliberalismus Wohlfahrtspolitik. 4 Grundprämisse war dabei, daß die ordnende Vernunft eines 2entralen Planers in Fragen der Wirtschaft wie der Wohlfahrt unverzichtbar sei. Die Ähnlichkeiten späterer sozialistischer Entwürfe einer staatlich gelenkten Wirtschaft mit den Anfängen der fürstlichen Wirtschaftsplanung und des Wohlfahrtsstaates im achtzehnten Jahrhundert sind vielfach kommentiert worden (vgl. Greenleaf, 1983b, S. 359-364). Theoretische Rechtfertigungen der absolutistischen Herrschaft argumentierten mit der Schutzbedürftigkeit der Untertanen. Gemäß Thomas Hobbes' Erklärung im „Leviathan" (1651) fürchteten die Bürger den herrschaftslosen Naturzustand, der den Kampf aller gegen alle bedeute. Aus freier Entscheidung übergäben sie sich daher der Obhut des Herrschers, tauschten Freiheit gegen Sicherheit. Somit beruhte der absolutistische Staat auf einem stillschweigenden, einmal getroffenen Gesellschaftsvertrag, der beiden Seiten genaue Pflichten zuschrieb: Der Fürst hatte den Frieden zu sichern und für das Wohl der Menschen zu sorgen, diese schuldeten ihm dafür Gehorsam. Eine entscheidende Umdeutung erfuhr diese vertragstheoretische Begründung fürstlicher Machtausübung am Ende des siebzehnten Jahrhunderts in John Lockes „Two Treatises of Government", einem ersten Markstein liberalen Denkens. Ausgehend von naturrechtlichen Postulaten legte Locke als Hauptaufgabe und einzige Legitimation der Regierungsgewalt die Sicherung des Eigentums fest, wobei er darunter weitgefaßt das Recht der Bürger auf Leben, Freiheit und Besitz verstand (vgl. Locke, 1689/1960, bes. S. 346-347). Die Autorität des Staates war demnach nur eine abgeleitete, verbunden einzig mit seiner Funktion als Garant der Unverletzlichkeit der natürlichen Rechte der Mitglieder des Gemeinwesens. Lockes Staatstheorie beruhte wie auch die Hobbes' auf zeitgenössischen politischen Erfahrungen. Während Hobbes durch die Ereignisse des englischen Bürgerkriegs geprägt war, gab Locke dem gestiegenen Selbstbewußtsein des Adels und Bürgertums gegenüber einem gezähmten Monarchen Ausdruck. Nach der Revolution von 1688 war der König unter die Kontrolle des Parlaments gestellt. An der grundlegenden merkantilistischen Orientierung der Wirtschaftsdoktrin änderte sich trotz dieser neuen Begrenzung fürstlicher Macht zunächst wenig. Auch die englische Krone hielt weiter an Marktabschottung und Beeinflussung des Handels, selektiver Förderung von Manufakturen und einer weitreichenden Reglementierung des Wirtschaftslebens fest. 5 Den Frontalangriff auf Theorie und Praxis des Merkantilismus leitete der Ökonom und Moralphilosoph Adam Smith. So zentral ist sein Beitrag für die Entwicklung des Wirtschaftsliberalismus, daß die MPS zum 200. Jahrestag des Erscheinens seiner bahnbrechenden

„Alle Maßnahmen müssen gut durchdacht sein, Finanzen, Politik und Heerwesen auf ein gemeinsames Ziel steuern: nämlich die Stärkung des Staates und das Wachstum seiner Macht", erklärte Friedrich (zit. n. Habermann, 1997a, S. 24). 5 Gleichwohl ergab die höhere Rechtssicherheit für Unternehmer und Kaufleute ein positiveres Investitionsklima als auf dem Kontinent, etwa in Frankreich (vgl. North/Weingast, 1989). Auch Root (1991) betont den deutlich anderen Zuschnitt der Wirtschaftspolitik in England und Frankreich, den er durch unterschiedliche politische Systeme bedingt sieht. Die französische Industrie- und Handelspolitik war ganz auf die Befriedigung der finanziellen Bedürfnisse des Versaillet Hofes ausgerichtet. Kaufleute mit Zugang zu Ministern oder Beamten erhielten staatliche Monopolprivilegien. Dagegen stand der Lobbyarbeit in England die Trägheit des parlamentarischen Systems entgegen. Während in Frankreich persönliche Gunst oder familiäre Patronage über die Erteilung von Vorteilen entschied, war die in England offenbar noch stärker verbreitete parlamentarische Korruption im Ergebnis ökonomisch „rationaler", da Privilegien wie in einer Auktion an den effizientesten Bieter verkauft wurden. 4

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 25

Studie „An Inquriy into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" von 1776 ihm zu Ehren ein Treffen in Schotdand abhielten und dort Aspekte seiner Lehre und internationale Wirkung in einer Vortragreihe behandelte (vgl. Coase, Sdgler, Leduc, Ricossa, Diaz, Streißler, Gottfried, Stanlis, Hartwell, Banfield, Alchian, Letwin, Nutter, Friedman 1976 bzw. 1976b). Als Quelle des Reichtums erkannte Adam Smith einzig die schöpferische Arbeit. Mit fortschreitender, verfeinerter Arbeitsteilung auf expandierenden Märkten würden die Produktivität und damit der Wohlstand aller steigen. Diese These, teilweise von den französischen Physiokraten vorweggenommen, bildete das Fundament der Untersuchung von Smith (1776/1993, S. 9-21). Das vierte Buch seiner Abhandlung war Fragen des Handels gewidmet. Durch eine völlige Freigabe des Handels steige die Allokationseffizienz und damit der Wohlstand, war er überzeugt. Die Argumente der Schutzzöllner, etwa den Verweis auf noch entwicklungsbedürftige Industrien, wies er als falsch zurück. Smiths Manifest des Freihandels beruhte auf schlichten Wahrheiten: Welcher kluge Familienvater, so fragte er, würde mit hohen Kosten selbst produzieren, was er auf dem Markt zu einem geringeren Preis kaufen könnte? Was für den einzelnen Bürger ökonomisch unsinnig sei, müsse auch dem ganzen Land schaden (vgl. ebd., S. 371-374). Das merkantile System sei letztlich nichts anderes als ein Betrug der Produzentenklasse am Konsumenten. Durch Ausschluß ausländischer Konkurrenz erlangten heimische Anbieter ungerechtfertigte Vorteile (vgl. ebd., S. 407 u. 559). Dabei vertrat er einen grundsätzlichen Optimismus, der für die Mehrzahl der klassischliberalen Ökonomen charakteristisch werden sollte. Märkte, so Smith, regulierten sich selbst. Jeder Wirtschaftende werde „von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat" — nämlich die Förderung des allgemeinen Wohlstands (ebd., S. 371). Es gebe keine Notwendigkeit für staatliche Interventionen, da eine natürliche Harmonie der Interessen existiere. Eine Befreiung der Marktkräfte ermögliche die immer bessere Befriedigung der Konsumwünsche. Allerdings war Smith kein Apologet eines ungehemmten Egoismus und rücksichtslosen Gewinnstrebens, im Gegenteil. Smiths systematische Analyse der Wirtschaft baute auf seiner verhaltenswissenschaftlichen Studie „Theory of Moral Sentiments" (1759) auf. Dieser zufolge spielt die Empathie, das Mitgefühl mit anderen Menschen, eine zentrale Rolle als Handlungsmotiv der Menschen. Jedoch könne ein altruistischer Impuls nur im engeren Kreis der Familie und der Nachbarschaft vorausgesetzt werden. Für das Zusammenleben größerer, räumlich ausgedehnter Gesellschaften erklärte er das Gewinnmotiv als unverzichtbar für eine freiwillige Koordination über Märkte. Ein unlösbarer Widerspruch zwischen den Annahmen bezüglich des menschlichen Verhaltens in Smiths beiden Hauptwerken, wie in der deutschen Literatur unter dem Schlagwort „Adam Smith Problem" lange Zeit behauptet wurde, besteht somit nicht. Sein prinzipielles Vertrauen auf die freie Wirtschaft und sein Mißtrauen gegen Eingriffe der „sichtbaren Hand" des Staates standen außer Frage. 6 Auch von staatlicher Industriepolitik hielt er wenig: Die im Merkantilismus gängige Lenkung von Investitionen müsse scheitern, da es der zentralen Entscheidungsinstanz an Wissen über die besten Einsatzmöglichkeiten des Kapitals Eine Ironie der Geschichte war, daß Smith, der in seinen Schriften so vehement die Befreiung des Handels forderte und merkantüistische Zölle verdammte, in den letzten Jahren seines Lebens dem schottischen Zollrat angehörte, dessen Aufgabe besonders die Bekämpfung des Schmuggels war. Vgl. dazu Ross (1998, S. 453-469).

6

26 • Wandlungen des Neoliberalismus mangele; zudem sah er die Möglichkeit des politischen Mißbrauchs (vgl. Smith, 1776/1993, S. 371-374). Gleichwohl war auch Smiths Glaube, die private Wirtschaft werde stets und immer tendenziell zum allgemeinen Wohl führen, nicht grenzenlos. Er sah die Gefahr von Marktabsprachen, die Tendenz von Geschäftsleuten, eine „Verschwörung gegen die Öffentlichkeit" zu verabreden (ebd., S. 112). Der Staat dürfe solche Marktabsprachen in Zünften nicht noch fördern, sondern alles unternehmen, um endlich Wettbewerbsfreiheit zu ermöglichen. Statt umfassend die Wirtschaft lenken und zu regulieren, müsse sich der Staat auf seine Kernaufgaben beschränken, nämlich die innere und äußere Sicherheit, Infrastruktur sowie Bildungseinrichtungen (vgl. Tuchtfeldt, 1976). Die wirtschaftspolitische Position von Adam Smith entsprach der Forderung nach einem allgemeinen „Laissez-faire". 7 Der entfesselte Markt implizierte schärferen Wettbewerb um die Gunst der Kunden. Obwohl Smith die Möglichkeit von Produzenten und Händlern, mittels Kartellvereinbarungen die Preise zu manipulieren, benannt hatte, sah doch die Mehrzahl der klassisch-liberalen Ökonomen den Wettbewerb allgemein als stark genug an, um gegen derartige Tendenzen zu bestehen. Exemplarisch hatte Smith dies am Beispiel des Kornhandels erklärt, wo eine Vielzahl von Produzenten und Händlern tätig war. Monopole und Kartelle in bestimmten Branchen, so sie denn entstünden, würden nicht lange halten, waren die Befürworter des „Laissez-faire" überzeugt (vgl. Viner, 1960/1997, S. 221). Die Überzeugung, daß Marktabsprachen inhärent instabil seien, faßte David Buchanan, der Herausgeber einer 1814 erschienenen Ausgabe von „The Wealth of Nations", in folgende Worte: „Es ist wohlbekannt, daß keine Vereinigung von Händlern je einen effektiven Zusammenschluß gegen die Öffentlichkeit bilden kann, da all solche Engagements durchgebrochen werden durch die Partialinteressen der betroffenen Individuen." Jeder werde egoistisch handeln, also die Vereinbarung unterlaufen, sobald er noch mehr verkaufen könne. Auf dieses Prinzip gründe sich „alle Rivalität des Handels" (zit. n. ebd., S. 221-222). Als Smith 1776 seine wirtschaftstheoretischen Ansichten zum „Wohlstand der Nationen" entwickelte, deutete sich ein neues Zeitalter an. Er stand am Beginn des damals kaum abschätzbaren, sich über Jahrzehnte erstreckenden ökonomischen und sozialen Umwälzungsprozesses, der unter dem Schlagwort „Industrielle Revolution" Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat. Nicht nur auf ökonomischem Gebiet bahnten sich epochale Veränderungen an. 1776 war auch das Jahr der Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Kolonien, deren Sezessionsstreben Smith wie auch sein Freund Edmund Burke unterstützt hatten. Die Amerikanische Revolution mündete 1787/1789 in eine Verfassung, die mit ihrer horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung der Staatsorgane große persönliche und wirtschaftliche Freiräume der Bürger garantierte und somit liberalen Modellcharakter hatte.

7 Der Ursprung der eingängigen Parole „Laissez-faire" liegt wohl schon im frühen achtzehnten Jahrhundert. Als generelle politische Parole hielt erstmals die französischen Physiokraten den Spruch „Laissez faire, laissez aller! Le monde va de lui meme", den obrigkeitlichen Planungs- und Regulierungswünschen entgegen. Im neunzehnten Jahrhundert wurde das „Laissez-faire" zum Synonym für die Ansichten der wirtschaftsliberalen Schule. Wie Greenleaf (1983a, S. 25) schreibt, war die Wendung allerdings im britischen politischen Diskurs weit weniger geläufig, als man gemeinhin annimmt. So kommt in den 1500 eng bedruckten Seiten Hansard-Protokolle der parlamentarischen Debatten von 1846 zum Freihandel „Laissez-faire" nicht einmal vor.

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 27 Führende Männer aus dem Kreis der amerikanischen Gründerväter, darunter Madison, Franklin und Jefferson, schätzten Smiths Wirtschaftsliberalismus (vgl. Nutter, 1976). 8 Einen anderen Weg schlug die Französische Revolution ein, die aus liberaler Sicht höchst gemischte Ergebnisse brachte. Zwar beendete sie Privilegienherrschaft und Zunftzwänge und verwirklichte so erstmals Rechtsgleichheit der Staatsbürger sowie volle Gewerbefreiheit. Gleichzeitig versetzten die massenhaften Konfiskationen adeligen und kirchlichen Besitzes dem Respekt vor dem Eigentumsrecht einen schweren Schlag. In Rousseaus Verklärung der unumschränkten Herrschaft der „volonté générale" sahen spätere Liberale deutliche Anzeichen einer ins Totalitäre tendierenden Demokratie. Zudem fielen die als „corps intermédiare" bekannten, zwischen Zentralstaat und Individuum gelagerten Körperschaften der revolutionären Neuordnung zum Opfer. Die althergebrachte Machtverdünnung durch eine Vielfalt gewachsener, traditioneller Zwischengewalten wich einer immer stärkeren Ausrichtung auf die Zentralgewalt. In letzter Konsequenz unternahmen die Jakobiner den Versuch einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft nach rationalistischen Plänen wie auf dem Reißbrett. 9 Liberale in ganz Europa betrachteten mit Sorge die fortschreitende Radikalisierung und Brutalisierung der Revolution. Schließlich versank der Aufstand gegen das Ancien régime im jakobinischen Terror. 10 Unter dem Aufmarsch von Napoleons Armeen kollabierte das Heilige Römische Reich deutscher Nation und mit ihm die alte ständische Ordnung in Mitteleuropa. Die um ihr Überleben kämpfende preußische Monarchie sah sich entschiedenem Modernisierungsdruck ausgesetzt. Wollte sie wieder auf die Füße kommen, mußte sie die in Frankreich erfolgreich erprobten Prinzipien der Gewerbefreiheit übernehmen und alte Zöpfe des Dirigismus abschneiden. Dabei besannen sich die Reformer auf Adam Smith. Dessen Studie „Wealth of Nations" war zwar schon kurz nach Erscheinen ins Deutsche übersetzt worden, doch die wirtschaftsliberale Botschaft stieß zunächst auf taube Ohren. Gegen die an deutschen Universitäten gelehrte kameralistische Orthodoxie und den aufgeklärt-absolutistischen Zeitgeist kam Smiths Lehre vom freien Spiel der Marktkräfte nicht an. 11 Erst die militärische Niederlage eröffnete den preußischen Reformern die Möglichkeit, staatsdirigistische Strukturen aufzubrechen. Die Proklamationen des Freiherrn vom Stein, Karl August von Hardenbergs und Wilhelm von Humboldts atmeten dabei den Geist Adam „Vielleicht ist es besser," schrieb Benjamin Franklin, „wenn im Allgemeinen die Regierung sich nicht weiter in den Handel einmischt, als ihn zu schützen und ihn seinen eigenen Weg gehen zu lassen. Die meisten der Statuten, Gesetze, Edikte, Verbote und Anschläge von Parlamenten, Fürsten und Staaten, um den Handel zu regulieren, zu lenken und zu begrenzen, waren, so glauben wir, entweder politische Fehler oder wurden von geschickten Männern für private Vorteile unter Vorgabe eines Gemeinwohls erwirkt" (zit. n. Nutter, 1976, S. 4). 9 Vgl. Hayek (1948), der den Unterschied zwischen einer „antirationalistischen" Aufklärung schottischer Prägung und dem französischen Rationalismus herausarbeitet, jenem „falschen Individualismus, der alle diese kleinen Gruppen [Familie, kleine Gemeinschaften und Gruppen, lokale Selbstverwaltung und freiwillige Verbände] in ihre Einzelbestandteile auflösen will, die keinen anderen Zusammenhang haben sollen als die vom Staat auferlegten zwingenden Regeln" (ebd., S. 38). Ahnliche Anklagen richteten Edmund Burke und Alexis de Tocqueville gegen die Exzesse der Französischen Revolution. Vgl. dazu Nisbet (1986, S. 1-11, passim). 10 Interessant ist der Vergleich, den später Lenin zwischen dem Genozid an den Bewohnern der Vendée und dem Terror gegen die Kosaken nach der Russischen Revolution zog (vgl. Courtois, 1997, S. 31). 11 Auch seine indirekte Wirkung über den Königsberger Dozenten Christian Jakob Kraus sollte nicht überbewertet werden (vgl. Tribe, 2000). 8

28 • Wandlungen des Neoliberalismus Smiths: „Ich halte es für wichtig, die Fesseln zu zerbrechen, durch welche die Bürokratie den Aufschwung der menschlichen Tätigkeit hemmt", forderte Hardenberg 1807. „Man muß die Nation daran gewöhnen, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten und aus jenem Zustand der Kindheit herauszutreten, in dem eine immer unruhigere, immer dienstfertigere Regierung die Menschen halten will" (zit. n. Habermann, 1988, S. 104). Es folgten in Preußen die Abschaffung der Zünfte und gutsherrlichen Privilegien, wichtige Schritte zur Bauernbefreiung und eine Reform der Städteordnung, die mehr dezentrale, kommunale Selbstverwaltung brachte. Ähnlich radikale Reformen gab es in Bayern und anderen Ländern des zerschlagenen Reiches. Mit der Gründung des Zollvereins im Jahr 1834 begannen die deutschen Kleinstaaten, trennende Handelsbarrieren zu schleifen. Die Entfesselung der Marktkräfte zeigte alsbald Wirkung, als die Dynamik der Industrialisierung Deutschland voll erfaßte.

2. Das neunzehnte Jahrhundert Entfesselung der Märkte und Industrialisierung Das neunzehnte Jahrhundert ragt als eine Epoche ausnehmend wirtschaftsliberaler Politik heraus. Die Uberreste der merkantilistischen Ära verschwanden, und unternehmerische Freiheit galt fast grenzenlos. In besonderem Maße traf dies auf Großbritannien zu. Das Land besaß einen gewissen Vorsprung bei der Industrialisierung, besonders in der maschinellen Textilproduktion. 12 Dank rascher Annahme des technischen Fortschritts, rasanten demographischen Wachstums, günstiger politischer Rahmenbedingungen und einer dynamischen Unternehmerschicht konnte Großbritannien seine Führung ausbauen. Uber ein Jahrhundert dominierte es die Weltwirtschaft. Britische Produkte eroberten die internationalen Märkte, britische Schiffe beherrschten den Handel und britische Banken das immer stärker verflochtene Finanzsystem. Die wirtschaftsliberalen Lehren dienten nicht nur der Politik als Leitsätze, sondern sickerten zeitweilig bis in das Denken der breiten Masse. Richard Cobden, ein aus ärmlichen Verhältnissen zu Wohlstand gekommener Fabrikant und Parlamentsabgeordneter für den Wahlkreis Manchester, initiierte gemeinsam mit John Bright eine Kampagne gegen die Kornimportzölle. Das in Manchester geborene „com law movement" weitete sich zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu einer regelrechten Volksbewegung für den Freihandel aus. Was heute unter dem Namen Manchesterliberalismus firmiert, sprach vor allem auch Arbeiter und Arbeitslose an. Sie litten während der Depression der

12 Warum England in Führung ging, ist bis heute eine strittige Frage. Frankreich hatte zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts dreimal so viele Einwohner und lag im Manufakturengewerbe mit der britischen Konkurrenz gleichauf. Crafts (1977, S. 431) hat die These vertreten, letztlich habe am Vorabend der Industrialisierung der Zufall, „ein stochastischer Prozeß", über den wirtschaftlichen und technologischen Vorsprung Englands entschieden. Liberale verweisen dagegen auf die Nichteinmischung der britischen K r o n e als Vorbedingung für dynamisches Wachstum. „Ich würde behaupten, daß Britanniens Führerschaft und Britanniens anschließender Abstieg stark mit dem Aufstieg und Fall des Laissez-faire verbunden sind, mit einem langen Zyklus in der institutionellen Organisation des britischen Wirtschaftslebens, ein Zyklus vom Merkantilismus zum Laissez-faire zum Sozialismus (NeoMerkantilismus)" (Hartwell, 1976, S. 1).

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 29

frühen vierziger Jahre an Unterernährung und sahen, wie die Zölle auf Getreide ihre Nodage verschärften (vgl. Doering, 2004).13 Unter dem Druck des „com law movement" sah sich der konservative Premierminister Robert Peel 1846 zur Abschaffung der Getreidezölle veranlaßt. Diese Entscheidung, durchgesetzt gegen den Widerstand der von abgeschotteten Märkten profitierenden Großgrundbesitzer, was die Tory-Partei alsbald spaltete, läutete die Ära britischer Freihandelspolitik ein, die auf ganz Europa abfärbte. Es folgte die Annullierung der „Navigationsakte", die ausländische Handelsschiffe diskriminierte. Unter Premierminister Gladstone wurde durch den Cobden-Chevalier-Vertrag von 1860 der Warenaustausch nicht nur mit Frankreich liberalisiert. Dank der hier erstmals erprobten Meistbegünstigungsklausel bewirkte der bilaterale Vertrag eine Weitergabe der Zollsenkungen an Dritte. Inspiriert von Cobdens Erfolgen nahmen auch auf dem Kontinent Publizisten und Politiker den Kampf gegen Zollbarrieren auf. In Frankreich führte der Ökonom und Publizist Frédéric Bastiat die Freihandelsbewegung. In Deutschland dagegen standen bald die Theorien Friedrich Lists hoch im Kurs, der ein „nationales System der politischen Ökonomie" formulierte und „Erziehungszölle" zur Entwicklung heimischer Industrien empfahl. Der gebürtige Engländer und preußische Politiker John Prince-Smith, Bismarcks liberaler Gegenspieler im Reichstag, hatte daher einen schwereren Stand (vgl. Raico, 1999, S. 49-86). Die Industrialisierung brachte einen dramatischen ökonomischen, demographischen, sozialen und schließlich auch politischen Bruch mit der Vergangenheit. Der Begriff „Industrielle Revolution", den der Wirtschaftshistoriker Arnold Toynbee in einer Vorlesung 1881 einführte, war somit gerechtfertigt.14 Europa, im ganzen Mittelalter schweren zyklischen Krisen unterworfen, ging damit zu permanentem Wachstum über. Die Landwirtschaft verlor an Bedeutung, der industrielle Sektor wurde entscheidend. Güterfertigung in Fabriken löste die älteren Manufakturen ab. Der technologische Wandel auf breiter Front ließ die Produktivität stark wachsen. Ab Mitte des Jahrhunderts leiteten die Erfindung der Eisenbahn, des Dampfschiffes und des Telegraphen eine Transport- und Kommunikationsrevolution ein, die neue Dimensionen von Raum und Zeit erschloß. Massenbedürfnisse und Massenkonsum lösten die zuvor von aristokratischem und großbürgerlichem Geschmack bestimmte Produktion ab. Die Bevölkerungszahl „explodierte" im Jahrhundert nach den Napoleonischen Kriegen. Trotz des Auswandererstroms in die Neue Welt, insgesamt rund 50 Millionen Menschen, wuchs die Bevölkerung je nach Region um das Zwei-, Drei- bis Vierfache. Diese Beschleunigung nach Jahrhunderten weitgehender Stagnation stellte die Gesellschaft vor ungekannte

Doering (2004) bemüht sich um eine Rehabilitierung des Manchesterkapitalismus, der bekanntlich einen denkbar schlechten Ruf als arbeiterfeindliche Ausbeuterideologie genießt. Die „wahre Leistung des ,Manchestertums'" sei seine soziale Großtat, „nämlich nichts geringeres als die Beseitigung des Hungers in Europa!" (ebd., S. 15). 14 Seit etwa zwanzig Jahren zeichnet eine „revisionistische" Schule von Wirtschaftshistorikern ein abgeschwächtes Bild der industriellen „Revolution" als eines „evolutionären" Prozesses. Vgl. zu diesem Paradigmenwandel Komlos (1997). Die Ergebnisse neuerer ökonometrischer Studien belegen, daß die Dynamik des industriellen Zeitalters anfangs viel gemächlicher verlief, als bisher angenommen. Zudem legt die neuere Forschung Wert auf die Kontinuität des Wandels, so daß der Übergang weniger hart erscheint. Gleichwohl ergaben die über Jahrzehnte kumulierten technologischen, sektoralen und demographischen Verschiebungen eine Veränderung, die einer Revolution gleichkam (vgl. dazu Berg u. Hudson, 1992). 13

30 • Wandlungen des Neoliberalismus Herausforderungen. Die Bauernbefreiung hatte vor allem kleineren Landwirten schwere finanzielle Lasten aufgebürdet, und die neue Freizügigkeit ermöglichten Landflucht und führte zu einer verstärkten Urbanisierung. In den Städten entstanden billige Wohnviertel für Neuankömmlinge, die als Fabrikarbeiter ein sehr bescheidenes Auskommen fanden. Ökonomisch gesprochen waren die niedrigen Löhne Folge eines kurz- und mittelfristig unelastischen industriellen Kapitalstocks. Dies brachte den Fabrikanten hohe Renditen, wogegen die Grenzproduktivität des äußerst elastischen Arbeitsangebots gering war. Es fehlte nicht an Kritikern dieser als „Pauperisierung" beklagten Entwicklung, die dem „Kapitalismus" die Schuld an beklagenswerten sozialen und hygienischen Verhältnissen gaben. Zu kraß erschien der Kontrast zwischen neuem Reichtum und „neuer" Armut. Was die frühen sozialistischen wie auch konservativen Kritiker beklagten waren allerdings Formen des Elends, die erst das rasante Bevölkerungswachstum und der Übergang von der agrarischen zur industriellen Gesellschaft sichtbar gemacht hatten. Die subjektive Zunahme des „Pauperismus" war bedingt durch die Migration der Landarmen in die expandierenden Städte, wo ihr zuvor ignoriertes Schicksal plötzlich Sozialkritikern ins Auge fiel. Franz Oppenheimer, Vertreter eines „liberalen Sozialismus" schrieb 1912 gegen die herrschende Meinung, das Elend und die Not während der Industrialisierung „waren nicht im mindesten Nova, sondern uralte Tatsachen; und sie waren nicht erst soeben in den Städten entstanden, sondern sie waren nur soeben auf dem städtischen Schauplatz erschienen" (Oppenheimer, 1912/1919, S. 7 0 / 7 1 , Herv. im Orig.). 15 Die oftmals verklärte Idylle des Landlebens entsprach nicht der Realität. Bittere Armut, Hungersnöte und hohe Sterblichkeit früherer Zeit wurden in den Klagen über angeblich wachsendes Elend in der Industriegesellschaft ausgeblendet. Zudem neigten manche Kritiker zu politisch motivierten Übertreibungen: Friedrich Engels etwa arbeitete in seiner Untersuchung der Lage der englischen Industriearbeiter zum Teil mit veralteten Berichten und unterschlug systematisch Belege, die seiner These widersprachen. E r verzerrte die Fakten, um ein möglichst düsteres Bild zu präsentieren (vgl. Chaloner/Henderson, 1974). Der Kampf um die geschichtliche Deutungsmacht ist bis heute von großer Bedeutung. Überlegungen dazu spielten eine zentrale Rolle für Hayeks Entschluß, nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gesellschaft von Gelehrten zu sammeln, aus der schließlich die Mont Pèlerin Society entstand. Hayek war davon überzeugt, daß nicht das „Sein", wie Marxisten behaupteten, das Bewußtsein bestimmte, sondern die Vorstellung dessen, „was war", also der Vergangenheit, die Zukunft entscheidend präge. 16 In der Einleitung zum Sammelband „Capitalism and the Historians", darin mehrere Vorträge, die auf einer Tagung der MPS 1951 in Beauvallon gehalten wurden, beschrieb er die Wechselbeziehung von geschichtlichen Vorurteilen und politischen Präferenzen: „Unsere Erfahrung von der Vergangenheit ist die Grundlage, auf der unsere Überzeugungen zur Wünschbarkeit verschiedener Politiken und Institutionen

15 Auch die Londoner Wirtschaftshistorikerin Lilian Knowles, eine der ersten weiblichen Professorinnen, erkannte, daß viele der beklagten Mißstände schon vorher bestanden hatten und erst durch das geschärfte soziale Empfinden sichtbar wurden (vgl. Apel, 1961, S. 22). 16 Die Verbindung von Geschichtspolitik und Herrschaftssicherung wurde damals intensiv diskutiert. In George Orwells Roman „1984" war die totalitäre „Partei" um systematische Konditionierung des historischen Bewußtseins der Bürger bemüht. „'Wer die Vergangenheit beherrscht', lautete die Parteiparole, geherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit'" - so der totalitäre Zirkelschluß (Orwell, 1949/1998, S. 34).

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 31

hauptsächlich ruhen, und unsere gegenwärtigen politischen Ansichten beeinflussen und färben unweigerlich unsere Interpretation der Vergangenheit" (Hayek, 1954, S. 3). Sein Ziel war eine Revision des sozialistischen Geschichtsbilds von der Industriellen Revolution und den „Schrecken des Frühkapitalismus" (ebd., S. 10). A u f der MPS-Tagung widmete sich der Londoner Wirtschaftshistoriker T . S. Ashton einigen widersprüchlichen Behauptungen der frühen europäischen Kapitalismuskritiker und kritisierte ein gerüttelt Maß an Bigotterie bei der Verklärung vorindustrieller sozialer und moralischer Zustände (vgl. Ashton, 1 9 5 1 / 1 9 5 4 ) . Auch unter amerikanischen Historikern gab es eine „antikapitalistische Schlagseite", wie Louis Hacker anhand zahlreicher literarischer Beispiele belegte. Wenngleich der Einfluß marxistischer Verelendungstheorien in Amerika vergleichsweise unbedeutend war, hätten Autoren wie Charles Beard, Gustavus Myers oder Matthew Josephson der Öffentlichkeit erfolgreich suggeriert, daß „große Vermögen in den Vereinigten Staaten auf Betrug aufgebaut wurden, ... die natürlichen Ressourcen des Landes dabei geplündert wurden und ... die sozialen Konsequenzen von Privateigentum ... schlecht sind, indem sich Klassen bildeten, die Landwirtschaft niedergedrückt wurde und Slums entstanden" (Hacker, 1 9 5 1 / 1 9 5 4 , S. 80). Ältere Untersuchungen von Ashton und W. H. Hütt, die ebenfalls in den Sammelband „Capitalism and the Historians" aufgenommenen wurden, lieferten detailliertes Zahlenmaterial zur Lage der englischen Arbeiter wie zum Fabriksystem im frühen neunzehnten Jahrhundert. Beide kamen zu dem Ergebnis, daß die Behauptung einer allgemeinen Verschlechterung der materiellen Lebensumstände der arbeitenden Bevölkerung als Folge der Industrialisierung nicht zutreffe (vgl. Ashton, 1 9 4 9 / 1 9 5 4 ; vgl. Hütt, 1 9 2 6 / 1 9 5 4 ) . Demnach waren Fehlentwicklungen und Mißstände häufig nicht Ergebnis des freien Marktes, sondern Folge staatlicher Eingriffe, wie Ashton am Beispiel der Wohnsituation der Arbeiter verdeutlichte. 17 Mises' Darstellung in seinem Werk „Human Action" machte die revisionistische Argumentation noch deutlicher: Während die Entfesselung der Marktkräfte den Anstoß zum Entkommen aus vor-kapitalistischem Elend und zur allmählichen Hebung des allgemeinen Wohlstands gab, waren es staatliche Regulierung und Gewerkschaftspolitik, die diese positive Entwicklung tendenziell eher hemmten. Höhere Löhne seien nur als Folge höherer Produktivität möglich gewesen. W o Arbeitsgesetzgebung und Druck der Gewerkschaften über diese Grenze hinausgingen, verringerten sie das T e m p o des Produktivitäts- und Lohnwachstums (vgl. Mises, 1949, S. 613-618). Hayeks Anregung zu einer systematischen Auseinandersetzung mit wirtschaftshistorischen Fragen wurde nicht vergessen. In den sechziger und siebziger Jahren kam es zu einer weitbeachteten Kontroverse zwischen dem liberalen Wirtschaftshistoriker Max Hartwell und dem marxistischen Historiker Eric Hobsbawm über die Folgen der Industriellen Revolution. D e n „Mythos der Verelendung" zu zerstören sah Hartwell dabei als wichtig an, um „die billigen Attacken gegen den Liberalismus und die Marktwirtschaft" abzuwehren. „Die Marxisten schreiben Geschichte aus politischen Motiven, und die Debatte mit ihnen geht

Die berüchtigten „Jerry buildings", elende Londoner Arbeiterbehausungen, die reihenweise einstürzten, seien entstanden, da Baukapital wegen der staatlich regulierten Zinsen knapp war und Materialien hoch besteuert wurden. Ebenso lastete er die oft dunklen und feuchten Räume der Mietskasernen nicht in erster Linie der ausbeuterischen Neigung der Erbauer und Eigentümer an, sondern der Fenstersteuer (vgl. Ashton, 1951/1954, S. 41-49). 17

32 • Wandlungen des Neoliberalismus eher über Werte denn über Fakten", urteilte der spätere MPS-Präsident (Hartwell, 1972/ 1974, S. 387). Die sozialistische Behauptung einer allgemeinen Verelendung im Zuge der Industrialisierung wird durch die Fakten tatsächlich nicht gestützt. Dem neu aufkommenden industriellen Sektor war es zu verdanken, daß die rasch wachsenden Menschenmassen überhaupt ein Auskommen fanden. So schreibt Komlos (1997, S. 493): „Die entscheidende Veränderung bestand darin, daß keine demographischen Katastrophen, die im 14. und 17. Jahrhundert ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum verhindert hatten, auftraten." Allerdings gab es auch unter Hayeks Freunden kritische Stimmen. So urteilte Röpke über „Capitalism and the Historians", der Sammelband rücke in verdienstvoller Weise das gängige Zerrbild des frühen „Kapitalismus" zurecht, doch bestehe die Gefahr, die Revision des Geschichtsbildes zu übertreiben. Es seien „nicht die Schlechtesten und Dümmsten" gewesen, die seinerzeit die Umwälzung „als wahre Katastrophe" empfanden, meinte er: Man möge zwar ausrechnen, daß für die Proletarier „im Materiellen alles halb so schlimm gewesen ist, aber das Entscheidende war, daß es Proletarier im weitesten und unerfreulichsten Sinne des Wortes gewesen sind und daß sie damals zum ersten Male in Massen auf der Szene der Geschichte erschienen, zusammen mit ihrem Gegenstück, den Kapitalisten'" (Röpke, 1954). Angesichts der „proletarisierenden und auflösenden Wirkungen des Fabriksystems auf die überkommenen Gemeinschaften und auf das ganze Sozialsystem jener Zeit" zeigte er durchaus Verständnis für die hohe Zahl von Unzufriedenen (ebd.). Wie sein Freund Rüstow beklagte Röpke den Verlust von traditionellen sozialen Bindungen und das Aufkommen grauer Massen, die in Industriebetrieben monotone Arbeiten verrichteten. Aus diesen unterschiedlichen Sichtweisen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte folgten, wie noch zu zeigen ist, verschiedene Ansichten des Neoliberalismus zu Möglichkeiten und Grenzen der Marktwirtschaft sowie zu den legitimen Aufgaben des Staates (vgl. Ebeling, 2003b, S. 235-237). Neben der kümmerlichen materiellen Lage breiter Schichten war es die ungeheure Geschwindigkeit der Modernisierung im Zuge der Ausbreitung des industriellen Systems, welche die bislang überschaubare, festgefügte Welt im neunzehnten Jahrhundert ökonomisch und sozial erschütterte. Bereits 1887 beschrieb Ferdinand Tönnies den als bedrohlich empfundenen Übergang von stabiler „Gemeinschaft" zu fließender und zufällig zusammengewürfelter „Gesellschaft". Vielfach wurde dieser Prozeß als Entwurzelung und Zerfall wahrgenommen, der pathologische Folgen haben werde. So untersuchte der französische Soziologe Emile Dürkheim das Phänomen des Selbstmords und nannte als eine der Ursache die „anomie", eine Entfremdung der Individuen von der Gesellschaft im industriellen, Urbanen Zeitalter. Mit der Lockerung althergebrachter sozialer Bindungen und dem Verlust einstmals fester Wertegefüge nahm die geistige Desorientierung zu. Diese nährte schließlich eine wachsende Sehnsucht nach neuer Geborgenheit, die auch Röpke nachempfinden konnte. Als verhängnisvollen Irrweg lehnte er jedoch die zunehmende Flucht in kollektive und zentralstaatliche Arrangements ab, die den Menschen Sicherheit zu verheißen schienen.

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 33

3. Liberale Ermüdungserscheinungen und „New Liberalism" In Deutschland war den wirtschaftsliberalen Reformern nach 1806 nur ein kurzer Auftritt vergönnt. Romantische Denker wie Adam Müller, die eine Rückkehr zur ständisch geordneten Struktur wünschten, übertönten bald Smiths Optimismus bezüglich eines weitgehend ungehemmten Spiels der Kräfte. Der Ruf nach dem Staat trat an die Stelle des Willens zu mehr Markt (vgl. Gottfried, 1976). Zum Teil erklärt das Bewußtsein der prekären geopolitischen Lage Deutschlands die Anziehungskraft der Philosophie Hegels, seine Idealisierung und fast mythische Überhöhung des Staates als Ordnungsfaktor. 18 Die Begeisterung für Smiths Theorien des Freihandels und der Gewerbefreiheit lebte ab Mitte des Jahrhunderts bis zum Gründerkrach 1873 noch einmal auf, dann beendete Bismarcks zoll- und industriepolitische Wende von 1878 die Phase der wirtschaftsliberalen Ansätze (vgl. Habermann, 1997a, S. 169-180). Der wiederkehrende Protektionismus begünstigte mächtige Produzentengruppen und bescherte dem Bündnis von ostelbischen Großgrundbesitzern und rheinischen Stahlmagnaten Gewinne auf Kosten der Verbraucher. 19 Auf die liberale Gewerbeordnung von 1869 folgte die Wiedereinführung des öffentlich-rechtlichen Charakters der Innungen 1881, der Beginn einer schleichenden Rückkehr des Zunftwesens. Mit seiner auch im Ausland stark beachteten Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre legte Bismarck den Grundstein für den modernen Wohlfahrtsstaat. 20 Akademische Vordenker und Befürworter wohlfahrtsstaatlicher Regulierung fanden sich in Deutschland vor allem in der Historischen Schule. Deren ältere Generation, besonders ihr Kopf Wilhelm Roscher, hatte die Lehren der Klassiker seit Adam Smith noch wohlwollend beurteilt. Die jüngere Generation um Gustav Schmoller aber wandte sich aggressiv gegen liberale Wirtschaftstheorien. Schmoller, der später einen erdrückenden Einfluß auf die wissenschaftliche Ausrichtung und Berufungspraxis der nationalökonomischen Fakultäten in Deutschland ausübte, polemisierte scharf gegen die klassisch-liberale Empfehlung für Freihandel und freie Märkte. 1872 gründete er als Gegengewicht zum freihändlerischen Kongreß deutscher Volkswirte den Verein für Socialpoütik, dessen langjähriger Vorsitzender er wurde. Auf der ersten Sitzung in Eisenach erklärte er den Verein zur Basis all jener, „welche der Tyrannei der Manchesterpartei entgegentreten wollen" (Schmoller, 1890, S. 1-2). Sein aus historischen Fleißarbeiten bestehendes Werk war mit Werturteilen und ethischen Postulaten

18 Der amerikanische Historiker Paul Gottfried merkte dazu beim MPS-Treffen in St. Andrews an: „Vielleicht sprachen Hegel und viele seiner deutschen Zeitgenossen nicht deshalb so überschwenglich v o m Staat, weil sie seine Macht anbeteten, sondern mit gutem Grund ihr Fehlen fürchteten. Politische Souveränität war notwendig für die militärische und nationale Einheit. Ohne sie würde Deutschland, wie es in der Vergangenheit so lange war, Spielball seiner Nachbarn bleiben" (Gottfried, 1976, S. 6). 19 Auch heute mangelt es nicht an renommierten Wirtschafthistorikern, die Deutschlands Abschottung und starken industriellen Kartelltendenzen positive Resultate zuschreiben. So schreibt Cameron (1992, S. 43-44), hinter Zollmauern geschützt habe die Industrie überdurchschnittliche Gewinne erzielen und auf Exportmärkten unter Produktionskosten verkaufen können. Dies habe die Weltmarktposition deutscher Unternehmen gefördert. O b Cameron über die umverteilende Wirkung der Schutzzölle zugunsten der Primärpoduzenten hinaus einen „Wohlfahrtsgewinn" annimmt, bleibt unklar. 20 Allerdings stellen die drei Bismarckschen Sozialversicherungen aus der Perspektive heutiger Wohlfahrtsstaaten bescheidene Ansätze dar und boten nur rudimentäre Versorgung. Die Alters- und Invalidenrenten gingen kaum über ein Gnadenbrot hinaus. Sie waren nicht als vollwertige Ersatzeinkommen, sondern nur als Ergänzung zu fortgeführter Altersarbeit gedacht, zudem war durch das hohe Eintrittsalter die statistisch verbleibende Zeit des Rentenbezugs knapp bemessen.

34 • Wandlungen des Neoliberalismus einer „gerechten Verteilung" durchtränkt. Abfälligen Bemerkungen über die häßlichen und ausbeuterischen Züge des Marktes standen Lobeshymnen auf die allgemein segensreiche Wirkung staatlich-bürokratischer Eingriffe zur Verbesserung der „sozialen Lage" gegenüber. Die Gruppe der Professoren um Schmoller gab sich staatstreu. Dem Marxismus als aufrührerischer Ideologie standen sie skeptisch gegenüber, teilten jedoch seine Sicht des Kapitalismus, der durch Gesetzte gezähmt werden müsse. Adolf Wagner konstatierte ein „Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit". Der steigende Anteil der Staatsausgaben sei Ausweis der natürlichen Entwicklung einer Kulturnation. Die Studien der Gruppe um Schmoller verliehen Forderungen nach weiterer Sozialregulierung das Siegel der Wissenschaftlichkeit. Die Spottbezeichnung „Kathedersozialisten" akzeptierten sie als einen Ehrentitel. Getreu dem Paradigma der Historischen Schule lehnte Schmoller die deduktive Methode der klassischen Ökonomie, das Beharren auf unwandelbaren Marktgesetzen, ab und setzte dagegen eine rein statistisch-deskriptive Methode. Die Unmengen an geschichtlichen Daten, die Schmoller und seine Anhänger sammelten, sollten die allgemeine Relativität wirtschaftlicher Abläufe belegen, deren Richtung primär vom rechtlichen Rahmen bestimmt werde. Eine überbordende historische Empirie verstellte den Blick auf zeitlose ökonomische Gesetzmäßigkeiten. Im berühmten „Methodenstreit" ab 1883 bekämpfte Schmoller den Wiener Ökonomen Carl Menger und die aufsteigende marktwirtschaftliche Österreichische Schule. Menger gehörte mit Jevons und Walras zu jenen Forschern, die in den frühen siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts unabhängig voneinander die Grenznutzenlehre entwickelt hatten. Die Österreicher betonten dabei mehr als andere den subjektiven Wert aller Güter: Allein der Nutzen der Konsumenten zähle. Im Methodenstreit prallten unvereinbare Paradigmen, der relativistische Empirismus und die überhistorische Theorie, aufeinander. Schmoller ging aus dem Streit dank seiner akademischen Übermacht in Deutschland nach allgemeiner Ansicht als Sieger hervor. Erst gegen Ende seines Lebens kamen ihm Zweifel und er beklagte den Verfall der klassischen, freihändlerischen Lehren. Heinrich Herkner, Schmollers Lehrstuhlerbe und Nachfolger als Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik bedauerte, fast die gesamte Zunft der deutschen Ökonomen sei unter dem Eindruck der Historischen Schule auf einen Holzweg geführt worden (vgl. Raico, 1999, S. 216). 21 Teilweise hatte Bismarck mit seiner Sozialgesetzgebung die Absicht verfolgt, der aufkommenden sozialistischen Bewegung das Wasser abzugraben. Arbeiter, die nicht in eine staat-

Tatsächlich war eine ganze Generation von „Wirtschaftsfachleuten" und Bürokraten in grenzenlosem Vertrauen auf die Lenkungskraft des Staates indoktriniert worden. Sie hatten Universitäten besucht, ohne eine Vorstellung von grundlegenden ökonomischen Zusammenhängen zu erhalten. Dem „historisch geschulten" Reichsbankpräsidenten Havenstein war während der Hyperinflation die Quantitätstheorie des Geldes kein Begriff; er wollte keinen Zusammenhang zwischen expandierender Geldmenge und steigenden Preisen erkennen, statt dessen sah er Spekulanten am Werk. Vgl. dazu das Kapitel „Die Rolle der Kathedersozialisten beim Niedergang des deutschen Liberalismus" bei Raico (1999, bes. S. 213-217). Hayek urteilte in einem persönlichen Rückblick, als Folge der „Interventionismusideale" der Historischen Schule sei „in Deutschland die Ökonomie als Wissenschaft ausgestorben" (Hayek, 1983, S. 11). Um so mehr überrascht die wohlwollende Bewertung des prominenten MPS-Ökonomen Günter Schmölders (1984, S. 115): „Die bleibende Leistung der Schmoller-Schule war ihre Zeit- und Wirklichkeitsnähe, die allen vorschnellen Verallgemeinerungen abhold blieb ...". Über eine „Schmoller-Renaissance" in jüngster Zeit schreibt Peukert (2001), der neuere Einschätzungen von Schmollers „ethischer Wirtschaftswissenschaft" hervorhebt. Insbesondere geht er der Frage nach, ob Schmollers wissenschaftlicher Ansatz von einer Theorie geleitet war, was er mit Einschränkungen bejaht (ebd., S. 91). 21

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 35 liehe Versicherung eingebunden waren, sah er als Gefahr für die politische Stabilität. Sein Kalkül, nicht unähnlich dem Vorgehen antiker Cäsaren, war es, mittels Sozialpolitik die Volksmassen zu beruhigen. 22 Ab 1878 versuchte er zudem den Aufstieg der Sozialisten mit polizeilichen Maßnahmen zu unterdrücken. Die Doppelstrategie zur Eindämmung der sozialistischen Bewegung verfehlte ihr Ziel. Nach der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 konnte die SPD rasch an Boden gewinnen. Trotz aller Behinderung ihrer Arbeit hatte die Partei ihre Stimmen- und Mitgliederzahl in den zwölf Jahren der Verfolgung verdoppelt bis verdreifacht. Zu einer Zeit, da anderswo in Europa die Arbeiterschaft politisch noch kaum organisiert war, wurde die SPD stärkste Fraktion im Reichstag und baute diese Position bis zum Ende des Kaiserreichs kontinuierlich aus. Auf ihrem Erfurter Parteitag von 1891 gab sie sich ein stramm marxistisches Programm und plädierte für umfangreiche Verstaatlichungen, Regulierung und Sozialgesetzgebung. Dagegen schwand die Zahl der Liberalen, die Widerstand gegen staatliche Interventionen leisteten. Der marktwirtschaftliche Liberalismus und die Freihandelsbewegung in Deutschland litten unter dem Stigma des „Manchestertums". Dieser von Ferdinand Lassalle in Umlauf gebrachte politische Kampfbegriff unterstellte ein ausländisches Interesse, dem die Vertreter des Freihandels als nützliche Idioten dienten. Wohl nutze die von England aufgebrachte Ideologie britischen Handelsinteressen und den Fabrikanten von Manchester, sie schädige jedoch deutsche Produzenten und auch Arbeiter (vgl. Raico, 1999, S. 29-31). Beeindruckt von der nationalen Einigung unter Bismarck, spaltete sich die liberale Bewegung. Zudem tauchten konfessionelle und territoriale Konkurrenzparteien auf der politischen Bühne auf, so daß eine einheitliche politische Vertretung des Mittelstandes unmöglich wurde (vgl. Luebbert, 1991, S. 80-91). Die Bedeutung der liberalen Bewegung, zur Reichsgründung noch dominante politische Kraft, verfiel dramatisch. Auch in England zeigte der Liberalismus Ermüdungserscheinungen. Obschon er äußerlich noch kräftig schien, war er im Innern morsch. Bei den Intellektuellen verlor das altliberale Prinzip des Laissez-faire kontinuierlich an Rückhalt. Das Ideal des „Nachtwächterstaats", wie ihn Lassalle spöttisch bezeichnete, hatte im Zeitalter der beginnenden Massendemokratie ausgedient. Auch einige Liberale entwickelten ein feines Gespür für den gewandelten Zeitgeist und begannen, alte liberale Glaubenssätze zu modifizieren. Wie kein anderer verkörperte John Stuart Mill in seiner Person den Übergang vom klassischen zu einem utilitaristisch gefärbten „New Liberalism". An ihm scheiden sich die Geister. Während die einen Mill als den größten englischen liberalen Denker des neunzehnten Jahrhunderts verehren, beklagen andere seinen Verrat an der liberalen Tradition. Unübersehbar hatte Mill eine ambivalente Haltung bezüglich des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv. Zum einen pries er die Freiheit des einzelnen, die ihre Grenzen nur dort finde, wo sie die Freiheit des anderen verletzt. Nur zum Selbstschutz, um Übergriffe zu verhindern, sei Zwangsanwendung legitim, schrieb er in seiner Abhandlung „On Liberty" (vgl. Mill, 1859/1975, S. 10). Allerdings bezog sich Mills Forderung nach Respektierung der Unabhängigkeit des Individuums wohl vor allem auf die

Als Beleg dafür, daß Bismarck seine Leistung als „Vater des Wohlfahrtsstaats" tatsächlich eher gleichgültig war, führt Nisbet (1986, S. 61) das Fehlen jeglicher Notiz über die Sozialgesetze in den Memoiren des Reichskanzlers an.

22

36 • Wandlungen des Neoliberalismus geistigen Eliten, um deren Gedanken- und Handlungsfreiheit es ihm primär ging. So warnte er vor der „Mehrheit", die in ihrer Mittelmäßigkeit keine herausragenden und unabhängigen Geister dulden und in letzter Konsequenz die Homogenisierung des Gemeinwesens erzwingen könnte. Gegen die despotische Macht der öffentlichen Meinung müsse es Schranken geben, hinter denen das Individuum Schutz finde (vgl. ebd., S. 53-70). Für die ungebildeten Massen, die zur Beurteilung ihrer wahren Bedürfnisse inkompetent seien, war durchaus nicht ausgeschlossen, daß der Staat mitdenken und mitsorgen müsse (vgl. Greenleaf, 1983b, S. 109-113). 23 So zeigte Mill starke Sympathien für sozialstaatliche Eingriffe sowie Regulierung der Wirtschaft und übernahm dabei Teile des von den Sozialisten erstellten Forderungskatalogs. Während traditionelle Liberale seit Smith den Bereich legitimer Staatstätigkeit sehr eng gefaßt hatten, befürwortete Mill die Verstaatlichung von Unternehmen, etwa der kommunalen Wasser- und Gasversorgung, der Post und der Eisenbahn, wissenschaftlicher Einrichtungen und öffentlicher Agenturen für Sozialfürsorge. Die Annäherung an sozialistisches Gedankengut war in „On Liberty" von elitären Gedanken überdeckt, in anderen Schriften lobte er die sozialen Anliegen früher Sozialisten wie Robert Owen oder Charles Fourrier, mehr noch den rationalistischen Ansatz von Saint-Simon, den er bereits früh schätzen gelernt habe (vgl. Mill, 1873/1961, S. 137-140). In seinen 1879 postum veröffentlichten „Chapters on Socialism" wurde offenkundig, wie weit sich Mill zuletzt den sozialistischen Ideen angenähert hatte. Diese Spannung in Mills Werk zwischen individualistischem Ansatz und kollektivistischen Zugeständnissen spaltete das Urteil späterer Liberaler: Während die einen ihn überschwänglich lobten, äußerten andere sich zunehmend distanziert: „Durch seine Befürwortung der distributiven Gerechtigkeit und seine im ganzen positive Haltung zu sozialistischen Bestrebungen bereitete er die langsame Hinwendung vieler liberaler Intellektueller zu einem gemäßigten Sozialismus vor", bedauerte Hayek (1973a/1996, S. 226). 24 Eine ähnliche Ambivalenz wie bei Mill war schon der utilitaristischen Philosophie seines Lehrers Jeremy Bentham zu eigen, die den Keim einer wissenschaftlichen Begründung für eine Umverteilungspolitik im Namen gesamtgesellschaftlicher Nutzenmaximierung enthielt. Mill erklärte dementsprechend in seinen 1848 veröffentlichten „Principles of Political Economy", es sei möglich und sogar wünschenswert, die Fragen der Produktion von Fragen der Distribution strikt zu trennen (vgl. dazu Stigler, 1988, S. 57-59). Während frühere Liberale vor punktuellen Interventionen gewarnt hatten, konstruierte Mill eine Brücke zum späteren Umverteilungsstaat. 25 Mit der Trennung von Produktion und Distribution „vollendete 23 Die äußerst kritische Studie „MiH and Liberalism" von Maurice Cowling legt sogar den Schluß nahe, Mills wahres Ziel sei gewesen, eine rationalistische, säkulare „Religion" als Ersatz für das Christentum zu gründen und den Massen zu oktroyieren. Diese Absicht qualifiziere Mill nicht als Apostel individueller Freiheit, so Cowling, sondern rücke ihn in die Nähe von Totalitären, die mit Hilfe der Staatsmacht alle Menschen zwangsbeglücken wollen (vgl. Cowling, 1963/1990, S. 97-105). 24 Hayek, der Mill intensiv studiert, anfangs sehr geschätzt und 1951 sogar ein Buch über dessen Ehe mit Harriet Taylor verfaßt hatte, befielen nachträglich Zweifel. Immer deutlicher erkannte er die subtile Verwandtschaft zur französischen Aufklärung und besonders die Einflüsse Saint-Simons in Mills Werk. Die vielen Jahre der Arbeit zu Mills Philosophie hätten tatsächlich seine „Bewunderung zerrüttet", erklärte Hayek später, seine Haltung MiH gegenüber sei „eine sehr kritische" (Hayek, 1994, S. 140). 25 Gerade dafür erfährt er von vielen Sozialliberalen heftige Bewunderung. So hat etwa Seliger (1978) geklagt, der Lieberalismus habe trotz Mills Intervention kein ausreichendes sozialpolitisches Bewußtsein entwickelt und sei deswegen gescheitert. Viel Leid im zwanzigsten Jahrhundert hätte vermieden werden können, besonders hätte „der

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 37

Mill effektiv den von Bentham und James Mill begonnenen Bruch in der Entwicklung des klassischen Liberalismus und schuf ein Gedankensystem, das die interventionistischen und etatistischen Tendenzen legitimierte, die in England in der späteren Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts immer stärker anwuchsen", urteilte Gray (1986, S. 30). 26 Aus einem anderen Blickwinkel als Mill forderte auch T. H. Green eine Revision des Liberalismus, die im Kreise der fortschrittlichen Intellektuellen begeistert aufgenommen wurde. Green war von christlichem wie auch rationalistischem Gedankengut sowie stark von der hegelianischen Staatsphilosophie beeinflußt. Uber seine zahlreichen Schüler in Oxford lenkte er den englischen Liberalismus im späten neunzehnten Jahrhundert in eine kollektivistische Richtung. Wenngleich er das Eigentumsrecht prinzipiell anerkannte, wandte er sich doch heftig gegen die ungleiche Verteilung des Grundbesitzes in England und forderte eine egalisierende Landreform. Greens Angriffe gegen die traditionelle liberale Doktrin richteten sich gegen die ausschließlich „negative" Interpretation von Freiheit als Abwesenheit von Zwang und staatlicher Einmischung. Echte „positive" Freiheit, so Green, sei abhängig von der Möglichkeit des Menschen, ein ethisch gutes Ziel zu erlangen: sein Streben nach moralischer Selbstverwirklichung. Die lenkende Hand des Staates könne dabei durchaus hilfreich sein, wenn sie die Bürger zu Höherem erziehe. Die Unterscheidung von „positiver" und „negativer" Freiheit hatte weitreichende, fatale Konsequenzen. In der folgenden semantischen Verwirrung konnte die Essenz liberalen Denkens leicht in ihr Gegenteil verdreht werden (vgl. Berlin, 1959/1969). 27 Wie schon Marx in „Das Kapital" das „Reich der Freiheit" dort beginnen ließ, wo die Notwendigkeit zum Broterwerb aufhört, so diente Anhängern einer sozialistischen Ordnung das Gebot, materielle Zwänge zu mildern, als Rechtfertigung staatlicher Eingriffe und Gängelung. Zu dieser Art sozialer Bevormundung gesellte sich oft Überheblichkeit: Was den in Not und Unwissenheit Befangenen wirklich helfe, was ihre wirklichen Bedürfnisse seien, das könne nur der durch Vernunft geleitete Planer wissen. Am Ende dieser Entwicklung, so Berlin (ebd., S. 153), müsse logischerweise eine Art Erziehungsdiktatur stehen. Ab den späten achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts übernahm eine Gruppe von jungen, progressiven Intellektuellen um L. T. Hobhouse und J. A. Hobson die geistige Führerschaft in der britischen Liberalen Partei, die sich von den Ansichten ihrer einstigen wirtschaftsliberalen Uberväter vollständig zu lösen begann. Gladstone war stets ein Gegner staat-licher Intervention und „konstruktivistischer" wohlfahrtsstaatlicher Sozialhilfe gewe-

Kommunismus nicht als Fassade für Terror und Unterdrückung ... herhalten müssen, wenn die Brücke zwischen Liberalismus und Sozialismus im Geiste von Mills umsichtiger intellektueller Selbstbeschränkung und Redlichkeit bewahrt und ausgebaut worden wäre" (ebd., S. 50). 26 Dem oft gehörten neoliberalen Vorwurf, Mill habe Produktion und Distribution als völlig getrennte Sphären gesehen und einer willkürlichen Neuverteilung des Sozialprodukts und sehr hohen Erbschaftsteuern das Wort geredet, nimmt Starbatty (2004, S. 144-147) die Spitze, indem er auf den historischen Kontext hinweist. Die zu seiner Zeit bestehende Verteilung des Reichtums, vor allem der alte feudale Großgrundbesitz, sei nicht Ergebnis von Marktprozessen gewesen, weshalb ihn Mill verändert haben wollte; in der Frage der Umverteilung von Einkommen habe er dagegen negative Anreize und Rückwirkungen auf die Arbeitsbereitschaft durchaus erkannt. 27 Green erklärte: „Das Ideal echter Freiheit ist das Maximum an Macht („power") für alle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, das Beste aus sich zu machen" (zit. n. Berlin, 1969, S. 133). Trotz dieser zweifelhaften Interpretation, die Freiheit mit Macht in Verbindung setzt, meint Berlin, Green sei „ein echter Liberaler gewesen: aber viele Tyrannen konnten diese Formel benutzen, um ihre schlimmsten Unterdrückungsakte zu rechtfertigen" (ebd.).

38 • Wandlungen des Neoliberalismus sen. Nach seiner Ansicht schwächte diese den Willen zur Selbsthilfe und Eigenverantwortung. Die jüngeren Aktiven seiner Partei waren gänzlich anderer Meinung. Hatten traditionell die Liberalen an die spontane Selbstregulierung des Marktes geglaubt, mißtraute Hobson dem unkontrollierten Spiel der Kräfte. 28 Er fürchtete, im „Kapitalismus" werde die Einkommensverteilung so ungleich sein, daß eine kleine Clique von Großverdienern unverhältnismäßig hohe Ersparnisse bilden werde, so daß die breite Masse keine ausreichende Konsumnachfrage für die Gesamtproduktion aufbringen könne. Für die überschüssigen, unverkauften Waren, so Hobson, würden dann gewaltsam neue Absatzmärkte in den Kolonien eröffnet. 29 Hieraus entwickelte er seine Imperialismustheorie, die später von Lenin aufgegriffen und ausgebaut wurde. Hobhouse wählte für seine Richtung die Bezeichnung „Liberaler Sozialismus", eine Begriffsschöpfung, die zuvor Kopfschütteln ausgelöst hätte, jetzt aber freudige Aufnahme fand. Die „alte Doktrin" des Liberalismus habe ihre Schuldigkeit für die emanzipatorische Bewegung getan, verkündeten die Progressiven. Freiheit ohne Gleichheit habe keinen Wert. Angesichts verbreiteter sozialer Mißstände müsse nun der Staat eine aktive Wohlfahrtspolitik einleiten und mit den Übeln des Kapitalismus gründlich aufräumen. Hobhouses kühne Vision implizierte massive Egalisierung und Kollektivierung aller Lebensbereiche. Seine Reformvorschläge begannen bei der Verstaatlichung von Grundbesitz, Schlüsselindustrien und öffentlichen Versorgungsbetrieben. Weiterhin forderte er die staatliche Kontrolle von Arbeitsbedingungen, ein Mindesteinkommen und ein Sozialversorgungssystem für breite Bevölkerungsschichten, wie es Bismarck geschaffen hatte. Privater Reichtum war Hobhouse suspekt. Er trat für die Begrenzung „unverdienter Einkommen" ein und wünschte eine gleichmäßigere Verteilung des Wohlstands, etwa mittels hoher Einkommensteuern oder der Konfiskation großer Erbschaften, um so „Chancengleichheit" zu schaffen. Die progressive Schule eroberte die liberale Bewegung im Sturm. Unbeirrt antietatistische Liberale wie Herbert Spencer und sein Schüler Auberon Herbert, die zeitweilig eine große Leserschaft gefunden hatten, kämpften dagegen auf verlorenem Posten. Der Zeitgeist stand gegen sie, ihre Anschauungen galten als anachronistisch und irrelevant. Im besten Fall belächelte man sie als Rufer in der Wüste, im schlechteren Fall verhöhnte man sie als ideologische Dinosaurier. Spencers große Sorge war, daß staatliche Überregulierung den sozialevolutorischen Fortschritt unterdrücken und so zum Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation führen könnte. Seine rhetorischen Ausfälle gegen jegliche staatliche Hilfen für sozial Schwache erschienen aber zunehmend schrill und näherten sich unschöner Gefühlskälte für reales individuelles Leid (vgl. Greenleaf, 1983b, S. 76-77).

28 Als späterer Vordenker der Labour Partei war Hobson überzeugt von der Notwendigkeit einer verstaatlichten und kollektiver Kontrolle unterworfenen Industrie, gleichwohl sah er in Nischenbereichen noch Platz für Privateigentum und Eigeninitiative. Durch solche Restbestände freiheitlichen Denkens, betont Thompson (1994), unterschied sich sein „liberaler Sozialismus" von den starreren Vorstellungen etwa der Fabianer, die grundsätzlich Produzenten und Konsumenten mißtrauten und die „anarchische und rücksichtslose" (ebd., S. 205) Wettbewerbswirtschaft und -gesellschaft mit einem engmaschigen Netz bürokratischer Kontrollen überziehen wollten.

Spiegel (1999, S. 485) stellt zu Hobsons Theorie fest: „Der ökonomische Faktor als eine Triebkraft der kolonialen Expansion ist stark überschätzt worden verglichen mit solchen Antrieben wie nationales Prestige, dem Gefühl der Mission und militärisch-strategischen Überlegungen." 29

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 39 Im Jahr 1884, als Spencers Buch „Man versus the State" erschien, gründeten das Ehepaar Sidney und Beatrice Webb sowie George Bernhard Shaw in London die Fabian Society.30 Deren Bemühen richtete sich auf eine stufenweise und nicht-revolutionäre Verwirklichung sozialistischer Ideen. Sie beendeten die zuvor in englischen Sozialistenkreisen verbreiteten Träumereien von einem utopischen „New Jerusalem". Statt dessen sollten konkrete Schritte und Maßnahmen erdacht werden, um die bestehende Wirtschafts- und Sozialordnung zunächst nach „wissenschaftlichen" Kriterien zu regulieren. Schließlich sollte das Privateigentum an den Produktionsmitteln enteignet und durch eine weise sozialistische Zentralführung übernommen werden. „Kollektives Eigentum, wo immer praktikabel, kollektive Regulierung überall sonst", lautete die Devise der frühen Fabianer (Webb, 1948/1975, S. 107). Die führende Gestalt der Gesellschaft, Sidney Webb, erklärte in einer Einleitung zu den „Fabian Essays", er sehe „den Weg zu einer großen Steigerung des Bewußtseins von persönlicher Freiheit, einen Blick von endloser Vielfalt, die praktische Chance für eine unendlich variierte Entwicklung menschlicher Persönlichkeit unter dem kompletten und allumfassenden Kollektivismus" (Webb, 1920, S. xx). Auf eine Initiative der Fabianer ging 1895 auch die Gründung der London School of Economics (LSE) zurück, wo nach den Vorstellungen der Webbs künftige sozialistische Verwaltungsfachleute eine sozialwissenschaftliche Ausbildung erhalten sollten. Ironischerweise bildete sich aber an der Wirtschaftsfakultät der LSE ein anti-kollektivistisches Widerstandsnest, zu dem auch Hayek stieß. Die Mitgliedschaft der elitären Fabian Society war niemals groß, doch gehörten ihr im Laufe der Zeit so bekannte Intellektuelle wie Bertrand Rüssel und Hayeks populärer LSE-Widerpart Harold Laski an. Offiziell suchten die Fabianer einen parteineutralen Kurs zu fahren. Mal unterstützten sie reformwillige konservative Politiker, mal liberale Progressive. Die Labour-Partei, deren Programm sie mit der „Clause IV" entschieden auf Verstaatlichungskurs brachten, trat erst 1906 als bevorzugter Bündnispartner hinzu. Davor verfolgten die Fabianer mit wachsendem Erfolg die Taktik, die bestehenden politischen und intellektuellen Zirkel mit ihren Ideen zu infiltrieren. Sie spezialisierten sich dazu auf die Herausgabe kurzer, populär abgefaßter Traktate. 31 Die konkreten Reformentwürfe der Fabianer sickerten in den folgenden Jahrzehnten ins öffentliche Bewußtsein. Sicher übertrieb Sir William Harcourt, ein prominenter Politiker der Liberalen Partei, als er schon 1884, anläßlich der Einführung einer Erbschaftsteuer, stellvertretend für die politische Klasse verkündete: „Wir sind jetzt alle Sozialisten!" Langfristig ging aber die Saat der Fabianer auf. Die Summe der kommenden Reformen lief auf nichts Geringeres als eine stille Revolution hinaus, vollendet nach 1945 mit dem Ausbau eines die Bürger „von der Wiege bis zur Bahre" rundum versorgenden Wohlfahrtsstaates. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten noch mehrfach nominell liberale Politiker die Regierungsgeschäfte, doch näherte sich ihre Politik dem ehemals verpönten Interventionismus an. Die Verdoppelung der Zahl der Wahlberechtigten nach 1867 bewirkte eine massive Verschiebung der politi-

Der Name der Gesellschaft spielt auf den römischen Feldherrn Fabius Maximus, genannt Cunctator an, der durch seine Taktik des verzögerten Angriffs berühmt wurde. Nach seinem Vorbild sollten die Fabianer geduldig auf den Tag warten, da der Sozialismus durch Reformen evolutionär und auf parlamentarischem Wege verwirklicht wird. 31 Die Themen umfaßten eine breite, doch einschlägige Palette wie etwa die Arbeitsbedingungen in Fabriken, Vorschläge zur Verbesserung der Volksgesundheit und für eine produktivere Organisation der Landwirtschaft oder Abhandlungen zu den Vorteilen einer Bodenkollekavierung sowie der Ausgestaltung eines neuen Steuersystems. 30

40 • Wandlungen des Neoliberalismus

sehen Gewichte. Besonders städtische Arbeiter, auf deren Stimmen Disraelis Konzept einer paternalistischen „Tory Democracy" zielte, wurden ein neuer Machtfaktor. Wollte die Liberale Partei ihre Stellung in der entstehenden Massendemokratie wahren, mußte sie größere Aufgeschlossenheit für deren Wünsche zeigen; Ende des neunzehnten Jahrhunderts bildete sie daher eine Allianz mit der Gewerkschaftsbewegung. Sozialpolitiker der liberalen Partei begannen nach deren Wahlsieg von 1906 verstärkt mit großangelegten Wohlfahrtsprogrammen. Dazu zählten die Einführung eines staatlichen Pensionssystems, einer verpflichtenden Sozialversicherung und kostenloser Schulmahlzeiten. Nach und nach wurden die Möglichkeiten der Gewerkschaften zur Erzwingung kollektiver Lohnverhandlungen ausgeweitet, der Trade Disputes Act gewährte ihnen gar eine weitreichende Immunität gegen Schadens- und Haftungsansprüche. Im Gegenzug enthielten sich die etablierten Gewerkschaften offen revolutionärer Agitation, unterstützten weiter das taktische Bündnis mit der liberalen Regierung und unterdrückten sogar anfangs das Aufkommen einer unabhängigen sozialistischen Partei (vgl. Luebbert, 1991, S. 15-27). Unter Asquith und Lloyd George warf die Liberale Partei ihre alten Ideale von Wirtschaftsfreiheit und Minimalstaat über Bord, wogegen sich nur noch schwacher innerparteilicher Protest regte. Angesichts dieser Entwicklung war Beatrice Webb optimistisch. Der neue Liberalismus sei zwar noch nicht „völlig progressiv in seiner Richtung", notierte sie 1906 in ihrem Tagebuch, aber „alle aktiven Kräfte sind Kollektivisten" (Webb, 1948/1975, S. 330-331).

4. Die Abkehr vom „kapitalistischen Ethos" in Amerika Auch in den Vereinigten Staaten zeichnete sich im späten neunzehnten Jahrhundert ein Umschwung ab, der das ursprüngliche kapitalistische Ethos verblassen ließ. Die kulturellen Grundlagen des amerikanischen Kapitalismus lagen, wie Max Webers klassische Religionssoziologie es beschrieb, im Protestantismus. Zu Beginn der Kolonisierung Amerikas durch calvinistisch-puritanische europäische Auswanderer prägten deren Werte von Fleiß, Unternehmertum, Sparsamkeit, Selbstgenügsamkeit und die Ablehnung von Genußsucht das Land. Harte und asketische Arbeit reinige den sündigen Menschen von den weltlichen Verlockungen, so die puritanische Moral. Geschäftlicher Erfolg galt als Belohnung eines gottgefälligen und tugendhaften Lebens (vgl. McClosky/Zaller, 1984, S. 103-111). Teilweise verlor sich die protestantisch-puritanische Komponente des amerikanischen kapitalistischen Ethos im späten neunzehnten und besonders im zwanzigsten Jahrhundert. 32 Trotz eines gewissen Wertewandels wirkte aber der Pioniergeist der Anfangszeit fort. Der von Tocqueville so bezeichnete „individualistische" Charakterzug erhielt sich, ebenso die Betonung von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Unternehmerische Initiative galt als Quelle des Allgemeinwohls, die nicht durch obrigkeitliche Regulierung behindert werden

Das Wirken der kapitalistischen Wirtschaft und Kultur habe die ihr zugrundeliegende protestantische Ethik zerstört, indem sie statt einer verantwortungsvollen eine hedonistische Lebensführung begünstigten, hat Daniel Bell (1976, bes. S. 54-84) argumentiert. Die These eines kulturellen Widerspruchs im Kapitalismus findet sich in ähnlicher Form sowohl bei marxistischen als auch konservativen Autoren wie Panayotis Kondylis (1991), dessen kulturkritische Argumentation eine Verdrängung der bürgerlichen durch eine massendemokratische Lebensform mit der Logik eines ökonomistischen Liberalismus erklärt. 32

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 41

dürfe. Da Amerika mehr soziale Mobilität als die alte, noch immer von aristokratischhierarchischen Schranken geprägte Welt bot, gab es geringeren Anlaß zu Klassenbildung oder Neidgefühlen. Die Gewerkschaftsbewegung war nur schwach organisiert. Populär waren im späteren neunzehnten Jahrhundert sozialdarwinistische Konzepte. So erklärte der Ökonom William Graham Sumner den Aufstieg der neuen Millionäre als Resultat der natürlichen Selektion der Besten. Jeder sollte die Früchte seiner Anstrengung behalten können. Auch sehr große, rasch erworbene Vermögen riefen aus dieser Perspektive nicht Mißgunst, sondern Bewunderung hervor. Bis etwa zur Jahrhundertwende gab es also einen soliden Konsens für freie Märkte und gegen staatliche Interventionen.33 Dann aber drehte sich der ideologische Wind. Eine Welle von industriellen Zusammenschlüssen in den Jahren 1895 bis 1905 säte Mißtrauen gegenüber „Big Business". Die amerikanischen Ökonomen reagierten höchst unterschiedlich auf die sich entwickelnden Formen oligopolistischen Wettbewerbs (vgl. Morgan, 1993). Zunehmend Gehör fanden jedoch diejenigen, die ein neues Zeitalter heraufziehen sahen, wo der Markt nicht mehr zum Nutzen der Bürger operiere, sondern ein Konkurrenzkampf der industriellen Giganten auf dem Rücken der Konsumenten ausgetragen werde. Junge Akademiker waren im späten neunzehnten Jahrhundert nach Europa gegangen und hatten besonders deutsche Universitäten besucht.34 Der dortige sozialreformerische Geist belebte schließlich auch die Diskussionen amerikanischer Ökonomen. Richard T. Ely, ehemaliger Schüler von Karl Knies in Heidelberg und 1895 Mitbegründer der American Economic Association, erklärte zur neuen „ethischen Tendenz" seiner Disziplin: „Diese jüngere politische Ökonomie läßt nicht mehr zu, daß die Wissenschaft als ein Werkzeug in den Händen der Gierigen und der Geizigen gebraucht wird, um die arbeitenden Klassen niederzuhalten und zu unterdrücken. Sie akzeptiert nicht das Laissez-faire als Ausrede fürs Nichtstun, während die Menschen hungern, und ebensowenig, daß der Wettbewerb ausreiche als Entschuldigung, die Armen auszupressen" (zit. n. McClosky/Zaller, 1984, S. 149). Die unternehmerische Freiheit, der im neunzehnten Jahrhundert fast keine Grenzen gesetzt waren, wurde nun Schritt für Schritt beschnitten. Mit dem Interstate Commerce Act zog die Bundesregierung wirtschaftspolitische Kompetenzen an sich. Der Sherman Act von 1890 stellte den ersten Versuch einer wettbewerbspolitischen Regulierung dar, wenngleich das Antitrust-Gesetz in der Praxis nur beschränkt Wirkung entfaltete. Seit dem Sezessionskrieg unterlag der Außenhandel protektionistischen Importzöllen, welche die aufstrebende Industrie des Nordens gefordert hatte. Nach der Jahrhundertwende folgte eine verstärkte gesetzliche Regelung des zwischenstaatlichen Handels, die auf eine bundesstaatliche Unternehmensteuer hinauslief. 1913 wurde mit dem Federal Reserve System eine Art Zentralbank mit zwölf halbautonomen Teilbanken geschaffen. Im selben Jahr billigte der Kongreß nach Diese vorherrschende, klassisch liberale Sicht wurde nur vereinzelt von politischen Außenseiterbewegungen herausgefordert, etwa von der populistischen People's Party des William Jennings Bryan, der während der schweren Depression der neunziger Jahre eine expansive Geldpolitik durch Einfuhrung eines Silberstandards, eine progressive Einkommensteuer, die Verstaatlichung von Eisenbahnen sowie mehr Macht für die Gewerkschaftsbewegungen forderte. Doch die überwältigende Mehrheit der Wähler zeigte solch radikalen Plänen 1 8 9 6 die kalte Schulter. 34 Die dort gelehrte hegelianische Theorie prägte ihr Bild v o m sittlichen Staat als gerechter und überparteilicher Instanz; die antietatistischen Reflexe des originär amerikanischen Individualismus wurden schwächer. Es ist auffällig, wie viele der Begründer der American Economic Association in ihrer Studienzeit Schmoller, Wagner oder andere Größen der deutschen Historischen Schule gehört hatten. 33

42 • Wandlungen des Neoliberalismus fast zwanzig Jahren politischen und juristischen Tauziehens mit dem 16. Amendment eine von Washington zu erhebende Einkommensteuer. Gegen beide Neuerungen gab es noch starken Widerstand (vgl. Higgs, 1987, S. 97-103). 35 Das erste Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in den Vereinigten Staaten als „Progressive Ära" bekannt. Eine Reihe von linksgerichteten Intellektuellen und Publizisten, die sogenannten „muckrackers", kritisierten die bestehenden Verhältnisse. „Die Rhetorik der Sozialdarwinisten, die Kapitalisten wie Andrew Carnegie benutzt hatten, um ihren Reichtum zu rechtfertigen, wurde von den .muckrackers' auf den Kopf gestellt" (Witonski, 1976, S. 123). Der ungehemmte Kapitalismus, klagten die Progressiven, komme allein der Geldgier der „Räuberbarone" entgegen. „Big Business" und die „Trusts" mit ihren unlauteren („cutthroat") Wettbewerbspraküken seien für alle möglichen sozialen und moralischen Verwerfungen verantwortlich. Um den Kapitalismus zu zähmen, empfahlen sie, der freien Wirtschaft staatliche Aufpasser zur Seite zu stellen. Auf Druck der öffentlichen Meinung, angeheizt durch die Publizistik der „muckrackers", wurden ein halbes Dutzend Kommissionen eingesetzt und Gesetze beschlossen, die Handel und Gewerbe regulieren, überwachen und kontrollieren sollten. 36 In dem äußerst einflußreichen Buch „The Promise of American Life" von 1909 kritisierte Herbert Croly die Glaubenssätze des von Jefferson vertretenen individualistischen Liberalismus als veraltet und überholt. Nur eine starke und aktive nationale Regierung, noch mächtiger und zentralistischer als sie einst Alexander Hamilton vorschwebte, könne jetzt Freiheit und Gleichheit der Amerikaner sichern (vgl. Croly, 1909/1965). Das Buch machte einen tiefen Eindruck auf Theodore Roosevelt wie auch Woodrow Wilson. Gemeinsam mit gleichgesinnten „Progressiven", darunter Walter Lippmann und Walter Weyl, hob Croly die Zeitschrift New ~Republic aus der Taufe, die als bedeutendstes Organ der Progressiven bei Meinungsführem und im Weißen Haus zunehmend Beachtung fand. Das Zauberwort der Progressiven Ära lautete „wissenschaftlich": Während die freie Wirtschaft und Gesellschaft nur Wildwuchs produziere, erlaube eine bewußte Lenkung durch „wissenschaftlich" geschulte „Experten" und Bürokraten, die ökonomischen und gesellschaftlichen Energien in geordnete Bahnen zu lenken. Offen planwirtschaftliche Experimente erschienen aber der amerikanischen Öffentlichkeit verdächtig. Zwar hofften die organisierten Arbeiter auf verbesserte materielle Lebensverhältnisse, doch der Sozialismus europäischer Art hatte in Amerika keine Chance. Die Gründe dafür hatte Sombart in einem berühmten Aufsatz erklärt: Zum einen kenne die amerikanische Gesellschaft keine Klassengegensätze, zum anderen werde der Sozialismus als ideologischer Import gesehen, der nicht zum amerikanischen Traum passe (vgl. Sombart,

Kritiker sahen sie durch die neuen zentralstaatlichen Kompetenzen die verfassungsrechtliche garantierte Eigenständigkeit der Staaten verletzt. Hauptmerkmal des amerikanischen politischen Systems war ja der von Alexis de Tocqueville gerühmte, stark föderalistische Aufbau. Politische Vorstöße der Bundesregierung, deren Rechte durch die Verfassung sehr eng definiert waren, stießen oft auf erbitterte Abwehr der Einzelstaaten. 36 Wie literarische Kritik direkt zu gesetzgeberischer Aktivität führen konnte, zeigt das Beispiel von Upton Sinclairs Roman „The Jungle", der den Meat Inspection Act und den Pure Food and Drug Act von 1 9 0 6 anregte. Vereinzelt wurden die Intention und Wirkung dieser Vorschriften hinterfragt. Higgs (1987, S. 1 1 1 - 1 1 2 ) verweist auf Gabriel Kolkos „revisionistische" Studie zum Meat Inspection Act, der zumindest teilweise das Interesse der Fleischverarbeiter an Wettbewerbsunterbindung widerspiegelte. 55

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 43 1906). 37 Im Gefolge der bolschewistischen Revolution in Rußland geriet die kleine American Socialist Party vollends in Verruf. Angesichts dieses verbreiteten Mißtrauens mußte ein neuer Name gefunden werden. Als einem der ersten gelang es John Dewey, dem bekanntesten Vordenker des „Pragmatismus", für seine sozialreformerischen Ideen zur wissenschaftlichen Planung und Steuerung sozialer und ökonomischer Prozesse die Bezeichnung „liberal" zu vereinnahmen. Zuvor hatte Dewey dieselben Ideen mit den Etiketten „progressiv", „korporativ" und „organisch" versehen. 38 Als „Liberale" dieses Schlages publizistisch die Oberhand gewannen, geriet die politische Terminologie im amerikanischen Sprachgebrauch ins Schwimmen. Hatte „liberal" einstmals bürgerliche Unabhängigkeit und individuelle Freiräume bedeutet, so konnten die „Progressiven" den Begriff nun radikal umdeuten. Im zwanzigsten Jahrhundert, so Dewey in „Liberalism and Social Action", seien die freiheitlichen Ziele des Liberalismus nicht mehr mit dem Vertrauen auf Selbstkoordinierung der Märkte zu erreichen, sondern „nur durch das Gegenteil der Mittel, denen der frühe Liberalismus sich verpflichtet fühlte", nämlich durch „organisierte soziale Planung" (Dewey, 1935/1963, S. 54, kursiv im Orig.). 39 Als „liberal" firmierten nun bürokratische Eingriffe zur wirtschaftlichen Lenkung und Planung, staatliche Einkommenskorrektur durch Umverteilung und kollektivistische sozialstaatliche Maßnahmen.

5. Visionen einer geplanten Gesellschaft In Europa gärten bereits viel weitergehende Utopien. Nach Vorstellung einiger Planungsenthusiasten, etwa aus dem Umfeld der Fabian Society, sollte nicht nur die Wirtschaft in staatlicher Regie geführt, sondern die Gesellschaft insgesamt nach „wissenschaftlichen" Kriterien „rational" und „effizient" geplant werden. Verhängnisvoll erwies sich hier eine Verbindung mit darwinistischen Vorstellungen, die mit dem Aufstieg der Biologie zur Leitwissenschaft gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts bei der politischen Rechten wie bei

In seiner Einleitung zu den "Fabian Essays" bedauerte Edward Bellamy (1894, S. xi), der typische Amerikaner sehe einen Sozialisten als „mysteriösen Typ Desperado, von dem man sagt, er verseuche die dunklen Ecken Europas und unternehme mit seinen Gesinnungsgenossen eine so monströse wie vergebliche Verschwörung gegen die Zivilisation und was sie bedeutet". 38 Uber seinen Lehrer und späteren Kollegen George Sylvester Morris an der Universität von Michigan war Dewey mit Hegels Staatsphilosophie vertraut. Als bedeutender Vertreter eines pluralistischen und egalitären Konzepts einer entgrenzten Demokratie und Innovator in der Erziehungswissenschaft zeichnete sich Dewey durch eine seltsame Ambivalenz gegenüber staatlich-bürokratischer Lenkung aus. Einerseits empfand er zeidebens einen Rest liberaler Skrupel, dem Staat die legale Befugnis zur aktiven Lenkung der angeblich freien Bürger zuzugestehen. Deweys Vorstellungen von staatlicher „Erziehung" durch „wissenschaftliche" Administratoren weisen jedoch klar in diese Richtung. Seine Theorie einer teleologisch verstandenen gesellschaftlichen Entwicklung führte ihn zur Überzeugung, die meisten Leute stünden noch auf einer unaufgeklärten, niederen Stufe menschlichen Bewußtseins. „Rechte" verstanden Dewey und seine Anhänger daher nicht mehr in liberaler Weise als Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe, sondern als Zielvorgaben für das erstrebte staatliche „social engineering" (vgl. Gottfried, 1999, S. 55-62 u. 101-102). 37

Das bekannte Buch von Louis Hartz (1955/1991), der die „liberale Tradition" zur einzigen der Vereinigten Staaten erklärte, hat im Bestreben, Kontinuität des Liberalismus über historische Brüche hinweg zu demonstrieren, gegensätzliche weltanschauliche Positionen bis zur Unkenntlichkeit verwischt. 39

44 • Wandlungen des Neoliberalismus der Linken weite Akzeptanz fanden. 40 Sozialistische Intellektuelle adaptierten sie und konstruierten eine Analogie zwischen dem individuellen Kampf um das Dasein und dem kollektiven Kampf verschiedener Klassen. Aus diesem müsse die revolutionäre Arbeitsbewegung aufgrund ihres überlegenen Zusammenhaltes siegreich hervorgehen (vgl. Schwartz, 1994, S. 552-553). Freilich mußte verhindert werden, so ein gängiger Topos sozialistischer Diskurse, daß sozial schlecht integrierbare Elemente mit mangelndem Klassenbewußtsein, die Marx als „Lumpenproletariat" bezeichnet hatte, in der Arbeiterschaft überhand nahmen. Von hier war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts der Schritt zu Forderungen nach einer staatlichen Geburtenplanung und Eugenik nicht mehr weit (vgl. ebd., S. 555-569). Während die Sozialdemokratie, etwa Karl Kautsky in seinen bio-politischen Schriften, auf freiwillige Geburtenkontrolle oder Sterilisation von Straftätern setzte, gab es bald auch radikalere Vorschläge zur Eindämmung des Wachstums jener Bevölkerungsteile, die als „minderwertig" klassifiziert wurden. Die frühen sozialistischen Eugeniker teilten die Befürchtungen bürgerlicher Sozialdarwinisten vor einer negativen Selektion, falls das Bevölkerungswachstum nicht rational gesteuert würde. Zeichen der Degeneration des Sozialverhaltens wie auch des Erbgutes in den Unterschichten seien vermehrtes Auftauchen von Geisteskrankheiten, Alkoholismus und moralischer Haltlosigkeit. In England fanden sich solche Ideen auch in der Fabian Society. Der Mathematiker Karl Pearson, neben den Webbs und Shaw eines der führenden Mitglieder der Gesellschaft und ab 1911 erster Lehrstuhlinhaber für Eugenik an der Universität London, hielt angesichts der Fortschritte von Medizin und Hygiene eine durchgreifende eugenische Politik für notwendig (vgl. Weißmann, 1998, S. 123-124). Der sozial engagierte Staat müsse die Kontrolle über das generative Verhalten der Bürger ergreifen — eine Vision, die später Aldous Huxley in „Brave New World" verarbeitete. Daß der planende sozialistische Staat nicht bloß die Chance habe, die ökonomischen, sondern auch die biologischen Grundlagen der Gesellschaft zu optimieren, war unter den frühen sozialistischen Anhängern der Eugenik unumstritten. H. G. Wells etwa verglich die Aufgabe mit der eines Gärtners, der sich einen rationalen Plan mache, „wie man einen Garten entwirft und anlegt, damit darin süße und angenehme Dinge wachsen können ... und Unkraut und Fäulnis verschwinden" (zit. n. Schwartz, 1994, S. 562). Auf die menschliche Gemeinschaft übertragen bedeutete dies eine zentrale Steuerung der Fortpflanzung, die um so wichtiger würde, je besser der Staat als Wohlfahrtsagentur die Fürsorge um die soziale Lage der Menschen garantiere und damit den Druck der natürlichen Auslese neutralisiere. 41 Eine staatliche Reproduktionskontrolle erschien damit als notwendiges Komplement der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung. „Nicht der Sozialismus würde den ,neuen Menschen'

40 Obwohl die darwinistische Lehre von der Auslese der Stärksten zunächst von Sozialdarwinisten als stützendes Argument für die Notwendigkeit eines freien marktwirtschaftlichen Wettbewerbs und damit gegen den Sozialismus interpretiert wurde, konnte sie auch gegen die bestehende liberale Gesellschaftsordnung gerichtet werden, indem nicht mehr Individuen, sondern Kollektive — entweder Rassen oder Klassen — als Subjekte der Evolution verstanden wurden. 41 So erklärte der SPD-Chefideologe Karl Kautsky in seiner Studie „Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft", „daß die zunehmende Ausschaltung des Kampfes ums Dasein, die wachsende Möglichkeit auch für die Schwächlichen und Kränklichen, sich zu erhalten und fortzupflanzen" nach einem Eingreifen des Staates als „Regulator" der Fortpflanzung rufe (Kautsky, 1910, S. 261-263).

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 45

schaffen", lautete im logischen Extrem die Botschaft, „sondern die Eugenik müsse die sozialismusfähigen ,neuen Menschen' erst einmal herbeiselektieren" (ebd., S. 565). Derartige eugenische Visionen verfingen sowohl bei linken Klassentheoretikern wie auch bei rechten Rassentheoretikern, die sich von den spekulativen Schriften des französischen Grafen Arthur de Gobineau inspirieren ließen. 42 Schon im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert kamen an den Rändern des politischen Spektrums erstmals Ansätze eines integralen, völkischen Nationalismus mit sozialistischen Zusätzen auf. 43 Beiden Ideologien, dem Sozialismus wie dem aufkommenden Nationalsozialismus, lag der gleiche Zielgedanke zugrunde: die zentrale Planung und Steuerung aller jener wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abläufe, welche die bürgerliche und liberale Gesellschaft den ungeplanten Kräften des Wettbewerbs und der privaten Entscheidung überlassen hatte. Um die Jahrhundertwende beschleunigte sich der geistige Klimawandel. Immer mehr Intellektuelle von den linken und rechten Rändern des politischen Spektrums forderten und begrüßten die Abkehr vom bürgerlichen Liberalismus als der Geisteshaltung der Schwäche und Dekadenz. Die verstörende Philosophie Nietzsches hatte weit über Deutschland hinaus gewirkt. Hatten die einst vorherrschenden liberalen Kreise einen grundsätzlichen Optimismus bezüglich der Selbstordnungsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft gezeigt, so wurden nun Macht und Kontrolle verherrlicht. Auch ein liberaler Denker wie Vilfredo Pareto sah in seinen späten soziologischen Schriften die bürgerliche, individualistische Gesellschaft im Verfall begriffen; die Zukunft gehöre den aktiven, kämpferischen Gruppen der Kollektivkräfte, meinte er. Werner Sombart stellte dem Typus des kosmopolitischen „Händlers", verkörpert durch die Briten, den unbestechlichen Typus des kriegerischen „Helden", verkörpert durch die Deutschen, entgegen (vgl. Sombart, 1915). Das im frühen neunzehnten Jahrhundert als Völkerfrühling begonnene nationale Erwachen wandelte sich in aggressive, nationalistische Feindschaft. Das Leiden an der verweichlichten spätliberalen Zivilisation versetzte Teile der Intelligenz und der Jugend in große Unruhe. Eine „Generation von 1914" suchte nach Härte und Konfrontation, um der Langeweile des bürgerlichen Lebens zu entkommen. So wurde der Ausbruch des Ersten Weltkriegs von nicht wenigen als das erlösende, „reinigende Feuer" geradezu herbeigesehnt (vgl. dazu Wohl, 1979).

Während das mörderische Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten, das an die 100.000 Menschen das Leben kostete, weitbekannt ist, sind eugenische Ansätze im sozialistischen Skandinavien heute eher vergessen (vgl. dazu die Aufsätze in Broberg/Roll-Hansen, 1996). In Schweden etwa gab es, gefördert von Gunnar Dahlberg und seinem Parteifreund Gunnar Myrdal, ab Mitte der dreißiger bis in die siebziger Jahre auf gesetzlicher Grundlage mehr als 60.000 Zwangssterilisierungen aus sozial- und rassenhygienischen Gründen. Betroffen waren Geisteskranke, Zigeuner und andere Gruppen, die nicht ins sozial-kollektive „Volksheim" paßten; letztlich war es ein „Nazismus mit umgekehrtem Gedankengang" (Altenbockum, 1997). 42

Die frühen Vordenker eines National-Sozialismus verknüpften dabei Elemente der Ideologien der extremen Rechten mit solchen der extremen Linken und bildeten ein neuartiges weltanschauliches Amalgam. Als intellektuelle Grenzgänger schlugen sie die Brücke vom Sozialdarwinismus zum kollektiven Rassenkampf, dessen Vorbereitung eine zentrale Planung und Organisation von Volk und Wirtschaft erfordere. Um in der zu erwartenden kriegerischen Auseinandersetzung der Volkskollektive im K a m p f der Staaten um Ressourcen und Absatzmärkte bestehen zu können, so die Überlegung, sei es notwendig, die Massen systematisch zusammenfassen und ihre militärisch-wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch eine als rational angesehene, zentrale Führung zu steigern (vgl. Weißmann, 1998, S. 110-112). 43

46 • Wandlungen des Neoliberalismus

6. Der Krieg 1914 bis 1918 - Ende des alten Liberalismus Gemessen am Völkergemetzel zwischen 1914 und 1918 hatte Europa in den hundert Jahren zuvor nur vergleichsweise harmlose Kriege erlebt. Die militärischen Auseinandersetzungen der liberalen Ära, nach den napoleonischen Kriegen, waren relativ begrenzt gewesen. Im Ersten Weltkrieg forderte nun die „totale" Kriegsführung, alle verfügbaren ökonomischen und sozialen Reserven zu mobilisieren. Hatten frühere militärische Konflikte den Lauf des Wirtschaftslebens nur mäßig verzerrt, setzte die Kriegswirtschaft ab August 1914 erstmals die Marktgesetze weitgehend außer Kraft. Ein straffer staatlicher Dirigismus wurde erprobt, der Rohstoffe zuteilte, Konsumgüter quotierte, Preise festsetzte und die gesamte Volkswirtschaft auf ein einziges Ziel, den militärischen Sieg, ausrichtete. Wichtige Industrien und Versorgungsbetriebe sowie Transport- und Kommunikationssysteme wurden verstaatlicht, strategische Ressourcen zentral bewirtschaftet und die Masse der Bürger in den Dienst des Krieges gestellt, sei es als Wehrpflichtige oder als Zuarbeiter der Rüstungsindustrie. Der Krieg, so der deutsche Volkswirt Gustav Stolper rückblickend, habe „zum ersten Mal in der Geschichte das nationale Wirtschaftsleben in all seinen Zweigen und Aktivitäten zur Unterstützung und zum Dienst für die staatliche Politik gebracht - es tatsächlich dem Staat unterstellt". Nicht mehr Angebot und Nachfrage, sondern „das diktatorische Fiat des Staates bestimmte die wirtschaftlichen Beziehungen - Produktion, Verbrauch, Löhne, Lebenshaltungskosten". Weiter schrieb Stolper: „Der Staat wurde zeitweilig der absolute Herrscher unseres wirtschaftlichen Lebens, und während er die gesamte wirtschaftliche Organisation seinen militärischen Zielen unterordnete, übernahm er zugleich die Verantwortung für das Wohlergehen des einfachsten seiner Bürger, garantierte ihm ein Minimum an Essen, Kleidung, Wärme und Wohnung" (Stolper, 1934, S. 165-166). Das Ausmaß der von der III. Obersten Heeresleitung von General Hindenburg intensivierten „kriegssozialistischen" Lenkung beeindruckte und inspirierte künftige Diktatoren von Lenin bis Hitler, die beide den Krieg und seine Folgen politisch zu nutzen verstanden. Hindenburgs rechte Hand Erich Ludendorff war es, der in den zwanziger Jahren den Begriff des „totalen Krieges" popularisierte. In seinen Kriegserinnerungen schwärmte er von der Durchdringung des zivilen Lebens durch das militärische: „Wehrmacht und Volk waren eins", behauptet er über die kollektive deutsche Kriegsanstrengung (zit. n. Herbst, 1982, S. 35). Nicht nur im wilhelminischen Reich, überall in Europa nahm der Grad zentraler, staatlicher Kontrolle über das wirtschaftliche wie auch das gesellschaftliche Leben im Krieg dramatisch zu.44 Über die englische Vorkriegszeit, die Ära des liberalen Minimalstaats, schrieb A. J . P. Tailor: „Bis zum August 1914 konnte ein vernünftiger, gesetzestreuer Engländer sein Leben führen und die Existenz des Staates kaum wahrnehmen, vom Postamt und vom Polizisten abgesehen." Tailors Urteil über die Konsequenzen des „Großen Krieges" hatte Gültigkeit für alle beteiligten Staaten: „Die Masse der Leute wurde, zum ersten Mal, zu aktiven Bürgern. Ihr Leben wurde durch Befehle von oben geformt: Sie mußte dem Staat dienen, anstatt ausschließlich ihren eigenen Geschäften nachzugehen" (Taylor, 1965, S. 1-2). Viele waren aber begeistert von den neuen Möglichkeiten. William Beveridge, der später die Pläne des

Selbst für die Vereinigten Staaten, die erst spät und mit vergleichsweise wenigen Soldaten eingriffen, bedeutete der Erste Weltkrieg einen Dammbruch für das Anwachsen der Staatsmacht (vgl. dazu Higgs, 1987, S. 123-158).

44

Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus • 47 britischen Wohlfahrtsstaats entwarf, sinnierte 1920 über die bereichernde Erfahrung des Weltkrieges: „Wir haben ... praktische Entdeckungen zur Kunst des Regierens gemacht, die beinahe vergleichbar sind mit den zur gleichen Zeit gemachten immensen Entdeckungen in der Kunst des Fliegens" (Beveridge, 1920, S. 5). In vieler Hinsicht bedeutete der Erste Weltkrieg einen Dammbruch, indem die Ausrufung des nationalen Notstands zuvor bestehende Hindernisse gegen eine übermäßige Ausweitung staatlicher Eingriffe und staatlicher Kontrollen hinwegfegte. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs versank die von Stefan Zweig gerühmte „Welt von Gestern", das von ihm verklärte „goldene Zeitalter der Sicherheit" (Zweig, 1942/1994, S. 17). Auch viele Neoliberale behielten nostalgische Erinnerungen an die Vorkriegszeit. Hayek war der Überzeugung, daß „nur diejenigen, die sich noch an die Zeit vor 1914 erinnern können, wissen, wie eine liberale Welt ausgesehen hat" (Hayek, 1944/1971, S. 30). Die Propheten des sozialen Fortschritts taten solche Einwände als anachronistisch ab. Beatrice Webb notierte kurz nach Kriegsausbruch 1914 freudig ihre Beobachtung einer „Zunahme von Gemeinschaftsgefühl und kollektiver Handlung in jeder Hinsicht", 1916 aber schrieb sie mit Blick auf all die kriegsbedingten Kontrollen von einem dämmernden „Servile State" (zit. n. Greenleaf, 1983a, S. 60). Nicht nur war der Krieg eine kollektive Anstrengung, auch die Folgen des Krieges sollten kollektiv getragen werden. Millionen von Invaliden, Witwen und Waisen verlangten Fürsorge. Nur ein Teil der im Krieg verstaatlichten oder staatlich verwalteten Wirtschaftsbereiche wurde wieder in die Selbständigkeit endassen. Das Ende der Feindseligkeiten brachte damit nicht die Rückkehr zur alten Ordnung. Ob dies überhaupt wünschenswert sei, fragten viele, denen die Leistungen des „Kriegssozialismus" imponierten. Die Kriegsmaschinerie hatte scheinbar gezeigt, wie effizient die zentrale, administrative Lenkung von Produktionsfaktoren sein konnte. Manchem Planungsenthusiasten war der Friede 1918 daher zu früh gekommen. Rexford Tugwell, später einer der Vordenker des amerikanischen New Deal, bedauerte 1927, der Waffenstillstand habe „ein großes Experiment einer Kontrolle der Produktion, einer Kontrolle der Preise und einer Kontrolle des Konsums zum Halten gebracht" (zit. n. Ekirch, 1969, S. 114). Der Weltkrieg zerbrach die alten Formen der bürgerlichen Gesellschaft. Zugleich war er Treibsatz für das Wachstum des Staates, das sich an verschiedenen Indikatoren belegen läßt, etwa am Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt (BSP). Betrug dieser vor 1914 in keinem europäischen Land mehr als etwa ein Zehntel, so stieg er bis 1918 sprunghaft auf etwa ein Fünftel, sank danach nur kurzzeitig, um in der Wirtschaftsdepression und während des Zweiten Weltkriegs ungekannte Höchststände zu erreichen. Die Zahlen für Großbritannien, ein Land mit zuvor denkbar schlanker Regierung, stehen exemplarisch für die dramatische Veränderung: Von 1870 bis 1890 lag die Staatsquote noch bei 9 Prozent, stieg dann bis 1910 auf 13 Prozent. Der Erste Weltkrieg brachte eine glatte Verdoppelung auf 26 Prozent, der Zweite Weltkrieg einen weiteren Schub auf Spitzenwerte von mehr als 60 Prozent. Mit der Demobilisierung und der Umstellung auf die Friedenswirtschaft nach 1945 fiel die Staatsquote zwar wieder, blieb aber mit rund 40 Prozent in den fünfziger und sechziger Jahren deutlich über dem Vorkriegsniveau (vgl. Greenleaf, 1983a, S. 33).

48 • Wandlungen des Neoliberalismus Aus klassisch liberaler Sicht begann im zwanzigsten Jahrhundert ein gefährliches Vordringen des Staates in weite Teile des Wirtschaftslebens und der Zivilgesellschaft. Unvermeidlich sei damit ein Verlust an persönlicher Unabhängigkeit und Freiheit verbunden, hatte Hilaire Belloc bereits 1912 in seinem Buch „The Servile State" gewarnt. Auch die kritischen Anmerkungen Max Webers zur fortschreitenden Bürokratisierung und Nationalisierung des Lebens gingen in diese Richtung. Er warnte vor einem „Gehäuse der neuen Hörigkeit", das die Reste individueller Freiheit beschneide (Weber, 1924, S. 419-424). Dreißig Jahre später schrieb Hayek eine populäre Streitschrift gegen diese Tendenz, „The Road to Serfdom". Das Buch brachte ihm 1944/1945 internationalen Ruhm, der aber nur kurz währte. Dauerhafte Bedeutung erlangte es als Manifest der entstehenden neoliberalen Bewegung, deren intellektuelles Zentrum die Mont Pèlerin Society wurde.

II. Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung Hatte der Erste Weltkrieg den Zusammenbruch der liberalen Ordnung gebracht, so begann in der Zwischenkriegszeit, was Walter Eucken das „Zeitalter der Experimente" nannte. In Rußland, in Europa, schließlich auch in Amerika waren wirtschaftspolitische Konzepte auf dem Vormarsch, die den selbstregulierten Markt und die freie Gesellschaft durch politische Führung und Planung zu ersetzen trachteten. Zollbarrieren und Handelsabschottung führten zu beschleunigter Desintegration, schließlich kollabierte die Weltwirtschaft in der Großen Depression und zerfiel in feindliche Handelsblöcke. Das folgende Kapitel stellt dar, wie die verbliebenen Liberalen der Schulen von Wien, London, Freiburg und Chicago auf diese Herausforderungen reagierten. Ludwig von Mises veröffentlichte schon 1920 eine fundamentale Widerlegung des Sozialismus. Sie machte ihn weithin bekannt und stieß eine über mehrere Jahrzehnte dauernde Debatte zwischen Anhängern und Gegnern der zentralen Planwirtschaft an. Das Privatseminar, das er in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren in Wien leitete, wurde zur Keimzelle der jüngeren Osterreichischen Schule, deren Mitglieder in den dreißiger Jahren in angelsächsische Länder emigrierten und später eine führende Stellung in der MPS einnahmen. Hayek selbst ging schon 1931 nach London an die LSE, wo die Schüler von Edwin Cannan eine starke Stellung aufgebaut hatten. Diese sahen die Funktionsweise der Märkte bereits schwer beschädigt und entwickelten ansatzweise eine neue Sicht des wirtschaftlichen Liberalismus. Während der Großen Depression sank das Ansehen der wirtschaftliberalen Theorie vom selbstregulativen Marktmechanismus auf einen absoluten Tiefpunkt. Das folgende Kapitel untersucht, welche Gründe liberale Ökonomen für die Katastrophe ausmachten. Mises und Hayek betonten gemäß ihrer Konjunkturtheorie vor allem monetäre Ursachen: Ein von den Zentralbanken zu niedrig gedrückter Zinssatz habe zu einer Aufblähung der Investitionen und damit zu einer Verzerrung der Preis- und Produktionsstruktur geführt, was nun in der Rezession korrigiert werde. Ganz anders deutete später Milton Friedman die Geldpolitik, die zur Weltwirtschaftskrise führte. Statt einer übermäßigen Expansion machte er eine abrupte Kontraktion durch die amerikanische Federal Reserve zu Anfang der dreißiger Jahre aus, die eine Bankenkrise heraufbeschworen habe. Als verschärfende Faktoren der Krise sahen liberale Ökonomen die mangelnde Flexibilität von Preisen und Löhnen, bedingt durch Kartellierung der Industrie, die Stärke der Gewerkschaften und staatliche Interventionen. Daraus resultierten zunehmende Rigiditäten, die eine Anpassung der Märkte und einen Abbau der Massenarbeitslosigkeit verzögerten. Solche Ansichten fanden aber immer weniger Gehör, je länger sich die Depression hinzog. Keynes postulierte in seiner „General Theory", der Markt tendiere ohne staatliche Eingriffe zu permanenter Unterbeschäftigung. Seine Analyse einer immanenten Instabilität und Krisenanfälligkeit der Marktwirtschaft aufgrund fehlender effektiver Nachfrage sowie seine daraus folgende Empfehlung, die öffentliche Hand sollte durch „demand management" die Konjunktur stimulieren, wurden begierig aufgenommen. Einige Staaten, wie das nationalsozialistische Deutschland oder das sozialdemokratische Schweden, hatten mit öffentlichen Investitionsprojekten scheinbar große Erfolge zu verzeichnen, was der keynesianischen Theorie zusätzliche Plausibilität verlieh. Wenn auch die deutsche oder schwedische Erholung nach 1933 auf anderen Faktoren beruhte, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, gerieten

50 • Wandlungen des Neoliberalismus doch Keynes' wichtigste Kritiker, zu denen Hayek gehörte, immer mehr ins Abseits. Allenthalben verstärkte sich in der Politik und der Wissenschaft als Reaktion auf die Depression eine Abneigung gegen den als chaotisch empfundenen Markt sowie ein neuer Wille zu staatlicher Intervention und Planung, während die verbliebenen liberalen Ökonomen um Erklärungen der Krise und des behaupteten Versagens des Marktes rangen. Besondere Aufmerksamkeit verdient hierbei die Position der deutschen Liberalen wie Röpke oder Albert Hahn, die sich schon in den zwanziger Jahren mit konjunkturtheoretischen Arbeiten hervorgetan hatten. Angesichts des dramatischen ökonomischen Einbruchs im Jahr 1930 plädierte Röpke für eine staatliche „Initialzündung", um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Diese Empfehlung bezog er jedoch nur auf die außergewöhnliche Situation der durch eine Abwärtsspirale gekennzeichneten „sekundären Krise", ansonsten riet er zu äußerster Vorsicht bei staatlichen Interventionen. Die Freiburger Schule um Walter Eucken erkannte als das eigentliche strukturelle Problem der deutschen Wirtschaft die Erstarrung des Marktmechanismus aufgrund mangelnder Lohn- und Preisflexibilität, verursacht durch Kartelle auf den Arbeits- und Gütermärkten. Mit ihren Arbeiten zur Wirtschaftsordnung hoben sich die Freiburger vom älteren liberalen Optimismus bezüglich der Selbsterhaltungskraft der Märkte ab. Statt eines Laissez-faire plädierten sie daher für eine aktive Politik zur Erhaltung und Stärkung des Wettbewerbs. Zu untersuchen ist, was Eucken und Alexander Rüstow als „starken Staat" ansahen und wie sie „liberale Interventionen" definierten. Einige bedeutende Modifikationen am historischen Liberalismus nahmen auch die Vertreter der Chicagoer Wirtschaftsfakultät wie Frank Knight und besonders Henry Simons, wie die Analyse seines „Positive Program for Laissez faire" zeigt. So waren die Reaktionen der verbliebenen liberalen Denker der Schulen von Wien, London, Freiburg und Chicago auf die antiliberalen Tendenzen höchst unterschiedlich. Sie schwankten zwischen trotzigem Beharren auf grundlegenden Prinzipien der klassischen Wirtschaftstheorie - vor allem der dezentral koordinierenden und regulierenden Wirkung des Preismechanismus — und einer Revision der früheren Haltung des Laissez-faire. Wichtigstes Element war dabei die Neudefinition der Rolle des Staates als Wettbewerbshüter. Die (neo-)liberale Selbstfindung hatte begonnen; sie erschien um so dringlicher, je stärker die kollektivistischen Kräfte wurden.

1. Zur Wirtschaftsrechnung im Sozialismus Mit der Oktoberrevolution von 1917 eroberten die Bolschewisten in Rußland die Macht. Ihr Ziel war ein kommunistisches Wirtschaftssystem, doch dessen Verwirklichung stellte sie vor ungeahnte Probleme. Marx hatte wortreich sein Todesurteil über den Kapitalismus gesprochen, doch zur Form seines Gegenentwurfs geschwiegen. „'Das Kapital' ist das ,Doomsday Buch' des Kapitalismus, und im gesamten Marx gibt es fast nichts, das über den Tag des Gerichts hinausschaut, um zu zeigen, was die Zukunft bringen mag" (Heilbronner, 1999, S. 162). Lediglich in „Die deutsche Ideologie" gab der junge Marx einen wunderlichen Einblick ins kommende kommunistische Paradies: Der nicht länger entfremdete Mensch dürfe dort morgens jagen, mittags fischen und abends philosophieren, so das Versprechen.

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 51

Wie dieser verheißungsvolle Zustand realisiert werden und sich als konkrete Ordnung bewähren sollte, blieb bei Marx ungesagt. Seine Anklage gegen den unweigerlich dem Abgrund zusteuernden Kapitalismus, dessen dezentrale Koordinierung anarchisch und chaotisch sei, ließ aber im Umkehrschluß die Vision einer perfekten, weil zentral und rational geplanten Gesellschaft als Erlösungsutopie aufleuchten (vgl. Lavoie, 1985, S. 28-47). Gerade die Unbestimmtheit dieser Vision verschaffte ihr im politischen Kampf der Ideen zunächst einen unschätzbaren Vorteil. Den greifbaren Problemen der unvollkommenen marktwirtschaftlichen Realität stellten die Marxisten eine vollkommene Utopie gegenüber. Als ideologisches utopisches Konstrukt, so bemerkte Emile Dürkheim in „Le Socialisme", biete die sozialistische Planwirtschaft kaum Angriffsflächen für ihre Gegner (vgl. Dürkheim, 1928). Lenin hatte bekanntlich zunächst sehr schlichte Vorstellungen von der Komplexität ökonomischer Zusammenhänge. So erklärte er im Ernst, man könne ganze Volkswirtschaften „wie ein Postamt" leiten. In „Staat und Revolution", geschrieben kurz vor der Revolution in Petrograd, erklärte er: „Rechnungsführung und Kontrolle - das ist das Wichtigste, was zum 'Ingangsetzen', zum richtigen Funktionieren der kommunistischen Gesellschaft in ihrer ersten Phase erforderlich ist." Alle Bürger würden Angestellte und Arbeiter eines das gesamte Volk umfassenden Staatssyndikats. Ihre Arbeit sei leicht zu überprüfen, denn „die Rechnungsführung und Kontrolle darüber ist durch den Kapitalismus bis zum äußersten vereinfacht, in außergewöhnlich einfache Operationen verwandelt worden, die zu verrichten jeder des Lesens und Schreibens Kundige imstande ist, er braucht nur zu beaufsichtigen und zu notieren, es genügt, daß er die vier Grundrechenarten beherrscht und entsprechende Quittungen ausstellen kann" (Lenin, 1918/1967, S. 107). Nachdem die Bolschewiken die Macht an sich gerissen hatten, stellte sich die zentrale wirtschaftliche Lenkung des Riesenreiches doch etwas schwieriger dar, als zunächst gedacht (vgl. dazu Boettcke, 1990). Lenin bat seine Berater, einen groben Wirtschaftsplan aufzustellen. Die Bolschewiken schafften das Privateigentum an Grund und Boden ab, verstaatlichten Industrie, Banken und Versicherungen und setzten auch die meisten kleineren Unternehmen unter strenge bürokratische Aufsicht. Große Teile der bürgerlichen Intelligenz, der Klerus sowie Unternehmer, Gewerbetreibende und „Kulaken" genannte Bauern wurden als „Volksfeinde" diffamiert, systematisch verfolgt und entrechtet (vgl. Werth, 1998, S. 67-123). Als die Wirtschaft als Folge der Kollektivierung kollabierte und sich die Versorgungslage dramatisch zuspitzte, vollzog Lenin eine gewisse Kehrtwende. Ab März 1921 machte das Regime unter dem Motto der „Neuen Ökonomischen Politik" die Verstaatlichungen und Konfiskationen teilweise rückgängig, lockerte die Planungszügel und kehrte partiell zu Formen der marktwirtschaftlichen Koordination der Produktion zurück (vgl. Richman, 1981). Im restlichen Europa vernahm man ungläubig die Berichte über den Fortgang der bolschewistischen Revolution. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der linken westlichen Intelligenz war fasziniert von der Kühnheit, mit der Lenin das kapitalistische System beseitigte. Erstmals konnte der Sozialismus, der zuvor nur abstrakt, „wissenschaftlich" debattiert wurde, in einem großen Land in der Praxis erprobt werden. Seine Überlegenheit würde sich unfehlbar erweisen, waren die sozialistischen Intellektuellen überzeugt. Die Klagen von Emigranten wurden abgetan. Verfolgung und Not galten als unvermeidliche Geburtswehen des Werdens der neuen sozialistischen Ordnung. Auch ein Übergreifen der Revolution auf Westeuropa

52 • Wandlungen des Neoliberalismus

schien nicht ausgeschlossen. In Ungarn stürzten Kommunisten die Regierung, in Bayern wurde eine kurzlebige Räterepublik ausgerufen. In Wien, das ebenfalls Straßenkämpfe erlebte, verfolgte Ludwig von Mises die Entwicklung mit Sorge und Abscheu. Der 1881 geborene Ökonom, der bei Böhm-Bawerk studiert hatte und in starkem Maße von Mengers subjektivistischer Werdehre geprägt war, arbeitete seit 1909 bei der Osterreichischen Handelskammer und lehrte daneben als Privatdozent an der Universität Wien. Er stand in Kontakt auch mit wichtigen marxistischen Politikern wie Otto Bauer, die er auf seine, die liberale Seite zu ziehen versuchte.' Resigniert stellte er jedoch bald fest: „Sozialismus ist die Losung unserer Tage. Die sozialistische Idee beherrscht heute die Geister. Ihr hängen die Massen an, sie erfüllt das Denken und Empfinden aller, sie gibt der Zeit ihren Stil. Die Geschichte wird über den Abschnitt, in dem sie von uns berichtet, die Worte setzen: das Zeitalter des Sozialismus", schrieb Mises in der Einleitung seiner Studie „Die Gemeinwirtschaft: Untersuchungen über den Sozialismus" (Mises, 1922/1981, S. 1). Darin enthalten war auch ein Abschnitt mit Überlegungen, die er zwei Jahre zuvor in seinem Artikel „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen" vorgelegt hatte. 2 Im Unterschied zu früheren Kritikern, die einwandten, nach Abschaffung von Privateigentum und privaten Gewinnen bestünde im Sozialismus kein ausreichender Anreiz zu Leistung und Arbeit mehr, wählte Mises einen völlig neuen Angriffspunkt: Die sozialistische Planwirtschaft müsse scheitern, weil es ihr an der Möglichkeit zu einer rationalen Wirtschaftsrechnung fehle (ebd., S. 110-111). Mangels echter, am Markt gebildeter Preise, welche die relative Knappheit verschiedener Güter anzeigen, so Mises, fehle der sozialistischen Zentralbehörde die entscheidende Orientierungshilfe zur Allokation von Ressourcen. Ohne die Signalwirkung von Gewinnen und Verlusten sei es den Produzenten unmöglich, zwischen der Vielzahl möglicher Produkte und unterschiedlicher Produktionsweisen die richtigen zu wählen. Entgegen den oft gehörten Vorwürfen, die Marktwirtschaft sei anonym und beherrsche die Massen, betonte Mises deren Charakter als eine „Verbraucherdemokratie", wo die Konsumenten souverän regierten und die Produzenten ihren Wünschen dienten (ebd. S. 412). Dagegen müsse die zentrale sozialistische Planungsbehörde am Bedarf vorbeiplanen, da sie den Konsumenten nicht gestatte, ihre Wünsche durch Kaufentscheidungen frei zu äußern. Mises' Urteil über den Sozialismus war vernichtend: Der Planer tappe im Dunkeln und verfehle sein selbstgestecktes Ziel. Der Angriff zielte auf das Herzstück sozialistischer Verheißungen, das Versprechen größerer wirtschaftlicher Effizienz, wenn die als chaotisch verworfenen Marktkräfte ausgeschaltet würden. Offenbar traf Mises' Logik einen wunden Punkt, denn um das Problem der Wirtschaftsrechnung im Sozialismus entbrannte eine hitzige Debatte. Linksgerichtete Ökonomen wie Fred M. Taylor und Henry D. Dickinson, später Oskar Lange und Abba P. Lerner eilten herbei, um Mises kühnen Angriff auf das sozia1 Mises behauptete in seinen 1940 vollendeten „Erinnerungen", er sei es gewesen, der das Ehepaar Bauer in nächtelangen Unterredungen im Winter 1918/1919 davon überzeugen konnte, nicht die Revolution in Wien auszurufen (vgl. Mises, 1978, S. 12-13 u. 49). 2 Nach Hayek fühlte sich Mises zu diesem Aufsatz von der Schrift „Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft" des Sozialisten Otto Neurath, eines führenden Vertreters des „positivistischen" Kreises, provoziert. Zu Neurath, der auch in der bayerischen Räterepublik tätig war, vgl. Caldwell (2004, S. 113-115); zum „Wiener Kreis", den Mises und Hayek zeitlebens heftig ablehnten, vgl. Nordmann (2005, S. 76-87).

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 53 listische Theoriegebäude abzuwehren. Die von Mises aufgeworfene Frage nach der rationalen Grundlage von Planung ohne Marktpreise wurde nun als Problem anerkannt. Dabei gestanden die meisten sozialistischen Teilnehmer der Debatte ein, daß die alte Arbeitswertlehre angesichts der Heterogenität der Arbeitsleistung unbrauchbar war. Sie gaben zu, daß Mises' Hinweis auf die Unmöglichkeit rationaler Planung mangels echter Knappheitspreise ein origineller Einwand sei und eine reale Schwäche der bisherigen Theorie der zentralen Planwirtschaft anspreche. 3 Zur Bewältigung des Kalkulationsproblems boten sozialistische Ökonomen nun zwei Ansätze an: eine mathematische und eine „wettbewerbliche" Lösung. Im Rückgriff auf die Studie „II ministro della produzione nello stato collettivista" von Enrico Barone (1908) behaupteten sie, wissenschaftliche und statistische Fortschritte würden es bald erlauben, das gesamte Wirtschaftsleben in ein gigantisches Gleichungssystem zu fassen, welches die Präferenzen der Konsumenten, die alternativen Produktionstechnologien und die verfügbaren Ressourcen abbilde. Barones Aufsatz war noch von Zweifeln geprägt, ob die zentrale Planung angesichts der Komplexität der arbeitsteiligen Wirtschaft wirklich gut funktionieren könne. Spätere Sozialisten wie Taylor und Dickinson glaubten, die enorme Datenmenge könne erfaßt und verarbeitet werden. Damit die staatlich errechneten Preise den „Gleichgewichtspreisen" noch näher kämen, schlugen sie einen kontinuierlichen administrativen Korrekturprozeß (trial and error) zwischen Planungsbehörde und Betrieben vor, wobei sich die Preise auf einem markträumenden Niveau einpendeln würden. Mit Hilfe von leistungsfähigen Rechnern könne die Planbehörde „Schattenpreise" ermitteln, so die Hoffnung, und das Fehlen von Marktpreisen kompensieren (vgl. u.a. Taylor, 1929). Allerdings gingen all diese Ansätze, wie Lavoie (1985, S. 97 u. 100-113) hervorhebt, von einer statischen Auffassung der Wirtschaft aus. Die Daten entstünden nicht erst im dynamischen Prozeß des kompetitiven Wettbewerbs, sondern seien „gegeben", konstant und könnten zentral verarbeitet werden. Diese Methode einer optimalen Allokation von Ressourcen lag in der Logik der neoklassischen Theorie vom allgemeinen Gleichgewicht, nur daß der zentrale Planer nun die Rolle des Walrasianischen Auktionators übernahm. Im Gegensatz dazu betonten die Vertreter der Osterreichischen Schule, ausgehend von Mises, den dynamischen Aspekt des wirtschaftlichen Geschehens, die kontinuierliche Abstimmung der Myriaden von ständig wechselnden Einzelplänen der Wirtschaftssubjekte über Preissignale, die sich ständig neu am Markt bilden.4 Noch Mitte der dreißiger Jahre ließ Mises' und Hayeks' Kritik sozialistische Denker nicht ruhen. Oskar Lange und Abba P. Lerner glaubten, mit ihrem Konzept des „Marktsozialismus" die Lösung gefunden zu haben. Verbraucher und Arbeitnehmer sollten hier Wahlfreiheit erhalten; die sozialistischen Betriebsführer wären angewiesen, sich so zu verhal-

3 Oskar Lange, der prominenteste von Mises' Gegnern, stellte zum Dank für dessen Beitrag in Aussicht, es werde einst eine Statue von Mises in der Ruhmeshalle des kommunistischen Planungsbüros aufgestellt. 4 Lavoie (1985, S. 93, passim) belegt, daß die späteren Einwände Hayeks und Robbins, kein Computer werde je in der Praxis die benötigte Rechenleistung erbringen, unterstützende Argumente waren, die jedoch keinen „Rückzug" von der prinzipiellen These Mises' zur logischen Unmöglichkeit einer rationalen Kostenrechnung im Sozialismus darstellten. Mises' fundamentaler Satz enthielt nach Lavoie implizit schon den Gedanken des verstreuten Wissens und seiner Koordination durch den Markt, den Hayeks Aufsatz „Economics and Knowledge" (1937) später ausführte.

54 • Wandlungen des Neoliberalismus ten, als stünden sie im Marktwettbewerb (vgl. Lange, 1936/1964, S. 64; Lerner, 1937). Allerdings blieben sie eine überzeugende Antwort schuldig, wie der sozialistische „als obWettbewerb" die vielfältigen Anreizprobleme meistern könne und wie jenseits des Konsumgütermarkts, also auf den Märkten für Kapital, Investitionsgüter, Rohstoffe und Vorprodukte, die Preise gebildet werden sollten. Schon in seinem ursprünglichen Artikel hatte Mises darauf hingewiesen: Wenn all diese vorgelagerten Märkte staatlich administriert waren, so gab es keinen kompetitiven Suchprozeß nach dem günstigsten Produktionsverfahren (vgl. Lavoie, 1985, S. 74-77).

2. Die Österreichische Schule: Ludwig von Mises' Privatseminar Offenbar erschütterten Mises' Überlegungen zur Planwirtschaft eine ganze Reihe jugendlichidealistische Sozialisten in ihrem fortschrittlichen Glauben. So bekannte Röpke ein halbes Jahrhundert später, „ich wäre ein ganz anderer Typ Nationalökonom und Mensch geworden, wenn ich nicht zufällig auf das Buch ,Die Gemeinwirtschaft' gestoßen wäre" (Röpke, 1961). Auch Hayek, geboren 1899 in eine großbürgerliche Familie, war in jungen Jahren kurzzeitig dem Charme sozialistischer Ideen erlegen. 5 Seine Konversion durch Mises' Argument zur Wirtschaftsrechnung beschrieb er rückblickend: „Für keinen von uns, der das Buch bei seiner Ersterscheinung las, konnte die Welt je wieder die gleiche sein wie vor der Lektüre" (Hayek, 1962/1981, S. 283). Mises bewegte sich dabei im „Roten Wien" in einem äußerst feindlichen Umfeld, das sich ideologisch zu radikalisieren begann. 6 Als Privatdozent an der Universität tätig, versammelte Mises in den zwanziger Jahren eine Gruppe talentierter Studenten um sich, die in regelmäßigen Sitzungen wissenschaftliche und kulturelle Fragen diskutierten. Das zweiwöchentliche Privatseminar, das von 1920 bis 1934 bestand, besuchten etwa zwei Dutzend Studenten Mises', darunter Friedrich von Hayek, Fritz Machlup, Gottfried von Haberler sowie Oskar Morgenstern und Herbert Fürth. Mit Ausnahme der beiden Letztgenannten bildete diese Gruppe aufstrebender Ökonomen später den Kern der emigrierten Osterreichischen Schule, die eine starke Gruppe in der Mont Pèlerin Society werden sollte. Mises' Privatseminar wirkte wie ein Magnet auf die Ökonomen der Stadt und strahlte bis über die Grenzen ins europäische Ausland aus. „Das MisesSeminar war viel wichtiger in den dreißiger Jahren als alles, was an der Universität a b l i e f , erklärte Morgenstern später rückblickend (zit. n. Craver, 1986, S. 14). Von Zeit zu Zeit wurden ausländische Besucher eingeladen, an den Sitzungen teilzunehmen, darunter Lionel Robbins, der Ideen der Österreichischen Schule erstmals im englischen Sprachraum verbreitete, und John Van Sickle, dessen Kontakte zur Rockefeiler Stiftung bei der Suche nach Forschungsgeldern und Stipendien hilfreich werden sollten. Aber auch linksgerichtete Angeregt durch die Lektüre verschiedener Bücher Walter Rathenaus 1917 während des Militärdienstes, so erinnerte sich Hayek im Alter, wurde er „Planwirtschaftler, der den schrittweisen Fortschritt zu einer planwirtschaftlichen Leitung der Wirtschaft befürwortete", wie er sich später erinnerte (Hayek, 1983b, S. 14). 6 Besonders beunruhigten ihn die paramilitärischen Verbände der Sozialisten. In seinen Erinnerungen kolportiert er einen Ausspruch des damaligen roten Bürgermeisters Karl Seitz, der die langfristige mentale Prägung über das Bildungswesen erklärt: „Die Herrschaft der Sozialdemokratie in Wien ist nun für alle Zukunft gesichert. Schon im Kindergarten wird dem Kind proletarisches Klassenbewußtsein beigebracht, die Schule lehrt Sozialdemokratie, und die Gewerkschaft vollendet diese Erziehung. Der Wiener wird in die Sozialdemokratie hineingeboren, er lebt in ihr und stirbt, wie er gelebt hat" (zit. n. Mises, 1940/1978, S. 58). 5

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 55

Ökonomen wie Ragnar Nurkse oder Hugh Gaitskell durften im Kreise von Mises' Privatseminar ihre Thesen präsentieren. 7 Wien bot den jungen Ökonomen aus dem Kreis um Mises in den zwanziger und dreißiger Jahren wenig Aufstiegschancen; an der Universität sahen die liberalen Absolventen kaum Karrieremöglichkeiten. Nach dem Tod der zweiten Generation der Österreichischen Schule traten Professoren das Erbe an, die dem Kreis um Mises wenig zusagten. Entweder erwiesen sie sich, wie Othmar Spann, als Gegner der Mengerschen Grenznutzentheorie, oder sie gaben, wie Hans Mayer, nur schwache wissenschaftliche Impulse, so daß die Tradition versandete und der einstige liberale Ruf der Wiener Universität sich verlor (vgl. ebd., S. 5-8). Hayek ging 1923 für ein Jahr in die Vereinigten Staaten, wo er Gelegenheit erhielt, das amerikanische Zentralbanksystem sowie neuere Entwicklungen der quantitativen Konjunkturforschung zu studieren. Diese Erkenntnisse konnte er ab 1927 als Leiter des auf Initiative von Mises gegründeten Instituts für Konjunkturforschung anwenden. Rasch erwarb er sich auch außerhalb Österreichs einen Namen als fähiger Ökonom. Bei Tagungen des Vereins für Socialpolitik traf er den jungen Röpke, mit dem er Freundschaft schloß und der ihn mit Eucken bekannt machte. Wien erschien Hayek zunehmend zu eng als Betätigungsfeld. So sagte er dankbar zu, als ihm durch Vermitdung von Robbins 1931 eine Professur an der LSE angeboten wurde. Während Hayek in London in Sicherheit war, spitzte sich in Mitteleuropa die politische Situation weiter zu. Wie in Deutschland drängten auch in Österreich radikale Kräfte auf die Bühne. Der österreichische christlich-soziale Kanzler Engelbert Dollfuß, auf die politische Stabilität und Unabhängigkeit des Landes bedacht, schränkte das parlamentarische System ein und errichtete 1932 einen autoritären Ständestaat. 1934 schlugen die Dollfuß stützenden Heimwehren zunächst einen sozialistischen Aufstand nieder, kurz darauf einen nationalsozialistischen Putschversuch. Mises, der die Entwicklung mit wachsender Sorge verfolgte, entschloß sich zur Auswanderung, als man ihm im Frühjahr 1934 einen Lehrstuhl am Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales in Genf anbot. 8 Auch Machlup und Haberler verließen Österreich im selben Jahr. Als Sohn wohlhabender Eltern hatte Machlup deren Pappfabrik geführt und mehrere Beteiligungen erworben, jedoch nach dem Bankenzusammenbruch 1931 finanziell Schiffbruch erlitten. 1933 nahm er daher das Angebot eines Rockefeller-Stipendiums für die Vereinigten Staaten an, 1934 erreichte ihn ein Ruf an die State University of New York in Buffalo. Haberler, der sich mit dem Buch „Der internationale Handel" 1933 als Experte für Handelsfragen einen Namen machte, erhielt einen Posten bei den Vereinten Nationen in Genf, 1935 wechselte er an die Universität Harvard (vgl. Craver, 1986, S. 24 u. 26).

Entgegen dem verbreiteten Klischee war Mises keineswegs ein ruppiger Sozialistenfresser. Gaitskell, der später britischer Finanzminister wurde, berichtet von seinem Auftritt in Wien, er sei „natürlich ein wenig nervös gewesen", da Mises ja keine Kritik vertrage. Jedoch zeigte sich Gaitskell dann überrascht: „Er war sehr höflich" (zit. nach Durbin, 1985, S. 178). 8 Das 1927 v o m Genfer Professor William Rappard gegründete Institut bot in den folgenden Jahren noch weiteren politischen Emigranten akademische Heimat, w o sie mit wenig Lehrverpflichtung ungestört sich der Forschung widmen konnten. „Der Geist des Liberalismus strahlte über dieser einzigartigen Schule", so der begeisterte Mises (1940/1978, S. 87). 7

56 • Wandlungen des Neoliberalismus

Mit der Emigration der wichtigsten Exponenten der Österreichischen Schule Mitte der dreißiger Jahre endete deren Existenz in Wien. Ihre Tradition lebte jedoch als „Austrian Economics" in den Vereinigten Staaten weiter, wohin auch Mises 1940 auf abenteuerlichem Weg durch das südliche Frankreich, Spanien und Portugal floh. Soeben hatte er das Buch "Nationalökonomie" veröffentlicht, auf dem neun Jahre später sein gewaltiges Werk „Human Action" aufbaute (vgl. Boettke, 2002). 9 Wie wenig seine konsequent liberale Lehre im Amerika des New Deal geschätzt wurde, zeigte die schwierige Suche nach einer Anstellung. Mises bemühte sich um Anschluß an die akademische Szene, hielt Vorträge an verschiedenen Universitäten, darunter Princeton, Columbia, New York und Harvard, wo sein Bruder Mathematik lehrte, doch ein Lehrstuhlangebot blieb aus. Erst nach einer langen Zeit des Suchens, die er mit privaten Forschungsstipendien überbrückte, wurde er 1945 reguläres Mitglied der Wirtschaftsfakultät der Universität New York. Als sein Vertrag nach vier Jahren nicht verlängert wurde, verblieb ihm nur eine vom marktwirtschaftlich ausgerichteten privaten Volker Fund finanzierte Dozentenstelle. Vom offiziellen akademischen Betrieb der Vereinigten Staaten stand er somit abseits. 10 Mit seinen strikt marktwirtschaftlichen Überzeugungen blieb Mises auch innerhalb der Gemeinde der europäischen Emigranten politisch isoliert, deren überwiegende Mehrheit entschieden antikapitalistisch dachte und das Phänomen des Nationalsozialismus durch die Brille der sowjetischen „Faschismus"-Theorie beurteilte. So klagte Mises wenige Monate nach seiner Ankunft in New York in einem Brief an den in Genf zurückgebliebenen Kollegen Röpke: „Ein unerfreuliches Bild bieten die akademischen Emigranten. Sie haben nichts gelernt. Sie rechnen noch immer damit, daß die Naziherrschaft durch eine Revolte der Arbeiter gestürzt werden wird und daß dann ein Edelkommunismus das Heil bringen wird." Auch in Amerika sähe man „im ,Fascismus' [sie] die Partei des ,Kapitals' und hofft noch immer auf wirksame Unterstützung durch die Sowjets" (Mises an Röpke, 3.12.1940, in: IWP, NL Röpke).

3. Die Londoner Schule: Edwin Cannan und die LSE-Liberalen Weit besser hatte es da Hayek getroffen, der sich an der London School of Economics fest etablieren konnte. Seine Stimme wurde bald im ökonomischen Diskurs Großbritanniens gehört und beachtet. Ursprünglich war die LSE gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Expertenschmiede der sozialistischen Fabianer konzipiert worden. Dahrendorf (1995, S. 29) beschreibt die Ideologie der Gründer der Schule als „Reaktion gegen Gladstone, gegen Cobden und Bright, gegen Individualismus und Laissez-faire, Kosmopolitismus und Freihandel". So war es eine feine Ironie, daß zumindest die Wirtschaftsfakultät der LSE sich zum

® Die Yale University Press hätte, so Leonard Read, der Direktor der Foundation for Economic Freedom (FEE), das umfangreiche theoretische Werk niemals herausgebracht, wenn nicht die FEE die Summe von 7 5 0 0 Dollar für den Druck der ersten 750 Exemplare gezahlt hätte. Read verteilte diese an befreundete Ökonomen und Universitätsbibliotheken (vgl. Nash, 1976, S. 351). Über die Jahrzehnte wurden dann mehrere hunderttausend Exemplare von „Human Action" verkauft. 10 V o n seinen Schülern in New York, deren harter Kern sich bald wie in Wien zu einem vertraulichen Seminar einfand, ragten Israel Kirzner und Murray Rothbard heraus, die später wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der „Austrian Economics" in den Vereinigten Staaten gaben (vgl. Vaughn, 1994, S. 66).

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 57 Stützpunkt liberalen Denkens entwickelte. Prägenden Einfluß übte hier der 1861 geborene Edwin Cannan aus, den Sidney Webb im Jahr 1895 als Dozent an die noch kleine Schule bestellt hatte. Cannan wirkte über drei Jahrzehnte als der beherrschende Ökonom. Ihm gelang es, der Wirtschaftsfakultät der LSE noch über seine Emeritierung 1926 hinaus einen liberalen Stempel aufzudrücken. 11 So schuf Cannan „eine Tradition, die mehr als alles andere das intellektuelle Klima an der zentralen Fakultät der Schule bestimmte", urteilte Hayek (1945, S. 6). 12 Als Cannans „größtes Verdienst" sah er die Ausbildung einer Schar von Schülern an der LSE, „die später dort das vielleicht wichtigste Zentrum neuliberalen Denkens aufbauten, freilich schon stark befruchtet durch die Werke des österreichischen Denkers" — gemeint war Mises (Hayek, 1951/1992, S. 56). Neben Robbins zählten zur liberalen Gruppe an der LSE der 1890 geborene Theodore E. Gregory, ab 1927 Professor an der LSE, der 1900 geborene Frederic C. Benham, Verfasser des populären Lehrbuchs „Economics", der Betriebswirt Arnold Plant, der von 1928 bis 1930 an der Universität Kapstadt lehrte, der 1899 geborene Arbeitsmarktexperte William H. Hütt, der ebenfalls 1928 nach Kapstadt ging und dort über Jahrzehnte blieb, sowie zuletzt Frank W. Paish. 13 Ohne Zweifel stand Cannan, Herausgeber einer lange Jahre maßgeblichen Ausgabe von Adam Smiths „The Wealth of Nations", der Gedankenwelt des liberalen Klassikers nahe. 14 Allerdings war er auch von Benthams Utilitarismus und in Grenzen von der Wohlfahrtsökonomik beeinflußt und nahm zum Laissez-faire eine distanziertere Haltung ein. 15 So bekannte er, „ich bin kein Anti-Sozialist, weil ich glaube, daß der Fortschritt eine große Ausdehnung bewußter Organisation mit sich bringen wird", (Cannan, 1909/1997, S. 281). Damit meinte er, daß der institutionelle und rechtliche Rahmen des Wirtschaftens bewußt gestaltet werden müsse, um ein Maximum an Nutzen für die Verbraucher zu garantieren. Hier zeigte sich ansatzweise eine neue Sicht des wirtschaftlichen Liberalismus, die das Selbststeuerungsmoment der Märkte bereits als schwer beschädigt erkannte. Cannan kritisierte implizit, daß die Klassiker, die von „Natur" oder der „unsichtbaren Hand" sprachen, die Be-

11 Von einer ,,neuliberale[n] .Machtergreifung'" zu sprechen, wie Apel (1961, S. 9) dies tut, ist abwegig, schließlich wirkte Cannan allein durch seine starke akademische Persönlichkeit. In den zwanziger Jahren „tobte Krieg zwischen den Sozialisten und den Anhängern des laissez-faire", zitiert Dahrendorf (1995, S. 188) den Eindruck eines damaligen Dozenten. Die marktliberale Lehre dominierte die Wirtschaftsfakultät so sehr, daß sozialistische Studenten nach Cambridge auswichen (vgl. ebd.). Anläßlich Cannans Tod 1935 schrieb sein Schüler Robbins, dieser habe in den frühen zwanziger Jahren „unseren Horizont dominiert". Er rühmte ihn als „Sozialphilosoph in einer Linie abstammend von David Hume, Adam Smith und Bentham" (Robbins, 1935/1997, S. 333). 12 Neben Cannan erwähnte Hayek noch Lilian Knowles, die bis zu ihrem Tod 1926 an der LSE Wirtschaftsgeschichte lehrte und mit empirischen Arbeiten zu den sozialen Verhältnissen während der Industriellen Revolution antikapitalistischen Mythen entgegenzutreten versuchte. Besonderen Eindruck machten ihre Studien auf William H. Hütt, der neben Studien zum Arbeitsmarkt und zur Rolle der Gewerkschaften auch zu wirtschaftshistorischen Fragen arbeitete. Vgl. etwa Hütt (1926/1954). 13 Zu biographischen Daten von Cannan, Gregory, Benham, Hütt, Plant und Robbins, vgl. Apel (1961, S. 11 -28). 14 Apel (1961) hat die bislang einzige vergleichende, jedoch nur begrenzt aussagekräftige Studie zu Cannan und seinen Schülern vorgelegt, die er aus sozialdemokratischer Perspektive kommentiert. So kritisiert er „das falsche Menschenbild der englischen Klassiker" (ebd., S. 53) und notiert zu Cannans „Neo-Individualismus", dieser verkenne „die Irrationalität der Konsumenten", weshalb Apel meint, daß „fortgesetzte autonome Entscheidungen eine ständige Uberforderung der menschlichen Natur bedeuten würden" (ebd., S. 54-55). 15 In einer allgemein sehr lobenden Besprechung von Cannans Aufsatzsammlung „An Economist's Protest" bemerkte Hayek, Cannan entwickle „keineswegs den Wirtschaftsliberalismus zur letzten Konsequenz mit der selben rücksichtslosen Konsistenz wie Mises" (Hayek, 1929/1997, S. 209).

58 • Wandlungen des Neoliberalismus deutung der Institutionen für die Sicherung der liberalen Marktordnung nicht ausreichend klargemacht hätten. Der Markt bedürfe der Pflege, er sei eine bewußte Schöpfung der Gesellschaft (vgl. Cannan, 1912/1997, S. 24-25). In der Zwischenkriegszeit, so sahen es Cannan und seine Schüler, hatten aber markthemmende Eingriffe derart überhand genommen, daß Markt und Wettbewerb nur noch eingeschränkt funktionieren und der Preismechanismus nur noch bedingt einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage herbeiführen konnten. Statt dessen herrschten vermehrt Monopolpositionen und Marktungleichgewichte. Die Liberalen der LSE stimmten darin überein, daß nicht, wie oft behauptet, eine der modernen Produktionstechnik inhärente Tendenz zu wirtschaftlicher Konzentration und Ausschaltung des Marktes führe, sondern zunehmend staatliche Interventionen und Privilegien für Interessengruppen dies bewirkten. Ihre Forderung lautete daher, überall den freien Marktzutritt und den Wettbewerb wiederherzustellen, w o er in der Vergangenheit unterbunden worden war. Neben der Rückkehr zum unbeschränkten Freihandel und zum alten Goldstandard, für die Cannan vehement eintrat, meinte dies eine Reform des rechtlichen Rahmens der Wirtschaft. Dazu entwarfen die Ökonomen aus dem Kreis von Cannan lange Maßnahmenkataloge mit dem Ziel der Wiederherstellung des Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt sowie einer größeren Transparenz und Effizienz des Marktes (vgl. Apel, 1961, S. 101-102). Besonders wichtig erschien ihnen die Beseitigung des Rechtsschutzes und der Privilegien für Gewerkschaften und Kartelle. Die Ursachen der Arbeitslosigkeit, die während der zwanziger Jahre in Großbritannien durchschnittlich über zehn Prozent lag, vermuteten sie in einer Störung des Arbeitsmarktes. Lohnrigidität bis hin zur völligen Inflexibilität nach unten sowie fehlende Mobilität des Arbeitsangebots hätten den Marktmechanismus dort teilweise ausgeschaltet (vgl. Cannan, 1925/1997 u. 1926/1997). Dies alles seien Folgen der Gewerkschaftspolitik, unterstützt durch die Existenz einer staatlichen Arbeitslosenversicherung, so die allgemeine Ansicht der liberalen LSE-Schule. Während Cannan aber die Gefahr durch eine Reform der staatlichen Arbeitslosenversicherung abwenden wollte, stellte vor allem Hütt die Rolle der Gewerkschaften grundlegend in Frage: Diese arbeiteten nicht im Interesse der Gesamtarbeiterschaft, sondern verschafften einem Teil Sondervorteile zu Lasten von Arbeitslosen und Konsumenten (vgl. Hütt, 1930/1954, bes. S. 38-40). Die Wirtschaftsfakultät der LSE, an der Hayek ab 1931 unterrichtete, war mithin eine lebendige Gemeinschaft, die an den Grundwerten der liberalen Lehre festhielt, jedoch bereits einige Modifikationen vornahm. Hayek wurde mit offenen Armen aufgenommen und fand mit seinen Vorlesungen bei Studenten und Fachkollegen anfangs großen Anklang. Er entwickelte ein enges Verhältnis zu Robbins, der als Lehrstuhlnachfolger Cannans zum heimlichen Oberhaupt der Liberalen an der LSE aufstieg, die gegen die linke Fraktion um den populären sozialistischen Politologen Harold Laski aber nur schwer ankamen. Schon bald gerieten die Londoner Wirtschaftsliberalen um Hayek und Robbins in die Defensive und schließlich in eine gewisse Isolation, als sich die weltweite ökonomische Krise verschärfte.

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 59

4. Liberale Ursachenforschung zur Weltwirtschaftskrise In seinem Buch „Liberalismus" hatte Mises 1927 resignierend festgestellt: „Die Welt will heute vom Liberalismus nichts mehr wissen. Außerhalb Englands ist die Bezeichnung .Liberalismus' geradezu geächtet; in England gibt es zwar noch .Liberale', doch ein großer Teil von ihnen sind es nur dem Namen nach, in Wahrheit sind sie eher gemäßigte Sozialisten" (Mises, 1927/1993, S. 2). Mit Blick auf die Zunahme staatlicher Markteingriffe warnte er: „Wer seine Augen nicht absichtlich schließt, muß überall die Anzeichen einer nahen Katastrophe der Weltwirtschaft erkennen" (ebd.). Stets zu pessimistischen Ansichten neigend, erwartete Mises als Folge zunehmender staatlicher Interventionen ein ökonomisches Verhängnis. Die Blüte der späten „Goldenen Zwanziger" betrachtete er als Scheinblüte. Allgemein zeichnete sich die Zwischenkriegszeit durch geringeres Wachstum und deutlich höhere Arbeitslosigkeit als in der Epoche vor 1914 aus. Wiederkehrende Marktungleichgewichte, Stockungen des ökonomischen Kreislaufs und zunehmende Desintegration der Weltwirtschaft waren die Merkmale der zwanziger Jahre. Die Abkehr vom freihändlerischen Ideal während des Ersten Weltkriegs, von Großbritannien mit dem McKenna-Zoll begonnen, stoppte die Verflechtung der Weltwirtschaft. Insgesamt litt der multilaterale Handel schon vor dem Smoot-Hawley-Zollgesetz unter einer steigenden Zahl von Barrieren, restriktiven Kontingenten und Quoten. Inflationsschocks Anfang der zwanziger Jahre als Folge der Kriegs Finanzierung durch Anleihen und weiterer exzessiver Geldschöpfung zerrütteten die sozialen Strukturen in Mitteleuropa. Sie untergruben auch die liberalen Ideale der Selbstverantwortung und -Vorsorge durch privates Sparen. Besonders in Deutschland bereitete die Hyperinflation von 1923 den Boden für kommendes politisches Unheil. Als Achillesferse der Weltwirtschaft stellte sich in den späten zwanziger Jahren ein instabiles internationales Finanz- und Währungssystem heraus. 16 Nach der Zerrüttung der internationalen Finanzen während des Weltkriegs waren allgemein große Hoffnungen auf eine rasche Neuetablierung des Goldstandards gesetzt worden. Großbritannien spielte 1925 den Vorreiter, als es sich unter Leitung von Schatzkanzler Winston Churchill entschied, zur Vorkriegsparität zurückzukehren. 17 Zwischen 1925 und 1928 folgten die wichtigsten Wirtschaftsnationen und etablierten wieder fixe Wechselkurse, zumindest formal auf der Basis von Gold. Das Gebäude des Goldstandards in der Zwischenkriegszeit blieb aber nur eine Fassade, die im ersten Sturm zusammenbrach (vgl. Kenwood/Lougheed, 1999, S. 184-191). Es fehlte das weltökonomische Umfeld, das vor 1914 das Funktionieren des Goldstandards gesichert hatte: So drehte sich, da nun die Vereinigten Staaten weltgrößte Gläubigernadon

" Nur sehr oberflächlich hatte es Ähnlichkeit mit dem alten System fester Wechselkurse, das sich auf Basis des internationalen Goldstandards ab dem letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts unter Führerschaft des Finanzplatzes London herausgebildet hatte. Grundbedingung des alten, echten Goldstandards war die volle Konvertibilität der Währungen in Gold und das Recht auf freie Ein- und Ausfuhr des Edelmetalls. Damit unterwarfen sich die teilnehmenden Regierungen den Spielregeln des Goldstandards, verzichteten auf monetäre Manipulationen und sandten so ein Signal fiskalischer Solidität aus. Für Anleger reduzierte dies die Risiken beträchtlich und wurde mit niedrigeren Zinsen am internationalen Anleihenmarkt belohnt (vgl. dazu Bordo/Rockoff, 1996). 17 Für die Briten bedeutete dieser Schritt eine Überbewertung ihres Pfunds um etwa zehn Prozent, was ihre Wirtschaft mittelfristig schwer belastete und neben strukturellen Schwächen zu anhaltend hoher Arbeitslosigkeit führte. Frankreich wertete gegenüber der Vorkriegsparität deutlich ab und ermöglichte damit in den kommenden Jahren Exportwachstum sowie substantielle Kapitalzuflüsse.

60 • Wandlungen des Neoliberalismus waren, der Strom der internationalen Investitionen und Zahlungen um. Großbritannien und Frankreich zogen Reparationen aus Deutschland ab und bedienten damit ihre Kriegsschulden jenseits des Atlantiks. Mitteleuropa war zunehmend auf meist kurzfristige USKredite angewiesen, die ab 1924 ein bisher ungekanntes Ausmaß annahmen. Auch Südamerika und andere Schwellenländer, die Primärprodukte exportierten und mit verfallenden Rohstoffpreisen kämpften, wurden von kurzfristigen amerikanischen Krediten abhängig. Anders als die Briten im neunzehnten Jahrhundert mit ihren massiven und langfristigen Auslandsinvestitionen, schleusten die Amerikaner ihre Goldzuflüsse nur unvollständig in den Kreislauf zurück. Die amerikanische Fed praktizierte, wie die Notenbank von Frankreich, die gemeinsam rund 60 Prozent der Weltgoldreserven hielten, eine Politik der „Sterilisierung", also der monetären Neutralisierung ihrer Goldzuflüsse durch Lagerung, etwa in Fort Knox. Dadurch verringerten sie die internationale Liquidität. Da Gold als Zahlungsmittel immer knapper wurde, gingen viele Staaten zu einem Goldwechselstandard über, der die strenge Golddeckung lockerte und auch Währungsreserven als Sicherheiten zuließ. Damit eröffneten sich neue Möglichkeiten der Geldschöpfung, die Spielregeln des alten Goldstandards wurden obsolet. Als eine starke Hausse an der New Yorker Börse 1928 zum massenhaften Abzug von kurzfristigen Investments aus Europa führte, kühlte dort die Wirtschaft merklich ab. Die Rezession in Europa löste eine Kettenreaktion aus. Was als konjunktureller Einbruch begann, ließ die Welt in eine verheerende Wirtschaftskrise abrutschen. Mises und Hayek sahen den Absturz als eine logische Folge des vorangegangenen Höhenfluges, namentlich der von ihnen beklagten Geldmengenausweitung. Ihre in den späten zwanziger Jahren ausgereiften Konjunkturmodelle basierten auf einer monetären Erklärung. Dreh- und Angelpunkt ihrer Kritik waren die schädlichen Konsequenzen ungedeckter Geldschöpfung. Diese hebe nicht bloß das allgemeine Preisniveau proportional an, wie die Anhänger der von Irving Fisher formulierten Quantitätstheorie im Falle einer gleichbleibenden Umlaufgeschwindigkeit behaupteten. Mises und Hayek taten das makroökonomische Konstrukt namens „allgemeines Preisniveau" als völlig nichtssagend ab. Entscheidend seien die relativen Preise. Die klassische Theorie der „Dichotomie" gehe fehl in der Annahme, daß monetäre von realen Faktoren zu trennen seien und eine Geldmengenexpansion auf die Produktion neutral wirke. Jede Infusion von Kaufkraft bewirke eine Verzerrung der Preis- und Produktionsstruktur. Angelehnt an Knut Wicksells Zinstheorie argumentierte Mises, eine Erhöhung der Geldmenge drücke den Geldzins unter die „natürliche Zinsrate" (vgl. Mises, 1912/1953, S. 355). Der künstlich gesenkte Zins ermuntere Investoren zu übermäßig langen „Produktionsumwegen", so Mises in der Diktion Böhm-Bawerks (vgl. ebd., S. 339). Er führe zu übermäßiger Kapitalgüternachfrage auf Kosten der verfügbaren Konsumgüterproduktion. Überhitze sich die artifizielle Konjunktur, weil neben der monetär gesteuerten Uberinvestition auch der Konsum anziehe, so steige unabwendbar der Zins. Viele Investoren müßten nun feststellen, daß ihre Projekte überdimensioniert waren. Immer mehr Vorhaben würden abgebrochen, was den Konjunktureinbruch einleite und zur Depression führe (vgl. ebd., S. 361-365; Kirzner, 2001, S. 140-147). Hayeks Habilitationsschrift „Geldtheorie und Konjunkturtheorie" von 1929 folgte Mises' Ansichten in den wesentlichen Punkten. Um ein Überschießen der monetär gezündeten Konjunktur zu vermeiden, riet er zu frühzeitigem

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 61

Abbremsen der Kreditexpansion.18 In seinen Vorlesungen an der LSE, veröffentlicht 1931 unter dem Titel „Preise und Produktion", sowie in anderen Schriften bekräftigte Hayek diese Erklärung zum Ursprung der Rezession. Maßlose Geldmengenexpansion habe die Produktionsstruktur verzerrt und so die Katastrophe herbeigeführt (vgl. Hayek, 1931). Scharfen Widerspruch gegen diese Interpretation legten später Milton Friedman und Anna Schwartz ein, die in den fünfziger Jahren eine äußerst einflußreiche Geschichte der amerikanischen Geldpolitik erarbeiteten: „Der verbreitete Glaube, daß das, was hochgeht, wieder herunterkommen müsse, ... und der dramatische Boom am Aktienmarkt haben viele zu der Vermutung geführt, daß die Vereinigten Staaten vor 1929 eine schwere Inflation erlebten und das Reservesystem der Motor derselben war. Nichts könnte weiter entfernt von der Wahrheit sein" (Friedman/Schwartz, 1963, S. 298). Ihre empirische Untersuchung versuchte den Nachweis zu erbringen, daß der geldpolitische Kurs der Fed in den entscheidenden ersten Monaten des Jahres 1930 und nach der Abwertung des britischen Pfundes im September 1931 unangebracht restriktiv gewesen sei und die Fed so Mitschuld am Zusammenbruch des amerikanischen Bankensystems und der Verschärfung der Depression getragen habe (vgl. ebd., S. 391-399). Anders als Hayek wollten sie also für die zwanziger Jahre keine exzessive Geldmengenausweitung erkennen.19 Hayek und Friedman lagen in der Frage des Ursprungs der Rezession der frühen dreißiger Jahre also weit auseinander. Beiden gemeinsam war jedoch das Mißtrauen gegen diskretionäre Eingriffs- und Manipulationsmöglichkeiten des Staates in der Geldpolitik. Während Friedman für feste Regeln eines stetigen und moderaten Geldmengenwachstums plädierte, entwickelte Hayek Vorschläge zur vollständigen Entstaatlichung des Geldes. Die meisten Wirtschaftshistoriker sehen heute sowohl monetäre als auch reale Faktoren als ursächlich für die ökonomischen Probleme der dreißiger Jahre. Die Krisenanfälligkeit und Labilität der Weltwirtschaft resultierten aus verdeckten strukturellen Problemen der Zwischenkriegszeit (vgl. Eichengreen, 1992). In der MPS wurde die Debatte zwischen „Austrians" und Monetaristen über die Depression in den siebziger Jahren wiederaufgenommen, als Reformen zur Uberwindung der Stagnation diskutiert wurden (vgl. Schmölders, 1975). Noch in den neunziger Jahren flammte der Streit zwischen „österreichischer" und monetaristischer Schu-le auf Treffen der MPS erneut auf (vgl. Skousen, 2005, S. 161-162). Ein besonderes Rätsel für die Zeitgenossen in den dreißiger Jahren war die anhaltende Massenarbeitslosigkeit. Schon vor Beginn der Depression gab es in vielen Ländern erhebliche Unterbeschäftigung. In Großbritannien sank die offizielle Arbeitslosenquote während der zwanziger Jahre nur in einem einzigen Jahr unter die Marke von zehn Prozent. Anderen Industrienationen, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten, ging es nur wenig besser. Die deutsche Arbeitslosenquote fiel selbst 1927, im besten Jahr der „Goldenen Zwanziger", 18 In den Jahren 1931 bis 1934 beteiligten sich verschiedene Ökonomen aus dem Kreis von Mises' Privatseminar, darunter Fritz Machlup, Oskar Morgenstern, Gottfried von Haberler und auch Hayek an einer regelrechten publizistischen Kampagne im bürgerlichen Neuen Wiener Tagblatt. Ihr Ziel war, vor angeblichen inflationistischen Tendenzen bei einer Abkehr vom Goldstandard und einer Abwertung zu warnen. Weiter forderten sie einen Abbau der staatlichen Defizite, die Rückkehr zum Freihandel und ein Ende der staatlich gestützten Kartellierungstendenzen (vgl. Klausinger, 2005). " Der „Great Bull Market" 1929 sei mit Blick auf das Kurs-Gewinn-Verhältnis nicht als irrationale Übertreibung zu bewerten gewesen, bekräftigten sie. Laut Schwartz (1981, S. 25) hätte das Niveau gehalten werden können, wenn die Beschäftigung und das Wachstum sich fortgesetzt hätten. Explizit nimmt sie bezug auf damalige optimistische Einschätzung von Irving Fisher eine Woche vor dem „Schwarzen Freitag".

62 • Wandlungen des Neoliberalismus nicht unter das Niveau der schlechtesten Jahre vor 1914. Liberale Ökonomen sahen die hohe und steigende Arbeitslosigkeit als Folge eines erstarrten Arbeitsmarkts. Nach der klassischen Lehre sollten sinkende Löhne eine Tendenz zum Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt garantieren, doch offenbar fehlte es an Flexibilität. Unterstützt durch die gewerkschaftsfreundliche Schlichtung der Politik konnten mächtige Arbeitnehmerorganisationen in Deutschland bald das durchsetzen, was der sozialistische Finanztheoretiker und SPD-Politiker Rudolf Hilferding als „politischen Lohn" lobte: Lohnsteigerungen durchweg oberhalb der Produktivitätszuwächse. Auch in Zeiten der Rezession und des Preisverfalls suchten sie Lohnkürzungen zu verhindern und bewirkten so Reallohnsteigerungen trotz Massenarbeitslosigkeit (vgl. Borchardt, 1991, S. 154-159). Die These der überhöhten Lohnkosten und, als Folge daraus, mangelnder Wettbewerbsfähigkeit fand zu Beginn der Depression noch zahlreiche Anhänger. In England vertraten diese Meinung besonders Fachleute des Finanzministeriums. Nach dieser „Treasury View" lag die Schwierigkeit, die Massenarbeitslosigkeit abzubauen, nicht im makroökonomischen Bereich, wie es Keynes behauptete, sondern im mikroökonomischen Bereich, namentlich in der Weigerung der Gewerkschaften, Reallohnsenkungen zu akzeptieren. Robbins veröffentlichte 1934 das Buch „The Great Depression", worin er argumentierte, die wahre Ursache der britischen Nachkriegsprobleme sei die mangelhafte Anpassungsfähigkeit an gewandelte Marktbedingungen, eine durch Subventionen bedingte Starrheit der industriellen Struktur. Nach Robbins hemmten „die Kartellierung der Industrie, die zunehmende Stärke der Gewerkschaften, die immer größere Vielzahl von staatlichen Kontrollen" die notwendige Flexibilität. Die Rigidität der Löhne sah er als Nebenprodukt der zu hoch angesetzten Arbeitslosenunterstützung. Robbins folgerte, es sei richtig, „daß größere Lohnflexibilität die Arbeitslosigkeit erheblich reduzieren würde. ... Hätte nicht die Sicht vorgeherrscht, daß Lohnsätze um jeden Preis beibehalten werden müssen, um die Kaufkraft der Konsumenten zu erhalten, dann wären die Gewalt der gegenwärtigen Depression und das Ausmaß der Arbeitslosigkeit, das sie begleitet, deutlich geringer gewesen" (Robbins, 1934/1971, S. 186). In bemerkenswerter Klarheit vertrat er damit die liberale Lehre von der Selbstregulierung und automatischen Räumung der Märkte, sofern der Preismechanismus ungehindert operieren könne. „Wenn die Widerstände gegen eine Kostenanpassung in Großbritannien weniger groß gewesen wären, wäre die ganze Geschichte der letzten zehn Jahre anders gewesen" (ebd.). Als weitere Bedingungen einer Erholung sah Robbins eine Rückkehr zum Freihandel, eine stabile Währung, basierend auf Gold, und institutionelle Reformen, die dem staatlich geduldeten und geförderten Wachstum von Kartellen und Monopolen ein Ende setzten (vgl. ebd., S. 160-194). Darüber hinaus sei staatliches Handeln entbehrlich, meinte Robbins. Je länger die Depression sich hinzog, desto weniger vermochte solcher Optimismus die Öffentlichkeit zu überzeugen. Noch bis Ende 1930 konnte man die weltweite Rezession als normalen, wenn auch äußerst schweren konjunkturellen Einbruch ansehen. Anfang 1931 gab es sogar Zeichen einer leichten Erholung. Als ab Mitte des Jahres Bankenzusammenbrüche in Österreich und Deutschland eine weltweite finanzielle Panik und Kapitalflucht auslösten und Großbritannien im September gezwungen war, die Goldbindung des Pfundes aufzugeben, dämmerte vielen das Ausmaß der Krise. In der Bevölkerung wuchs die Furcht, die Märkte spielten verrückt. Angesichts immer neuer Abwärtsschübe hielten viele die orthodoxen politischen Konsolidierungsrezepte für zu passiv. Das liberale Paradigma der Selbstheilung der Märkte schien durch die anhaltende Massenarbeitslosigkeit widerlegt.

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 63

5. Die „General Theory" von Keynes: Abschied von der klassischen Theorie Der Erfolg von John Maynard Keynes' 1936 vorgelegter „General Theory of Employment, Interest and Money" rührte daher, daß sie eine theoretisch unterfütterte Erklärung für die Unterbeschäftigung präsentierte und einfache, staatsinterventionistische Therapievorschläge machte (vgl. Jarchow, 1984, S. 147). Nach Keynes war der unregulierten Marktwirtschaft eine Tendenz zur Unterbeschäftigung inhärent. Falls nicht der Staat helfend eingreife, münde der kapitalistische Individualismus zwangsläufig in Arbeitslosigkeit. Keynes stellte damit die klassische ökonomische Theorie auf den Kopf. Im Gegensatz zu Says „Gesetz", wonach sich jedes Angebot automatisch eine Nachfrage schaffe, betonte er die Gefahr einer dauerhaft zu geringen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, die das verfügbare Angebot nicht absorbiere. 20 Sinkende Preise und Lohnkosten würden in Zeiten schwacher Konjunktur nicht automatisch wieder zu einer Belebung von Konsumnachfrage und Investitionen führen (vgl. Keynes, 1936, S. 23-34). Damit stand das Gespenst eines „Gleichgewichts bei Unterbeschäftigung" im Raum. Keynes mangelte es nicht an Selbstbewußtsein. 21 Seine „General Theory" umriß ein komplexes makroökonomisches Modell, worin das Zusammenwirken von Güter-, Geld- und Arbeitsmarkt behandelt und auf mögliche anomale Reaktionen hingewiesen wurde. So warnte er vor einer generellen Liquiditätspräferenz der Wirtschaftssubjekte, die tendenziell zu übermäßigem Sparen neigten (vgl. ebd., S. 165-174). Der Zins führe nicht zu einem natürlichen Ausgleich von Sparen und Investieren. Gerade bei extrem niedrigen Zinsen verharrten die Anleger in ihrer Vorliebe für Bares, der „Liquiditätsfalle", denn sie spekulierten auf steigende Zinsen und mieden eine Anlage wegen zu erwartender Kursverluste (vgl. ebd., S. 222244). Weiter hielt er die Zinssensitivität der Investitionsneigung für gering und warnte von einer „Investitionsfalle", falls die Gewinnerwartungen der Unternehmen zu gering ausfielen (vgl. dazu ebd., S. 141 u. 313-317). Hinsichtlich des Arbeitsmarktes ging Keynes davon aus, daß sich Arbeitnehmer und Gewerkschaften selbst in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nominellen Lohnsenkungen widersetzen würden, reale Lohnsenkungen durch Inflation jedoch eher hinnehmen würden (vgl. ebd., S. 8-9 u. 14). Diese Annahme implizierte, daß die zur Räumung des Arbeitsmarktes notwendigen Anpassungen des Lohnniveaus eher verdeckt über steigende Preise möglich seien. Die Argumente der „General Theory" ergaben ein starkes Plädoyer für aktive Interventionen des Staates: Da die Anpassungsmechanismen des Marktes in der Krise versagten oder zu langsam wirkten, um die Massenarbeitslosigkeit abzubauen, müsse der Staat in die Nachfragelücke einspringen. Dies könne mittels fiskalischer oder monetärer Stimuli geschehen. Allerdings mißtraute Keynes der Wirksamkeit expansiver Geldpolitik (vgl. ebd., S. 164). In der Liquiditätsfalle sei es kaum möglich, die Investitionen durch monetäre Impulse anzu-

Keynes stellte sich selbst in eine illustre Reihe von „UntergruncT-Ökonomen wie Karl Marx, Major Douglas, die das „große Rätsel der Effektiven Nachfrage" (gemeint war: der mangelnden falls behandelt hätten (vgl. Keynes, 1936, S. 32). 21 Er ahnte schon v o r Veröffentlichung der „General Theory", welche Wirkung sie haben könnte. George Bernard Shaw erklärte er 1935, „ich schreibe gerade ein Buch zur Wirtschaftstheorie, das lutionär wirken wird - nicht sofort, denke ich, aber innerhalb der nächsten zehn Jahre - auf die über ökonomische Dinge denkt" (Keynes, 1935/1982, S. 42).

20

Silvio Gesell und Nachfrage) ebenIn einem Brief an weitgehend revoArt, wie die Welt

64 • Wandlungen des Neoliberalismus kurbeln. 22 Um der daniederliegenden Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen, blieb als Heilmittel letztlich nur die Fiskalpolitik. Durch Steuersenkungen könne der Konsum angeheizt, durch öffentliche Investitionen die schwache private Investitionstätigkeit ausgeglichen werden (vgl. ebd., S. 94-95 bzw. 106 u. 325). Demnach kam dem Staat die Aufgabe zu, stabilisierend und animierend in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen. Dies aber geschehe nur, betonte Keynes, der führendes Mitglied der britischen Liberalen Partei war, um das System des Marktes zu verteidigen, nicht zu seiner Überwindung (vgl. ebd., S. 379-381). Schon 1926 hatte er in seiner Schrift „The End of Laissez Faire" radikal mit dem alten liberalen Harmonieglauben gebrochen und neuen Spielraum für staatliche Interventionen gefordert. „Die Welt wird nicht von oben so geregelt, daß private und gesellschaftliche Interessen immer übereinstimmen. Es ist hier unten nicht so eingerichtet, daß diese in der Praxis übereinstimmen", hatte er dort bekräftigt (Keynes, 1926, S. 39, Hervorheb. im Orig.). Seine Ablehnung eines selbstregulierten Marktes datierte also schon lange vor der Vertrauenskrise der dreißiger Jahre. Der Staat hatte nach Keynes die Verantwortung, die Marktkräfte vor ihrer Selbstzerstörung zu schützen, indem er eine ausreichende, effektive Nachfrage garantiere und so Vollbeschäftigung schaffe. Dabei erschien es ihm relativ gleichgültig, welche Arten von Arbeit und Investitionen der Staat fördere. Unter den extremen Umständen der verschärften Krise könne es sogar die Wirtschaft beleben, wenn Trupps von Arbeitslosen beschäftigt und dafür bezahlt würden, Löcher in die Erde zu graben und diese anschließend wieder zuzuschütten, so die äußerst zugespitzte These (vgl. Keynes, 1936, S. 220). Die Einkommen aus solch scheinbar sinnlosen Tätigkeiten würden in jedem Fall über den Multiplikatoreffekt die effektive Nachfrage stärken und damit zur Uberwindung der Krise beitragen. In den frühen dreißiger Jahren drängte Keynes die Regierungen MacDonald und Baldwin, das Ideal des ausgeglichenen Haushalts ebenso wie den Freihandel aufzugeben. Statt dessen plädierte er für eine Abschirmung durch Zölle, eine drastische Ausweitung der öffentlichen Ausgaben, finanziert durch Kredite. Mit dieser Strategie des „deficit spending" würde man das Land aus der Depression ziehen, war Keynes überzeugt.

5.1. Keynesianische Erfolge? Deutschland und Schweden nach 1933 So revolutionär die makroökonomische Theorie Keynes' erschien, seine Überlegungen zur Ankurbelung der Wirtschaft durch staatliche Investitionsprojekte oder Konsumbelebung waren nicht völlig neu. Die Wirtschaftspolitik mehrerer Länder trug ab 1932/33 in unterschiedlichen Graden Züge eines Keynesianismus avant la lettre. Deutschland und Schweden stachen als Beispiele heraus, deren Konjunkturprogramme gleichzeitig die Bandbreite zwischen autoritär-diktatorischen und moderat interventionistischen Ansätzen markierten. Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten war die Wirtschaftspolitik der Präsidialkabinette recht orthodox auf die Konsolidierung des Haushaltes ausgerichtet. Besonders die Regierung Brüning verordnete reale Kürzungen der Sozialleistungen und der Gehälter im

Monetäre Expansion wurde auch deshalb als wenig wirksam zur Konjunkturbelebung gesehen, da die Zinselastizität von Investitionen als gering eingeschätzt wurde. Aus Unternehmensbefragungen der dreißiger Jahre, den bekannten „Oxford Surveys", zog man den Schluß, daß Änderungen der Kapitalkosten nur geringen Einfluß auf Investitionsentscheidungen hätten. Dazu ist allerdings anzumerken, daß die realen Zinsen aufgrund des raschen Preisverfalls während der Depression tatsächlich abschreckend hoch waren, selbst bei sehr niedrigen Nominalzinsen. Der „General Theory" lag somit die Erfahrung einer sehr speziellen historischen Situation zugrunde.

22

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 65 öffentlichen Dienst um rund zehn Prozent. Gleichwohl setzte neben diesen klassischen Stabilisierungsbemühungen eine fieberhafte Suche nach neuen Methoden zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein. Schon unter Brüning, Papen und Schleicher wurde mit ersten, noch zaghaften Projekten zur Arbeitsbeschaffung experimentiert (vgl. James, 1993, S. 72). Die politisch extremen Parteien der Kommunisten und Nationalsozialisten sahen den Schlüssel zur Uberwindung der Depression in staatlicher Koordinierung und Kontrolle der Wirtschaft. Der politische Aufstieg Hiders erklärt sich zum großen Teil mit der Verzweiflung der Wähler über die extrem hohe Zahl von rund sechs Millionen registrierten Arbeitslosen. Hitler, der zwar dem darwinistischen Konkurrenzprinzip anhing, aber den kapitalistischen Wettbewerb verachtete, vertrat die Ansicht, daß die Volkswirtschaft dem Kollektiv zu dienen habe und daher eines umfassenden „Plans" bedürfe. Anleihen dafür nahm er bei den früheren Experimenten eines „Kriegssozialismus". 23 Sofort nach Ernennung Hitlers zum Reichskanzler stellten die Nationalsozialisten die „Arbeitsschlacht" in den Mittelpunkt ihrer Propaganda. Am 1. Mai 1933 verkündete Hider seinen Vierjahres-Plan zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Beraten vom früheren Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht zündete er ein wahres Feuerwerk unkonventioneller Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft. Steuern auf Kraftfahrzeuge wurden abgeschafft, um den Absatz von Autos zu stärken und die „Motorisierung" voranzutreiben. Subventionen zur Renovierung und zum Umbau von Häusern wurden gewährt, ebenso staatliche Familiengründungskredite und neue Sozialleistungen eingeführt. 24 Zugleich wurden schon 1934 rund 400.000 junge Arbeitslose in den verschiedenen Sparten des Reichsarbeitsdiensts beschäftigt, zumeist mit gering entlohnten Tätigkeiten in der Landwirtschaft und anderswo als Aushilfen. Ausländische Beobachter, zumal von der politischen Linken, sprachen mit mühsam gezügelter Bewunderung von der massiven deutschen Arbeitsbeschaffungskampagne. Hitler, so bemerkte Keynes' Schülerin Joan Robinson später in spöttischem und zugleich anerkennendem Ton, habe „die Krumme Lanke begradigen, den Schwarzwald weiß streichen und den Polnischen Korridor mit Linoleum auslegen lassen" (zit. n. Abelshauser, 1999, S. 506). Nochmals mehrere hunderttausend Arbeitslose zog die Regierung zum propagandistisch überhöhten Ausbau der Autobahnen heran. Die eigentliche Kriegsvorbereitung setzte verstärkt 1936 ein, erst danach fielen Rüstungsaufträge wertmäßig stärker ins Gewicht als zivile Projekte. Finanziert wurde diese Aufrüstung mit verdeckter Kreditaufnahme, vor allem mit Wechseln der staatlichen Metallurgischen Forschungsgesellschaft (Mefo), später vermehrt auch über die Guthaben von Privatleuten bei Sparkassen, Geschäftsbanken und Versicherungen, die zwangsweise angezapft wurden (vgl. ebd., S. 517-518).

Die Aussagen Hitlers zu Fragen von Marktwettbewerb und staatlicher Planung erscheinen oft widersprüchlich. Ritschel (1992) betont mit Blick auf das von den Nationalsozialisten geschaffene sozialistisch-privatwirtschaftliche Mischsystem den Vorrang von Hitlers biologistischer Vorstellung vom kollektiven Überlebenskampf der „Volksgemeinschaft". Hitler entwickelte damit einen „umgekehrten Marxismus", so Ritsehl, bei dem die biologische Evolution, der „Rassenkampf', das „primum movens" der Geschichte, die Staats- und Wirtschaftsverfassung lediglich Überbau war. (ebd., S. 260, kursiv im Orig.). 23

Die sozialpolitischen „Fortschritte" des Dritten Reiches, die dem genuin egalitären und sozialistischen Impetus der Volksgemeinschaftsideologie entsprangen, werden oft übersehen. D a ß Hitler und die nationalsozialistische Bewegung in vieler Hinsicht „eher ,linke' als ,rechte' Züge" trugen, hat bereits Haffner ( 1 9 7 8 / 1 9 9 8 , S. 77) angemerkt, der „die sozialistische Seite des Hitlerschen Nationalsozialismus" betonte (ebd., S. 50-53). Diesen Faden griff Zitelmann (1990) auf, der die sozialpolitischen Ziele des linken Flügels der N S D A P sowie Hitlers Selbstverständnis als (Sozial-)Revolutionär skizziert hat. 24

66 • Wandlungen des Neoliberalismus Auf das Konto der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik gingen scheinbar sehr beachtliche Erfolge, die der emigrierte Publizist Hans Priester in seinem 1936 in Amsterdam verlegten Buch „Das deutsche Wirtschaftswunder" getauft hat. Die Zahl der Arbeitsuchenden halbierte sich von 1932 bis 1934 auf 2,7 Millionen, schon 1936 lag sie bei nur noch 1 Million. Bereits zwei Jahre nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten erreichte das reale Bruttosozialprodukt das Niveau vor der Depression. Anhänger der keynesianischen Lehre sehen den „nationalsozialistischen Aufschwung" als Beleg für die Durchschlagskraft eines um den Multiplikatoreffekt verstärkten „deficit spending" (vgl. Bleaney, 1985, S. 72). Ihre Überzeugung bezüglich der Richtigkeit der deutschen Wirtschaftspolitik kleidete Robinson in die bemerkenswerte Aussage: „Hitler hatte bereits herausgefunden, wie man Arbeitslosigkeit kurierte, bevor Keynes mit der Erklärung fertig war, warum sie eintrat" (zit. n. Abelshauser, 1999, S. 512). Und Keynes' Biograph sprach von „Hitlers New Deal", dieser sei „der einzige [gewesen], der tatsächlich erfolgreich war bei der Beseitigung der Arbeitslosigkeit" (Skidelsky, 1977, S. 36). Daß von der nationalsozialistischen Fiskalpolitik tatsächlich expansive Impulse ausgingen ist zu bezweifeln. Diese habe aus Sorge vor Inflation einen eher konservativen Charakter gehabt; schließlich sei die Finanzierung größtenteils mit Steuern, nicht über Kredite, geschehen (vgl. James, 1993).25 Die Haushaltsdefizite der Jahre 1933 bis 1936 beliefen sich durchschnittlich auf nicht mehr als 3,11 Prozent des BIP, so Ritsehl (2003, S. 132). Diese Größenordnung des „deficit spending" erscheint kaum als ausreichender Stimulus, um die erstaunliche Expansion der Produktion und den Abbau der Arbeitslosigkeit zu erklären. Offenbar waren andere Kräfte im Spiel, von denen die Nationalsozialisten profitierten. Vieles deutet darauf hin, daß schon vor Januar 1933 ein konjunktureller Umschwung einsetzte, ausgelöst durch eine spontane Belebung der Märkte. Die Talsohle der Rezession war bei Hitlers Machtantritt bereits durchschritten (vgl. ebd., S. 137). Wahrscheinlich ist, daß den Nationalsozialisten das Glück zu Hilfe kam, sie auf einen vorhandenen Aufschwung aufspringen und ihm durch Wirtschaftsdirigismus eine neue, politisch gewollte Richtung geben konnten. Overy (1996) betont hierbei die entscheidende Funktion staatlicher Kontrolle und Lenkung: Betrug der Staatsanteil 1932 nur 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, hatte er sich im Jahr 1938 mit 33 Prozent fast verdoppelt. Formal wurden Marktsystem und Privateigentum beibehalten, jedoch bis 1938 durch immer mehr Elemente einer Kommandowirtschaft ergänzt. Die Abkoppelung vom Weltmarkt durch Kapitalkontrollen, die Devisenbewirtschaftung und der vermehrt bilaterale, staatlich überwachte Handel, wie bereits unter der Brüning-Regierung begonnen, eröffnete zunehmende Möglichkeiten der wirtschaftlichen Steuerung. Mit der Entmachtung der Gewerkschaften und dem Einfrieren von Löhnen und Gehältern wurden Inflationstendenzen im Keim erstickt und eine weitere Expansion auf Kosten des privaten Konsums ermöglicht. Durch direkte und indirekte Lenkung, etwa über das Finanzsystem, verschob das Regime so die Produktionsstruktur zugunsten massiver privater und öffentlicher Investitionen, während der Lebensstandard der Bevölkerung nur langsam aufholte (vgl. Overy, 1996, S. 29).

Als die hervorstechenden strukturellen Merkmale der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik bezeichnet James die Abschaffung der Gewerkschaften und die danach praktizierte staatliche Lohnkontrolle, welche Inflationsgefahren bannte, sowie die Abschottung Deutschlands von der Weltwirtschaft. Beide „Innovationen" seien jedoch schon in der zweiten Jahreshälfte 1931 von der Brüning-Regierung konzeptionell vorbereitet worden (James, 1993, S. 92). 25

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 67 Auch der relativ kurze und milde Verlauf der Depression in Schweden wird zuweilen als Beleg für eine dank keynesianischer Maßnahmen gelungene Erholung angeführt. Richtig ist, daß der von Gunnar Myrdal beeinflußte schwedische Finanzminister Ernst Wigforss ab 1933 bewußt Budgetdefizite einkalkulierte. Auch wurden einige Projekte zur staatlichen Arbeitsbeschaffung begonnen, die jedoch nur auf wenige tausend Menschen begrenzt waren. Nennenswertes Verdrängen („crowding out") privater Investitionen aufgrund der expansiven staatlichen Fiskalpolitik fand offenbar nicht statt; zudem zeigte sich die schwedische Privatwirtschaft aufgeschlossen für die Experimente der Regierung und reagierte nicht mit Kapitalflucht. Allerdings war die Nachfragebelebung durch „deficit spending" viel zu gering und wirkte, wenn überhaupt, zu spät, um die rasche industrielle Erholung schon im Jahr 1933 zu erklären (vgl. Gustafsson, 1993). Der Aufschwung Schwedens als relativ kleine, offene Volkswirtschaft ist weit mehr auf eine spontane Erholung der Weltnachfrage nach seinen Hauptexportgütern Holz, Kohle und Eisenerze zurückzuführen als auf die Belebung der Inlandsnachfrage (vgl. Bleaney, 1985, S. 52-56).

5.2. Kritiker des Keynesianismus im Abseits Werden die Resultate des „deficit spending" in der Depression heute nüchtern betrachtet, so wirkten auf die Zeitgenossen die angenommenen Erfolge etwa Deutschlands oder Schwedens elektrisierend und nahmen sie für die keynesianische Empfehlung der staatlichen Nachfragesteuerung ein. Im Vorwort zur 1936 erschienenen deutschen Übersetzung der „General Theory" schrieb Keynes in anbiedernder Weise, seine Theorie könne „viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepaßt werden als die Theorie der Erzeugung und Verteilung einer gegebenen, unter Bedingungen des freien Wettbewerbes und eines großen Maßes von Laisse^Jaire erstellten Produktion" (Keynes, 1936/1952, S. IX, kursiv im Orig.). In einem Gespräch mit Kingsley Martin, das die linke Zeitschrift New Statesman abdruckte, bezog er kritischer Position. Auf Martins Frage, wie dem „Versagen der Demokratie" zu ökonomischen Reformen angesichts der totalitären Herausforderungen begegnet werden könne, erklärte Keynes: „Die totalitären Staaten haben uns klar genug gezeigt, daß die zentrale Mobilisierung von Ressourcen und die Kontrolle über das Individuum zu einem Punkt gebracht werden können, w o sie die Elemente der persönlichen Freiheit bedrohen." Doch davon seien die britischen Verhältnisse weit entfernt. Die wahre Frage sei, „ob wir bereit sind, vom Laisse^Jaire des neunzehnten Jahrhunderts abzurücken und in eine Ära des liberalen Sozialismus einzutreten" (Keynes, 1939/1982, S. 500, kursiv im Orig.). Vor britischen Labour-Abgeordneten und Mitgliedern der Fabian Society erklärte er während des Krieges, weder die „altmodische laissez-faire", noch die „neumodische totalitäre" Methode der umfassenden Steuerung seien die Lösung (vgl. Skidelsky, 2000, S. 63). Tatsächlich glaubte Keynes, einen Mittel- und Königsweg zwischen unreguliertem Kapitalismus und vollständig kontrollierter Planung gefunden zu haben, der gleichzeitig die Demokratie und Freiheit retten werde. Nach der traumatisierenden Erfahrung der Großen Depression sah Keynes seine makroökonomische Steuerung als Mittel, um konjunkturelle Einbrüche und chronische Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Obwohl die „General Theory" streckenweise äußerst schwer verständlich war, rief das Buch ein überwältigendes Echo in der britischen Öffentlichkeit und in der Fachwelt hervor, die seine Thesen wie eine Erlösung begrüßten. Politiker aller Parteien zeigte Sympathien für die „gemischte", stark regulierte Wirtschaft und einen starken Ausbau des Wohlfahrtstaats.

68 • Wandlungen des Neoliberalismus Ungeachtet des sozial angespannten Klimas entwickelte sich schon in den dreißiger Jahren in Großbritannien ein fortschrittliches Einvernehmen, das den keynesianischen Nachkriegskonsens vorwegnahm (vgl. Marwick, 1964). Charakteristisch war das Bekenntnis Harold Macmillans, des späteren konservativen Premierministers, in seiner Schrift „The Middle Way" von 1938, der für eine „rationalere Richtung der wirtschaftlichen Bemühungen" plädierte (Macmillan, 1938/1966, S. 9).26 Zahlreiche überparteiliche Debattierzirkel und Vereinigungen wie Political and Economic Planning (PEP) bildeten sich in dieser Zeit, die Entwürfe zur zentralen Planung der Wirtschaft bis in Details verhandelten und propagierten. 27 Dagegen fanden die wirtschaftsliberalen Kritiker einer keynesianischen Globalsteuerung kaum noch Gehör. So blieb der Widerstand gegen Keynes auf ökonomische Fachzirkel und einzelne Beamte im Finanzministerium beschränkt. Die wissenschaftlichen Fronten waren klar abgesteckt zwischen der Wirtschaftsfakultät der LSE, an der Robbins und Hayek dominierten, und Cambridge, wo Keynes am King's College lehrte und eine wachsende Schar von Anhängern fand. Robbins und Keynes waren beide Mitglieder des 1930 von der Regierung berufenen fünfköpfigen Committee of Economists, das Strategien zur Bekämpfung der Depression aufzeigen sollte.28 Hayek kreuzte auf den Seiten der LSE-eigenen Zeitschrift Economica die Klinge mit Keynes. Dessen „A Treatise on Money" unterzog der Österreicher sogleich nach seiner Ankunft in London einer scharfen Kritik. Umgekehrt bemerkte Keynes zu Hayeks „Prices and Production", er habe „selten ein so verworrenes Buch gelesen" (vgl. Skidelsky, 1992, S. 456-457). Seltsamerweise unterließ es Hayek, zu Keynes' „General Theory" nach deren Erscheinen direkt Stellung zu nehmen. Sein Schweigen zu diesem für einige Jahrzehnte wohl einflußreichsten makroökonomischen Text bleibt ein Rätsel (vgl. dazu Caldwell, 1998). Daß sich Keynes überhaupt mit dem weit weniger bekannten Hayek auf eine Auseinandersetzung eingelassen hatte, konnte der junge Österreicher als Auszeichnung sehen. In der „General Theory" aber überging Keynes die konjunkturtheoretischen Argumente Hayeks oder Robbins' angebotsorientierte Reformideen mit Schweigen. Stattdessen richtete er sein Feuer gegen Arthur Pigous schwache Abhandlung „Theory of Unemployment", die stellvertretend für die klassische Lehre herhalten mußte. 29 Keynes ignorierte also die starken Argumente der Österreicher und „erfand einen Strohmann für die ,klassische Ökonomie', um die Schlacht mit der Orthodoxie dramatischer erscheinen zu lassen" (Blaug, 1991, S. 178). Angesichts von Keynes' öffentlichem Ansehen und Erfolg verstummten viele Skeptiker. Die verbliebenen wirtschaftsliberalen Ökonomen sahen als Hauptproblem der keynesianischen Vorschläge die Gefahr einer staatlich programmierten Inflation. Nach eigenem Bekunden erkannte Keynes ja, daß die Löhne nach unten kaum flexibel seien, da die Gewerkschaften Lohnkürzungen nicht akzeptieren würden. Obwohl seine Ausführungen in der „General

Schon 1933 hatte Macmillan seine Oberzeugung in der Schrift „Reconstruction" dargelegt, daß die Depression eine Folge des ungeordneten kapitalistischen Wirtschaftssystems war, das unbedingt einem staatlich umfassend geord-neten System zu weichen habe, wenn eine Wiederholung der ökonomischen Katastrophe von 1930 vermieden werden sollte. 27 Zu Political and Economic Planning (PEP), der größten und wichtigsten dieser Gruppen, die mit ihrer Forderung nach systematischer planwirtschaftlicher Lenkung zeitweilig großen Auftrieb hatte und führende Politiker aller Parteien zu ihren Anhängern zählte, vgl. Denham/Gamett (1998, S. 25-38). 28 Ab Sommer 1940 arbeitete Robbins als Berater des War Cabinet, dem neben interventionistischen, keynesianischen auch liberale Ökonomen wie Stanley Dennison oder John Jewkes zugeordnet waren. 2 ' Allerdings hat Hutchison (1978) nachgewiesen, daß Pigou in vielen Fragen Keynes' Einschätzungen erstaunlich nahestand und insbesondere expansive Maßnahmen befürwortete. 26

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindling • 69 Theory" oft mehrere Interpretationen zuließen, lag doch der Schluß nahe, reale Lohnanpassungen seien nur durch steigende Preise erreichbar (vgl. Keynes, 1936 - engl. Ausgabe, S. 15). Sein Eintreten für eine expansive Nachfragebelebung mittels „deficit spending", so die Kritik von liberaler Seite, nehme also inflationäre Tendenzen billigend in Kauf. In Anbetracht des tatsächlichen Preisverfalls auf breiter Front machte dieser Einwand auf die Mehrzahl der Zeitgenossen während der Großen Depression aber nur mäßigen Eindruck.

5.3. Konjunkturpolitische Ideen früher Neoliberaler: Röpkes „Initialzündung" Die Schwere des wirtschaftlichen Einbruchs ließ auch nicht wenige Liberale an der Regenerationsfälligkeit der Märkte allein durch spontane Selbstheilung zweifeln (vgl. Wegmann, 2002, S. 119-129). In Deutschland traten besonders der junge Ordinarius Röpke wie auch der Bankier Albert Hahn als Fürsprecher einer aktiven und antizyklischen Konjunkturpolitik auf. Beide hatten bereits Anfang der zwanziger Jahre wissenschaftliche Pionierarbeit hierzu geleistet. Freilich dürften die Instrumente der Nachfragebelebung nur in einer Krise und mit größter Vorsicht gehandhabt werden, hatten sie warnend hinzugefügt. Eine „ewige Hochkonjunktur" könne nicht geschaffen werden, ohne Inflation heraufzubeschwören, schrieb Hahn 1920 (vgl. ebd., S. 120). In den vermeintlich goldenen zwanziger Jahren war die Frage einer aktiven Konjunkturankurbelung nicht von unmittelbarem Interesse. Dies änderte sich mit Einsetzen der Depression. Im Winter 1930/1931 wurde Röpke in die sogenannte Brauns-Kommission zur Untersuchung der Arbeitslosigkeit berufen und prägte dort den Begriff der „Initialzündung", die in der verfahrenen Situation notwendigerweise vom Staat komme müsse (vgl. Peukert, 1992, S. 560-661; Hennecke, 2005, S. 74-79). Die „Initialzündung" sei erforderlich, um den Motor der Privatwirtschaft erneut zum Laufen zu bringen. In ihrem Abschlußbericht vom Mai 1931 nannte die Brauns-Kommission sowohl das Bemühen um frische ausländische Kredite wie auch staatliche Investitionen, um die wirtschaftliche Schwäche zu überwinden. Zahlreiche Felder von der Infrastruktur über die Energieversorgung bis hin zur Landwirtschaft und dem Wohnungsbau kämen in Frage (vgl. Gutachterkommission zur Arbeitslosenfrage, 1931). Allerdings ist es Röpke wichtig zu betonen, daß er die Depression nicht als Krise des Kapitalismus, sondern als Krise des Interventionismus und Halb-Sozialismus ansehe (vgl. Hennecke, 2005, S. 76-77). Seine Empfehlung, ein gewisses Maß an konjunkturpolitischem Aktivismus zu wagen, verband er mit deutlichen Warnungen vor einer Inflation, falls die staatliche Krisenpolitik zur Stimulierung einer dauerhaften Hochkonjunktur mißbraucht werde. Röpke differenzierte zwischen einer normalen, reinigenden Rezession und einer destruktiven „sekundären Krise". Erstere sei oft unverzichtbar, um ineffiziente Unternehmen vom Markt zu nehmen, wogegen letztere in einem Prozeß des kumulativen Niedergangs auch gesunde Unternehmen zur Aufgabe zwinge. Es hätten sich, so Röpke, „mehrere Umstände verschworen, um aus dieser Krise, die wir als die primäre bezeichnen können, eine sekundäre entstehen zu lassen, die in einem verhängnisvollen circulus vitiosus — einem wahren circulus vitiosissimus - die Erreichung eines neuen wirtschaftlichen Gleichgewichts immer weiter hinausschob und die Krise aus sich selbst heraus immer neue Nahrung finden ließ" (zit. n. Peukert, 1992, S. 639-640). Dem deflationären Kurs Brünings, der Sparmaßnahmen mit Steuererhöhungen kombinierte, stand Röpke äußerst kritisch gegenüber. Bei einer Tagung der Friedrich-List-Gesellschaft im

70 • Wandlungen des Neoliberalismus

September 1931, organisiert vom Reichsbankchef Luther zur Diskussion der konjunkturpolitischen Vorschläge von Wilhelm Lautenbach, einem Röpke bekannten hohen Beamten aus dem Reichswirtschaftsministerium, trat er erneut als Befürworter staatlicher Konjunkturankurbelung durch Investitionen und Kreditaufnahme auf. Gleichwohl verhehlte er nicht sein Unbehagen bei der Sache. Kritik kam auch von befreundeter Seite, etwa von Hahn, der auch einen reinigenden Charakter der Krise sah und weitere Auslandskredite ablehnte (vgl. Hahn, 1931). Röpke gab zu, daß die Depression bereits weit fortgeschritten sei. Dennoch plädierte er dafür, die „nächste Phase" eines „natürlichen" wirtschaftlichen Wiederaufschwungs durch eine staatliche „Initialzündung" zu beschleunigen (Röpke, 1931b, S. 666). „Wenn der Staat in dieser Beziehung seine Schuldigkeit getan hat, wäre ich für meine Person bereit", so schrieb er, „den Liberalismus ungeschmälert wieder in seine Rechte einzusetzen, aber jetzt ist der Staat, wie ich fest glaube, wirklich nicht zu entbehren" (ebd., S. 669). In der Vergangenheit habe die Politik wohl oft Sand ins Getriebe der Wirtschaft geworfen, ihren reibungslosen Ablauf durch Interventionen gestört. Der Staat sei in der Vergangenheit also meist das Problem, nicht die Lösung gewesen. Jetzt erfordere die existentielle Situation aber ungewöhnliche Maßnahmen: „Es ist aber wirklich nicht einzusehen, warum jemand, der in besseren Tagen mit Champagnermißbrauch schlechte Erfahrungen gemacht hat, deshalb sein Leben aufs Spiel setzen soll, indem er bei einer Herzattacke ein Glas Sekt zurückweist" (ebd., S. 670). Abgesehen von dieser exzeptionellen Empfehlung teilte Röpke die Position, die Eucken in der Brauns-Kommission betonte: Die wirklichen Probleme der deutschen Wirtschaft seien strukturelle Rigiditäten. Insbesondere die dauerhafte Erstarrung des Marktmechanismus durch mangelnde Lohn- und Preisflexibilität, verschuldet durch Gewerkschaften und Industriekartelle, habe sie in den Abgrund gestürzt (vgl. Nicholls, 1994, S. 54-55). 30

6. Die Freiburger Schule und das Wettbewerbsproblem Die wettbewerbszerstörende Wirkung von Kartellen sowie das Phänomen der „Marktmacht" waren Probleme, die seit den späten Jahren der Weimarer Republik einen Kreis von Wissenschafdern an der Universität Freiburg im Breisgau beschäftigten, der später als Freiburger Schule bekannt wurde. Neben Walter Eucken zählten die Juristen Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth zu ihren Mitbegründern. Deutschland war seit den Tagen des wilhelminischen Kaiserreiches ein Land, das im europäischen und globalen Vergleich eine hohe Zahl von Kartellen aufwies. Eine richtungsweisende Entscheidung des Reichsgerichts von 1897 hatte die Rechtswirksamkeit von Kartellverträgen bestätigt. Private Markt- und Preisabsprachen waren demnach legal und konnten

Tatsächlich spielten bei Röpkes konjunkturpolitischen Empfehlungen 1931 sowohl ökonomische Überzeugungen als auch politische Motive, die Sorge um das Aufkommen radikaler Kräfte, eine Rolle. Alles verlange nach einer „Notbremsung". Wer immer noch an eine Selbstheilung der Märkte glaube, vertrete einen „konjunkturpolitischen Nihilismus". Angesichts der „um sich greifenden antikapitalistischen Massenstimmung" könne man nicht mehr warten, bis „der Liberalismus - oder die Reste, die heute von ihm noch übriggeblieben sind - ins Museum wandern wird" (Röpke, 1931a, S. 450). Als die Nationalsozialisten die Macht übernommen haben, schlug sein Urteil um: „Ein passives Abwarten des Krisenendes ist gefahrlich und unnötig, aber es ist immer noch besser und ungefährlicher als eine grobschlächtige Expansionspolitik", meint er nun (Röpke, 1934). 30

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 71 vor Gericht eingeklagt werden. 31 Die Zahl der Marktabsprachen und Kartelle wuchs schnell. In der Weimarer Republik wurde zwar 1923 ein Gesetz verabschiedet, das Kartelle einer staatlichen Aufsicht unterwarf. Dahinter stand aber kein kompromißloser Wettbewerbsgedanke. Nicht der Versuch von Absprachen überhaupt, sondern lediglich der „Mißbrauch" von Kartellvereinbarungen sollte verhindert werden. Tatsächlich konnten die alten Industriekartelle die Regelung leicht umgehen, ein „Mißbrauch" wurde selten festgestellt. Die Zahl der Kartelle in der Industrie, im Handel und in der Finanzbranche wurde Mitte der zwanziger Jahre amtlich auf 2500 geschätzt (vgl. Stolper/Häuser/Borchardt, 1964, S. 123).32 Die staatliche sanktionierte Kartellierung und andere Eingriffe waren es, die nach Meinung einiger Wirtschaftshistoriker die spätere Übernahme und Lenkung der Wirtschaft durch die Nationalsozialisten vorbereiteten: „Der Weg zum totalitären Staat war gut gepflastert worden. Die nationalsozialistische Regierung brauchte nur die von ihren Vorgängern geschmiedeten Werkzeuge der Staatsgewalt für ihre eigenen Zwecke zu nützen" (ebd., S. 144). Franz Böhm, von 1925 bis 1932 im Reichswirtschaftsministerium beschäftigt, hatte als zuständiger Referent das Gefeilsche um das Kartellgesetz und seine Auswirkungen mit wachsendem Mißfallen verfolgt. 1933 habilitierte er sich mit seiner Schrift „Wettbewerb und Monopolkampf in Freiburg und organisierte dort gemeinsam mit Eucken, dem intellektuellen Kopf der Freiburger Ökonomen, und Großmann-Doerth, der 1932 aus Prag nach Freiburg gewechselt war, ein interdisziplinäres Seminar. 33 Gegenstand ihrer Beratungen war der Einfluß der Rechtsordnung auf die Entwicklung der Wirtschaft. „Die Frage, die uns gemeinsam beschäftigte, war, wenn man sie eng faßt, die Frage der privaten Macht in einer freien Gesellschaft. Sie führt notwendigerweise weiter zu der Frage, wie die Ordnung einer freien Wirtschaft beschaffen ist", so Böhm (1957, S. 99). Als Gefahrenquelle für den Bestand einer freiheitlichen Ordnung orteten die Freiburger „jede stärkere Konzentration der Gewalt ... sei es politische, öffentliche Gewalt, sei es die Macht vereinzelter Privatpersonen oder gesellschaftlicher Gruppen" (ebd., S. 112). Es war Eucken, der den Dschungel der realtypischen Wirtschaftsordnungen und der sie umgebenden politischen Schlagworte zu lichten begann, indem er die Unterscheidung zweier Idealtypen, „Verkehrswirtschaft" und „Zentralverwaltungswirtschaft", einführte. In seiner Forschung fanden sich neben der positiven Analyse der Vorzüge einer echten Markt- und Wettbewerbsordnung unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Effizienz auch normative Aussagen zu menschlicher Freiheit und Würde. Die „Verkehrswirtschaft", so Eucken, ermögliche freie Koordination ohne Zwang, nämlich über den Preismechanismus. Dagegen

Schmollet, das einflußreiche Haupt der jüngeren Historischen Schule, befürwortete die aufkommenden Industriekartelle und Zusammenschlüsse. Da die „ungezügelte" oder „planlose" Konkurrenz nur zur Bereicherung einzelner Unternehmer führe und durch Ressourcenvergeudung die Gemeinschaft schädige, sei es richüg, die individuelle wirtschaftliche Freiheit kräftig zu beschneiden. Und „nur Fanatiker des Individualismus ... Leute, die von der inneren Notwendigkeit der historischen Entwicklung zu immer größeren sozialen Gebilden keine Ahnung haben,... von den Ubelständen der alten freien Konkurrenz nichts wissen oder wissen wollen", seien gegen die neuen Kartellformen, erklärte Schmoller 1905 vor dem Verein für Socialpolitik (zit. n. Blaich, 1971, S. 233-234). Auch die Sozialisten unter ihrem Führer August Bebel befürworteten eine rasche Konzentration wirtschaftlicher Macht, die sie als natürliche Vorstufe für spätere Verstaatlichung ansahen (vgl. ebd., S. 251). 31

Zu historischem Hintergrund und Entwicklung des deutschen Kartellrechts vgl. auch Möschel (1989, S. 143-144). Zu den Teilnehmern gehörten laut Böhm (1957, S. 95) neben Eucken, Großmann-Doerth und ihm selbst noch die Professoren Adolf Lampe, Constantin von Dietze, Friedrich A. Lutz, Bernhard Pfister, Rudolf Johns, Leonhard Miksch, K. Paul Hensel, Karl Friedrich Maier und Fritz Meyer. Mit Ausnahme von Großmann-Doerth und Lampe, die Krieg bzw. Inhaftierung nicht überlebten, sowie Johns traten die Mitglieder der Freiburger Schule später alle der MPS bei und hatten dort teils fuhrende Positionen inne. 32 33

72 • Wandlungen des Neoliberalismus beruhe die „Zentralverwaltungswirtschaft" auf dem Prinzip der Subordination. Die einzelnen Akteure seien nicht frei zu entscheiden, sondern einer zentralen, politischen Autorität unterworfen. Im Gegensatz zur machtverdünnenden Wirkung der Marktwirtschaft erfordere die „Zentralverwaltungswirtschaft" also ein Maximum an Machtkonzentration. In der total zentralgeleiteten Wirtschaft, warnte Eucken in seinem 1939 veröffentlichten Lehrbuch „Grundlagen der Nationalökonomie", gebe es „keine freie Konsumwahl, keine freie Wahl des Arbeitsplatzes und des Berufs, ja nicht einmal Tausch der zugewiesenen Konsumgüter unter den Gliedern des Volkes oder der Großfamilie" (Eucken, 1939/1965, S. 127). Zentral für Euckens sowohl historische als auch theoretische Elemente umfassende Forschung war das Denken in Ordnungen (vgl. Böhm, 1950). 34 Der „Ordo"-Ansatz integrierte die verschiedenen Aspekte der Wirtschaftsordnung in eine große Gesamtordnung, die Wirtschaft, Politik und Gesellschaft umfaßte. Die Freiburger strebten nach jener normativen „Ordnung, die dem Wesen des Menschen und der Sache entspricht, d.h. Ordnung, in der Maß und Gleichgewicht bestehen" (Eucken, 1939/1965, S. 239). 35 Die Betonung der „Interdependenz" von Wirtschafts-, Rechts- und Gesellschaftsordnung zielte auf die Problematik der selektiven Vorgehensweise der Wirtschaftspolitik; ihr „punktueller Interventionismus" ignoriere Wechselwirkungen zwischen den Teilordnungen, beklagte Eucken. Das Forschungsprogramm der Freiburger kreiste nun um die fundamentale Frage der Funktionsfähigkeit des Marktes, die sie von zwei Seiten bedroht glaubten (vgl. Grossekettler, 1997, S. 4-5): Zum einen meinten sie, eine starke Tendenz zur Selbstzerstörung des Wettbewerbs durch Kartellbildung und Konzentration zu sehen, die den Preismechanismus verzerrten und eine bedrohliche Machtballung in privater Hand ermöglichten. Zum anderen erkannten sie die potentielle Gefährdung der Wettbewerbsordnung durch organisierte Gruppeninteressen und Verbände, die um Subventionen, Marktabschottung oder Privilegien wetteiferten. War das Mißtrauen gegenüber dem Wirken von Interessengruppen, die sich Sondervorteile auf Kosten des Gemeinwohls zu verschaffen suchten, seit jeher Allgemeingut des Liberalismus, so hoben sich die Freiburger mit ihrer These der Instabilität des Wettbewerbs vom liberalen Optimismus älterer Prägung ab. Dieser hatte das Laissez-faire als Voraussetzung einer freien Entfaltung angesehen und Vertrauen in die Selbstbehauptung des Wettbewerbs gezeigt. Ein aktives Eingreifen staatlicher Stellen zugunsten des Wettbewerbs zu fordern war ihm fremd. Die Regierung müsse nur darauf verzichten, den Marktzutritt, etwa durch Monopolprivilegien oder Handelsabschottung, zu behindern. Ansonsten aber solle sie von Eingriffen in den Wirtschaftprozeß absehen und den Markt sich selbst überlassen. Dieser entwickle darauf in einem autonomen Prozeß die ihm angemessene Form, so der Glaube der Klassiker seit Smith (vgl. Starbatty, 1984, S. 192). Dies implizierte, daß sich im freien Spiel der Kräfte auch Regeln, Traditionen und Institutionen herausbilden, die einen freiwilligen und friedlichen Ausgleich der Interessen ermöglichen. 36

Mit dem Begriff des ganzheitlichen „Ordo" griffen Eucken und die Freiburger auf ein Konzept der mittelalterlichen Scholastik, besonders des heiligen Thomas von Aquin, zurück. Die bis in die Antike reichenden geistesgeschichtlichen Wurzeln wurden im Detail aber erst später untersucht (vgl. Veit, 1953). 35 Daß „Ordo" ein perfektes, doch unerreichbares Ideal bezeichnet, betonte Veit (1953, S. 32): „Kein Mensch und kein Staat kann ORDO voll entwickeln. ORDO ist ein Optimum, ein Postulat, eine Idee, ein Grenzfall." Der Verdacht einer statisch-absoluten Sicht des Ordnungsideals liegt nahe. Heine (1999, S. 137) bemängelt die naturrechtlichen Anklänge bei Eucken und Böhm und sieht die Gefahr, „den Ordnungsgedanken zu sakralisieren und als absolute Begründung zu formulieren". 36 Im neunzehnten Jahrhundert sah man diesen Prozeß dann analog zur biologischen Evolution und Selektion, welche die effizientesten Lösungen zum Nutzen der Gesamtheit hervorbringen würden. Hayek näherte sich in späteren 34

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 73 Gegen diese Auffassung, die der angelsächsischen Tradition des gewachsenen „common law" entsprach, vertrat die Freiburger Schule eine gemäßigt konstruktivistische Position. Der Wettbewerb sei nicht Ergebnis einer historischen Entwicklung, sondern benötige einen bewußt vom Staat gesetzten Rahmen (vgl. ebd., S. 193). Der Titel von Böhms grundlegender Studie „Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung" weist in diese Richtung (vgl. Böhm, 1937). Provokanter formulierte Leohnard Miksch 1947 seine Vorstellung: „Der Wettbewerb als staatliche Veranstaltung" — aus altliberaler Sicht ein problematisches Schlagwort. Dabei ging es den Liberalen der Freiburger Schule um eine klare Trennung der Sphären von Staat und Wirtschaft. Mit Eucken unterschieden sie zwischen dem Wirtschaftsprozeß und der Wirtschaftsordnung. Ersterer solle den individuellen Marktakteuren überlassen und durch das Preissystem dezentral koordiniert werden; letztere hingegen bedürfe einer bewußten Planung. Ihre aus historischen Erfahrungen gewonnene Uberzeugung lautete, der Staat habe die Wettbewerbsordnung zu setzen und kontinuierlich zu pflegen. Die langfristige Sicherung des Wettbewerbs gegen Degenerationen verlange zudem, über die Vermeidung von Marktzutrittshemmnissen hinaus eine aktive Wettbewerbspolitik zu betreiben.

6.1. „Liberaler Interventionismus" und „starker Staat" Als die früheste öffentliche Äußerung des deutschen Neo- bzw. Ordoliberalismus gilt ein Vortrag von Alexander Rüstow auf der Dresdner Tagung des Vereins für Socialpolitik im September 1932. Die damalige Krise erklärte er als „zu einem erheblichen Teil durch Interventionismus und Subventionismus der öffentlichen Hand verursacht" (Rüstow, 1932/1963, S. 249). Auf Veränderungen der Marktgegebenheiten reagierten all jene Interessengruppen, deren Position geschwächt werde, mit der Forderung nach staatlicher Stützung. Allerdings erkannte Rüstow an, daß der von den Weltmärkten erzwungene Strukturwandel in der Tat große Opfer fordere, und wollte den Schwierigkeiten der Betroffenen nicht mit verschränkten Armen zusehen, wie es Vertreter des Laissez-faire getan hätten. 37 Rüstow sah eine dritte Möglichkeit jenseits von passivem Zuschauen und der bisherigen Politik zur Verhinderung oder Verzögerung des Strukturwandels. So forderte er einen „liberalen Interventionismus", ein Eingreifen „nicht entgegen den Marktgesetzen, sondern in Richtung der Marktgesetze" (ebd., S. 252-253). Dieser „liberale Interventionismus" bedürfe aber einer Selbstbindung und Selbstbeschränkung des Staates, um den Wünschen der organisierten Interessengruppen zu widerstehen. Liest man Rüstows Argumentation zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft unbefangen, so entdeckt man hier keinesfalls die überscharfe Abgrenzung vom „Altliberalismus", die ihr oft zugeschrieben wird. Sicher war es neu, aus dem Munde eines Liberalen ein Lob für „Interventionen" und den „starken Staat" zu vernehmen. 38 Einen solchen hatten Liberale bis dato

Jahren diesem Denken an und entwickelte eine normative Theorie der „sozialen Evolution", des evolutorischen Entstehens von Institutionen. Vgl. Hayek (1967/1969). 37 Immerhin nannte Rüstow den „vielgescholtenen Manchesterliberalismus ... jedenfalls eine sehr viel mutigere Haltung", als es der rasch nachgebende Stützungsinterventionismus sei (Rüstow, 1 9 3 2 / 1 9 6 3 , S. 252). 38 Rüstow (1932/1963, S. 254) antizipierte Mißverständnisse: „Nun könnte hier vielleicht mancher Interventionist mit Befriedigung und Erleichterung feststellen, wenn jemand, der so sehr als rabiater Liberaler verschrien ist, wie ich es bin, sich immerhin so weit schon auf Interventionen, welcher A r t auch immer, einläßt, daß dann eine Einigung

74 • Wandlungen des Neoliberalismus stets verabscheut. Allenfalls einen „begrenzten Staat" waren sie bereit zu akzeptieren. Rüstow stellte jedoch klar, es treffe historisch nicht zu, daß der „alte Liberalismus" einen „schwachen Staat" gefordert habe, der leicht Beute der Interessengruppen werde. In Wahrheit, so meinte Rüstow, sei der „alte Liberalismus" einem „starken Staat" gegenübergestanden und habe „nicht Schwäche ..., sondern Freigabe des Entfaltungsraumes für sich selber unter dem Schutz dieses gegebenen starken Staates" verlangt (ebd., S. 258). Auch Eucken, der zeitgleich zum Dresdener Vortrag von Rüstow den Aufsatz „Staatliche Strukturwandlungen und die Krise des Kapitalismus" vorlegte, argumentierte in diese Richtung: Er beobachtete einen „Verflechtungsprozeß" von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Der in den Wirtschaftsablauf punktuell intervenierende post-liberale Staat habe die politische Aktivität der betroffenen Gruppen hervorgerufen und werde in der Folge von organisierten Interessen okkupiert (vgl. Eucken, 1932, S. 302-309). Nun drohe eine weitere „Versumpfung des Kapitalismus", falls nicht der Staat die Gefahren aus der Verflechtung mit der Wirtschaft erkenne und es ihm nicht gelinge, „sich von dem Einfluß der Massen frei zu machen und sich wieder in irgendeiner Form von der Wirtschaft zu distanzieren" (ebd., S. 318). Die Zerstörung des liberalen Staates habe zu einem ständig intervenierenden, aber nicht starken Staat geführt: „Der totale Wirtschaftsstaat würde ein schwacher Staat sein", warnte Eucken (ebd., S. 319). Explizit bezog sich Rüstow, indirekt auch Eucken, im Plädoyer für den „starken Staat", der über den Parteien und Sonderinteressen stehe und als Schiedsrichter das Wettbewerbsprinzip verteidige, auf den historischen „Nachtwächterstaat" des neunzehnten Jahrhunderts. 39 Der wuchernde Staat, der sich interventionistisch in den ökonomischen Prozeß einmischt und das zivile Wirtschaftsleben überlagert, überfordere und überdehne sich dabei, warnte er. Damit biete er Angriffsflächen und könne sich des „Ansturms der Interessenhaufen nicht mehr erwehren" (Rüstow, 1932/1963, S. 255). Der interventionsbereite Staat, der den Strukturwandel aufzuhalten versuche, sei in Wahrheit schwach. Er lade die pluralistischen Lobbygruppen ein, ihn als Vehikel ihrer Sonderwünsche zu mißbrauchen. Eucken betonte später in seinem Buch „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" das paradoxe Phänomen: Die „Zunahme der Staatstätigkeit nach Umfang und Art verschleiert den Verlust der Autorität des Staates, der mächtig scheint, aber abhängig ist" (Eucken, 1952, S. 327). Daher müsse sich der starke, neutrale und selbstredend an rechtsstaatliche Prinzipien gebundene Staat auf wenige Aufgaben beschränken, um seine Unabhängigkeit zu wahren. Allerdings nahm die Gruppe der deutschen Neo- bzw. Ordoüberalen deutlich mehr Aktivität des Staates in Kauf, als der altliberalen Schule in den Sinn gekommen wäre. Im Gegensatz zum strikten Konzept des liberalen Rechtsstaats, der mit allgemeinen, negativ formulierten

nicht mehr schwer sei und daß es sich nur noch um Detailfragen handele, über die man ja von Fall zu Fall reden könnte. Das wäre aber ein großer Irrtum." 39 Diesen Aspekt übersieht, wer Rüstows oder Euckens Forderungen nach einem „starken Staat" in die Nähe der Staatskonzeption von Carl Schmitt rückt, wie etwa Haselbach (1991, S. 40-45). Bei oberflächlicher Betrachtung ergeben sich zwar Gemeinsamkeiten zwischen der ordoliberalen pluralismuskritischen Position und Schmitts Ablehnung des Pluralismus (vgl. Meier-Rust, 1993, S. 51-53). Jedoch haben Kritiker wie Haselbach die wesentlich subtilere Argumentation Rüstows verkannt, der eine merkwürdige Dialektik von „totalem" und ohnmächtigem Staat beobachtete und beide ablehnte (vgl. Wegmann, 2002, S. 61-64). Wer wie Haselbach (1991, S. 113) den frühen Ordoliberalen wie Böhm, Rüstow, Eucken und Röpke eine Sehnsucht nach dem autoritären Staat unterstellt, ignoriert deren Grundintention, durch kompromißlose Durchsetzung des Wettbewerbsprinzips jegliche Machtkonzentration aufzulösen, Herrschaftszwang zu minimieren und die freie Entfaltung der Individuen in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht zu ermöglichen (vgl. Willgerodt, 1998, S. 51-54).

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 7 5

Normen einen Rahmen für die Wirtschaft setzt, waren Rüstow und auch Röpke offenkundig bereit, dem Staat positive diskretionäre Ermessensspielräume zu geben, um strukturpolitische und soziale Aufgaben zu übernehmen (vgl. Röpke, 1929). 40 Beide betonten die außerökonomischen Voraussetzungen der Marktwirtschaft. Anders als Röpke, der in seiner Jugend nur kurz mit sozialistisch-pazifistischen Ideen geflirtet hatte, war Rüstow deutlich länger auf der Linken aktiv gewesen. 41 Seine Kritik an einer ökonomistisch verflachten Form des Liberalismus zielte auf das, was er später „soziologische Blindheit" nannte: Ein mangelndes Verständnis für den notwendigen politischen Rahmen des Marktes und die gesellschaftlichen Vorbedingungen seines Funktionierens sei letztlich verantwortlich für den Untergang des historischen Liberalismus.

6.2. Das Ende der Weimarer Republik: Verfolgung und Emigration Im Jahr 1939, kurz vor Kriegsausbruch, analysierte Rüstow bei einem Vortrag in Genf die Fahrt Europas in die Katastrophe und schob dem Liberalismus eine große Mitschuld zu. Mit seiner irrigen Vorstellung von einer natürlichen Harmonie der Interessen habe dieser die schleichende „Entartung" des Leistungswettbewerbs nicht sehen wollen. Auf sozialem Gebiet habe der sorglose Liberalismus die „Desintegration und Atomisierung des Gemeinwesens" beschleunigt, „sobald der Fundus überkommener Integration aufgebraucht war" (Rüstow, 1939/2001, S. 28). Als Folge sah Rüstow einen Zerfall der Gesellschaft in antagonistische Interessengruppen, hauptsächlich die Produzentenverbände, aber auch gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer, die vom Staat immer mehr Gefälligkeiten, Subventionen und Privilegien forderten. Rüstow arbeitete selbst seit 1925 beim Verein deutscher Maschinenbau-Anstalten (VDMA) und hatte dort lehrreiche Erfahrungen im praktischen Lobbyismus gesammelt. 42 Aus seiner Sicht begann die Krise des Parlamentarismus, als die politischen Parteien zu „parlamentarischen Agenturen wirtschaftlicher Interessen" verkamen und so die demokratische Regierungsform einer „pathologischen", dem Pluralismus, wich (ebd., S. 36-37). Zu spät habe man erkannt, „daß der Staat, der damit anfängt, die Raubtiere der organisierten Unternehmerinteressen zu füttern, letzten Endes von ihnen verschlungen wird" (ebd. S. 38).

Die Gefahr einet Interventionsspirale sah Rüstow beim „liberalen Interventionismus" im Sinne einer Beschleunigung des Strukturwandels als gering an, da die empfohlene Medizin „bitter" schmecke und so nicht im Übermaß nachgefragt werde (vgl. Rüstow, 1932/1963, S. 257). 41 Bis Mitte der zwanziger Jahre war er als nonkonformistischer, die privatwirtschaftliche Konkurrenz bejahender Anhänger eines religiös motivierten Sozialismus in Erscheinung getreten. Auch nach seiner Wandlung zum Neoliberalen wurde er später „mit seinen radikalen Forderungen im sozialen Bereich auf deren ,linken' Flügel" verortet (Meier-Rust, 1993, S. 46). 42 Der VDMA war exportorientiert und plädierte daher gegen Zollprotektionismus. Als Leiter der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung hielt Rüstow eine machtstrategisch günstige Position zwischen Wissenschaft, Industrieverband und Politik. Offenbar genoß seine strikt wirtschaftsliberale, gegen linke und rechte Extremismen abgegrenzte Position unter Vertretern der Präsidialkabinette der Endphase der Weimarer Republik großes Ansehen. Auf einer von Kanzler Schleicher 1932 angefertigten Liste mit Personalvorschlägen tauchte Rüstow als möglicher Wirtschaftsminister auf (vgl. Meier-Rust, 1993, S. 54-59). In seiner Funktion beim VDMA sammelte Rüstow einen Kreis, in dem Wirtschaftstheorien diskutiert wurden; unter den Teilnehmern waren auch einige, die später in der MPS aktiv waren, nämlich Otto Veit, Hans Ilau und Friedrich Lutz. Später bezeichnete Hayek (1983, S. 12), der die Gruppe damals in Berlin besuchte, sie als „der einzige einflußreiche und aktive Theoretikerkreis, der bis 1933, wenn auch vergeblich, so doch mit großer Anstrengung, für eine freie Wirtschaft kämpfte". 40

76 • Wandlungen des Neoliberalismus Nach Ansicht Rüstows, Euckens und anderer Neo- bzw. Ordoliberaler war das Scheitern der Weimarer Republik also eng verbunden mit dem Problem des exzessiven Privilegien- und Rentenstrebens — im heutigen Jargon „rent seeking" - von Lobbies, Kartellen und Gewerkschaften. Sie nahmen damit Erkenntnisse der neoinstitutionalistischen Schule der Ökonomie vorweg. Was Röpke 1931 als „monopolistisch-interventionistische Erstarrung" der deutschen Volkswirtschaft geißelte, kam in mancher Hinsicht der späteren Theorie Mancur Olsons nahe, insbesondere seiner Vorstellung einer „institutionellen Sklerose" (vgl. Schüller, 2003, S. 26). Wie Olson sahen die deutschen Neoliberalen die wirtschaftliche Dynamik gehemmt und erstickt durch das kumulative Wachsen fokussierter Interessengruppen; freilich fehlte ihnen noch eine stringente Erklärung dieser immer mehr wuchernden privaten „kollektiven Aktion" (vgl. dazu Olson, 1982, S. 17-35). Angesichts der existentiellen Krise suchten die deutschen Neo- bzw. Ordoliberalen nach einer dritten Position zur Lösung des Ordnungsproblems, einer institutionellen Absicherung der Marktwirtschaft jenseits von Laissez-faire und Interventionismus. Nach Eucken stellten diese nicht gegensätzliche Pole eines wirtschaftspolitischen Spektrums dar, sondern bedingten sich gegenseitig. Denn das Laissez-faire ermutige den Kampf der Interessengruppen um die Gestaltung und letztlich Pervertierung der Rahmenbedingungen mit dem Ziel, den Wettbewerb auszuschalten und Vorteile zu erlangen. Seiner Ansicht nach war der „Interventionismus . . . eine Fortsetzung und Steigerung der Politik des Laissez Faire" (Eucken, 1949, S. 6). Rüstow spitzte in seinem Genfer Vortrag die These weiter zu: In historisch bedenklicher Verkürzung zog er eine direkte Linie vom „Spiel des Pluralismus", der zuletzt in der Weimarer Republik gar antidemokratische politische Elemente zugelassen habe, zur „totalitären Einparteiendiktatur" (Rüstow, 1939/2001, S. 39). 43 Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland im Januar 1933 brachte prominente Vertreter des Neoliberalismus unmittelbar in Bedrängnis. Röpke hatte frühzeitig gegen Hitlers Partei Stellung bezogen. Drei Tage vor der Reichstagswahl 1930, die einen Erdrutscherfolg für die N S D A P brachte, veröffentlichte Röpke den Aufruf „Ein Sohn Niedersachsens an das Landvolk" mit der bemerkenswerten Warnung: „Niemand, der am 14. September nationalsozialistisch wählt, soll später sagen können, er habe nicht gewußt, was daraus entstehen könnte. E r soll wissen, daß er Chaos statt Ordnung, Zerstörung statt Aufbau wählt. E r soll wissen, daß er für den Krieg nach innen und nach außen, für sinnlose Zerstörung stimmt" (Röpke, 1930/1959, S. 85). Zur gleichen Zeit schrieb er Artikel gegen verschwommen autarkistische, planwirtschaftliche Vorstellungen von einem „nationalen Sozialismus", wie er vom sogenannten „Tat-Kreis" propagiert wurde. Nur wenige Tage nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten warnte er in einem öffentlichen Vortrag mit dem Titel „Epochenwende" vor einer fortschreitenden „Verrohung" und „Verpöbelung" und erklärte: „Die Masse steht im Begriff, den Garten der europäischen Kultur zu zertrampeln, skrupellos, verständnislos" (zit. n. Hennecke, 2005, S. 89-90). Mit solcher Kritik zog sich Röpke die unerbittliche Feindschaft der Nationalsozialisten zu. So stand sein Name auf einer der ersten Listen von NS-Gegnern, die aus dem Staatsdienst entfernt werden sollten. Im April 1933 wurde er aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" von seinem Marburger Lehrstuhl beurlaubt. Kurz darauf emigrierte Röpke mit seiner Familie und wurde schließlich in die Türkei berufen.

Ausführlich zu Rüstows Totalitarismustheorie und seiner historisch-ideengeschichtlichen Erklärung des deutschen Nationalsozialismus vgl. Meier-Rust (1993, S. 164-179).

43

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 7 7

Dort lehrte er an der Universität Istanbul, litt aber unter Sprach- und Kulturfremdheit (vgl. ebd., S. 111-113). Vier Jahre später, im September 1937, eröffneten ihm seine weitgespannten Kontakte die Möglichkeit, nach Genf ans Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales zu wechseln, wo er einen aus Mitteln der Rockefeiler Stiftung finanzierten Forschungsauftrag annahm. Auch Röpkes enger Freund Alexander Rüstow emigrierte 1933 nach Istanbul, blieb allerdings bis 1949 an der dortigen Universität. Versuche, einen Ruf nach Amerika zu erhalten, blieben erfolglos. Während seines relativ isolierten Aufenthalts am Bosporus wandte er sich kultursoziologischen Studien zu, die später im monumentalen Werk „Ortsbestimmung der Gegenwart" gipfelten. Er stand mit Röpke, Eucken und anderen Wissenschaftlern in brieflichem Kontakt und half, über die Kriegsjahre das Netzwerk neoliberaler Intellektueller zu knüpfen. Die Freiburger Professoren harrten in Deutschland aus, obwohl ihre Lage dort zunehmend bedrängt war. 44 Eucken trat als eine Art Sprecher der latenten Opposition im Senat der Universität auf und stellte sich gegen den neuen Rektor Martin Heidegger, der 1933 die Hochschule nach dem Führerprinzip umzuformen suchte, nach einem Jahr aber seinen Posten wieder aufgab. Die antijüdischen Ausschreitungen der Reichspogromnacht im November 1938 waren Anlaß für die Gründung des „Freiburger Konzils", einer Keimzelle der sogenannten Freiburger Kreise (vgl. Rübsam/Schadek, 1990).45 Zum Kern dieser überlappenden Widerstandszirkel gehörten neben Eucken die Ökonomen Constantin von Dietze und Adolf Lampe sowie der Historiker Gerhard Ritter. 46 Auf Bitte von Dietrich Bonhoeffer erarbeiteten die Freiburger ab Oktober 1942 eine Programmschrift der verdeckten deutschen Opposition für die ökumenische Weltkirchenkonferenz. Ergebnis der zweimonatigen Beratungen, an denen auch der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler teilnahm, war die „Freiburger Denkschrift", die einen umfassenden Entwurf der Grundsätze eines Nachkriegsdeutschlands nach dem erhofften Ende des NS-Regimes entwarf (vgl. Blumenberg-Lampe, 1973, S. S. 21-29 u. 55-61). Das gescheiterte Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler löste eine Verfolgungswelle aus, die auch Freiburger Wissenschafder ins Visier der Gestapo brachte. Eucken wurde mehrfach verhört, konnte aber einer Verhaftung entgehen. Dietze, Lampe und Ritter kamen dagegen ins Berliner Gefängnis Moabit und zeitweilig ins Konzentrationslager Drögen-Ravensbrück, wo sie tagelang zu ihren Kontakten mit Goerdeler verhört und teils gefoltert wurden. Es folgte eine Anklage wegen Hoch- und Landesverrats vor dem „Volksgerichtshof. Im April 1945 konnten sie fliehen und entkamen so knapp dem Tod, den viele ihrer Mithäftlinge in diesen Tagen durch wahllose Erschießung fanden. Die wirtschaftlichen und politischen Ar-

Aus dem Kreis der Freiburger Ökonomen emigrierte während der NS-Zeit einzig Friedrich A. Lutz, der ehemalige Assistent Euckens und spätere MPS-Präsident. 1934 erhielt er ein Stipendium der Rockefeiler Foundation, das ihm einen befristeten Forschungsaufenthalt in London ermöglichte. Dort traf er die LSE-Studentin Vera Smith, die er 1937 heiratete. Kurz vor Kriegsausbruch siedelten beide in die Vereinigten Staaten um, wo Lutz von 1939 bis 1953 an der Universität Princeton lehrte, bevor er nach Freiburg zurückkehrte. 45 Besonders Böhm hatte schon in den frühen dreißiger Jahren offen gegen die antisemitische Hetze der Nationalsozialisten Stellung bezogen und seine jüdische Schwiegermutter, die Schriftstellerin Ricarda Huch, zu verteidigen versucht. Während der NS-Zeit erhielt er in Freiburg keinen Lehrstuhl und mußte auf einer Vertretungsstelle in Jena den Krieg überstehen, hielt aber zugleich noch Kontakt zu den Freiburger Kreisen. 40 Sie alle waren tief religiöse Protestanten, die gemeinsam mit einigen Freiburger Pastoren die regimekritische Bekennende Kirche in der Auseinandersetzung gegen die NS-treuen Deutschen Christen unterstützten (vgl. dazu Martin, 2005). Zu Constantin von Dietze, der später wie sein Sohn Gottfried aktives Mitglied der MPS wurde, vgl. Blesgen (2005). Die tragischen Umstände des Todes von Lampe als Folge seiner Internierung in einem französischen Lager, wo er als angeblich NS-Belasteter hinkam, vgl. bei Grossekettler (2005, bes. S. 96-97). 44

78 • Wandlungen des Neoliberalismus beiten der Freiburger Widerstandskreise lieferten nach Kriegsende wichtige Impulse. Sie stellten geistige Weichen für eine freiheitliche Wirtschafts- und Sozialordnung. Wenn auch ihre staats- und gesellschaftspolitische Konzeption teilweise romantisierende und protestantisch-paternalistische Züge aufwies, kam den wirtschaftspolitischen Vorarbeiten größte Bedeutung zu. Hier nahmen sie entscheidende Aspekte der späteren deutschen Währungsreform und der Sozialen Marktwirtschaft vorweg (vgl. Klump, 2005).

7. Amerikanische Wirtschaftspolitik in der Krise Die Große Depression erschütterte auch die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen der Vereinigten Staaten. Sie erreichte dort ein beinahe ebenso verheerendes Ausmaß wie in Deutschland. Zwischen 1929 und 1933 brach das amerikanische Bruttoinlandsprodukt um mehr als 30 Prozent ein, die Realeinkommen fielen um rund ein Drittel. Besonders betroffen waren die ohnehin überschuldete Landwirtschaft und die Industrie, deren Aufträge nach 1929 um fast 60 Prozent zurückgingen. Die Arbeitslosenquote, 1929 bei nur 3,2 Prozent, kletterte bis 1933 auf fast 25 Prozent. Präsident Herbert Hoover, ein Republikaner, kam zu Unrecht in den Ruf, die Depression durch Aussitzen überstehen zu wollen (vgl. Higgs, 1987, S. 162-167). Nach 1929 hoffte er zwar, die Investitionen anzuregen, indem er unter Wirtschaftsführern um Vertrauen und Optimismus warb. Doch beließ er es nicht bei Appellen, sondern ergriff eine Politik aktiver staatlicher Stützungsversuche. In nur vier Jahren verdoppelten sich die Ausgaben der Bundesregierung, deren Budget allerdings nur 2,5 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der Vereinigten Staaten ausmachte. Hoover legte auch kein Veto gegen die Smoot-HawleyZollgesetze ein, die weltweit das Protektionskarussell andrehten. Gemessen an Roosevelts Interventionismus waren Hoovers Maßnahmen eher zurückhaltend. Doch, wie Fearon (1993, S. 116) respektvoll aus keynesianischer Sicht bemerkte: „Beide Präsidenten befürworteten einen gelenkten Kapitalismus und bezogen ihre Inspiration aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, als Agenturen, welche die Talente von Wirtschaft und Staat zusammenspannten, sich während der Krise als effektiv erwiesen hatten." In der populären Geschichtsschreibung wird Präsident Franklin Delanoe Roosevelt das Verdienst zugesprochen, die Wirtschaftskrise überwunden zu haben. Allerdings verharrte die Arbeitslosigkeit bis zum Zweiten Weltkrieg auf sehr hohem Niveau; bis 1935 lag sie über 20 Prozent, fiel erst nach Kriegseintritt der Vereinigten Staaten unter 14 Prozent. Die von liberaler Seite stets geäußerten Zweifel am Erfolg von Roosevelts Wirtschaftspolitik werden durch neuere Studien bestätigt. Die Untersuchung von Cole und Ohanian (2004) kam zu dem Schluß, der New Deal habe nicht zur Erholung beigetragen, sondern diese sogar durch ein künstlich überhöhtes, den Aufschwung behinderndes Lohnniveau verzögert. Roosevelts Uberzeugung war, daß die Depression durch zu geringe Löhne und Preise bedingt sei. Sein Ziel war daher, die Deflation zu stoppen und eine Reflationierung der Wirtschaft anzustoßen. Dazu bediente er sich der Ausschaltung des als zerstörerisch empfundenen Konkurrenzprinzips mittels staatlich geförderter Kartellierung und zentraler Koordinierung der Industrie und der Landwirtschaft. Als Anregung und Vorbild zu diesem Experiment dienten nicht nur die Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs, etwa das von Bernard Baruch geleitete War Industries Board. Auch der Korporatismus des faschistischen Italiens stand hoch im Kurs (vgl. DiLorenzo,

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 79

2001, S. 435-440). 47 Einer der Wirtschaftsberater Roosevelts, der äußerst linksstehende „Braintruster" Rexford Tugwell von der Columbia Universität, war nach einer Informationsreise 1934 nach Rom tief beeindruckt. Trotz weltanschaulicher Vorbehalte erkannte er den Faschismus als Reformmotor und notierte in seinem Tagebuch: „Dies ist die präziseste und wirkungsvollste Sozialmaschine, die ich je gesehen habe. Ich bin neidisch" (zit. n. Schivelbusch, 2005, S. 36). Mehr noch erfreute sich die russische Planwirtschaft wohl-wollender Neugier der Intellektuellen (Ekirch, 1969, S. 60-64 u. 114). Tugwell urteilte 1930 über die Sowjetunion: „Ihre schlimmsten Feinde müssen zugestehen, daß das neue System anscheinend in der Lage ist, Güter in größerer Menge als das alte zu produzieren und solchen Wohlstand über größere Teile der Bevölkerung zu verbreiten." Er lobte die Möglichkeiten eines „komplett durchdachten Programms" und erklärte, die „großen Vorteile" der Planung überwögen die „Nachteile wie den angeblichen Verlust an Anreizen, Bürokratismus, phantasielose zentrale Verwaltung" (zit. n. DiLorenzo, 2001, S. 437-438). 48 Zu den Kernstücken von Roosevelts New Deal gehören der Agricultural Adjustment Act (AAA) und der National Industrial Recovery Act (NIRA), beide verabschiedet innerhalb weniger Wochen nach seiner Amtseinführung. Erklärtes Ziel beider Maßnahmen war, die Preise für Güter und Dienstleistungen zu verteuern und gleichzeitig die Löhne und Gehälter zu steigern, um die schwache Nachfrage zu beleben, denn der Preisverfall wurde, wie gesagt, nicht als Ergebnis der Wirtschaftsschwäche, sondern als ihre Ursache wahrgenommen. Obwohl das amerikanische BIP bereits um fast ein Drittel zurückgegangen war, identifizierte die Regierung Roosevelt eine problematische „Uberproduktion". Der schlecht koordinierte Wettbewerb, der diese produziere, müsse durch staatlich kontrollierte Einschränkungen abgestimmt werden. Für die Landwirtschaft verfügte der AAA daher finanzielle Anreize zur Stillegung von Anbauflächen. Gleichzeitig wurden Kredite zur Verfügung gestellt, um verschuldete Farmer wieder liquide zu machen und ihre Kaufkraft zu stärken. In ähnlicher Weise enthielt der NIRA Bestimmungen zur regulativen Einhegung des Wettbewerbs und zur Drosselung der Produktion. Zugleich wurden die Industrien gedrängt, die im Zuge der Kartellbildung erzielten Gewinne über höhere Löhne zum Teil an die Arbeitnehmer weiterzureichen (vgl. Cole/Ohanian, 2004, S. 783-786). Mit einem dichten Netz von mehreren hundert bindenden Kodizes wurden detailliert Preise, Produktionsmengen und Beschäftigungsbedingungen geregelt. Im Ergebnis bedeutete dies die kartellartige Zusammenfassung fast der gesamten Industrie, überwacht durch die Bürokratie der National Recovery Administration (NRA), die für „fairen Wettbewerb" zu sorgen hatte. 49 Zumindest Sympathien für Mussolini gab es unter fortschrittlichen Intellektuellen wie auch Industriellen (vgl. Diggins, 1972): In der linksliberalen New Republic schrieb Croly regelmäßig pro-faschistische Kommentare. 1927 veröffentlichte die Zeitschrift eine „Apology for Fascism" aus der Feder von Horace Kallen, einem von Deweys engen Verbündeten und Mitbegründer der linken New School for Social Research. Auf der Höhe der Depression titelte die Zeitschrift Nation plakativ: „Wanted: A Mussolini". Auch das Wirtschaftsmagazin Barron's meinte im Februar 1933, zwar widerspräche eine Diktatur dem Geist der amerikanischen Institutionen, doch „eine milde Spezies Diktator würde uns über die schwierigsten Stellen des vor uns liegenden Weges hinweghelfen" (zit. n. Higgs, 1987, S. 169). 48 Ein weiteres entlarvendes Zitat stammt von Stuart Chase, der mit seinem Buch „The New Deal" 1932 den Namen für Roosevelts Programm erfand. Chase forderte darin die Einrichtung eines nationalen Planungskomitees, besetzt mit „Ingenieuren, Naturwissenschaftlern, Statistikern, Ökonomen, Buchhaltern und Juristen". Gänzlich ohne Ironie daraufhin seine Frage: „Warum sollen die Russen allein den Spaß haben, die Welt umzugestalten?" (Chase, 1932, S. 219 u. 252). 49 Verbale Ausfälle gegen das Prinzip des freien Wettbewerbs („ökonomischer Kannibalismus") und wenig kooperativ gestimmte Geschäftsleute („industrielle Piraten") sind besonders von NRA-Präsident Hugh Johnson überliefert, einem pensionierten General, der sein Organisationstalent einst im Ersten Weltkrieg bei der Einziehung von über einer Million zum Wehrdienst verpflichteten Männern bewiesen hatte. Konservative Industrielle und klassisch übe47

80 • Wandlungen des Neoliberalismus

anfangs stieß die genannte zentrale Lenkung auf Beifall in weiten Teilen der Geschäftswelt, die nun, befreit von lästigem Konkurrenzdruck, wieder Geld verdienen konnte. Nur langsam erkannten die Industriellen, in welch enges Korsett sie sich zwängen mußten. Verschiedene Klagen liefen beim Supreme Court ein, der schließlich mit knapper Mehrheit 1935 den NIRA, 1936 den AAA für verfassungswidrig erklärte.50 Es folgte eine harte Konfrontation des Präsidenten mit dem Supreme Court, dessen als „reaktionär" diffamierte Richtermehrheit sich öffentlichen Angriffen ausgesetzt sah. Nach seiner triumphalen Wiederwahl 1936 fühlte sich Roosevelt stark genug, die widerspenstigen Richter aus dem Amt zu verdrängen und den Supreme Court mit Gefolgsleuten neu zu besetzen.51 Gegenüber dem ersten New Deal von 1933, der noch auf Zustimmung der Wirtschaftsverbände gestoßen war, verschärfte Roosevelt nun seinen sozialreformerischen Elan. Seine Rhetorik wurde aggressiver und war klar gegen das unabhängige Unternehmertum gerichtet. Zu den umstrittensten Vorhaben diese zweiten Phase des New Deal ab 1935 gehörten Gesetze wie der von Senator Robert Wagner initiierte National Labor Relations Act und der Fair Labor Standards Act, die den Gewerkschaften umfangreiche Privilegien und Macht in kollektiven Lohnverhandlungen gaben. Der Social Security Act (SSA) sah erstmals eine staatliche, zunächst kapitalgedeckte, dann bald umlagefinanzierte Alters-vorsorge vor. Mit ihm begann auch in den Vereinigten Staaten, gegenüber Europa um einige Jahrzehnte verspätet, der Einstieg in die Ära des kollektiven Sozial- und Wohlfahrtsstaates.52 Der Programmformel „social security" lag eine fundamentale Abkehr vom früheren amerikanischen Verständnis der Eigenvorsorge zugrunde: Ihre Prämisse war, „daß die Not, welche es zu bekämpfen galt, nicht individuell verschuldet, sondern kollektiv verursacht und eben deshalb auch durch kollektivistische Maßnahmen zu beheben sei" (Kaufmann, 2003, S. 98-99, kursiv im Orig.).53

8. Eine liberale Widerstandsbastion: Die Chicagoer Schule Gegen Roosevelts wirtschaftspolitische Maßnahmen regte sich nur schwacher Widerstand von Seiten der Ökonomenzunft. Auch in den Hochschulen und Forschungsinstituten wehte ein interventionistischer Zeitgeist, der das Treiben der Marktkräfte mit Chaos gleichsetzte und eine starke, regelnde Hand herbeisehnte. Eine gewisse Ausnahme bildete seit ihrer Gründung im Jahr 1892 die Universität Chicago, besonders die Wirtschaftsfakultät unter ihrem kämpferisch marktwirtschaftlichen Dekan J. Laurence Laughlin. Sie erwarb sich schon

rale Ökonomen, (die sich dem Denken des New Deal verschlossen, beschimpfte er als „soziale Neandertaler", „Old Dealers" und „Korporale des Desasters" (zit. n. Higgs, 1987, S. 169). 50 Die Richter kritisierten, daß die beiden zentralen Gesetze des New Deal dem Präsidenten und der Exekutive eine v o m Kongreß nicht kontrollierbare diskretionäre Macht übertragen und außerdem die Rechte der Einzelstaaten aushebeln würden. 51 Ein wichtiger neuer Richter war der Juraprofessor und glühende Gewerkschaftsadvokat Felix Frankfurter, dessen Schüler zunehmend die Wirtschafts- und Sozialadministration der Regierung beeinflußten. Während des Ersten Weltkriegs hatte Frankfurter zu den begeisterten „pro-war progressives" gezählt und als Chef des War Labor Policy Board Erfahrungen mit der zentralen Mobilisierung und Lenkung von Arbeitskräften gesammelt. Bis zu seiner Berufung an den Supreme Court lehrte er an der Universität Harvard und tat sich dort als Unterstützer des New Deal hervor. 52 Zuvor hatte lediglich die einflußreiche Gruppe der Veteranen des Bürgerkriegs staatliche Leistungen für sich erwirken können. 53 Zudem hob der SSA mit der massiven Subventionierung einzelstaatlicher sozialpolitischer Programme die bisherige strikte Trennung der Zuständigkeiten auf und bewirkte mit der Verflechtung der beiden verfassungsmäßig gesonderten Ebenen einen starken Zentralisierungsschub.

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 81 bald den Ruf einer Bastion konservativ-liberaler Ansichten. Da den finanziellen Grundstock der Universität eine großzügige Spende des Öl-Unternehmers John D. Rockefeller gelegt hatte, verspotteten manche Progressive sie als „Standard Oil University" und sahen sie als Sprachrohr von „Big Business". Allerdings war die Chicagoer Wirtschaftsfakultät von Anfang an recht heterogen besetzt: „Rückblickend erscheint es, daß die vorherrschenden intellektuellen Einflüsse auf die Chicago-Wirtschaftswissenschaft in den 1890ern und 1900ern eher Veblen und John Dewey als Laughlin waren" (Coats, 1963, S. 491). Die eigentliche Chicagoer Schule begann sich in den dreißiger Jahren um die beiden Professoren Frank H. Knight und Jacob Viner zu bilden, bald verstärkt um Henry C. Simons, die sich gegen den vorherrschenden Institutionalismus der Veblen-Schüler stemmten und die Chicagoer Wirtschaftsfakultät in einem marktwirtschaftlich-liberalen Geist prägten. 54 Damit bildeten sie eine kleine Insel in der ansonsten doch linksgerichtet „progressiven" akademischen Landschaft. 55 Knight, geboren 1885 in Süd-Illinois, kam 1927 an die Universität Chicago und wirkte dort bis 1965. Obwohl sein Interesse sich Ende der dreißiger Jahre immer mehr auf philosophische Studien verlagerte, übte er große Faszination auf die Wirtschaftsstudenten aus. Zu seinen Schülern gehörten im Laufe der Jahre so bekannte Männer wie der 1899 geborene Henry Simons, der bald eine wichtige Stütze Knights und in den späten dreißiger Jahren dominierende Figur in Chicago wurde, ferner die jüngeren Aaron Director, dessen Schwager Milton Friedman sowie George Stigler — alles Männer, die später für die MPS große Bedeutung erlangen sollten. Viner hatte keine vergleichbare Schar direkter Schüler, gab aber mit seiner Handelstheorie wissenschaftliche Impulse, die lange nachwirken sollten. Zeitlebens ein großer Nonkonformist und Skeptiker, hatte sich Knight mit seiner 1921 unter dem Titel „Risk, Uncertainty and Profit" veröffentlichten Dissertation früh einen Namen als origineller ökonomischer Denker gemacht. „Risiko" definierte er darin als eine normale, versicherbare Wahrscheinlichkeitsgröße, wogegen „Unsicherheit" ein unkalkulierbares Zufallselement darstellte (vgl. Knight, 1921/1964). Mit letzterem Faktor erklärte er nun die Tatsache, daß erfolgreiche Unternehmer auch im langfristigen Marktgleichgewicht mehr als Null-Gewinne erzielten, wenn sie ein Gespür für die Unwägbarkeiten zukünftiger Entwicklungen hatten. Knights Parteinahme für die Marktwirtschaft basierte auf der Einsicht in ihre größere Effizienz, da angesichts allgegenwärtiger Unsicherheit der haftende Unternehmer mehr Einsatz zeige als risikoaverse Verwalter sozialistischer Staatsbetriebe (vgl. Kasper, 1993, S. 419-424). In einem wegweisenden Aufsatz von 1924 schaltete sich Knight, damals noch an der Universität Iowa beschäftigt, in die von Pigou begonnene Debatte um mögliches Marktversagen aufgrund externer Effekte ein (vgl. Knight, 1924/1999). Pigou hatte kurz zuvor in einem Aufsatz das später oft gebrachte Argument der „Externalitäten" vorgelegt. Seine These war, daß der Marktmechanismus häufig zu Ineffizienz und einer nicht-maximierten Gesamt-

Die Literatur zur „Chicago School" beginnt mit Miller (1962); vgl. dazu kritisch Stigler (1962). Bronfenbrenner (1962) wollte noch schärfer zwischen einer „älteren" Schule um Viner und Simons und der „jüngeren" Schule nach 1945 unterscheiden. Bis in die vierziger Jahre gehörten der Fakultät auch bekennende Sozialisten wie Oscar Lange an. Nach dessen Weggang nach Polen 1945, wo er das Amt des Wirtschaftsministers übernahm, richteten sich die Chiagoer Ökonomen stärker auf Knights Linie aus (vgl. Reder, 1982, S. 9-10). 55 Friedman behauptete später über die Universität Chicago der dreißiger Jahre, „fast eine Mehrheit der Sozialwissenschafder und der Studenten war Mitglied der Kommunistischen Partei oder stand ihr nahe." Das akademische Umfeld sei „stark pro-sozialistisch" gewesen (zit. n. Caldwell, 2004, S. 233). 54

82 • Wandlungen des Neoliberalismus

wohlfahrt führe, da die privaten Grenzkosten nicht mit den sozialen Grenzkosten übereinstimmen, weshalb staatliche Interventionen notwendig seien. Knight zweifelte Pigous Argumentation an und kritisierte besonders dessen Beispiel einer überfüllten Straße. Der Verkehr staue sich dort, weil keine privaten Eigentumsrechte vorlägen und somit keine Kostenbeteiligung der Autofahrer für die Nutzung erhoben werde. Statt eines Marktversagens, so implizierte Knights Argument, lag also ein Versagen der staatlichen Autoritäten vor, die Eigentumsrechte umfassend zu definieren (vgl. Breit/Ranson, 1992, S. 193-197). Obwohl ein politischer Liberaler und überzeugter Anhänger der Marktwirtschaft aufgrund ihrer überlegenen Effizienz, quälten Knight aber erhebliche Bedenken bezüglich des Kapitalismus, wie sein Aufsatz „The Ethics of Competition" von 1923 dokumentierte. Seine Diskussion des Für und Wider des kompetitiven Systems war um Differenzierung bemüht, fiel aber letztlich aus ethischer Sicht negativ aus.56 Zum einen betonte Knight das Zufallselement des Markterfolges und behauptete eine problematische Ähnlichkeit des kapitalistischen Wettbewerbs mit einem Glücksspiel, zum anderen beklagte er fehlende Chancengleichheit der einzelnen Marktteilnehmer, die über Generationen vererbt werde und in zunehmender Ungleichheit resultiere (Knight, 1923/1999; vgl. auch Kasper, 1993, S. 427-428). 57 Allgemein betrachtete Knight eine immer stärkere wirtschaftliche Konzentration als großes Übel und fürchtete eine Pervertierung des Wettbewerbs durch das Aufkommen von Kartellen und Monopolen, gegen die er durchgreifende Antitrust-Maßnahmen befürwortete. Daß Knight seine ethisch begründeten Zweifel am Kapitalismus, die ihn in jungen Jahren plagten, in den dreißiger Jahren zurückstellte und als klarer Befürworter des dezentralen Marktsystems öffentlich auftrat, lag an seiner wachsenden Abscheu gegen die mögliche Alternative. Die Gefahren einer sozialistischen Planwirtschaft sah er auf zwei Ebenen, der ökonomischen und der politischen: Zum einen, so argumentierte Knight ähnlich wie Mises und Hayek, mit deren „österreichischem" Ansatz er sich intensiv auseinandersetzte, sei die zentrale Lenkungsinstanz mit der Unsicherheit zukünftiger Entwicklungen konfrontiert, habe also ein unvollständiges Wissen und bewege sich mit ihren Plänen auf schwankendem Boden. Staatliche Interventionen müßten angesichts der Komplexität der Wirtschaftsstruktur unerwünschte Nebeneffekte bringen. In einer von Unsicherheit geprägten Welt sei beim Versuch umfassender Planung aller wirtschaftlichen Entscheidungen zwingend ein hohes Maß an ökonomischer Ineffizienz programmiert. Noch schwerer aber wog die Bedrohung der bürgerlichen Freiheit, die Knight mit der Planwirtschaft verbunden sah. 58

56 Er schrieb abfällig über „die allbekannt enttäuschende Art der Ergebnisse" des Laissez-faire in der Praxis, die im Widerspruch zur verführerischen Plausibilität und Einfachheit des theoretischen Systems der natürlichen Freiheiten stünde (Knight, 1923/1999, S. 67). Wenngleich sich seine Kritik auf ethische Kategorien bezog und er später seine Position milderte, blieb doch ein grundsätzliches Mißtrauen gegen das automatische Wirken eines Wettbewerbssystems ohne stabilisierenden Rahmen. 57 Das doch gespaltene Verhältnis Knights zur Marktwirtschaft wird in Darstellungen heruntergespielt, die ihn als Urvater der Chicagoer Schule und wortmächtigen Verteidiger des Kapitalismus feiern (vgl. etwa Kern, 1993). 58 In dem Aufsatz „Economic Theory and Nationalism" warnte er 1935: „Das Experimentieren der Gesellschaft an sich selbst ist sowohl begrenzt als auch furchtbar gefährlich", denn tatsächlich bedeute es „das Experimentieren mit der Gesellschaft als Ganzes als eine Art von Versuchskaninchen' durch eine politische Gruppe oder einen Offiziellen" (zit. n. Kasper, 1993, S. 429).

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 83

8.1. Konjunkturpolitischer Aktivismus der Chicago-Liberalen Die großangelegten ökonomischen Interventionen des New Deal lehnten Knight, Viner und Simons scharf ab. Allerdings geht die oft kolportierte Meinung fehl, daß sie dogmatisch den klassisch-liberalen Rezepten folgten und die Depression rein der Selbstheilungskraft der Märkte überlassen wollten. Diese Darstellung beruht auf einem Mythos (vgl. Davis, 1971). Tatsächlich warben die Ökonomen der frühen Chicagoer Schule im Verein mit linksgerichteten Kollegen wie Alvin Hansen seit 1930 offensiv für eine antizyklische Budgetpolitik. Konkret meinte dies in der Situation der Depression eine Abkehr von der Regel jährlich ausgeglichener Haushalte und statt dessen eine kreditfinanzierte Expansionspolitik, namentlich die Steigerung der Staatsausgaben und aktive Beschäftigungsmaßnahmen. Auf Anfrage von Senator Wagner, der einen Gesetzentwurf für staatlich finanzierte Arbeits- und Investitionsprogramme eingebracht hatte, antwortete Knight 1932: „Soweit ich weiß, stimmen die Ökonomen völlig darin überein, daß die Regierung in einer Zeit wie dieser so viel wie möglich ausgeben und so wenig Steuern wie möglich eintreiben soll" (zit. n. ebd., S. 16). In einer weiteren Stellungnahme aus Chicago, unterzeichnet von zwölf Professoren der Wirtschaftsfakultät, darunter den wichtigsten liberalen Ökonomen Director, Gideonse, Knight, Schultz, Simons und Viner, hieß es: Die äußerst harte Depression könne „entweder kraft automatischer Anpassung oder durch wohlüberlegtes Handeln des Staates" überwunden werden. Jedoch würde der automatische Prozeß, warnten sie, „fürchterliche Verluste und Verschwendung von Produktionskapazitäten sowie heftiges Leiden" involvieren, (zit. n. ebd., S. 25). Zwar leugneten die Chicagoer Ökonomen nicht, daß der Arbeitsmarkt von selbst wieder zur Vollbeschäftigung finden könne, doch erschien ihnen der Weg dorthin zu lang, zu hart und politisch zu gefährlich. Eingedenk der praktischen Schwierigkeiten der klassischen Medizin waren die Chicagoer Ökonomen um Knight, Viner und Simons bereit, ihr Ziel mittels einer unorthodoxen, expansiven Finanzpolitik zu erreichen, welche eine Reflationierung der Handelspreise bewirken müsse. Der fiskalische Impuls müsse dabei in einer kräftigen Dosis kommen, denn eine „inadäquate, zeitweilige Stimulation könnte die Bedingungen schlimmer machen, als man sie vorgefunden hat" (ebd., S. 27). Je mehr aber das Wachstum wieder anziehe und der Wirtschaftsmotor aus eigener Kraft wieder laufe, desto geringer würden die staatlichen Budgetdefizite ausfallen, bis sie schließlich gänzlich überflüssig würden. In vielem nahmen diese Vorschläge der frühen Chicagoer Schule eine Politik vorweg, die später als „keynesianisch" bezeichnet werden sollte. Die pragmatischen konjunkturpolitischen Ansichten der Liberalen der Universität von Chicago Anfang der dreißiger Jahre unterschieden sich weit weniger von denen, die Keynes zur selben Zeit entwickelte, als von den Schlußfolgerungen, die etwa Mises, Hayek und Robbins auf Grundlage der österreichischen Konjunkturtheorie zogen (vgl. Klausinger, 2003). Die Distanz war beträchtlich: Hayek sah die Depression bekanntlich als Quittung für den künstlichen Boom aufgrund expansiver Geldpolitik während der zwanziger Jahre, welche die Preisstruktur verzerrt und eine Korrektur unvermeidlich gemacht habe. Entgegen der aktivistischen Empfehlungen der Chicagoer Ökonomen bezog er daher einen eher passiven Standpunkt. Dagegen beschrieb besonders Viner die mögliche Gefahr einer kumulativen Abwärtsbewegung. Er fürchtete eine Art psychologischen Teufelskreis, der kein Halten mehr kenne und immer tiefer in den

84 • Wandlungen des Neoliberalismus Abgrund führe.59 Daraus zog er den Schluß, daß staatliches kontrazyklisches Eingreifen nötig sei, um die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Als Keynes' „General Theory" eine theoretische Rechtfertigung solcher Maßnahmen anbot, reagierten Viner, Knight und Simons jedoch reserviert (vgl. Davis, 1971, S. 146-148). Die originellen Aspekte von Keynes' Theorie, vor allem seine Spekulation bezüglich der Liquiditätspräferenz, erschienen Viner fragwürdig. In einer Besprechung der „General Theory" warnte er daher, Keynes' Argumentation führe in eine Welt mit „einem ständigen Wettlauf zwischen der Druckerpresse und den Geschäftsvertretern der Gewerkschaften, wo das Problem der Arbeitslosigkeit weitgehend gelöst ist, wenn die Druckerpresse einen ständigen Vorsprung behält und lediglich die Menge an Beschäftigung, unabhängig von der Qualität, als wichtig angesehen wird" (Viner, 1937, S. 149). Auch Knights Kritik an der „General Theory" zielte in diese Richtung: „Es scheint mir vernünftig, das ganze Werk als ein neues System der politischen Ökonomie zu interpretieren, das zur Stützung und Förderung von Mr. Keynes' Konzeption der Inflation als Heilmittel für Depression und Arbeitslosigkeit erbaut wurde" (Knight, 1937/1999, S. 365). Besonders polemisch zog Simons über Keynes her, der gute Chancen habe, das „akademische Idol unserer schlimmsten Irren und Scharlatane zu werden — um nicht von der Aussicht des Buches zu sprechen, die ökonomische Bibel einer faschistischen Bewegung zu werden" (Simons, 1936).

8.2. >y A Positive Program for Laissez Faire" Aufschlußreich für das eigenwillige liberale Denken in Chicago war das Pamphlet „A Positive Program for Laissez Faire", das Simons 1934 veröffentlicht hatte. Sowohl gegen die Regierung Hoover als auch die Regierung Roosevelt richtete er darin schwerste Vorwürfe. Die Ursachen der Großen Depression sah Simons zum einen in der zunehmenden Inflexibilität der Preise und Arbeitskosten, bedingt durch Monopole, Kartellierung und eine protektionistische Abschottung. Mit der Starrheit der Preise sei der Ausgleichsmechanismus von Angebot und Nachfrage außer Kraft gesetzt - eine fatale Entwicklung, welche die NRA gar noch verstärke. Zum anderen machte er eine destabilisierende Geldpolitik und mangelnde Bankenaufsicht als Hauptgründe des Desasters nach 1929 aus. Zunächst hätte die Regierung eine leichtfertige Kreditausweitung zugelassen und anschließend dem massenhaften Zusammenbruch der Geldinstitute und der folgenden Kreditklemme tatenlos zugesehen (vgl. Simons, 1934/1948, S. 74-75). Nötig sei eine radikale Reform des staatlichen Rahmens für das Finanzsystem, um diesem mehr Stabilität zu geben. Vehement lehnte Simons die Praxis des „friktionalen Reservesystems" ab, bei dem einzelne Geschäftsbanken nur einen Bruchteil ihrer Kreditauslagen als Sicherheit bei der Fed hinterlegen mußten und damit Spielräume zur Buchgeldvermehrung Simons (1942/1948, S. 188) schrieb in einer sehr kritischen Rezension zu Alvin Hansen, bei einer „unkontrollierten Deflation" sei nicht auszuschließen, daß „der Boden ... nicht existiert", wenn „die adversen Erwartungen den Verfall der Preise bewirken, und deren tatsächlicher Verfall die Erwartungen verstärkt". Klausinger (2003, S. 58) bringt dieses Zitat verkürzt und aus dem Zusammenhang gerissen. Simons referierte zwar diese Schreckvision, schrieb sie aber Hicks zu und teilte derartige Sorgen keineswegs uneingeschränkt. Tatsächlich warnte er vor einer solchen extremen Argumentationsfigur, die „bloß akademisch" sei und „die Diskussion wahrscheinlich in eine falsche Richtung lenkt, wo die Notwendigkeit für fiskalische und monetäre Gegenmaßnahmen außer Zweifel steht" (Simons, 1942/1948, S. 188). 59

Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung • 85 hatten. Mit nur einer geringen Mindestreserve sei die Geldmenge kaum kontrollierbar. Daher forderte Simons für sämtliche Bankeinlagen eine 100-Prozent-Reserve. Nach Abschaffung der privaten Geldschöpfung sollte die Fed die monetäre Steuerung nach einer „expliziten, einfachen Regel" durchführen, um plötzliche Expansionen oder Kontraktionen zu vermeiden und so Preis- und Konjunkturschwankungen zu vermeiden (vgl. ebd., S. 62-63). 60 Somit hatte Simons' Interpretation des Liberalismus einen speziellen Akzent, ganz ähnlich den Ansichten der deutschen Ordoliberalen: „Die Darstellung des Laissez-Faire als einer bloßen Politik des Nichtstuns ist unglücklich und irreführend. Es ist eine offenkundige Aufgabe des Staates bei dieser Politik, den rechtlichen und institutionellen Rahmen aufrechtzuerhalten, innerhalb dessen der Wettbewerb effektiv als Kontrollagentur funktionieren kann" (ebd., S. 42). In einem Nachruf auf Simons spitzte Charles Hardy (1948, S. 305) die These weiter zu: „Die zentrale Botschaft" sei, daß „Laissez-faire" nun „keine schwache Regierung bedeute, ,die sich zurücklehnt' (,keeping hands-off), sondern eine starke Regierung mit einem positiven, vorwärtsgerichteten Programm". Und der Journalist John Davenport würdigte ganz ähnlich das Bemühen Simons, die „oft vergessene Wahrheit" ins Gedächtnis zu rufen, „daß der freie Wettbewerb nicht ohne einen Staat erhalten werden kann, der fähig und willig ist, die Straßenverkehrsordnung festzuschreiben, die Art Rahmen, innerhalb dessen der Wettbewerb funktionieren kann" (Davenport, 1946, S. 116). Der Staat sollte demnach als externe Autorität die Fundamente der marktwirtschaftlichen Ordnung legen, eine stabile Währung garantieren und Eigentumsrechte schützen. Doch gerade diese Ordnungsfunktion habe er sträflich vernachlässigt, statt dessen direkt in das Marktgeschehen eingegriffen, oft getrieben von organisierten Partikularinteressen. Damit verzerre der Staat die relativen Preise und schmälere so die Effizienz und Selbstregulierungsfähigkeit der Wirtschaft. Die Entwicklung laufe seit vielen Jahren in die falsche Richtung, beklagte Simons. Fehlender Ordnungswille begünstige Verwerfungen der Marktwirtschaft, besonders das Aufkommen monopolistischer Machtstrukturen. Auf diese reagiere der Staat schließlich mit Interventionen, indem er Preise und Ausstoßmengen reguliere (Simons, 1936/1948, S. 42-43). In einer Vorbemerkung zu „Economic Policy for a Free Society", einer 1948 posthum veröffentlichten Sammlung von Simons' bekanntesten Aufsätzen, schrieb Aaron Director über „A Positive Program for Laissez Faire", Simons sei zeitlebens Anhänger des Laissez-faire, der „großen Tradition des neunzehnten Jahrhunderts" gewesen, doch habe er sich abgehoben „von der Horde von Reaktionären, die irrtümlich annehmen, daß diese Tradition eine gänzlich negative ist" (Director, 1948, S. VI). Der rein negative Ansatz der Wirtschaftspolitik

60 Erste Ansätze der später von Friedman verfeinerten „monetaristischen" Argumentation sind schon hier angelegt. Ausführlicher begründete er seine Position zugunsten einer festen Geldmengenregel in dem bekannten Aufsatz „Rules versus Authoriries in Monetary Policy" (vgl. Simons, 1936/1948). Friedman schrieb rückblickend über seinen Lehrer und dessen Ablehnung der keynesianischen Theorien: „Der Hauptunterschied zwischen Keynes und Simons ... spiegelt ihre unterschiedlichen Temperamente wieder." Beiden schien die Architektur des Finanzsystems bedrohlich instabil. Während jedoch Keynes sein Augenmerk auf kurzfristige Entwicklung legte und, voll Vertrauen in die Beamten, die Lösung in mehr diskretionären staatlichen Eingriffen sah, suchte Simons nach einem grundsätzlich neuen Weg. Für ihn, „den Radikalen, der stets langfristig dachte, der das für Leute aus dem Mittleren Westen typische Mißtrauen gegen die Bürokraten in Washington besaß,... lag die Lösung darin, zur Wurzel des Problems zu gehen, indem die Finanzstruktur drastisch reformiert werde", so Friedman (1976, S. 88-89).

86 • Wandlungen des Neoliberalismus begünstige die Bildung von Monopolmacht und zugleich von politischen Interventionen auf Druck der Interessengruppen. Nach Simons' Uberzeugung, so Director, waren „Laissezfaire" und „Nachwächterstaat" nur dann möglich, wenn eine Situation geschaffen und erhalten werde, wo echter Wettbewerb herrsche. Das „positive Programm" des Liberalismus, das ihm vorschwebte, hatte also eine klare Stoßrichtung: die Stärkung der kompetitiven Dynamik der Wirtschaft durch eine konsequente Wettbewerbspolitik, wie sie auch die Freiburger Schule um Eucken forderte. 61 Monopole verabscheute Simons nicht nur, da sie die wirtschaftliche Effizienz der Volkswirtschaft minderten, indem sie die produzierte und gehandelte Menge künstlich verknappten. Er sah sie als ausbeuterische Institutionen und letztlich als bedrohliche Machtgebilde. Eindringlich warnte er: „Die große Gefahr für die Demokratie ist das Monopol, in all seinen Formen: gigantische Firmen, Handelsvereinigungen und andere Einrichtungen für Preiskontrollen, Gewerkschaften" (Simons, 1936/1948, S. 43, kursiv im Orig.). Zur Auflösung aller Monopole, die er nicht näher definierte, faßte Simons „drastische Maßnahmen" ins Auge: wettbewerbsfördernde Rahmenbedingungen für alle Wirtschaftszweige, wo Wettbewerb möglich sei, sowie eine „allmähliche Überführung in direkten Staatsbesitz" all jener Industrien, wo der Wettbewerb nicht „zum Funktionieren gebracht werden" könne. Gigantische Konzerne müsse man zerschlagen, die Verflechtung von Firmen durch gegenseitige Beteiligungen verbieten und Unternehmenserträge stark besteuern, um übermäßiges Wachstum durch zurückbehaltene Gewinne zu verhindern, so Simons (vgl. ebd., S. 57-59). Während also die Gründer der Chicagoer Schule, allen voran Knight und Simons, die Gefahr von Monopolbildungen als zentrales Problem ansahen, sollten die späteren Vertreter der Schule etwaige Konzentrationstendenzen in der Wirtschaft mit mehr Gelassenheit beurteilen. Sie waren skeptischer, was Regulierung und die Möglichkeiten einer aktiven „Antitrust"-Politik anging, und optimistischer bezüglich der Wirksamkeit des Wettbewerbs auch bei oligopolistischen Marktsituationen. Die weitreichenden Vorschläge zur staatlichen Entflechtung großer Finanzkonglomerate, zur Zerschlagung von Mammutkonzernen bis hin zur Verstaatlichung einer ganzen Reihe von „natürlichen Monopolen", die Simons in „A Positive Program for Laissez Faire" machte, erschienen ihnen rückblickend allzu interventionistisch. Zudem befürwortete Simons ein stark progressives Steuersystem und substantielle Umverteilung. Spätere Chicagoer Neoliberale wie Ronald Coase, Stigler oder Friedman mochten darin eine bedenklich staatsorientierte Tendenz erkennen (vgl. De Long, 1990, S. 601-602). Im Kontext der dreißiger Jahre fiel eher das emphatische Bekenntnis Simons' zu einer durch Wettbewerb gekennzeichneten Marktwirtschaft auf. Damit unterschied er sich vom „Mainstream" der amerikanischen Ökonomen und stand in schärfster Gegnerschaft zu den Erfindern und Propagandisten des kartellistischen New Deal. „Die wirklichen Feinde der Freiheit in diesem Land", schrieb er, „sind die naiven Befürworter einer gelenkten Wirtschaft oder nationaler Planung" (Simons, 1934/1948, S. 41).

Unklar ist, ob und wie weit Simons die Arbeiten der Freiburger Schule bekannt waren. Eucken würdigte später Simons als wichtigen Ideengeber (vgl. Eucken, 1952, S. 255).

61

III. Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus Angesichts der fortschreitenden Erosion des einstigen liberalen Paradigmas kam 1938 in Paris eine Gruppe von Intellektuellen zusammen, um die Gründe des Niedergangs des Liberalismus und Chancen seiner Wiederbelebung zu diskutieren. Das Colloque Walter Lippmann führte erstmals eine über die ganze Welt versprengte Schar von Liberalen zusammen, die später die Kerntruppe der frühen Mont Pèlerin Society bildeten. Grundlage ihrer Diskussionen um eine Erneuerung des Liberalismus war „The Good Society", ein Buch des Journalisten Walter Lippmann. Der bekannte amerikanische Publizist hatte das Wirtschaftsprogramm Roosevelts zunächst begrüßt, änderte aber seine Meinung, als der Präsident in der Auseinandersetzung mit dem Supreme Court einen verfassungsrechtlich bedenklichen Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit und die Gewaltenteilung unternahm. „The Good Society" war als Streitschrift gegen totalitäre Regime in Italien, Deutschland und Rußland gedacht, rechnete aber zugleich mit dem „graduellen Kollektivismus" ab, für den der New Deal stehe. Der „graduelle Kollektivismus", so Lippmanns Sorge, könne in freiheitsfeindlichen und aggressiven Kollektivismus umschlagen. Der zweite Teil des Buchs, seine Vision eines „Reconstructed Liberalism", enthielt zahlreiche Reformvorschläge im Sinne eines erneuerten Liberalismus. Während Lippmann grundsätzlich den Markt als überlegenen und freiheitsgemäßen Mechanismus der Koordinierung wirtschaftlicher Aktivitäten ansah, ließ er hier einige sozialreformerische Ideen einfließen. Das Treffen 1938 in Paris, zu dem der französische Philosoph Louis Rougier eingeladen hatte, wurde zur Geburtsstunde des Neoliberalismus. Mehrheitlich erklärten die Teilnehmer hier den Abschied vom Laissez-faire. Der Staat habe die legitime und notwendige Aufgabe, einen rechtlichen Rahmen zur Erhaltung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zu setzen. In der Frage, wie der vermuteten Tendenz zu mehr wirtschaftlicher Konzentration zu begegnen sei, tendierten die Teilnehmer mehrheitlich zu der Forderung nach einer staatlichen Bekämpfung von Monopolen. Bezüglich der „Sozialen Frage" gab es Diskussionen zwischen jenen, die eine ethische Verpflichtung des Staates zum Eingreifen sahen, und anderen, die erst durch staatliche Eingriffe eine Störung des Marktes, Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit befürchteten. Insgesamt zeigten die Diskussionen beim Colloque Walter Lippmann, wie undogmatisch und experimentierfreudig die Liberalen geworden waren. Ihr Ziel war es, eine freiheitliche Philosophie zu entwickeln, die das Verhältnis von Kollektiv und Individuum, von Wirtschaft und Staat, neu definierte. Aus der wirtschaftlichen, politischen und intellektuellen Krise erwuchs so der Neoliberalismus.

1. Walter Lippmanns Aufruf zur liberalen Revision: „The Good Society" Walter Lippmann war zunächst ein begeisterter Anhänger von Roosevelt und dessen New Deal gewesen. Er sah die Große Depression als Chance für einen Neuanfang und Reformen. Wie nicht wenige amerikanische Linke, sah er sie als eine „gute Krise" und „glücklichen Bruch" (zit. n. Ekirch, 1969, S. 91). „Die gegenwärtige Politik von Roosevelt erfüllt mich mit großer Befriedigung", erklärte er noch im Januar 1935. „Die Welle von Planung, Kontrolle

88 • Wandlungen des Neoliberalismus und Regulierung", die von Washington ausgehe, sah er als „eine erstaunliche intellektuelle und moralische Erholung in diesem Land" (zit. n. Steel, 1980, S. 310). Die politischen Gegner der Wirtschaftspolitik des Präsidenten, mit dem er befreundet war, galten allgemein als „reaktionär". Mit dem kleinen Block prinzipieller Kritiker wie John T. Flynn, Albert J . Nock und H. L. Mencken, deren zornige Zwischenrufe ihnen den Beinamen „Roosevelt haters" einbrachten, hatte er nichts zu tun. Lippmann hielt aber auch Abstand zu jenen radikal linken Intellektuellen, darunter frühere Weggefährten wie John Dewey, die den New Deal als zu wenig radikal betrachteten (vgl. Riccio, 1996, S. 104-107). Zu Beginn der dreißiger Jahre hatte Lippmann bereits eine lange ideologische Wanderung hinter sich. Als Student ein überzeugter Sozialist und Mitglied der Fabian Society, wurde er in der „Progressiven Ära" ein prominenter Autor der Linken. 1 Langsam gab er strikt sozialistische Positionen auf: Eine zentralistische Planung, die er früher befürwortet hatte, erkannte er mehr und mehr als technische Unmöglichkeit in einer komplexen arbeitsteiligen Wirtschaft. Zudem deutete er die potentielle Bedrohung ziviler Freiheiten an. „Es ist leichter, in einem Gefängnis zu planen als in Hotels, leichter im Kommissariat der Armee als in einem Kaufhaus", schrieb er in „The Method o f Freedom" (Lippmann, 1934, S. 65). Eine gewisse Zweideutigkeit der Sprache verdeckte jedoch Anfang der dreißiger Jahre noch Lippmanns zunehmende Annäherung an wirtschaftsliberale Positionen. 2 Der New Deal schien ihm zunächst unbedenklich, wenngleich er die NRA als bürokratisches Monstrum ansah und ihr propagandistisches Beiwerk kritisierte. Zum Bruch mit Roosevelt kam es erst, als dieser 1936 seinen Plan des „Court Packing" öffentlich machte. Lippmann wertete dies als Angriff auf die verfassungsmäßig garantierte richterliche Unabhängigkeit. Roosevelt sei „machttrunken" und plane einen „unblutigen Coup d'état, der dem Lebenszentrum der demokratischen Verfassung einen tödlichen Schlag versetzt", warnte er nun (zit. n. Steel, 1980, S. 319). Wenig später kam im Herbst 1937 sein programmatisches Buch „The Good Society" heraus, an dem er bereits vier Jahre gearbeitet hatte. Lippmann befaßte sich in weit ausgreifender Interpretation mit der historischen und intellektuellen Entwicklung des Westens seit der Aufklärung. Zum vorherrschenden Merkmal der Gegenwart erklärte er das Dogma vom „Staat als Vorsehung". Die neuen ideologischen Bewegungen der Staatsgläubigen träten wohl mit unterschiedlichen Farben auf, letztlich aber beteten sie „zum selben Gott". Allen gemeinsam sei der Wille zur „erzwungenen Lenkung von Leben und Arbeit der Menschen", die Hoffnung, „daß Unordnung und Elend nur durch immer mehr zwangsweise Organisation überwunden werden können", das Versprechen, „daß durch die Macht des Staates die Menschen glücklich gemacht werden können" (Lippmann, 1937/1965, S. 1). Die „kollektivistische Bewegung", deren Beginn er auf 1870 datierte, sei keine zukunftweisende, fortschrittliche Kraft, sondern in Wirklichkeit eine ängstliche Reaktion auf die zunehmende

1 Mit zahlreichen Büchern und durch seine vielgelesene Kolumne „Today and Tomorrow" wirkte er meinungsbildend bis ins Zentrum der politischen Macht. Lippmanns publizistischer Einfluß ging weit über das „liberale", also sozialdemokratische, Lager hinaus und war nach seinem Wechsel 1931 zur New York Herald Tribüne auch in konser-vativeren Zirkeln spürbar. 2 So verurteilte er in „The Method o f Freedom" zwar den „absoluten Kollektivismus", befürwortete aber, da die Zeit des Laissez-faire seit dem Ersten Weltkrieg unwiederbringlich vorüber sei, einen „freien Kollektivismus", der Privateigentum und Eigeninitiative nicht abschaffe, wohl aber eine sanfte Lenkung durch den Staat erlaube (vgl. Lippmann, 1934, S. 59).

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 89

Offenheit und Dynamik der komplexen, arbeitsteiligen und global interdependenten Marktgesellschaft (vgl. ebd., S. 45-53). Bereits 1937 faßt Lippmann unter dem Oberbegriff der „totalitären Regime" sowohl den italienischen Faschismus, den deutschen Nationalsozialismus wie auch den russischen Kommunismus zusammen. All diesen kollektivistischen Systemen liege der Wille zugrunde, die Vielfalt der Interessen zu vereinheitlichen, zu standardisieren und zentralen Plänen unterzuordnen (vgl. ebd., S. 54-90). Auf dem Altar des Planens würden individuelle Wahlfreiheit und die Demokratie geopfert. Auch in Friedenszeiten arbeite die zentrale Planwirtschaft nach den Erfahrungen des Weltkriegs: So werde der Konsum rationiert, die Arbeitskraft zwangsverpflichtet, politische Mitbestimmung ausgeschaltet und Kritik am Plan unterdrückt. Ziel der kollektiven Anstrengung sei letztlich die Vorbereitung des nächsten Kriegs (ebd., S. 91-105). An manchen Stellen offenbarte Lippmanns Kritik am Sozialismus, wie prägend die Argumente der Österreicher, speziell Mises' und Hayeks, für ihn waren. 3 Nur unter Kriegsbedingungen, wenn der Bedarf für das Militär genau bestimmbar sei, erschien ihm eine rationale Planung möglich. Provokanter als die Abrechung mit den Kollektivsystemen des Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus wirkte, was Lippmann über den „graduellen Kollektivismus" schrieb. Die „Mehrheit der wohlmeinenden Leute", die mehr Wohlstand und Sicherheit wünschten, so Lippmann, befürworte das Konzept des „graduellen Kollektivismus". An die Adresse dieser Wohlmeinenden war nun seine überraschende These gerichtet: Der schleichende Kollektivismus sei nur eine Vorstufe zu offen totalitären Formen des Kollektivismus. Als Paradefall für einen „graduellen Kollektivismus" führte er den New Deal an, der zunehmend Privilegien an Interessengruppen, Produzenten und Gewerkschaften übertrage. Ihr zunächst friedlicher Wettlauf um staatliche Gunst und Sonderrechte münde letztlich in einen gefährlichen Kampf um die politische Macht (vgl. ebd., S. 106-130). In wirtschaftlich schwachen Zeiten oder in ärmeren Ländern, wo nur geringe Beute zu verteilen sei, warnte Lippmann, schlage der „graduelle, demokratische und friedliche" bald in aggressiven, militärischen „totalen Kollektivismus in einer Nation" um, wie in Italien und Deutschland (ebd., S. 131-132). Der Ruf nach wirtschaftlichem Schutz durch Zölle habe zu einer handelspolitischen Desintegration geführt, die Welt in feindliche Blöcke gespalten. „Und so, weil die Zunahme der Staatsregulierung immer ein abgeschlossenes Territorium erfordert, wenn sie effektiv sein soll, weicht der Traum des frühen neunzehnten Jahrhunderts von einem internationalen Sozialismus dem Albtraum des zwanzigsten Jahrhunderts vom nationalen Sozialismus" (ebd., S. 139-140). Am Ende kollektivistischer Bestrebungen stehe unvermeidlich die isolierte und abgeschlossene, nach Autarkie strebende Gemeinschaft. Um ihr Uberleben zu sichern, betrieben die rohstoffarmen Nationen eine aggressive Außenpolitik mit dem Ziel, Ressourcen zu erbeuten. Die Kriegsgefahr sah Lippmann somit eng verquickt mit dem ökonomischen Kollektivismus, dem immer eine militärische Tendenz innewohne. In der kollektivistischen

3 „Ungefähr hatte ich schon die inhärenten Schwierigkeiten einer Planwirtschaft erkannt", schrieb er kurz v o r Vollendung des Buchs in einem Brief an Hayek, „doch ohne die Hilfe von Ihnen und Professor von Mises hätte ich die Begründung niemals entwickeln können" (zit. n. Riccio, 1996, S. 124-125).

90 • Wandlungen des Neoliberalismus

Ära, warnte Lippmann, sei der Krieg um die Vorherrschaft ein „totaler" Krieg. Die begrenzten Konflikte der liberalen Ära gehörten der Vergangenheit an (vgl. ebd., S. 146-155). Dieser apokalyptischen Vision stellte Lippmann im zweiten Teil seines Buchs eine positive Utopie gegenüber, die er mit „A Reconstructed Liberalism" überschrieb. Er begann mit einer geballten Ladung Kritik am historischen Liberalismus, der Mitschuld an der gefährlichen historischen Entwicklung trage. Dieser habe dabei versagt, eine angemessene Antwort auf das verbreitete und verständliche Unbehagen der Menschen am revolutionären sozioökonomischen Wandel zu finden. Der kollektivistischen „Rebellion gegen den Markt" habe die liberale Seite kein positives Programm entgegengesetzt (ebd., S. 172). Waren klassische Lieberale wie Adam Smith noch innovativ, wenn sie die Bedeutung von Markt, Privateigentum und Preissystem erkannten, habe man die späteren Liberalen, für die Lippmann stellvertretend Herbert Spencer nannte, nur als blindwütige Verteidiger des Status quo und der bestehenden Eigentumsverteilung gesehen. Sie seien „Apologeten für Elend und Ungerechtigkeit geworden ... und Rechtfertiger von Institutionen und Praktiken, die der kritischen Intelligenz absurd veraltet erschienen" (ebd. S. 182). Als Kardinalirrtum der Liberalen des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnete Lippmann deren Idealisierung des Laissez-faire. Anfangs wohl eine revolutionäre Idee, sei es zum pedantischen Dogma verkommen und habe zugelassen, daß die Wirtschaft in einem gesetzlichen Vakuum operiere. Der Markt wie auch das Privateigentum seien jedoch geschaffene Institutionen, die einer Pflege und Regulierung bedürften. Das Debakel des Liberalismus, so Lippmann, sei die Konsequenz seines ideologischen Starrsinns, jegliche gesetzliche Regelung abzulehnen. Zudem habe er die „soziale Adaption" der Menschen an den schnellen wirtschaftlichen Wandel vernachlässigt (ebd., S. 208). Unter der Kapitelüberschrift „The Agenda of Liberalism" eröffnet er sodann ein weites Feld notwendiger „liberaler Reformen" zur sozialen Einhegung der Wirtschaft. Zwar gestand er zu, die Wirtschaft brauche Freiraum. Ihr dynamischer Wandel schaffe langfristig Wohlstand und dürfe nicht behindert werden. Doch im Gegensatz zum „orthodoxen" Wirtschaftsliberalismus forderte Lippmann eine aktive staatliche Politik jenseits des Marktes. Dazu gehörten öffentliche Beschäftigungsprogramme und Landschaftsgestaltungsprojekte. 4 Private Großunternehmen nannte er dagegen „unvereinbar mit einer freien Wirtschaft" (ebd. S. 218). Er verlangte schärfere gesetzliche Regulierung und mehr Markttransparenz. Zur Beherrschung der Konjunkturzyklen empfahl er „soziale Kontrollen, die einen Ausgleich zwischen den realen Ersparnissen mit den realen Investitionen der Gemeinschaft halten" (ebd., S. 219). Bei „Marktasymmetrien" müsse der Staat ebenfalls einspringen, um Gruppen mit geringer Verhandlungsmacht zu stärken, etwa durch „kollektive Rechte und entsprechende Pflichten für die Organisationen der Landwirte, Arbeiter und Konsumenten" (ebd., S. 222). Am weitesten von klassisch liberalen Vorstellungen entfernte sich Lippmann in der Frage der Eigentumsordnung: Die „Reformer des Liberalismus" müßten die „unverdienten Einkommen" ins Visier nehmen und ihren Beziehern die Hauptsteuerlast aufbürden. Bis das Steuersystem soweit verfeinert werde, daß für Konsum ausgegebene „unverdiente 4 Selbst ein staatliches Großprojekt wie die Tennessee Valley Authority mit mehreren Millionen für die Arbeit eingespannten Menschen, obwohl nicht explizit in diesem Zusammenhang genannt, blieb so im Bereich des Vorstellbaren.

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 91 Einkommen ... komplett enteignet werden", sei eine Politik unvermeidlich, die „große Einkommen durch drastische Erbschaft- und steil gestaffelte Einkommensteuern umverteilt" (ebd., S. 227). Eine größere Egalisierung der Einkommen erklärte er zum notwendigen Ziel einer liberalen Politik, die soziale Verwerfungen abfedere und Chancengleichheit schaffe, aber gleichzeitig die Effizienz der Märkte erhalte. Dem heutigen Leser von „The Good Society" fällt eine gewisse Spannung zwischen den beiden Teilen des Buchs auf. Die schroffe Absage an jeglichen „Kollektivismus", darunter auch den New Deal, kontrastiert mit einem in vielen Aspekten kompromißbereiten „Reformliberalismus". Dazu erklärte Steel (1980, S. 323): „Das Buch schien intellektuell in der Mitte gespalten: halb klassisch Laissez-faire, halb Wohlfahrtsstaatsliberalismus" — also eine halb liberale, halb sozialdemokratische Perspektive. Letzteres vermochte man erst mit einigem zeitlichen Abstand klar zu sehen. Den Zeitgenossen stach vor allem Lippmanns wirtschaftsliberales Bekenntnis zum Markt als Koordinationsmechanismus ins Auge. Linksgerichtete Intellektuelle wie John Dewey ereiferten sich daher, Lippmanns Buch sei eine „Ermunterung und praktische Hilfe für Reaktionäre" (zit. n. Riccio, 1996, S. 129). Amerikas Liberale, inzwischen „Konservative" genannt, begrüßten Lippmann als prominenten neuen Mitstreiter gegen etatistische und kollektivistische Tendenzen: Von den Chicagoern rezensierte Knight das Buch trotz einiger Bedenken im Detail wohlwollend; der in Südafrika lehrende LSE-Liberale Hütt vermerkte ebenfalls lobend, wie mutig sich Lippmann in „The Good Society" gegen den kollektivistischen Zeitgeist ausgesprochen hatte (vgl. Knight, 1938; Hütt, 1938).

2. Louis Rougier und die französischen Liberalen Auch in europäischen liberalen Kreisen stieß das Buch auf großes Interesse. Zu den begeisterten Lesern gehörte Louis Rougier, der es als „die beste Darlegung der Übel unserer Zeit" pries (CWL, 1939, S. 13). Heute wenig bekannt und zudem umstritten, war der 1889 geborene Philosoph in der späten Dritten Republik in Frankreich und darüber hinaus eine Schlüsselfigur für die Entstehung des Konzepts des Neoliberalismus, in den Worten Jacques Rueffs der „große Schöpfer der liberalen Restauration" (zit. n. Denord, 2001, S. 34).5 Seine akademische Karriere war nicht von übermäßigem Erfolg gekrönt. Als Atheist und strikter Anhänger des „Logischen Positivismus" stand Rougier quer zur vorherrschenden christlichen und neo-thomistischen Strömung der französischen Philosophie der Zwischenkriegszeit. Rougier lehrte zunächst an der Provinzuniversität Besançon, bevor er 1931 einen Ruf nach Kairo annahm. Philosophisch stand er den Mitgliedern des Wiener Kreises und besonders Moritz Schlick nahe, für die er mehrere internationale Kongresse organisierte.6

5 Zu Rougiers bewegter Biographie vgl. Denord (2001) und Marion (2004). Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Vorwürfe auf, der nach New York emigrierte Wissenschafder habe mit dem Vichy-Regime kollaboriert (vgl. dazu Fußnote 20 in Kap. 5.) 6 Innerhalb des Wiener Kreises stand Schlick politisch abseits, da er kein Sozialist wie Otto Neurath oder Rudolf Carnap war, sondern ein liberaler Konservativer, der die Wissenschaftstheorie in eher unpolitisches Fahrwasser lenken wollte.

92 • Wandlungen des Neoliberalismus Als Rougier 1936 nach Frankreich zurückkehrte, um einen Lehraufttag an der Universität Lyon anzutreten, fand er ein ökonomisch zerrüttetes, politisch tief gespaltenes Land vor. Léon Blums linke Volksfront unter Mitwirkung der Kommunisten hatte einen gewagten wirtschaftspolitischen Kurs eingeschlagen. Ihr Programm zum Abbau der Arbeitslosigkeit baute auf radikale Arbeitszeitverkürzungen auf 40 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich. Zusammen mit einem durch spontane Streiks erzwungenen Tarifabschluß bedeuteten die in den ersten Tagen der neuen Regierung verfügten Maßnahmen eine Erhöhung der realen Lohnkosten um 40 Prozent (vgl. Bleaney, 1985, S. 60). In der Folge sprang die Inflation an, und die Investitionsbereitschaft der Unternehmer sank gegen Null. Nach mehreren Vertrauenskrisen und angesichts ausbleibender Erfolge der nachfrageorientierten Politik mußte die Volksfront 1938 einer bürgerlichen Regierung weichen. Rougier hatte nie ein Hehl aus seiner Ablehnung einer egalitären, sozialistischen Vorstellung der Demokratie gemacht. Er hielt diese für eine gefährliche, quasi-religiöse Fiktion, wie er im Titel seines Buches „La mystique démocratique, ses origines, ses illusions" 1929 andeutete. Zum einen glaubte er mit Pareto an die Existenz und Notwendigkeit von zirkulierenden Leistungseliten, zum anderen stand er dem aristokratischen Liberalismus Ortega y Gassets nahe, auf den er mehrfach verwies. Wie dieser befürchtete Rougier als Folge eines drohenden Aufstands der staatliche Versorgung fordernden Massen ein Umkippen der Demokratie in einen totalitären Staat. Während eine konstitutionell begrenzte Demokratie die für eine Marktwirtschaft notwendige Freiheit garantiere, so Rougier, ermuntere die unbegrenzte Demokratie, die egalitäre „mystique", zu immer zahlreicheren Staatsinterventionen, die letztlich Demokratie und Bürgerrechte erdrückten und den Wohlstand gefährdeten (vgl. Marion, 2004, S. 33-35). In seiner Haltung als resoluter Antikommunist durch eine Forschungsreise in die Sowjetunion 1932 bestärkt, griff er nach seiner Rückkehr nach Frankreich in die politische Debatte ein. Mit den Ökonomen Maurice Allais und Jacques Rueff, der als hoher Beamter im Finanzministerium arbeitete, sowie dem Philosophen Raymond Aron gehörte er der kleinen Gruppe von Verfechtern der Marktwirtschaft an, die gegen den lauten Chor von Gewerkschaftern, Sozialisten und Kommunisten aber kaum ankamen. Um eine publizistische Basis zu schaffen, förderte Rougier die Gründung des Verlags La Librairie de Médicis, den MarieThérèse Génin leitete (vgl. Denord, 2001, S. 18-20).7 Anfang 1938 ging Rougier mit einem Aufruf „Retour au libéralisme" an die Öffentlichkeit, worin er die Hoffnung auf einen „konstruktiven Liberalismus" äußerte. Wenig später erschien unter dem Titel „Les mystiques économiques" ein Buch zur Entzauberung sozialistischer Konzepte, die er erneut als quasireligiöse Fiktion brandmarkte. Während der Philosoph eine Lanze für den Markt brach, grenzte er sich gleichzeitig scharf gegen den alten Liberalismus des Laissez-faire ab: „Der konstruktive Liberalismus, welcher der wahre Liberalismus ist, läßt nicht zu, daß man die Freiheit gebraucht, um die Freiheit zu töten. Er unterscheidet sich darin radikal vom Manchester-Liberalismus, der nichts anders sein kann als ent-

7 Er sorgte dafür, daß neben politischen Kampfschriften und antikommunistischer Literatur auch wissenschaftliche Schriften verbreitet wurden, darunter Werke von internationalen liberalen Größen wie Mises, Machlup und Robbins.

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 93 weder konservativ oder anarchistisch, und vom sozialistischen Planismus, der unweigerlich despotisch und willkürlich ist" (Rougier, 1938, S. 88). Nur insofern kann aber diese Position als „dritter Weg zwischen ,Laissez-faire' und Planismus" (Denord, 2001, S. 12) bezeichnet werden, als Rougier die Voraussetzung für eine funktionierende freie Marktwirtschaft in einem staatlich gesetzten Rahmen sah. Dieser diene zur Absicherung des Wettbewerbs gegen monopolistische und kartellistische Tendenzen. Darüber hinaus akzeptierte er in „Les mystiques économiques" weitere Eingriffe in die Eigentumsstruktur, wie etwa hohe Erbschaftsteuern und Umverteilung durch progressive Einkommensteuern. Obwohl der Liberalismus unter den Intellektuellen in Frankreich wie überall als eine sterbende, überholte Denkrichtung galt, erhielt doch Rougiers Buch erstaun-lich gute Rezensionen. Die Zeitschrift der Société d'Économie Politique glaubte gar inmitten des schärferen politischen Klimas „Tendenzen zu einer Renaissance des Liberalismus" zu entdecken (zit. n. ebd., S. 20).

3. „Le Colloque Waltet Lippmann" 1938 Bald nach Erscheinen von Lippmanns „The Good Society" bemühte sich Rougier um eine französische Übersetzung, die 1938 als „La cité libre" in der Librairie de Médias erschien. In einschlägigen Kreisen erregte das Buch sofort Aufmerksamkeit und den Wunsch nach einem engeren geistigen Austausch. Lippmanns Hochzeitsreise nach Europa im Sommer des Jahres gab Rougier Gelegenheit, den Autor des gefeierten Manifests mit befreundeten Wissenschaftlern, Publizisten und Unternehmern in Paris bekanntzumachen. Zu Ehren des Gasts aus Amerika wurde die fünftägige Konferenz vom 26. bis 30. August 1938 „Le Colloque Walter Lippmann" genannt. 8 Man traf sich in der Rue Montpensier 2, im Institut International de Coopération Intellectuelle. Rund die Hälfte der Teilnehmer stammte aus Frankreich. Neben Wissenschaftlern wie Louis Baudin und hohen Regierungsbeamten wie Rueff und Roger Aubin, dem Direktor der Banque des Règlements Internationaux, waren darunter auch Industrielle wie Auguste Detœuf, Louis Marlio und Ernest Mercier.9 Dank Rougiers großem Bekanntenkreis kam 8 Die Kolloquiumsakten fuhren die komplette Liste der 26 Teilnehmer mit kurzen Anmerkungen auf: „R. A r o n (Frankreich), R. Auboin (Frankreich), L. Baudin (Frankreich), M. Bourgeois (Frankreich), J. Castilejo (Spanien), J. B. Condliffe (Großbritannien), A. Detœuf (Frankreich), F. A. von Hayek (Großbritannien), M. A. Heilperin (Polen), B. Hopper (Vereinigte Staaten), B. Lavergne (Frankreich), W. Lippmann (Vereinigte Staaten), E. Mantoux (Frankreich), R. Marjolin (Frankreich), L. Marlio (Frankreich), E. Mercier (Frankreich), L. v. Mises (Österreichische Schule), A. Piatier (Frankreich), M. Polanyi (Großbritannien), St. Possony (Österreich), W. Röpke (Österreichische Schule) P], L. Rougier (Frankreich), J. Rueff (Frankreich), M. [sie] Rüstow (Türkei), Dr. Schütz (Österreich), Marcel van Zeeland (Belgien)" (vgl. (CWL, 1939, S. 11). Ebenfalls eingeladen, aber nicht erschienen waren weitere bekannte Liberale wie Luigi Einaudi, Ortega y Gasset und Lionel Robbins. 9 Alle drei waren intensiv an den intellektuellen und politischen Bemühungen um eine Wiederbelebung liberalen Gedankenguts beteiligt. Detœuf gehörte zur Gruppe „fortschrittlicher" Arbeitgeber um die Zeitschrift Nouveaux Cahiers, die sich für eine Entschärfung des „Klassenkampfs" und eine Aussöhnung mit der Arbeitnehmerschaft einsetzten. Mehr Distanz zu den Gewerkschaften hielt Mercier, der K o p f des „Redressement français", der auch zum „fortschrittlichen" Unternehmerlager gerechnet wurde. Zu den politisch aktivsten Industriellen der späten Dritten Republik zählte der 1 8 7 8 geborene Louis Marlio, Vertreter eines „sozialen Liberalismus", der sich auch in wissenschaftlichen Kreisen, etwa der Académie des sciences morales et politiques, hervortrat. In der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre vertrat er eine antikorporatistische Position, wenngleich er einen staatlichen Rahmen zur

94 • Wandlungen des Neoliberalismus darüber hinaus eine internationale Gruppe zusammen, die als geistige Elite der damaligen Liberalen bezeichnet werden kann. Die wichtigsten Kontakte liefen über William Rappard vom Institut Universitaire des Hautes Études Internationales in Genf, wo Rougier sein Buch „Les mystiques économiques" vorgestellt hatte. Rappard selbst war verhindert, dafür kamen drei seiner Kollegen: neben Mises und Röpke auch der aus Polen stammende Michael Heilperin. Unter den 26 Teilnehmern beim Colloque Walter Lippmann befanden sich zwölf, die später zu den Mitgliedern der Mont Pèlerin Society gehörten, darunter Hayek, Aron, Baudin, Lippmann, Mises, Polanyi, Röpke, Rougier, Rueff und Rüstow. 10 Der Bogen der Diskussionsthemen war weit gespannt. Nach einer Einführung „Die Gründe des Niedergangs und die Rückkehr zum Liberalismus" folgten fünf Sitzungen mit den Themen und Fragen: 1) „Ist der Niedergang des Liberalismus endogenen Gründen geschuldet?" 2) „Ist der Liberalismus fähig, seine sozialen Aufgaben zu erfüllen?" 3) „Wenn der Niedergang des Liberalismus nicht unvermeidlich ist, was sind die wahren Gründe (exogene Gründe)?" 4) „Wenn der Niedergang des Liberalismus nicht unvermeidlich ist, was sind Heilmittel, die aus der Analyse seiner Gründe zu schließen sind?" 5) „Zukünftige Aktionen" (vgl. CWL, 1939, S. 9-10). Rougiers Begrüßungsrede war nicht ohne Pathos. Zunächst ließ er Lippmanns Buch hochleben, das die gefährliche Verwandtschaft von Sozialismus und Faschismus gezeigt habe. Die „zwei Arten einer Spezies" seien vom gemeinsamen Glauben beseelt, „daß man eine gerechtere, moralischere und prosperierendere Gesellschaft realisieren kann ... indem man die Marktwirtschaft, die auf Privateigentum und dem Preismechanismus basiert, durch eine geplante Wirtschaft ersetzt, die auf Verstaatlichung, partieller oder totaler, der Produktionsmittel und der bürokratischen Lenkung durch ein zentrales Organ basiert" (ebd., S. 14). Die Planwirtschaft könne „nichts anderes sein als eine blinde, willkürliche und tyrannische Wirtschaft ... befohlen nach einem willkürlichen Plan", der die Wünsche der Konsumenten ignoriere und Ressourcen verschwende. A m Ende stünden nicht Würde und Freiheit der Menschen, wie von Sozialisten oft behauptet, sondern Zwangsarbeit, Rationierung des Konsums und Beschränkungen für Investoren, warnte Rougier. Seine Rede achtete auf Ausgewogenheit und teilte Hiebe gegen Links wie Rechts aus, gegen den sozialistischen wie den faschistischen und nationalsozialistischen Totalitarismus. 11 Neben dem Irrglauben der Linken prangerte Rougier auch die Fehler der Rechten an: „Das moralische Drama unserer Zeit ist nun die Blindheit der Leute von links, die von einer politischen Demokratie und von einem wirtschaftlichen Planismus träumen, ohne zu verstehen, daß die Planwirtschaft einen totalitären Staat impliziert und daß ein liberaler Sozialismus ein Widerspruch in sich ist. Das moralische Drama unserer Zeit ist die Blindheit der Leute von rechts, die vor Bewunderung für die totalitären Regierungen seufzen, während sie gleichzeitig die Vorteile einer kapitalistischen Wirtschaft in Anspruch nehmen, ohne sich klarzumachen, daß der totalitäre Staat das Privateigentum verschlingt, alle wirtschaftlichen Aktivitäten eines Landes in Gleichschritt bringt und bürokratisiert" (ebd., S. 14-15).

„Ordnung" der Konkurrenz befürwortet und staatlich regulierten Kartellen eine grundsätzliche Berechtigung zuerkennt (vgl. Morsel, 1997, S. 113-116). 10 Zum Beziehungsgeflecht der Teilnehmer vgl. Denord (2001, S. 21-23). 11 Hartwell (1995, S. 20-21) zitiert sie selektiv.

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus - 95

Mit besonderer Schärfe kritisierte Rougier, wie Hartwell (1995, S. 21) richtig bemerkt, eine linke Schlagseite vieler Intellektueller. „Sie klagen die Verbrechen von Hider und vom Faschismus an, doch sie schweigen zu den Prozessen von Moskau" (CWL, 1939, S. 19). In Rougiers Klage über die Rolle der Intellektuellen klang auch Julien Bendas „La Trahison des Clercs" an, veröffentlicht 1927 und in liberalen Kreisen oft zitiert. 12 Rougier ermahnte die Teilnehmer des Colloque Walter Lippmann, Gelehrte zu sein, die keinen Verrat begingen, die sich einmischten, um „mit den Armeen des Geistes zu kämpfen ... für die Rettung und Erneuerung des einzigen ökonomischen und politischen Systems, das mit dem spirituellen Leben, der menschlichen Würde, dem Gemeinwohl, dem Frieden zwischen den Völkern und dem Fortschritt der Zivilisation vereinbar ist: dem Liberalismus" (ebd., S. 19-20).

3.1. Abschied vom Laissez-faire Gleichwohl markierte das Kolloquium eine entscheidende Wandlung des Liberalismus: seinen Abschied vom Laissez-faire. Das Prinzip der klassischen Ökonomen, so Rougier, habe den rechtlichen Rahmen der Wirtschaft außer acht gelassen. Seine Vorstellung von Regeln faßte er in ein Bild: „Liberal zu sein heißt nicht, wie der ,Manchestermann', die Autos in allen Richtungen herumfahren zu lassen, wie es diesen gerade gefällt, woraus Verkehrsstockungen und Unfälle resultieren; es heißt nicht, wie der .Planer', jedem Auto eine Abfahrtszeit und einen Fahrplan zuzuweisen; es heißt, eine Straßenverkehrsordnung zu bestimmen, wobei man zugibt, das diese nicht gezwungenermaßen dieselbe sein muß in Zeiten beschleunigten Transports wie in Zeiten der Postkutsche" (ebd., S. 16). Lippmann, der nach Rougier das Wort ergriff, ging weit stärker noch auf Distanz zum „alten Liberalismus", dem er „essentielle Defekte" bescheinigte. Er könne zu keinem anderen Schluß kommen, als daß der „alte Liberalismus ein Konglomerat von Wahrheiten und Irrtümern gewesen sein muß". Es verschwende nur Zeit wer glaube, die Freiheit und die Menschlichkeit zu verteidigen, indem er „naiv und vorbehaltlos zum Vorkriegsliberalismus zurückkehre". Aufgabe des Kolloquiums sei, so kündigte Lippmann großartig an, eine Doktrin zu formulieren, „von der noch niemand unter uns jetzt mehr als eine vage Ahnung hat" (ebd., S. 21). Das Publikum hörte seine Worte teils begeistert, teils staunend. Es brach Streit aus, ob die Bezeichnung „Liberalismus" noch zeitgemäß sei. Während Marlio fragte, ob man besser vom „Individualismus" sprechen sollte, ging Mises dazwischen und warnte, „es wäre bedauerlich, wenn die Aufgabe des Begriffs Liberalismus als eine Konzession an die totalitären Ideen interpretiert werden könnte" (ebd., S. 31). Rueff erhob einen ähnlichen Einwand gegen die Verwendung des Präfix „neo". Wenn man überzeugt sei, „den Liberalismus als permanente Basis der wirtschaftlichen und sozialen Systeme restaurieren" zu wollen, müsse dies auch klar und in der provokantesten Form geäußert werden (ebd., S. 33). Die Frage war nur, wieviel der Restauration, wieviel der Erneuerung der Liberalismus bedürfe. Französische Teilnehmer des Kolloquiums bedauerten, der Begriff Liberalismus werde synonym mit dem

12 Benda sah das Ideal des nüchternen, der objektiven Erkenntnis verpflichteten Wissenschaftlers verblassen. Statt dessen seien die Intellektuellen zu Huren des Zeitgeistes verkommen. Sie hätten ihre Talente mißbraucht, um die Leidenschaften der Ungebildeten anzustacheln. Bendas Fazit war ein pessimistisches: Er sprach von einem Zeitalter der intellektuellen Organisierung politischen Hasses (vgl. Benda, 1927).

96 • Wandlungen des Neoliberalismus „Manchesterismus" benutzt, wogegen ja nicht alle Liberalen diesem anhingen. Nach mehrstündiger Debatte zeichnete sich keine gemeinsame Formel ab. Schließlich drängte Heilperin, den Begriffsstreit zu beenden und sich konkreten ökonomischen Fragen zuzuwenden. Im Zentrum aller Probleme stünde die Wirtschaft.

3.2. Überlegungen zur Monopolpolitik Die Diskussionen des Colloque Walter Lippmann zeigten eine große Vielfalt der Meinungen sowie die Schwierigkeit, einen Konsens zu finden, was den „Neoliberalismus" inhaltlich auszeichne, worin er sich vom Liberalismus unterscheide. Entscheidend für die in Paris versammelten Liberalen war eine Prüfung der These, wonach der Niedergang des Liberalismus aus innerer Logik erfolge, also „endogenen Ursachen" geschuldet sei. So insistierten ja nicht nur marxistische, sondern auch bürgerliche Autoren wie Keynes oder Schumpeter, daß das liberale, marktwirtschaftliche System sich selbst zugrunde richte, entweder durch chronische Krisen am Arbeitsmarkt oder eine stetige Konzentration und Bürokratisierung. Die behauptete Tendenz zur Bildung von Monopolen weckte zunehmend Zweifel am Funktionieren des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs. Die Teilnehmer des Kolloquiums sahen diese Entwicklung differenziert und widersprachen der Behauptung einer inneren Logik. Röpke erklärte, wohl gebe es eine von technischen Neuerungen der Produktion getriebene „natürliche Tendenz" zur Konzentration, von dieser müsse man aber die „von Menschen willkürlich betriebene" Konzentration unterscheiden (ebd., S. 36). Mises griff das Stichwort auf: Der Staat sei der wahre Schuldige an der zunehmenden Konzentration. Mit protektionistischen Maßnahmen fördere er die Bildung von Kartellen und stütze bei strategischen Industrien sogar Monopole. Als Beispiele nannte er die Politik der deutschen Regierung im Fall von Kohle, Stahl und Pottasche. „Es ist nicht das freie Spiel der ökonomischen Kräfte, sondern die antiliberale Politik der Regierungen, die jene Umstände geschaffen hat, die für die Errichtung von Monopolen günstig sind" (ebd., S. 37). Marlio, Präsident eines internationalen Aluminiumkartells, wertete die Konzentration als Zeichen des Fortschritts und begrüßte die „freie Konzentration": „Solange die Konzentration unter dem Zeichen der Freiheit abläuft, ist sie gut, aber wenn sie das Zeichen eines Privilegs annimmt, ist sie schlecht" (ebd., S. 40). Dagegen erklärte Rüstow, ähnlich wie Röpke, es existiere eine technisch bedingte Konzentration, die jedoch nicht ein Maximum an Betriebsgröße, sondern ein „Optimum" verlange. Er konstatierte eine Tendenz weit über das Optimum hinaus, die er als „monopolistisch, neofeudalistisch und räuberisch" bezeichnete. Entsprechend seiner bekannten These beklagte er „die intellektuelle und moralische Schwäche des Staates, der, unwissend und nachlässig gegenüber seinen Pflichten als Marktpolizei, den Wettbewerb degenerieren läßt" (ebd., S. 41). Eine andere Frage, die Lippmann einwarf, betraf die Rolle des Gesellschaftsrechts, insbesondere die Möglichkeit der beschränkten Haftung für Personen- und Kapital-

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 97

gesellschaften, die unterschiedlich bewertet wurde. Hayek hielt sich in dieser wie in den anderen Debatten zurück und machte allenfalls kurze technische Anmerkungen. 13 Am Beispiel der Debatte zur industriellen Konzentration zeigt sich, wie die Teilnehmer des Colloque Walter Lippmann häufig aneinander vorbeiredeten. Definitionen wurden nicht explizit gemacht, gegensätzliche Meinungen nicht klar abgegrenzt. Röpke und Rüstow beklagten eine zunehmende Ballung industrieller Macht und sahen Monopole aufgrund ihrer „Marktmacht" als zerstörerisch an. Der Konkurrenzbegriff der Ordoliberalen beruhte auf den Annahmen des atomistischen Wettbewerbs mit vollständiger Preiselastizität der Nachfrage. Mises lehnte eine solche Definition von Monopolmacht strikt ab. Von dieser könne nicht gesprochen werden, wenn ein bestimmter Anbieter einen Preisgestaltungsspielraum habe oder einziger Produzent für ein bestimmtes Gut sei, sondern nur dann, wenn der Marktzugang für andere Anbieter versperrt werde. Ursache dafür waren nach Mises einzig staatliche Privilegien, außer im seltenen Fall, daß die gesamten Vorräte des Rohstoffs, der zur Herstellung eines Produkts nötig ist, in einer Hand konzentriert lägen. 14 Seit seinem grundlegenden Aufsatz „Interventionismus" hatte Mises die Meinung vertreten: „Ein weitverbreiteter Irrtum sieht in der Konkurrenz zwischen mehreren Erzeugern desselben Artikels das Wesentliche der dem Ideal des Liberalismus entsprechenden Wirtschaftsordnung" (Mises, 1926, S. 4). Das konstituierende Merkmal des Liberalismus sei jedoch sein Respekt des „Sondereigentums" an den Produktionsmitteln. Gerade diesen sah er gefährdet durch den Versuch, „die Entwicklung zum Großbetrieb durch Gesetze gegen Kartelle und Trusts aufzuhalten" (ebd.). Dies behindere die „fortschreitende Rationalisierung der Betriebe" (ebd., S. 19-20). Während Mises also Konzentration nicht per se ablehnte und lediglich forderte, Marktzutrittsbarrieren zu schleifen, gingen die Ordoliberalen wesentlich weiter. Sie wünschten eine umfassende staatliche Politik der wirtschaftlichen Dekonzentration der Wirtschaft. Die Differenzen in der Frage der Wettbewerbspolitik waren keineswegs nur graduell, sondern fundamental. Sie berührten den Kern des entstehenden neoliberalen Forschungsprogramms.

3.3. „Liberale Wehrwirtschaft" Uber dem Kolloquium im August 1938, nur wenige Wochen vor dem Münchner Abkommen, lag die Vorahnung eines kommenden militärischen Konflikts in Europa. Bemerkenswert ist daher die Sitzung zu den ökonomischen Aspekten eines Krieges, die von Stefan Possony eingeleitet wurde. 15 Gegen das zwei Jahrzehnte zuvor erstmals durchgeführte

13 Wie groß seine Beteiligung tatsächlich war läßt sich nicht sagen, da das Protokoll die Redebeiträge nur unvollständig erfaßte. Rougier bedauerte in einer Fußnote, daß „insbesondere die sehr interessanten Interventionen von Professor F. A. von Hayek" nicht mehr aus dem Gedächtnis rekonstruiert werden konnten (CWL, 1939, S. 8). 14 Mises' dynamisches Konzept des Wettbewerbs betonte somit die Möglichkeit des Marktzutritts. Der alleinige Anbieter eines Produkts, der Monopolist, sei nicht schädlich, solange er im Wettbewerb mit potentiellen Konkurrenten stehe. Vgl. dazu Kirzner (2001, S. 104-108 u. S. 110-113). 15 Der in Wien geborene junge Ökonom machte sich im Jahr des Colloque Walter Lippmann mit seinem Buch „Tomorrow's War", veröffentlicht in London, einen Namen als Experte für Kriegsstrategie. 1940 wanderte Possony in die Vereinigten Staaten aus, wo er für das amerikanische Militär arbeitete und sich als scharf antikommunistischer Wissenschaftler im Kalten Krieg an der Georgetown University, später an der Hoover Institution etablierte.

98 • Wandlungen des Neoliberalismus Experiment einer „kriegssozialistisch" konzipierten Wehrwirtschaft argumentierte er, selbst im Krieg sei die Effizienz einer Kommandoökonomie nicht garantiert: „Je mehr der Krieg an Initiative verlangt, desto mehr entpuppt sich die bürokratische Wirtschaft als minderwertig gegenüber der liberalen Wirtschaft", so Possony (CWL, 1939, S. 48). Seine Analyse wie auch die Diskussion erstaunen den heutigen Leser durch ihre Nüchternheit. Sie waren „wissenschaftlich" in dem Sinne, daß Werturteile über die Wünschbarkeit eines Krieges, den man nahen sah, vermieden wurden. Einige Diskutanten stimmten Possonys These zu. Rueff hingegen gab zu bedenken, eine liberale Wirtschaftsordnung erschwere die Kriegsvorbereitung: „Die gelenkten Systeme haben den Vorteil, [der Bevölkerung] diese zusätzlichen Opfer aufbürden zu können, während der liberale Staat große Schwierigkeiten erfährt, dies zu tun" (ebd., S. 51). Possony bekräftigte, eine zentral gelenkte Mißwirtschaft, die Ressourcen verschwende und zur Verarmung führe, sei nicht in der Lage, Krieg zu führen. Seiner Ansicht nach sollte der notwendige Wehretat durch direkte Besteuerung und Anleihen aufgebracht, ansonsten aber auf schädliche Interventionen verzichtet werden. Die Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts mit zwei „totalen" Kriegen konnten Possonys These der Überlegenheit einer „liberalen Wehrwirtschaft" nicht bestätigen. Die Weltkriege erforderten eine Mobilisierung von Arbeit und Kapital in einem Maße, das bei marktgerechter Bezahlung nach Knappheitspreisen kein Staat hätte leisten können. Zu denken ist an die Einziehung von Millionen Wehrpflichtiger zu einem Sold, der in keiner Weise ihren Opportunitätskosten oder dem Risiko ihres Dienstes entsprach. Nur zu deutlich zeugte dann auch die Praxis des dem Pariser Kolloquium folgenden Krieges, etwa die russische Wellenangriffstaktik mit immensen Verlustraten, von dem äußerst geringen Wert, den das Leben der einfachen Soldaten im Kalkül der militärischen Spitze hatte. Eine marktwirtschaftliche Transformation der Friedenswirtschaft für die Bedürfnisse des „totalen Kriegs" wäre zwar technisch nicht ausgeschlossen, wie oft angenommen wird. Dem standen jedoch prohibitiv hohe politische Kosten im Wege. 16 Alle kriegführenden Regierungen — Diktaturen wie formale Demokratien - gingen in beiden Weltkriegen dazu über, die wahren Kosten der Kriegsvorbereitung und Kriegsführung zu verschleiern. Dies geschah etwa durch die Rationierung des privaten Konsums und die politische Zuteilung von Rohstoffen, die das Militär benötigte. Zwei Jahre vor dem Pariser Treffen hatte Göring in Deutschland umfassende Preiskontrollen erlassen mit der Absicht, den Inflationsdruck der gestiegenen Nachfrage nach Rüstungsgütern und der staatlichen Kreditexpansion abzufangen. „Fiskalillusion" dieser Art ermöglichte dem Regime, die

16 Zweifellos wäre auch eine nicht staatlich gelenkte Privatwirtschaft fähig, in kurzer Zeit auf massive Kriegsproduktion umzuschwenken, doch müßte der Staat dazu seine Rüstungswünsche durch Preissignale kommunizieren und so die Produktion in die Bahnen der neuen Nachfrage lenken. Da die theoretisch mögliche marktgerechte Umstellung aber zu Ausgaben und damit einer Steuerbelastung in politisch gefahrlicher Höhe geführt hätte, wurden realiter die Preissignale des freien Marktes außer Kraft gesetzt und durch Elemente staatlicher Planung überlagert. Diese Erfahrung beschrieb auch Lionel Robbins in seinem Buch „The Economic Problem in War and Peace" (1947). Er unterschied darin zwei Arten der Kriegswirtschaft: die fiskalischtheoretische und die planwirtschaftliche Methode. Erstere setzte auf starke finanzielle Stimuli, während das Preissystem weiter frei operieren dürfe und inflationären Tendenzen durch sparsame Haushaltsführung entgegengewirkt würde; letztere bediene sich direkter staatlicher Befehle, um Ressourcen in die gewünschte Verwendung zu lenken. Für „kleinere Kriege" sei die fiskalische Methode geeignet, im modernen „totalen" Krieg sei dagegen die „totalitäre" Methode unsausweichlich, sah Robbins (vgl. ebd., S. 31-50). Vgl. dazu auch Higgs (1987, S. 64-66).

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 99 Kosten zumindest auf dem Papier unter Kontrolle zu halten. Die der Bevölkerung abverlangten Opfer, gemessen am entgangenen privaten Konsum, wurden durch solche Maßnahmen nicht vermindert, nur verschleiert. Aufgrund der Effizienzminderung infolge der verzerrten Preisstruktur erhöhte sich der Wohlfahrtsverlust aber sogar noch über das Maß, das Possonys Modell einer „liberalen Wehrwirtschaft" gefordert hätte.

3.4. „Der Liberalismus und die Soziale Frage" Zu ernsten Kontroversen kam es beim Colloquium Walter Lippmann bei der Sitzung „Der Liberalismus und die Soziale Frage". Rougier leitete sie mit Worten voller Selbstzweifel ein: „Ist der Liberalismus fähig, seine sozialen Aufgaben zu erfüllen?" Könne er ein „Minimum an Sicherheit" gewährleisten, oder steuere die liberale Wirtschaftsordnung unvermeidlich in Krisen? Gebe er die Gewähr für ein „Lebensminimum für alle", das unabhängig von „chronischer" und „technologischer Arbeitslosigkeit" garantiert sei (CWL, 1939, S. 67)? Die Diskussion kreiste um die Bewertung der Ursachen der jüngsten Weltwirtschaftskrise, deren Folgen immer noch spürbar waren. Es zeichneten sich zwei Lager ab: Eine Mehrheit der sich äußernden Teilnehmer unter Führung von Rueff und Mises vertrat die Meinung, die Selbstheilungskräfte des Marktes genügten und würden nur durch staatliche Interventionen und kollektive Sozialversicherungen gehemmt. Dagegen gab eine Minderheit um Lippmann zu bedenken, das reine Marktsystem könne zu periodischen Krisen mit viel menschlichem Elend und Unsicherheit fuhren, denen besser durch sozialstaatliche Absicherung vorzubeugen sei. Rueff erklärte apodiktisch, soziale Unsicherheit werde durch wirtschaftliche Ungleichgewichte erzeugt. Märkte würden aber nur dann nicht geräumt, wenn der Regulator des Preismechanismus durch marktfremde Interventionen verzerrt oder blockiert werde. Die Wirtschaftskrise nach 1929, so Rueff, sei der staatlichen Manipulation des Goldstandards geschuldet, etwa durch die Praxis der Neutralisierung von Goldzuflüssen. Das Ausmaß der Depression und Arbeitslosigkeit begründete er mit der Existenz eines Mindestlohnes im System der Arbeitslosenversicherung, was die Räumung des Arbeitsmarktes verhindere. Gegen Rueffs puristisch liberale Argumentation stellte sich eine Minderheit von Rednern, die mit Lippmann eine sozialethische Verantwortung der Politik einwandte, die Härten der Arbeitslosigkeit durch Sozialleistungen abzufedern. Marlio schlug ernsthaft eine besondere Steuer für Unternehmen vor, die Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzten. In einer seiner wenigen dokumentierten Wortmeldungen erklärte Hayek, eine allgemeine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit mache für Arbeitnehmer die Anstellung in Branchen mit höherem Arbeitsplatzrisiko, die aber höhere Löhne zahlten, attraktiver und verzerre damit den Arbeitsmarkt. Wie Rueff bekräftigte auch Mises seine Auffassung, die andauernde Arbeitslosigkeit sei Folge einer Politik, welche die Löhne über dem am Markt erzielbaren Niveau zu stabilisieren versuche. Dem stimmte Marlio zu, der die schleppende Erholung der französischen Wirtschaft auch auf die Arbeitszeitverkürzung und Lohnsteigerung der Volksfrontregierung zurückführte. Insgesamt schien die Diskussion zu zeigen, daß trotz zweifelnder Einwürfe von Lippmann der Glaube der meisten Teilnehmer an die prinzipielle Selbstregulierung des Marktes ungebrochen war, besonders bei Rueff und Mises. Kollektivistische Arrangements zur Sozialversicherung sahen sie als kontraproduktiv an.

100 • Wandlungen des Neoliberalismus Als Konsens der Tagungsteilnehmer postulierte Rüstow zu Beginn der nächsten Sitzung drei Punkte: Die Marktwirtschaft sei ein dauerhaftes System mit einem stabilen Gleichgewicht. Sie erlaube eine größtmögliche Steigerung der Produktivität und des Lebensniveaus; zudem sei sie als einziges Wirtschaftssystem mit der Freiheit und der Würde des Menschen vereinbar. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts habe die liberale Wirtschaftsordnung außergewöhnliche Ergebnisse erbracht. Warum aber, fragte Rüstow, lehnten immer mehr Menschen dieses System trotzdem ab? Hier rekurrierte er auf seine bekannten soziologischen Thesen: Materielle Fülle allein reiche nicht aus, der Mensch sei ein Sozialwesen und benötige darüber hinaus einer gemeinschaftlichen Anbindung. Der klassische, streng individualistische Liberalismus vernachlässige diese Bedürfnisse. Rüstow meinte, der traditionelle Bauer lebe glücklicher als der entwurzelte Industriearbeiter, obwohl letzterer ein höheres Einkommen habe. Weiter beklagte er eine zunehmende Atomisierung der Gesellschaft ebenso wie den Pluralismus, den Wettstreit der Interessengruppen. Beides seien „pathologische Symptome", verursacht durch „mangelnde Integration". „Zusammenfassend ist die große Krise, in der wir uns befinden, ihrem Wesen nach nicht eine wirtschaftliche Krise, sondern eine Vitalkrise im Allgemeinen und eine Integrationskrise im Speziellen" (ebd., S. 83). Nach Rüstows pessimistischen Ausführungen, vorgetragen in der Sitzung „Die psychologischen und soziologischen, die politischen und ideologischen Gründe des Niedergangs des Liberalismus", vermerkte das Protokoll eher zustimmende Redebeiträge. Lippmann schob ihm eine Visitenkarte zu, darauf stand handschriftlich „Bravo!". 17 Polanyi sah die Menschen überwiegend von irrationalen Gefühlen bestimmt, ohne Verständnis für ökonomische Theorien. Die Komplexität der Marktgesellschaft übersteige ihr Fassungsvermögen, wogegen die Planwirtschaft eine simplifizierende Lösung biete. 18 Andere Redner hoben die Bedeutung der Gehirnwäsche und Manipulation in totalitären Systemen hervor. Nur Mises wandte sich gegen die Thesen Rüstows, dem er eine Verklärung der vorkapitalistischen Epoche und damit einen „romantischen Geist" unterstellte (ebd., S. 89), was dieser als „polemische Anspielung des Herrn von Mises" scharf zurückwies (ebd., S. 90).

3.5. Die „Agenda des Liberalismus" Auf welchen Fundamenten ein erneuerter Wirtschaftsliberalismus ruhen sollte, stellte Walter Lippmann unter dem Motto „Die Agenda des Liberalismus" vor: Grundbaustein sei der freie Preismechanismus auf freien Märkten, der die arbeitsteilige Produktion organisiere. Diese grundsätzlich freie Wirtschaft müsse aber innerhalb eines gesetzlichen Rahmens ablaufen, der von allgemeinen Normen bestimmt werde. Die Schaffung eines Rechtssystems ermög-

17 Im NL Rüstow, Bundesarchiv (Koblenz), NL 1169, Mappe „Colloque Walter Lippmann". 18 Michael Polanyi, geboren 1881 in Budapest, war Bruder von Karl Polanyi. Als Chemiker lehrte er in den zwanziger Jahren am Berliner Kaiser Wilhelm Institut und emigrierte 1933 nach Großbritannien, wo er sich immer stärker für wissenstheoretische Probleme interessierte. Beide Brüder waren anfangs begeisterte Anhänger des Kommunismus. Während Karl zeidebens Marxist blieb und in seinem Klassiker „The Great Transformation" von 1944 die Organisation der Wirtschaft durch den verachteten Markt zu einem historisch flüchtigen Phänomen des neunzehnten Jahrhunderts erklärte, das bald wieder von zentraler Planung abgelöst werde, kamen Michael bei einer Reise in die Sowjetunion Mitte der dreißiger Jahre Zweifel am Kommunismus. Besonders war er von der Einschränkung der Geistesfreiheit im Sozialismus abgestoßen.

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 101 liehe die „liberale Methode der sozialen Kontrolle" (ebd., S. 100). Als kollektiv zu finanzierende Aufgaben des „liberalen Staats" nannte Lippmann die nationale Verteidigung, Sozialversicherungen, Sozialleistungen, Unterricht und wissenschaftliche Forschung. Falls Interventionen nötig seien, um inakzeptabel erscheinende Ergebnisse des Marktprozesses zu korrigieren, sollten diese offen und transparent sein und mit indirekten Methoden der Besteuerung erzielt werden. Willkürliche, direkte Eingriffe in die individuelle wirtschaftliche Situation lehnte er ab. Welchen Namen sollte die Philosophie haben, die auf dem Colloque Walter Lippmann entwickelt wurde? Hier kam es zu erstaunlichen Debatten: Rueff schlug die Bezeichnung „liberale Politik von links" vor, da sie „dazu tendiert, den ärmsten Klassen das größtmögliche Wohlleben" zu verschaffen (ebd., S. 101). Dagegen wandte Marlio ein, „Liberalismus von links" als Richtungsbezeichnung könne mißverstanden werden. „Das könnte den Eindruck erwecken, daß wir die Sache einer politischen Partei verteidigen. Ich würde es bevorzugen, wenn wir diese Doktrin ,positiven Liberalismus', ,sozialen Liberalismus' oder ,Neoliberalismus' nennen, aber ohne das Wort links, das eine politische Position anzeigt" (ebd., S. 102).19 Den Diskutanten war bewußt, eine neue Denkrichtung zu erkunden, die sich von liberalen Vorgängern abgrenzte. Jedenfalls warnte Röpke, man müsse erwarten, daß der neue Typus des Liberalismus von den alten Liberalen attackiert werde (vgl. ebd., S. 103). Von Mises, der wohl am ehesten der orthodoxen Haltung zuneigte, sind während dieser letzten Beratung keine Wortmeldungen dokumentiert. Am letzten Tag des Treffens im August 1938 faßte man verschiedene organisatorische Beschlüsse. Aus dem Colloque Walter Lippmann sollte eine dauerhafte Forschungseinrichtung zur Koordinierung der liberalen Wissenschaftler hervorgehen. Dieses Centre International d'Études pour la Rénovation du Libéralisme (CIRL) sollte in Paris mit Sitz im Musée Social gegründet werden und Studiensitzungen sowie internationale Tagungen veranstalten. Als Mitglieder der Gründungskommission des CIRL wurden Baudin, Bourgeois, Mantoux, Marlio, Rougier und Rueff bestimmt. Für Januar 1939 war das nächste Kolloquium zum Thema „Der liberale Staat" vorgesehen. Lippmann, Hayek und Röpke wurden zu Beauftragten für den Aufbau amerikanischer, britischer und Schweizer Sektionen des CIRL bestimmt. Anders als etwa die Darstellung von Cockett (1994, S. 57) behauptet, war das Zentrum keineswegs eine Totgeburt. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden sechs öffentliche Veranstaltungen organisiert. Die Aktivitäten blieben jedoch auf Paris beschränkt. Rougier gelang es, über den engeren Kreis sich als liberal verstehender Wissenschaftler auch Persönlichkeiten aus anderen Lagern für den Neoliberalismus zu interessieren (vgl. Denord, 2001, S. 28). Darunter waren nicht nur Unternehmer und gemäßigte Reformer, sondern auch katholische Korporatisten und prominente Gewerkschafter. Wie Rougier an Aron schrieb, wolle das CIRL als „politische Aktionsgruppe absolut über den Parteien" auftreten. Röpke beglückwünschte ihn, daß es gelungen sei, „die Chefs der Gewerkschaftsbewegung anzuziehen" (zit. n. ebd., S.

19 Interessant ist, daß die Rohfassung der Tagungsakten, die auf einem stenographischen Protokoll basierte und allen Teilnehmern zur Überarbeitung zugeschickt wurde, das W o r t "Neoliberalismus" an dieser Stelle nicht aufführt (vgl. B Ä K , NL Rüstow, 287, S. 111). Es wurde erst später eingefügt, entweder von Marlio selbst oder von Rougier, der auch in seiner Einleitung bestrebt war, das Profil des Kolloquiums ideengeschichtlich zu schärfen.

102 • Wandlungen des Neoliberalismus 28-29). Gleichzeitig zeigte die Annäherung an nichtkommunistische Arbeiterführer, in welchem Maß der frühe Neoliberalismus ideologisch offen, undogmatisch und experimentierfreudig war. Im Kampf gegen den Kollektivismus, der sich sowohl auf der Linken wie der Rechten ausbreitete, waren Verbündete aus allen Lagern willkommen.

3.6. Bewertung des Colloque Walter Lippmann Das Pariser Treffen 1938 markierte eine Zäsur in der Entwicklung des Liberalismus. Angesichts der Marginalisierung ihrer Denkrichtung war die Stimmung der verbliebenen Liberalen auf dem Nullpunkt angelangt. Gelegentliche euphorische Ausbrüche und ein gewisser Zweckoptimismus konnten darüber nicht hinwegtäuschen. Desto anziehender wirkte Lippmanns Appell, die Rückzugsgefechte zu beenden und statt dessen eine neue, „konstruktive" Philosophie zu entwickeln. So sah Röpke in einem Kommentar zur deutschen Übersetzung von Lippmanns „The Good Society" die neoliberale Suche als „radikaler Prozeß der Verjüngung und Erneuerung ..., eine Häutung, in der das Veraltete abgeworfen und durch ein neues Kleid ersetzt wird". Ziel sei eine Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung, „die weder alter Liberalismus noch Kollektivismus ist, auch nicht etwas halbwegs Dazwischenliegendes, sondern etwas grundsätzlich anderes ..., eine Revision des Liberalismus, die, an den letzten Grundlagen einer Gesellschaft freier Menschen festhaltend, die Ursachen des unleugbaren Zusammenbruch des Liberalismus bloßlegt, um an die Stelle des Falschen das Richtige zu setzen" (Röpke, 1945b, S. 27-28). Mit Blick auf wirtschaftliche Konzentrationstendenzen hatten die Tagungsteilnehmer 1938 in Paris ihren Abschied vom Prinzip des Laissez-faire erklärt, einst Bannerspruch des Wirtschaftsliberalismus des neunzehnten Jahrhunderts. 20 Vom anrüchigen „Manchestertum" suchte man sich zu distanzieren; wiederholt wurde der alte Liberalismus scharf verurteilt. Während zentrale Planung als inhärent freiheitsgefährdend abgelehnt wurde, betonten die Neoliberalen nun den rechtlichen und institutionellen Rahmen des ökonomischen Geschehens. Dieser müsse Voraussetzung für ein dauerhaftes Funktionieren des Wettbewerbs sein und zudem für sozialen Ausgleich sorgen, betonten besonders die deutschen Teilnehmer. Zwar warnte Mises vor Illusionen bezüglich des Staates, der doch für protektionistische Maßnahmen verantwortlich sei und damit erst Konzentration und Monopolbildung möglich mache. Doch die tonangebende Mehrheit des Kolloquiums war zuversichtlicher. Besonders Rüstow und Röpke hofften, der Staat ließe sich als positive Ordnungsmacht zur Eindämmung der Interessengruppen installieren. Der Neoliberalismus erfand das Rad nicht neu. Explizit wurden die ungeheure Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft und die Bedeutung des freien Preismechanismus anerkannt, der am besten die ökonomischen Akteure koordiniere. Wiederholt wurden schädliche Nebenwirkungen staatlicher Eingriffe in den Marktmechanismus beklagt, etwa eine höhere strukturelle Arbeitslosigkeit nach Einführung von Mindestlöhnen oder kollektiver Arbeitslosenversicherung. Dennoch hielt der Neoliberalismus, der sich auf dem Colloque Walter

20 Baudin (1953, S. 146) versicherte, „es stimmt, daß das ,Laissez-faire, Laissez-passer' einmütig zurückgewiesen wurde". Allerdings darf bezweifelt werden, ob Mises dem wirklich zustimmte oder nur schwieg.

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 103 Lippmann international formierte, eine staatliche Sozialpolitik und eine Korrektur der Ergebnisse des Marktgeschehens für unvermeidlich und wünschenswert.21 Der Neoliberalismus des nach Lippmann benannten Kolloquiums schien sich mit der Existenz des Interventionsstaates prinzipiell abgefunden zu haben, obgleich Skrupel und Vorbehalte blieben und nur wenige Lippmanns egalitäres Ideal teilten. Vordringlichste Aufgabe der Neoliberalen, erklärte Rougier zum Abschluß des Kolloquiums, sei die Suche nach „Formen der Inter-vention der öffentlichen Gewalt, die mit dem Preismechanismus vereinbar sind" (CWL, 1939, S. 107).22

4. Der Neoliberalismus als Krisenprodukt Der 1938 in Paris geborene Neoliberalismus entstand als Krisenprodukt. Man kann ihn aus zwei Perspektiven unterschiedlich bewerten, als Ende oder als Anfang. Auffällig ist sicher, wie schroff und abwertend die Teilnehmer vom Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts sprachen, diesen für wesentlich verfehlt und gescheitert erklärten. Aus Sicht eines kompromißlos anti-interventionistischen Wirtschaftsliberalismus könnte dies also als Schuldeingeständnis und Kapitulation des klassischen Liberalismus gesehen werden.23 Aus Sicht des ganz überwiegend interventionistisch bis sozialistischen Zeitgeistes hingegen überwog die neoliberale Provokation: das Beharren der Kolloquiumsteilnehmer auf Privateigentum, Markt und Wettbewerb als grundlegenden Ordnungsprinzipien der Wirtschaft und ihre Frontstellung gegenüber jeglicher Art von Kollektivismus, worunter scheinbar gegensätzliche Ideologien wie Sozialismus und Faschismus subsumiert wurden. Aus Louis Baudins Feder stammte einer der frühesten Versuche zur Erklärung der Genese des Neoliberalismus mit dem lyrischen Titel „L'aube d'un nouveau libéralisme". In dem 1953 veröffentlichten Buch erklärte der Pariser Juraprofessor den Neoliberalismus als bewußt strategische Option, konzipiert für den Gegenangriff auf den kollektivistischen Zeitgeist. Angesichts des gesellschaftlichen und ideologischen Wandels seit der Veröffentlichung von Marx' „Kapital" im Jahr 1867 sei eine Weiterentwicklung des klassischen Liberalismus unvermeidlich gewesen. Diese Wandlung charakterisierte er wie folgt: Nicht nur sei der Liberalismus „moralisiert und humanisiert" worden, sondern habe sich zudem „im Sinne von Relativität und Mäßigung gewandelt" (Baudin, 1953, S. 108, kursiv im Orig.). Der Liberalismus gebe nun nicht länger vor, nach einem perfekten Ideal zu streben; er erkenne Fehler an, erlaube sich Zweifel und gar einen gewissen Pessimismus. „Täuschen wir uns nicht, diese Haltung ist viel gefährlicher für die Feinde des Liberalismus als die apologetischen Behauptungen eines Bastiat" (ebd., S. 108).

21 Bezeichnend für die gewandelte Fragestellung war Baudins (1953, S. 146) Versicherung, „nicht alle Teilnehmer konnten die Konzeptionen von Herrn Lippmann zur Einkommensnivelüerung akzeptieren". 22 Die Schwierigkeit, eindeutige Kriterien zur „Marktkonformität" von Interventionen zu definieren, erfuhren aber insbesondere die deutschen Ordoliberalen (vgl. dazu Grossekettler, 1997, S. 52-59). 23 „Es gehört zur historischen Tragik der Liberalen, daß sie sich so die Schuld an der von Kartellen und Lobbies gebeutelten Wirtschaft in jener Zeit fälschlich ebenso selbst in die Schuhe schoben wie das Aufkommen zweier totalitärer sozialistischer Regimes, Stalinismus und Nationalsozialismus", schreibt Horn (2003), womit vor allem Rüstows Redebeiträge gemeint sein dürften.

104 • Wandlungen des Neoliberalismus Militärisch gesprochen erfordere der Gegenangriff auf die „kommunistische Bastion" eine ideologische Frontbegradigung, die taktische Preisgabe allzu exponierter Positionen, um von „solider Ausgangslinie" neu anzugreifen (ebd., S. 108-109). Trotz scheinbarer Konzessionen an den real existierenden beziehungsweise weiter ausgreifenden Interventions- und Sozialstaat präsentierten die in Paris versammelten Neoliberalen doch eine radikal andere Vision: Ziel staatlicher Interventionen sollte nach neoliberalem Verständnis nicht sein, die Wettbewerbswirtschaft zu verhindern oder zu überwinden, sondern im Gegenteil sie zu ermöglichen. „Es ist eine Intervention zur Anpassung, nicht zur Konservierung oder zur Involution", erklärte Baudin (ebd., S. 151, kursiv im Orig.) das neoliberale Interventionsverständnis, das den Strukturwandel der Wirtschaft nicht aufhalten, sondern interessengeleitete Widerstände zu überbrücken suchte. Eine radikalere Neuausrichtung der liberalen Sozialwissenschaftler und des Liberalismus auf den sozialen Kontext des Menschen forderten 1938 in Paris besonders Röpke und Rüstow. In einem als Manuskript verteilten Appell „A Note on the Urgent Necessity of the ReOrientation of Social Science" riefen sie dazu auf, die Krise nicht allein auf das Ökonomische verengt zu sehen. Wolle die Sozialwissenschaft nicht länger „weitgehend fast eine Faktenaufnahmemaschine oder ein intellektueller Vergnügungspark" bleiben, müsse sie den weiteren, nichtquantifizierbaren psychologischen Kontext, die „Vitalsituation", erfassen (Röpke/Rüstow, 1938, S. 8). Die verschiedenen Disziplinen der Sozialwissenschaften müßten alle Kräfte bündeln, um Wege aus der von Röpke und Rüstow diagnostizierten „organischen Krankheit" zu finden. „Wir begreifen immer mehr, daß die wahre Ursache der Unzufriedenheit der Arbeiter in der Devitalisierung ihrer Existenz zu suchen ist, so daß sie nicht durch höhere Löhne oder größere Kinos geheilt werden kann." Die modernen Arbeiter beschrieben sie als in riesigen Fabriken „wie Schafe oder Soldaten zusammengesperrt", von allen natürlichen Bindungen entwurzelt, proletarisiert, „in düsteren Slums" hausend und dort sinnlosen Belustigungen nachjagend den „anonymen Kräften der Gesellschaft" ausgeliefert (ebd., S. 2-3). Die Weltwirtschaftskrise sei ökonomische Folge dieser zerbrechenden Sozialstruktur, erklärten Röpke und Rüstow. Die gängige Sozialpolitik bringe dagegen nur Palliativmittel auf. Ihre Interventionen schadeten der Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft und behandelten nur oberflächlich die materiellen Symptome. Die Zukunft des Liberalismus hänge nun davon ab, so Röpke und Rüstow, eine auf Dezentralisierung der Wirtschaft und Reintegration der Arbeiter zielende Politik zu entwickeln. „Die Verbindung von funktionierendem Wettbewerb nicht nur mit dem entsprechenden rechtlichen und institutionellen Rahmen, sondern auch mit einer reintegrierten Gesellschaft von freiwillig kooperierenden und vital zufriedenen Menschen ist die einzige Alternative zum Laissez-faire und zum Totalitarismus, die wir anzubieten haben" (ebd., S. 8, Hervorheb. im Orig.). Hier ging es nicht mehr bloß um wirtschaftliche Anpassungsinterventionen, sondern um eine Gesundung der Gesellschaftsstruktur, eine ganzheitliche „Vitalpolitik", die die außerökonomischen Voraussetzungen für eine überlebensfähige Marktgesellschaft schaffen sollte.

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 105

5. Zwei Pole des erneuerten Liberalismus Die Beratungen des Colloque Walter Lippmann schwankten also zwischen zwei Polen, als deren Wortführer sich Mises und Rüstow profilierten. Beide kämpften für einen erneuerten Liberalismus, einen Neoliberalismus, allerdings mit unterschiedlicher Stoßrichtung. Rüstow sprach dies explizit an: „Die einen finden nichts Wesentliches zu kritisieren oder zu ändern am traditionellen Liberalismus ... Nach ihrer Meinung liegt die Verantwortung für das ganze Unglück ausschließlich bei der Gegenseite, bei denen, die aus Dummheit oder Bosheit oder aus einer Mischung von beidem, die heilbringenden Wahrheiten des Liberalismus entweder nicht wahrnehmen und beobachten können oder wollen. Wir anderen, wir suchen die Verantwortung für den Niedergang des Liberalismus im Liberalismus selbst; und folglich suchen wir den Ausweg in einer fundamentalen Erneuerung des Liberalismus" (CWL, 1939, S. 91). Mit einem schlichten Beharren auf den alten liberalen Lehren seien, so Rüstow, die Irregeleiteten, die Anhänger von Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus, nicht zu bekehren. „Wenn sie nicht auf Moses und die Propheten — Adam Smith und Ricardo — gehört haben, wie werden sie dann Herrn von Mises glauben?" (ebd., S. 92). Obwohl die kulturpessimistische Zeitdiagnose, die Röpke und Rüstow vortrugen, auf der Tagung breit diskutiert wurde, teilten doch bei weitem nicht alle Teilnehmer diese Sicht.24 Die beiden emigrierten Deutschen markierten den einen Rand des Meinungsbogens der in Paris versammelten „neoliberalen" Wissenschafder. Für die traditionelleren, strikt antiinterventionistischen Liberalen hatte Rüstow die abwertende Bezeichnung „Paläoliberale" erfunden. In seiner Enttäuschung über den nur mäßigen Anklang, den sein Konzept der „Vitalpolitik" bei diesen fand, bedauerte er 1942 in einem Brief an Röpke, die „kompromißliche Schlußresolution" des Kolloquiums habe „den Schein der Einheit mühsam aufrechterhalten ..., wo in Wirklichkeit der schärfste und fruchtbarste subkonträre Gegensatz vorlag". Seiner Empörung verlieh er mit kräftigen Worten Ausdruck. So schimpfte er, Hayek und „sein Meister Mises" gehörten „in Spiritus gesetzt ins Museum als eines [sie] der letzten überlebenden Exemplare jener sonst ausgestorbenen Gattung von Liberalen, die die gegenwärtige Katastrophe heraufbeschworen haben" (zit. n. Meier-Rust, 1993, S. 69-70). Umgekehrt hatte besonders Mises Vorbehalte gegen die sozialpolitische Linie der deutschen Ordoliberalen wie auch ihre Vorstellungen zur Wettbewerbspolitik. Nach dem strengen Maßstab Mises', der die Mitglieder der Freiburger Schule wie auch seinen Genfer Kollegen Röpke menschlich schätzte, fielen diese in die Kategorie „Interventionisten", da sie staatliche Eingriffe in die Wirtschaft nicht grundsätzlich ablehnten. Hier sah Mises nun die Gefahr eines Dammbruchs. Seine prinzipielle Kritik beruhte auf seiner schon früh entwickelten Logik der „Interventionsspirale", wonach eine isolierte staatliche Intervention, die das Marktgeschehen behindere oder Preise verzerre, stets unerwünschte Ergebnisse hervorbringe, die weitere, korrigierende Interventionen zwingend machten, die immer weitere Mißerfolge und

24 In einer Festschrift für seinen Freund Rüstow beschrieb Röpke (1955b, S. 20) die Schwierigkeiten, „den anwesen-den ,Palaio-Liberalen' die von ihnen nicht begriffene Bedeutung der .Vitalsituation' klarzumachen".

106 • Wandlungen des Neoliberalismus schließlich ein allumfassendes Netz der Regulierung brächten.25 Der Suche nach einem „Dritten Weg" mißtraute Mises, da sie die klare Scheidung von Markt und Plan verwische. Schon in Paris zeichneten sich also die Umrisse späterer Lager in der Mont Pèlerin Society ab. Angesichts der vielen, teils grundsätzlichen Differenzen besteht kein Anlaß, die „Gründungsveranstaltung" des Neoliberalismus rückblickend zu idealisieren oder diesem schon 1938 ein festes Programm zuzuschreiben. Voreilig erschien Rougiers freudiger Ausruf zum Abschluß der Konferenz: „Die letzte Sitzung hat unsere Ubereinstimmung gezeigt. Das Schisma, das ich entstehen zu sehen fürchtete, hat sich in Harmonie verwandelt" (CWL, 1939. S. 107). Hinter dem verkündeten Konsens lauerten zahlreiche offene Fragen zur konkreten Ausgestaltung der neuen Denkrichtung. Der Begriff „Neoliberalismus" signalisierte einen Aufbruch. Wohin die Reise gehen würde, mußte sich noch zeigen.

6. Die Entstehung des Neoliberalismus im Spiegel der Wissenschaftstheorie Nachfolgend werden drei einflußreiche epistemologische Theorien — von Karl Popper, Thomas Kuhn und Imre Lakatos - vorgestellt und hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf den Wandel des Liberalismus zum Neoliberalismus bewertet. Auffällig ist, daß Neoliberalismus und Keynesianismus etwa zeitgleich in den frühen dreißiger Jahren entstanden. Beide wirtschaftswissenschaftlichen Innovationen werden, so die These, als Reaktionen auf die Krise der klassisch-liberalen Ökonomie in der Zwischenkriegszeit aufgefaßt. Während jedoch Keynes daraus den Schluß zog, die Prämissen der marktwirtschaftlichen Selbstregulierung weitgehend, vor allem aber bezüglich des Arbeitsmarktes, aufzugeben, bemühten sich die verschiedenen neoliberalen Schulen um eine vorsichtigere Revision, indem sie den Kern des Liberalismus beibehielten, jedoch mehr Wert auf die Randbedingungen legten.

6.1. „Paradigmen" und „Forschungsprogramme" In den fünfziger und sechziger Jahren dominierte in der wissenschaftsphilosophischen Literatur das von Karl Popper in seinem Werk „Die Logik der Forschung" (1935/1984) fortentwickelte Konzept des „Positivismus": Nach diesem erscheint — etwas zugespitzt formuliert — der ideale Wissenschafder als Kämpfer gegen Irrtümer, stets auf der Suche nach Möglichkeiten, bestehende Theorien, auch die eigenen, zu widerlegen. Gemäß der Methode

25 S o habe etwa Festlegung eines sozialpolitisch erwünschten Höchstpreises ein sinkendes Angebot zu Folge. U m dennoch die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, erklärte Mises, gebe es für den interventionistischen Staat nur zwei Auswege. Entweder sei er gezwungen, die Anbieter zu verpflichten, zu nicht kostendeckenden Preisen zu produzieren, was die Sozialisierung des betreffenden Wirtschaftszweiges einleite. Oder er müsse die Preise weiterer, vorgelagerter Produkte und Faktoren kontrollieren, bis schließlich - so das logische Extrem - die gesamte Produktion und Distribution der Volkswirtschaft staatlich geplant werde (vgl. Mises, 1926, S. 9-12).

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 107 der empirischen „Falsifizierung" sollten Doktrinen eliminiert werden, sobald Experimente ein Ergebnis brachten, das im Widerspruch zu Vorhersagen der Theorie stand.26 Ein absoluter „Positivismus" erschien einigen von Poppers Schülern als naiv und ahistorisch, da er die Beständigkeit vieler wissenschaftlicher Theorien trotz bekannter Gegenbeispiele nicht befriedigend erklärt (vgl. Blaug, 1976, S. 151-152). Mitte der sechziger Jahre drängten zwei neue wissenschaftsphilosophische Ansätze in den Vordergrund: Thomas Kuhns „Paradigmen" als zentrale Kategorie seines Buchs „The Structure of Scientific Revolutions" und Imre Lakatos' Studien zu konkurrierenden wissenschaftlichen „Forschungsprogrammen". Beide verließen den streng normativen Pfad und analysierten beispielhafte Umbrüche der Wissenschaftsgeschichte. Nach Kuhn ist wissenschaftliche Tätigkeit in einen größeren Zusammenhang, das jeweils herrschende Paradigma, eingebettet.27 Das tägliche Brot der „normalen" Wissenschaft bestehe nun darin, innerhalb der Grenzen des Paradigmas zu forschen, offene Fragen zu beantworten und Probleme zu lösen. Ein Paradigma überdauere, obwohl gewisse Probleme sich als hartnäckig unlösbar erweisen oder „Anomalien", also empirische Widersprüche zu theoretischen Vorhersagen, auftreten. Sammeln sich aber zu viele gravierende Anomalien, so gerät das Paradigma an seine Grenzen. In der Krise, so Kuhn, ende dann der normale Wissenschaftsbetrieb. Ein Teil der Wissenschafdergemeinde bemühe sich um „ad hoc"-Erklärungen, um die Widersprüche zu bereinigen. Andere Forscher aber stellten nun einst fundamentale Gewißheiten in Frage. Ihre Unzufriedenheit lasse sie unorthodoxe Wege beschreiten. Damit entwickelten sich in Konkurrenz zum angeschlagenen Paradigma neue Theorien. Diese Phase der Krise nennt Kuhn die „außergewöhnliche" oder „revolutionäre Wissenschaft". Es gebe drei mögliche Auswege aus der Krise: a) das alte Paradigma schafft es, sich zu behaupten, indem es eine Lösung für die Probleme findet; b) es findet sich keine Erklärung für die störende Anomalie, die aber als Paradox akzeptiert und zur Seite gelegt wird; c) die Krise mündet in die Zerstörung des alten Paradigmas, das durch ein neues Paradigma ersetzt wird, das eine konsistentere Theorie zur Erklärung der strittigen Fragen liefert. Eine derartige „wissenschaftliche Revolution" sieht

26 In erster Linie bezog Popper dies auf die naturwissenschaftliche Forschung. Über die sozialwissenschaftlichen Disziplinen urteilte er in „The Poverty of Historicism" äußert negativ: „Vorlieben und Interessen", also ideologische und politische Faktoren, hätten einen so großen Einfluß auf die sozialwissenschaftliche Forschung, daß es nur wenig gäbe, „das uns an das objektive und idealistische Streben nach Wahrheit erinnert, dem wir in der Physik begegnen" (Popper, 1 9 4 4 u. 1945/1979, S. 13). Die Soziologie und Psychologie waren ihm besonders suspekt; lediglich „der Erfolg der mathematischen Wirtschaftswissenschaft" zeige, „daß zumindest eine Sozialwissenschaft ihre Newtonsche Revolution durchgemacht hat" (ebd., S. 48). Man kann geteilter Ansicht sein, ob die sich damals abzeichnende Mathematisierung der Ökonomie diese tatsächlich in die Nähe der „exakten" Wissenschaften gerückt hat und somit Poppers optimistische Einschätzung gerechtfertigt war. Generell neigt die Wissenschaftsphilosophie dazu, normative und positive Aspekte zu vermischen (vgl. Hutchison, 1976, S. 181-182). Poppers „positive" Wissenschaftstheorie, welche die ältere „aprioristische" Methode überlagerte, fand in die ökonomische und englischsprachige Debatte erstmals Einzug durch Hutchison (1938). Berühmt wurde dann Milton Friedmans Essay „The Methodology of Positive Economics" (1953). 27 Darunter mag man bestimmte Methoden, Techniken oder Fragestellungen, ja selbst eine ganze Weltanschauung verstehen. In der zweiten Auflage von „The Structure of Scientific Revolutions" schwächte Kuhn die Definition von „Paradigma" ab und führte als weicheren Ersatz den Terminus „disciplinary matrix" ein.

108 • Wandlungen des Neoliberalismus Kuhn als scharfen Bruch mit der Tradition. Sie entthrone überkommene Weltbilder und Denkgewohnheiten und ermögliche einen neuen Start (vgl. Kuhn, 1962/1970, S. 84-85). 28 Lakatos entwickelte in Abgrenzung dazu eine eigene Wissenschaftsphilosophie, die zeitweilig sehr einflußreich wurde (vgl. Lakatos, 1968; 1970). Auch er verwirft die Popper zugeschriebene Annahme eines wissenschaftlichen Fortschritts durch permanente Verwerfung falsifizierter Theorien. 29 Der Forscher stehe vielmehr vor der Aufgabe, aus verschiedenen konkurrierenden, potentiell falschen Theorien die brauchbarste zu wählen. Nicht einzelne, isolierte Theorien, sondern ganze Bündel von sich gegenseitig stützenden Theorien, sogenannte „Forschungsprogramme" („scientific research programmes", SRPs), sind die relevanten Kategorien von Lakatos' Wissenschaftsphilosophie. Jedes dieser SRPs wird definiert durch einen „harten Kern" („hard core") von unverzichtbaren Annahmen und Hypothesen sowie einen „Schutzgürtel" („protective belt") von hilfsweisen Annahmen und Hypothesen. Bei Bedarf, wenn neue empirische Erkenntnisse die Substanz des bestehenden SRP gefährden, tendieren die beteiligten Wissenschaftler dazu, den flexiblen Schutzgürtel zu modifizieren, um sich gegen Angriffe zu wappnen. Implizit enthält jedes SRP eine „negative Heuristik" sowie eine „positive Heuristik", also Angaben dazu, welche Richtung und Fragestellungen Forscher meiden und welche sie suchen sollen (vgl. Lakatos, 1968, S. 167-174). Zu allen Zeiten, so Lakatos, kämpften verschiedene Forschungsprogramme neben- und gegeneinander. Einzelne falsifizierende Gegenbeispiele zu den Voraussagen einer Theorie führten nicht direkt zur finalen Kapitulation, sondern würden eine neue Justierung der Hilfsannahmen, des Schutzgürtels, erzwingen. Welches SRP schließlich die Oberhand gewinnt, entscheidet sich nach Lakatos daran, welches der Theorienbündel sich angesichts laufender Modifikationen als „progressiv" herausstellt, das heißt theoretisch wie empirisch neue Erkenntnisse liefert, und welches als „degenerierend" erkannt wird, also die beteiligten Wissenschaftler zu immer zweifelhafteren Hilfsannahmen veranlaßt. Dabei kann es vorkommen, wie Lakatos betont, daß anfangs scheinbar progressive SRP nach einer Weile an Grenzen stoßen und danach degenerieren — eine Einsicht, die mit Blick auf den Keynesianismus wichtig ist. Es gibt durchaus Berührungspunkte zwischen Lakatos' und Kuhns Epistemologie: Die Definition des harten Kerns eines Forschungsprogramms ähnelt der des Paradigmas; die laufende Neujustierung des Schutzgürtels ähnelt dem Konzept der normalen Wissenschaft, die degenerierende Phase bei Lakatos kommt der Krise bei Kuhn nahe.

28 Als Beispiele nannte und untersuchte Kuhn die Kopernikanische Revolution in der Astronomie, die Newtonische Revolution in der Physik, die mit Lavoisiers Entdeckung des Sauerstoffs einsetzende Revolution in der Chemie und die von Einsteins Relauvitätstheorie ausgelöste Revolution der Quantenphysik. Kuhns Theorie basierte also auf Analysen verschiedener naturwissenschaftlichen „Revolutionen". Wie Popper war er skeptisch, ob sein Schema auch auf die weichen Disziplinen Anwendung habe. Er unterschied zwischen den „reifen" (Naturwissenschaften) und den „unreifen" oder „Proto"-Wissenschaften, deren Schlußfolgerungen nicht experimentell testbar seien. Die meisten Sozialwissenschaften bezeichnete Kuhn, wie später auch Lakatos, als „unreif 4 ; wozu er die Ökonomie zählte, ist nicht ganz klar (vgl. Hutchison, 1976, S. 189-190 u. 193-194). 29 Da keine einzige wissenschaftliche Theorie sämtliche zu deutenden Phänomene logisch konsistent und perfekt erklären kann, müßte jeder Lösungsansatz konsequent verworfen werden. Wissenschaft kann so aber nicht arbeiten. „Da alle Theorien widerlegt geboren werden, können bloße .Widerlegungen' keine dramatische Rolle in der Wissenschaft spielen" (Lakatos, 1968, S. 163). Tatsächlich war sich Popper bewußt, daß durch empirische Gegenbeispiele angeschlagene Modelle durchaus noch lange weiterverwendet werden, solange keine geeignete Alternadve vorliegt. An dieser Stelle wirkten seine Klagen über „Irrationalität" von Wissenschafdern etwas hilflos (vgl. ebd., S. 167).

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 109

Im Gegensatz zur hegemonialen Konzeption des Paradigmas bei Kuhn betont Lakatos den wettbewerblichen Charakter des wissenschaftlichen Fortschritts, dessen pluralistische wie dynamische Aspekte. Während bei Kuhn die „wissenschaftliche Revolution" eine unwiderrufliche Ablösung des alten durch ein neues „Paradigma" beschreibt, gesteht Lakatos zu, daß „degenerierende" SRPs noch eine längere Zeit parallel zum „progressiveren" Konkurrenten bestehen bleiben und in Nischen überleben können (vgl. Lakatos, 1968, S. 176-177). Denkbar ist sogar, daß sie sich erholen und wieder ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses rücken — wie es etwa der Neoliberalismus geschafft hat. Ein weiterer Unterschied zwischen Kuhn und Lakatos liegt in der Analyse des Ubergangs vom alten zum neuen „Paradigma" bzw. dominanten SRP. Kuhns Erklärung zum Ausgang der „wissenschaftlichen Revolution", ob diese fehlschlägt oder erfolgreich ist, rekurriert auf nicht-rationale Faktoren. 30 Dagegen versucht Lakatos, mit seiner Unterscheidung von „progressiven" und „degenerierenden" SRPs objektive Gründe für den Sieg eines „Forschungsprogramms" zu definieren. 31

6.2. Revolution in der Wirtschaftswissenschaft? Obwohl Kuhn und Lakatos sich primär auf die Geschichte der Naturwissenschaften bezogen, wurden ihre epistemologischen Schemata vielfach auch auf die Entwicklung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien angewandt (vgl. Drakopolous/Karayiannis, 2005). 32 Besonders zum Erfolg des Keynesianismus hat es langjährige Debatten gegeben, ob dieser eher im Sinne von Kuhn oder im Sinne von Lakatos zu interpretieren sei.33 Ähnliche Studien zur Genese des Neoliberalismus fehlen jedoch. Die These der vorliegenden Arbeit ist es, daß die immer prekärere Position der klassisch-liberalen Ökonomie in den frühen dreißiger Jahren einen theoretischen Neuanfang erforderte. Statt jedoch wie Keynes und seine Schüler in einer „Revolution" die seit dem achtzehnten Jahrhundert überkommene Lehre des Liberalismus in Frage zu stellen, machten sich die Neoliberalen, die sich 1938 in Paris trafen, an

30 Aufgrund der „Inkommensurabilität" der konkurrierenden Paradigmen hält er eine rationale, wissenschaftliche Kommunikation der Anhänger der alten mit denen der neuen Theorie für ausgeschlossen. Beide Lager könnten nur zirkulär im Rahmen ihres Paradigmas argumentieren; eine Brücke der Verständigung scheint es nicht zu geben. Daher beschreibt Kuhn den Ablauf einer „wissenschaftlichen Revolution" in Analogie zu politischen Revolutionen: Mangels eines supra-institutionellen Rahmens zur Beilegung des Konflikts seien dort nicht Argumente, sondern Propaganda und Gewalt für den Sieg ausschlaggebend. Im Falle der wissenschaftlichen Revolution wären letztlich psychologische Mechanismen entscheidend, „Techniken des Überredens" anstelle von „Logik und Experiment", meint Kuhn (1962/1970, S. 94). 31 Lakatos' Kritik an der Methodologie von Kuhn ist in diesem Punkt besonders scharf. Er wirft ihr vor, den „Paradigmenwechsel" eher von wissenschaftsexternen Gründen, letztlich einer „Mob-Psychologie", als von rationalen Erwägungen herzuleiten (vgl. Lakatos, 1968, S. 181). 32 Gleichwohl hat es nicht an grundsätzlichen Einwänden gegen die Wissenschaftstheorie von Kuhn wie Lakatos gefehlt. Speziell wird bei beiden eine eher unklare Terminologie bemängelt, die sich im heute inflationären Gebrauch der Worte „Paradigma" und „Revolution" sowie „harter Kern" und „Forschungsprogramm" niederschlägt. Ebenso wurde immer wieder bezweifelt, ob Kuhns Ansatz zur Erklärung des Fortschritts in den Sozialwissenschaften, speziell in der Ökonomie, angemessen sei. Vgl. dazu die Literaturangaben bei Drakopolous/Karayiannis (2005, S. 58). 33 Während ab dem Ende der sechziger Jahre Kuhns Schema großen Anklang fand (vgl. etwa Coats, 1969), wurde diese Lesart später durch Blaug (1976) angefochten, der Lakatos' Schema größeren Erkenntniswert zuerkannte. Dem widersprach Hands (1985), der bezweifelte, ob der Keynesianismus als „Forschungsprogramm" nach der strikten Definition von Lakatos „neue Fakten" erbracht habe und damit „progressiv" zu nennen sei, was Blaug (1991) nochmals bekräftigt hat.

110 • Wandlungen des Neoliberalismus eine tastende Revision ihrer marktwirtschaftlichen Überzeugungen. Sie begannen das erodierende liberale Theoriegebäude durch ergänzende Annahmen abzustützen. Von größter Bedeutung war dabei ihre Betonung eines staatlich zu setzenden Rahmens und einer staatlichen Wettbewerbspolitik, damit der Markt in allgemein wohlstandssteigernder Weise funktionieren könne. Diese Wandlung wird verständlich, bedenkt man die zeitgleiche „keynesianische Revolution", wie sie etwa Coats (1969) recht dramatisch dargestellt hat: Demnach geriet das erstarrte klassische Paradigma in den dreißiger Jahren angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit in schwerste Erklärungsnöte, da diese mit dem zentralen liberalen Glaubenssatz selbstregulierender und selbsträumender Märkte nicht vereinbar schien. Die etablierten Vertreter der klassisch-liberalen Ökonomie reagierten hilflos, bis schließlich Keynes 1936 den gordischen Knoten durchtrennte und mit der „General Theory" ein neues Paradigma lieferte, das die bestehende „Anomalie" der Massenarbeitslosigkeit erklären konnte. Keynes' Behauptung, daß besonders der Arbeitsmarkt inhärent defekt sei und Vollbeschäftigung ohne staatliche Intervention ausbleibe, habe die lähmende Krise des klassisch-liberalen „Paradigmas" überwunden - so die stark abgekürzte und stilisierte gängige Version der „keynesianischen Revolution". Berichte von Zeitzeugen, meist Ökonomen der jüngeren Generation, die mit fliegenden Fahnen in Keynes' Lager überliefen, haben die Erfahrung fast religiöser Konversionserlebnisse bestätigt (vgl. Samuelson, 1946/1966, S. 1517-1518). Die keynesianische Theorie brach mit der klassisch-liberalen Ökonomie in dreierlei Hinsicht: Statt des Verhaltens einzelner Wirtschaftssubjekte, namentlich des Handelns individueller Konsumenten und Produzenten, stand nun die Beschäftigung mit Aggregaten im Mittelpunkt. Statt langfristiger Bewegungen, die eine Tendenz zum Gleichgewicht erwarten ließen, standen nun kurzfristige, erratische und von psychologischen Momenten bestimmte Bewegungen im Zentrum der Debatte. Und statt des Mechanismus' flexibler Preise, der Angebot und Nachfrage zur Deckung bringe, betonte Keynes eine Starrheit der Preise, besonders der Löhne, die eine Anpassung der Mengen zur Regel mache, wobei Überschüsse auf den Güterund besonders Arbeitsmärkten nicht oder zu spät geräumt würden. Der in den drei genannten Punkten vollzogene „Paradigmenwechsel" lenkte die theoretische wie praktische Wirtschaftswissenschaft in eine gänzlich neue Richtung: Das einstige Vertrauen in die „unsichtbare Hand" war verschüttet, selbsttätige Marktabläufe und unregulierter Wettbewerb galten als gefährlich. Nach der neuen Weltsicht standen die entwickelten Industrieländer permanent nahe dem wirtschaftlichen Abgrund. Ohne staatliche Eingriffe sei mit plötzlichen Einbrüchen der Konjunktur und chronischer Arbeitslosigkeit wie zu Zeiten der Großen Depression zu rechnen, so die Botschaft.

6.3. Wandlungen des Neoliberalismus Sicherlich wirft eine solche dramatische Schilderung gewisse Schlaglichter, wenn auch sehr grelle, auf die großen Linien der wirtschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit. Jedoch erscheint die Konstruktion der „Paradigmen" übermäßig schematisiert. Zudem resultiert aus der Konzentration auf „Krisen" und „Revolutionen" eine Dramatisierung, die wohl dem heroischen Selbstverständnis der Akteure entspricht, den

Krisenbewußtsein und Revision des Liberalismus • 111 Übergang von einem zum anderen „Paradigma" aber doch überzeichnet. Selbst unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise dauerte es doch rund ein Jahrzehnt, bis die ökonomische Wissenschaft massenhaft zu den von Keynes in der „General Theory" dargelegten Ansichten konvertierte. Vor allem aber bleibt nach dem Schema von Kuhn die parallele Entwicklung von Keynesianismus und Neoliberalismus in den dreißiger Jahren unverständlich. Hier hilft die differenziertere wissenschaftstheoretische Sicht von Lakatos weiter. Ohne Zweifel befanden sich die Vertreter der „orthodoxen" Wirtschaftswissenschaft in den frühen dreißiger Jahren in einer äußerst schwierigen Lage. Nicht zutreffend ist aber die Behauptung, die klassisch-liberale Lehre habe keinerlei Erklärung für das Problem der Massenarbeitslosigkeit gekannt, die sich als unheilbare „Anomalie" ihres „Paradigmas" erwiesen und dessen Untergang befördert habe. Dies betrifft lediglich die Karikatur einer blindlings der Idee des Marktgleichgewichts huldigenden Theorie. Schon vor Keynes wußten klassischliberale Ökonomen Erklärungen für temporäre und sogar anhaltende Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt. 34 Das bedrängte Lager der klassisch-liberalen Ökonomen hatte also durchaus theoretische Erklärungen der Massenarbeitslosigkeit zu bieten. Nur fanden sie damit während der Weltwirtschaftskrise im zunehmend aufgeheizten Diskurs kaum noch Gehör (vgl. Blaug, 1991, S. 173). Die Erklärungen der Krise der dreißiger Jahre erschienen so unterschiedlich, daß eine Verständigung kaum noch möglich war: Sagten die einen, der Marktmechanismus sei durch zuviel Interventionen paralysiert, so meinten die anderen, der Markt paralysiere sich selbst, nur durch vermehrte Interventionen könne die Wirtschaft wieder in Gang gesetzt werden. 35 Die „Inkommensurabilität" der beiden Argumentationen, um mit Kuhn zu sprechen, erschwerte eine rationale Klärung des Disputs. So kam es weniger auf wissenschaftliche, denn auf starke politische Argumente an. Hier lag der Vorteil auf Seiten der Keynesianer. Ihre Rezepte kamen dem Bedürfnis der Politik nach aktionistischen Programmen entgegen, während die Befolgung des klassisch-liberalen Rats als Passivität ausgelegt worden wäre. Allerdings erklärten sich immer mehr liberale Ökonomen angesichts des ungewöhnlich schweren wirtschaftlichen Einbruchs ab 1929 bereit, staatliche BudgetdefÍ2Íte zur Finanzierung von Beschäftigungsprogrammen zu akzeptieren. 36 Wie dargestellt, zählte mit Röpke in Deutschland ein führender Neoliberaler zu jenen, die eine staatliche „Initialzündung" zur Ankurbelung der Konjunktur forderten; in den Vereinigten Staaten befürworteten die frühen Vertreter der Chicagoer Schule eine expansive Fiskalpolitik und sogar staatliche Arbeits-

34 Sie verwiesen dabei auf die teilweise oder völlige Ausschaltung des Preismechanismus, die Markträumung unmöglich mache, etwa durch gewerkschaftliche Arbeitsmarktkartelle oder staatliche Lohnuntergrenzen in Form von Arbeitslosenhilfe. Ebenso wurden in den Debatten der dreißiger Jahre die Verhinderung oder Verzerrung des Wettbewerbs durch protektionistische Zölle, die Duldung monopolistischer Strukturen oder die schädlichen Folgen einer fehlgeleiteten Geld- oder Fiskalpolitik betont. 35 Auch im direkten Disput zwischen Hayek und Keynes prallten diametral entgegengesetzte Auffassungen aufeinander. Sah der eine die Depression durch vorangegangene, unverantwortlich expansive Geldpolitik und darauf notwendig folgende Bereinigung der privaten „Überinvestition" verursacht, beklagte der andere den starken Rückgang der privaten Investitionen und forderte staatliche Programme, um die Lücke zu stopfen. 36 Selbst Pigou, in der „General Theory" als angeblicher Vertreter einer verknöcherten und unbelehrbaren Orthodoxie heftigst attackiert, stand Anfang der dreißiger Jahre mit seinen Ansichten, was an praktischen beschäftigungspolitischen Maßnahmen unmittelbar zu tun sei, Keynes* Position erstaunlich nahe (vgl. dazu Hutchison, 1978).

112 • Wandlungen des Neoliberalismus programme. Das „mythische Bild von Keynes als eines ,Rufers in der Wüste'" sei kaum haltbar, befand Blaug (ebd., S. 176). Die sich mehrenden „ad hoc"-Zusätze, die wirtschaftsliberale Ökonomen in den dreißiger Jahren zu erfinden gezwungen waren, etwa Röpkes Differenzierung zwischen einer „primären Krise", die kein Eingreifen erfordere, und einer „sekundären Krise", deren Abwärtsspirale durch staatliches Eingreifen aufzuhalten sei, zeigten aber, wie die klassisch-liberale Lehre argumentativ in Bedrängnis geraten war. Mit Lakatos gesprochen, verkörperte sie in den dreißiger Jahren ein „degenerierendes Forschungsprogramm". Hier ist der Ausgangspunkt der neoliberalen Revision zu sehen: Indem die verbliebenen Anhänger der Marktwirtschaft zu einer Neujustierung ihres „Schutzgürtels" schritten, suchten sie den „harten Kern" ihrer Lehre zu retten. 37 Über die nagenden Zweifel, die das verbliebene Häuflein von Liberalen in den dreißiger Jahren quälten, gaben die Diskussionen beim Colloque Walter Lippmann vom Herbst 1938 Auskunft. Sie hatten erkannt, wie schwer die Selbstregulierung der Märkte beschädigt war. Der Wettbewerb, der zu einem reibungslosen Ausgleich von Angebot und Nachfrage führe, sei durch übermäßige, teils staatlich geförderte Konzentration ausgeschaltet. Kartelle und Monopole manipulierten die Preise, dies verzerre die Signale am Markt und führe zur Fehlallokation von Ressourcen. Die Mehrheit der Teilnehmer des Pariser Kolloquiums drängte darauf, Abschied vom klassisch-liberalen Harmonieglauben und der daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlung des Laissez-faire zu nehmen. Aus der Krise wurde somit der Neoliberalismus geboren, der eine staatliche Aktivität im Bereich der Wirtschaft grundsätzlich anerkannte. Die in den dreißiger Jahren sich abzeichnende Wandlung des Liberalismus zum Neoliberalismus ist also nach dem epistemologischen Schema von Lakatos als Versuch zur Rettung eines „degenerierenden Forschungsprogramms" zu verstehen. In diesem Sinne waren auch Hayeks spätere Bemerkungen am Mont Pèlerin zu verstehen, seine Schuldzuweisungen an den historischen Liberalismus und seine Hoffnung auf eine liberale „Politik, die bewußt den Wettbewerb, den Markt und die Preise als ... ordnendes Prinzip anerkennt und die das gesetzliche Rahmenwerk, das vom Staat erzwungen wird, dazu benutzt, den Wettbewerb so effektiv und wohltätig wie möglich zu machen" (Hayek, 1947a/1952, S. 145). Obwohl nach Depression und Krieg in einer Randposition, ging dieses neue „Forschungsprogramm" nicht völlig unter, sondern konnte sich als Konkurrent zum dominierenden keynesianischen „Forschungsprogramm" halten. War das Pariser Treffen die Geburtsstunde des Neoliberalismus, so sollte die MPS intellektuelles Zentrum zu seiner vollen Ausbildung werden.

37 Röpke gebrauchte in seiner Einführung zur deutschen Übersetzung von Lippmanns „The Good Society" die Formulierung vom „festen Kern" des Liberalismus, „den die Revisionisten nicht nur bewahren wollen, sondern um dessen Bewahrung willen sie gerade so entschiedene Kritiker des historischen Liberalismus geworden sind" (Röpke, 1945b, S. 29).

2. Teil: Ortsbestimmung des Neoliberalismus

IV. Der lange Weg zum Mont Pèlerin Der erste Versuch, eine internationale Vereinigung zur wissenschaftlichen Diskussion und Entwicklung des Neoliberalismus zu gründen, war 1938 an widrigen Zeitumständen gescheitert. Doch die Teilnehmer des Colloque Walter Lippmann hatten die dort empfangenen Impulse nicht vergessen. Wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, wandte Hayek sich darauf von der reinen ökonomischen Forschung ab und sozialphilosophischen Themen zu. Sein 1944 veröffentlichtes Buch „The Road to Serfdom" zum Zusammenhang von Planwirtschaft und Totalitarismus machte ihn einem internationalen Publikum bekannt, den Wahlsieg Labours und den folgenden Marsch in eine staatszentrierte Wirtschaftsordnung konnte er nicht verhindern. Sein Freund Röpke arbeitete Anfang der vierziger Jahre in der Schweiz an einer kulturkritischen Trilogie, welche die tieferen Ursachen des Verfalls der freiheitlichen Gesellschaften des Westens und ihrer Hinwendung zu kollektivistischen Ideologien analysieren wollte. Trotz Ubereinstimmung in den Hauptpunkten waren auch gewisse Unterschiede zwischen Hayek und Röpke zu erkennen, so etwa in der Frage, welchen Anteil der historische Liberalismus an den beklagten Fehlentwicklungen habe oder welche Möglichkeiten eines „dritten Weges" bestünden. Der Weg zum Mont Pèlerin vollzog sich in mehreren Etappen, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird: Zunächst schwebte Hayek die Bildung einer „Acton Society" vor, die sich auf historische Fragen spezialisieren sollte. Die Deutungshoheit über die Geschichte schien ihm der Schlüssel zur politischen Zukunft des nicht nur materiell, sondern auch geistig verwüsteten europäischen Kontinents. Während Hayek anfangs die Rolle einer deutsch-englischen geschichtspolitischen Zusammenarbeit stark betonte, legte er die Aufgabe der zu gründenden Gesellschaft bald breiter, langfristiger und internationaler an: Die Grundlagen der freiheitlichen Philosophie sollten dort neu geklärt werden. Ein mit Röpke bekannter Züricher Geschäftsmann, Albert Hunold, bot Hayek dabei Hilfe an. Nachdem dessen gemeinsam mit Röpke entwickeltes Projekt einer Zeitschrift gescheitert war, lenkte Hunold das zuvor gesammelte Kapital in die neue Initiative zur Wiederbelebung des Liberalismus. Damit eröffnete sich für Hayek unverhofft die Gelegenheit, das seit Jahren erwogene Vorhaben einer internationalen Konferenz zu verwirklichen. Allerdings gab es im Kreis der von Hayek dazu Eingeladenen recht unterschiedliche Vorstellungen, wer dort mitwirken sollte. Hayek entschied sich letztlich für eine geschlossene Gruppe, welche die Fundamente der liberalen Weltanschauung neu zu erarbeiten habe. Im April 1947 kam nach langer Vorbereitung ein Treffen von 39 europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern und Publizisten am Mont Pèlerin zustande, deren Diskussionen im folgenden Kapitel im Detail nachgezeichnet werden. Insbesondere bei der Erörterung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft legten Hayek und andere Redner einen wichtigen neoliberalen Akzent auf eine staatlich zu setzende „Wettbewerbsordnung", die gegen den Ansturm der Interessengruppen zu verteidigen sei. Weitere Diskussionen bezogen sich auf die Zukunft des besiegten und besetzten Deutschlands und die Chancen einer Europäischen Föderation. Sie wiesen auf die prekäre politische Lage des alten Kontinents im Spannungsfeld zwischen West und Ost. War im kommunistischen Machtbereich die persönliche Freiheit schon weitgehend ausgelöscht, so sahen die am Mont Pèlerin versammelten Wissen-

116 • Wandlungen des Neoliberalismus schaftler diese auch in der nicht-kommunistischen Welt durch das Vordringen kollektivistischer Ideologien akut gefährdet.

1. „The Road to Serfdom" Das Colloque Walter Lippmann, überschattet von der Vorahnung des Krieges, hatte einen tiefen Eindruck auf die Teilnehmer hinterlassen. Bei Hayek beschleunigte es eine Neuorientierung seiner Forschung, weg vom engeren Bereich der Ökonomie, hin zu weiter gefaßten, sozialphilosophischen Themen. 1935 hatte er den Sammelband „Collectivist Economic Planning: Critical Studies on the Possibility of Socialism" herausgegeben, der die von Mises angestoßene Sozialismusdebatte einem englischsprachigen Publikum zugänglich machte. Im Jahr 1936 hielt er einen Vortrag vor dem Londoner Economics Club, der im folgenden Jahr unter dem Titel „Economics and Knowledge" in der LSE-Zeitschrift Economica abgedruckt wurde. Im Kern ging es ihm um eine Verfeinerung des informationstheoretischen Arguments, das die Sozialismusdebatte von Anfang an bewegte. Als „zentrale Frage aller Sozialwissenschaften" formulierte er: „Wie kann das Zusammenwirken von Bruchstücken von Wissen, das in den verschiedenen Menschen existiert, Resultate hervorbringen, die, wenn sie bewußt vollbracht werden sollten, auf Seiten des lenkenden Verstandes ein Wissen erfordern würden, das kein einzelner Mensch besitzen kann?" (Hayek, 1936/1952, S. 75). Damit trat er mit einem über Mises' Argumente hinausgreifenden Gedanken an die Öffentlichkeit: Der Markt, so erkannte Hayek, sei jene spontane Ordnung, die eine Koordinierung all jenes Wissens erlaube, das niemals konzentriert einem einzigen Entscheider, sondern über Millionen von Individuen verstreut vorliege. Später sollte Hayek diese Erkenntnis als die große Entdeckung seines Lebens bezeichnen (vgl. Caldwell, 2004, S. 206-214). Hayeks Einsicht, der einzigartige Mechanismus zur Wissenskoordinierung sei Ergebnis spontaner Ordnung, wies die Richtung seiner Forschung ab 1940. Darin nahm er die geistesgeschichtlichen Hintergründe jener rationalistischen, konstruktivistischen und positivistischen Weltverbesserungsutopien aufs Korn, die den spontanen — später sollte er sagen: evolutorischen — Charakter der wichtigsten sozialen Errungenschaften der Menschheit leugneten.1 Methodisch wandte sich Hayek gegen alle Versuche von Sozialingenieuren, die exakten Muster der naturwissenschaftlichen Forschung auf sozialwissenschaftliche Zusammenhänge zu übertragen und die Gesellschaft als eine manipulierbare Maschinerie zu sehen. Dazu veröffentlichte er noch während des Krieges mehrere Aufsätze in Economica, die ursprünglich als Teile eines Buchs mit dem Titel „The Abuse and Decline of Reason" geplant waren; doch dieses Projekt blieb unvollendet. Sie wurden schließlich in „The CounterRevolution of Science: Studies on the Abuse of Reason" (1952) zusammengefaßt. Quasi als Nebenprodukt seiner Forschung zu „The Abuse and Decline of Reason" entstand eine populärwissenschaftliche Abhandlung, für die schon früh der Titel „The Road to Serfdom" feststand. Auf diesem Werk gründete Hayeks späterer Ruhm bei einem Massen1 Hauptziel seiner Angriffe waren Denker des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts wie Saint-Simon und Auguste Comte, denen er rationalistische Hybris vorwarf. Ihr Irrtum beruhe auf der fatalen Tendenz des „falschen Individualismus", des kartesianisch geprägten Denkens der französischen Aufklärung, die Möglichkeiten der menschlichen Vernunft zu überschätzen. Im Gegensatz dazu stünde der bescheidenere Ansatz der schottischen Aufklärung, die um die Beschränktheit individueller Vernunft wisse und soziale Institutionen nicht als Ergebnis eines bewußten Designs, sondern als Folge der spontanen Zusammenarbeit freier Menschen erkannte.

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 117 publikum. Das Bändchen, den „Sozialisten in allen Parteien" gewidmet, war „in erster Linie an jene Kreise der sozialistischen Intelligenz Englands gerichtet, die im Nationalsozialismus eine .kapitalistische' Reaktion gegen die sozialen Tendenzen der Weimarer Republik sahen". Er wollte ihnen „verständlich machen, daß es sich im Gegenteil um eine Fortentwicklung des Sozialismus handelte", schrieb er im Vorwort zu einer späteren Ausgabe (Hayek, 1971, S. 15). Frontal griff er damit die bei linksgerichteten Intellektuellen gängige These an, wonach der „Faschismus" das letzte Aufgebot der „aggressivsten Kreise" des niedergehenden Kapitalismus sei, wie es der sowjetische Ideologe Dimitroff verkündet hatte. Hayek stellte die These vom Kopf auf die Füße: Der Nationalsozialismus sei keine Reaktion auf den Sozialismus, sondern dessen Folge gewesen. 2 Der an Tocqueville angelehnte Buchtitel (vgl. Ebenstein, 2001, S. 116)3 war somit weniger als Prophezeiung der Entwicklung in Großbritannien, denn als Warnung zu verstehen: Sollten die Briten den begonnenen Weg zu mehr zentraler staatlicher Planung der Wirtschaft weiterbeschreiten, sei ein einschneidender Verlust an Freiheit unvermeidlich. Angesichts der Zunahme von Regulierung und Kontrollen glaubte Hayek auch in seinem Gasdand eine fatale Tendenz zu erkennen: „Schritt für Schritt haben wir jene Freiheit der Wirtschaft aufgegeben, ohne die es persönliche und politische Freiheit in der Vergangenheit nie gegeben hat" (Hayek, 1944/1971, S. 31). Der Staat, der einen Primat der Politik beanspruche und die Wirtschaft nach politischen Maßgaben steuern wolle, gerate in eine Planungsspirale. Er müsse immer mehr Freiheiten der Bürger beschneiden, um sein Gesamtplanungsziel zu erreichen, und nähere sich schließlich dem totalitären Staat, der Kritik unterdrücke und das Denken und Fühlen der Menschen, ihre Wünsche und Sorgen regulieren wolle. Doch offenbar fehlte es am Bewußtsein für die Gefahr. „Das allgemeine Streben, Sicherheit durch restriktive, vom Staat geduldete oder unterstützte Maßnahmen zu erlangen, hat im Lauf der Zeit zu einer ständig wachsenden Umwandlung der Gesellschaft geführt — einer Umwandlung, in der, wie in so mancher anderer Beziehung, Deutschland führend war, während andere Länder folgten" (ebd., S. 169). Mithin bezeichnete Hayek die Absichten der britischen Labour-Partei als „tödliche Bedrohung für alles, was einem Liberalen am Herzen liegt" (ebd., S. 250). Dabei wollte er nicht dogmatisch erscheinen: Er bestritt, daß eine soziale Grundsicherung in einem liberalen Staat unmöglich sei. Den Leistungswettbewerb, dem ein rechtlicher Rahmen zu setzen sei, hielt er für „sehr wohl auch mit einem ausgedehnten System der Sozialfürsorge vereinbar — solange dieses so organisiert ist, daß es den Wettbewerb nicht weitgehend lahmlegt" (ebd., S. 60). Aller Spielraum zu Entfaltung individueller Initiative würde aber unterdrückt, falls man das Experiment zentraler Planung eingehe, für das Labour und gutmeinende Intellektuelle plädierten. Einen Mittelweg zwischen „atomistischem" Wettbewerb und zentraler Steuerung gebe es nicht, warnte Hayek. Eine Mischung beider Prinzipien „bedeutet, daß keines von beiden wirklich funktionieren und das Ergebnis schlechter sein wird, als wenn man sich konsequent auf eines verlassen hätte" (ebd., S. 65-66).

Die in Deutschland zur Macht gekommene Ideologie habe klar erkennbar sozialistische Wurzeln, schrieb Hayek und spielte damit nicht bloß auf die ihm bekannte, ursprünglich linke Prägung wichtiger NS-Größen an (vgl. dazu Hennecke, 2000, S. 123-124), sondern auf eine lange Tradition antikapitalistisch-nationalistischer Schriftstellerei in Deutschland, als deren Exponenten er Sombart, aber auch Spengler und Moeller van den Bruck vorstellte. 3 In der Studie „Über die Demokratie in Amerika" gab es im letzten Teil prophetische Passagen zu einem immer weiter sich ausbreitenden Versorgungsstaat, der alle Bürger schließlich umfassen, bevormunden und in einer „geregelten, milden und friedlichen Knechtschaft" halten werde (Tocqueville, 1835-1840/1994, S. 344). 2

118 • Wandlungen des Neoliberalismus Wie schon Lippmann in „The Good Society" wies Hayek auf die strukturellen Ähnlichkeiten der zeitgenössischen totalitären Ideologien des Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus hin (ebd., S. 50-51). Obwohl er Stalins Herrschaft für ebenso verabscheuenswert wie Hitlers Regime hielt, mußten offene Angriffe auf die Sowjetunion unterbleiben, da diese Großbritanniens Bündnispartner gegen Deutschland war, gestand er später (vgl. Hayek, 1956, S. 217). 4 Die Sympathien vieler linker Intellektueller für die Sowjetunion hatten in den dreißiger Jahren einen Höhepunkt erreicht. Zahlreiche Bücher geben Zeugnis ihrer selektiven Wahrnehmung der Verhältnisse im „Vaterland aller Werktätigen". Ein Beispiel dafür war das Ehepaar Webb, die Gründer der LSE und treibende Kraft der Fabianer: Ihr zweibändiges Werk „Soviet Communism: A New Civilisation?", veröffentlicht 1935, enthielt Lobeshymnen auf Stalins Tatkraft und Leistungen, ohne ein Wort über seinen millionenfachen Völkermord zu verlieren. Für die dritte Auflage 1937, just zu Beginn der Moskauer Schauprozesse, wurde gar das Fragezeichen im Buchtitel gestrichen (vgl. Webb/Webb, 1937). Zwar kühlte die Begeisterung der Intellektuellen für Stalin nach dessen Pakt mit Hider und der Ermordung Leo Trotzkis ab. Doch änderte dies nichts an ihrer grundlegenden Überzeugung, daß eine planmäßige, zentrale Lenkung der Wirtschaft die Befreiung des Menschen aus seiner kapitalistischen Knechtschaft bedeute.5 Einem Teil der sozialistischen Intellektuellen unterstellte Hayek politische und ökonomische Naivität oder schlicht intellektuellen Irrtum. Er wollte das Gros dieser Linken nicht verloren geben und mühte sich, sie über ihre „große Illusion" aufzuklären. Ihr Engagement für den Sozialismus als vermeintlichen Weg zur „neuen Freiheit" werde zum krassen Gegenteil des Erhofften führen, warnte sie Hayek (1944/1971, S. 44-45). Neben den verirrten Geistern sah Hayek eine zweite, gefährlichere Kategorie von freiheitsfeindlichen Intellektuellen. Im dreizehnten Kapitel stellte er sie als „Die Totalitären mitten unter uns" an den Pranger. Hayek scheute sich auch nicht, den ebenfalls an der LSE lehrenden Politikwissenschaftler Harold Laski, Spitzenpolitiker und Vordenker der Labour-Partei, hier aufzuführen. 6 Darüber zeigte

Offenbat war der Meinungsdruck während des Krieges so stark, daß selbst ein Hayek diesen Alliierten nicht zu kritisieren wagte. „Ich zögerte damals, öffentlich zu sagen, worüber ich niemals Zweifel hatte, daß im Hinblick auf den für mich wesentlichen Prüfstein, die Sicherheit des Lebens und die Freiheit des Andersdenkenden, Sowjetrußland eine schlimmere Tyrannei, grausamer, unmenschlicher und hoffnungsloser war als selbst Hiders", bemerkte er in einem 1948 verfaßten, aber nie veröffentlichten Postskriptum (zit. n. Hennecke, 2000, S. 176). 5 Im folgenden kleinen Büchlein „The Truth about Soviet Russia" der Webbs war nachzulesen, daß sich an der grundsätzlichen Sympathie der beiden für Stalins Reich nichts geändert hatte. In einer peinlichen Diskussion der Fragen, ob Stalin als Diktator zu bezeichnen sei und die Sowjetunion eine Demokratie darstelle, erklärte Beatrice Webb, daß Stalin doch kein Diktator und die UdSSR „die inklusivste und gleicheste Demokratie in der Welt" sei (Webb, 1942, S. 16-19). 6 Er zitierte ihn mit einem bezeichnenden Satz aus dessen zur Großen Depression verfaßten Buch „Democracy in Crisis": Eine zukünftige sozialistische Regierung, so Laski dort, müsse „sich umfangreiche Vollmachten geben lassen und mit ihnen durch Verordnung und Verfugung regieren" sowie „die klassischen Gepflogenheiten regulärer Opposition beseitigen", um ihr Kollektivierungswerk nicht zu gefährden. Die „Fortführung der parlamentarischen Regierungsform" werde davon abhängen, daß die konservative Partei sich verpflichte, das sozialistische Reformwerk nicht zu unterbrechen oder zu beenden (Laski, 1933/1969, S. 87). Laski stimmte häufig Lobeshymnen auf das plan-wirtschaftliche System der Sowjets an, so in „Faith, Reason and Civilization", einem Buch, das 1944 fast zeitgleich mit Hayeks „The Road to Serfdom" herauskam. Darin setzte er die bolschewistische Revolution mit dem Kampf der frühchristlichen Kirche gegen eine morsche und untergehende Antike gleich. Dem „demokratischen Glauben" des Westens, den Laski als „Religion der Ungleichheit" verächtlich machte, sowie der dort praktizierten „Sklaverei des Lohnsystems", stellte er „Sicherheit und Hoffnung des Glücks" in Sowjetrußland gegenüber, wo die „inhärente, persönliche Würde" des einfachen Mannes respektiert werde, so eine Rezension von Hazlitt (1944a). 4

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 119 sich Laski stark verärgert. Bei einem großen Abendessen mit der Präsidentengattin Eleanor Roosevelt in New York drehte Laski die Ideen Hayeks um und prophezeite: „Es gibt keinen Mittelweg. Freies Unternehmertum und der freie Markt bedeuten Krieg; Sozialismus und Planwirtschaft bedeuten Frieden." Den amerikanischen Kapitalismus sah er als „direkten Weg in die Knechtschaft" (zit. n. Kramnick/Sheerman, 1993, S. 501). Äußerungen wie die Laskis, die eine Einschränkung der parlamentarischen Rechte der nichtsozialistischen Kräfte andeuteten, waren es, die Hayek um die Zukunft fürchten ließen. 7 Karl Mannheim, ein weiterer vielbeachteter sozialistischer LSE-Wissenschafder, den Hayek kritisch erwähnte, erklärte in seiner Studie „Man and Society. In an Age of Reconstruction" die klassisch liberale Freiheitsidee zu einem relativen Begriff: Im kommenden, höchsten Stadium menschlicher Entwicklung, der „rationalen und geplanten Gesellschaft", dürfe es keine „willkürlichen" privaten Bewegungen und Institutionen mehr geben.'Die „Freiheit" könne nicht mehr, wie im früheren individualistischen Zeitalter, darin bestehen, „die Macht des Planers zu beschränken", prophezeite er: „Denn jede Beschränkung für den Planer ... würde die Einheit des Planes zerstören" (Mannheim, 1940/1950, S. 378). Grundlage seiner „rekonstruktivistischen" Utopie waren Untersuchungen der Möglichkeiten zur Massenmanipulation in den Vereinigten Staaten in den dreißiger Jahren. Der kriegerische Wettbewerb mit Diktaturen, die auf straffe, effiziente Lenkung und Kontrolle setzten, „zwingt die Demokratien, wenigstens einige ihrer Methoden zu übernehmen". Dies zeige erneut, „daß die modernen halb-totalitären Demokratien dieselben fundamentalen Strukturen haben wie die offen totalitären Staaten", erklärte Mannheim (ebd., S. 338). Ähnliche Visionen eines epochalen Übergangs zu einer technokratisch-totalitär verwalteten Gesellschaft trieben auch konservative Autoren wie James Burnham um. Teils fasziniert, teils erschaudernd verkündete Burnham in „The Managerial Revolution" den Eintritt in eine neue Ordnung, in der „Manager" die gesellschaftliche Führung übernähmen und die herrschende Klasse wären. Diesen Prozeß erkannte er ungeachtet des angeblich trennenden ideologischen Grabens sowohl in sozialistischen, in faschistischen und nationalsozialistischen als auch in nominell demokratischen Ländern: Sie alle praktizierten lediglich Spielarten der totalen Bürokratisierung (vgl. Burnham, 1941/1972).

2. Reaktionen: Gegner und Geistesverwandte Starke politische Kräfte in Großbritannien und den Vereinigten Staaten wollten das Ausmaß an kriegsbedingten Kontrollen des zivilen und wirtschaftlichen Lebens also beibehalten. „Wie im Krieg, so im Frieden", lautete ein gängiges Motto der britischen Labour Partei. Nach ihrer Ansicht konnte nur mit einem mutigen Schritt in Richtung einer staatlich geplanten Wirtschaft ein Rückfall in die chaotischen Zwischenkriegszustände vermieden werden. In dieser gereizten Atmosphäre schlug „The Road to Serfdom" ein wie eine Bombe. In wenigen Monaten erreichte das Buch eine Auflage von mehreren zehntausend Exemplaren.

Die in den Medien diskutierte Frage, ob Laski eine — notfalls gewaltsame — Revolution in Großbritannien befürworte, wurde schließlich Gegenstand eines Gerichtsverfahrens: Laski hatte gegen eine Zeitung geklagt, die ihm solche Absichten unterstellte; er verlor den Prozeß (vgl. Kramnick/Sheerman, 1993, S. 516-540). 7

120 • Wandlungen des Neoliberalismus Nicht nur konservative Kreise, auch linke Intellektuelle nahmen Hayeks Schrift sehr ernst. Sie machte Eindruck auf gemäßigte Sozialisten wie George Orwell. Der Schriftsteller, dessen Arbeit an der „Animal Farm" im April 1944 schon weit fortgeschritten war, zeigte sich in seiner Rezension für den Observervon „The Road to Serfdom" angetan. Hayek habe insofern recht, daß der Kollektivismus „nicht inhärent demokratisch" sei, sondern „einer tyrannischen Minderheit solche Machtmittel verleiht, von denen die spanische Inquisition nicht einmal geträumt hat". Zudem beklagte Orwell, die Intellektuellen seien totalitärer eingestellt als die einfachen Leute. Allerdings schränkte der Kritiker sein Lob für Hayek ein: „Er sieht aber nicht und wird nicht zugeben, daß die Rückkehr zum ,freien' Wettbewerb für die große Masse der Leute eine Tyrannei bedeutet, die viel schlimmer, weil viel unverantwortlicher ist als die des Staates." Das Problem am Wettbewerb sei, daß es nur einen Gewinner geben könne, also eine Tendenz zum Monopolismus bestehe. Und „da die große Mehrheit der Leute viel lieber staatliche Reglementierung als Abschwünge und Arbeitslosigkeit hat, wird der Zug in Richtung Kollektivismus weiterfahren, wenn die öffentliche Meinung dazu irgend etwas zu sagen hat" (Orwell, 1944/1968, S. 118). In den Vereinigten Staaten stieß Hayek zunächst auf Schwierigkeiten, überhaupt einen Verleger für „The Road to Serfdom" zu finden (vgl. Ebenstein, 2001, S. 130-132). Drei große Verlagshäuser lehnten ab, vermutlich nicht, weil sie am Verkaufserfolg des Buches zweifelten, sondern weil Hayeks Thesen ihnen nicht zusagten.8 Nachdem es im Frühjahr 1944 über Vermitdung von Frank Knight und Aaron Director doch noch gelungen war, „The Road to Serfdom" bei der University of Chicago Press zu verlegen, schlug es bald auch in Amerika hohe Wellen. Der Wirtschaftsjournalist Henry Hazlitt, einer der eifrigsten publizistischen Kämpfer der wirtschaftsliberalen Bewegung, lobte es als „eines der wichtigsten Bücher unserer Generation" (Hazlitt, 1944b). Seine prominent auf der Titelseite der New York Times Book Review plazierte Besprechung trug entscheidend zum Erfolg des Buches in Amerika bei.9 Einem Millionenpublikum wurden Auszüge von Hayeks Thesen dann im April 1945 durch einen Nachdruck im Reader's Digest bekannt, den Max Eastman, ein geläuterter Kommunist und früherer Freund Lenins, arrangiert hatte. Kurz darauf trat Hayek eine Rundreise durch die Vereinigten Staaten an, die zum Triumphzug geriet. Zumindest in klassisch liberalen, „konservativen" Kreisen wurde Hayek mit offenen Armen begrüßt und lernte zahlreiche Geistesverwandte kennen. 10

Die amerikanische Niederlassung von MacmiUan schickte das Manuskript zurück mit der Begründung, „Professor Hayek ist ein wenig außerhalb des Stroms des heutigen Denkens". Der Harper Verlag bemängelte, das Buch sei „so völlig in negativem Ton gehalten, daß es dem Leser keinen Anhaltspunkt gibt, welche Position man einnehmen soll zum Denken und zur Politik" (zit. n. Ebenstein, 2001, S. 132). Ein weiterer Lektor habe „The Road to Serfdom" als „ungeeignet zur Veröffentlichung in einem respektablen Haus" verworfen, erinnerte sich Hayek (1956, S. 218). ' Genau einen Tag nach Hayeks „The Road to Serfdom" kam bei der Yale University Press das kleine Büchlein „Bureaucracy" von Mises heraus, das eine noch schärfere Dichotomie zwischen der staatlich-zwanghaften und der privat-kooperativen Sphäre herausarbeitete: Hazlitt nannte es in einer zweiten Besprechung für die New York Times Book Review „ironisch", daß mit Hayek und Mises „die herausragendsten ... Verteidiger der englischen Freiheit und des Systems des freien Unternehmertums, das zur höchsten Entwicklung in Amerika gekommen ist, heute zwei österreichische Exilanten sein sollen" (zit. n. Nash, 1976, S. 12). 8

10 Nicht wenige der Amerikaner, die später auf der Einladungsliste zur Gründungskonferenz der MPS auftauchten, traf Hayek erstmals auf dieser Rundreise 1945, die ihn auch nach Chicago führte. Hier knüpfte er einen langanhaltenden Kontakt zu dem Wirtschaftshistoriker John U. Nef, der später den Wechsel Hayeks 1950 von der LSE ans Committee on Social Thought der Universität Chicago einfädelte, wo Hayek bis 1962 lehrte. Eine Berufung an

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 121 Gleichzeitig fühlten sich besonders die intellektuellen Stützen des New Deal herausgefordert, deren Antworten nicht lange auf sich warten ließen. Anders als Hayeks linke Kritikerin Barbara Wooton von der Universität London, die eine freiheitliche Planwirtschaft für möglich hielt, sich aber respektvoll mit Hayeks Thesen auseinandersetzte, servierte Herman Finer, ein sozialistischer Ökonomen von der Universität Chicago, aggressive Polemik. Sein Gegenpamphlet betitelte er „The Road to Reaction". Darin sparte er nicht an Invektiven gegen Hayek, dessen Buch „die finsterste Offensive gegen die Demokratie" darstelle (Finer, 1945, S. ix). Lediglich „Anbeter der Reaktion" könnten dem Manifest etwas abgewinnen. Seit Hitler besiegt sei, hätten die konservativen Verächter des Mehrheitswunsches nach mehr „demokratischer" Planung sich wieder aus der Deckung gewagt, meinte Finer (ebd., S. 1516). Zuletzt bezichtigte er auch Hayek einer „gänzlich Hitlerschen Verachtung für den demokratischen Menschen" (ebd., S. 137). Wie flüchtig Hayeks Einfluß auf das intellektuelle Klima war, zeigte die lobende Rezension von Finers „Anti-Hayek", ebenfalls in der New York Times Book Review. Nicht nur seien Hayeks „Irrtümer und faktische Fehler" entlarvt worden, stellte Seymour Harris mit Genugtuung fest, „The Road to Reaction" habe auch die Inkompetenz und Bösartigkeit Hayeks treffend analysiert (Harris, 1945). Ein häufiger Einwand betraf Hayeks Ablehnung eines „Mittelwegs" zwischen Markt und Plan. Alvin Hansen monierte in der New Hepublic, daß Hayek nicht klar genug zwischen „guter Planung" und „schlechter Planung" zu trennen wisse. Der prominente Fürsprecher des New Deal zielte damit auf genau jene Verwirrung rund um den Begriff „Planung" ab, die Hayek in „The Road to Serfdom" im dritten Kapitel beschrieben hatte. Unterschieden werden müsse, so Hayek, zwischen zentraler Planung konkreter Produktions- und Konsumentscheidungen, also einer staatlichen Ausschaltung des Wettbewerbs, auf der einen Seite und der „Planung" eines rechtlichen Rahmens für die Wirtschaft, allgemeiner Regeln des Wettbewerbs auf der anderen Seite. Hansen suchte diese Scheidelinie zu verwischen, indem er auf verschiedene Konzessionen Hayeks an den modernen Wohlfahrtsstaat hinwies. Auch der Autor der „Road to Serfdom" hatte ja ein gewisses Maß an staatlicher sozialer Absicherung gutgeheißen. Damit, stichelte der Kritiker, sei doch das Einfallstor für den „Sozialismus" bereits geöffnet (Hansen, 1945). Ahnlich hatte Keynes argumentiert, der Hayek zunächst überraschend schmeichelte: „Meiner Meinung nach ist es ein großartiges Buch", schrieb Keynes im Juni 1944 seinem alten Widersacher, nachdem er „The Road to Serfdom" gelesen hatte. Er stimme mit Hayek, wenn auch nicht ökonomisch, so doch „moralisch und philosophisch" fast überall überein. Allerdings kam Keynes dann dazu, „was tatsächlich mein einziger ernsthafter Kritikpunkt an dem Buch ist. Sie geben hier und dort zu, daß es darauf ankommt zu wissen, wo die Linie zu ziehen ist". Das logische Extrem, schrieb Keynes und meinte einen gänzlich staatsfreien Markt, sei nicht möglich. Hayek habe demnach zugegeben, daß ein wenig Planung zulässig sei, doch er unterschätze „die Praktikabilität des Mittelwegs". Aber „sobald Sie zugeben, daß das Extrem nicht möglich ist und daß die Linie [Grenze] irgendwo gezogen werden muß,

die dortige Wirtschaftsfakultät hatten die Ökonomen abgelehnt, „weil sie ,The Road to Serfdom' als eine zu populäre Arbeit für einen respektablen Ökonomen" ansahen, erinnerte sich Nef (1973, S. 237-238). Zu den politischen Hintergründen und auch zu Hayeks persönlichen Motiven für den Wechsel nach Chicago vgl. auch Ebenstein (2001, S. 173-175) und Hennecke (2000, S. 230).

122 • Wandlungen des Neoliberalismus sind Sie, nach Ihrem eigenen Argument, erledigt". Nach Keynes bedeutete dieses, „wenn man sich nur einen Zoll in Richtung Planung bewegt, befindet man sich auf der schiefen Bahn, die einen schließlich über den Abgrund stürzt" (Keynes, 1944/1984, S. 385-387). Varianten dieser Art „reductio ad absurdum" sollte Hayek in Zukunft noch häufiger hören. Auch in parlamentarischen Zirkeln wurde Hayek aufmerksam gelesen. Zur britischen Unterhauswahl 1945, der ersten nach rund zehn Jahren, war er Stichwortgeber einer heftigen politischen Debatte zwischen Churchill und dessen Herausforderer Clement Atdee. Obwohl unklar ist, ob der Premierminister „The Road to Serfdom" selbst gelesen hat, bemerkte das Publikum sofort die Anklänge an dessen Argumentation, als Churchill sagte: Sozialismus sei „unlöslich mit Totalitarismus und der verwerflichen Vergottung des Staates verbunden". Der sozialistische Staat sei „der oberste Unternehmer, der oberste Plänemacher, der oberste Verwalter und Herrscher und die oberste Parteileitung". Churchills Anklage gipfelte in der Behauptung, kein sozialistisches System könne ohne Polizeimacht errichtet werden, „sie würden auf eine Art Gestapo zurückgreifen müssen, die zweifellos vorerst einmal sehr menschlich gehandhabt würde" (Churchill, 1945/1950a, S. 300-301). Die „Gestapo-Rede", wie sie bald genannt wurde, provozierte einen öffentlichen Aufschrei. Hayek fand sich alsbald im Mittelpunkt des politischen Streits, nachdem Labour-Führer Attlee die Rede des Premierministers zu einem Abklatsch der Ansichten „eines österreichischen Professors, Friedrich August von Hayek" erklärte hatte (zit. n. Kramnick/Sheerman, 1993, S. 483). 11 Die Wähler zeigten sich unbeeindruckt von Churchills an Hayek angelehnter Warnung. Mit überwältigender Mehrheit wählten sie den Kriegspremier ab und gaben Labour ein Mandat zum Umbau der britischen Wirtschaft und Gesellschaft. Hayeks schärfster Gegenspieler an der L S E , Labours Vordenker und eifriger Wahlkämpfer Harold Laski, konnte triumphieren. Ihm stellte sich die Aufbruchsstimmung im sozialistischen Lager in Großbritannien vergleichbar mit der Situation nach der Russischen Revolution 1917 dar. Die Regierung Atdee begann ohne Zögern mit der Enteignung wichtiger Industrien. Kohle-, Eisen- und Stahlwerke, die Elektrizitätswirtschaft, das Transportwesen, die zivile Luftfahrt sowie die Bank von England wurden in Staatsbesitz überführt. Vergebens warnte der liberale Ökonom John Jewkes von der Universität Manchester mit einer Streitschrift „Ordeal by Planning" vor Ineffizienz und Chaos in verstaatlichten Betrieben (vgl. Jewkes, 1948). 12 Neben der Sozialisierungskampagne machte der Aufbau des Wohlfahrtsstaats in England rasche Fortschritte. Schon während des Krieges waren mit dem 1942 unter größter öffentlicher Zustimmung veröffentlichten „Beveridge Report" die Weichen auf eine massive Ausweitung der kollektiven Sozialsysteme gestellt worden. Lord Beveridge, ein führendes

11 Nur ein Teil der Konservativen Partei übernahm die alarmistische Rhetorik, die Churchill noch in weiteren Reden anschlug (vgl. Churchill, 1945/1950b). Während die „alte Rechte" um Lord Beaverbrook für eine marktwirtschaftliche Wende warb und weiter sozialistische Experimente scharf ablehnte, gab es auch „progressive" Kräfte bei den Tories wie Macmillan oder R. A. Butler, deren wirtschafts- und sozialpolitische Vorstellungen nicht weit von Labours Ideen entfernt waren. 12 Sowohl Hayek als auch, später, Margaret Thatcher bewunderten die Studie, worin Jewkes seine schlechten Erfahrungen mit planwirtschaftlichen Verfahren in der Rüstungsindustrie verarbeitete: Im Gegensatz zum populären Mythos sei diese höchst chaotisch und schlecht organisiert gewesen, erklärte Jewkes, der während des Krieges gemeinsam mit Robbins und Stanley Dennison als ökonomischer Berater der Regierung, anfangs im Kriegskabinett, später im Ministerium für Flugzeugbau tädg gewesen war.

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 123 Mitglied der Liberalen Partei, sagte darin den „fünf Riesen" (Mangel, Krankheit, Unwissenheit, Schmutz und Müßiggang) den Kampf an und versprach eine staatliche Versorgung „von der Wiege bis zur Bahre" (vgl. Beveridge, 1942/1943). Ergebnis dieser Vorarbeiten war die 1948 gegründete Pflichtversicherung des „National Health Service", eines der Ecksteine des britischen Wohlfahrtsstaats. Der mit Steuern finanzierte NHS sollte allen britischen Staatsbürgern eine „kostenlose", wenn auch rationierte, medizinische Pflege bieten und verstaatlichte damit faktisch das gesamte Gesundheitswesen. Über jenen Anteil der Volkswirtschaft hinaus, der nun direkt staatlichen Planungsdirektiven unterstand, gab es einen großen Bereich, der indirekt kontrolliert und gelenkt wurde. Die Sphäre des gänzlich privaten Marktes war erheblich geschrumpft. Allgemein herrschte nach dem Krieg ein starker Glaube an die zentrale Steuerbarkeit der Wirtschaft und die Möglichkeit, konjunkturelle Schwankungen durch staatliche fiskalische Interventionen zu glätten. Vollbeschäftigung war das Ziel, das mit einer keynesianischen Nachfragepolitik verfolgt wurde (vgl. Bleaney, 1985, S. 81-87). Keynes' Theorie vom Gleichgewicht bei permanenter Unterbeschäftigung, falls der Staat nicht die Nachfragelücke stopfe, lag dem Weißbuch zur „Employment Policy" vom Mai 1944 zugrunde. In diesem, auch mit den Stimmen der Konservativen wie der Sozialisten verabschiedeten Dokument akzeptierte die Regierung „als eine ihrer primären Aufgaben und Verantwortungen die Erhaltung eines hohen und stabilen Niveaus der Beschäftigung nach dem Krieg" (zit. n. ebd., S. 84). 13

3. Hayeks Rede am King's College und der Kontakt zu Röpke Als entscheidend für Europas Zukunft sah Hayek an, welche Entwicklung Deutschland nehmen werde. Diese Überzeugung hatte er schon im Februar 1944 in seinem Vortrag „Historians and the Future of Europe" vor der Political Society des King's College in Cambridge dargelegt. Sie gab Zeugnis seiner tiefen Sorge: „Ob wir fähig sein werden, so etwas wie eine gemeinsame europäische Zivilisation nach diesem Krieg aufzubauen, wird hauptsächlich bestimmt durch das, was in den unmittelbar folgenden Jahren passiert", prophezeite Hayek (1944/1967, S. 135). Er fürchtete, der Zusammenbruch Deutschlands könne den ganzen Kontinent in einen Strudel der Zerstörung ziehen. „Unsere Bemühungen müssen darauf zielen, Deutschland für diejenigen Werte zurückzugewinnen, auf denen die europäische Zivilisation beruht" (ebd.). Die „moralische und intellektuelle Wüste", die man bei der Besetzung Deutschlands vorfinden werde, enthalte wohl „zahlreiche Oasen", die jedoch verstreut und isoliert seien. 14 Wichtig sei nun aber, daß Gelegenheiten für Treffen

13 Daß die eher zurückhaltende Formulierung „hohes und stabiles Niveau", nicht aber „Vollbeschäftigung" festgeschrieben wurde, war nach Jewkes Erinnerung vor allem einer Intervention Robbins zu verdanken (vgl. Cockett, 1994, S. 65-66). 14 Sehr wahrscheinlich dachte Hayek hier an Geistesverwandte wie Walter Eucken, der trotz aller Gefährdung in Deutschland ausharrte. Ein Exemplar von Euckens Buch „Die Grundlagen der Nationalökonomie" hatte er über Röpke Mitte 1941 erhalten und äußerte sich begeistert: „Es ist ein ganz exzellentes Werk, das meine üefe Bewunderung für unseren Freund noch mehr gesteigert hat" (Hayek an Röpke, 17.8.1941, in: IWP, NL Röpke). Später erklärte Hayek, das Buch habe ihm damals die Augen geöffnet, „welch bedeutende Figur Eucken tatsächlich war, und wie sehr Eucken und sein Kreis die große freiheitliche Tradition Deutschlands verkörperten" (Hayek, 1983a, S. 14).

124 • Wandlungen des Neoliberalismus von Gleichgesinnten, internationale Kontakte besonders für die von der geistigen Entwicklung abgeschnittenen deutschen Intellektuellen geschaffen würden, erklärte Hayek. Es folgten Überlegungen zur Rolle, die den Historikern langfristig bei der anzustrebenden „Umerziehung des deutschen Volkes" zukäme. Der Einfluß der deutschen Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem die „Verehrung des Machtstaates und die expansiven Ideen", sei zurückzudrängen und Deutschland „eine starke Dosis" von dem zu verabreichen, „was man jetzt modisch ,Whig History' nennt, also Geschichtsschreibung jener Art, von der Lord Acton einer der letzten großen Repräsentanten war" (ebd., S. 140). Die notwendige grenzüberschreitende Zusammenarbeit, forderte Hayek, setze eine „gewisse minimale Übereinstimmung bei den allgemeinsten politischen Idealen" voraus. Dazu zählte er „einen gemeinsamen Glauben an den Wert individueller Freiheit, eine affirmative Einstellung zur Demokratie", die aber nicht unbegrenzt sein dürfe und auch Minderheitenrechte berücksichtigen müsse, sowie „eine gleiche Opposition gegen alle Formen des Totalitarismus, seien sie nun von rechts oder links" (ebd.). Um die Kooperation britischer und deutscher Historiker zu institutionalisieren, schlug Hayek die Gründung einer „Acton Society" und einer Zeitschrift vor. Acton hielt er als Symbol für „fast einmalig geeignet". Nicht nur verkörpere dieser die große englische Tradition des Liberalismus; Hayek stellte auch lobend heraus, daß Acton zwar gläubiger Katholik gewesen sei, doch gegenüber Rom Unabhängigkeit gewahrt habe. Wolle der Liberalismus wieder in der gesellschaftlichen Mitte ankommen, müsse er seine feindliche Einstellung zur Religion aufgeben, die so „viele anständige Leute in die Gegnerschaft zum Liberalismus getrieben hat" (ebd.). Zudem, hob Hayek hervor, hätten Katholiken im Widerstand gegen Hitler eine wichtige Rolle gespielt. Weitere Persönlichkeiten, die Hayek als Namensgeber der angeregten Gesellschaft für denkbar hielt, waren Jacob Burckhardt, seiner skeptischen Haltung zur Macht, zur Zentralisierung und zu überdimensionierten Staatsgebilden wegen, und ebenso Tocqueville, den großen französischen Historiker, der so viel mit Acton und Burckhardt gemeinsam habe. Diese drei Persönlichkeiten, Fortsetzer einer Tradition, die von Edmund Burke gegründet worden sei, personifizierten nach Hayek den Geist der „Rééducation", nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa. Die Rede am Kings College war Hayeks erster Schritt auf dem langen Weg zum Mont Pèlerin. Sie zeigte, daß die Erinnerung an den 1938 beim Colloque Walter Lippmann geplanten Zusammenschluß liberaler Wissenschaftler noch wach war. Jedoch gestaltete sich die internationale Zusammenarbeit sehr schwierig, denn mit Ausbruch des Krieges waren viele zur Emigration gezwungen und viele Kontakte unterbrochen worden. Nur über Röpke erfuhr Hayek gelegentlich von der geistigen Entwicklung und dem Ergehen liberaler Freunde in Deutschland. Röpke arbeitete während des Krieges in seinem Schweizer Exil unermüdlich an der großen Trilogie von „Gesellschaftskrisis der Gegenwart" (1942), „Civitas humana" (1944) und „Internationale Ordnung" (1945). Sie sollte umfassende Antworten auf die geistige wie politische Krise der westlichen Welt geben. Wie Hayek tat damit auch Röpke den Schritt vom Ökonomen zum Sozialphilosophen. Er war überzeugt, daß die ökonomische Krise nur Symptom einer viel tiefer reichenden Kulturkrise des Westens sei. Seine Analyse fragte daher nach den außerökonomischen, den ethischen und moralischen Grundlagen der Marktwirtschaft sowie nach ihren ordnungspolitischen Rahmenbedingungen. Röpkes Kritik

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 125

zielte auf Konzentration und Zentralisierung, auf Entwurzelung und „Proletarisierung", Atomisierung und kollektivistische „Vermassung" in Großbetrieben und Großstädten. Auch der klassische Liberalismus, betonte Röpke, trage an dieser gefährlichen Entwicklung eine Mitschuld, da er das rechte Maß an Freiheit und Bindung nicht immer verteidigt habe. Den Kern der Freiheitsphilosophie wollte er freimachen von irrtümlichen Verzeichnungen: „Gerade um diesen unantastbaren, heute aber durch den Zusammenbruch des historischen Liberalismus aufs äußerste bedrohten Kern zu retten, sind die Vertreter der liberalen Revision in der Kritik dessen, was nun zusammengebrochen ist, so unerbittlich", erklärte Röpke (1942/1979, S. 42). Als Rettung empfahl er einen „Dritten Weg"15: „Weder handelt es sich dabei um eine Spielart des historischen Liberalismus noch um bloßen ,Interventionismus' noch gar um etwas, was auch nur entfernteste Ähnlichkeit mit dem heute überall vordringenden Kollektivismus hätte." Vielmehr forderte er eine „Überwindung der unfruchtbaren Alternative zwischen Laissez-faire und Kollektivismus" (ebd., S. 43). Generell forderte er eine Rücknahme des überbordenden Staates. Sofern Eingriffe in die Wirtschaft erwogen würden, habe der Staat darauf zu achten, nicht den Markt- und Preismechanismus zu blockieren und zu zerstören. Eine „konforme" Wirtschaftspolitik wirke nicht entgegen, sondern im Einklang mit den Marktkräften, bekräftigte er mit Verweis auf die von Rüstow entwickelte Definition der „liberalen Intervention" (vgl. Röpke, 1944, S. 7780). Ziel sollte eine Umkehrung des Trends zur kollektivistischen Gesellschaft sein. Was Röpke als Gegenentwurf konkret anzubieten hatte, war aber nicht frei von romantischen Zügen. So wollte er die gigantomanische und zentralisierende Tendenz der Moderne umdrehen, den Massenstaat in eine dezentralisierte, kleinräumige Mittelstandsgesellschaft mit Bauern, Handwerkern und Kleinunternehmern zurückverwandeln (vgl. ebd., S. 268-289). Idyllische, vorindustrielle Verhältnisse fand er in den abgelegenen Regionen der Schweiz teilweise noch erhalten (vgl. ebd., S. 80-81). Angesichts der hochindustrialisierten Großgesellschaften Europas mutete sein Projekt einer teilweisen Rückwicklung der Moderne wohl sympathisch, doch auch utopisch an. Allgemein ging es Röpke um eine Vermeidung der Extreme: „Kapitalismus und Demokratie kommt für die Begründung einer humanen, freiheitlichen Gesellschaft eine bedeutende, ja unverzichtbare Rolle zu, aber ungezügelt und verabsolutiert bergen sie den Keim der Selbstzerstörung in sich", resümiert sein Biograph (Hennecke, 2005, S. 137). Diese These traf offenbar einen Nerv der Zeit, so daß seine sozialphilosophischen Werke beim Publikum große Erfolge erzielten und ihn zu einem der meistgelesenen Autoren der Schweiz machten. Auch Hayek war im ganzen voll des Lobes für die „Gesellschaftskrisis", die er als „große Leistung" bezeichnete. „Ich stimme fast vollständig mit Ihnen überein, nicht nur was das Hauptargument betrifft, sondern auch mit den Details" (Hayek an Röpke, 6.6.1942, in: IWP, NL Röpke). Die Warnungen Röpkes vor einem Abgleiten in den Kollektivismus schienen ihm eng verwandt mit der Grundaussage seines noch unvollendeten Buches „The Road to Serfdom". Skeptisch war er bezüglich des Begriffs der „Vermassung", wo sich Röpke auf Ortega y Gassets Thesen bezog. Falls es Vermassung gebe, meinte Hayek, dann sei dies die Konsequenz fortschreitender politischer Zentralisierung und nicht Folge der liberalen Wett-

15

Zur Metapher des „Dritten Weges" und verschiedenen politischen Ansätzen vgl. Gallus/Jesse (2001).

126 • Wandlungen des Neoliberalismus bewerbsgesellschaft, die doch größte Vielfalt erlaube, wie das Beispiel der englischen Gesellschaft beweise (vgl. ebd.). Weiter kritisierte er Röpkes Plädoyer für einen „Dritten Weg", der als Mittelding zwischen Wettbewerb und Planung fehlgedeutet werden könne. Der Begriff sei zudem mißverständlich, da er eine Äquidistanz zwischen Sozialismus und Liberalismus suggeriere, schrieb Hayek besorgt. Er fügte hinzu, „wir müssen den Mut haben, uns offen zu den grundlegenden Idealen des alten Liberalismus und Individualismus zu bekennen, wie sehr wir auch die ungehobelte Art kritisieren mögen, mit der sie manche Leute im neunzehnten Jahrhundert in die Praxis zu setzen versuchten". Schließlich erklärte er seine Skepsis bezüglich der Unterscheidung zwischen „konformen" und „nicht-konformen Interventionen" (ebd.). Röpke hatte ein offenes Ohr für diese Kritik. Zum „Dritten W e g " erklärte er, dieser läge natürlich nicht „in symmetrischer Beziehung zu Liberalismus und Sozialismus". Die „konformen" und „nicht-konformen" Interventionen des Staates glaubte er „in den meisten Fällen" mit ausreichender Präzision abgrenzen zu können (Röpke an Hayek, 8.7.1942, in: ebd.). Trotz aller Ubereinstimmung, deren Hayek und Röpke sich gegenseitig versicherten, waren unterschiedliche Akzente nicht zu übersehen. Röpke betonte den „soziologischen Rahmen", die außerökonomischen Voraussetzungen der Marktwirtschaft. Diese machten auch aktive staatliche Maßnahmen zur Rückformung der Sozialstruktur in Richtung einer von ihm als gesund empfundenen Mittelstandsgesellschaft nötig. Aufschlußreich für ihre unterschiedlichen Auffassungen vom Neoliberalismus war ein weiterer Brief Hayeks, der erneut Röpkes von Rüstow übernommene Verurteilung des klassischen Liberalismus thematisierte. Hayek kritisierte „wieder die überzogene Verdammung der Laissez-faire-Philosophie" (Hayek an Röpke, 24.10.1942, in: ebd.). 16 Sowohl Röpke als auch Hayek lag daran, durch solche Meinungsdifferenzen nicht ihre Zusammenarbeit zu belasten. Jedoch hat Hennecke (2000, S. 154-155) in dem Briefwechsel bereits erkannt, „wo einige der Bruchpunkte angelegt sind, die später dazu führen, daß Hayek und Röpke getrennte Wege gehen". Neben sozialphilosophischen Themen ließ Röpke auch die weltpolitische Lage, besonders die Zukunft Mitteleuropas, nicht ruhen. Im Spätsommer 1945 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Die deutsche Frage", worin er seine Gedanken zu einer Neuordnung Deutschlands formulierte (vgl. Schwarz, 1999). Den Beginn der Fehlentwicklungen, die in die deutsche Katastrophe mündeten, sah er in der Reichseinigung unter preußischer Führung. So befürwortete er, den Zentralstaat wieder in einen dezentralen, locker föderativen Zusammenschluß aufzulösen, wobei die historischen deutschen Länder substantielle Autonomie haben und von der Gemeindeebene her demokratisch aufgebaut werden sollten. Gleichzeitig könne so die wirtschaftliche Konzentration mit allen negativen Folgen entflochten werden, meinte Röpke. Seine Argumentation mischte also liberale mit konservativen Elementen, die insgesamt wenig realistisch anmuteten. Dennoch nahm er mit seinem

16 Zwar sei diese „durchaus berechtigt, was das gegenwärtige gemeine Verständnis von diesem System angeht, aber hochgradig ungerecht gegen all die großen Ökonomen in der Laissez-faire Tradition, von Hume und Smith zu Bentham und Senior. Diese wußten genau, daß die wohltätige Wirkung des Wettbewerbs vom rechtlichen Rahmen abhing", schrieb Hayek und beschuldigte „nur einige ihrer unwürdigen Epigonen wie MacCulloch — und noch mehr kontinentale Vertreter dieser Tradition - die sie zur Karikatur entstellten" (Hayek an Röpke, 24.10.1942, in: IWP, NL Röpke).

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 127 unbedingten Plädoyer einer Einbeziehung der westlichen Besatzungszonen in die adantische Gemeinschaft unter Inkaufnahme des Verlustes der Ostgebiete eine deutschlandpolitische Entwicklung geistig vorweg, die dem Kurs der Bundesrepublik unter Adenauer entsprach (vgl. ebd., S. 41-42). Der spätere Kanzler gehörte 1947 zu den interessierten Lesern Röpkes, dessen politischen Rat er später ebenso wie Ludwig Erhard immer wieder suchen sollte. Auch unter den Alliierten, besonders in der französischen Zone, nahm man „Die deutsche Frage" günstig auf.17

4. Das Zeitschriftenprojekt „Occident" und die Rolle Albert Hunolds Kurz nach Kriegsende trug sich Röpke mit dem Gedanken an eine internationale, dreisprachige Zeitschrift mit dem Titel „Occident". Ein sechsseitiges Exposé vom August 1945 zeichnete ein düsteres Bild der Lage. Durch die „ungeheuren Zerstörungen dieses neuen .Dreißigjährigen Krieges'" sah er „die Formen abendländischen Lebens und Denkens bis in ihre letzten Grundlagen erschüttert ... Traditionen, unantastbare Normen, Werte und letzte Uberzeugungen haben weitgehend aufgehört, dem Menschen Halt und Orientierung zu geben" (Röpke, 1945a, S. 1). Die Urteilsfähigkeit der Bürger sei durch die langjährige Propaganda erschüttert, ein neuer „doktrinärer Menschentyp" drohe vorherrschend zu werden. Es bestehe die Gefahr, daß an die Stelle von Faschismus und Nationalsozialismus „andere Formen des Kollektivismus" träten. Der direkt folgende Verweis auf Sowjetrußland ließ keinen Zweifel, wo Röpke den kommenden Feind ortete. Er forderte, alle Denkkraft und Energie zu konzentrieren, um „den wahren kulturzerstörerischen Charakter des Kollektivismus zu endarven" (ebd.). Entscheidend war seine Feststellung, „daß die letzten Ursachen der Krisis tiefer liegen und in der Erschütterung der geistigen, moralischen und so^alphilosophischen Grundlagen des Abendlandes suchen sind' (ebd., S. 2, Hervorheb. im Orig.). Röpkes Aufruf erging an „alle geistigen Kräfte, die sich den durch Kollektivismus, Vermassung, Materialismus und Traditionslosigkeit drohenden Gefahren entgegenzustellen bereit sind". Ihnen wollte er mit der Zeitschrift ein „Diskussionsforum des abendländischen Humanismus und aller Freiheitskräfte" schaffen. Interessant ist, wie breit er die „Front der Gutwilligen" spannte. Darin sah er Platz für „parteipolitisch ,Liberale' wie konservative' oder .Demokraten', ja möglicherweise sogar gemäßigte Sozialisten" (ebd., S. 3). Die Zeitschrift, so betonte er, richte sich „an die geistigen Oberschichten und meidet daher jede Vulgarisierung und Konzession an den Massengeschmack" (ebd., S. 4). Alle Artikel würden in den drei europäischen Hauptsprachen Deutsch, Englisch und Französisch verfaßt sein. Am Ende des Exposés fand sich eine Liste von Persönlichkeiten, mit deren redaktioneller Mitarbeit Röpke fest rechnen konnte, darunter die Schweizer William Rappard, Hans Barth und Hans Zbinden, der damalige Gouverneur der Banca d'Italia Luigi Einaudi sowie Röpkes Freunde Rüstow, Eucken und Hayek. Als weitere Autoren und Korrespondenten für

17 Röpkes allgemeine Medienpräsenz in Deutschland und seine Wirkung auf die dortige öffentliche Meinung direkt nach dem Krieg sollte man allerdings nicht allzu hoch veranschlagen (vgl. dazu Schwarz, 1999, S. 44). Erst nach 1948 nahm sein Einfluß auf das deutsche Publikum zu, und er wurde zu einem der meistgelesenen ökonomischen Publizisten der fünfziger Jahre.

128 • Wandlungen des Neoliberalismus „Occident" hoffte Röpke, weitere Prominente wie Lippmann, Benedetto Croce, Salvador de Madariaga und Ortega y Gasset zu gewinnen (vgl. ebd., S. 6). Natürlich benötigte Röpke für die geplante anspruchsvolle Zeitschrift eine nicht unerhebliche Anschubfinanzierung. Bei der Suche nach Geld wurde ihm der Züricher Geschäftsmann Albert Hunold zur unentbehrlichen Hilfe. Geboren 1899 wie auch Röpke oder Hayek, doch in kleinere Verhältnisse 18 , hatte Hunold in Zürich Wirtschaftswissenschaft studiert und wurde später dort promoviert. Er war an ökonomischen Zeitfragen brennend interessiert, wenngleich es zu einer wissenschaftlichen Karriere nicht reichte. 19 Dagegen besaß er große Fähigkeiten als Verwalter und Organisator. Von 1930 bis 1945 stand Hunold als Sekretär dem Züricher Börsenverein vor, war dann ein knappes Jahr in leitender Stellung beim Crédit Suisse tätig und wechselte 1947 in die Marketingabteilung des Schweizerischen Uhrenindustrieverbandes. Ab 1950 widmete er sich ganz dem Aufbau des der Universität in Zürich angeschlossenen Schweizerischen Instituts für Auslandsforschung. Während der Kriegsjahre knüpfte Hunold als Funktionär diverser Bankenverbände wichtige Kontakte zur Industrie und Finanzwelt, die er für seine politischen Aktivitäten zu nutzen verstand. Ein Finanzplan vom 23. September 1945 (in: HLA, MPS-Slg. 5) zeigt, mit welchem Ehrgeiz Hunold sich das Ziel setzte, für Röpkes Zeitschriftenprojekt ein Kapital von 100.000 Schweizer Franken zu beschaffen. Zwei Dutzend private Gönner und Firmen, besonders Banken, Versicherungen und Chemieunternehmen, sprach Hunold laut diesem Finanzplan an. Die größte Einzelspende in Höhe von 5.000 Franken sollte eine staatliche Einrichtung, die „Wirtschaftsförderung", beisteuern. Diese sei überraschenderweise „von der Idee so angetan, daß sie entschlossen ist, eine Summe à fond perdu von 20.000 Franken zu bewilligen", notierte Hunold später in einem „Bericht" zur Gründung der MPS. Weiter konnte er innerhalb weniger Wochen Zusagen über 50.000 Franken verbuchen („Report", o. Dt., [wohl fünfziger Jahre], in: ebd.). Damit war genug Geld gesammelt, um Ende des Jahres mit dem Schweizer Verleger A. Francke in konkrete Verhandlungen zu treten. Schon wurden Entwürfe für das Titelblatt der Zeitschrift herumgereicht, da zeichnete sich eine Verstimmung zwischen Röpke und Hunold ab, der politische Vorbehalte gegen Francke hegte. Neue Verhandlungen mit dem Verleger Amstutz scheiterten schließlich an einem Streit um Röpkes Ansinnen, sowohl Herausgeber als auch Eigentümer der Zeitschrift zu werden. Hunold, der die Geldgeberseite vertrat, konnte dem nicht zustimmen. Es folgte im Februar 1946 ein gereizter Briefwechsel. Hayek, dem das Zerwürfnis zu Ohren kam, versuchte zu schlichten, da die „Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden ... einzigartige Möglichkeiten" biete und nicht „an Mißverständnissen scheitern" dürfe (Hayek an Hunold, 9.2. 1946 in: IWP, NL Hunold). 20 Eine Einigung schien jedoch unmöglich. Hunold drohte schließlich, „den verschiedenen Geldgebern klaren Wein

18 Sein Vater Albert Hund war Küfer und Wirt nahe Zürich und änderte 1913 den Familiennamen in Hunold. " Zu seiner Doktorarbeit „Die Reorganisation des englischen Kohlenbergbaus" ging Hunold später auf Distanz. Ihm habe „für eine seriöse wissenschaftliche Arbeit" die Zeit gefehlt, zudem sei der Tenor seiner 1932 entstandenen Dissertation noch gefärbt vom damaligen Zeitgeist, „wo monopolistische Gebilde wie Kartelle und Trusts auch bei Nationalökonomen recht hoch im Kurs standen" (Hunold an Röpke, 10.7.1942, in: IWP, NL Röpke). Zwei Anläufe Hunolds, sich zu habilitieren, führten zu nichts. 20 Jahrzehnte später, nach dem Bruch zwischen Hayek und Hunold, erinnerte er mit einer zynischen Bemerkung an die Auseinandersetzung um die Zeitschrift (vgl. Hayek, 1983a, S. 17).

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 129 einzuschenken", und setzte ein Ultimatum, nach dessen Ablauf das gesamte Geld zurückgegeben werde (Hunold an Röpke, 25.2.1946, in: ebd.). Im April war das Projekt der internationalen Zeitschrift endgültig gestorben; zwischen Röpke und Hunold herrschte einige Monate Eiszeit. Eine Besprechung mit Rappard, Röpkes älterem Kollegen am Institut universitaire des hautes études internationales, bestärkte Hunold darin, daß die Zeitschrift „nicht mehr zu retten ist". Allerdings hatte sich Rappard bei dieser Gelegenheit erinnert, daß Hayek „mit Amerikanern eine ähnliche Sache zu starten beabsichtige". Hunold fragte daher Hayek, ob dieser Verwendung für das gesammelte Geld habe (Hunold an Hayek, 17. Juni 1946, in: ebd.). Ganz unverhofft bot sich Hayek so die Chance, sein Vorhaben einer internationalen Vereinigung von liberalen Intellektuellen wiederaufzunehmen. Zunächst glaubte Hayek, seine eigenen Pläne seien nicht realisierbar. „Leider hat sich die Sache aber gar nicht weiter entwickelt, und ich sehe daher keine Aussicht, in absehbarer Zeit von Ihrem so freundlichen Angebot Gebrauch zu machen." Er riet Hunold, das Geld wieder zurückgeben (Hayek an Hunold, 10.8.1946, in: ebd.). Dann jedoch wagte Hayek einen neuen Anlauf, seinen am King's College skizzierten Plan zu verwirklichen. Um die Sache ins Laufen zu bringen, wollte er nun für ein Gründungstreffen zwanzig bis dreißig Gelehrte „auf neutralem Grund", am liebsten in der Schweiz, versammeln (Hayek an Hunold, 9.10.1946, in: HIA, MPS-Slg. 5). Hunold, der die Vorbereitungen in enger Abstimmung mit Röpke und Rappard vorantrieb, gelang es, die Geldgeber für eine Umwidmung ihrer Mittel zugunsten einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz zu überzeugen. Sogleich telegraphierte er die frohe Botschaft an Hayek: „Mittel verfügbar für Treffen" (Hunold an Hayek, 16.12.1946, in: ebd.). Nach Absprache mit den Geldgebern darunter vor allem Versicherungsunternehmen, die staatliche „Wirtschaftsförderung" hatte sich zurückgezogen — blieben Hunold von den ehemals für „Occident" gesammelten Mitteln noch 15.000 Franken für das neue Projekt (Hunold an Hayek, 8.3.1947, in: ebd.). Die beiden neuen Partner kannten sich erst seit einem Jahr. Hunold hatte Hayek im Oktober 1945 für einen Vortrag „Das Problem der Vollbeschäftigung" an die Universität Zürich geladen und anschließend ein Essen mit einer Gruppe von Geschäftsleuten veranstaltet. Offenbar machte der Gast aus London dort großen Eindruck auf die Runde im Züricher Hotel Baur au Lac. Es entwickelte sich eine persönliche Freundschaft zwischen Hayek und Hunold sowie ihren Familien. Der Züricher Geschäftsmann wuchs rasch in eine ausgesprochene Vertrauensstellung hinein und war sowohl Hayek wie auch dessen Familie in den kommenden Jahren mit verschiedenen Diensten, von Bücher- und Lebensmittelsendungen bis hin zu Uhrenkäufen, behilflich; umgekehrt sorgte Hayek dafür, daß Hunold in die American Economic Association aufgenommen wurde (vgl. Hayek an Hunold, 17.6.1946, in: IWP, NL Hunold). Die freundschaftliche Nähe mag auch die spätere tiefe Enttäuschung und Bitterkeit der beiden erklären, als schwere Differenzen nach fünfzehn Jahren zum Bruch führten. Zur Zeit seines Züricher Vortrages zeichnete sich ein Wandel in Hayeks Plänen ab. Im August 1945 verschickte er an einige befreundete Wissenschaftler ein „Memorandum on the Proposed Foundation of an International Academy for Political Philosophy tentatively called ,Acton-Tocqueville-Society'". Das Memorandum zeigt die Akzentverschiebung seiner Pläne

130 • Wandlungen des Neoliberalismus seit der Rede am King's College. Nicht mehr vornehmlich eine deutsch-englische Zusammenarbeit von Historikern stand nun im Mittelpunkt; und nicht mehr die Umerziehung der Deutschen sollte primärer Zweck einer „Acton-Tocqueville-Society" sein. Vielmehr nahm Hayek Abstand von den unmittelbaren Problemen der Nachkriegszeit und legte die Aufgabe breiter und langfristiger an. Um dem verbreiteten Fatalismus zu begegnen und die verbliebenen Liberalen zusammenzubringen, schwebte ihm nun die Gründung einer „Internationalen Akademie für Politische Philosophie" vor, deren Auftrag darin läge, die Grundlagen einer langfristigen Renaissance jener freiheitlichen Werte zu legen, die er bedroht sah (vgl. Hayek, 1945). Diese Akademie sollte ein internationales Forum des vertraulichen Gedankenaustauschs sein und sich von Partei- und Tagespolitik fernhalten. Als Studiengruppe bedürfe sie einer festen gemeinsamen Wertebasis. Innerhalb der Grenzen eines „breiten Liberalismus, der einst Gemeingut fast aller Engländer und Amerikaner war", sah Hayek jedoch „Platz für viele Meinungsschattierungen, um nur zwei Beispiele zu nennen, von ,Liberalen Sozialisten' am einen Ende bis zu ,liberalen Katholiken' am anderen" (ebd., S. 5). Für regelmäßige Treffen wünschte Hayek ein angenehmes Quartier, eine Immobilie auf neutralem Grund, am liebsten in der Schweiz oder in Tirol, zu finden. Diese Hoffnung mag die doch üppige Summe von 500.000 US-Dollar erklären, die Hayek für die Finanzierung der projektierten Akademie als notwendig erachtete. Abgesehen von solch hochfliegenden Plänen erschien der Tenor von Hayeks Denkschrift vom August 1945 eher pessimistisch, doch mischten sich vor den düsteren zeitgeschichtlichen Hintergrund auch erste Zeichen von Hoffnung. Das skizzierte Projekt begeisterte Hunold. Mit voller Kraft engagierte er sich in den kommenden anderthalb Jahren für die Organisation und Finanzierung.21 Bei allen Vorbereitungen stand er in regem Austausch sowohl mit Hayek als auch mit Röpke, im Hintergrund wirkte beratend William Rappard, eine der bekanntesten liberalen Persönlichkeiten der Schweiz. 22 Eine Darstellung Hunolds als reinen Geldbeschaffers ohne Anteil an der inhaltlichen Konzeption würde diesem aber nicht gerecht. Bereits 1943 hatte Hunold an Plänen für eine Schweizer „Studiengemeinschaft" mitgewirkt, die Ähnlichkeiten mit Hayeks Überlegungen aufwiesen. Ihr Ziel war die Wiederbelebung eines entkräfteten Liberalismus, wie das

Hartwell (1995, S. 26) schreibt über die erste Tagung der Mont Pèlerin Society: "Die Konferenz war die Idee Friedrich Hayeks, der sie organisierte." Ersteres stimmt, letztere Behauptung trifft nicht zu (vgl. Lenel, 1996, S. 399). Von London aus war es Hayek unmöglich, die Vorbereitungen für die Tagung vor Ort zu treffen. Dies geschah in enger Abstimmung mit Hunold, Röpke und Rappard, wie der Briefwechsel zwischen Hayek und Hunold belegt. Während der internen Auseinandersetzungen in den Jahren ab den späten fünfziger Jahren war Hunold bestrebt, seine Verdienste um die Gesellschaft, besonders seine Rolle als Mitgründer, zu betonen. Röpke (1962, S. 10) nennt „Rappard, Hayek, Brandt, Hunold und mich" als Gründer. Eine aktive Beteiligung Brandts vor 1947 ist nicht belegt. Weiter entspricht die Reihenfolge der Namensnennungen nicht deren tatsächlicher Bedeutung.

21

22 Der 1883 geborene, sehr vermögende Rappard wuchs in New York auf und bewahrte sich zeidebens eine wahrlich kosmopolitische Einstellung. Nach Studien in Genf, Berlin, München, Harvard, Paris und Wien übernahm er 1913 einen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte in Genf. Nach dem Ende des Weltkrieges war Rappard als Schweizer Delegierter an der Gründung des Völkerbundes beteiligt, wobei er die Position der neutralen Staaten zu stärken bemüht war und die Entscheidung für Genf als Sitz des Völkerbundes mit herbeiführen konnte. Zugleich engagierte er sich ehrenamtlich in der Leitung des Internationalen Roten Kreuzes, dessen Präsidentschaft er ab 1928 übernahm. Auch der Genfer Universität blieb er verbunden, wurde sogar zu ihrem Rektor gewählt und förderte die Gründung des Institut universitaire des hautes études internationales 1927, dessen erster Direktor er wurde. Zu Rappards bewegter Biographie vgl. Monnier (1995), zu seiner Bedeutung für die frühe neoliberale Bewegung vgl. Busoni (1990).

Der lange W e g zum Mont Pèlerin • 131 Memorandum „Zur Frage der Gründung einer sozialwissenschaftlichen Studiengemeinschaft" vom 8. Dezember 1943, unterzeichnet von Hunold, dem Journalisten Carlo Mötteli und dem Ökonomen Karl Brunner, deutlich macht (in: HIA, MPS-Slg. 5 ) . 2 3 Hintergrund der Überlegungen dieser Gruppe, die von Röpke beraten wurde, war die Einsicht, daß zwar in der Schweiz „große Mittel ... alljährlich für den Kampf gegen den Kollektivismus in seinen verschiedenen Ausprägungen aufgewendet" würden, doch gleichzeitig Unsicherheit herrsche, die „mit der ganz offensichtlichen Hinfälligkeit des historischen Liberalismus (immer im Sinne des laissez faire, laissez aller)" zu erklären sei (ebd., S. 1). Hunolds Haltung gegenüber dem „historischen Liberalismus" war ambivalent. Er bemerkte dessen nachlassende Attraktivität, allerdings blieb er unentschlossen, ob diese einer Schwäche des Liberalismus selbst oder der Stärke und Propaganda seiner ideologischen Gegner zuzuschreiben sei. 1943 hielt er einen Vortrag zur „Renaissance des Liberalismus" und wollte bei dieser Gelegenheit auch „eine immer wiederkehrende Geschichtsfälschung widerlegen, die den Manchester-Liberalismus als eine vollkommen unsoziale Angelegenheit hinstellt, während doch vor Aufhebung der Kornzölle in England im Jahre 1846 die Arbeiter in vielen Teilen Englands, namentlich in Lancashire buchstäblich Hungers gestorben sind." Die liberale Ära habe „auf dem Gebiete der Sozialpolitik einen Riesenfortschritt" gebracht (Hunold an Röpke, 29.10.1943, in: IWP, NL Röpke). In der Denkschrift von Hunold, Mötteli und Brunner hieß es nun, der „ewige Kern und Grundgedanke des Liberalismus" habe sich im Gestrüpp historischer Formen verloren („Memorandum", S. 2, in: HIA, MPSSlg. 5). Zwingende Voraussetzung für einen wirkungsvollen Kampf gegen kollektivistische Ideologien sei aber, das Fundament des Liberalismus neu zu schaffen. Zu diesem Zweck planten sie, einen „kleinen Kern von völlig gleichgesinnten, in keiner Richtung gebundenen Leuten (höchstens 5 bis 6)" zu bilden. Diese von Interessenlobbies unabhängige Gruppe sollte Arbeitspläne erstellen, Autoren für Monographien auswählen, schließlich Konferenzen organisieren und zu einer gedanklichen Klärung und Wiederbelebung des liberalen Lagers beitragen. „Denn es handelt sich darum, gegen ausdrückliche Widerstände in der S c h w e i f eine , S c h u l e ' h e r a n z u z i e h e n , die sich auf Röpke, Eucken, Einaudi, Bresciani-Turroni, um nur diese Gelehrten zu nennen, bezieht und damit dem liberalen Gedankengut, das aus den letzten Quellen der abendländischen Kultur gespeist wird, wieder einen gesunden Nährboden in der jungen Generation zu schaffen" (ebd., S. 4, Hervorh. im Orig.). Wie spezifisch auf die Verhältnisse der Eidgenossenschaft die von Hunold, Mötteli und Brunner geplante Studiengruppe zugeschnitten sein sollte, zeigte die Themenpalette: Auf der Liste der zehn „Problemkomplexe" tauchte nach „Agrarverfassung, Agrarordnung und Agrarpolitik" eine „Wettbewerbspolitische Untersuchung der schweizerischen Uhrenindustrie" auf, erst danach kamen Finanzpolitik und Wettbewerbsordnung, Außenhandelspolitik und andere Fragen bis hin zu „Möglichkeiten und Grenzen einer schweizerischen Konjunkturpolitik" (vgl. ebd.). Die von Hunold in steter Abstimmung mit Röpke geplante Studiengruppe konnte es mit Hayeks viel ehrgeizigerer strategischer Konzeption nicht aufnehmen. Sie zeigt jedoch Hunolds

Die Idee zu dieser Studiengemeinschaft stammte von einem Dr. Stahel. Das Exposé entwarf vermutlich Mötteli (vgl. Mötteli an Röpke, 12.10.1943, in: IWP, NL Röpke).

23

132 • Wandlungen des Neoliberalismus

eigenständige Initiative und seinen Willen zur Gestaltung. Sein auch inhaltlicher Beitrag zur G r ü n d u n g der M o n t Pèlerin Society darf also nicht unterschätzt werden.

5. Letzte Vorbereitungen und Kontroversen Ende 1 9 4 6 waren die Pläne soweit ausgereift, daß Hayek zur Tat schreiten konnte. In den letzten Dezembertagen verschickte er ein dreiseitiges Einladungsschreiben an knapp sechzig befreundete Wissenschafder und Publizisten, fast zwei Drittel d a v o n aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten (Rundschreiben Hayeks, 2 8 . 1 2 . 1 9 4 6 , in: HIA, N L Hayek 7510). 2 4 Seit dem Pariser Colloque Walter Lippmann waren mitderweile mehr als acht Jahre vergangen. A u s dem damaligen Kreis kamen immerhin noch sechs Personen erneut auf die Einladungsliste, darunter Mises, Röpke und Rüstow. A u c h Lippmann selbst bat er, zum M o n t Pèlerin zu k o m m e n , wenngleich Röpke und Hunold v o m berühmten amerikanischen Publizisten eher abrieten und auch Hayek selbst Zweifel hatte. 25 Meinungsverschiedenheiten hatten jedoch zurückzustehen, w e n n es ihm ernst war, den Zusammenhalt zwischen den versprengten Vertretern des Neoliberalismus zu festigen. „In Gesprächen, die ich während der letzten zwei J a h r e mit Freunden in einer Reihe v o n Ländern geführt habe", begann Hayek sein Einladungsschreiben, „habe ich einen starken

Eine von Hayek getippte Liste führte auf: „Professor D. H. Brogan, Peterhouse, Cambridge; Sir John Clapham, Storey's End, Cambridge; Professor Ronald Crane, University of Chicago; Lionel Curtis, All Soul's College Oxford; Cristopher Dawson; Luigi Einaudi, Rome; A. G. B. Fisher, Chatham House, St. James' Square, London S.W.l; F. A. Hayek, London; E. Heckscher, Stockholm; T. J. B. Hoff, Roald Amundsen Gate 1, Oslo; Professor W. H. Hütt, University of Capetown; Professor F. H. Knight, University of Chicago; Walter Lippmann, New York Herald Tribune; F. A. Lutz, Princeton; F. Machlup, Buffalo-Washington; S. de Madariaga, London (?); L. Mises, New York; Professor Michel [sic] Polanyi, University of Manchester; Wm. Rappard, Geneva; W. Roepke, Geneva; A. Rüstow, Istanbul; Professor Henry C. Simons, University of Chicago; H. M. Wriston, President, Brown University, Providence, R. I.; G. M. Verrijn Stuart, Amsterdam (?); Jacob Viner, University of Chicago; — H. F. Armstrong U.S.A.; Raymond Aron, Paris; James W. Angeli; Thurman Arnold, Washington; T. S. Ashton, L.S.E. London; Reginald Arragon; Leland Bach, Washington; John R. Baker, Oxford; A. J. Baster, London; F. C. Benham, London; Cari Brandt; C. Bresciani Turroni [?]uell; Harry G. Brown; Colin Clark, Australia; J. M. Clark, Columbia; W. H. Chamberlain; John Chamberlain, Washington; Garfield Cox; John Davenport; De Leener, Belgium; Joseph Davies; Standley Dennison, Caius College, Cambridge; Aron Director, Washington; Max Eastman, New York; Corwin Edwards; F. Engel-Janossi, Washington; Walter Eucken, Freiburg; Erich Eyck, Oxford; Milton Friedman, New York; F. A. Fetter, Princeton; F. W. Fetter; Gottschalk, Chicago; F. D. Graham, Princeton; Clare Griffin; William Harrell, Chicago; G. Halm; A. G. Hart, Chicago; Carlton Hayes; Graham Hutton; Eliot Jones, Stanford; Wm. Katz; Hans Kohn; John Jewkes, Manchester; Gregg Lewis; E. J. Lindgreen, Cambridge; E. S. Mason, Harvard; Lloyd Mintz [sie], Chicago; [handschr. erg.:] O'Brien; Paton; Frank Paish, London; Leslie Paul, London; Arnold Plant, London; Karl Popper, London; S. T. Possony, Washington; F. M. Powicke, Oxford; Redier, Paris (?); U. Ricci; A. Salomon, New York; F. Schnabel;[handschr. erg.:] J. Michel Roberts; Carl S. Shoup; I. L. Sharfman; W. J. H. Sprott, Nottingham; Alfred Schütz, N. Y.; Theodore Schultz, Chicago; Herbert Stein; [handschr. erg.:] Stigler; Walter Sulzbach; A. G. Tansley, Cambridge; Trevelyan; A. P. Usher, Harvard; F. A. Voigt, London; E. Voegelin, Lousiana State Univ.; Roland Wilson; Rebecca West, Woodward, Oxford; Leo Wolman; Theodore Yntema, Chicago; Douglas Woodruff, London; Marceil van Zeeland (?); F. A. Hermans, Notre Dame University" (in: IWP, NL Hunold). Zehn Jahre später erklärte Hayek, „es war hauptsächlich mit dem Rat von Röpke und Hunold, daß ich die Liste der Teilnehmer des ersten Treffens erstellt habe" („Opening Adress", 2.9.1957, in: HIA, MPS-Slg. 11); tatsächlich trifft dies wohl eher auf die mitteleuropäischen, denn auf die vielen amerikanischen Teilnehmer zu. 24

Röpke beklagte sich gegenüber Hunold, Lippmann antworte seit Jahren nicht auf Briefe. „Übelste Primadonnenmanieren" nannte er dieses Verhalten; er „würde überhaupt von ihm abraten" (Röpke an Hunold, 27.2.1947, in: HIA, MPS Slg. 5). Grundsätzlich hatte Röpke starke Bedenken gegen Lippmanns außenpolitische Kommentare, denen er eine zu kompromißbereite Haltung gegenüber den Sowjets vorwarf. Zu Lippmanns deutschlandpolitischer Position in den Jahren nach 1945 und seiner zunehmenden Ablehnung der deutschen Westbindung vgl. Schlaack (2004, S. 280-290). Auch Hayek ging etwas auf Distanz zu Lippmann, dessen Annäherung an keynesianische Positionen ihm nicht verborgen blieb (vgl. Hayek an Röpke, 21.8.1945, in: IWP, NL Röpke). 25

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 133 Wunsch nach engeren Kontakten gefunden zwischen all jenen, die ernstlich besorgt sind um die Möglichkeiten, eine freie Gesellschaft zu erhalten" (ebd.). Das Verhältnis von staatlichem Zwang und individueller Freiheit müsse neu überdacht werden, ebenso die gängige Interpretation der jüngsten Geschichte, „falls die vorherrschenden Ansichten und Fehlurteile uns nicht noch weiter in eine totalitäre Richtung drängen sollen". In jedem einzelnen Land seien die Besorgten zwar nur wenige, zusammen stellten sie jedoch „eine beachtliche Kraft" dar. Durch engere Kooperation könne die Arbeit der gleichgesinnten Ökonomen, Historiker, Philosophen und Publizisten erheblich an Wirksamkeit gewinnen. Deutlich vorsichtiger als in früheren Entwürfen trug Hayek seinen Wunschnamen „ActonTocqueville Society" vor. Die Philosophie der Freiheit sei schwer in wenige Sätze zu fassen, daher erscheine eine schlichte Namensgebung nach diesen zwei Gelehrten wohl akzeptabel. Der endgültige Name bliebe aber weiteren Überlegungen vorbehalten. Als Termin für ein erstes Treffen nannte Hayek zehn Tage rund um Ostern 1947. Finanzielle Hindernisse für die Tagung seien aus dem Weg geräumt. Hunold erwähnte er nicht, sondern nannte Rappard und Röpke als Unterstützer vor Ort. Die Tagesordnung, die Hayek für die erste Zusammenkunft beilegte, ließ keineswegs eine vornehmlich mit ökonomischen Fragen befaßte Konferenz erwarten. Vielmehr dominierten politische und historische Themen. Nach einer Sitzung mit dem Titel ,„Freies' Unternehmertum oder Wettbewerbsordnung" waren dies Diskussionen zu den Themen: „Die Probleme und Chancen einer europäischen Föderation", „Die Zukunft Deutschlands", „Liberalismus und Christentum", sowie Hayeks Ausgangsthema „Moderne Geschichtsschreibung und politische Erziehung" (vgl. ebd. S. 2-3). Das Echo auf Hayeks Einladung war vielfaltig und überwiegend ermutigend. Einige Reaktionen waren aber nicht uneingeschränkt positiv. Mises etwa witterte die Gefahr eines Aufweichens liberaler Prinzipien. Mit einer beigelegten Denkschrift „Observations on Professor Hayek's Plan" versuchte Mises, eine Umwidmung der Konferenz zugunsten der reinen Marktphilosophie zu erreichen. 26 Der Gedanke, nach Europa zu fahren, sei ihm „geradezu gräßlich", antwortete er Hayek. Er habe schon „genug Niedergang gesehen". Mißtrauisch nahm er Hayeks Vorhaben zur Kenntnis, erneut die Grundlagen des Liberalismus zu diskutieren. Besonders kritisierte Mises die geplante Anwesenheit von Männern, die er als Befürworter des Interventionismus verdächtigte. „Meine Bedenken betreffen in erster Linie die Teilnahme von Röpke, der ein ausgesprochener Interventionist ist." Den ebenfalls von Hayek eingeladenen Brandt, Gideonse und Eastman kreidete er an, gelegentlich in der „rein sozialistischen, wenn auch entschieden antisowjetischen" Zeitschrift New Leader zu publizieren. Offenbar mit Grausen erinnerte sich Mises gewisser Tendenzen beim Pariser Treffen von 1938 und zeigte wenig Neigung, erneut so unsinnige Fragen zu diskutieren, wie die, ob eine Regierung oder eine Gewerkschaft den Lebensstandard der Menschen positiv beeinflussen könne. Dazu müsse er „keine Pilgerschaft zum Mont Pèlerin unternehmen" (Mises an Hayek, 31.12.1946, in: HIA, NL-Hayek 38-24). Die Rechthaberei, mit der Mises einsam die Fahne des dem Laissez-Faire verpflichteten Liberalismus hochhielt, mochte manchen Neoliberalen irritieren und verärgern. Anderen nö-

Schon Hayeks Themenvorschlag mit der subtilen Unterscheidung ,„Freies' Unternehmertum oder Wettbewerbsordnung" mußte ihm provokant erscheinen. Interessant ist der Umstand, daß Hayeks Themenvorschlag im endgültigen Programm entschärft wurde. Statt .„Freie Wirtschaft' oder Wettbewerbsordnung" hieß es nun „und" (vgl. MPC, 1947a, S. 1. Hervorheb. im Orig.). 26

134 • Wandlungen des Neoliberalismus tigte seine Unbeirrbarkeit und seine brillante Schärfe auch Respekt ab. 27 Seine Appelle richteten sich gegen die Politik des „mittleren Weges", den in Großbritannien nun auch die Konservativen vertraten. Dieser „mittlere Weg" sei eine gefährliche Rutschbahn, keineswegs die ersehnte Alternative zwischen Kapitalismus und Sozialismus, so Mises. E r gleite über zahlreiche mißlungene Interventionen, immer dichtere Regulierung und immer höhere Umverteilung zwangsläufig in die sozialistische Planwirtschaft ab (vgl. Mises, 1950/1980). In vielen Punkten ähnelte diese Argumentationsfigur Hayeks „Road to Serfdom". Allerdings beurteilte Hayek die Motive der Sozialisten, Interventionisten und Umverteiler nachsichtiger als Mises, der hinter humanitärem Gerede eher Neidgefühle oder Machtstreben vermutete: „Sie nennen sich Demokraten, doch sehnen sie sich nach einer Diktatur. Sie nennen sich Revolutionäre, doch sie wollen die Regierung allmächtig machen. Sie versprechen die Segnungen des Garten Eden, aber sie planen, die Welt in ein gigantisches Postamt zu verwandeln", hatte er in „Bureaucracy" geschrieben (Mises, 1944, S. 125). E r wollte nur die Alternative „Laissezfaire oder Diktatur" sehen (vgl. Mises, 1949/1980). 2 8 Während Mises als Hüter der reinen liberalen Lehre auftrat und Kompromisse wie auch Kontakte mit „Interventionisten" ablehnte, strebte Karl Popper genau in die andere Richtung. E r war zu weitgehenden Konzessionen an sozialistische Rhetorik und Substanz bereit, um Teile der politischen Linken in eine Allianz einzubinden. Mit Hayek hatte er während der Kriegsjahre einen intensiven geistigen Austausch gepflegt und fühlte sich ihm eng verbunden. Hayek und der Kunsthistoriker Ernst Gombrich waren behilflich gewesen, für Poppers monumentale Studie „The Open Society and Its Enemies", die dessen Weltruhm begründen sollte, einen Verleger zu gewinnen. „Mir war, als hätten die beiden mir das Leben gerettet", erinnerte sich Popper (1974/1979, S. 170). Der in Neuseeland lehrende, dort geistig isolierte Philosoph verstand das Buch als seinen persönlichen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen der Alliierten, dazu kam es jedoch im November 1945 zu spät auf den Markt. Die philosophischen Wurzeln der Feinde der „offenen Gesellschaft" machte Popper im „Historizismus" aus, dem Glauben an soziologische oder ökonomische Gesetze der Geschichte, denen der menschliche Wille ohnmächtig ausgeliefert sei. Am Beispiel der Philosophen Piaton, Hegel und Marx versuchte er aufzuzeigen, zu welch gefährlichen politischen Schlüssen solch deterministisches Denken führe. Dem kritischen Leser mußte auffallen, wie vergleichsweise milde und wohlwollend Popper über Marx urteilte, während seine Kritik des platonischen Kastenstaats und des Hegeischen Bürokratenstaats vernichtend war. Zustimmend schrieb Popper über Marx: „Er griff die Lobredner des Liberalismus wegen ihrer

Nach Ansicht von Henry Simons war Mises einerseits „der größte lebende Wirtschaftslehrer" und der „härteste alte Liberale oder Manchesterer seiner Zeit"; andererseits aber sei es auch „vielleicht der schlimmste Feind seiner eigenen libertären Sache" (zit. n. Nash, 1976, S. 351). 2 8 Mises' pauschale Anklage etwa gegen Röpke als „Interventionisten" schoß weit über das Ziel hinaus. Nicht nur stand Röpkes sowohl wirtschaftliche wie auch ethische Präferenz für die Marktwirtschaft außer Zweifel. Sein „dritter Weg" war keineswegs idenüsch mit dem „mitderen Weg". Staatliche Interventionen, die den Preismechanismus außer Kraft setzten, lehnte er strikt ab, da sie den Mechanismus der zwanglosen Selbstkoordination freier Menschen gefährdeten. Allerdings hielt Röpke die marktwirtschaftliche Ordnung nicht für eine dem „ordre naturel" entspringende Fügung, die gänzlich ihrer inneren Entwicklung überlassen werden dürfte. Im Gegenteil, die Marktwirtschaft war für ihn ein empfindliches und kunstvolles Gebilde, das auf bestimmten sozialen Voraussetzungen beruhe und einer staatlichen Rahmensetzung bedürfe. Die „unverbesserlichen Liberalen der alten Schule", schrieb Röpke und mochte dabei an Mises denken, seien gegenüber den Gefahren einer entwurzelten und proletarisierten Gesellschaft blind (Röpke, 1944, S. 86). 27

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 135 Selbstzufriedenheit an, weil sie die Freiheit mit der formalen Freiheit gleichsetzten, die damals in einem sozialen System bestand, das die Freiheit zerstörte" (Popper, 1945/2003b, S. 233). Ohne kritische Distanz machte er sich damit die sozialistische Geringschätzung der „formalen", auf allgemeinen Rechtsnormen basierenden Freiheit zu eigen, da sie materielle Ungleichheit produziere. Weiter behauptete Popper, Marx sei „sicher kein Kollektivist" gewesen, und erklärte, „daß Marx' Glaube im Grunde ein Glaube an die offene Gesellschaft war" (ebd.). Abschließend würdigte er Marx' „Gefühl für soziale Verantwortung und seine Liebe für die Freiheit" (ebd., S. 246). 29 Solche beifälligen Worte zum Autor des „Kommunistischen Manifests" wären aus Hayeks Munde nicht vorstellbar gewesen. Die Grundthese von „The Road to Serfdom" besagte, dem sozialistisch-interventionistischen Wohlfahrtsstaat wohne inhärent eine totalitäre Tendenz inne, er sei daher mit der Freiheit des Individuums nicht zu vereinbaren. Popper teilte diese Auffassung, zumindest 1945, keineswegs. Seine eigene Position beschrieb er als „Protektionismus". Darunter verstand er staatlichen Schutz für die Schwächeren sowie die „Forderung nach Humanität und Gleichheit" (Popper, 1945/2003a, S. 138).30 Es ist kaum verwunderlich, wenn „The Open Society and Its Enemies" verschiedentlich als philosophische Grundlage eines „demokratischen Sozialismus" gedeutet wurde (vgl. Shearmur, 1996, S. 110). Zwar ist sein philosophisches Lebenswerk dem klassischen Liberalismus zuzurechnen, wie Shearmur überzeugend dargelegt hat. Die Vision eines „nichtkollektivistischen Sozialismus" übte aber bis in die Nachkriegszeit eine gewisse Anziehung auf Popper aus. Er selbst bekannte rückblickend über seine Schwärmerei für die egalitär-humanitären Ziele des Sozialismus: „Ich brauchte einige Zeit, bevor ich erkannte ... daß der Versuch, Gleichheit zu schaffen, die Freiheit gefährdet" (Popper, 1974/1979, S. 45). Zur Zeit der Abfassung seines Hauptwerks Anfang der vierziger Jahre stand Popper „der Sozialdemokratie am nächsten" (Shearmur, 1996, S. 110). Erst spätere, überarbeitete Auflagen von „The Open Society and Its Enemies" betonten stärker die Notwendigkeit des „,gesetzlichen Rahmen [s]' von schützenden Institutionen" gegenüber einer Ermächtigung staatlicher Stellen zu diskretionären „,direkten' Interventionen" (Popper 1945/2003b, S. 154). Mitte der vierziger Jahre hatte Popper seine früheren sozialistischen Ansichten noch nicht vollständig überwunden. An Marx bemängelte er zwar dessen deterministische Prognosen, namentlich die empirisch unhaltbare Verelendungstheorie. Doch auch Popper erkannte Ungerechtigkeit und soziale Mißstände, die es durch staatliche Eingriffe zu beseitigen gelte. Dazu unterschied er zwei Methoden des planenden Interventionismus: Zum einen „die Methode des Planens im großen Stil, die utopische So^altechnik, die utopische Technik des Umbaus der Gesellschaftsordnung' und zum anderen „von Fall ^u Fall angewendete So^altechnik, die So^ialtechnik der Ein^elprobleme, die Technik des schrittweisen Umbaus der Gesellschaftsordnung' (ebd., S. 187, kursiv

Erst in der Neuauflage der „Open Society" von 1965 erklärte Popper in einer Nachbemerkung mit Bezug auf Leopold Schwarzschilds Buch „Der rote Preuße", Marx sei „weit weniger menschlich und weniger freiheitsliebend gewesen ..., als es in meinem Buch erscheint" (Popper, 1945/2003b, S. 364). Radnitzky (1995, S. 50) glaubt, Popper habe mit den sozialismusfreundlichen Passagen bewußt Zugeständnisse an den linken Zeitgeist gemacht, um die Chancen einer freundlicheren Rezeption seines Werks zu erhöhen' 30 Offensichtlich dachte er bei „Gleichheit" nicht im herkömmlichen liberalen Sinn an Isonomie, die Gleichheit vor dem Gesetz. Durch die Vermengung mit dem Gebot einer nicht näher spezifizierten Humanität öffnete und entgrenzte Popper den Gleichheitsbegriff und legte eine Interpretation im Sinne von Egalisierung nahe. 29

136 • Wandlungen des Neoliberalismus im Orig.). Popper plädierte für letztere „Sozialtechnik der kleinen Schritte" („piece-meal social engineering") zur rationalen Umgestaltung der sozialen Verhältnisse, wobei seine egalitären Vorlieben das Ziel vorgaben. 31 Undiskutiert blieb, worin der qualitative Unterschied zwischen „utopischer" und „schrittweiser Sozialtechnik" lag, ob nicht viele kleine Schritte ebensoweit tragen können wie ein großer, „utopischer" Sprung nach vorn. Beim Terminus „piece-meal social engineering" war Hayek unwohl, woraus er Popper gegenüber kein Hehl gemacht hatte. Seiner Meinung nach verdichtete sich darin eine problematische szientistische und ingenieurhafte Geisteshaltung, deren Folge gewöhnlich Selbstüberschätzung des Planers sei (vgl. Hayek an Popper, 29.1.1944, in: HIA, NL Popper SOSIS). Eben diese Tendenz offenbarte auch Poppers kühne Behauptung, „Pläne nach einem schrittweisen Umbau der Gesellschaftsordnung" seien „relativ leicht zu beurteilen", da sie lediglich „Pläne für einzelne Institutionen" beträfen, etwa Kranken- oder Arbeitslosenversicherung, Justiz- und Bildungswesen sowie „Budgetvorschläge zur Bekämpfung von Wirtschaftskrisen". „Wenn sie fehlschlagen, dann ist der Schaden nicht allzu groß und eine Wiederherstellung des früheren Zustandes nicht allzu schwierig", versicherte er (Popper, 1945/2003a, S. 189). Die Unterschiede zu Hayeks Denken sind evident.32 Während ersterer den gezielten Eingriff in die Sozialordnung als „konstruktivistisch" ablehnte und statt dessen immer deutlicher die Weisheit evolutionärer Entwicklung betonte, forderte Popper staatliche Interventionen, wenn auch behutsame. Hayeks zentrale These, die Unersetzlichkeit des Marktes und des Preismechanismus zur Koordinierung verstreuten Wissens, das nie zentral gesammelt werden könne, blieb Popper damals noch fremd. Gleichwohl wurde sein Buch zur „Open Society" in Kreisen der Neoliberalen günstig aufgenommen. Die antiutopistische Stoßrichtung wurde als Absage an sozialistische Weltperfektionierungspläne begrüßt, und auch seine gradualistische Technik politischer Reformen auf der Basis von Versuch und Irrtum fand Zustimmung (vgl. etwa Watrin, 1962). Auf Hayeks Rundbrief zur Gründung einer „Acton-Tocqueville Society" antwortete Popper Anfang 1947, er fände es „für so eine Akademie vorteilhaft und sogar notwendig, gleich vom Beginn an die Teilnahme einiger Leute sicherzustellen, die als Sozialisten oder dem Sozialismus Nahestehende bekannt sind". Seine Position, betonte Popper, sei stets gewesen, eine Versöhnung von Liberalen und Sozialisten zu ermöglichen. Zum Gründungstreffen auf dem Mont Pèlerin empfahl er Hayek daher, Bertrand Russell und Barbara Wootton einzuladen, später seien auch Orwell, der Marktsozialist Dickinson, Lerner, Durbin und Reinhold Niebuhr vorstellbar. Die genannten Linken könnten den wertvollen Beitrag leisten zu verhin-

Mit dem „social engineering" übernahm Popper — offenbar unwissentlich — einen Begriff aus dem Wortarsenal der Fabianer. Die „schrittweise vorgehende Sozialtechnik", behauptete Popper in einer Fußnote, entspräche einer von Hayek empfohlenen „Planung für die Freiheit". Hayeks „The Road to Serfdom" hatte Popper vor Abschluß des Manuskripts nach eigenen Angaben nur teilweise gelesen, jedenfalls dessen Absicht nicht voll erfaßt. Später merkte er: „Im Lichte meiner gegenwärtigen Kenntnis ... scheint mir meine Zusammenfassung zwar nicht irrig, aber zweifellos etwas schwach zu sein" (Popper, 1945/2003a, S. 393). 32 Die Behauptung eines prinzipiellen Gegensatzes zwischen Popper und Hayek weist Nef (1992) zurück, jedoch sind Differenzen unübersehbar. Die Grenzen zwischen Systemveränderung und Systemüberwindung durch „piecemeal social engineering" erscheinen fließend. Zur Entwicklung einer totalitär-sozialdemokratischen Gesellschaft in Schweden, von Popper als Musterland des „demokratischen Interventionismus" hervorgehoben, vgl. Radnitzky (1995, S. 71-74). Erst im Laufe der Jahre färbten Hayeks ökonomische Ansichten immer stärker auf Popper ab, der schließlich ein überzeugter Marktwirtschaftler wurde. 31

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 137 dem, daß die geplante Gesellschaft oder Akademie bald „als anti-sozialistische Unternehmung verschrien" werde (Popper an Hayek, 11.1.1947, in: HIA, NL Hayek 78-36). Solchen Vorschlägen konnte Hayek nichts mehr abgewinnen. Zwar hatte auch er anfangs die Einbeziehung gemäßigter Sozialisten erwogen, doch mittlerweile seine Meinung geändert. Für das Treffen am Mont Pèlerin wünschte er keinen möglichst großen, offenen Kreis, der auch Diskussionen über Lagergrenzen hinweg ermöglicht hätte. Ihm war wichtig, zunächst die eigene Position im Gespräch der verbliebenen Liberalen zu klären und langfristige Konzepte zu entwickeln. Als Arbeitsplattform schien Hayek daher eine kleine, geschlossene Akademie dezidiert liberaler Denker vonnöten, eine Insel der Selbstbesinnung inmitten der von feindlichen politischen Strömungen beherrschten Welt.

6. Konkrete Bedrohung und Hayeks langfristige Strategie Mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland war zwar ein Hauptfeind besiegt, doch die Bedrohung der Freiheit mitnichten gebannt. Vielmehr schien der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben, als ganz Ost- und Südosteuropa unter die Herrschaft Stalins geriet. Angefangen mit der Moskauer Konferenz vom Oktober 1944, wo Churchill dem sowjetischen Diktator Bulgarien und Rumänien überließ, über die Besetzung des Baltikums und die in Jalta von den anglo-amerikanischen Alliierten sanktionierte Einverleibung des östlichen Polens gelang es Stalin, die sowjetische Einflußsphäre bis nach Zentraleuropa auszudehnen. Geschickt nutzten die von Moskau unterstützten kommunistischen Bewegungen in der Tschechoslowakei, in Polen, Ungarn und Jugoslawien ihre Stellung in Koalitionsregierungen, um Schlüsselstellungen der Administration zu unterwandern und die verbliebenen bürgerlichen und demokratischen Kräfte in den Jahren 1946 bis 1948 schrittweise an den Rand zu drängen. Nicht nur im Osten, auch in Westeuropa hatte also die unmittelbare Nachkriegszeit günstige Voraussetzungen für einen scharfen Linksruck der Politik geschaffen. So schrieb Hayek im Oktober 1946, zwar bestünden Zeichen der Hoffnung auf einen längerfristigen Wandel der öffentlichen Meinung, doch kurzfristig müsse „die Gefahr einer gewaltsamen kommunistischen Erhebung in Italien, Frankreich und anderen Teilen Europas" sehr ernst genommen werden. Falls die Amerikaner sich jetzt zurückzögen, fürchtete Hayek, daß Europa „innerhalb von zwölf Monaten" komplett unter kommunistische Herrschaft gerate (Hayek an Read, 16.10.1946, in: HLA, NL Hayek 20-1). Vom Genfer See aus beobachtete Röpke die Erfolge der Sowjets und ihrer Satelliten. Besonders die noch unklare „deutsche Frage", die Gefahr einer Vereinigung zu sowjetischen Konditionen, erfüllte ihn mit größter Sorge. „Muß der ganze grausige Film noch einmal mit anderer Starbesetzung ablaufen?", schrieb er zum Jahresanfang 1946 an Nationalrat Willy Bretscher, den Chefredakteur der NZZ. Die Nachgiebigkeit der Amerikaner und Briten gegenüber der Sowjetunion ließ ihn schier verzweifeln: „Ich lege mir jetzt wie ein Irrenarzt ein Krankenjournal an, in dem ich alle Symptome dieser irren Welt verzeichne. ... Sie sehen, daß ich das neue Jahr mit sehr pessimistischen Gedanken beginne, mit pessimistischeren als je seit 1933" -(Röpke an Bretscher, 3.1.1946, in: IWP, NL Röpke). Der Genfer Gelehrte, der ohnehin zum Schwarzsehen neigte, sah seine Hoffnungen seit Kriegsende enttäuscht. Als „besonders gefährlich" schätzte er „die sozialistischen Tendenzen der britischen Zone" ein (Röpke an Hayek, 22.10.1946, in: ebd.).

138 • Wandlungen des Neoliberalismus Die Hoffnung, publizistisch Einfluß zu nehmen und die Entwicklung in eine liberale Richtung lenken zu können, schien sich nicht zu erfüllen. Hayeks Buch „The Road to Serfdom", das Röpkes Frau 1945 ins Deutsche übersetzt hatte, konnte nicht, wie erwartet, als „das dringend benötigte Gegengift gegen alle Arten des Kollektivismus" wirken (zit. n. Hartwell, 1995, S. 22). Mit Bestürzung nahm Röpke zur Kenntnis, daß auch die westlichen Alliierten die Verbreitung des Buches in Deutschland behinderten, denn „antisowjetische Literatur" könne die Russen provozieren, mußte er Hayek mitteilen (vgl. Röpke an Hayek, 11.3.1947, in: IWP, NL Röpke; Ders, 1976, S. 95-96). In vorauseilendem Gehorsam übernahm so die Zensur der westlichen Besatzungsmächte das Geschäft der ostzonalen Kommunisten. Allerdings verschlechterte sich das Verhältnis der westlichen Alliierten zu Moskau stetig, wenn auch der Übergang von der Partnerschaft zur Konfrontation noch nicht voll absehbar war. Diese politische Großwetterlage ist zu bedenken, um Hayeks langfristige Strategie richtig einzuschätzen. Sein zweiter Rundbrief vom Februar 1947 an alle Teilnehmer der Konferenz am Mont Pèlerin zeugte von großer Weitsicht. Hayek machte deutlich, daß die zu gründende Vereinigung trotz der unmittelbaren Bedrohung der Freiheit nicht in die Tagespolitik eingreifen sollte: „Ich persönlich beabsichtige nicht, daß irgendeine Art öffentliches Manifest herausgegeben wird", schrieb er. Zeitgleich mit dem Treffen am Mont Pèlerin werde sich vom 9. bis 14. April 1947 in Oxford die Liberale Weltunion konstituieren. 33 Hayek stellte aber klar: „Wie ich es sehe, sind die beiden Unternehmungen, wenngleich in gewisser Hinsicht parallelgerichtet, doch ganz und gar verschieden in ihrer Art. Unser Zweck ist nicht, eine vorgegebene Doktrin zu verbreiten, sondern in fortdauerndem Bemühen eine Philosophie der Freiheit herauszuarbeiten ... Unser Ziel, mit anderen Worten, ist nicht die Lösung der praktischen Aufgabe, die Unterstützung der Massen für ein bestimmtes Programm zu gewinnen, sondern die Unterstützung der besten Köpfe zu gewinnen" (Rundbrief Hayeks, 13.2.1947, in: HIA, MPS-Slg. 5).

7. Der Mont Pèlerin: Ortsbestimmung des Neoliberalismus Der Mont Pèlerin am Ostzipfel des Genfer Sees ist mit 1084 Metern für Schweizer Verhältnisse kein besonders hoher Berg. Das Hôtel du Parc oberhalb von Vevey, welches Hunold und Rappard ausgewählt hatten, lag etwa 250 Meter unter dem Gipfel. Insgesamt 39 Gäste waren Hayeks Einladung gefolgt. Die weiteste Anreise hatten die 17 Teilnehmer aus den Vereinigten Staaten (Karl Brandt, Herbert G. Cornuelle, John Davenport, Aaron Director, Milton Friedman, Harry D. Gideonse, Frank D. Graham, F. A. Harper, Henry Hazlitt, Frank Knight, Fritz Machlup, Loreen B. Miller, Ludwig von Mises, Felix Morley, Leonard E. Read, George Stigler und V. O. Watts), acht Teilnehmer kamen aus Großbritannien (Stanley Dennison, Erich Eyck, Hayek, John Jewkes, Michael Polanyi, Karl Popper, Lionel Robbins und Cecily V. Wedgwood), je Die Liberale Weltunion, bekannter als die Liberale Internationale (LI), bemühte sich um eine Vernetzung verschiedener liberaler Parteien. Dem Präsidium gehörten besonders in den fünfziger Jahren prominente Mitglieder der MPS an, so u.a. Luigi Einaudi, Wilhelm Röpke, William Rappard, Willy Bretscher, Salvador de Madariaga. Der Gründung der LI durch den britischen Offizier und Politiker John H. MacCallum Scott im April 1947 im Wadham College in Oxford war bereits ein kleines vorbereitendes Treffen bei Oslo im August 1946 vorausgegangen, wo unter Mitwirkung von MPS-Gründungsmitglied Trygve J. B. Hoff ein „Liberal Manifesto" entworfen wurde. Eine Zusammenarbeit mit MacCallum Scott, der ihn an der LSE besuchte, lehnte Hayek ab, da er eine reine Wissenschafdervereinigung gründen wollte. Zur Geschichte der LI vgl. Smith (1997). 33

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 139 vier Teilnehmer aus Frankreich (Maurice Allais, Bertrand de Jouvenel, George Révay und François Trévoux) und der Schweiz (Hans Barth, Hunold, Rappard und Röpke) sowie je ein Teilnehmer aus Italien (Carlo Antoni), Deutschland (Walter Eucken), Belgien (Henri de Lovinfosse), Dänemark (Carl Iversen), Norwegen (Trygve B. Hoff) und Schweden (Herbert Tingsten). Eigentlich waren noch weitere deutsche Staatsbürger wie Alexander Rüstow oder der Historiker Franz Schnabel eingeladen gewesen, doch hatten sie vor der Fahrt erhebliche Hindernisse zu überwinden. Rüstow saß in Istanbul fest, da sein deutscher Reisepaß nicht mehr gültig war und kein Ersatz zu beschaffen war (vgl. Hayek an Hunold, 22.1.1947, in: HIA, MPS-Slg. 5). Eucken dagegen hatte Glück: In letzter Sekunde erhielt er nach einer Intervention Rueffs, damals Chef der Agence Interalliée des Réparations, bei der französischen Militäradministration, eine Reiseerlaubnis für die Schweiz (vgl. Eucken an Hunold, 22.3.1947, in: ebd.). Für einige der jüngeren Amerikaner, darunter Friedman und Stigler, war es ihr erster Besuch in Europa. Die Reisekosten für die Gäste aus den Vereinigten Staaten hatte der Volker Fund übernommen, eine Einrichtung zur Förderung liberal-konservativer Anliegen, die während der fünfziger Jahre ein wichtiger Geldgeber für amerikanische Neoliberale wurde. 34 Trotz der widrigen Umstände der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte Hayek eine sehr beachtliche internationale Riege von hochkarätigen Wissenschaftlern zusammengebracht. Allein vier von ihnen sollten später mit Nobelpreisen ausgezeichnet werden. 1947 waren neoliberale Ökonomen von solcher akademischer Anerkennung weit entfernt. In fast allen europäischen Ländern standen die Zeichen auf Sozialismus und Kollektivismus. Wie Nash (1976, S. 26) schreibt, waren sich die „Teilnehmer ... nur allzu bewußt, daß sie in der Minderzahl waren und ohne ersichtlichen Einfluß auf politische Entscheider in der westlichen Welt". Um so wichtiger war, was Hayek am Mont Pèlerin beabsichtigte: ein internationales Netzwerk zu knüpfen, das isolierte freiheitliche Ökonomen, Sozialwissenschafder und Publizisten durch engere Beziehungen untereinander stärkte und sie im gegenseitigen Austausch die Grundlagen ihrer Philosophie neu entdecken und ausarbeiten ließ. Rückblickend gelang dies in erstaunlichem Maße. Die am Mont Pèlerin gegründete Gesellschaft war so erfolgreich, daß spätere Berichte von Teilnehmern das erste Treffen verklärend als „Wendepunkt in ihrem Leben" bezeichneten (Davenport, 1981, S. 1). Auch für den Liberalismus sollte dies in gewisser Weise gelten: Das Treffen brachte die Bestätigung der in den dreißiger Jahren begonnenen inhaltlichen Wandlung zum Neoliberalismus.

7.1. Wettbewerbsordnung statt „Laissez-faire" In seiner Begrüßungsrede am 1. April 1947 ließ Hayek keinen Zweifel, daß eine innovative, keine restaurative Aufgabe auf die Mitglieder der Gesellschaft warte. Um die Voraussetzung für eine intellektuelle Renaissance des Liberalismus zu schaffen, sei eine Generalerneuerung

Die 1932 von William Volker, einem Möbelhändler aus Kansas City, gegründete Stiftung, wurde ab 1944 von Harold Luhnow, Volkers Neffen, geleitet. Der Reisekostenzuschuß fur die Teilnehmer am Mont Pèlerin kam wohl auf Fürsprache von Loren B. Miller zustande. Dieser war auch befreundet mit einer Reihe von wirtschaftsliberal denkenden Geschäftsleuten, darunter Jasper Crane, Pierre Goodrich und Richard Earhart, die später regelmäßig die MPS unterstützten (vgl. BlundeU, 2001, S. 34). 34

140 • Wandlungen des Neoliberalismus seiner Prinzipien notwendig: Die traditionelle liberale Theorie sei von „gewissen zufälligen Hinzufügungen zu reinigen"; zudem müsse man sich „einigen echten Problemen" stellen, „denen ein übersimplifizierter Liberalismus ausgewichen ist oder die erst erkennbar wurden, nachdem er zu einem etwas unbeweglichen und starren Glauben wurde", so Hayek (1947/1967, S. 149). Jeder sei aufgerufen, seine Überzeugungen kritisch zu prüfen. Es hätten vielleicht gerade die Teilnehmer aus solchen Ländern, die bereits am eigenen Leibe Erfahrungen mit totalitären Regimes machen mußten, mehr Sensibilität für den wahren Wert der Freiheit, meinte Hayek (vgl. ebd., S. 149-150). Daß er hier in erster Linie an die Wissenschafder der Freiburger Schule dachte, zeigte seine Betonung des Konzepts der „Wettbewerbsordnung". Sein Einführungsreferat zur Sitzung mit dem Titel ,„Free' Enterprise and Competitive Order" richtete sich zuerst in scharfer Wiese gegen die Politik der Wirtschaftsverbände: Diese vermeintlichen Gegner des Wucherns staatlicher Kontrollen hätten kein Programm und keine Weltanschauung, erklärte er, tatsächlich förderten sie das Abrutschen in den Sozialismus. Nicht zu unrecht werde gespottet „daß viele vorgebliche Verteidiger der ,freien Wirtschaft' in Wirklichkeit eher Verteidiger der Privilegien und Fürsprecher der staatlichen Eingriffe zu ihren eigenen Gunsten sind als Gegner jeglicher Privilegien", erklärte er (Hayek, 1947a/1952, S. 141). Erst wenn auch die Wirtschaft wirklich bereit sei, sich der „Disziplin des Wettbewerbs" zu unterwerfen, bestünde Hoffnung (ebd., S. 142). Aufklärung und Erziehung der öffentlichen Meinung und der Politiker täten daher not. Hayek ging es um eine langfristige Beeinflussung der Werte und Einstellungen, nicht um kurzfristige Effekte. Hier zitierte er seinen alten intellektuellen Gegenspieler Keynes mit dessen berühmtem Ausspruch: „Die Ideen der Nadonalökonomen und Philosophen wirken stärker, als allgemein angenommen wird, und zwar sowohl, wenn sie recht haben, als auch wenn sie irren. Tatsächlich wird die Welt kaum von etwas anderem regiert. Wahnsinnige an der Macht, die Summen aus dem Äther hören, holen sich ihre Phantasien aus irgendeinem akademischen Schmierer von Jahren vorher. Ich bin überzeugt, daß die Macht wirklicher Interessen weit überschätzt wird im Vergleich mit der langsamen Infiltration von Ideen." Früher oder später seien es „Ideen und nicht Interessen, die wohl oder übel gefährlich werden" (ebd., S. 142-143). Nach Hayek stand also eine große Revision des historischen Liberalismus an. Der „fatale taktische Fehler der Liberalen des neunzehnten Jahrhunderts", erklärte er, sei gewesen, die Politik zu ignorieren. Ihr Wunsch sei der totale Rückzug des Staates gewesen; daher hätten sie zu den tatsächlich notwendigen Aufgaben des Gemeinwesens wenig zu sagen gehabt. Unverkennbar „ordoliberal" klang nun Hayeks Forderung nach einer liberalen „Politik, die bewußt den Wettbewerb, den Markt und die Preise als ... ordnendes Prinzip anerkennt und die das gesetzliche Rahmenwerk, das vom Staat erzwungen wird, dazu benutzt, den Wettbewerb so effektiv und wohltätig wie möglich zu machen" (ebd., S. 145). Die staatliche Garantie des Privateigentums und die Durchsetzung von Verträgen, also die alten liberalen Postulate, seien hierfür nicht ausreichend. Damit der Markt funktioniere, bedürfe es des Staates: „Es ist die erste allgemeine These, die wir zu prüfen haben werden, daß der Wettbewerb durch bestimmte staatliche Maßnahmen wirksamer und erfolgreicher gemacht werden kann, als er ohne sie wäre" (ebd.). Und obwohl Hayek betonte, daß der Markt viel zu leisten imstande sei, erklärte er, daß moderne Gesellschaften eine Reihe von Diensdeistungen, im Sanitäts- und Gesundheitswesen etwa, benötigten, „die nicht durch den Markt bereitgestellt werden können, aus dem einfa-

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 141 chen Grund, weil von denen, welchen sie zugute kommen, kein Preis gefordert werden kann, oder besser, weil man ihre wohltätige Wirkung nicht auf jene beschränken kann, die bereit oder imstande sind, dafür zu bezahlen" (ebd., S. 146). 35 Mit der Forderung, man müsse „vor allem sich vor dem Irrtum hüten, daß die Formeln Privateigentum' und ,Vertragsfreiheit' unsere Probleme beantworten", nahm Hayek Abstand von einem puristischen Liberalismus, wie ihn etwa Mises verstand. „Unsere Probleme beginnen mit der Frage, was die Gesetze über das Eigentum beinhalten sollen, welche Verträge erzwingbar sein sollen und wie Verträge ausgelegt werden sollen" (ebd., S. 148-149). 36 Wenn die Liberalen nicht mit Kriterien aufwarten könnten, „was berechtigte und notwendige staatliche Aktivitäten sind und wo ihre Grenzen liegen", dürften sie sich nicht beklagen, wenn ihre Ansichten nicht ernst genommen würden (ebd., S. 149). Seine Diskussion des rechtlichen Rahmens des Wirtschaftslebens zeigte, wie stark Hayek zu dieser Zeit der „ordoliberalen" Konzeption zuneigte. Die von ihm befürwortete „Wettbewerbsordnung", die den Wettbewerb ermögliche, sei klar vom anti-kompetitiven „geordneten Wettbewerb", den die Lobbyisten wünschten, zu unterscheiden. Aktive staatliche Wettbewerbspolitik war demnach als Instrument des allgemeinen Kampfs gegen die Machenschaften der Interessengruppen zu sehen. Haupthindernis für eine funktionierende Wettbewerbsordnung seien die Kartelle am Güter- und am Arbeitsmarkt, erklärte Hayek. Er kritisierte sowohl die wettbewerbsscheuen Arbeitgeber wie auch die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer. 37 Solange nicht die Arbeitgeber ihren Glauben an den Wettbewerb gezeigt und bewiesen hätten, daß sie willens seien, „ihr eigenes Haus in Ordnung zu bringen", bestünde keine Aussicht, die Arbeitnehmerseite des Problems zu lösen (ebd., S. 153). Die „in vieler Hinsicht kritischste, schwierigste und heikelste Aufgabe", erklärte Hayek, sei ein neuer liberaler Ansatz in der Gewerkschaftspolitik: Zu lange habe der Liberalismus im neunzehnten Jahrhundert „in einer ungerechtfertigten Gegnerschaft zu den Gewerkschaften überhaupt" verharrt, meinte er (ebd.). Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sei man aber dann in dieser Frage umgeschwenkt und habe den Gewerkschaften „Ausnahmen vom ordentlichen Recht" gewährt, die „sogar praktisch die Anwendung von Gewalt, Zwang und Einschüchterung" legalisiert hätten (ebd., S. 154). Zweifellos dachte Hayek hier an die Zustimmung der britischen Liberalen Partei zum Trade Disputes Act und die daraus resultierenden rabiaten Streikpraktiken. Die unkontrollierte Macht der Gewerkschaften durch geeignete Gesetze zu begrenzen, betonte Hayek mit Verweis auf Henry Simons' Aufsatz „Reflections on Syndicalism", sei die Grundbedingung für eine Rückkehr zu einer freien Wirtschaftsordnung (vgl. ebd.). 38

35 Damit war wohl nicht gemeint, daß diese Dienstleistungen „öffentliche Güter" seien, weil es technisch unmöglich wäre, nicht zahlungsfähige oder -willige Konsumenten auszuschließen. Hayek sah eher einen ethischen Imperativ, auch Mittellose in die Gesundheitsversorgung einzubeziehen. 36 Zur Illustration der Problematik nannte er das Beispiel einer staatlichen Stadtplanung, die natürlich private Verfügungsrechte über Eigentum einschränke. 37 Angesichts der scharfen Kritik an der Politik der Industrie, ihrer Neigung zu Protektionismus und Kartellen, ist die Unterstellung von Walpen (2004, S. 116) nicht haltbar, Hayek habe lediglich „das klassenmäßige Sonderinteresse des Kapitalismus" artikuliert. Derartige ideologisch motivierte Verzerrungen sind charakteristisch für Walpens MPSStudie. 38 In seinen Überlegungen zum „Syndicalismus" hatte Simons die jüngste Gesetzgebung des New Deal zugunsten organisierter Arbeitsmarktkartelle verurteilt und vor militanten industriellen Auseinandersetzungen und korporatistischen Strukturen gewarnt, deren protektionistische Absichten letztlich gar eine aggressive Wendung in der Außenpolitik bewirken könnten (vgl. Simons, 1944/1948).

142 • Wandlungen des Neoliberalismus

Das Einführungsreferat Hayeks gab den Tenor der kommenden Verhandlungen vor. Er hatte eine entschiedene neoliberale Wende der liberalen Theorie angemahnt. Insbesondere das Verhältnis von Staat und Wirtschaft, von Wettbewerbsordnung und Interessengruppen sei neu zu überdenken. In einer kurzen Ansprache konnte Eucken verkünden, daß der „Gedanke der Wettbewerbsordnung bei den Deutschen viel lebendiger geblieben" sei, als man hätte erwarten mögen (MPC, 1947b, S. 1). Seine Ausführungen zu einem wünschenswerten Anti-Monopolgesetz mündeten in eine systematische Unterscheidung von Planwirtschaft, „freier Wirtschaft" und Wettbewerbsordnung: „In der Planwirtschaft bestimmt der Staat ... Er lenkt den alltäglichen Wirtschaftsprozeß — oder er versucht ihn zu lenken". Bei einer „freien Wirtschaft", wenn der Staat seine Ordnungsaufgabe vernachlässige, „besteht die Gefahr, daß die Freiheit mißbraucht wird, um die Freiheit schließlich selbst zu töten". Dagegen wünschte Eucken einen klaren wettbewerblichen Ordnungsrahmen, innerhalb dessen „der Wirtschaftsprozeß frei ist". Auf diese Weise werde „das richtige Gleichgewicht von Freiheit und Ordnung geschaffen" (ebd., S. 4). Auch Aaron Director, der zweite Redner zum Thema „Wettbewerbsordnung", betonte diesen Punkt: Das Wuchern der punktuellen Staatsinterventionen, erklärte er, welches die Wettbewerbsordnung zersetze, sei durch den „unvollständigen Charakter" der liberalen Theorie des neunzehnten Jahrhunderts begünstig worden, die keine positive Rolle des Staates jenseits der Überwachung von privaten Verträgen anerkennen wollte. „Die Gründer des Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts dienten der Sache der Freiheit, indem sie das freie Unternehmertum förderten. Unsere heutige Aufgabe ist es, die Freiheit voranzubringen, indem die Gewaltenteilung gefördert wird, die für die Wettbewerbsordnung notwendig ist" (MPC, 1947a, S. V-VII). Ganz im „ordoüberalen" Sinne betonte auch Director, die Rolle des Staates müsse neu definiert werden, um die weitere Konzentration von Macht bei organisierten Berufsgruppen zu verhindern. Drei Felder der Staatsaktivität seien für die Wettbewerbsordnung erforderlich: Verhinderung von Monopolentwicklungen, Erhaltung der Geldwertstabilität und Vermeidung von sozialer Ungleichheit und Armut, so der Chicagoer Professor (vgl. ebd., S. VI).

7.2. Neoliberale Positionen zur Sozialpolitik Die Forderung nach einem neuen sozialpolitischen Ansatz des neoliberalen Programms war kaum weniger wichtig als Hayeks Betonung der „Wettbewerbspolitik", wenn auch die Positionen am Mont Pèlerin hier stärker divergierten. Hayek hatte gefordert, das gewachsene Bedürfnis der Zeitgenossen nach Sicherheit nicht zu ignorieren. Auch Director erkannte an, daß „Gleichheit" der zentrale Wert des zwanzigsten Jahrhunderts geworden sei, forderte jedoch ein Ende des „fehlgeleiteten Humanitarismus". Den „ad hoc Interventionen", also Mindestlöhnen, Agrarprogrammen, Schutzzöllen und Beihilfen für kleine Ladenbesitzer, zog er eine Entfesselung der Produktivkräfte des Marktes vor. Verbunden mit verstärkten Investitionen in die Ausbildung von Kindern aus ärmeren Familien werde dies einen großen Teil der sozialen Not beheben. Was an Armut und übermäßiger materieller Ungleichheit verbleibe, müsse durch ein garantiertes Minimaleinkommen bekämpft werden, finanziert durch eine progressive Einkommensteuer. Diese mindere zwar die Arbeitsanreize der Besteuerten und damit die Gesamtproduktion, doch mit Blick auf seine „humanitären Impulse" solle der Liberalismus bereit sein, diesen Preis zu zahlen (vgl. ebd., S. XII-XIV).

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 143 Gegen ein starres, staatlich garantiertes Mindesteinkommen wandte sich in der Sitzung „Taxation, Poverty and Income Distribution" der jüngste Vertreter aus Chicago, Milton Friedman, der die Idee einer „progressiven negativen Einkommensteuer" vortrug. Dieser Vorschlag dominierte die anschließende Diskussion. Als sein Ziel definierte Friedman die Beseitigung der Armut. Selbst ein völlig von Regulierungen befreiter Markt könne den „submarginalen Arbeitern" ein minimales Auskommen nicht sichern. Die Möglichkeiten der nach dem „poor law" operierenden Sozialpolitik, die Lohnersatzleistungen biete, seien ausgeschöpft. Daher sei ein neuer Ansatz gefragt, um Anreize für eine Arbeitsaufnahme und weitere Anstrengungen der Bezieher von Sozialleistungen zu fördern (vgl. MPC, 1947j, S. I-III). In eine andere Richtung gingen Hayeks Überlegungen: „Ich zweifle, ob ich es wagen würde, den Satz ,Armut beseitigen' als Liberaler in mein Programm einzufügen", erklärte er, wobei ihm grundsätzliche Skepsis gegen die diskretionären Implikationen einer derart dehnbaren politischen Vorgabe anzumerken war (ebd., S. V). Hayeks Vorschlag eines freiwilligen Arbeitsdienstes unter „semi-militärischen Bedingungen" atmete noch den Geist früherer Armenpolitik, die vom selbstverschuldeten Unglück ausging. Die „Freiheit, nicht zu arbeiten", bezeichnete er als Luxus, den man sich gerade im den weniger reichen Ländern nicht leisten könne. Keiner dürfe zur Arbeit gezwungen werden. Doch Hayek wollte das staatlicherseits ermöglichte Mindesteinkommen an physische Unannehmlichkeiten koppeln (vgl. ebd., S. VVI). Popper kommentierte die beiden Vorschläge zur Armutsbekämpfung: „Professor Friedmans Idee ist eine attraktive Alternative zum Sozialismus. Professor Hayeks Idee ist das nicht" (ebd., S. VII). Das von Friedman skizzierte System der „negativen Einkommensteuer" sollte Jahrzehnte später in Form des „Earned Income Tax Credit" in den Vereinigten Staaten teilweise Realität werden. Ihr großer Vorteil lag auf der Hand, nämlich daß sie, anders als ein staatliches Mindesteinkommen, keine Lohnuntergrenze setzte, unterhalb derer sich Arbeiten nicht mehr lohnte, sondern Anreize zur Aufnahme auch von niedrig bezahlter Beschäftigung schuf. Dagegen hätte sich als Konsequenz von Hayeks Programm staatlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein vom regulären Arbeitsmarkt abgekoppelter öffentlicher Beschäftigungssektor und damit eine Ausweitung staatlicher wirtschaftlicher Aktivitäten ergeben. Der generelle Tenor der Diskussion am Mont Pèlerin war, die Funktionsweise des Marktes nicht zu beschränken, sondern zu fördern. Auch Sozialpolitik sollte und konnte nicht gegen die Marktgesetze erfolgen. Am klarsten in diese Richtung ging Friedmans Plan, wenn er auch Anlaß zu einiger Kritik gab. Interessant ist, daß Friedman von einer „progressiven negativen Einkommensteuer" analog zur „progressiven Einkommensteuer" sprach, wenngleich er zu einem „zurückhaltenden Gebrauch" riet (ebd., S. III). Sozialpolitik und Steuerpolitik waren zwei Seiten einer Medaille, denn den Ausgaben des Staates mußten ja auch Einnahmen gegenüberstehen. Dabei erschien noch keineswegs klar, welche steuerpolitische Position die 1947 am Mont Pèlerin versammelten Neoliberalen letztlich annehmen würden. Der kurz zuvor verstorbene Simons, den Hayek sehr geschätzt hatte, befürwortete ein stark progressives Steuersystem und eine erhebliche materielle Umverteilung. 39 Die jüngeren Vertreter der Chicagoer Schule waren hier anderer Meinung. Eine scharfe Progression sah Friedman kritisch, da sie sich direkt gegen eine Minderheit richte In den Vereinigten Staaten, w o 1 9 1 3 eine bundesstaatliche Einkommensteuer mit einem Spitzensatz von 7 Prozent eingeführt worden war, lag dieser Satz bereits zum Ende des Ersten Weltkriegs für sehr große Einkommen bei über 70 Prozent und blieb dann bis Mitte der zwanziger Jahre bei über 50 Prozent stehen, bis er von Finanzminister Mellon radikal um fast die Hälfte gesenkt wurde.

39

144 • Wandlungen des Neoliberalismus und zudem negative Leistungsanreize setze. Auch Hayek wandte sich in den folgenden Jahren immer wieder gegen eine extrem egalisierend wirkende progressive Besteuerung von Einkommen und konfiskatorische Erbschaftsteuern, wie sie in England die LabourRegierung eingeführt hatte. Erbschaftsteuern als Mittel für größere soziale Mobilität und größere Streuung des Eigentums würdigte er jedoch grundsätzlich als „sehr wichtige Werkzeuge einer wahrhaft liberalen Politik" (Hayek, 1947/1952, S. 154-155).

7.3. Zukunft Deutschlands und Europas Zwei drängende politische Fragen, die Zukunft Deutschlands sowie die Chancen eines europäischen Zusammenschlusses, wurden am zweiten und dritten Tag der Konferenz am Mont Pèlerin ausgiebig diskutiert. Die Vorträge und Wortmeldungen dazu zeigten eine große Meinungsvielfalt. Röpke leitete die Sitzung zu den Problemen Deutschlands ein. Seine Sicht der Zukunft des zerstörten und besetzten Land hatte sich seit der Veröffentlichung von „Die deutsche Frage" weiter verdüstert: Für den deutschen Liberalismus sei bereits als Erfolg anzusehen, wenn ein Rückfall in den Totalitarismus, diesmal den kommunistischen, verhindert und ein strikter Kurs der Dezentralisierung eingehalten werden könne, so Röpke. Die notleidenden Menschen in Deutschland bräuchten weiter internationale Hilfe, doch sollte diese auf der richtigen Basis, wie eine Investition, erfolgen.40 Unabdingbare Voraussetzung für eine echte wirtschaftliche Erholung in Deutschland sei eine „drastische Geldreform", die eine „drastische Deflation" einleite, erklärte er am Mont Pèlerin. Erst eine Abschöpfung des Geldüberhangs ermögliche, daß die Preise wieder koordinierend wirken könnten und dann die industrielle Produktion wieder anlaufe (vgl. MPC, 1947d, S. I-III). Die Ausführungen Röpkes zur Notwendigkeit einer Währungsunion und einer Preisfreigabe fanden nachdrückliche Unterstützung Euckens. Der Freiburger wählte bewußt provokante Worte: Es sei „sehr überraschend, daß die Besatzung nicht das Ende des Nazi-Systems gebracht hat" (ebd., S. IV). Die Festsetzung der Preise aus dem Jahr 1936 und das zentrale Zuteilungssystem seien von den Alliierten bis ins Detail übernommen worden, selbst das Planungspersonal sei weitgehend dasselbe. Nach der Zerstückelung Deutschlands in vier Zonen funktioniere die Planwirtschaft aber noch weniger als zuvor. Mit den zugeteilten Essensrationen könne niemand überleben. Es gebe nur noch eine primitive Tauschwirtschaft, daraus folgend extrem geringe Produktivität. Erst eine Währungsreform, die neues Geld bringe, würde das Vertrauen wiederherstellen. Gleichzeitig müsse die Freigabe der Preise und des Handels kommen. Eucken prognostizierte bei landwirtschaftlichen Produkten einen „großen Anstieg" der Preise. Doch angesichts der aktuellen miserablen Ernährungslage konnte ihn diese Gefahr nicht mehr abschrecken. Die auf niedrigem Niveau fixierten LebensHier war seine Kritik an der zentralistischen, planwirtschaftlichen Vergabepraxis des im Juni 1947 bekanntgegebenen European Recovery Program, des sogenannten Marshall-Plans, bereits vorgezeichnet. Vgl. dazu sein Memorandum „How to make the Marshall Plan a success in Europe" (o. Dt. [wohl 1947], in: HIA, MPS-Slg. 29). Darin schrieb er, die ERP-Hilfe müsse wie eine Bluttransfusion wirken, welche den wirtschaftlichen Kreislauf in Europa wieder anlaufen lasse, ihn jedoch nicht dauerhaft von bürokratischen Zuweisungen abhängig mache. Ansonsten sollte sich die amerikanische Hilfe darauf beschränken, die Wirtschaft in den europäischen Ländern durch ein allgemeines Rahmenwerk zu ordnen, statt sie im Detail steuern zu wollen (vgl. ebd., S. 1). Ebenso skeptisch gegenüber dem ERP-Ansatz war Henry Hazlitt, dessen weit verbreitete, offenbar auch vom republikanischen Senator Robert Taft beachtete Schrift „Will Dollars Save the World?" die Wirksamkeit finanzieller Transfers bezweifelte (vgl. Hazlitt, 1947). 40

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 145 mittelpreise, stellte Eucken fest, hätten nichts gebracht außer einem Versiegen des offiziellen Angebots (vgl. ebd., S. VII). Es zeigte sich aber, daß nicht alle Teilnehmer seine Meinung teilten. Der Agrarexperte Brandt etwa, ein deutscher Emigrant, warnte vor den Folgen einer Preisfreigabe. „Ich bleibe bei der Behauptung, daß die Möglichkeit, in Deutschland ein Marktsystem mit freien Preisen zu etablieren, besonders im Hinblick auf Lebensmittel, ohne vorher die Vorräte wiederaufgefüllt zu haben, absolut zu einer Hungersnot fuhren würde, wenn nicht eine große Zahl von Leuten durch öffentliche Hilfe ernährt würde" (ebd., S. X-XI). 4 1 Auch Robbins erklärte, obwohl der Preisstopp vor über zehn Jahren keine weise Entscheidung gewesen sei, kenne er in England „keinen wohlinformierten Menschen", der zum jetzigen Zeitpunkt eine Beendigung des Rationierungssystems befürworten würde (ebd., S. X). Eucken hatte einige Mühe, die Zweifler zu überzeugen, daß die jetzige Misere der extrem niedrigen Produktion in Deutschland durch falsche relative Preise verursacht sei. Die industrielle Produktion könne ohne korrekte Preissignale nicht funktionieren, denn die zentrale Zuweisung und Rationierung lenke die Rohstoffe meist an die falsche Stelle. Das grundlegende Problem in Deutschland, so Eucken, sei eine allgemein „völlig sinnlose Verwendung von Ressourcen, eine gründliche Fehllenkung" (ebd., S. XII). Noch kontroverser verliefen die Diskussionen zu Möglichkeit und Wünschbarkeit einer „Europäischen Föderation", die im Kontext der weltgeschichtlichen Umbruchsphase des Jahres 1947 und der beginnenden Spaltung der Siegermächte zu sehen sind. Stalins offensichtliche Expansionsbestrebung untergrub die Basis der Zusammenarbeit zwischen den westlichen Alliierten unter Führung der Amerikaner und den Sowjets; die Bruchlinien der ehemaligen „Anti-Hitler-Allianz" wurden deutlich. Präsident Trumans Rede vor dem amerikanischen Kongreß Anfang März 1947 hatte in Umrissen das neue, maßgeblich von George Kennan entwickelte Konzept der Eindämmung der sowjetsozialistischen Ausbreitung vorgestellt. Zwar schlug das gereizte Mit- und Nebeneinander der beiden Supermächte erst im späteren Verlauf des Jahres 1947 in offene Gegnerschaft um, doch die Vorboten des „Kalten Krieges" waren kaum zu übersehen. Wie sollte Europa zwischen den hochgerüsteten Blöcken überleben? Ansätze einer Vereinigung des Kontinents, deren Voraussetzung ein Ende der alten Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich war, lagen daher in der Luft. Winston Churchills kurz zuvor gehaltene Rede in Zürich zu den „Vereinigten Staaten von Europa" stellte in dieser Hinsicht einen ersten kühnen Vorstoß dar, der den am Mont Pèlerin versammelten Intellektuellen nicht entgangen war.

41 Brandt, geboren 1899 in Essen, gehörte nach seiner Emigration 1933 zu den politisch aktivsten liberalen deutschen Emigranten in den Vereinigten Staaten. Zunächst lehrte er an der New School for Social Research in New York, ab 1936 am Food Research Institute der Universität Stanford. Nach Kriegsende setzte er sich in zahlreichen Artikeln und Aufrufen für seine alte Heimat ein. So verfaßte er mit Carl Landauer ein Memorandum an Außenminister George C. Marshall, unterschrieben von 42 Professoren, darunter viele deutschsprachige Exilanten wie Goetz Briefs, Fritz Machlup, Hans Rothfels, Joseph Schumpeter und Gustav Stolper, das als Leserbrief in der New York Times vom 16.11.1947 veröffentlicht wurde. Darin kritisierten sie die fortlaufende alliierte Demontage industrieller Anlagen in Deutschland, welche die ohnehin schon auf niedrigstem Niveau liegende deutsche Wirtschaftskraft weiter schwäche und unnötiges Elend und sogar Hungersnöte provoziere (vgl. „Memorandum" von Brandt u. Landauer, in: HIA, MPS-Slg. 29). Zudem wandte sich Brandt gegen eine allzu pauschale FragebogenEntnazifizierung", die eine „Kaste" von „Parias" schaffe und letztlich das Land gegenüber der kommunistischen Bedrohung politisch destabilisiere (vgl. Brandt, 1947).

146 • Wandlungen des Neoliberalismus Schon in der Zwischenkriegszeit waren eine ganze Reihe von Neoliberalen, besonders Einaudi, Röpke, Robbins und Hayek, mit teils weitblickenden, teils auch unrealistischen Föderationsideen für Europa und die Welt hervorgetreten (Wegmann, 2002, S. 264-276). Seit jeher war dem Liberalismus eine kosmopolitische Grundstimmung zu eigen. Da jedoch der Freihandel an politischen Rivalitäten gescheitert war, schien die alte liberale Hoffnung auf eine natürliche Interessenharmonie der Staaten von der Geschichte widerlegt. In Analogie zur neoliberalen Forderung nach einer Sicherung des Wettbewerbs vor selbstzerstörerischen Tendenzen erkannte nun etwa Hayek, daß die Sicherung des liberalen Freihandelsprinzips ebenfalls eines institutionellen politischen Rahmens bedürfe. 42 Sie hofften auf die Abgabe von Souveränitätsrechten an eine übernationale föderale Instanz, welche die Überwachung der Spielregeln übernehmen sollte. Damit würde sowohl das militärische Aggressions- wie auch das ökonomische Interventionspotential der Einzelstaaten begrenzt und gezähmt. Eine solche Föderation, schrieb Röpke in „Civitas humana", sei aber scharf von der Vorstellung eines Welt- oder Superstaats zu trennen (vgl. Röpke, 1944, S. 384). Nach Ansicht der Neoliberalen konnte eine freiwillige Föderation nicht anders als auf einer Wirtschaftsverfassung der offenen Märkte der Teilnehmerstaaten beruhen. Eine Privilegienoder Planwirtschaft über nationale Grenzen hinweg schien Hayek auf Dauer undenkbar, wie er in seinem Aufsatz „Economic Conditions of Inter-State Fédération" bereits vor Kriegsausbruch argumentiert hatte (vgl. Hayek, 1939/53). Im Nationalstaat ließen sich Mehrheiten für protektionistische Maßnahmen oder planerische Eingriffe oft durch Appelle an die nationale Solidarität zugunsten der angeblich schutzwürdigen Privilegierten organisieren. Solche Appelle würden aber die Bewohner einer supranationalen Föderation schwerlich überzeugen; daher seien dort viele wirtschaftspolitische Eingriffe nicht möglich, meinte er.43 Es sei „sehr wahrscheinlich, daß in einem Bundesstaat die Macht des Einzelstaates über die Wirtschaft allmählich ... geschwächt würde" (ebd., S. S. 339). Planwirtschaft oder zentrale Lenkung setzten ein hohes Maß an gemeinsamen Idealen und Wertmaßstäben voraus, nach denen die Produktion zu planen sei. Während im Nationalstaat eine verhältnismäßig große Homogenität herrsche, die Planung erleichtere, sei in einer Föderation mehr Widerstand der einzelnen nationalen Bevölkerungsgruppen gegen Eingriffe in ihr tägliches Leben zu erwarten, wenn diese von einer regierenden Majorität anderer Nationalität verfügt würden. Hayeks Fazit lautete: „Ein Bund bedeutet, daß weder die nationale noch die überstaatliche Regierung die Macht zu einer sozialistischen Planwirtschaft haben könnte", überhaupt werde „weniger ,regiert'" (ebd., S. 337). Auch am Mont Pèlerin wiederholte Hayek diese Argumente. Zudem brachte er eines seiner Lieblingszitate von Lord Acton, das er auch dem fünfzehnten Kapitel seines Buchs „The Road to Serfdom", dem „Ausblick auf die internationale Ordnung", vorangestellt hatte: Das Föderativsystem, so Acton, begrenze und beschneide die Macht und sei „das einzige Mittel, um nicht nur die

Hayek schrieb 1939 unter Berufung auf Robbins' grundlegende Studie „Economic Planning and International Order" (1937) über die „Hauptmängel des Liberalismus des 19. Jahrhunderts daß seine Vertreter nicht genügend erfaßten, daß die Erreichung der erkannten Harmonie der Interessen zwischen den Bewohnern der verschiedenen Staaten nur innerhalb des Rahmens der internationalen Sicherheit möglich ist" (Hayek, 1939, S. 341). 43 So fragte Hayek (1939/52, S. 332): "Ist anzunehmen, daß der französische Bauer bereit sein wird, für seinen Kunstdünger mehr zu bezahlen, um der englischen chemischen Industrie zu helfen?"

42

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 147 Herrschaft der Mehrheit, sondern auch die Macht der Volksgesamtheit zu zügeln" (zit. n. Hayek, 1944/1971, S. 271). Unter dem Eindruck der akuten Gefahr für Westeuropa, vom sowjetischen Druck und dem amerikanischen Gegendruck zerrieben zu werden, standen für viele der Teilnehmer am Mont Pèlerin aber nicht ökonomische, sondern außen- und sicherheitspolitische Erwägungen im Vordergrund. Das Protokoll gibt gerade hier die Diskussionsbeiträge teilweise so verkürzt wieder, daß die unterschiedlichen Positionen nur erahnt werden können. Auffällig ist, daß unter den Teilnehmern im Jahr 1947 eine klare Frontstellung eines geeinten Europas gegen die Sowjetunion und eine transadantische Partnerschaft noch nicht als selbstverständlich angesehen wurden. Knight, Popper, Polanyi und Allais diskutierten verschiedene Alternativen, ob die Union als eine Allianz mit den USA gegen Rußland oder als neutrale Macht in einem möglichen Krieg der USA mit Rußland vorzustellen sein (vgl. MPC, 1947e, S. I-III). Besonders Allais wandte sich gegen den Eindrück, eine Konföderation müsse zwangsläufig für oder gegen Rußland sein.44 Weniger enthusiastisch zeigte sich Robbins, der auf die traditionelle Bindung Großbritanniens an sein weltumspannendes Commonwealth hinwies, die es nicht leichtfertig zugunsten einer Hinwendung zum Kontinent aufgeben werde. Grundsätzlich skeptische Worte zur Bildung einer politischen Union Europas hörte man von Jouvenel, der davon keine Machtverdünnung, sondern eine zusätzliche Machtkonzentration und Zentralisierung erwartete. „Ich mißtraue politischer Macht", erklärte der französische Schriftsteller als Schlußwort (ebd., S. XVI). 4 5 Eine pragmatische Haltung zur europäischen Frage hatte zuvor Lovinfosse eingenommen, der zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Einigung trennen wollte. In einer ersten Phase der Einigung seien wirtschaftliche Aspekte zu berücksichtigen, später würde die politische Union folgen, so skizzierte der belgische Industrielle den Weg, den die europäische Einigung später tatsächlich nehmen sollte (vgl. ebd., S. VI).

7.4. Kontroversen zu Liberalismus und Christentum Auf welch unterschiedlichen ethisch-weltanschaulichen Fundamenten die liberalen Überzeugungen der am Mont Pèlerin versammelten Intellektuellen ruhten, offenbarte eine scharfe Kontroverse zum Thema „Liberalismus und Christentum". Bereits in seinem Vortrag in Cambridge 1944 hatte Hayek die Sorge geäußert, mit rationalistischer Gegnerschaft, ja Intoleranz gegenüber dem Religiösen, habe der Liberalismus unnötigerweise zahlreiche Christen verprellt. Daß Hayeks Befürchtungen berechtigt waren, zeigten Frank Knights einführende Worte zu der Problematik: Das Christentum sei nicht kompatibel mit dem Liberalismus, polterte der Chicagoer Ökonom, der Religion und Wissenschaft für unvereinbar hielt und wie Marx abwertend vom „Opium fürs Volk" sprach (vgl. MPC, 1947f, S. I-III). Knights Ausfälle waren

Als einer der Mitbegründer der Union européenne des fédéralistes (UEF) gehörte Allais zu den frühesten und aktivsten Streitern für einen engen europäischen Zusammenschluß (vgl. Wegmann, 2002, S. 298). 4 5 Früher sozialistischen Ideen nahestehend, hatte Jouvenel kurz nach dem Krieg sein historisches Opus magnum „Du pouvoir" (1945/1972) vorgelegt, eine vernichtende Kritik der destruktiven und totalitären Aspekte moderner staatlicher Herrschaft, die in neoliberalen Kreisen auf große Zustimmung stieß (vgl. Grewe, 1950). Zu Jouvenels Sicht des Verhältnisses von Individuum und Staat vgl. Habermann (1995) und Mahoney (2005, S. 25-51). 44

148 • Wandlungen des Neoliberalismus wohl in erster Linie gegen die sozialistischen Neigungen vieler Geistlicher gerichtet. Eine Reihe von Teilnehmern fühlte sich aber in ihrem Glauben angegriffen. Wie Davenport (1981, S. 6) später berichtete, drohte Felix Morley, ein frommer Quäker, mit sofortiger Abreise. 46 Morley nannte die Diskussion äußerst wichtig, da sie doch zeige, ob Liberale bereit seien, „Christen zu erlauben, Christen zu sein" (ebd., S. XV). Auch Eucken und Röpke, beide fest im christlich-abendländischen Boden verwurzelt, war überhaupt nicht wohl bei Knights Reden. 47 Das Haupt der Freiburger Schule verwies auf die bittere Erfahrung im nationalsozialistischen Regime, als die Religion im Namen einer totalitären Ideologie unterdrückt wurde (vgl. ebd., S. IV). Selbst Popper, nicht für Religiosität bekannt, merkte in der Diskussion an, er vermisse bei Knight den nötigen Respekt für den Glauben anderer Leute (vgl. ebd., S. XI). 4 8 Hayek erklärte, er sehe keine Chance für eine breitere Unterstützung der liberalen Sache, falls nicht die Kluft zum Christentum überbrückt werde (vgl. ebd., XIII). Und Brandt wies im Widerspruch zu Knight auf eine Wesensverwandtheit von liberaler und christlicher Anschauung hin: „Es ist kein Zufall, daß es in buddhistischen und islamischen Ländern keinen Liberalismus gibt". Dort herrsche ein anderes Bild des Individuums. „Aber das Christentum und der Liberalismus haben eine gleiche Haltung zum Individuum", meinte Brandt (ebd., S. XIV). Eucken, der alle Theorien eines „christlichen Sozialismus" für gescheitert erklärte, sagte abschließend: „Ich bin Christ und ... von einem rein christlichen Standpunkt aus betrachte ich die Wettbewerbsordnung als essentiell" (ebd., S. XV). Die Bedeutung dieser Debatte ist nur vor dem historisch spannungsreichen Verhältnis von Liberalismus und (katholischer) Kirche zu verstehen. Grundsätzlich mißtrauten viele christliche Theologen und Autoren dem Wirtschaftssystem des Marktes. Zu den frühesten ethischen Kritikern des „Kapitalismus" zählten in Deutschland zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts katholisch-kirchennahe Persönlichkeiten. 49 Umgekehrt zeigten nicht wenige Liberale eine aggressiv-feindliche Haltung gegenüber der Kirche, ererbt aus der „freidenkerischen" französischen Aufklärung. Diese „äußerte sich in einer stark antiklerikalen, antireligiösen und allgemein antitraditionalen Haltung", so Hayek in seinem Aufsatz „Liberalismus". „Nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen römisch-katholischen Teilen Europas wurde der ständige Konflikt mit der römischen Kirche so charakteristisch für den Liberalismus, daß er vielen Menschen als sein wichtigster Wesenszug erschien, insbesondere nachdem die katholische Kirche in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts den Kampf gegen den ,Modernismus' und damit gegen die meisten liberalen Reformforderungen aufgenommen hatte" (Hayek, 1973a/1996, S. 223).

Der 1894 geborene Staatsrechtler und Journalist gehörte zum Urgestein der konservativen Bewegung der Vereinigten Staaten. In den dreißiger Jahren arbeitete Morley bei der Washington Porfund wurde 1936 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Von 1940 bis 1945 war er Präsident des Haverford College und gleichzeitig Berater der Armee. Nach dem Krieg gründete er das konservative Blatt Human Evenls, das als Nachrichtendienst der liberal-konservativen Bewegung zunehmend Bedeutung erlangte. Zu Morleys politischen Ansichten vgl. Stromberg (1978). 47 Es war Euckens feste Überzeugung, wie er 1943 an Rüstow geschrieben hatte, daß der Liberalismus auf Abwege gekommen sei und seinen Niedergang begonnen hatte, als er „seinen religiösen und metaphysischen Inhalt verlor" (zit. n. Lenel, 1991, S. 13). 4 8 Zu Knights antireligiöser Radikalität schon seit frühester Kindheit vgl. Ebenstein (2001, S. 172). 49 Etwa der Philosoph Franz von Baader, der das scheinbar durch Industrialisierung und Marktwirtschaft verursachte soziale Elend der „Proletairs" beklagte, sowie der Mainzer Bischof Wilhelm von Ketteier. 46

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 149 Trotz gelegentlicher Annäherung in Einzelfragen steigerte sich das gegenseitige Mißtrauen von katholischer Kirche und Liberalen zum offenen Kampf. 1864 veröffentliche Papst Pius IX. mit dem „Syllabus errorum" eine kategorische Verurteilung der politischen und gesellschaftlichen Prinzipien des Liberalismus. 50 Auch in Deutschland verschärfte sich zur selben Zeit das Klima. Von nationaler wie auch liberaler Seite wurden die Vorbehalte gegen die „Ultramontanen" immer stärker. Der staatlich geführte Kirchenkampf nach der Reichseinigung fand glühende Anhänger bei nationalliberalen wie auch linksliberalen Politikern, die mit Freude daran mitwirkten, die „reaktionäre" Kirche zurechtzustutzen, dabei aber ohne Skrupel staatliche Willkür befürworteten und das Recht der Katholiken auf Religionsfreiheit und die Autonomie der Glaubensgemeinschaft mit Füßen traten.51 Zwischen der liberalen und der katholischen Auffassung einer guten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung schien lange ein unüberwindlicher Graben zu liegen: Die einen setzen auf die tendenzielle Harmonie der Interessen und eine Selbstregulierung der sozialen Kräfte, die anderen bauten auf staatliche Interventionen zugunsten bestimmter Bevölkerungsgruppen und eine berufsständische Ordnung der Wirtschaft. Ihre sozialpolitische Linie legte die katholische Kirche 1891 mit ihrer ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum" zur Arbeiterfrage fest (Leo XIII., 1891/1935). Diese enthielt Forderungen nach materieller Umverteilung, nach strengeren arbeitsrechtlichen Bestimmungen und einem Ausbau staatlicher Sozialprogramme. Allerdings fand sich in dem päpstlichen Dokument an keiner Stelle eine grundsätzliche Absage an Privateigentum und privates Unternehmertum; sozialistische Kampfbegriffe wie „Kapital" oder „Kapitalismus" wurden gemieden. Insgesamt war die Gesellschaftsordnung, die der katholischen Kirche vorschwebte, wohl stark sozialromantisch geprägt. Sie orientierte sich an korporatistischen Vorbildern und „versuchte, Individualismus und Kollektivismus mit den dem Subsidiaritätsprinzip zugrundeliegenden Ideen zu überwinden" (Dichmann, 1994, S. 196). Ein zweiter Markstein der katholischen Soziallehre, die Enzyklika „Quadragesimo anno" von 1931, erneuerte und verfeinerte diese Position. Sie ließ aufmerken, da Pius XI. mitten in der Weltwirtschaftskrise erklärte, die kapitalistische Wirtschaftsweise sei „als solche nicht zu verdammen ... ist nicht in sich schlecht" (Pius XI., 1931/1935, S. 63). Die maßgeblich von Oswald von Nell-Breuning entworfene Enzyklika mit ihrer expliziten Nennung des Subsidiaritätsprinzips erkannten einige Neoliberale, besonders Wilhelm Röpke, als Basis für eine Verständigung. Röpke, der in Kontakt mit Nell-Breuning stand, fand in dem auslegungsfähigen Text einige Anknüpfungspunkte. Eine Versöhnung von liberaler und katholischer Sozialphilosophie schien ihm nun möglich. Die Enzyklika bedeute „im engeren Bereich der Wirtschaft ... Bejahung der Marktwirtschaft, unter gleichzeitiger Ablehnung eines entarteten Liberalismus und des bereits in seiner Grundkonzeption unannehmbaren Kollektivismus" (Röpke, 1944, S. 18). Die Annäherung zwischen Neoliberalismus und Katholizismus nach dem Krieg erwies sich jedoch als schwierig. Nell-Breuning lobte positive Ansätze des neoliberalen Ordnungsmodells, formulierte jedoch auch klar das Trennende. Den Wettbewerb sah er lediglich als formale Institution, die noch keine positive Aussage zum „Sachziel" der Wirtschaft enthalte Nach der militärischen Einnahme des Kirchenstaates 1871 durch königliche Truppen untersagte der Papst allen Katholiken unter Androhung der Exkommunikation jegliche Zusammenarbeit mit dem neuen, liberal verfaßten italienischen Staat. 51 Raico (1999, S. 32) bezeichnet die Episode des Kulturkampfs als „das schändlichste Kapitel in der Geschichte des echten deutschen Liberalismus". 50

150 • Wandlungen des Neoliberalismus (vgl. Dölken, 1992, S. 39). Die bundesdeutsche „Soziale Marktwirtschaft", die er grundsätzlich guthieß, bedurfte nach seiner Meinung einer kräftigen sozialstaatlichen Beimischung.52 Als wichtiger und früher Brückenbauer zwischen Katholizismus und den deutschen Ordoliberalen betätigte sich der Münsteraner Theologieprofessor und spätere Kardinal Joseph Höffner. 53 Gegen die sozialistischen Strömungen in der Kirche betonte er die Bedeutung des Privateigentums als Garant sowohl politischer Freiheit als auch persönlicher Würde (vgl. Höffner, 1957). Andere Grenzgänger zwischen Liberalismus und katholischer Soziallehre waren Goetz Briefs und Erik von Kuehnelt-Leddihn, die beide Ende der fünfziger Jahre Mitglied der MPS wurden.54

7.5. „Statement of Aims" und Namensgebung Fragen des persönlichen Glaubens wurden bei späteren Tagungen der MPS nur noch selten thematisiert, doch gab es immer wieder Vorträge zu religions- und kulturwissenschaftlichen Fragen.55 Sie belegen, wie breit die Themenpalette des Neoliberalismus war, die über die oft unterstellte Verengung auf ökonomische Problemstellungen hinausging. Marktwirtschaft und Wettbewerb, so betonte vor allem Röpke, waren nicht Selbstzweck, sondern dienten der Annäherung an eine als gerecht und gesund empfundene ideale Gesellschaftsordnung. In letzter Konsequenz zählten für ihn die Dinge „jenseits von Angebot und Nachfrage", so der Titel eines seiner späteren Bücher. Mit seiner Forderung, die Landwirtschaft vom Wandlungsdruck des Marktes auszunehmen und eine kleinagrarische Struktur von Familienbetrieben zu erhalten, stieß Röpke aber am vorletzten Tag der Konferenz am Mont Pèlerin auf heftigen Widerspruch. Einzig Rappard unterstützte ihn, die Mehrheit wollte auch hier die Prinzipien des Marktes walten lassen (vgl. MPC, 1947k, S. IV u. VIII). Die Landwirtschaftsfrage stelle die größte Herausforderung des Liberalismus dar, erklärte Brandt, der die Diskussion zur Agrarpolitik leitete. In allen Staaten sei die Landbevölkerung

52 Die Konvergenz von Positionen der katholischen Soziallehre und neoliberalen Ansätzen im zwanzigsten Jahrhundert lasse auf deren prinzipielle Vereinbarkeit schließen, meint Dölken (1992, S. IX). Grundsätzlich bejaht die katholische Soziallehre das Privateigentum und eine dezentrale Koordination der Wirtschaft, welche sich aus dem Subsidiaritätsprinzip und seiner Abwehr gegen kollektivistische Vorstellungen ergibt. Das Privateigentum wird allerdings selten naturrechtlich, sondern meist mit Blick auf die Produktivität einer privatwirtschaftlichen Ordnung gerechtfertigt. Wo sich aus dem Privateigentum „sozial unerwünschte" Konsequenzen ergeben könnten, weicht die katholische Soziallehre vom unbedingten Eigentumsrecht ab und unterstellt eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums (vgl. ebd., S. 66-68). Spieker (1994, S. 190) schreibt: „Die Leitlinien der katholischen Soziallehre und ihre anthropologischen Prämissen präjudizieren eine freiheitliche Wirtschaftsordnung", sie verurteile aber „den ungehemmten, ,harten' Kapitalismus". Zur ambivalenten Haltung weiter Teile der katholischen Kirche zu marktwirtschaftlichem Wettbewerb vgl. auch Schwarz (1992b), der einen Hang zu utopischer „Sozialromantik" kritisiert.

Seine kritische Sichtung spätscholastischer Schriften brachte ihm die Erkenntnis einer weit größeren Offenheit spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher theologischen Autoritäten für Markt und Wettbewerb, als früher angenommen (vgl. Höffner, 1952). 54 Zu Goetz Briefs' liberalem Engagement vgl. Klein-Zirbes (2004, S. 117-120). Der streitbare Publizist KuehneltLeddihn widmete sich der Frage der weltanschaulichen Disposition des Christentums, insbesondere seiner Neigung zu liberalem oder sozialistischem Gedankengut, in zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen, auch vor der MPS (vgl. Kuehnelt-Leddihn, 1958; 1961; 1962). 55 Als William Grede 1958 von einem konservativ-liberalen Standpunkt aus Kritik am Wohlfahrtsstaat übte und dabei für eine Renaissance christlicher Werte warb, erklärte er einleitend, Hayek habe ihm zu verstehen gegeben, daß „Religion ein sensibles Thema" bei der MPS sein könne (Grede, 1958, S. 1). 53

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 151

eine zahlenmäßig und politisch so starke Gruppe, daß sie - und nicht die „Arbeiterklasse", wie Marxisten glaubten - eine „Schlüsselposition" halte, meinte Brandt. Die Agrarbevölkerung für die Marktwirtschaft zu gewinnen sei also von eminenter Bedeutung (MPC, 1947k, S. I). Anders als beim Pariser Colloque Walter Lippmann gelang es Röpke bei der Konferenz am Mont Pèlerin also nicht, die Diskussionen in Richtung seiner Thesen zur soziologischen Einbettung der Marktwirtschaft zu lenken. Die neoliberale Tendenz schien 1947 schon deutlich „amerikanischer" geprägt. 1938 war Rüstow ein starker Verbündeter gewesen, der Röpke diesmal fehlte. Ihre gemeinsame These, wonach eine reine Marktgesellschaft von ethischen und sozialen Reserven zehre, die sie nicht selbst hervorbringe und im schlechtesten Fall sogar zerstören helfe, fand nur begrenzt Anklang. Die Amerikaner, die tiefgreifenden und raschen sozialen Wandel mehr als die Europäer gewohnt waren, gaben am Mont Pèlerin schon in vielen Diskussionen den Ton an. Röpke klagte daher in einem Brief an Rüstow über die „durch einen amerikanischen Pairsschub etwas merkwürdig gewordene Zusammensetzung" der Konferenz. Zwar sei Mises, dessen „paläoliberale" Ansichten beide ablehnten, „in einer fast tragischen Weise isoliert" gewesen. Außer diesem gab es aber „natürlich nach wie vor eine ganz stattliche Gruppe von recht Hartgesottenen, die den Kopf schüttelten, wenn man sie an den Vorrang unserer Rahmenprobleme erinnerte" (Röpke an Rüstow, 22.4.1947, in: IWP, NL Röpke; Ders., 1976, S. 96).56 Trotz heterogener Ansichten in vielen Detailfragen kristallisierte sich im Verlauf der zehntägigen Konferenz ein Konsens zur prinzipiellen Ausrichtung des neoliberalen Programms heraus. Allein fünf Sitzungen waren Fragen zur Organisation und der Formulierung eines „Statement of Aims" gewidmet. Hayek sträubte sich dagegen, eine Art politisches Manifest zu veröffentlichen, überhaupt wollte er übermäßige Publizität vermeiden.57 Die überlieferten Diskussionen um das „Statement of Aims" zeigen, mit welcher Sorgfalt seine Inhalte und Formulierungen abgewogen wurden. Die Frage war, ob darin lediglich die Dinge, die man ablehnte, oder auch ein positives Programm formuliert werden sollte. „Der Liberalismus befindet sich in einer eigenartigen Lage, auf dem absteigenden Ast", erklärte Friedman. Man könne sich zwar leicht auf „ein allgemeines Communiqué" einigen, das rein negativ gehalten sei; notwendig sei aber ein positiver Ansatz (MPC, 1947g, S. V). Schließlich erarbeitete eine Gruppe mit Hayek, Eucken, Gideonse, Hazlitt, Iversen und Jewkes einen ersten Entwurf, der zehn Punkte eines neoliberalen Programms umfaßte (vgl.

Andererseits erfuhr Röpke doch für seine philosophischen Thesen auch so viel Zustimmung, daß er glaubte, „gerade einigen der Amerikaner aus dem Herzen gesprochen [zu haben], die ich ... für besonders asphalt- und betonverbunden gehalten hatte". Er lobte den „Typus des humanistischen Amerikaners Jeffersonscher Tradition" (Röpke an Rüstow, 22.4.1947, in: IWP, NL Röpke; Ders., 1976, S. 96). 57 Die Organisation, die er als „Acton-Tocqueville-Society" zu gründen beabsichtigte, sollte einen Gedankenaustausch im Stillen ermöglichen und das grelle Licht der Medien scheuen. Falls aber der Eindruck der Geheimniskrämerei entstand, das wußte er, würde das Interesse der Medien nur noch angestachelt. Bereits vor Beginn der Konferenz hatte die NZZ eine kurze Meldung gebracht, die auf einer Pressemitteilung der amerikanischen Foundation for Economic Education (FEE) beruhte. Welch seltsame Blüten die unbefriedigte Neugierde eines Journalisten treiben konnte, zeigte ein kurzer Bericht der Chicago Tribüne mit dem Titel „7 Nations Map Freedom Fight in Secret Talk", worin Hayek fälschlich als „Winston Churchills Berater in Wirtschaftsfragen" bezeichnet wurde. In dem Artikel hieß es, die Konferenz habe beschlossen, die Presse auszuschließen und mit einer nichtssagenden Erklärung abzuspeisen. „Dr. Hayek sagte, diese würde vorsichtig formuliert sein" und „keine Information beinhalten" (Noderer, 1947).

56

152 • Wandlungen des Neoliberalismus Hartwell, 1995, S. 49-50). Dieser setzte gleich zu Beginn einen klar ökonomischen Akzent: „Individuelle Freiheit kann nur in einer solchen Gesellschaft bewahrt werden, wo ein effektiver, kompetitiver Markt die hauptsächliche Agentur zur Lenkung wirtschaftlicher Aktivitäten ist." Weiter wurden die „Freiheit des Konsumenten", die „Freiheit des Produzenten" und die „Freiheit des Arbeiters" verteidigt. Bedingungen einer freien Gesellschaft sollten individuelle Handlungsfreiheit innerhalb eines „richtigen rechtlichen und institutionellen Rahmenwerks", sowie die Bindung der Regierungstätigkeit durch feste Regeln und rechtsstaatliche Prinzipien sein. Die letzten vier Punkte wandten sich gegen den „Trend zum Totalitarismus" außerhalb des Bereichs der Ökonomie, besonders gegen die Bedrohung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit. Dieser erste Entwurf für ein „Statement of Aims" verriet, insbesondere mit der Betonung der Wettbewerbsordnung, die „ordoliberale" Handschrift Euckens. Die folgende Beratung brachte jedoch keine Einigung. So wurde Robbins beauftragt, über Nacht einen zweiten Entwurf zu formulieren. Er fand die richtigen Worte und den Ton, der die Konferenz bald überzeugte (vgl. vollständiger englischer Wortlaut im Anhang). Mit einem Paukenschlag setzt das „Statement of Aims" an: „Die zentralen Werte der Zivilisation sind in Gefahr. Über weite Strecken der Erdoberfläche sind die wesentlichen Bedingungen menschlicher Würde und Freiheit schon verschwunden. In anderen Gebieten stehen sie unter einer ständigen Bedrohung durch die Entwicklung aktueller politischer Tendenzen. Die Position des Individuums und der freiwilligen Gruppe wird immer mehr durch die Ausdehnung willkürlicher Macht unterminiert. Selbst der wertvollste Besitz des Menschen im Westen, die Gedankenfreiheit, ist gefährdet durch die Verbreitung von Glaubenslehren, die für sich das Privileg der Toleranz in Anspruch nehmen, solange sie sich in einer Minderheitenposition befinden, und nach einer Machtposition streben, wo sie alle anderen Meinungen unterdrücken und auslöschen können" (ebd.). Zweifellos waren diese einleitenden Sätze der prekären Situation des Jahres 1947 angemessen. Ihnen folgte eine elegante, wenn auch vage Beschreibung des neoliberalen Weltbildes. Robbins' Text deutete vieles nur an. Im Gegensatz zum ersten Entwurf mied das „Statement of Aims" allzu enge Festlegungen. Statt eines flammenden Protests gegen den Vormarsch des Sozialismus begnügte es sich mit einer Klage über „einen Niedergang des Glaubens an Privateigentum und kompetitive Märkte". Es sei „schwer vorzustellen", wie eine Gesellschaft ihre Freiheit bewahren wolle ohne die „verteilte Macht und Initiative", die mit Privateigentum und Markt verbunden werde. Auch den Zielen der zu gründenden Gesellschaft näherte sich das Papier eher vorsichtig. In einem Katalog von sechs Punkten benannte es einen recht vielseitigen Forschungsauftrag: Erstens die „weitere Analyse und Erklärung der gegenwärtigen Krise" und ihrer wesentlichen moralischen und ökonomischen Ursachen, zweitens eine „Neudefinition der Funktionen des Staates, um klarer zwischen totalitärer und liberaler Ordnung unterscheiden zu können", drittens „Methoden zur Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts", viertens „Möglichkeiten zur Etablierung von [sozialen] Mindeststandards", die der Privatinitiative und dem Funktionieren des Marktes nicht hinderlich seien, fünftens „Methoden zur Bekämpfung des Mißbrauchs der Geschichte zur Förderung von freiheitsfeindlichen Glaubenslehren", schließlich „das Problem der Schaffung einer internationalen Ordnung, die der Erhaltung von Frieden und Freiheit förderlich ist" (ebd.). Das „Statement of Aims" ließ viele Fragen offen. Es bildete den kleinsten gemeinsamen Nenner der Gruppe von Wissenschaftlern und Publizisten, sparte aber alle heiklen Punkte

Der lange Weg zum Mont Pèlerin • 153 aus, besonders die konkrete Ausgestaltung der Marktordnung, der Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik und des Verhältnisses von ökonomischer Effizienz und politischer Freiheit, welche der erste Entwurf noch anzusprechen versucht hatte. Eindeutig schien allein das abschließende Bekenntnis zum rein akademischen Charakter der Gesellschaft. Den aktuellen Gefahren, die auf eine ideologische Bewegung zurückgingen, sei nur durch geistige Anstrengungen beizukommen. Angesichts der breiten Spanne an Positionen, mußte bei allen gemeinsamen Grundwerten doch interne Meinungsfreiheit garantiert sein. So hieß es im „Statement of Aims", man strebe nicht an, eine „hemmende Orthodoxie zu etablieren". In dieser Form konnten das Papier alle Teilnehmer bis auf Allais akzeptieren. 58 Unerwartet schwierig gestaltete sich am 9. April 1947 die Namensgebung der Gesellschaft (vgl. MPC, 1947n). Hayek hatte in der Einladung den Vorschlag zur Gründung einer „Acton-Tocqueville Society" wiederholt, doch wußte er bereits von den Bedenken vieler Teilnehmer. Die von ihm hoch verehrten historischen Persönlichkeiten Acton und Tocqueville wurden von anderen Diskutanten durchaus kontrovers beurteilt. Keiner stehe für etwas Ökonomisches, kritisierte Knight. 59 In den Augen von Mises hatte sich Tocqueville durch seine kurze Zeit im Dienste Napoleons disqualifiziert. Rappard, ein Calvinist und stolzer Genfer Bürger, konnte sich mit zwei Katholiken und Adeligen als Namensgebern nicht anfreunden. Grundsätzlich gegen eine Benennung der Gesellschaft nach Personen, statt nach Prinzipien sprach sich Friedman aus. Alternatiworschläge von Robbins („The Protagonist Society") und Popper („The Periclean Society") fanden keinen Anklang, bis schließlich Brandt als Noüösung „The Mont Pèlerin Society" einwarf. Das sei bedeutungslos, protestierte Popper. Doch mangels einer besseren Idee blieb es bei diesem Namen, dessen Übersetzung mit „Pilgerberg" vielfältige Interpretationen zuließ.60

58 Obwohl er seine „tiefe Übereinstimmung, was die Konzeption der ökonomischen und politischen Freiheit angeht", betonte, befürwortete Allais aber „den ewigen kollektiven Besitz des Bodens" (vgl. Allais an Hayek, 12.5.1947, Abschrift in: IWP, NL Hunold). Dazu brachte er eine Überlegung vor, die den übrigen Teilnehmern reichlich absurd erschien: Nach Allais' damaliger Überzeugung sollte die optimale Zinsrate bei Null liegen. Dann aber wären Vermögensgüter, die auf unbegrenzte Dauer Erträge abwerfen (wie der Boden) mit einem unendlichen Preis zu bewerten. Daher könnten sie nicht in privater Hand belassen werden (vgl. Hartwell, 1995, S. 42). Hunold ließ seinem Ärger über „diesen schrecklichen Allais und seinen ,planification'-Unsinn" freien Lauf (Hunold an Hayek, 31.10.1947, in: IWP, NL Hunold). Dennoch wurde Allais später Mitglied der Gesellschaft und hielt zumindest einmal einen Vortrag zur Geldpolitik (vgl. Allais, 1965). 59 In einem Interview erinnert sich Hayek später, abweichend vom MPS-Protokoll, es sei vor allem Knight gewesen, der sich gegen „zwei Katholiken" als Namensgeber einer „liberalen Bewegung" verwahrte (vgl. Ebenstein, 2001, S. 146). Vier Jahrzehnte nach dem Treffen schrieb Hayek an den Wiener Kardinal König, sein Vorschlag der Namensgebung nach Acton und Tocqueville sei „von einem fanatischen amerikanischen Liberalen als untragbar abgelehnt" worden (zit. n. Hennecke, 2000, S. 376). 60 Vgl. dazu die etymologischen Herleitungen von Horn (1997).

V. Aufbau, Strategie und Krise der MPS Um die Strategie der Mont Pèlerin Society ranken sich einige Mythen. Autoren aus dem sozialistischen Lager haben später einen zielgerichteten Plan zur Erringung einer „intellektuellen Hegemonie" behauptet. Damit verbunden war der latente Vorwurf unlauterer Methoden. Tatsächlich umschreibt das Gerede von der „intellektuellen Hegemonie" die relativ banale Einsicht, daß philosophische Ideen und wissenschaftliche Arbeiten langfristig großen Einfluß auf den Lauf der Geschichte haben können. In den Nachkriegsjahren, als die neoliberale Bewegung gegenüber der kollektivistischen Zeitströmung machtlos war, erschien der Gedanke an eine künftig zu erringende „intellektuelle Hegemonie" äußerst kühn. Zunächst war die MPS nur eine kleine Gruppe von isolierten Intellektuellen. Der organisatorische Aufbau ging derart schleppend voran, so daß kritische Stimmen die MPS zunächst als „lahme Gesellschaft" abtaten. Ungeachtet ihrer anfänglichen Bedeutungslosigkeit entwarf Hayek für die in der MPS zusammengeschlossenen Neoliberalen eine weitsichtige Strategie zur Wiederbelebung der Ideale einer freiheitlichen Gesellschaft. Er wollte die Tagespolitik weitgehend ignorieren, statt dessen sich auf wissenschaftliche Arbeit konzentrieren. Sein Aufsatz „The Intellectuals and Socialism" lieferte einen Schlüsseltext zu seinem Verständnis der Möglichkeiten einer politischen Wende: Nicht die Massen, die eher passiv seien, sondern die Meinungselite gelte es zu beeinflussen. Von den neoliberalen Intellektuellen forderte er mehr „Mut zur Utopie". Seine Vorstellungen konkurrierten mit Strategieüberlegungen anderer MPS-Mitglieder, die mehr direkte politische Einmischung forderten, sich damit aber nicht durchsetzen konnten. Die MPS wurde, nach der Vorstellung Hayeks, ein diskretes Forum zum intellektuellen Austausch. Gerade dieser rein akademische Ansatz machte für viele Neoliberale den Reiz aus. Bei den Treffen konnten sie im Kreise von Gleichgesinnten die Grundlagen ihrer Philosophie diskutieren. Die fünfziger Jahre wurden in diesem Sinne eine sehr erfolgreiche Zeit für die MPS: Schneller als erwartet kam man aus der totalen Defensive. Die Gesellschaft verzeichnete ein rasches Wachstum ihrer Mitgliederzahl, die bis 1961 auf über 250 stieg. Zahlreiche bedeutende Wissenschaftler, zudem auch wichtige Publizisten und Journalisten aus den Vereinigten Staaten, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und der Schweiz stießen zu ihr. Auch eine Reihe europäischer Politiker von Rang suchten dort intellektuellen Rückhalt. Trotz aller Erfolge in den fünfziger Jahren gab es auch Momente, in denen Hayek die Führung der Gesellschaft als schwere Belastung empfand. Zeitweilig lähmten persönliche Konflikte und Zerwürfnisse zwischen Mitgliedern die MPS, so daß Hayek an eine Auflösung der Gesellschaft dachte; nur das gelungene Jubiläum 1957 konnte ihn wieder für die MPS begeistern. Ende der fünfziger Jahre trübte sich die Stimmung in der Gesellschaft abermals ein. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand Albert Hunold, der Züricher Sekretär und Organisator der Gesellschaft. Ihm lastete eine Mehrheit der Mitglieder die Hauptschuld an dem sich zuspitzenden Konflikt an, in dessen Verlauf die MPS beinahe zerbrochen wäre. Im folgenden Kapitel soll untersucht werden, wo die Ursachen der großen Krise lagen. Eine detaillierte Darstellung ist nötig, um Mißverständnisse auszuräumen und überzogene Interpretationen richtigzustellen. Obwohl die sogenannte „Hunold-Affäre" ihren Anfang in persönlichen, nicht sachlichen Differenzen hatte, stand an ihrem Ende der Exodus einer Reihe wich-

156 • Wandlungen des Neoliberalismus tiger Mitglieder wie Röpke und Rüstow, der eine Verschiebung der Gewichte in der Gesellschaft wie auch im Neoliberalismus bewirkte.

1. Langsamer Anlauf der Aktivitäten Der Mont Pèlerin war 1947 kaum mehr als ein Fluchtpunkt der über die Welt verstreuten Neoliberalen. Sie kämpften gegen die anrollende Brandung kollektivistischer Ideen, suchten Halt in einer „Not- und Trutzorganisation" (Baader, 1999). Manch einer mochte am Mont Pèlerin der Verzweiflung nahe gewesen sein, vermutete Hartwell (1995, S. 35). Dennoch verloren sie nicht die Hoffnung. Friedman, der bis vor kurzem letzte Uberlebende des Gründungstreffens, meinte sogar: "Ich denke, man kann sagen, die Leute, die sich am Mont Pèlerin versammelten, waren insgesamt recht optimistische Leute." 1 Für viele der Teilnehmer wurde die Konferenz um die Ostertage des Jahres 1947 ein intellektuelles Erweckungserlebnis. Begeisterte Briefe an Hayek und Hunold geben einen Eindruck davon. S. R. Dennison lobte: „Es war eine einzigartige Gelegenheit, und ich fand sie ebenso angenehm wie lohnend" (Dennison an Hunold, 15.4.1947, in: HIA, MPS-Slg. 29). John Davenport erklärte, er habe „das Mont Pèlerin Treffen enorm genossen" (Davenport an Hunold, 18.6.1947, in: ebd.). Und Carl Iversen erinnerte sich stets gerne der „unvergeßlichen Tage am Mont Pèlerin. Noch nie habe ich an einer internationalen Zusammenkunft mit so wertvollen Diskussionen oder einmaligen Chancen für persönliche Kontakte teilgenommen" (Iversen an Hayek, 10. Juli 1948, in: ebd.). Ähnlich äußerte sich John Jewkes: „Ich hatte immer das Gefühl, daß die erste Konferenz von sehr großer Bedeutung war, indem sie es den liberalen Sozialwissenschaftlern ermöglichte, ihre Ansichten auszutauschen und persönliche Kontakte zu knüpfen. Seit der Konferenz hat es zwischen vielen der Mitglieder eine äußerst fruchtbare Zusammenarbeit gegeben" (Jewkes an Hunold, 20.12.1948, in: ebd.). Wichtig war also, daß es der kleinen Gemeinde neoliberaler Denker gelungen war, sich in der MPS nach dem Krieg wieder zu vernetzen. Nach 1939 waren viele Kontakte abgebrochen: Die deutschen Wirtschaftswissenschafder waren fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten; auch sonst hatte ein spärlicher Informationsfluß verhindert, daß neuere Entwicklungen international kommuniziert und diskutiert wurden. Die Amerikaner hatten kaum Kenntnisse von den neoliberalen Debatten in Europa. 2 Friedman etwa bekannte, es sei „schade, um das mindeste zu sagen, daß wir so wenig über die Arbeit der Europäer in derselben Tradition wissen" (Friedman an Hayek, 2.1.1947, in: HIA, Slg. Friedman 86-1). Besonders Eucken, der als einziger aus Deutschland zum Mont Pèlerin hatte kommen können, machte dort großen Eindruck. Er wirkte „sehr tief und glücklich auf die Teilnehmer ..., indem er in seiner so ehrlichen und klaren Art von den deutschen Erfahrungen erzählte" (Röpke an Rüstow, 24.4.1947, in: NL Röpke; Ders., 1976, S. 96-97). Friedman erinnerte sich noch Jahrzehnte später, mit welchem Vergnügen der aus dem zerbombten Freiburg ange1 Interview mit dem Verfasser, August 2004. Friedmans retrospektive Einschätzung der Stimmung mag im Licht der späteren Entwicklung zu positiv gefärbt sein. Friedman zufolge, der 1947 zu den jüngsten Teilnehmern gehörte, neigten eher die älteren Mitglieder der MPS zum Pessimismus. 2 Insofern erscheint die Behauptung Milene Wegmanns überzogen, der „Neoliberalismus war als ein System von Personen, die durch den Transfer von Ideen verbunden sind, spätestens 1935 voll ausgebildet" (Wegmann, 2003).

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 157

reiste Professor eine Orange aß, seine erste seit vielen Jahren. Das Treffen mit Eucken habe ihm verständlich gemacht, „wie es war, in einem totalitären Land zu leben, wie auch in einem Land, das von Krieg und Rigiditäten zerstört war, die ihm die Besatzungsmächte auferlegten" (Friedman/Friedman, 1998, S. 160). War Eucken in materieller Hinsicht ausgehungert, so doch gesättigt an Erfahrungen. Hayek betonte in seiner Eröffnungsansprache am Mont Pèlerin die Bedeutung ebenjener Zeugen, die selbst unter dem Totalitarismus gelebt hatten: Je weiter man nach Westen gehe, in Länder, wo liberale Institutionen noch verwurzelt und liberale Uberzeugungen noch vergleichsweise verbreitet seien, desto geringer sei die Bereitschaft zur Prüfung der eigenen liberalen Uberzeugungen, zugleich neige man zu Kompromissen. Dagegen stellte Hayek fest, in „jenen Ländern, die entweder direkt die Erfahrung eines totalitären Regimes gemacht haben oder nahe daran waren, haben ein paar Männer aus dieser Erfahrung eine klarere Konzeption der Bedingungen und des Wertes einer freien Gesellschaft gewonnen." Das Erleben des tatsächlichen Verfalls ihrer Zivilisation habe „unabhängigen Denkern auf dem europäischen Kontinent" Lektionen vermittelt, die in England oder Amerika noch zu lernen seien, „wenn diese Länder ein ähnliches Schicksal vermeiden wollen" (Hayek, 1947/1967, S. 149-150). In dieser Hinsicht waren die Deutschen des Freiburger Kreises in der MPS hochwillkommen. Die Gesellschaft leistete auch einen wichtigen Beitrag zur Reintegration deutscher Akademiker in die internationale Wissenschaftsgemeinde. 3 Sowohl Eucken, der Vertreter des „anderen Deutschlands", als auch die erstmals stark vertretenen Amerikaner bereicherten das Treffen am Mont Pèlerin. So betonte Michael Polanyi, die Konferenz sei „in vielerlei Hinsicht höchst erhellend für mich gewesen, da sie mir den ersten Blick auf den Kontinent nach den verhängnisvollen Jahren erlaubte und mir zugleich einen wichtigen Ausschnitt der amerikanischen Meinung eröffnete." Er habe neue Hintergründe erfahren, die anhaltend sein Denken beeinflussen würden. „Sowohl Ihnen als auch Hayek muß man zur Gründung der Mont Pèlerin Society gratulieren, die als Orientierung zum liberalen Gedankengut dienen wird" (Polanyi an Hunold, 19.4.1947, in: HIA, MPS-Slg. 5).4 Geradezu überschwenglich erklärte Karl Brandt: „Je mehr Zeit vergeht, desto mehr bekommt unsere Konferenz am Mont Pèlerin einen goldenen Heiligenschein". Das Treffen habe „mehr erreicht..., als man hoffen konnte (Brandt an Hunold, 11.6.1947, in: HIA, MPSSlg. 29). Zur Verklärung trug ein üppig bestücktes Fotoalbum bei, das Hunold allen Teilnehmern zu Weihnachten 1947 schickte. „Das wundervolle Album", bedankte sich Knight, werde ihn immer an ein „extrem erfreuliches Zusammentreffen" erinnern (Knight an

3 Wie Hayek es ausdrückte: „Eucken hatte einen außergewöhnlich großen Erfolg auf dieser Konferenz. Und ich glaube, daß dieser Erfolg Euckens im Jahr 1947 - als einziger Deutscher bei einer wissenschaftlichen internationalen Konferenz - ein wenig ... zur Rehabilitierung des deutschen Gelehrten [allgemein] in der Welt beigetragen hat" (Hayek, 1983a, S. 18). Durch Vermitdung von Hayek konnte Eucken schon 1948 in der LSE-Zeitschrift Economica zwei längere Artikel zur lähmenden Zentralwirtschaft in Deutschland veröffentlichen (vgl. Eucken, 1948a; 1948c). 4 Polanyi, ursprünglich Chemiker, dessen Sohn John später den Chemie-Nobelpreis erhalten sollte, orientierte sich zu dieser Zeit immer stärker zu wissenschaftstheoretischen und ökonomischen Fragen. 1948 richtete ihm die Universität Manchester einen neuen Lehrstuhl für Social Sciences ein. Sein wichtigster Beitrag auf diesem Gebiet wurde die Erkenntnis der Bedeutung von erfahrungsbedingtem „tazitem" Wissen, das nicht oder nur schwer verbal zu vermitteln sei. Diese Theorie ergänzte Hayeks wissenstheoretische Argumentation zugunsten des Marktes als Koordinierungsmechanismus. Zudem kritisierte Polanyi eine zu starke staatliche Einmischung in Forschung und Wissenschaft.

158 • Wandlungen des Neoliberalismus

Hunold, 16.1.1948, in: ebd.). Auch Popper sagte „Danke ... für das wirklich herrliche Weihnachtsgeschenk". Es habe „Heimweh ausgelöst nach Ihrem wundervollen Land und der wunderbaren Zeit, die wir am Mont Pèlerin hatten" (Popper an Hunold, 9.1.1948, in: ebd.). In das allgemeine Lob mischten sich bald aber auch kritische Töne. Erste Stimmen fragten, warum die Gesellschaft nach ihrem Gründungstreffen so lange untätig bleibe. Während sich Frank Knight, Aaron Director und Charles O. Hardy um eine Eintragung der MPS ins Vereinsregister bemühten, hörten die Gründungsmitglieder vom Mont Pèlerin viele Monate nichts mehr von Hayek. Die lange Verzögerung verunsicherte sie. Laut der im „Statement of Aims" dargelegten Uberzeugung der Neoliberalen war doch die Gefahr einer Auslöschung der Freiheit ganz immanent. Felix Morley merkte an, es scheine ihm, die MPS gehe wohl „nicht sehr aggressiv" vor (Morley an Hunold, 5.1.1948, in: ebd.). Eucken mahnte, „wir sollten nicht mehr Zeit verlieren und unsere Gesellschaft mobilisieren, wie sie es verdient" (Eucken an Hunold, 20.1.1948, in: ebd.). Mises schließlich schrieb, es seien „nahezu 10 Monate seit unserer Konferenz verstrichen, ohne daß irgendeine Tätigkeit bemerkbar wurde. Glauben Sie nicht auch, daß das wenig erfreulich ist?" (Mises an Hunold, 22.1.1948, in: ebd.). Hayek selbst gab zu, er sei „ziemlich beunruhigt über das Ausbleiben von irgendeiner wirklichen Fortsetzung zur Mont Pèlerin Konferenz" (Hayek an Read, 22.1.1948, in: ebd.). Immer dringlicher meldete nun Hunold, er höre von verschiedenen Seiten, die MPS werde als „lahme Gesellschaft" abgetan (Hunold an Hayek, 14.5.1948, in: ebd.).

2. „Kampf der Ideen" und „Mut zur Utopie": Hayeks strategische Perspektive Hayek schätzte wie viele andere die unmittelbaren Aussichten für das Uberleben freiheitlicher Gesellschaften als düster ein, richtete aber den Blick weit in die Zukunft. Wie alle Neoliberalen, die sich 1947 zusammenschlössen, sah er Geschichte als offenen Prozeß. Deterministische Vorhersagen eines angeblich zwingenden Übergangs in eine post-liberale Welt, etwa Schumpeters beunruhigendes Spätwerk „Capitalism, Socialism and Democracy", lehnten sie entschieden ab. So kritisierte Röpke an derartigen Prophezeiungen einen fatalistischen Grundtenor, der eine Schwächung der Abwehrkräfte gegen den Sozialismus bewirke (vgl. Röpke, 1948). Glaubten Marxisten an gesetzmäßig wirkende ökonomische Kräfte, die unabwendbar den Lauf der Dinge bestimmten, betonte Hayek die „Macht der Ideen, unsere Zukunft zu gestalten" (1947a/1967, S. 154).5 Nach der orthodoxen Lehre Marx' waren moralische Werte und Ideale, der „Uberbau", nur von sekundärer Bedeutung, da Ausdruck objektiver materieller Interessen. Die Neoliberalen dagegen sahen die von Intellektuellen geschaffenen Vorstellungswelten als entscheidend an, die intellektuelle Elite sei treibende Kraft der Geschichte. „Nicht das Volk, nicht die Massen wurden zuerst sozialistisch ..., sondern die Intellektuellen. Sie und nicht die Massen sind die Träger des Sozialismus", schrieb Mises in „Die

5 Die marxistische Vorstellung von „Bewegungsgesetzen" der Geschichte hatte Popper in seiner auf Betreiben Hayeks in Economica veröffentlichten Studie „The Poverty of Historicism" als unwissenschaftliche Geschichtsprophede abgetan (vgl. Popper, 1944 u. 1945/1979, S. 33-39, passim).

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 159

Gemeinwirtschaft" (Mises, 1922/1981, S. 472). Hayek folgte dieser Einsicht in seinem Aufsatz „The Intellectuals and Socialism" von 1949. Darin betonte er wie Mises, daß der Sozialismus „kaum je ursprünglich eine Bewegung der Arbeiterklasse" war (Hayek, 1949/1992, S. 41). Trotz ihrer „materialistischen" Doktrin habe die Linke den „Kampf der Ideen" und die „Schlüsselstellung der Intellektuellen" recht klar verstanden, während „konservative Gruppen sich meist von einer recht naiven Vorstellung von einer Massendemokratie leiten ließen und sich vergeblich bemühten, direkt an den einzelnen Stimmträger heranzukommen und ihn zu überzeugen" (ebd., S. 42). Der Begriff der „Masse" hatte seit Ortega y Gassets Buch „Der Aufstand der Massen", das in den dreißiger Jahren Furore machte, auch in neoliberalen Kreisen einen zunehmend negativen Beigeschmack. Der noch im neunzehnten Jahrhundert viele Liberale beseelende demokratische Optimismus war verschwunden. Viele Neoliberale empfanden die politische Verführbarkeit psychologisch labiler Wählermassen als Gefahr, wie sie Gustav Le Bon beschrieben hatte. 6 Ortegas Studie, die das Aufkommen von Bolschewismus und Nationalsozialismus als Massenbewegungen plausibel machen wollte, zeichnete eine insgesamt dunkle Vision der modernen Gesellschaft: Bevölkert von geistig trägen, primitiven und hemmungslos hedonistischen Durchschnittsmenschen, sei die Massengesellschaft leichte Beute von Demagogen. Der Massenmensch, so Ortega, sehe den Staat als anonyme Macht und wähne sich mit ihm identisch. Sobald „im öffentlichen Leben eines Landes irgendeine Schwierigkeit, ein Konflikt, ein Problem auftaucht", fordere er, „daß der Staat sich sofort damit befasse und sie mit seinen riesenhaften und sicher wirkenden Mitteln direkt zu lösen unternehme" (Ortega y Gasset, 1930/1967, S. 89). Als die größte Gefahr für die moderne Zivilisation erkannte der spanische Gelehrte daher „die Verstaatlichung des Lebens, die Einmischung des Staates in alles, die Absorption jenes spontanen sozialen Antriebs durch den Staat" (ebd.). Letztlich würden alle schöpferischen Kräfte der Gesellschaft durch immer neue staatliche Interventionen vergewaltigt und gefesselt. Die Flucht der Massen vor Verantwortung und ihr Wunsch nach sozialer Absicherung, so Ortega, lade damit den totalitären Staat ein, die Entmündigung der Bürger zu betreiben. „Wie sollte man nicht fürchten, daß der Staat unter der Herrschaft der Massen alle unabhängigen Individuen und Gruppen erdrückt und so die Zukunft zu einer Wüste machen wird!" (ebd., S. 91). Solche Sätze berührten die Kernanliegen des Neoliberalismus. Eucken hatte von der „Zerstörung des liberalen Staates, die ... hauptsächlich von den Massen erzwungen wurde", geschrieben (Eucken, 1932, S. 319). Und Röpke griff die These der „Vermassung" in seiner Trilogie mehrfach explizit auf, er teilte Ortegas Pessimismus in vielen Punkten (vgl. Röpke, 1944, S. 239-246).

Der Begriff „Masse" kam im neunzehnten Jahrhundert als soziologische Kategorie auf, als durch Bevölkerungszuwachs und Landflucht erstmals große Menschenmassen sich in den Städten sammelten. Hatten viele frühen Liberalen und Demokraten in ihrem Kampf gegen feudale Privilegien noch die unteren Schichten, das „Volk", als potentielle Verbündete betrachtet, war bald zu beobachten, etwa 1789 oder 1830 in Frankreich und 1848 in Deutschland, daß ein Teil der Liberalen eine radikale politische Demokratisierung nun ablehnte. Sie fürchteten ein Abgleiten der bürgerlichen Emanzipation in eine jakobinische oder sozialistische Revolution. Die Studie „Liberalismus und Demokratie" von Johann Baptist Müller liefert, trotz problematischer Wertungen im Detail, eine brauchbare Unterscheidung zwischen „demokratischen" und der „elitendemokratischen" Schulen des Liberalismus. Letzterer ordnet er die Neoliberalen, vor allem Röpke, zu (vgl. Müller, 1978, S. 102-113). Zur Spannung zwischen bürgerlichem Liberalismus und massendemokratischer Gesellschaft vgl. auch Kondylis (1986, S. 169-188). 6

160 • Wandlungen des Neoliberalismus Auch Hayek, der Ortega y Gasset zum Gründungstreffen der MPS eingeladen hatte, wußte um die oft geringe Wertschätzung, die moderne „Massenmenschen" ihrer politischen und wirtschaftlichen Freiheit entgegenbrachten, doch vermied er allzu kulturkritische Töne. Das Problem der Massen schien Hayek lösbar, falls die Ursache der ganz überwiegend sozialistischen Tendenz der Intellektuellen verstanden und bekämpft werden könnte. In London hatte er das Beispiel der Fabianer vor Augen. Deren jahrzehntelange Bearbeitung der öffentlichen Meinung war mitverantwortlich für den langfristigen Durchbruch des Sozialismus in Großbritannien. Noch rascheren Erfolg hatte Keynes gehabt, dessen „General Theory" eine Revolution des wirtschaftlichen Denkens in Gang gesetzt hatte. Wenn Hayek auch nur selten einer Meinung mit Keynes war, so nahm er dessen Ausführungen zur Macht der Ideen sehr ernst. Die von den Intellektuellen gelenkte öffentliche Meinung definierte demnach den Rahmen des politisch Möglichen. Hayek erkannte, wie eng die Spielräume nach dem Krieg für neoliberale Ansätze gesteckt waren. Hoffnung auf eine Wende bestand demnach nur, wenn die Orientierung der Intellektuellen, die das Meinungsklima bestimmten, beeinflußt werden könne. Schon Mises hatte geschrieben: „Ideen können nur durch Ideen überwunden werden. Den Sozialismus können nur die Ideen des Kapitalismus und des Liberalismus überwinden. Nur im Kampf der Geister kann die Entscheidung fallen" (Mises, 1922/1981, S. 471). Allerdings hatte man ins „Statement of Aims" der MPS den Passus aufgenommen, die Gesellschaft wolle „keine Propaganda betreiben" und „einzig" dem Gedankenaustausch dienen. Sollte dies heißen, daß sie auf jegliche Außenwirkung verzichte? Waren ihr durch diese Bestimmung nicht die Hände gebunden? Zu den Mitgliedern, die eine direkte Bearbeitung der öffentlichen Meinung und der Politik befürworteten, gehörte Karl Brandt. Bei einer Sitzung des Direktoriums der MPS im September 1948 in Basel erklärte er: „Wenn unsere Arbeit nicht in sechs Jahren beendet ist, wird es überhaupt keinen Sinn mehr machen." Unter dem Dach der Gesellschaft befänden sich eigentlich zwei Gruppen, so Brandt: Die einen seien von der aktuellen politischen Gefahr und der Dringlichkeit zur Gegenaktion so beeindruckt, daß sie unmittelbare Aktionen forderten, da sonst „die Welt im Kollektivismus versinken" werde. Die andere Gruppe dagegen wolle sich auf wissenschaftliche Arbeit konzentrieren und nicht in die Arena der Politik eintreten (Protokoll vom 19.9.1948, in: HIA, MPS-Slg. 1). Brandt zählte sich selbst zur ersten Gruppe und forderte mehr direkte Aktion. Jacques Rueff schlug, unterstützt von Rappard, die Veröffentlichung eines „liberalen Manifests" vor, doch Hayek erinnerte an die Schwierigkeiten 1947, sich auf einen gemeinsamen Text zu einigen. Mit Hayek betonten Eucken und Antoni, daß der Hauptzweck der Gesellschaft ihr akademischer Charakter, nicht politische Interventionen seien. Unbedingt müsse die Wissenschaftlichkeit gewahrt werden, merkte auch Friedrich Lutz an (vgl. ebd.; vgl. auch Hartwell, 1995, S. 82-83). Obwohl die Mehrheitsmeinung gegen ihn stand, ließ Brandt nicht locker und verschickte am 28. Juni 1949 ein Memorandum zur Zukunft der MPS (in: HIA, MPSSlg. 6). Falls die Lageanalyse im „Statement of Aims" richtig sei, daß die zentralen Werte der Zivilisation und der freien Gesellschaft in Gefahr seien, dann müsse nun energisch gehandelt werden, drängte er, „wenn wir nicht unsere Gelegenheit verpassen wollen, unseren Beitrag zur Sache der Freiheit zu machen". Die Bestimmung, keine Publikationen zu verbreiten, lähme die Gesellschaft (ebd.).

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 161

In der Tat konkurrierten hier zwei verschiedene Strategien in der MPS. Immer wieder drangen Brandt und auch Hunold auf verstärktes öffentliches Wirken, doch Hayek zeigte kein Interesse daran. Die Gefahr seiner Strategie, allzu geheimbündlerisch zu werden, hatte Röpke gesehen, der 1947 angesichts der Arbeits- und Organisationsweise der MPS meinte, diese könne kaum mehr als „eine Art fünfter Kolonne des Liberalismus, eine Art liberaler Freimaurerei" sein (Röpke an Rüstow, 24.4.1947; Ders., 1976, S. 97). Nach Hayek, dessen strategische Weichenstellung bei der Vorstandssitzung in Basel angenommen wurde, sollte die MPS sich darauf beschränken, in diskreter Weise den intellektuellen Austausch zu ermöglichen und Anziehungskraft auf akademische Meinungsführer auszuüben. Dieser elitäre Ansatz fand sich schon in Mises' frühen Gedanken zum Thema: „Die Massen denken nicht; das ist richtig. Doch gerade darum folgen sie jenen nach, die denken. Die geistige Führung der Menschheit haben die ganz wenigen, die selbst denken; sie wirken zunächst auf den Kreis derer ein, die das von anderen Gedachte zu fassen und zu begreifen fähig sind; auf dem Wege über diese Mitder gelangen die Ideen in die Massen hinaus und verdichten sich dort zur Zeitmeinung", hieß es in „Die Gemeinwirtschaft" (Mises, 1922/1981, S. 472). Diese Sätze waren zwar auf die Strategie der Sozialisten gemünzt, hatten aber ebenso Gültigkeit für die Sache der Neoliberalen. Hayek übernahm und verfeinerte die Konzeption einer mehrfachen Abstufung der Öffentlichkeit in seinem Aufsatz „The Intellectuals and Socialism". Er unterschied hier zwischen zwei Typen von Intellektuellen. Zur „Klasse" der Intellektuellen gehörten demnach zum einen die „originellen Denker" und „echten Gelehrten", zum anderen die „berufsmäßigen Ideenvermitder", worunter Journalisten, Lehrer, Geistliche, Schriftsteller, Künsder und Schauspieler wie auch Vertreter freier Berufe zählten, deren Meinung mit Respekt gehört werde (Hayek, 1949/1992, S. 42-43). Von den „berufsmäßigen Ideenvermitdern" („second-hand dealers in ideas") hatte Hayek keine hohe Meinung. „Der typische Intellektuelle braucht kein spezielles Wissen auf irgendeinem Gebiet, er braucht nicht einmal besondere geistige Fähigkeiten zu besitzen, um seine Rolle als Vermitder in der Verbreitung von Ideen zu spielen" (ebd., S. 42). Trotz ihres oberflächlichen Wissens und ihrer beschränkten Fähigkeiten herrschten sie als Schleusenwächter über den Fluß der Nachrichten und Ideen. Ihre Uberzeugungen wirkten „wie ein Sieb, durch das neue Vorstellungen hindurch müssen, bevor sie die Massen erreichen können" (ebd., S. 44). Besonders betonte Hayek die Freude der linksgerichteten Intellektuellen an utopischen Entwürfen, an „spekulativen Konstruktionen", für eine vermeintlich rationale Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft (ebd., S. 49). Im nichtsozialistischen Lager erkannte Hayek dagegen viel Mittelmaß. Den „Liberalen alten Schlages" fehle der Weitblick, beklagte er, sie seien nur mit der Bewältigung von Tagesproblemen beschäftigt. Ebenso die „Männer der Praxis", die eine Karriere in der Wirtschaft verfolgten und vor allem „vernünftig" und „praktisch" dächten. Der nichtsozialistische Intellektuelle lasse sich nicht auf langfristige Spekulationen ein. Andernfalls laufe er Gefahr, „als unorthodox oder sogar als halber Sozialist betrachtet zu werden, weil er nicht bereit ist, die bestehenden Zustände mit jener freien Gesellschaftsordnung zu identifizieren, die er anstrebt" (ebd., S. 50-51). Die langfristige Perspektive, die Hayek zur Renaissance des liberalen Denkens einnahm, erforderte also weniger Konformismus, mehr Phantasie und größere intellektuelle Anstrengungen: „Was der echte Liberalismus vor allem aus dem Erfolg der Sozialisten lernen muß, ist, daß es ihr Mut zur Utopie war, der ihnen die Unterstützung der Intellektuellen gewann und damit jenen Einfluß

162 • Wandlungen des Neoliberalismus auf die öffentliche Meinung gab, der schrittweise das möglich machte, was eben noch unmöglich schien" (ebd., S. 53-54). 7 Spätere linke Kritiker haben die Strategie Hayeks, die Intellektuellen für sich zu gewinnen, zuweilen als eine sinistre Methode darzustellen versucht. Ab den achtziger Jahren, beginnend mit Stuart Hall, kam in marxistischen Kreisen eine an Gramsci angelehnte „hegemonietheoretische" Interpretation des Erfolgs der britischen Premierministerin Thatcher in Mode, die Wissenschaftler und Publizisten als die eigentlichen Stützen der marktwirtschaftlichen Wende bezeichnete (vgl. etwa Desai, 1995). Auf solchen Arbeiten aufbauend, haben auch Plehwe und Walpen untersucht, wie „Wissenschaft und wissenschaftspolitische Produktionsweisen im Neoliberalismus" erfolgreich waren (Plehwe/Walpen, 1999); schließlich hat Walpen (2004, passim) seine Arbeit zur MPS mit Hinweisen auf „hegemoniale" Bestrebungen gespickt. Ein weiterer Vertreter dieser Kritik ist Nordmann, der explizit von einer „Verschwörung" spricht und die MPS „als Kernorganisation und Kampfinstrument eines großen Plans zu einem neoliberalen Griff nach der Macht" sieht (Nordmann, 2005, S. 223). 8

3. Organisation und Aufbau der Gesellschaft: Das Tandem Hunold und Hayek Zunächst einmal mußten aber die konkreten organisatorischen Probleme gelöst werden. Nach langem Warten kam es am 6. November 1947 zur Eintragung der Mont Pèlerin Society als „General Not For Profit Corporation" ins Vereinsregister des Staates Illinois. Der Zweck der Gesellschaft lautete: „Förderung des Studiums der politischen, ökonomischen, historischen, moralischen und philosophischen Aspekte der Zivilgesellschaft, die sich auf die Institutionen und organisatorischen Bedingungen beziehen, die mit Gedanken- und Handlungsfreiheit vereinbar sind". Unterzeichnet wurde die Eintragungsurkunde mit der Nummer 4992 von den drei Chicagoer Professoren Frank H. Knight, Aaron Director und Charles O. Hardy, der zu dieser Zeit beim Komitee für Wirtschaftsberichte des Senats in Washington beschäftigt war. Als „Officer" der Gesellschaft wurden neun Personen aufgeführt: Hayek, Hardy, Eucken, Knight, Director, Jewkes, Hunold, Rappard und Rueff (vgl. „Certificate No. 4992", State of Illinois, 6.11.1947, in: HIA, MPS-Slg. 29).

Angefangen mit Thomas Morus' Bericht vom Wunderland „Utopia", übten radikale utopische Gesellschaftsentwürfe tatsächlich starke Faszination aus. Besonders Sozialisten fanden Gefallen am Gemeinwesen von „Utopia", das laut Morus in einem perfekt organisierten, den Idealen der „Gerechtigkeit" und der „Solidarität" verpflichteten Staat lebte. Die Utopier besaßen kein privates Eigentum und waren rundum staatlich versorgt, von geregelten Mahlzeiten mit paralleler moralischer Unterweisung bis hin zur kollektiven Freizeitgestaltung. Als Preis für die staatliche, normierte Fürsorge mußten die Utopier auf jegliche Individualität, Privatsphäre und Freiraum für eigene Initiativen verzichten und hatten persönliche und familiäre Entmündigung, Überwachung und Zwangsarbeit zu ak2eptierten. Schon bei Morus waren also die wesentlich autoritären, ja totalitären Züge des utopisch-sozialistischen Staatswesens unschwer erkennbar (vgl. dazu Starbatty, 1976). Zur generellen Problematik des utopischen Denkens vgl. Fest (1991), der mein: „Es gibt keine liberale Utopie" (ebd., S. 95). 8 Er klagt zudem an: „Die Hayeksche Intellektuellenstrategie respektiert keineswegs den in den Verfassungen vorgesehenen Weg der politischen Partizipation. Das Ziel ist die Beeinflussung diverser Gruppen, die wiederum die Massen beeinflussen." Da eine freie Wahlentscheidung damit „nur noch als Farce denkbar ist, verhöhnte Hayek die Souveränität der demokratischen Willensbildung" (Nordmann, 2005, S. 223). 7

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 163

Am Mont Pèlerin hatte man die Aufgabenverteilung in einem „Memorandum of Association" festgelegt. Neben Hayek als Präsidenten der Gesellschaft waren die Vizepräsidenten Eucken, Jewkes und Rappard, zwei Sekretäre, Director und Hunold, und ein ungenannter Schatzmeister vorgesehen (vgl. Hartwell, 1995, S. 56). Die auf dem Memorandum aufbauende Satzung der MPS sah ein neunköpfiges Vorstandsgremium („Board of Directors") vor, dem neben dem Präsidenten die fünf Vizepräsidenten, zwei Sekretäre und der Schatzmeister angehörten. Ihnen zur Seite stand ein „Rat" („Council") mit sechs weiteren gewählten Mitgliedern. Die Organisation all dieser Ämter und Gremien war etwas unübersichtlich (vgl. ebd.). Eine strikte Kompetenzabgrenzung wurde ohnehin nie eingehalten. Engagierte Mitglieder ergriffen, nach kurzer Absprache mit dem Präsidenten oder einzelnen Vorständen, eigene Initiativen, ohne stets die formelle Genehmigung des ganzen Vorstands oder gar des Rats einzuholen. Gemeinsame Sitzungen waren nur äußerst schwierig durchzuführen und mit erheblichen Kosten verbunden, da sie Reisen über den Adantik voraussetzten. Eine briefliche Absprache aller fünfzehn Gremiumsmitglieder erschien ebenfalls zu aufwendig. Die eher spontane Arbeitsteilung in der MPS funktionierte ein Jahrzehnt lang recht gut, wobei das Tandem Hayek und Hunold den größten Teil der organisatorischen Last trug. Der Präsident und sein Europäischer Sekretär planten die Treffen weitgehend selbständig (der Amerikanische Sekretär trat kaum in Erscheinung). Unverzichtbar für die Gesellschaft waren dabei Hunolds Organisationstalent, seine Einsatzfreude sowie seine unermüdlichen Anstrengungen um Spenden. Dank seines Engagements konnte so endlich im Juli 1949 eine zweite Tagung der MPS mit 56 Teilnehmern in Seelisberg stattfinden, malerisch am Vierwaldstädter See gelegen. Nicht weit davon entfernt hatten die Schweizer Eidgenossen ihren berühmten Rütli-Schwur geleistet — ein freiheitliches Bekenntnis, das Hunold bewußt in Beziehung zu den Bemühungen der MPS setzte. Wie am Mont Pèlerin wurden in Seelisberg Vorträge zu ökonomischen und sozialphilosophischen Fragen gehalten, das Schicksal des Liberalismus, diesmal am Beispiel Frankreichs seit dem Krieg, erörtert und die Positionen des Neoliberalismus kontrovers diskutiert. 9 Die Gesellschaft hatte damit ihre Arbeit aufgenommen, was allgemein sehr begrüßt wurde. Ihren zunehmenden Erfolg bei der weltweiten Vernetzung faßte Hayek (1952, S. 730) in die Sätze: „Vorbei sind die Tage, als ein paar altmodische Liberale einsam ihres Weges schritten, verlacht und ohne Anklang bei der Jugend ... Wenigstens sind jetzt persönliche Kontakte zwischen den Vertretern des Neoliberalismus etabliert worden." 1950 fand im holländischen Bloemendal eine Tagung statt. 1951 traf man sich in Beauvallon, einem Städtchen an der französischen Riviera, 1953 ging es erneut nach Seelisberg, 1954 gab es ein Treffen in Venedig. 1956 tagte die MPS in West-Berlin, 1957 verlegte man das Treffen zum zehnjährigen Gründungsjubiläum nach St. Moritz. Mit der Konferenz in Princeton 1958 schaffte die MPS erstmals den Sprung von Kontinentaleuropa nach Amerika, 1959 traf man sich in Oxford, 1960 in Kassel, 1961 in Turin und 1962 im belgischen Badeort Knokke. 10 Hunold ' Im 6. Kapitel werden die wichtigsten Themenkreise sowie Positionen der MPS-Neoliberalen analysiert. 10 Gute Zusammenfassungen der Vorträge und Diskussionen finden sich, beginnend ab 1949, in meist ganzseitigen Artikeln der NZZ, ab 1958 auch in der FAZ. Zur MPS-Tagung in Seelisberg vgl. Mötteli (1949), zu Bloemendal vgl. Hunold (1950), zu Beauvallon vgl. Mötteli (1951), zu Seelisberg vgl. Mötteli (1953a, 1953b), zu Venedig vgl. Ottinger (1954a, 1954b, 1954c), zu Berlin vgl. Bieri (1956a, 1956b), zu St. Moritz vgl. Bieri (1957) und Schoeck

164 • Wandlungen des Neoliberalismus achtete stets darauf, die Zusammenkünfte der Gesellschaft in einer angenehmen Umgebung abzuhalten. In Venedig belegte er beispielsweise Räumlichkeiten bei der Fondazione Cini in einem umgebauten Kloster auf der Insel San Giorgio Maggiore gegenüber dem Markusplatz. Die anstrengende Abfolge der Vorträge und Diskussionen verstand er mit einem kulturellen Rahmenprogramm aufzulockern. Mal stand ein abendliches Konzert auf dem Programm, mal ein Museumsbesuch oder ein Ausflug zu touristischen Sehenswürdigkeiten. Wie schon bei der Gründung erwies sich die Zusammenarbeit zwischen Hayek und Hunold als Glücksfall. Während der eine den programmatischen Kurs im Groben absteckte, kümmerte sich der andere um die organisatorischen Details. Obwohl Hunold wie Brandt von seinem Naturell mehr zu direkter, kämpferischer Aktion neigte, unterwarf er sich der Vorstellung Hayeks und der Mehrheit des Council. Nur gelegentlich überkam ihn der Drang, die MPS müsse „unbedingt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit treten und aufhören, die Rolle des Mauerblümchens zu spielen" (Hunold an Rüstow, 23.2.1953, in: HIA, MPS-Slg. 7).11 Nach außen vertrat Hunold die gegensätzliche Meinung. In einem Beitrag für die NZZ schrieb er, daß es sich bei der Arbeit der MPS „keineswegs um eine politische Aktion mit Programm, Resolutionen und Manifesten handeln dürfe", weshalb die Gesellschaft vermeide, in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten: „Ganz im Sinne liberaler Tradition wollten die einzelnen Mitglieder individuell und persönlich wirken und sich nicht hinter Programmen und Resolutionen verschanzen, die für den Wiederaufbau einer freien Welt nur dürftige Nahrung geliefert hätten." Nicht auf dem Kollektiv der Gesellschaft liege das Schwergewicht, sondern „in den schöpferischen Einzelpersönlichkeiten" (Hunold, 1955).

4. Die wichtigsten Mitglieder und Redner in den fünfziger Jahren Tatsächlich lebte die MPS vom Engagement der bedeutenden akademischen wie auch politischen Persönlichkeiten, die nach und nach zu ihr stießen. Stolz war die Gesellschaft auf einige große Namen aus der Politik, allen voran der deutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der auf Vermittlung Euckens Mitglied wurde, oder der italienische Staatspräsident Luigi Einaudi, mit dem Röpke bekannt war. Ebenso imposant erschien die akademische Elite, die sich im Laufe der Jahre in der MPS versammelte. Alle vier Entstehungszentren des Neoliberalismus, die Freiburger, die Österreichische, die Londoner und die Chicagoer Schule, sowie noch Gruppen aus Frankreich und Italien waren repräsentiert und befruchteten sich gegenseitig. Prägend war die starke Präsenz deutscher Wissenschaftler in der MPS, zu denen ebenso die beiden Emigranten Röpke und Rüstow zu zählen sind. Auch nach dem frühen Tode

(1957), zu Princeton vgl. Bieri (1958a, 1958b) und Welter (1958), zu Oxford vgl. Reich (1959), Linder (1959) und Hamm (1959), zu Kassel vgl. Linder (1960a, 1960b) und Grün (1960a, 1960b), zu Turin vgl. Mötteli (1961a, 1961b) und Grün (1961a, 1961b, 1961c), und zu Knokke vgl. Grün (1962a, 1962b) und Eick (1962a, 1962b). 11 Für Hayeks Zurückhaltung hatte er eine eigene Erklärung entwickelt. Er nannte es „merkwürdig: Hayek ist so ein mutiger Mann, hat aber vielleicht einfach Befürchtungen wegen der nicht immer guten Erfahrungen, die er mit dem ,Weg in die Knechtschaft' gemacht hat, als er ursprünglich und ohne es zu wollen in den politischen Kampf hineingerissen wurde. Ich habe aus diesem Grunde großes Verständnis für seine Hemmungen" (Hunold an Rüstow, 23.2.1953, in: HIA, MPS-Slg. 7).

Aufbau, Strategie und Krise der M P S • 165 Euckens 1950 war die ordoüberale Gruppe in der MPS damit massiv vertreten: Mit dem Juristen Fran2 Böhm und dem Ökonomen Constantin von Dietze gehörten ihr zwei Vertreter der ersten Stunde des Freiburger Kreises an, weiter noch Euckens Assistenten K. Paul Hensel und Hans Otto Lenel sowie seine Schüler Friedrich A. Lutz, der ab 1953 in Genf lehrte, und Fritz W. Meyer, der in Bonn einen Lehrstuhl innehatte und später zu einem der Gründungsmitglieder des Sachverständigenrats berufen wurde. Wichtige Vertreter des ordoliberalen Wirtschaftsdenkens in der frühen Bundesrepublik waren noch der an der Universität zu Köln lehrende Günter Schmölders sowie Bernhard Pfister von der Universität München und zugleich Vorstand des Ifo-Instituts. 12 Schließlich spielte Alfred Müller-Armack eine wichtige Rolle, der in Erhards Ministerium die Grundsatzabteilung leitete und vor der MPS mehrfach Überlegungen zur deutschen Wirtschaftspolitik vortrug. Weitere frühe deutsche Mitglieder der MPS, die Erwähnung verdienen, waren die einflußreichen Journalisten Erich Welter und Hans Otto Wesemann sowie der Frankfurter Publizist Volkmar Muthesius, der eher der österreichischen Sicht des Neoliberalismus zuneigte.13 Die große Gruppe der Amerikaner, die von Beginn an mehr als ein Drittel der Mitglieder der MPS ausmachte, wurde dominiert von Wissenschaftlern der Chicagoer Schule, dem wichtigsten akademischen Stützpunkt des Neoliberalismus in den Vereinigten Staaten. Schon 1947 waren diese mit Knight, Director, Friedman sowie George Stigler stark vertreten. In den fünfziger Jahren traten der MPS aus Chicago weitere namhafte Ökonomen, darunter Lloyd W. Mints, W. Allan Wallis und Yale Brozen bei. Dazu kamen noch einige weitere weniger bekannter Professoren, viele von der Law School, die das Chicagoer Kontingent ergänzten.14 Zu einem zweiten, kleineren Stützpunkt der MPS entwickelte sich das Wabash College in Crawfordsville, Indiana, wo Benjamin Rogge und John van Sickle tätig waren. Gute Beziehungen bestanden auch zum Brooklyn College in New York, mit dessen Rektor Harry D. Gideonse sowohl Hayek als auch Röpke seit den späten dreißiger Jahren befreundet waren. Einen einflußreichen politischen Posten hielt Friedmans akademischer Mentor Arthur Bums, der unter Eisenhower zum Vorsitzenden des Council of Economic Advisers berufen wurde, dessen Vorsitz später Herbert Stein innehatte, der in den späten fünfziger Jahren MPS-Mitglied wurde. Eines der politisch aktivsten amerikanischen Mitglieder der Gesellschaft war der an der Universität Stanford lehrende Karl Brandt, der zeitweilig Berater von Präsident Eisenhower war. Zunehmende Bedeutung in der Gesellschaft erlangten aufgrund herausragender wissenschaftlicher Arbeiten die jüngeren Ökonomen James Buchanan, Ronald H. Coase, Karl Brunner, Armen Alchian und Warren Nutter, die wichtige theoretische Impulse lieferten. Besonders die von Buchanan gemeinsam mit Gordon Tullock entwickelte Theorie der „Public Choice" bereicherte die neoliberalen Debatten. Einer der wenigen Nicht-Ökonomen der Gesellschaft, der wissenschaftliche Prominenz erlangte, war der

12 Die meisten dieser Mitglieder hatte Eucken selbst noch kurz vor seinem Tode Hayek empfohlen (vgl. Klinckowstroem, 2000, S. 105-106). 13 Von Bedeutung waren auch Otto Veit, Präsident der hessischen Landeszentralbank und der hessische FDPPolitiker Hans Ilau, die beide schon in den dreißiger Jahren gemeinsam mit Rüstow für eine liberale Wirtschaftspolitik gekämpft hatten, sowie Edith Eucken-Erdsiek, die Ehefrau Euckens. 14 Der Chicagoer Wirtschaftshistoriker John U. N e f gehörte schon seit den vierziger Jahre zu Hayeks Freunden und hatte seinen Wechsel ans Committee on Social Thought eingefädelt. Weitere passive MPS-Mitglieder aus Chicago waren in den fünfziger Jahren die Juristen Walter J . Blum, Wilber G. Katz und Edward H. Levi, der Dekan der Business School, Carfield Cox sowie der Englisch-Professor R. S. Crane.

166 • Wandlungen des Neoliberalismus an der Universität Harvard lehrende deutschstämmige Politologe Carl J. Friedrich, der eine frühe Theorie des „Totalitarismus" vertrat. 15 Eine andere Fraktion der amerikanischen MPS-Mitglieder, die den „libertären", puristischmarktwirtschaftlichen Rand der Gesellschaft ausmachte, orientierte sich stark an den Schriften von Mises. Dazu zählte die Führung der sehr aktiven Foundation for Economic Education (FEE), die fast geschlossen in die MPS eintrat, darunter der FEE-Gründer Leonard Read, ihr wissenschaftlicher Leiter F. A. Harper, der Finanzier Herbert C. Cornuelle sowie drei weitere Mitarbeiter. Den Block der unbedingten Mises-Anhänger verstärkten zwei seiner New Yorker Schüler, Hans Sennholz und Murray Rothbard. Neben der FEE waren schon in den fünfziger Jahren noch andere amerikanische Stiftungen in der MPS durch einzelne Mitglieder vertreten, etwa der bereits 1947 so großzügige Volker Fund mit seinem Vorsitzenden Harold Luhnow 1 6 oder die Winchester Foundation mit Pierre Goodrich aus Indianapolis, dem späteren Gründer des Liberty Fund. Anfangs sehr hilfreich für die MPS waren die Spenden, die ihr Loren B. Miller vermittelte, der ab den sechziger Jahren Kuratoriumsmitglied der finanzstarken Reim Foundation und der Earhart Foundation wurde. Einige weitere amerikanische Geschäftsleute konnten in den fünfziger Jahren als Mitglieder der MPS gewonnen werden, so Jasper Crane, leitender Direktor der Firma DuPont, Howard Pew, der Präsident der Sun Oil Company, William Grede, ein Geschäftsmann aus Milwaukee, sowie W. Clayton aus Houston, Texas. Sie alle halfen Hunold, die stets problematische Finanzierung der MPS-Treffen zu meistern. 17 Die Gruppe der Briten, die sich in der MPS sammelte, bestand im Kern aus Bekannten und Freunden Hayeks. Eher selten trat Popper bei der MPS in Erscheinung. 18 Robbins, der beim Treffen am Mont Pèlerin 1947 mit seiner Integrationsfähigkeit noch viel zum Gründungserfolg beigetragen hatte, erklärte aufgrund persönlicher Differenzen mit Hayek Mitte der fünfziger Jahre seinen Austritt aus der Gesellschaft, ebenso Arnold Plant. In der MPS blieben Jewkes und S. R. Dennison, von den LSE-Ökonomen Frank W. Paish, T. S. Ashton sowie William H. Hütt und Ludwig Lachmann, die inzwischen in Südafrika lehrten, Theodore Gregory, der nun als Berater der griechischen Regierung arbeitete, sowie Frederick C. Benham, der das britische Generalkommissariat in Malaysia beriet. Einzig Hütt und Jewkes taten sich von all diesen in der MPS durch regelmäßige Mitarbeit hervor. Sehr engagiert war der an der LSE lehrende ungarische Emigrant P. T. Bauer, der bedeutende Beiträge zu einer

15 In einem bibliographischen Aufsatz zur Bestimmung des politiktheoretischen Standpunkts des (deutschen) Neoliberalismus betonte Friedrich die Bedeutung des „Ordo"-Begriffs. Das „Politische" habe nach neoliberaler Vorstellung somit Vorrang vor dem Ökonomischen, das sich nicht selbst überlassen, sondern in eine Wettbewerbsordnung gefaßt werde, meinte Friedrich (1955, S. 509 u. 512). 16 Der Volker Fund, obwohl klein, erscheint als der wichtigste finanzielle Rückhalt der frühen neoliberalkonservativen Bewegung in den Vereinigten Staaten. Er war es, der in den vierziger und fünfziger Jahren die Mittel für die akademischen Posten für Mises an der Universität New York und für Hayek am Chicagoer Committee on Social Thought bereitstellte und zudem die Publikation wichtiger Werke wie Mises' „Human Action" unterstützte. Auf bei Volker-Seminaren am Wabash College gehaltenen Vorträgen basierte auch Friedmans Buch „Capitalism and Freedom" (1962). 17 Anfangs hatte Hayek die Gesellschaft rein akademisch halten wollen. So hatte er Bedenken gegen die Einladung von Jasper Crane zum MPS-Gründungstreffen, „um den Eindruck zu vermeiden, daß die Konferenz durch irgendwelche geschäftlichen Interessen angestoßen" sei (Hayek an Luhnow, 5.2.1947, in: HIA, NL Hayek 58-16). 18 Er hielt in den Jahrzehnten nur ein einziges Mal einen Vortrag (vgl. Popper, 1956).

Aufbau, Strategie und Krise der M P S • 167 neoliberalen Kritik der Entwicklungsökonomie lieferte. Politisch aktiv waren von den frühen britischen MPS-Mitgliedern nur wenige, darunter Lord Coleraine sowie Diana Spearman, beide in der Konservativen Partei. Ab Mitte der fünfziger Jahre häufig mit Vorträgen auf Treffen der MPS präsent war der Ökonom Arthur Shenfield. Den langfristig stärksten Einfluß auf die Politik konnte von allen MPS-Mitgliedern der Unternehmer Antony Fisher erzielen, der 1955 das Institute for Economic Affairs gründete, das Arthur Seidon und Ralph Harris leiteten." Mit bedeutenden Persönlichkeiten waren in der MPS noch Frankreich und Italien vertreten. Zum französischen Kontingent zählten einige, die bereits 1938 beim Colloque Walter Lippmann anwesend waren, so Raymond Aron, Louis Baudin, Marcel Bourgeois, Ernest Mercier und Jacques Rueff, ferner Marie-Thérèse Génin von der Librairie de Médicis, dem Hausverlag der französischen Neoliberalen. Während Rueff rege am Leben der Gesellschaft Anteil nahm, verlor Aron, mit ökonomischen Fragen weniger befaßt, Mitte der fünfziger Jahre das Interesse und trat aus der MPS aus, kurz bevor sein langjähriger Freund Louis Rougier, der Organisator des Pariser Kolloquiums, 1957 der MPS beitreten konnte. 20 Eine wichtige Figur in der MPS wurde schließlich der katholische Rechtsprofessor Daniel Villey von der Universität Poitiers. Aus Italien stießen Anfang der fünfziger Jahre die intellektuellen Hauptvertreter des dortigen Neoliberalismus zur MPS. Neben Staatspräsident Luigi Einaudi waren dies der in Rom lehrende Philosoph Carlo Antoni, der Rektor der Mailänder Handelshochschule Giovanni Demaria sowie der Ökonom und kurzzeitige Handelsminister Costantino Bresciani-Turroni, der die MPS allerdings Mitte der fünfziger Jahre wieder verließ. Sie alle waren über Röpke mit der Gesellschaft in Kontakt gekommen. Bis auf Antoni traten sie aber nur selten als Redner oder Diskutanten in Erscheinung.

" Weitere namhafte britische Mitglieder in den fünfziger Jahren waren der emigrierte deutsche Kunsthistoriker Ernst Gombrich, der deutsch-jüdische Historiker Erich Eyck, der Schriftsteller und frühere spanische Diplomat Salvador de Madariaga, die beiden am Nuffield College in Oxford lehrenden Ökonomen S. H. Frankel und A. Loveday, sowie die Schriftstellerin Rebecca West. 20 Gegen Rougiers Aufnahme hatte sich anfangs besonders Robbins ausgesprochen. Der Organisator des Colloque Walter Lippmann von 1938 war während des Krieges, nachdem die Deutschen Paris besetzt hatten, nach New York emigriert, wo er 1941 bis 1943 an der New School for Social Research lehrte und nur wenige Häuser von Mises entfernt wohnte, mit dem er lebenslang befreundet blieb. Während dieser Zeit gab es aber offenbar Zwiste unter den französischen Emigranten; Rougier, der im Comité de défense des israélites aktiv gewesen war und jüdischen Bekannten und Freunden, darunter Mises, bei der Beschaffung von Visa behilflich war, wurde nachgesagt, er habe mit dem Vichy-Regime kollaboriert. Tatsächlich war Rougier vor seiner Emigration im Juli 1940 nach Vichy gefahren, wo er mit dem Marschall Pétain zusammenkam. Im Oktober verhandelte er in Pétains Auftrag in London mit Churchill über eine französisch-britische Annäherung. Von New York aus scheint er sich in Zusammenarbeit mit den Vichy-Behörden für humanitäre Ziele, etwa Milchpulverlieferungen für Kinder, eingesetzt zu haben. Obwohl also ohne Schuld, schnitten ihn viele; nach dem Krieg wurde er Opfer „politischer Säuberungen". 1948 wurde ihm die französische Lehrerlaubnis entzogen mit der Begründung, seine diplomatischen Interventionen hätten alliierte Anstrengungen behindert; auch seine humanitäre Hilfe und die Kritik an gaullistischen Organisationen wurden ihm als Unterstützung des Feindes ausgelegt. Gegen das Berufsverbot setzte sich Rougier juristisch zur Wehr und wurde schließlich rehabilitiert. 1954 erhielt er alle seine Rechte als Professor zurück, lehnte aber, nun schon 65 Jahre alt, einen ihm angebotenen Lehrstuhl an die Universität Caen ab (vgl. Marion, 2004, S. 13, 21, 38 u. 40-47). Nach seiner Aufnahme in die MPS hielt er dort mehrere Vorträge zur Theorie des Liberalismus und seiner Stellung zur Demokratie (vgl. Rougier, 1957; 1961), später beteiligte er sich an der ordnungspolitischen Diskussion (vgl. Rougier, 1967). Ab den späten sechziger Jahren kam es zu einer kuriosen Zusammenarbeit mit Alain de Benoist, dem Vordenker der französischen Nouvelle Droite, der die elitären und religionskritisch-antikischen Aspekte von Rougiers Philosophie schätzte (vgl. Marion, 2004, S. 48-50). Zu Rougiers aufgeklärt-westlicher Haltung und seinem tiefen Verständnis der liberalen europäischen Kultur vgl. Rougier (1962).

168 • Wandlungen des Neoliberalismus Eine beachtliche Gruppe von mehr als einem Dutzend Mitgliedern kam aus der Schweiz, alles persönliche Freunde von Röpke, Rappard und Hunold. Zu den bekanntesten neoliberalen Persönlichkeiten zählten William Rappard, der langjährige Chef des Genfer Institut Universitaire des Hautes Études Internationales, sodann der dort forschende Michael Heilperin, der Ökonom Herbert Amonn, ab den frühen fünfziger Jahren Rektor der Universität Bern, der Züricher Philosoph Hans Barth, weiter der Wirtschaftshistoriker Max Silberschmidt, später Chef des Schweizerischen Institut für Auslandsforschung, bei dem Hunold ab 1950 Abteilungsleiter wurde, sowie der FDP-Minister und Winterthurer Industrielle Hans Sulzer, einer der Hauptfinanziers von Silberschmidts und Hunolds Institut. Beste Kontakte bestanden zur Neuen Zürcher Zeitung, deren Chefredakteur Willy Bretscher samt einiger seiner Mitarbeiter bald der MPS beitrat. Aus Österreich wären noch zu nennen: Reinhard Karnitz, Mitte der fünfziger Jahren Finanzminister und anschließend Präsident der Wiener Notenbank, sowie dessen enger Mitarbeiter Max Thum, aus Belgien der an der Universität Louvain lehrende Ökonom, Regierungsberater und Vorstand des Zentralbankrats, Fernand Baudhuin. Ende der fünfziger Jahre kam auf Einladung Hayeks auch Otto von Habsburg zur MPS, der emigrierte Sohn des letzten österreichischen Kaisers, der später als Europapolitiker bekannt wurde. Auch eine Reihe bekannter Journalisten stieß in den fünfziger Jahren zur MPS: Schon bei der Gründung 1947 waren einige anwesend, so Henry Hazlitt, der unermüdliche wirtschaftsliberale Kolumnist der Zeitschrift Newsweek, John A. Davenport vom Magazin Fortune, der später zu Barron's wechselte, die Historikerin C.V. Wedgwood, die die Londoner Zeitschrift Time and Tide redigierte, George Révay vom Reader's Digest und Felix Morley, Mitbegründer des konservativen Blatts Human Interest. Bis Mitte der fünfziger Jahre kamen wietere Medienvertreter hinzu, die auch regelmäßig über die Treffen der MPS berichteten. Auffällig war, wie bereits erwähnt, die starke Präsenz der NZZ, die neben Bretscher die Redakteure Carlo Mötteli, Ernst Bieri, Richard Ottinger und später Willy Linder in die MPS einbrachte. In Westdeutschland gehörten ebenfalls führende bürgerliche Journalisten zu der Gesellschaft, so Erich Welter, der Gründungsherausgeber der FAZ, und Otto Wesemann, der Leiter der Deutschen Welle in Köln. In Frankreich zählte lediglich der Redakteur René Courtin von Le Monde zur MPS, in Großbritannien Gregory L. Schwartz von der Sundaj Times, in Norwegen Trygve J. B. Hoff, Eigentümer der traditionsreichen kleinen Wochenzeitung Farmand. Die stärkere Präsenz wirtschaftsliberalen Gedankenguts in den Vereinigten Staaten spiegelte sich in der größeren Zahl renommierter Journalisten, so William Grimes vom Wall Street Journal oder John Chamberlain, letzterer schon in den dreißiger Jahren ein vielbeachteter Leuchtturm der wirtschaftsliberalen Publizistik, der später zur National Review wechselte, sowie William H. Chamberlin, Autor des Buchs „Collectivism: A False Utopia". Dazu kamen noch prominente politische Konvertiten wie Max Eastman, der einst Hayeks „The Road to Serfdom" in einer Kurzversion beim Reader's Digest untergebracht hatte. Ende der fünfziger Jahre wurde auch William Buckley in die Gesellschaft aufgenommen, der Gründer der Zeitschrift National Review, der im Laufe der Jahre eine der wichtigsten intellektuellen Figuren der aufkommenden liberalen-konservativen Bewegung wurde. Walter Lippmann, dessen Buch „The Good Society" die Neoliberalen 1938 so gefesselt hatte, erregte nun mit seinen von vielen als zu sowjetfreundlich beurteilten außenpolitischen Kommentaren in der International

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 169 Herald Tribune nur noch wenig Begeisterung. Ein wichtiger Mann für die aufkommende Bewegung liberal-konservativer Intellektueller in den Vereinigten Staaten war der Verleger Henry Regnery, der in den späten fünfziger Jahren erstmals Treffen der MPS als Gast besuchte und dann Mitglied wurde. Insgesamt stellten Journalisten und Publizisten einen Anteil von unter zehn Prozent aller MPS-Mitglieder. Hatten sich 1947 lediglich 39 Gründer am Mont Pèlerin eingefunden, so stieg die Zahl der Mitglieder 1951 schon auf 172, nahm bis 1961 weiter auf 258 zu und überschritt Mitte der sechziger Jahre die Marke von 300. Mit dem Wachstum änderte sich auch die nationale Zusammensetzung. Nach dem ersten Mitgliederverzeichnis von 1951 stellten die Amerikaner mit 62 Mitgliedern die bei weitem stärkste Gruppe (rund 36 Prozent), gefolgt von 25 Briten (14,5 Prozent), 20 Franzosen (11,6 Prozent), 14 Deutschen (8,1 Prozent), 10 Italienern (5,8 Prozent), 8 Schweizern (4,6 Prozent) und 4 Niederländern (2,3 Prozent). Insgesamt 17 weitere, überwiegend westeuropäische Länder, waren mit je ein bis drei Mitgliedern vertreten (zusammen knapp 17 Prozent). Ab Mitte der fünfziger Jahre begannen sich diese Gewichte zu verschieben: Die Anteile von Amerikanern und Deutschen stiegen langsam, die Anteile von Briten, Franzosen, Schweizern und Italienern nahmen stetig ab (vgl. Walpen, 2004, S. 393-394). Auffällig war, wie sehr die Gesellschaft trotz ihrer internationalen Mitgliederschaft in ihren ersten Jahren von Wissenschaftlern aus dem deutschen Kulturraum geprägt war. Das lag am dichten Beziehungsnetzwerk der Gründer Hayek, Röpke und Hunold, die ihre persönlichen Bekannten in die MPS einluden. Die in die angelsächsische Welt versprengten Ökonomen der Osterreichischen Schule sowie die Männer aus dem Umkreis der Freiburger Schule dominierten die MPS-Treffen in den ersten Jahren. Das Schicksal Deutschlands nach dem Krieg war Gegenstand engagierter Debatten. Mit Spannung und Anteilnahme verfolgten die Mitglieder der MPS die nach 1948 zu beobachtende Liberalisierung und den wirtschaftlichen Aufschwung des westdeutschen Teilstaats, dem viele sich persönlich verbunden fühlten. 5 von 13 MPS-Tagungen der ersten fünfzehn Jahre fanden in der Schweiz oder Deutschland statt. Bei zahlreichen Sitzungen der frühen fünfziger Jahre gab es eine relative Mehrheit von Teilnehmern mit Deutsch als Muttersprache, wenn auch die Emigranten nun Englisch als Arbeitssprache angenommen hatten. 21 Erst in den sechziger Jahren endete diese linguistische Vielfalt in der MPS, und Englisch wurde fast absoluter Standard. Rund 250 Referate und kürzere Vorträge wurden in den ersten fünfzehn Jahren vor der MPS gehalten. Etwas mehr als 100 Redner beteiligten sich daran, von denen etwa ein Dutzend durch besonders rege Aktivität herausragten. Unbestrittene Leitfigur der Gesellschaft wurde in dieser Zeit Hayek. Als Präsident eröffnete er die MPS-Tagungen stets mit einer Ansprache, hielt darüber hinaus noch mehrere Vorträge, darunter 1957 ein Referat mit dem Titel „Why I Am Not A Conservative?", das im Anhang zu „The Constitution of Liberty" ab-

21 So wurden zwar neun von zehn Vorträgen in Englisch gehalten, dennoch flössen wie selbstverständlich auch Wortmeldungen in Deutsch oder Französisch in die Debatten ein. In seiner kurzen Ansprache als Präsident der ersten Sitzung des MPS-Gründungstreffen 1947 bemerkte Rappard, Englisch werde die Sprache der Gesellschaft sein, was „als Symptom des Ubergewichts des Angelsachsentums bei dem, was vom Liberalismus in der Welt heute noch übrig ist, gewertet werden kann" (Rappard, 1947, S. 1). Tatsächlich waren knapp über die Hälfte der 39 Anwesenden geborene Amerikaner oder Briten.

170 • Wandlungen des Neoliberalismus gedruckt werden sollte (vgl. Hayek, 1957). 22 Hier legte er jene „liberale Utopie" vor, die er als Gegenstück zu den sozialistischen Utopien angeregt hatte. Mit der Zeit wuchs Hayek in die Rolle des intellektuellen Übervaters der MPS und der Neoliberalen. Diesen Rang als der führende Denker der Gesellschaft drohten ihm erst später jüngere Ökonomen abzulaufen, besonders Friedman, dessen wissenschaftliche Beiträge ab den sechziger Jahren Furore machten. Diskussions- und bekenntnisfreudig zeigte sich Röpke. In den ersten fünfzehn Jahren hielt er mehr Vorträge als jeder andere (vgl. u.a. Röpke, 1950c; 1953b; 1956c; 1957a; 1958b; 1960). Er beeindruckte durch seine starke Persönlichkeit, seine tiefgründige Bildung sowie sein feines Gespür für ökonomische, politische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen: Röpke erntete viel Beifall, teilweise aber auch Widerspruch, besonders von Mises und dessen Umkreis, für seine recht konservativ gefärbten soziologischen Thesen zur „Proletarisierung" der Massengesellschaft, zur Notwendigkeit auch staatlicher Strukturpolitik und zu den kulturellen Voraussetzungen der Marktwirtschaft. Unterstützung fand Röpke vor allem bei den deutschen Ordoliberalen, bei Böhm, Müller-Armack und besonders bei Rüstow, der in den fünfziger Jahren ebenfalls zu den gefragtesten Rednern der MPS gehörte (vgl. u.a. Böhm, 1950b; Müller-Armack, 1953; Rüstow, 1950b; 1956a; 1956b; 1957b; 1960). Ihr Anliegen war es, der ökonomischen Theorie des Neoliberalismus eine soziologische Komponente hinzuzufügen. Einen ganz anderen Ansatz verfolgte Friedman. Obgleich einer der Jüngsten in der MPS, gehörte er schon früh zu den aktivsten und prägenden Persönlichkeiten der Gesellschaft. Sein großes Thema waren monetäre Fragen, das in der MPS am härtesten umkämpfte Feld neoliberaler Programmatik (vgl. u.a. 1950/1953; 1958; 1962). Der agile Professor aus Chicago beeindruckte durch logische Klarheit und konnte so, obwohl anfangs in einer Außenseiterposition, die Diskussionen zu Fragen der Währungsordnung und der Geldpolitik ab den späten fünfziger Jahren immer stärker in seinem Sinne entscheiden: weg von der Anhänglichkeit vieler Neoliberaler zum alten Goldstandard, hin zum Bekenntnis zu „fiat money" mit freien Wechselkursen und strikten Geldmengenregeln. Auch Friedrich A. Lutz befaßte sich mit Währungs- und Geldpolitik und trat früh für die von Friedman entwickelte Argumentation zugunsten freier Wechselkurse ein (vgl. u.a. Lutz, 1953). Ab Ende der fünfziger Jahre stellten sich auf MPS-Treffen auch Hahn, Haberler und Machlup hinter Friedmans Position (vgl. u.a. Hahn, 1957; 1960; Haberler, 1964; 1965; Machlup, 1961). Die Gegenposition vertrat in dieser Frage kategorisch Jacques Rueff, der mehrfach vor der MPS zu währungspolitischen Themen referierte und mit Verve für den reinen Goldstandard eintrat (vgl. u.a. Rueff, 1958; 1961b). Zahlreiche Beiträge lieferten bei den Treffen der MPS neben Hayek auch die anderen ehemaligen Schüler von Mises' Wiener Privatseminar. Der Meister selbst, eine unbeugsame und zuweilen schroff erscheinende Persönlichkeit, der Widerspruch zu seinen Ansichten schwer ertragen konnte, hielt in den fünfziger Jahren drei Referate, die seine puristisch-

Ferner wurde beim MPS-Treffen in St. Moritz ein langes Manuskript des ersten Teils der „Constitution of Liberty" verteilt. Das Buch widmete er „den Mitgliedern der Mont Pèlerin Society ... und insbesondere ihren geistigen Führern Ludwig von Mises und Frank H. Knight" - letzteres sicher eine eher subjektive Aussage (Hayek, 1960/1991, S. VI). 22

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 171 marktwirtschaftliche Position darlegten, so 1951 den Vortrag „Profit and Loss" oder 1958 „Liberty and Prosperity". Sein Vortrag „Small and Big Business" 1961 zu Fragen des Wettbewerbs und der Strukturpolitik markierte Mises' abweichenden Standpunkt von den deutschen Neo- bzw. Ordoliberalen (vgl. Mises, 1951/1980; 1958; 1961). Von seinen ehemaligen Wiener Schülern beteiligte sich Haberler mit zahlreichen Wortmeldungen, Machlup war ab Mitte der fünfziger Jahre stärker aktiv, leitete häufig Diskussionen und hielt mehrere Referate zu Fragen der Wettbewerbsordnung und der Legitimität staatlicher Interventionen (vgl. Machlup, 1959). Durchgängig stark engagiert als MPS-Redner blieb Brandt, der sich vornehmlich zu handelsund außenpolitischen Fragen sowie agrarpolitischen Problemen äußerte, welche auch Antony Fisher mehrfach ansprach (vgl. Brandt, 1957; 1959; 1961; Fisher, 1954; 1958; 1959). Mehr und mehr in den Vordergrund traten Ende der fünfziger Jahre in der MPS dann der britische Verbandspolitiker Arthur Shenfield, der ehemalige belgische Minister Jacques van Offelen, der zu europa- und handelspolitischen Fragen sprach, ferner der Ökonom Arthur Kemp vom Claremont Men's College sowie der noch junge Helmut Schoeck von der Emory University, der eine vielbeachtete Soziologie des Neides zur Erklärung sozialistischer Bestrebungen entwickelte sowie als scharfer Kritiker eines egalisierten Staatsbildungssystems auftrat (vgl. Shenfield, 1954; 1957; 1962; 1964; Offelen, 1960; 1962; Kemp, 1957; 1961; 1965; Schoeck, 1956; 1957b, 1964). Die älteren Granden des Neoliberalismus, etwa Frank Knight oder William Rappard, die beim Gründungstreffen noch eine bedeutende Rolle gespielt hatten, hielten sich nach 1947 zunehmend im Hintergrund.

5. Zerwürfnisse, Querelen und ein erfolgreiches Jubiläum Die fünfziger Jahre waren eine Zeit des organisatorischen Aufbaus und der Festigung der Beziehungen in der MPS. Schneller als erwartet konnte sich die Gruppe der Neoliberalen nach 1947 stabilisieren. Die Gesellschaft wurde tatsächlich zu dem, was Hayek gewünscht hatte: Kristallisationspunkt der Debatte um eine den neuen Herausforderungen standhaltende neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeption, wie sie im krisenhaften Jahrzehnt der dreißiger Jahre begonnen hatte. In ihren Heimatländern oft isoliert, fanden die neoliberalen Intellektuellen hier einen geschützten Raum, wo sie offen diskutieren konnten. Die Treffen wurden manchem so, wie Friedman (1977, S. XXI) schrieb, zum „spirituellen Jungbrunnen, zu dem wir alle uns einmal im Jahr begeben konnten, um unseren Geist und Glauben in einer wachsenden Gesellschaft von Gleichgesinnten zu erneuern". Gerade jene Mitglieder aus Ländern, die Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre auf der Kippe zum Sozialismus standen, empfanden die Treffen als Wohltat. So erinnerte sich Müller-Armack (1971, S. 44): „Dem, der in der innerdeutschen Diskussion in einem steten Streit um die Gültigkeit und Anwendbarkeit liberaler Prinzipien stand, bot das geistige Milieu dieser Gesellschaft ein Gefühl der Befreiung und die Chance, Gleichgesinnte zu treffen, die einander in der Liberalität ihrer Auffassungen, wenn möglich, zu übertrumpfen suchten." Das Gefühl, einer hart bedrängten, sogar verfolgten Minorität anzugehören, wich langsam größerer Zuversicht.

172 • Wandlungen des Neoliberalismus

Trotz aller Erfolge bereitete die Gesellschaft ihrem Präsidenten immer wieder auch Kummer. Mehrfach stand Hayek kurz davor, das Amt abzugeben. Bereits 1949 wollte er erstmals alles hinwerfen. Er glaubte, den Druck der Verantwortung und die zeitliche Beanspruchung durch die MPS nicht mehr aushalten zu können. „Es ist keineswegs so, daß ich irgendwie das Interesse verloren hätte, sondern im Gegenteil, daß ich glaube, daß im Interesse unserer Aufgabe ein Wechsel zweckmäßig wäre", schrieb er an Hunold: „Die Präsidentschaft ist eine große Aufgabe, der ich momentan aus persönlichen Gründen nicht gewachsen bin." Er glaube, „momentan eher ein Hindernis als eine Hilfe" zu sein (Hayek an Hunold, 1.4.1949, in: NL Hunold). Den Gedanken an einen Rücktritt vom Amt des Präsidenten, wohl aufgrund der belastenden Trennung von seiner ersten Ehefrau und der Vorbereitungen für seine Übersiedlung nach Chicago, ließ Hayek dann aber fallen. Zu wichtig war ihm die Gesellschaft mitderweile. Im Zuge von Hayeks Scheidungsdrama 1950 kam es zu einem Bruch mit Robbins, der auch die MPS beschädigte. Die in fast zwanzig Jahren gewachsene, zeitweilig sehr enge persönliche Beziehung mit Robbins, dem Hayek so viel verdankte, endete Anfang der fünfziger Jahre abrupt. Nicht nur, daß Robbins Familie zu Hayeks Ex-Frau hielt, entfremdete die beiden; auch politisch bewegten sie sich auseinander. Während Hayek Mitarbeit in staatlichen oder politischen Gremien scheute, ließ Robbins sich als Berater in die Apparate verschiedener Regierungen einspannen, auch wenn er deren allgemeiner Richtung nicht zustimmte. Wenn Ökonomen Erfolg haben wollten, müßten sie „Teil der Maschine werden und ihre Logik akzeptieren, statt irgendeinen besonderen Status vorzugeben", erklärte er später in seiner Autobiographie (Robbins, 1971, S. 184). Die MPS, bei deren Gründungstreffen er als Verfasser des „Statement of Aims" doch eine herausragende Rolle gespielt hatte, erwähnte er darin mit keinem Wort. Für die Gesellschaft hatte es nachteilige Auswirkungen, daß Hayek und Robbins nun über fast zehn Jahre kein Wort miteinander sprachen. So gab es erhebliche Schwierigkeiten, eine Konferenz in Großbritannien zu organisieren. Hunold berichtete, er komme „um den Eindruck nicht herum, daß aus den Ihnen bekannten Gründen in England eine gewisse Animosität gegen die MPS besteht und daß keiner sich recht an die Aufgabe heranmachen will". Bis auf zehn Teilnehmer bei der letzten MPS-Tagung hätten sich „offenbar wegen der gestörten persönlichen Beziehung Robbins/Hayek die meisten Engländer 1954 ... auf diplomatische Weise entschuldigt" (Hunold an Hayek, 23.11.1955, in: NL Hunold). 23 Kurz darauf trat Robbins offiziell aus der Gesellschaft aus.24 Hayek kommentierte dies besorgt: "Robbins Austritt hat nun wohl nur eine tatsächlich schon lange bestehende Situation festgelegt. Aber

Immerhin hatten John Jewkes und Stanley Dennison in den fünfziger Jahren zwei lokale MPS-Konferenzen organisiert. Bei einer Tagung 1953 in Oxford waren als Gäste einige Politiker der Konservativen anwesend, neben dem späteren Premier Edward Heath auch Angus Maude, der einen Vortrag hielt mit dem Titel „Liberal and Conservative Economic Policies" (vgl. Cockett, 1994, S. 119). Für Oktober 1955 lud Jewkes zu einer Tagung "im engsten Mont Pèlerin Kreis über das Monopolproblem" ein, berichtete Hunold. Er schlug Böhm als Redner vor; weiter waren vorgesehen Röpke, Louis Baudin, Arnold Plant, damals Mitglied der britischen Monopolkommission, und George Stigler — also „eine ganz ausgezeichnete Auslese von den Spezialisten ,unserer Richtung'" (Hunold an Böhm, 21. 10. 1955, in: HIA, MPS-Slg. 13). 24 Schon 1950 hatte er erstmals gegenüber Hunold, mit dem er in freundschaftlichem Kontakt stand, seinen Austritt erklärt (vgl. Robbins an Hunold, 12.5.1950; in: HIA, MPS-Slg. 31), war dann aber doch noch passives Mitglied der Gesellschaft geblieben.

23

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 173 das praktische Ausfallen der Engländer und die Zwiste unter den deutschen Mitgliedern geben mir viel über die Zukunft der Mont Pèlerin Society zu denken" (Hayek an Hunold, 5.2.1956, in: ebd.). 25 Hayek litt unter derlei Querelen. Zwar sah er die Bedrohung der freiheitlichen Gesellschaft nun weniger akut, sie hatte sich aber gewandelt. Zwölf Jahre nach der Veröffentlichung von „The Road to Serfdom" seien, meinte er in einem Vorwort zu einer Neuauflage, Faschismus und Kommunismus endlich als gleichermaßen gefährlich erkannt worden, als „Varianten des selben Totalitarismus ..., den die zentrale Kontrolle aller ökonomischen Aktivitäten gewöhnlich hervorbringt" (Hayek, 1956/1967, S. 220). Der „heiße Sozialismus", gegen den „The Road to Serfdom" gerichtet war, sei zumindest in der westlichen Welt nun „fast tot", so Hayek. Wenn auch die diesbezüglichen Illusionen vergangen seien, gebe es keinen Grund zur Entwarnung, denn das sozialistische Denken habe tiefe Spuren hinterlassen. Als neues Ziel werde der Wohlfahrtsstaat ausgerufen, der schleichend die Fundamente der freiheitlichen Gesellschaft untergrabe. So hätten in England die sechs Jahre sozialistischer Regierung zwar keinen totalitären Staat, aber eine „psychologische Veränderung, einen Wandel des Charakters des Volkes" gebracht. Mit Tocqueville sah Hayek im sanften Paternalismus des Sozialstaats die Gefahr einer „neuen Art von Sklaverei" aufziehen (ebd., S. 224-225). Anlaß zur Sorge gab es also weiterhin. Doch Hayek schien zunehmend zermürbt von den Streitigkeiten innerhalb der MPS. Ausdruck seiner zeitweiligen Resignation war es, wenn er Hunold gegenüber 1956 erklärte, es müsse erwogen werden, ob die MPS „ihre Funktion erfüllt" habe. „Auf die Dauer kann eine solche Organisation nicht auf der Aktivität von bloß zwei Menschen beruhen, und als internationale Organisation braucht sie aktive und verläßliche Mitarbeiter in allen großen Ländern." In Amerika, schrieb Hayek, schwinde angesichts des fortdauernden Wohlstands und der „relativen Vernunft der Eisenhower-Regierung" das Gefühl für die Notwendigkeit einer Organisation wie der MPS, der andauernde Ärger mit den englischen und deutschen Mitgliedern belaste ihn. „Wenn in einem Jahr die Aussichten nicht besser sind, würde ich die Geschichte lieber formell zu einem Ende bringen, solange es noch eine respektable Affäre ist, als die Gesellschaft langsam verfallen zu sehen" (Hayek an Hunold, 5.2.1956, in: NL Hunold). Auch gegenüber Machlup äußert Hayek seine Neigung, noch eine Jubiläumstagung der Gesellschaft abzuhalten „und die Sache dann einschlafen zu lassen" (Hayek an Machlup, 18.2.1956, in: HIA, NL Hayek, 36-17). Neue Hoffnung gaben Hayek aber das Berliner MPS-Treffen im September 1956, das mit 25 Teilnehmern zwar klein, doch aufregend angesichts der Nähe zum sozialistischen DDRRegime war, sowie die außerordentlich erfolgreiche Feier 1957 zum zehnjährigen Bestehen der Gesellschaft. Mehr als 120 Mitglieder und Gäste pilgerten dazu in den noblen Ferienort St. Moritz. Hunold hatte das Suvretta, eines der feinsten Hotels am Platz, gebucht. Auf jüngere Teilnehmer wie James Buchanan, der erstmals eine Tagung der MPS erlebte, machte

In Deutschland gab es Streit um einen recht provokanten Artikel in der neuen, vom MPS-Mitglied Muthesius redigierten Zeitschrift Monatsblätter für freiheitliche Wirtschaftspolitik, der die geplante Kartellgesetzgebung der Ordoliberalen heftig attackierte und eine Nähe zum Nationalsozialismus unterstellte. Vgl. Hellwig (1955) sowie die empörte Reaktion etwa Rüstows, der sich auch Hayek anschloß (Rüstow an Hunold, 4..5.1955, in: IWP, NL Hunold; Hayek an Jewkes, 26.8.1955, in: HIA, Slg. Hartwell 2). Dagegen verteidigte Mises die Position von Muthesius (vgl. Mises an Muthesius, 18.5.1955, in: HIA, MPS-Slg. 31). 25

174 • Wandlungen des Neoliberalismus der üppige Luxus, die „Fußkissen in der Lobby" oder eine dort urlaubende spanische Prinzessin einigen Eindruck, wie er Jahrzehnte später sich erinnerte. Im Kreise der befreundeten MPS-Neoüberalen erfuhr Hayek nun nicht bloß Respekt und Anerkennung, sie brachten ihm regelrechte Verehrung entgegen — ein wenig zu viel nach dem Geschmack Buchanans und anderer, „die wir libertär-populistisches Blut in unseren Adern hatten". Noch mehr befremdete ihn der Kult, der um Mises gemacht wurde, der absolute Gefolgschaft zu verlangen schien (Buchanan, 1992b, S. 130). Von Hunold bekam Hayek im Namen aller Mitglieder eine goldene Uhr geschenkt, eine schweizerische Sonderanfertigung im Gehäuse einer 20-Dollar-Münze, ferner überreichte ihm der Sekretär eine Urkunde mit einer lateinischen Widmung, getextet mit Hilfe eines Romanisten von der Universität Zürich, zum Dank für zehnjährige Präsidentschaft der „Societas Montis Peregrini". 26 In seiner Eröffnungsansprache hatte sich Hayek zufrieden gezeigt mit dem seit 1947 Erreichten. Ein wenig bedauerte er, daß die Initiative meist von wenigen Mitgliedern ausgehe. Zugleich bekannte er selbstkritisch seinen zuweilen autoritären Führungsstil. Als Erfolg wertete er den vielbeschworenen Zusammenhalt in der MPS und erklärte: „Wir sind in diesem Sinne weder eine wissenschaftliche, noch eine politische Gesellschaft, sondern etwas dazwischen" („Opening Address", 2.9.1957, in: HIA, MPS-Slg. 11). Aufgrund des gegenseitigen Lernens in der MPS seien ihre Mitglieder „bessere Bürger sowohl unserer Länder als auch der Welt", erklärte Hayek nicht unbescheiden (ebd.).

6. Die Finanzierung der Gesellschaft Ende der fünfziger Jahre trübte sich das Klima in der MPS ein. Mitverantwortlich war dafür die ungesicherte Finanzierung der Kongresse, die Hunold oblag. Jedes Jahr mußten Gelder gesammelt werden. Die ersten vier Treffen verursachten Kosten zwischen 18.000 und 33.000 Schweizer Franken (vgl. Hunold an Rüstow, 15.8.1957, in: IWP, NL Hunold). Aus den geringen Einnahmen durch Mitgliedsbeitäge konnten solche Summen nicht aufgebracht werden. Der jährliche Beitrag betrug seit der Gründung der Gesellschaft 1947 konstant 4 US-Dollar. Daraus resultierten anfangs Einnahmen von rund 500 Dollar jährlich, die bis 1960 auf knapp 1000 Dollar stiegen (vgl. Hartwell, 1995, S. 75). Für ihren recht günstigen Beitrag bekamen die Mitglieder viel geboten. In den Anfangsjahren wurde ihnen bei den Treffen der Gesellschaft meist nur ein Teil der Kosten für Übernachtung und Bewirtung in Rechnung gestellt. Ein Grund dafür waren wohl die bis in die späten fünfziger Jahre geltenden Devisenrestriktionen, die den Währungsumtausch für Auslandsreisen sehr erschwerten. Erst ab 1953 erhob man eine Tagungsgebühr, die aber nicht annähernd kostendeckend war. Für jedes einzelne Treffen mußten daher Geldgeber, meist Unternehmen oder vermögende Einzelpersonen, gefunden werden. Ohne den unermüdlichen Einsatz Hunolds, des Europäischen Sekretärs der MPS, wäre in den ersten fünfzehn Jahren die Finanzierung der Kongresse in dieser Form wohl nicht

26 Der Widmungstext an Hayek lautete: „Societatis Montis Peregrini // Amico delecto / viro doctissimo et scriptori uberrimo / impavidissimo defensori libertatis civitatisque / Auctori societatis Montis Peregrini / quae iungit orbem terrarum et cui / per duo lustra, praefuit auctoritate illustrissima" (Hartwell, 1995, S. 97).

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 175 gelungen. Für die vier Tagungen in der Schweiz 1 9 4 7 , 1 9 4 9 , 1 9 5 3 und 1957 bemühte Hunold erfolgreich seine Kontakte zur heimischen Geschäftswelt. Auch im Falle des für den Herbst 1954 in Italien geplanten Treffens scheute Hunold nicht die Mühe einer zehntägigen Reise, um persönlich bei potentiellen Geldgebern vorzusprechen, darunter die Banca d'Italia, die von MPS-Mitglied Bresciani-Turroni geleitete Banca di Roma oder der italienische Industriellenverband (vgl. Hunold an Hayek, 23.9.1953, in: HIA, MPS-Slg. 8; Hunold an Hayek, 9.11.1953, in: IWP, NL Hunold). Welches Geschick und welche Ausdauer die Akquirierung von Geldern für eine MPS-Tagung erforderten, bekam Hayek zu spüren, als er 1952 Mittel für ein Treffen in den USA aufzutreiben versuchte. Ihm waren weder die Geschmeidigkeit, noch die Beharrlichkeit Hunolds beim Spendenbetteln gegeben. Nachdem Hayek sich ein paar Absagen von amerikanischen Stiftungen und Geschäftsleuten eingeholt hatte, gab er den Plan auf. Offen gestand er ein, „einer begabteren Person sollte es möglich sein, die nötige Summe aufzubringen, doch die Tatsache ist einfach, daß ich keinen amerikanischen Dr. Hunold gefunden habe" („President's Circular", November 1952, in: HIA, MPS-Slg. 1). Zuweilen klagte auch der Züricher Sekretär: „Mont Pèlerin beginnt mir regelrecht über den Kopf zu wachsen" (Hunold an Hayek, 27.7.1951, in: IWP, NL Hunold). Doch für seine Mühe wurde er mit einem hohen Prestigegewinn belohnt. Ihm schmeichelte die Vorstellung, der Cheforganisator einer internationalen Vereinigung bedeutender Wissenschaftler zu sein. Erkennbar stolz überbrachte er etwa einer Tagung der Liberalen Weltunion im belgischen Knokke „die Grüße des .Generalstabes liberaler Nationalökonomen'" und sprach dort von der MPS als „seiner Organisation" (Bieri, 1954). Nicht nur die Planung und Finanzierung der Kongresse, auch die ständig wachsenden administrativen Aufgaben der Mitgliederverwaltung ruhten fast gänzlich auf Hunolds und seiner Helfer Schultern. 27 Nach eigenen Angaben, die vielleicht etwas hoch gegriffen waren, hatte Hunold im ersten Jahrzehnt nach Gründung der MPS aus eigener Tasche die enorme Spesensumme von mehr als 50.000 Schweizer Franken bestritten (Hunold an Rüstow, 15.8.1957, in: IWP, NL Hunold). Später gab er einen Betrag von 20.000 Dollar an (vgl. Hunold, 1962, S. 12). So war es nicht verwunderlich, daß Hunold ab Mitte der fünfziger Jahre immer dringlicher bei Hayek anfragte, wie das Sekretariat personell und materiell besser auszustatten sei. Unterstützung fand er bei Rüstow, mit dem er einen freundschaftlichen Briefwechsel führte. „Ich bin nach wie vor der Meinung, daß die so viel Zeit, Kraft und Einsatz erfordernde Tätigkeit des Sekretärs der Mont Pèlerin Society entsprechend honoriert werden müßte und daß es so wie bisher nicht weitergeht", versicherte der ihm (Rüstow an Hunold, 26.11.1956, in: ebd.). Dazu wollte er bei Röpke, dem Vize-Präsidenten der MPS, vorsprechen und schlug angesichts der „kümmerlichen laufenden Einnahmen" vor, für Hunold „von den Summen, die Sie jedesmal für die Finanzierung der Tagungen zusammenbringen", einen „angemessenen

Er machte all diese Arbeiten ehrenamtlich und wußte zudem die Sekretariate seiner Arbeitgeber - bis 1949 der Verband der Uhrenindustrie in Biel, dann das Schweizerische Institut für Auslandsforschung in Zürich - für die rege Korrespondenz der MPS einzuspannen. Einen Teil der Kosten konnte er damit abwälzen. Dennoch wurden ihm Auslagen nicht erstattet, beispielsweise Briefporto oder andere Kosten, etwa für die Reisen, die er im Rahmen seiner Bemühungen für die MPS unternahm. 27

176 • Wandlungen des Neoliberalismus

Prozentsatz als Tantième" vorzusehen (Rüstow an Hunold, 28.11.1956, in: ebd.). Davon nun wollte aber der Schweizer nichts wissen. 28 Um die Finanzierung der MPS auf eine langfristige Grundlage zu stellen, trieb Hunold immer wieder die Idee um, einen „Trust Fund" zu gründen. Auch Hayek hatte einst recht hochfliegende Pläne in dieser Richtung entwickelt. Nachdem er aber merkte, daß Hunold es doch irgendwie schaffte, Jahr für Jahr die Mittel zusammenzubringen, reagierte er hinhaltend, als dieser wieder einmal den Vorschlag aufs Tapet brachte. Ende der fünfziger Jahre, als die MPS-Konferenzen immer aufwendiger wurden, drängte Hunold erneut. Nachdem der bislang so freigebige Volker Fund aufgelöst werde, solle man endlich einige vermögende amerikanische MPS-Mitgüeder, etwa Clayton, Crane, Grede oder Goodrich, ansprechen, ob sie Kapital für einen „Trust Fund" bereitstellen wollten. Auch das Schweizerische Institut für Auslandsforschung sei nun in Finanznöten, seit der ehemalige Minister Sulzer, der große finanzielle Gönner, verstorben war, berichtete Hunold. Es gebe Stimmen, die sagten, „die Mont Pèlerin Society gehöre nicht zur Institutstätigkeit, obschon dies natürlich nicht stimmt und ich auf die Gesellschaft angewiesen bin wie ein Kraftwerk auf das Wasser". Dennoch sei es „irgendwie bedenklich, daß wir seit 12 Jahren die Haupdast nicht nur der Arbeit, sondern auch der Ausgaben entweder auf meine persönlichen Schultern - wie zwischen 1947 und 1952 — oder auf die Schultern des Instituts abwälzen müssen", schrieb er (Hunold an Hayek, 10.4.1959, in: HIA, MPS-Slg. 14). In seiner späteren Rechtfertigungsschrift „How the Mont Pèlerin Society lost its soul" erklärte Hunold: „Große Sorgfalt wurde bei der Finanzierung der Treffen geübt." Mehrfach seien attraktive Angebote ausgeschlagen worden, besonders auf Wunsch Rappards, um den akademischen Ruf der Gesellschaft nicht zu beschädigen. Spenden seien stets aus einer Vielzahl von Quellen geworben worden, um keine Abhängigkeiten entstehen zu lassen. „Niemals", versicherte Hunold, „hat unsere Gesellschaft irgendwelches Geld von politischen Parteien oder ihren Gliederungen genommen", wie es das „Statement o f Aims" vorgeschrieben habe (vgl. Hunold, 1962, S. 13-14). Nach den Statuten und dem Selbstverständnis der MPS hatte sie Distanz zu politischen Parteien wie auch staatlichen Stellen zu wahren. Von solchen Geld oder Subventionen anzunehmen, wäre in höchstem Maße inkonsequent gewesen, da es die Unabhängigkeit und wissenschaftliche Integrität der Gesellschaft in Zweifel gestellt hätte. Hunold, der stets mit knappen Mitteln kämpfte, hatte aber wenigstens einmal gegen diese Bestimmung verstoßen. Offenbar konnte er nicht widerstehen, als ihm das Bonner Wirtschaftsministerium Ende 1957 eine finanzielle Förderung anbot. Man kannte sich, schließlich waren Erhard und sein Staatssekretär Müller-Armack beide Mitglieder der MPS und hatten schon mehrfach an Tagungen teilgenommen. Es begann alles mit einem Mißverständnis. Rolf Gocht, ein höherer Beamter in der Grundsatzabteilung des Wirtschaftsministeriums und wie Hunold Mitglied des Walter-EuckenInstituts, glaubte von der „Absicht" Hunolds gehört zu haben, „an die Regierungen der

Als Rüstow den Gedanken einer Art Gehalt für den Sekretär der MPS wiederholt vortrug, beschied ihm Hunold: „Ich möchte kein bezahlter Sekretär sein ... Eine Honorierung kommt meiner Meinung nach gar nicht in Frage, denn auch Hayek besorgt seine Arbeit ehrenamtlich." Doch für die nötige Schreibkraft und sonstige Spesen sah Hunold die Einrichtung eines Haushaltspostens in den MPS-Finanzen als angemessen an (Hunold an Rüstow, 7.11.1957, in: IWP, N L Hunold).

28

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 177 Heimatländer der Mitglieder der Mont Pelerin Society heranzutreten, um von ihnen Finanzierungshilfen für die Jahrestagungen der Gesellschaft zu erlangen" (Gocht an Hunold, 22.11.1957, in: BÄK, B 102/12725). Dies war eine Falschinformation, aber Hunold reagierte nicht, wie es die Statuten der MPS verlangt hätten, mit einer höflichen Absage, sondern erklärte gewunden, weshalb er das Geld doch gerne annehme. Das Angebot sei „äußerst liebenswürdig ... aber ich möchte Ihnen in aller Offenheit sagen, daß die Annahme von Geldern von andern Regierungen vollkommen ausgeschlossen ist". Dem fügte Hunold aber hinzu, „da die Bestrebungen der Mont Pèlerin Society ... vollkommen im Gleichklang mit den Bestrebungen Ihres Ministeriums sind, hätte ich in diesem Sonderfall keine Bedenken, von Ihrer großzügigen Offerte Gebrauch zu machen." Allerdings müßten die Mittel „für die Führung des Sekretariats diskussionslos zur Verfügung gestellt werden" (Hunold an Gocht, 3.12.1957, in: ebd.). Der Ministeriumsmitarbeiter zeigte sich überrascht. Daß die MPS „nicht bereit ist, von anderen Regierungen Hilfsgelder anzunehmen" mache es „natürlich nicht einfacher", Haushaltsmittel freizumachen, schrieb Gocht. Als Lösung schlug er vor, „aus dem von mir verwalteten Titel für wirtschaftswissenschaftliche Forschung der Mont Pelerin Society Aufträge zu erteilen". Dies könne geschehen, indem für ein beliebiges Thema des Arbeitsprogramms der nächsten Tagung ein „Honorar" gezahlt werde. „Praktisch würde ich eine Arbeit honorieren, die ohnedies gemacht würde, so daß mein Finanzierungsbeitrag auch keinerlei Auflagen enthält" (Gocht an Hunold, 12.12.1957, in: ebd.). Anfang Januar diskutierte Hunold die Angelegenheit mit Müller-Armack und richtete anschließend an Gocht ein „Gesuch um die Gewährung eines Beitrages für wirtschaftspolitische Forschung im Rahmen der Mont Pèlerin Society" (Hunold an Gocht, 30.1.1958, in: ebd.). Dieser antwortete mit einem Entwurf, worin ein „Auftrag über den Problemkreis des Wohlfahrtsstaates, der Lohnpolitik der Arbeitsmarktparteien, der Vollbeschäftigung und der Inflation" angekündigt wurde. Die gestelzte Formulierung verriet, daß es sich um keinen spezifischen Forschungsauftrag handelte, sondern um eine Art Blankoscheck, der einen „pauschalen Kostenersatz in Höhe von 7.500 Mark" versprach (Gocht an Hunold, 8.2.1958, in: ebd.). Hunold sagte zu, daß die genannten Themen bei der MPS-Konferenz in Princeton im September 1958 behandelt würden. Der „Forschungsauftrag" sollte dem Bundeswirtschaftsministerium wenig Freude bereiten. Monate vergingen, ohne daß die Bonner von Hunold hörten. Im Oktober schrieb Gocht nach Zürich, er nehme an, die Tagung sei „wie geplant vonstatten gegangen" und wäre nun für die Manuskripte der Forschungsthemen dankbar, „gleichgültig, in welcher äußeren Form" (Gocht an Hunold, 11.10.1958, in: ebd.). Aus Zürich kam lediglich eine Empfangsbestätigung einer Sekretärin, die ausrichtete, Hunold sei noch auf Reisen. Einen Monat später drängte Gocht in einem neuen Brief an Hunold, „aus begreiflichen Gründen" läge ihm „sehr daran, das Ergebnis der Untersuchung Ihrer Gesellschaft kennenzulernen" (Gocht an Hunold, 16.12.1958, in: ebd.). Nun aber erhielt er von Hunold ein Antwortschreiben, das ihn sprachlos machte. Der Sekretär der MPS erklärte, er habe die gestellten Themen lediglich als unverbindliche „Vorschläge" betrachtet, und fügte belehrend hinzu, „in einem Gremium mit rund 200 ersten Wissenschafdem kann man nicht in der gleichen Art vorgehen, wie wenn man einem bestimmten Gelehrten einen konkreten Auftrag gibt". Statt der eigentlich gewünschten Studie bot Hunold als Entschädigung alte Vorträge von der

178 • Wandlungen des Neoliberalismus MPS-Tagung

1957

zum Thema

„Unterentwickelte

Länder"

an

(Hunold an

Gocht,

16.12.1958, in: ebd.). Die Beamten im Wirtschaftsministerium waren alles andere als erfreut. In einer Aktennotiz zu Hunolds Schreiben schrieb der Referent Weber, „offenbar denkt die MPS nicht daran, die gestellten Themen zu bearbeiten", und fragte Gocht: „Soll ich die 7.500 D M zurückfordern?" (Aktennotiz Weber, ebd.). Zähneknirschend akzeptierte man schließlich die von Hunold in Aussicht gestellten Ersatzvorträge. Ein halbes Jahr nach der Konferenz in Princeton schickte dieser in fünffacher Ausführung die alten Manuskripte vom Vorjahr. Den „Forschungsauftrag" betrachtete Hunold damit „als erfüllt" (Hunold an Weber, 24.2.1959, in: ebd.). Die Begeisterung im Bonner Ministerium dürfte sich in Grenzen gehalten haben. Schon zuvor hatte Weber in einer ärgerlichen Aktennotiz bestimmt, „diese Hilfe war einmalig". Eine weitere Förderung sollte es nicht geben. 29 So fragwürdig die Subvention war, sie beeinflußte nicht die inhaltliche Arbeit der MPS. Außer Hunold wußte wohl niemand von der ganzen Sache, zumindest gibt es in den Schriftwechseln keinen Hinweis darauf.

7. Die „Hunold-Affare": Die große Krise der MPS Die ziemlich verwickelte „Hunold-Affäre" nimmt in der von Hartwell verfaßten Geschichte der MPS großen Raum ein (vgl. Hartwell, 1995, S. 100-133). Ihre Ursache führt er auf Hunolds verletzte Eitelkeit zurück, der seine Verdienste um die Gesellschaft nicht gebührend gewürdigt sah. Daraus resultierte bei Hunold eine Gereiztheit, die zu persönlichen Konflikten besonders mit den amerikanischen MPS-Mitgliedem führte. Dagegen hat Walpen entsprechend seiner „hegemonietheoretischen" Prämissen die Interpretation des Konflikts um Hunold ideologisch aufgeladen (vgl. Walpen, 2004, S. 131-138 u. 145-151). Indem er eine Kontroverse, die im Kern um menschliches Fehlverhalten ging, als grundsätzliche Auseinandersetzung um den weiteren Kurs der MPS darstellt, geht er der Rechtfertigungsstrategie Hunolds auf den Leim, der sich als Opfer einer „Verschwörung" einer bestimmten nationalen oder gar wirtschaftspolitischen Richtung präsentieren wollte. E r tat dies, um Verbündete zu gewinnen und seine eigene Position glaubhafter darzustellen (vgl. Hunold, 1962). Zwar gab es bei Hayek und Hunold wohl unterschiedliche Ansätze, wie der Kampf gegen den kommunistischen Totalitarismus am wirkungsvollsten zu führen sei. Diese Meinungsdifferenz berührte aber keineswegs den Kern der mit zunehmender Erbitterung ausgetragenen Konfrontation, die schließlich die ganze MPS erfaßte und sie an den Rand des Abgrunds führte. Ebensowenig kann man ursprünglich von einer Auseinandersetzung zwischen zwei wirtschaftspolitischen Lagern sprechen, der eher „konservativ- und ordo-liberalen Richtung", die Röpke verkörpert habe, und dem „angelsächsisch orientierten, klassischen

Karl Heinz Roth, der die Kontakte Hunolds mit dem westdeutschen Wirtschaftsministerium erstmals dargestellt hat, unterschlägt das etwas sonderbare Ergebnis der Zusammenarbeit und erweckt falschlich den Eindruck, der MPS-Sekretär habe für seine Aktivitäten weitere Steuergelder erhalten (vgl. Roth, 2001, S. 32-35). Beim Kasseler Treffen der Gesellschaft 1960 bekam Hunold zwar erneut Spenden vom Wirtschaftsministerium vermittelt, die allerdings von privaten Geldgebern stammten. Roth beschreibt, wie diese über das Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln geleitet wurden, damit Spendenquittungen ausgestellt werden konnten. Walpen (2004, S. 143) spricht von einem „Höhepunkt staatlicher Finanzierung der MPS" 1960, was schlicht falsch ist. 29

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 179

Liberalismus", für den Hayek stand, wie Ruetz (2006, S. 62) meint. Eine solche Interpretation mag rückblickend plausibel erscheinen, doch deckt sie sich nicht mit den archivarischen Quellen. Sie unterstellt Absichten, die erst nachträglich, meist von Hunold, erfunden wurden. Warum verdient diese Kontroverse eine ausführliche Darstellung und Analyse? D a s Gezanke von Vereinsmitgliedern um Stil- und Satzungsfragen ist für den Außenstehenden tatsächlich nur mäßig interessant. Allerdings ergab sich aus dem Streit, der anfangs vor allem persönliche Differenzen und das Innenleben der MPS betraf, eine organisatorische Blockade, die auch die wissenschaftlichen Aktivitäten der Gesellschaft behinderte und ihre Ausstrahlung zeitweise stark beeinträchtigte. Zudem bewirkte die Klärung der Auseinandersetzung, der Austritt einiger wichtiger Vertreter des „soziologisch" orientierten Neoliberalismus, wie Röpke und Rüstow, eine Kräfteverschiebung innerhalb der MPS, die für die weitere Entwicklung des Neoliberalismus Folgen hatte und tatsächlich dessen Hinwendung zu einer angelsächsischen Strömung bewirkte.

7.1. Spannungen und Empfindlichkeiten Spannungen waren erstmals beim Treffen in Princeton 1958 offen zutage getreten. Eine Tagung auf amerikanischem Boden war längst überfallig und bereits mehrfach geplant gewesen, die Vorbereitungen 1953 und 1955 aber wieder aufgegeben worden, nachdem nicht ausreichend Spenden in den Vereinigten Staaten aufzutreiben waren. Schließlich nahm 1957 Jasper Crane von der Firma DuPont die Geldbeschaffung in die Hand, während Machlup die inhaltliche Planung verantwortete. Hayek begrüßte die Initiative des amerikanischen Vorbereitungskomitees; nur Hunold war wohl etwas unzufrieden, obwohl er einsehen mußte, daß er von Zürich aus kaum die Vorbereitungen leiten konnte. D a s Treffen in Princeton im September 1958 wurde eines der erfolgreichsten und größten seit Bestehen der MPS und trug dazu bei, das internationale Renommee der Gesellschaft zu heben. Doch Hunold hatte im Vorfeld einiges auszusetzen und ärgerte sich maßlos über eine Reihe kleinerer organisatorischer Pannen während des Treffens. 3 0 Einige amerikanische Mitglieder erlebten bei dieser Gelegenheit erstmals Hunolds zuweilen cholerische Art, für die er sich auf Anraten Hayeks anschließend — wenn auch widerwillig — schriftlich entschuldigte. In seiner Rechtfertigungsschrift „ H o w the Mont Pèlerin Society lost its soul" suchte er sich später zwar als verfolgte Unschuld darzustellen (vgl. Hunold, 1962, S: 14-22). In selbstkritischeren Momenten aber bereute er „diese Katastrophe in Princeton ..., die mein Ansehen bei den amerikanischen Mitgliedern sehr tangiert hat" (Hunold an Hayek, 23.7.1959, in: IWP, N L Hunold). Seit dieser Tagung war das Verhältnis Hayeks zu seinem emsigen, doch zuweilen mit einem unglücklichen Temperament bestraften Sekretär schwer getrübt: „Wieder einmal habe ich das Vergnügen", berichtete er Machlup in ironischem Ton,

Mit einem lokalen Helfer, Alfred de Grazia, gab es dann eine heftige Auseinandersetzung, da Hunold ihm Anmaßung und Obstruktion vorwarf. Ähnliche Vorwürfe wurden aber auch gegen Hunold selbst erhoben, als dieser während der Konferenz plötzlich das Heft der Organisation zu übernehmen versuchte. 30

180 • Wandlungen des Neoliberalismus „Entschuldigungsschreiben an Leute zu schicken, die Hunold beleidigt hat, und bin es nun absolut leid" (zit. n. Hartwell, 1995, S. 106). Das Gebaren Hunolds belastete die Gesellschaft zunehmend. Ganz offensichtlich fürchtete er, ihm könne seine Position als alleiniger Cheforganisator streitig gemacht werden. Im folgenden Jahr kam es erneut zu Kontroversen mit dem britischen Komitee zur Vorbereitung einer Tagung in Oxford, dem John Jewkes, Graham Hutton und Antony Fisher vom Institute of Economic Affairs (IEA) angehörten. Seit dem Zerwürfnis Robbins' mit Hayek Anfang der fünfziger Jahre hatte das Engagement der britischen Mitglieder merklich nachgelassen, um so wichtiger war nun dieses Treffen. Hunold wollte aber unbedingt verhindern, daß Jewkes den IEA-Direktor Ralph Harris für die Planung des MPS-Treffens hinzuzog. 31 E r machte nun dem britischen Planungskomitee das Leben schwer, indem er es aufforderte, jegliche Mitwirkung Harris' auszuschließen (vgl. Hunold an Fisher, 14.3.1959, in: HIA, MPSSlg. 13). Solche Briefe erschienen den lokalen Organisatoren als unnötige Einmischung. Aus der Ferne gab Hunold immer neue Anweisungen, welche Redner einzuladen und welche Ausflüge ratsam oder nicht ratsam seien. Schließlich konfrontierte er die verblüfften Engländer mit seiner Forderung, gleich zwei Sekretärinnen aus Zürich mitzubringen. Als das lokale Organisationskomitee dieses Ansinnen zurückwies, löste dies einen heftigen Wutausbruch Hunolds aus, der damit drohte, das Treffen zu boykottieren. „Ich denke, es ist höchste Zeit, gewisse Dinge in die Köpfe von einigen Pèlerins hineinzuhämmern, daß nämlich seit der Gründung der Gesellschaft die gesamte administrative Arbeit völlig an meinen Schultern hing, auch finanziell, und daß niemand ja auch nur daran gedacht hat, mir zu helfen" (Hunold an Fisher, 15.8.1959, in: ebd.). Schließlich gaben die Engländer seiner Forderung nach. Trotz der Querelen geriet das Treffen in Oxford mit rund 200 Teilnehmern zu einem großen Erfolg. Angesichts der früheren Zurückhaltung der Briten konnte man von einem Durchbruch sprechen, an dem das von Fisher begründete und von Harris geleitete I E A entscheidenden Anteil hatte. Nach Abschluß der Konferenz brach allerdings der Streit mit Hunold erneut aus und eskalierte. Der Züricher Sekretär konnte nicht verwinden, daß Harris, dessen Aufnahme als MPS-Mitglied auf Betreiben Hayeks während des Treffens in Oxford vom Council mehrheitlich — wenn auch gegen die Stimmen von Röpke und Hunold — beschlossen wurde, bei der Organisation schon weitgehend seine Rolle eingenommen hatte. Bald war Hunold davon überzeugt, daß hinter seinem Rücken eine Verschwörung im Gange sei, ihn aus seinem Amt zu drängen und durch Harris zu ersetzen. Drei „herausgehobene amerikanische Mitglieder", deren Namen er nie nannte, hätten ihn damals in Oxford gewarnt, ließ er düster in seiner späteren Rechtfertigungsschrift wissen (Hunold, 1962, S. 27). „Es wurde ... offenkundig, daß die ganze Sache von Professor Machlup eingefädelt und

31 Gegen Harris, dessen Büro als organisatorische Basis dienen sollte, der zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht Mitglied der MPS war, hegte Hunold eine heftige Abneigung. Diese ging auf eine Unstimmigkeit beim Jubiläumskongreß in St. Moritz zurück, an dem Harris auf Einladung Fishers als Gast teilgenommen hatte. In St. Moritz war der Gesellschaft - wohl aufgrund des allzu üppigen Rahmens der Veranstaltung - ein finanzielles Defizit entstanden, Hunold verlangte daraufhin von den Gästen der Gesellschaft eine anteilige Begleichung ihrer Unterbringungskosten, was zum Streit mit Harris führte. Schuld war eine mißverständliche Abmachung zwischen Hunold und Fisher, die so Anlaß zu einer dauerhaften Verstimmung in der Gesellschaft gab - mit letztlich fatalen Folgen (vgl. Hunold, 1962, S. 36-40).

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 181

angeführt worden war, und es konnte keinen Zweifel geben, daß Professor Hayek über alle Pläne informiert war" (ebd., S. 28).

7.2. Die Krise spitzt sich zu Vor dem Hintergrund dieses Verdachts nahm Hunolds Verhalten zunehmend paranoide Züge an. „Ich bin nicht gewillt, Jahr für Jahr unter starken persönlichen — auch finanziellen — Opfern den Karren der Mont Pelerin Society zu schleppen und gleichzeitig Nattern an meinem Busen zu nähren", klagte er (Hunold an Böhm, 20.10.1959, in: HIA, MPS-Slg. 39). Als sich zwischen ihm und Harris eine Unstimmigkeit bezüglich der Abschrift der Oxforder Tonbandaufnahmen ergab, schaltete Hunold sogar eine internationale Rechtsanwaltskanzlei ein. Hayek vernahm die Nachricht „etwas entsetzt" und zeigte sich „langsam der ewigen Streitigkeiten so müde, daß ich gute Lust habe, mich der Verantwortung für die Angelegenheiten der Mont Pèlerin Society endgültig zu entledigen" (Hayek an Hunold, 19.11.1959, in: IWP, NL Hunold). Dagegen ließ sich Röpke von Hunolds Überzeugung anstecken, daß in Oxford „eine große Intrige gegen die zentraleuropäische Gruppe im Allgemeinen und gegen mich im Besonderen" im Gange gewesen sei (Hunold, 1962, S. 28-29). Mit Röpkes Rückendeckung schrieb Hunold dann Ende des Jahres einen mit zahlreichen Vorwürfen und Unterstellungen gespickten Rundbrief an die Mitglieder des MPS-Vorstands. Darin erklärte er, daß er die in Oxford erfolgte Wahl Harris' zum Mitglied anfechte und als ungültig ansehe (vgl. Hunold an Direktoren, 30,12.1959, in: ebd., S. 29-31). Dieser anklagende und selbstgerechte Brief war der Tropfen, der bei Hayek das Faß zum Überlaufen brachte. Die Vertrauensbasis war nun endgültig zerstört. Je länger sich der Konflikt hinzog, desto mehr verfestigte sich bei Hayek der Entschluß, mit Hunold nicht länger zusammenzuarbeiten. Im Januar 1960 verschickte er ein Rundschreiben an die Mitglieder, worin er sich für ein erneutes, diesmal unanfechtbares Votum des Vorstands zugunsten von Harris einsetzte, die Anschuldigungen gegen diesen zurückwies und eine Entschuldigung Hunolds verlangte. Zugleich protestierte er scharf gegen dessen eigenmächtiges Vorgehen als Herausgeber der neuen Zeitschrift The Mont PèlerinQuarterly (vgl. Rundbrief Hayeks, 19.1.1960, in: IWP, NL Hunold). Das Quarterly existierte seit dem Frühjahr 1959. Auf Drängen Hunolds, der endlich eine eigene publizistische Plattform haben wollte, war es in Princeton bewilligt worden, wobei Hayek und der Council die Zeitschrift lediglich als eine Art Hausblatt, ein Mitteilungsorgan des Vereins, ansahen. Die neuesten Publikationen, Adressänderungen sowie Ehrungen der Mitglieder sollten darin vermeldet werden. Von Anfang an waren viele nicht glücklich damit, daß Hunold die Zeitschrift betreute.32 Als dann das erste Heft des Quarterly im April 1959 erschien, waren die Mitglieder des Council verärgert. Trotz der unmißverständlichen Anweisungen hatte Hunold sich nicht auf rein biographische und bibliographische Notizen be-

32 Machlup etwa warnte, er empfinde „extreme Skepsis und Pessimismus" bezüglich des geplanten Quarterly. „Falls es irgendwelche Kommentare des Herausgebers mit Meinungen zu politischen, wirtschaftlichen oder philosophischen Themen geben sollte, werde ich ganz vehement dagegen protestieren", drohte er. Niemand habe das Recht, eine „offizielle" Linie für die Gesellschaft festzulegen (Machlup an Hunold, 30.3.1959, in: HIA, Hartwell-Slg. 2).

182 • Wandlungen des Neoliberalismus schränkt. Hayek reagierte mit relativ maßvollem Tadel: „Obwohl das Bulletin hübsch ausschaut, bin ich überhaupt nicht glücklich" (Hayek an Hunold, 15.5.1959, in: IWP, NL Hunold). Als sich Hunold aber in der dritten Ausgabe des Quarterly bissige Kommentare zu John K. Galbraith nicht verkneifen konnte und eine abfällige Bemerkungen über Walter Lippmann, immerhin Mitglied der MPS, im Editorial veröffentlichte, heizte dies den Konflikt mächtig an (vgl. Hartwell, 1995, S. 110).33 Der zunehmend eigenmächtig agierende Züricher Sekretär machte sich immer neue Feinde. Als Herausgeber des Quarterly mißachtete er die Weisungen des Council und ging zudem hohe finanzielle Risiken ein.34 Im persönlichen Umgang kam Hunold besonders den britischen und amerikanischen Mitgliedern immer unberechenbarer vor. Die Situation erschien Hayek nunmehr so verfahren, daß er erneut eine Auflösung der MPS in Erwägung zog. Er konnte sich schließlich keinen Reim mehr auf das Verhalten des Mannes machen, der über so viele Jahre ihm und der MPS treue und wertvolle Dienste geleistet hatte. „Ich habe keine andere Erklärung dafür, als daß Dr. Hunold verrückt geworden ist", vertraute er Jewkes an. „Ich weiß wirklich nicht, was man mit der Gesellschaft machen soll. Es scheint bedauerlich, sie sterben zu lassen, nur weil eine Zusammenarbeit mit einem der gegenwärtigen Sekretäre, der tatsächlich die gesamte organisatorische Arbeit getan hat, unmöglich geworden ist." Falls es Röpke nicht gelinge, Hunold zur Vernunft zu bringen, müsse eine Generalversammlung einberufen und die Gesellschaft dort „liquidiert" werden (Hayek an Jewkes, 12.1.1960, in: HIA, Slg. Hartwell 2). Je mehr Hunold in die Schußlinie amerikanischer Mitglieder geriet, desto mehr war Röpke geneigt, sich schützend vor ihn zu stellen. Warum nur hielt er anscheinend bedingungslos zu Hunold? In erster Linie drückte sich darin seine Dankbarkeit aus für die langjährige Unterstützung im „geistig-moralischen Kampf um die Behauptung einer freien Gesellschaft und Wirtschaft", wie er anläßlich des 60. Geburtstags von Hunold im Juli 1959 in der NZZ formulierte: „Er ist es, auf den man sich verlassen kann, ... wo und wie auch immer es dieser Kampf erfordert ... Er weiß, worum es geht, und er macht nicht viel Federlesens mit solchen, die das nicht wissen, und er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, wenn er an solche zu geraten meint, die diesen Glauben leichtfertig oder bösgläubig zu verraten scheinen." Röpke verschwieg Hunolds problematisches Temperament nicht, das schon Auslöser so mancher „Rauferei", auch einmal zwischen ihnen beiden, gewesen sei. Letztlich aber fühlte er sich verpflichtet, „Treue mit Treue zu vergelten und Albert Hunold heute mit der Versicherung zu danken, daß er zu den wenigen gehört, die in ihrer segensreichen Wirksamkeit schlechterdings nicht zu ersetzen sind" (Röpke, 1959).

Hunold druckte in diesem Heft eine außenpolitische Analyse aus der Feder von Salvador de Madariaga mit der Bemerkung, diese behandle „mit einem sehr erfrischend kritischen Geist die seltsamen politischen Ansichten unseres Mitglieds Walter Lippmann, dessen frühere Bücher zu ökonomischen und sozio-politischen Problemen so herausragend waren wie seine gegenwärtigen Editoriale gefahrlich, wenn nicht katastrophal für die Freie Welt sind" (MPS-Quaterly 1, Oktober 1959, in: HIA, Slg. Hartwell 3). 34 Die Ausgaben für Satz und Druck des Quarterly stellten angesichts der dünnen finanziellen Polster der Gesellschaft ein Problem dar. Gegenüber Schatzmeister Philbrook erklärte Hunold reichlich unbeschwert: „Sie haben recht, die Kosten für das Quarterly übersteigen das reguläre Einkommen der Gesellschaft, aber da wir das Glück haben, einige tausend Dollar vom Princeton-Treffen übrig zu haben, hat mich dies ermutigt, die Zeitschrift anzufangen" (Hunold an Philbrook, 24.5.1960, in: HIA, MPS-Slg. 36). 33

Aufbau, Strategie und Krise der M P S • 183

Die Konflikte in der MPS belasteten Röpke schwer. Zwei Jahre zuvor hatte er schon einen ersten Herzanfall erlitten, nun reagierte er empfindlich. Die „Angelegenheit ... mit ihren Erregungen" sei „wahres Gift für mein Herz", bat er Hayek um Verständnis. Wie gewünscht, bearbeitete er Hunold in einem längeren Gespräch, die Aufnahme von Harris als Mitglied zu akzeptieren. Im Gegenzug bat er, Hayek solle Hunold „in der Herausgabe des Quarterly nicht so eng an die Leine nehmen, sondern ihm einen gewissen Spielraum zugestehen" (Röpke an Hayek, 25.1.1960, in: IWP, NL Röpke). Offenbar unterschätzte er jedoch, wie tief Hayeks Abneigung gegen Hunold mitderweile ging. Anfang März entwarf Hayek einen Text zur Veröffentlichung in der nächsten Ausgabe des Quarterly, worin er seinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten ankündigte. Zwei Wochen später informierte er Röpke in einem langen Schreiben, daß eine weitere Zusammenarbeit'mit Hunold unmöglich geworden sei. Er beabsichtige, „alle persönlichen Beziehungen zu ihm abzubrechen", und sei „auch abgesehen von diesen unerfreulichen Dingen auf keinen Fall gewillt ..., die Präsidentschaft der Gesellschaft weiter zu führen" (Hayek an Röpke, 13.3.1960, in: ebd.). Sobald diese Rücktrittsdrohung im Raum stand, begannen sowohl Hunold als auch seine Gegner mit Vorbereitungen, um Unterstützer für die erwartete Kampfabstimmung zu werben. Verschiedentlich wurde Brandt als möglicher Nachfolger Hayeks genannt, den Hunolds Umgebung als möglichen Kandidaten aufbauen wollte. Um zu verhindern, daß das HunoldLager beim nächsten Treffen der MPS, das im September in Kassel stattfinden sollte, eine Mehrheit hätte und einen Coup durchführen könnte, schickten Machlup und Stigler Anfang Juni einen Rundbrief an alle amerikanischen Mitglieder. Sie baten darin um „Proxy"-Stimmen, also Vollmachten für die bevorstehende Generalversammlung (vgl. Machlup u. Stigler an amerikanische MPS-Mitglieder, 1.6.1960 in: HIA, Slg. Hartwell 2). Als Hunold von dieser Aktion erfuhr, sah er darin endgültig den Beweis für seine Verschwörungthese.

7.3. „Gefahr einer Spaltung": Bonn ist besorgt Beiderseits des Adantiks wurden nun fleißig Memoranden und Gegenmemoranden verfaßt. Hunold verschickte seitenlange Rechtfertigungsdossiers, die zum Teil spekulative und beleidigende Behauptungen über seine Gegner enthielten.35 Da ihm die Kritik an seinem Fehlverhalten wohl peinlich war, erfand er eine angebliche politische Dimension des Konflikts. In immer neuen Varianten warnte er nun vor einer drohenden „Machtergreifung" durch die amerikanische Gruppe um Machlup (vgl. etwa Hunold an Mises, 21.6.1960; Hunold an Welter, 27.6.1960, in: HIA, MPS-Slg. 14).

35 So gehörte der Ausdruck „Gangster" zu den Bezeichnungen, die Hunold seinen Gegnern an den Kopf zu werfen pflegte. Der Grund des gespannten Verhältnisses mit Machlup lag offenbar schon länger zurück: In einem Brief an Goodrich erzählte Hunold von einem Erlebnis mit Machlup an der Johns Hopkins-Universität in Baltimore Anfang der fünfziger Jahre, wo dieser kollegial mit dem linksgerichteten Politologen und außenpolitischen Berater Owen Lattimore, einem umstrittenen China-Experten, verkehrte. Bei einem Besuch gerieten Hunold und Machlup deshalb aneinander, wobei Hunold über Lattimore sagte, „daß dieser Mann verantwortlich ist nicht nur für den Kommunismus in China, sondern auch für die Ermordung von 20 Millionen Chinesen während der Revolution". Machlup war verärgert und bezeichnete Hunold als den „McCarthy of Switzerland" (vgl. Hunold an Goodrich, 18.7.1960, in: HIA, Slg. Hartwell 2).

184 • Wandlungen des Neoliberalismus Im Juli traf sich auf Initiative Hunolds in Zürich eine Gruppe von acht Schweizer Mitgliedern der MPS, um die Entwicklung der Gesellschaft zu diskutieren. 36 Hier hatte Hunold eine Hausmacht, die nun in seinem Sinne tätig wurde. Zum einen fragten sie beim westdeutschen Wirtschaftsminister Erhard an, ob er als Vermitder auftreten könne. Zum anderen richteten sie an Hayek und Röpke einen eindringlichen Appell. Man stelle „mit tiefster Besorgnis fest, daß die Gefahr einer Spaltung, wenn nicht gar Sprengung der Gesellschaft besteht", so Lutz und Bretscher im Auftrag der Gruppe. Die Unterzeichner beschworen Hayek und Röpke, „der Öffentlichkeit ein Schauspiel zu ersparen, das dem Liberalismus in einem Zeitpunkt in höchsten Maße abträglich sein müßte, wo Einigkeit im Hinblick auf die allgemeine Weldage ein Gebot der Stunde ist" (Lutz u. Bretscher an Hayek bzw. Röpke, 11.7.1960, in: BÄK, B 102/12725). Ähnlich dramatisch sah Erhard die Angelegenheit, in dessen Ministerium sich mitderweile Abschriften des umfangreichen Schriftverkehrs zwischen Hunold, Hayek und Röpke zu stapeln begannen. Hunold war bemüht, die „Meinungsdifferenzen zwischen Hayek und mir" als „dermaßen lächerlich" abzutun. In Wirklichkeit ginge es um den Versuch der „Gruppe um Machlup ..., den im Sekretariat verkörperten Machtapparat an sich zu reißen" (Hunold an Müller-Armack, 7.7.1960, in: ebd.). Erhard ließ ausrichten, daß man beim Treffen in Kassel „den offenen Ausbruch von Streitigkeiten unter allen Umständen" vermeiden müsse. „Der Sache des Liberalismus würde gewiß ein ernster Schaden zugefügt, wenn die Gesellschaft der Gefahr einer Spaltung ausgesetzt würde; dies um so mehr, als es ausgerechnet auf deutschem Boden und in unmittelbarer Nähe des Eisernen Vorhangs geschähe." Allerdings sehe sich Erhard doch nicht imstande, als Schlichter einzugreifen, da ihm die genaue Kenntnis der Einzelheiten des Streitfalls fehle (Müller-Armack an Lutz bzw. Bretscher, 6.8.1960, in: ebd.). In der Tat war man in Bonn nur ungefähr informiert. Hunold hatte telefonisch den Ministerialbeamten Weber in die Interna der Gesellschaft eingeweiht. Seine tendenziöse Darstellung der Lage schlug sich in einem Aktenvermerk nieder, wonach eine „Änderung in der geistigen Prägung und dem wirtschaftspolitischen Charakter der Gesellschaft" drohe, falls „der Engländer Harris" den Posten des Sekretärs übernehme. Dieser sei „von der erzliberalen Gruppe" nominiert, die angeblich mit Mises gegen „die Kompromißbereitschaft der Verfechter der sozialen Marktwirtschaft" Stimmung mache (Aktenvermerk Weber, 22.7.1960, in: ebd.). Am selben Tag hatte Hunold an Rüstow in Heidelberg berichtet: „Mises sang ein Loblied auf Harris und sagte, daß dieser seine Richtung vertrete, während ich ja nur die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft - also Rüstow, Erhard und Röpke - in Zürich hätte zu Wort kommen lassen, obschon es offenkundig sei, daß die soziale Marktwirtschaft Deutschland an den Rand des Abgrundes gebracht habe. Wir wissen also, was uns bevorsteht. Die Mont Pèlerin Society soll zum alleinigen Tummelfeld der Alt-Liberalen werden" (Hunold an Rüstow, 22.7.1960, in: IWP, NL Hunold). Nicht ungeschickt streute Hunold also den Verdacht, bei dem Konflikt innerhalb der MPS gehe es in Wirklichkeit nicht um persönliche Reibungen, sondern um eine Richtungsentscheidung. Die Bonner Beamten glaubten diese Version und fürchteten, die

36

Anwesend waren unter anderem Bretscher, Mötteli und Bieri von der NZZ sowie Silberschmidt und Lutz.

Aufbau. Strategie und Krise der MPS • 185 MPS könne als intellektueller Rückhalt der Erhardschen Politik wegbrechen. Die Antwort Hayeks an die Schweizer Gruppe, wenngleich freundlich gehalten, ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Hunold, schrieb er, sei vollends untragbar geworden. „Mein Wunsch ist immer noch, sobald wie möglich abzutreten, aber Herr Dr. Hunold hat es für mich so klar gemacht, daß, wenn er Sekretär bleibt, die Gesellschaft erledigt ist." Als Kompromiß, um die drohende Zerreißprobe der MPS abzuwenden und Hunold eine öffentliche Demütigung zu ersparen, schlug er vor, für ein weiteres Jahr Präsident zu bleiben, wenn Hunold einen Posten als Vize-Präsident der Gesellschaft annehme und sich aus der aktiven Leitung zurückziehe (Hayek an Bretscher bzw. Lutz, 14.7.1960, Abschrift in: BÄK B 102/12725). Damit lag ein Angebot Hayeks auf dem Tisch, das den Konfliktparteien einen Ausweg aus der verfahrenen Situation hätte weisen könne. Sein Brief kam jedoch zu spät, um einen von Hunold eingefädelten Rundbrief an alle Mitglieder der MPS noch zu stoppen, den neben ihm die drei Vize-Präsidenten Baudin, Böhm und Röpke unterzeichnet hatten. Angefeuert wurde Hunold von Rüstow, der meinte, Hayek habe „offen den Krieg erklärt". Man müsse sich zusammennehmen, „um nicht besiegt zu werden. Bieten Sie nur ja alles auf, was an Hilfstruppen mobilisierbar ist" (Rüstow an Hunold, 22.7.1960, in: IWP, NL Hunold). Vordringlich wandten sich Baudin, Böhm, Röpke und Hunold in ihrem Rundschreiben gegen die „Proxy"-Sammlung von Machlup und Stigler. Sie riefen „im Interesse der Einheit der Gesellschaft" dazu auf, alle schon gegebenen Vollmachten zu widerrufen und statt dessen den drei Vize-Präsidenten Vollmachten zu geben. Statt der konfrontativen Lösung der Krise, präsentierten Hunold und seine Verbündeten nun einen scheinbar eleganten Ausweg: Hayek habe sich bereit erklärt, so versicherten sie den Mitgliedern, noch ein weiteres Jahr Präsident zu sein, und mit ihm sollte das gesamte bestehende Direktorium der MPS kollektiv wiedergewählt werden. Erst im folgenden Jahr könne ein Wechsel an der Spitze der Gesellschaft in Ruhe und ausführlich besprochen werden (Baudin, Böhm, Röpke u. Hunold an MPS-Mitglieder, 18.7.1960, in: Hunold, 1962, S. 42-43). 37 Der Kompromißvorschlag klang gut, er ging jedoch von falschen Voraussetzungen aus und trug damit zu noch weiterer Verwirrung in der Gesellschaft bei. Hayek war keineswegs bereit, mit dem bestehenden Direktorium zusammenzuarbeiten. Er reagierte mit einem unmißverständlichen Schreiben an alle Mitglieder, daß er „nach allem, was geschehen ist, nicht wünsche, mit einer Gesellschaft verbunden zu sein, bei der Dr. Hunold Sekretär ist" (Hayek an MPS-Mitglieder, 3.8.1960, in: ebd.). Nun war der Streit unter allen Mitgliedern bekannt geworden. Röpke fühlte sich veranlaßt, Hunold zur Seite zu springen und forderte einen „fairen Prozeß". Sein Schreiben, das detailliert eine lange Liste von Vorwürfen gegen Hunold aufgriff und zu widerlegen suchte, endete mit einer Drohung: Sollte der Europäische Sekretär aus der Gesellschaft herausgedrängt werden, müsse auch er, Röpke, Konsequenzen ziehen. „Ich ... würde die Mont Pèlerin Society verlassen, aus Protest gegen eine schwere Ungerechtigkeit und aus Loyalität gegenüber einem Mann, der allen Anspruch darauf hat"

Böhm bedauerte seinen Einsatz zugunsten Hunolds bald schon wieder: In einem schwungvollen Brief an Lutz schilderte er seinen Eindruck, daß „Hunold, nachdem es zum Bruch gekommen war, die Kompetenzen und Pflichten seines Geschäftsführeramtes überschritten" habe. „Ein Geschäftsführer darf ... keine Palastrevolution machen, und wir, die Mitglieder, dürfen nicht dulden, daß ein Geschäftsführer Palastrevolution macht. Wir müssen vielmehr die Autorität des Präsidenten stützen", so der Jurist Böhm, „ganz gleichgültig, ob wir die Politik des Präsidenten billigen oder nicht" (Böhm an Lutz, in: B Ä K , B 102/ 12725). 37

186 • Wandlungen des Neoliberalismus

(Röpke an MPS-Mitglieder, 18.8.1960, in: ebd., 1962, S. 45-47). Angesichts des zerrütteten Verhältnisses zwischen Hayek und Hunold und wechselseitiger Austrittsdrohungen schien eine Spaltung der MPS kaum noch abwendbar.

7.4. Vorletzter Akt des Dramas Das Vorbereitungskomitee für die MPS-Tagung im September 1960 hatte einen denkbar festlichen Rahmen gewählt. Den Auftakt zu dem fünftägigen Treffen in Kassel machte eine Begrüßungsrede Erhards auf Schloß Wilhelmshöhe. Alles sah nach einer triumphalen Inszenierung des westdeutschen Ministers aus, dessen Mahnung, den Pfad marktwirtschaftlicher Politik nicht zu verlassen, seine mehr als hundertköpfige liberale Anhängerschaft dankbar unterstützte. Ein internationales Presseaufgebot, das Hunold eingeladen hatte, berichtete über die Tagung, deren Vorträge sich vier Themenkomplexen widmeten: „Die Fronten der Freiheit", „Öffentliche Meinung in einer freien Gesellschaft", „Unterentwickelte Länder" sowie „Ökonomische und finanzielle Probleme des Westens". Während der akademischen Beratungen tobte hinter den schönen Kulissen jedoch der Machtkampf zwischen dem Präsidenten der MPS und seinem Europäischen Sekretär. Hayek stieß erst am dritten Tag zu der Konferenz, ging aber sogleich zum Angriff auf Hunold über. Alles deutete auf einen totalen Bruch in der Gesellschaft hin. Ein offener Eklat, der der versammelten Presse wohl nicht entgangen wäre, wurde nur durch eine energische Intervention Erhards abgewendet. Er war es, der die Gemüter beruhigte und schließlich einen rettenden Kompromiß einfädelte, wonach Röpke die Präsidentschaft und Leoni das Amt des Europäischen Sekretärs übernehmen sollte, Hunold aber ein gesichtswahrender Abgang als Sekretär ermöglicht würde, indem man ihn auf den Posten eines der Vize-Präsidenten der Gesellschaft beförderte. Hayek war nicht glücklich, sprang aber über seinen Schatten und akzeptierte die Abmachung. Erleichtert trat die Führungsriege der MPS am 6. September vor die Mitglieder. Hayek verkündete seinen Rücktritt, sprach versöhnlich über die nun ausgeräumten Meinungsverschiedenheiten mit Hunold, lobte dessen Verdienste und erklärte, „daß das künftige Wohlergehen der Gesellschaft wichtiger ist als die Positionen von uns beiden und daß es im besten Interesse der Gesellschaft ist, wenn wir beide zur selben Zeit unsere Posten räumen würden" (zit. n. ebd., 1962, S. 49). In Kassel war es scheinbar gelungen, den gordischen Knoten der wechselseitigen Vorwürfe und Schuldzuweisungen zu durchtrennen. Doch der Frieden währte nicht lange. Röpke, der noch 1959 in Oxford die ihm angetragene Präsidentschaft der MPS abgelehnt hatte, übte sein Führungsamt eher schwach aus. Gesundheitlich angeschlagen, wie er seit Jahren war, fehlte ihm die Kraft, ein erneutes Aufflammen der Konflikte zu verhindern. Ohnehin schien er mit der Aufgabe überfordert, die auseinanderstrebenden Flügel der Gesellschaft zusammenzuhalten. Wie auch Hunold sah Röpke zwei Richtungen in der MPS vertreten, die seit 1947 nebeneinander existiert hatten: Zum einen die seiner Meinung nach rein ökonomistisch denkenden, an Mises, Hayek oder Friedman orientierten Mitglieder, zum anderen eine eher moderate Gruppe, die auch eine soziologische Dimension des Neoliberalismus betonte. Röpke und Rüstow waren die Wortführer letzterer Richtung, die

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 187

aber in der MPS immer deutlicher an Bedeutung verlor, je mehr die amerikanische Mitgliederschaft an Gewicht zulegte. Die Personalie Hunold war keineswegs so befriedigend geklärt, wie manche gehofft hatten. Seine Schlüsselstellung als MPS-Organisator hatte Hunold zwar geräumt, als Vize-Präsident und über seinen Freund Röpke konnte er nun aber um so stärker indirekten Einfluß auf die Geschicke der Gesellschaft ausüben. Er empfand den Kasseler Kompromiß als persönlichen Sieg. Seine vornehmlich amerikanischen Kritiker, die sich um Machlup, Stigler und Friedman gesammelt hatten, merkten bald, daß sie einen Fehler begangen hatten.38 Da Röpke offenkundig die Gesellschaft nur für eine Übergangszeit zu fuhren bereit war, fürchteten Hunolds Kritiker, bei einem vorzeitigen Rücktritt Röpkes könne Hunold oder einer seiner Vertrauten als „erster Vize-Präsident" geschäftsführend die Präsidentschaft übernehmen. Im September 1961, beim MPS-Treffen in Turin, eskalierte dieser Streit. Während der greise Einaudi als staatsmännisches Aushängeschild für die Mitglieder und die Presse fungierte, tobte hinter verschlossenen Türen erneut ein häßlicher Kleinkrieg in der Ratsversammlung. Die gegenseitigen Unterstellungen schienen den hohen wissenschaftlichen und ethischen Ansprüchen der Gesellschaft kaum noch angemessen.39 Der dauernde Zank wie die zunehmend persönlichen Attacken setzten Röpke dermaßen zu, daß er, einem Zusammenbruch nahe, seinen Rücktritt verkündete und den Raum verließ. Als die Versammlung den Abwesenden dann aber erneut zum Präsidenten wählte, akzeptierte Röpke nachträglich, wenn auch widerwillig, da er sich als „die letzte Klammer zwischen dem Hayek-Klüngel und den anderen" betrachtete (Röpke an Welter, 23.10.1961, in: IWP, NL Röpke). Nach Hunolds Auftritt in Turin waren seine amerikanischen Kritiker, allen voran Machlup, Stigler und Friedman endgültig entschlossen, mit ihm abzurechnen. Dazu versuchten sie, ihm auch finanziell das Wasser abzugraben, was aber nicht gelang.40 Der neue MPS-Sekretär Leoni übernahm schließlich einen Schlüsselpart der gegen Hunold gerichteten Aktivitäten. Mehr und mehr geriet nun auch Röpke ins Kreuzfeuer der streitenden Parteien. Die Zusammenarbeit zwischen dem neuen Präsidenten und dem neuen

Besonders Friedmans Mißtrauen wurde geweckt, als er das von Hunold verfaßte Protokoll der Ratssitzung in Händen hielt. Aus seiner Sicht wich es in einigen Punkten vom tatsächlichen Ablauf der Sitzung ab (vgl. Friedman an Hunold, 3.2.1961; Hunold an Friedman, 15.2.1961, in: HIA, MPS-Slg. 1). Unausgesprochen stand der Vorwurf im Raum, Hunold habe einige entscheidende Passagen des Protokolls zu seinen Gunsten geändert. Die zwei Versionen, ein nach Notizen von Machlup rekonstruiertes Protokoll sowie eine von Hunolds Sekretärin Magdalena Schwenderer beeidete Aussage zu den Ereignissen, sind bei Hartwell (1995, S. 125-130) dokumentiert. Dabei ging es, wie sich beim nächsten Treffen in Turin zeigen sollte, um die scheinbar nebensächliche Streitfrage, in welcher Reihenfolge die neu gewählten Vize-Präsidenten der Gesellschaft aufgeführt werden sollten. In Hunolds Protokoll erschien sein Name weiter vorne in der alphabetischen Liste der Vize-Präsidenten, dagegen rückte Machlups Version, auf die Friedman sich stützte, ihn weiter nach hinten. 38

Hunold warf seinen Gegnern vermeintlich unkorrekte Reisekostenabrechnungen vor, diese konterten mit Kritik an einzelnen Formulierungen Hunolds im Quarterly. Die ganze Diskussion durchzogen Hunolds übliche Verschwörungsthesen. In der heiklen Frage der Vize-Präsidenten scheiterte Röpke mit seinem Antrag, Hunolds Namen möglichst weit oben auf der Liste zu nennen. Die Mehrheit entschied, daß aus Gründen der Seniorität nun Jewkes - abweichend von der alphabetischen Ordnung - das Verzeichnis der Vize-Präsidenten anführen sollte. 40 Sie drängten Pierre Goodrich, einen der letzten amerikanischen Unterstützer und Finanziers, die Hunold blieben, diesem den Geldhahn zuzudrehen. Damit wäre das Ende des Quartely besiegelt gewesen, das ihnen ein Dorn im Auge war. Doch Goodrich stand fest im Lager von Hunold, dem er versicherte: „Ich tat alles, was ich tun konnte, um die Aktivitäten gegen Sie zu stoppen" (Goodrich an Hunold, 26.7.1961, in: IWP, NL Hunold). Die von ihm vermittelten Spenden der Winchester-Stiftung flössen also weiter an Hunold. 35

188 • Wandlungen des Neoliberalismus Sekretär der MPS verlief von Anfang an denkbar ungünstig. Bald schon entzündete sich ein neuer Streit an der Frage eines Tagungsortes der MPS für 1962.41 Leonis amerikanische Freunde, die Gruppe um Friedman, Machlup und Stigler, bestärkten ihn in der Auffassung, daß ihm übel mitgespielt werde. Von Friedman instruiert und ermuntert, ging Leoni darauf ans Werk, seine Gegenspieler in der Schweiz auszumanövrieren. Röpke solle „unter konstantem Feuer gehalten werden mit Briefen, die gegen ihn und Hunold protestieren" (Leoni an Friedman, 25.10.1961, in: HIA, Slg. Friedman, 86-3).

7.5. Ein tragisches Ende Die Grabenkämpfe und Anfeindungen in der MPS zermürbten Röpke immer mehr. Seine Frau war in höchster Sorge: „Mein Mann befindet sich infolge der mit der Mt.-PelerinSociety verknüpften Aufregung in einem Zustand, daß ich einen neuen Herzinfarkt befürchte." Um ihn zu schonen, werde sie jegliche Post in Sachen MPS von ihm fernhalten. Röpke müsse die Präsidentschaft niederlegen: „Diese verfluchte Gesellschaft ... ich bin sehr besorgt" (Eva Röpke an Hunold, o. Dt. [wohl Ende November 1961], in: HIA, MPS-Slg. 1). Rücksicht auf Röpkes Gesundheit walten zu lassen hatte Leoni aber nicht vor. Ohnehin hielt dieser alles nur für eine Ausrede: Sobald die Dinge in der MPS wieder nach Röpkes Wünschen liefen, meinte Leoni, sei doch „sicher, daß er [Röpke] sich wahrscheinlich prompt wieder 'erholt'" (Leoni an Friedman, 28.11.1961, in: HIA, Slg. Hartwell 1). Hier irrte er fatal. Röpke bereute inzwischen, nach dem Rücktritt in Turin noch einmal aus Verantwortungsgefühl die Last des Präsidentenamts übernommen zu haben: „Ich suche jetzt nur noch nach dem rechten Moment und Weg des völligen Absprungs. Meine Gesundheit verlangt das imperativ" (Röpke an Welter, 1.12.1961, in: IWP, NL Röpke). Wenig später unternahm er einen letzten Versuch: In einem Rundbrief an die Mitglieder begann er eine — von den Statuten der Gesellschaft so überhaupt nicht vorgesehene — Mitgliederbefragung, um den Tagungsort für das Jahr 1962 zu ermitteln und für seinen Standpunkt zu werben (Röpke an MPS-Mitglieder, 6.12.1961, in: ebd.). Die überwiegend positiven Reaktionen gaben ihm nur kurz Aufwind, wenig später warf er, wohl auf Drängen seiner Frau, das Handtuch. In der von Eva Röpke verfaßten dramatischen Abschiedserklärung hieß es: „Um schwere Risiken zu vermeiden, bleibt ihm nur noch eines: Die Gesellschaft zu verlassen, deren Mitbegründer er war" (Eva Röpke an Mitglieder, 21.12.1961, in: HIA, Slg. Hartwell 1). Hunold fügte dem in einem gesonderten Schreiben eine lange, bittere Klage hinzu: „Professor Röpke ist das Opfer einer kleinen Gruppe innerhalb unserer Gesellschaft geworden, deren einzige Absicht seit nun mehreren Jahren es war, die Macht über unsere Organisation zu ergreifen und zu nehmen, was andere gesät haben" (Hunold an Mitglieder, 21.12.1961, in: HIA, MPS-Slg. 1). Röpke freute sich, als auf Vermittlung von Reinhard Karnitz ein Treffen in Österreich möglich schien, doch Leoni durchkreuzte die Vorbereitungen. Ob sein Verhalten Teil einer raffinierten Strategie oder schlicht Folge unglücklicher Mißverständnisse war, läßt sich schwer rekonstruieren. Aus Röpkes und Hunolds Sicht stellte es sich als zielgerichteter Versuch dar, ihre Arbeit zu torpedieren. Leoni dagegen, der mit Hilfe Jacques van Offelens auf ein Treffen im Seebad Knokke hinarbeitete, sah sich völlig im Recht. Ihn kränkte es, welch schweres Geschütz Röpke und Hunold gegen die Träger des belgischen Projekts und die vorgesehene Tagungsstätte, das liberale Centre Paul Hymans, auffuhren. 41

Aufbau, Strategie und Krise der M P S • 189

Das so unerfreuliche Ende seiner MPS-Präsidentschaft hatte für Röpke unmittelbare gesundheitliche Folgen. Im Januar 1962 traf ihn ein zweiter Herzinfarkt, der ihn dauerhaft schwächte und wohl seinen recht frühen Tod vier Jahre später beschleunigte. Es sei die „Atmosphäre der Feindseligkeit" gewesen, „deren Gift mein Herz schließlich erlag", reflektierte er die Erfahrung in einem Aufsatz für den Sammelband „Die Kraft zu leben". So sehr Röpke die geistige Unterstützung und Bestätigung im Kreise der MPS über viele, oft schwierige Jahre Energie und Auftrieb gegeben hatte, so führte die „Zerstörung der Gemeinschaft" bei ihm „zu einer lebensbedrohlichen Lähmung meiner Kraft" (Röpke, 1963, S. 195). Als Röpke sich von dem Herzinfarkt einigermaßen erholt hatte, schrieb er für die letzte Ausgabe des Mont Pèlerin Quarterlj einen Abschiedsbrief an die Mitglieder der Gesellschaft. Er klang recht verbittert: Die MPS habe ihre Zeit gehabt, meinte er, nun seien „neue Formen und Methoden" zu finden, um den Herausforderungen der Zeit zu begegnen. „Es tut mir leid, daß ich über etwas Bericht erstatten mußte, was nur eine relativ unbedeutende Episode ist, die mit der möglichen Aussicht auf neue und größere Anfänge vergessen werden sollte" (Röpke, 1962, S. 6-7). Aus dem angedeuteten Neuanfang wurde jedoch nichts. Hunold hatte ihm schon, als der Kampf in der MPS noch andauerte, vorgeschlagen: „Wenn alle Stricke reißen, dann tragen wir im schweizerischen] Handelsregister eine in der Schweiz domizilierte Mont Pèlerin Society ein und gründen mit Freunden etwas ganz neues" (Hunold an Röpke, 14.9.1961, in: IWP, NL Hunold). Seine unternehmungslustigen Worte zeigten wieder einmal, daß Hunold die eigene Bedeutung überschätzte, wäre doch eine MPS ohne die Beiträge ihrer amerikanischen und britischen Mitglieder wissenschaftlich nur als Schatten ihrer selbst denkbar gewesen. Röpke selbst erging sich in nachträglichen Klagen über die einseitig ökonomische Ausrichtung der Mont Pèlerin Society, deren Mangel an echter Philosophie ihm stets mißfallen habe. Ein „Forum Atlanticum" könne aus dem „ökonomistischen Ghetto" herausführen, machte er sich Hoffnung (Röpke an Rüstow, 23.2.1962, in: IWP, NL Röpke). Seine Kraft reichte nicht mehr, um diesen Gedanken zu verwirklichen. Am 13. Februar 1966 setzte Röpkes schwaches Herz endgültig aus. Hunold gründete kurz darauf zum Andenken an seinen Freund eine Wilhelm-Röpke-Stiftung. Zudem war er weiterhin als Delegierter am Schweizerischen Institut für Auslandsforschung tätig und wirkte in diesem eher begrenzten Rahmen noch einige Jahre als Organisator von Vortragsreihen mit zumeist neoliberalen Referenten. Hunold verstarb im Juni 1980.42

Mitte der siebziger Jahre ergab sich noch einmal ein Kontakt zur MPS, als deren Sekretär Jean-Pierre Hamilius sich an Hunold wandte und diesen besuchte, um die umfangreiche Korrespondenz Hunolds aus den Jahren 1947 bis 1962 für das MPS-Archiv zu übernehmen. Hunold war noch immer tief verletzt von den vergangenen Ereignissen und äußerte die Bitte, 1976 an einem Treffen der Gesellschaft teilnehmen zu dürfen (vgl. Hartwell, 1995, S. 172-173). 42

190 • Wandlungen des Neoliberalismus

8. Gewichtsverschiebung innerhalb des Neoliberalismus Der Sturm in der MPS legte sich nur langsam. Der Abgang Röpkes, neben Hayek der zweitwichtigste Gründer der Gesellschaft und über Jahre einer ihrer wichtigsten Redner, bedeutete einen tiefen Einschnitt. Nach Ansicht Brandts war die Gesellschaft „tot", da die „Atmosphäre vergiftet" und „keine geistige Verwandtschaft mehr zu erwarten" sei (Brandt an MPS-Mitglieder, 8.1.1962, in: HIA, Slg. Hartwell 2). Mit Röpke verließ rund ein Dutzend Mitglieder die Gesellschaft, allen voran Rüstow, der sich ihm und Hunold besonders verbunden fühlte. 43 Noch Mitte 1962 war Rüstow darum bemüht, eine breitere Austrittswelle zu organisieren. Sein Rundbrief ging an drei Dutzend MPS-Mitglieder meist aus dem deutschen Sprachraum, vor allem an Bekannte mit ordoliberaler Ausrichtung, zeigte aber keinen Erfolg. Eine typische Antwort schien die von ivlZ-Herausgeber Erich Welter. Dieser erkannte bei dem tragischen Streit Fehlverhalten auf beiden Seiten, wollte daher der Gesellschaft trotz einiger Enttäuschung nicht den Rücken kehren. Er bekräftigte, was auch Rüstow zugegeben hatte: „Der große Krach hat nach ... den Kenntnissen, die ich mir von den wirtschaftspolitischen Strömungen in der Mont Pèlerin Society habe verschaffen können, mit wirtschaftspolitischen Meinungsverschiedenheiten, so hartnäckig das auch behauptet wird, nicht das geringste zu tun" (Welter an Rüstow, 28.7.1962, in: BÄK, NL Rüstow). Keiner der prominenten deutschen Politiker in der MPS, also weder Erhard, noch Müller-Armack oder Böhm, folgte Rüstows Aufruf. Der Bonner Wirtschaftsminister blieb Mitglied, da er der Meinung war, wie sein Vertrauter Otto Vogel ausrichtete, „daß man die MPS nicht platzen lassen sollte" (Vogel an Rüstow, 1.8.1962, in: NL Rüstow). Unabhängig von der „Hunold-Affäre" hatten sich noch einige andere Mitglieder der MPS entfremdet. Zu nennen wäre hier Walter Lippmann, der in der Gesellschaft allerdings nie eine große Rolle spielte. Sein Buch „The Good Society" war einst auf begeisterte Zustimmung im Kreise der Neoliberalen gestoßen, schon bald aber kühlten die Beziehungen ab. Die Leser seiner sehr einflußreichen Kommentare erkannten, daß Lippmanns Ablehnung des New Deal nur eine flüchtige Aufwallung war. In den frühen vierziger Jahren hatte sich Lippmann mit massiven staatlichen Interventionen abgefunden. Wie die meisten Intellektuellen schloß er sich nach 1945 der keynesianischen Vollbeschäftigungspolitik und dem Loblied des Wohlfahrtsstaats an.44 Anfang der sechziger Jahre tat er sich als

Die bekannteren Mitglieder, die nach Rüstow austraten, waren Brandt, der später aber wieder eintrat, ferner Pedro Beitran aus Lima, Marcel Bourgeois aus Paris, William L. Clayton aus Houston/Texas, die Deutschen Wolfgang Dürr, Alfred Flender und Wolfgang Frickhöffer, der ebenfalls später wieder zur MPS stieß, sowie J. George-Picot aus Paris, Hans Kohn aus New York, A. Montgomery aus Stockholm, George Revay aus Paris und H. M. Robertson aus Kapstadt (vgl. Rüstow an Jewkes, o. Dt. [wohl Anfang 1962], in: BÄK, NL Rüstow). Auch Röpkes alter Bekannter Erik von Kuehnelt-Leddihn verließ die Gesellschaft, der er erst 1960 beigetreten war, trat aber später wieder als Gastredner in Erscheinung. In seiner Autobiographie hat er die Meinung vertreten, Ende 1961 sei es „zum Exodus der Neuliberalen" gekommen. Der „echte Neuliberalismus" sei kein radikaler Wirtschaftsliberalismus, sondern industriellem und finanziellem ,„Mammuthismus' abhold" gewesen (Kuehnelt-Leddihn, 2000, S. 279 bzw. 281). 44 Dies zeigte seine Bewunderung für John Kenneth Galbraith, dessen Forderung nach einem Ausbau des Staatsanteils er teilte. In einem Brief an Galbraith bekannte Lippmann, er fände Keynes' „General Theory" zwar „unlesbar, doch trotzdem habe ich es geschafft, ein glühender Amateur-Keynesianer zu werden" (zit. n. Riccio, 1994, S. 204-205). 43

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 191

publizistischer Unterstützer der wohlfahrts staatlichen Programme der Präsidenten Kennedy und Johnson hervor. All dies stand in völligem Kontrast zur Stoßrichtung der MPS. Nicht verwunderlich war daher Lippmanns Weigerung, ausstehende Mitgliedsbeiträge zu zahlen, was 1960 zu seinem Ausschluß aus der Gesellschaft führte (vgl. Riccio, 1994, S. 204). Eine überraschende intellektuelle Wende vollzog auch der französische Philosoph Bertrand de Jouvenel. Dessen 1945 veröffentlichte Studie „Du pouvoir" galt in der MPS als antietatistischer Klassiker.45 Seine leidenschaftliche Abrechnung mit den wirtschaftlich, kulturell wie auch moralisch negativen Konsequenzen des umverteilenden Wohlfahrtsstaates, 1952 als „The Ethics of Redistribution" vorgelegt, brachte Jouvenel bei amerikanischen Neoliberalen große Bewunderung ein, wenngleich er deren rein individualistische Betrachtungsweise von Gesellschaft und Ökonomie ablehnte.46 Zunehmend kritisierte er eine einseitig atomistischutilitaristische Auffassung des Menschen als „homo oeconomicus", die er manchen Neoliberalen, insbesondere Mises und Rueff, vorwarf. 1960 schrieb Jouvenel an Friedman, mit dem er seit dessen erstem Besuch in Europa befreundet war, daß er sich der MPS entfremdet habe. Er wollte nicht länger einer Organisation angehören, die verbreite, daß „der Staat überhaupt nichts Gutes tun kann und die private Unternehmung nichts Falsches" (zit. n. Mahoney, 2005, S. 197). Später wandte sich Jouvenel, der zeitlebens ein unstetes politisches Urteil hatte, den französischen Sozialisten zu und wurde einer der Vordenker der französischen ökologischen Bewegung (vgl. ebd., S. 161-172). Während sich Lippmann und Jouvenel der Linken annäherten, kapselte sich Mises auf der Rechten ab und pflegte einen marktwirtschaftlichen Purismus. Er hing einem recht dogmatischen Verständnis der Organisation menschlichen Zusammenlebens durch den Markt an und konnte abweichende Ansichten in Fragen der ökonomischen Theorie kaum ertragen.47 Die Öffnung des Neoliberalismus zu einem positiven Verständnis eines Staates, der sich auf die ordnungspolitische Aufgabe der Sicherung des Wettbewerbsrahmens begrenzen sollte, hatte Mises widerwillig verfolgt. Insgesamt erschien ihm die MPS als Tummelplatz gemäßigter Interventionisten. Auch methodologisch vertrat er eine solitäre Position, die keine Kompromisse zuließ.48 Gemäß Mises' „Praxeologie" war einzig die

Jouvenel beschrieb und beklagte darin den seit der Neuzeit beobachtbaren Aufstieg des modernen absoluten Staates zu einem übermächtigen, quasi-totalitären Wesen, dem „Minotaurus", der subsidiäre Zwischenschichten und konkurrierende Autoritäten zermalme, bis die einzelnen Bürger einer bedrohlichen Zentralstaatsgewalt direkt ausgeliefert seien, unabhängig von einer formal demokratischen Herrschaftsform. In Teilen griff Jouvenel damit die Warnung Tocquevilles vor einer despotischen Herrschaft der Mehrheit auf (vgl. Mahoney, 2005, S. 24-51). 45

Sein Interesse galt dem Phänomen zwangloser sozialer Koordination und Gliederung in gewachsenen, traditionsbewußten Gemeinschaften abseits des planenden Staates (vgl. dazu Habermann, 1995). 47 Der holländische Ökonom Josephus Jitta kam beim MPS-Treffen in Venedig auf die bekannte Radikalität Mises' mit einer ironischen Bemerkung zu sprechen: „Wir alle sind ,mehr oder weniger' Sozialisten. Wenn ich als Sozialist angesehen werde, bevorzuge ich in dieser Beziehung das Präfix „weniger". Es gibt keine 100-prozentigen Sozialisten. Sie schwanken alle zwischen 95 Prozent und 5 Prozent. Professor Mises, muß ich allerdings sagen, ist unter Null" (Jitta, 1954, S. 1). Nach einer oft erzählten Anekdote verließ Mises einmal bei einer MPS-Diskussion wutentbrannt den Raum und schrie: „Ihr seid doch alle ein Haufen Sozialisten!" Nachdem einer seiner Schüler - es war wohl Machlup — in Sachen Goldwährung dem Meister zu widersprechen gewagt hatte, sprach dieser über Jahre kein W o r t mehr mit ihm (vgl. Mises, 1981, S. 203). 46

48 Er hatte in seinen Wiener Jahren eine extreme Abneigung gegen die als relativistisch gefürchtete „positivistische" Wissenschaftstheorie entwickelt, die ökonomischen Aussagen und Gesetzen nur dann Gültigkeit beimessen wollte, wenn sie empirisch getestet würden. Dagegen hielt Mises unnachgiebig an einer, wenngleich ständig verfeinerten, doch zugleich simplen „aprioristischen" Position fest, die den Wahrheitsgehalt ökonomischer Gesetze in logischer

192 • Wandlungen des Neoliberalismus mikroökonomische Betrachtung von Belang, alle auf der Untersuchung aggregierter Größen beruhenden makroökonomischen Theorien sah er als Scharlatanerie und Anmaßung. Entsprechend lehnte er auch Friedmans monetäre Theorie und dessen Empfehlung eines ungedeckten Papiergeldes als inflationären Irrweg ab. Als die von Friedman propagierte „Neoklassik" auch in der MPS mehr und mehr Anhänger fand, blieb Mises den Treffen in den sechziger Jahren immer öfter fern (vgl. Sennholz, 1978, S. 170). Wenn somit einige eigenwillige Charaktere aus der frühen Zeit der Gesellschaft diese entweder verließen oder sich zurückzogen, so gefährdete dies nicht ihren Bestand. Nach den aufwühlenden Ereignissen der Hunold-Affäre hofften alle auf Frieden und Harmonie in der Gesellschaft. Gestört wurde diese aber von neuerlichen Reibungen im Winter 1962 und Frühjahr 1963 zwischen Jewkes, dem neuen MPS-Präsidenten, und Bruno Leoni, dem Sekretär. Jewkes plante erneut ein Treffen in Oxford, während Leoni sich darauf versteifte, gemeinsam mit Daniel Villey eine Tagung in Frankreich abzuhalten. Ein absurdes Tauziehen folgte (vgl. Hartwell, 1995, S. 138-142).49 Letztlich mußte das Treffen für 1963 aufgrund der gegenseitigen Blockade ganz ausfallen. Erst ab 1964 kehrte wieder relative Ruhe in die Organisadon ein und Leoni führte die Geschäfte in effizienter Weise — bis zu seinem tragischen Tod am 23. November 1967, als der erst 54 Jahre alte, hochgeachtete Rechtsprofessor und Verfassungstheoretiker von der Universität Pavia einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel.50 Auch Röpkes Tod 1966 hatte die Neoliberalen weltweit erschüttert. Mit ihm verloren sie einen streitbaren Intellektuellen, dem auch die MPS in den ersten fünfzehn Jahren viel zu verdanken hatte. Als sein Nachfolger im Amt des Präsidenten der MPS war 1962 John Jewkes nachgerückt, der den Posten bis 1964 innehatte. Ihm folgte Friedrich A. Lutz, ein guter Bekannter Röpkes und Schüler Euckens. Zwischen 1967 und 1968 hatte der französische Jurist Daniel Villey die Präsidentschaft inne, der erste Nicht-Ökonom an der Spitze der MPS. Die Wahl des an der Universität Köln lehrenden Ökonomen Günter Schmölders 1969 zum Präsidenten war erneut Beleg für die Bedeutung der deutschen Gruppe innerhalb der MPS; von einer Ausgrenzung konnte keine Rede sein. Gleichwohl hatten sich die Gewichte in der Mont Pèlerin Society verschoben. In ihrer Anfangszeit war sie eine unverkennbar europäische Gesellschaft. Lag in den ersten Jahren der geographische wie geistige Schwerpunkt unzweifelhaft in der Mitte des alten Kontinents, Weise von fundamentalen Axiomen rationaler menschlicher Handlungsweisen deduzierte — ein Verfahren, das er nach dem griechischen Wort für „Handeln" als „Praxeologie" bezeichnete. Zu Mises' Methode vgl. Hoppe (1993, S. 24-26). Damit ließen sich zwar in vielen Fragen erstaunlich sichere Ergebnisse erzielen, jedoch erschien diese Form apodiktischer Beweisführung vielen als doktrinär. Besonders schmerzte es Mises, als er nach und nach erkannte, daß auch Hayek sich von der „praxeologischen" Methode entfernte (vgl. Rothbard, 1988, S. 68). 49 Dutzende Briefe und Memoranden wurde zwischen den führenden MPS-Leuten hin und her geschickt, erneut war von einem drohenden Schisma, einem „coup d'état" und sonstigen Katastrophen die Rede. Vermutet werden darf, daß Leoni eine „Übernahme" der Gesellschaft durch „englische Freunde" befürchtete, wie er Hayek schrieb (zit. n. Hartwell, 1995, S. 142). 50 Er wurde von einem Hausverwalter, der Mietgelder unterschlagen wollte, in ein Auto gelockt, wo es zum Streit kam, in dessen Verlauf Leoni brutal erschlagen wurde. Anschließend wollte der Täter die nichtsahnende Witwe noch erpressen. Die Polizei fand die Leiche Leonis einen Tag später in einer nahegelegenen Garage versteckt (vgl. „Translation of the newspaper account of the death of Prof. Bruno Leoni", 23.11.1967, in: HIA, MPS-Slg 43). Ihm zu Ehren und zum Andenken an den 1968 verstorbenen MPS-Präsidenten Villey veranstaltete die MPS bei ihrem Treffen in Caracas eine Sondersitzung (vgl. Shenfield; Bilger; Guiton, Leduc; Rueff, 1969).

Aufbau, Strategie und Krise der MPS • 193 so wandelte sie sich ab den sechziger Jahren zu einer angelsächsisch dominierten Vereinigung, wenn auch die kontinentaleuropäischen Mitglieder weiter eine wichtige Rolle spielten. Die Gruppe der deutschsprachigen Mitglieder erlitt nach 1962 zwar zahlenmäßig nur einen geringen Verlust, doch ihr in der Frühzeit beträchtlicher Einfluß ging stark zurück. 51 Das „soziologische" Element, das dem frühen Neoliberalismus eine spezielle Note gegeben hatte, rückte in den Hintergrund. Nach Röpkes Demission und Rüstows Austritt fehlten die zwei wortgewaltigsten Exponenten dieser Richtung. Ohne diese beiden trocknete der Zweig des „soziologischen" Ordoliberalismus in der MPS langsam aus. Vorträge mit einem breiten sozialwissenschaftlichen Ansatz gab es später immer weniger; künftig dominierten rein ökonomische Beiträge. Die Affäre um Hunold kann daher als eine gewisse Zäsur angesehen werden. Sie stand am Beginn einer Wandlung der MPS und damit des Neoliberalismus.

Die in Fragen der ordoliberalen Strukturpolitik engagierten Vertreter der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft wie Rüstow und Frickhöffer waren gegangen, Erhard und Müller-Armack traten in den folgenden Jahren seltener in Erscheinung. 51

3. Teil: Die MPS bezieht Stellung: Auf verlorenem Posten?

VI. Positionen und Kontroversen in der frühen MPS Das Meinungsspektrum innerhalb der Gesellschaft war trotz gemeinsamer Grundüberzeugungen erstaunlich breit, wie die Vorträge und Diskussionen sowie andere Veröffentlichungen der Mitglieder zeigten. Ihre Kontroversen zu Schlüsselfragen der ökonomischen Theorie und der Politik zeigten, daß die Suche des Neoliberalismus nach festen Positionen in den fünfziger Jahren noch bei weitem nicht abgeschlossen war. Die grundlegende Wirtschaftsphilosophie der „Marktwirtschaft" und der Begriff des „Wettbewerbs" wurden dabei differenziert behandelt. Schließlich verstand sich der Neoliberalismus als Antwort auf die Krise des Liberalismus, die MPS war daher zunächst um eine Klärung der Grundbegriffe bemüht: Was ist der Markt? Unter welchen Bedingungen funktioniert Wettbewerb? Welche Art von Wettbewerb wird gewünscht? Die Antwort auf diese Fragen verwies auf das Neue am Neoliberalismus. Obwohl es falsch wäre, den Neoliberalismus als Reaktion auf den Aufstieg des Keynesianismus zu sehen, nahm doch die Auseinandersetzung mit diesem bei den Treffen der MPS breiten Raum ein. Dabei standen zwei unterschiedliche methodische Ansätze der Kritik nebeneinander: Einerseits Hayeks und Mises' fundamentale Ablehnung des makroökonomischen Denkens, andererseits Friedmans empirische, „positive" Überprüfung der Aussagen der keynesianischen Theorie zur Geld- und Konsumnachfragefunktion. Auf unterschiedlichen Wegen kamen sie dabei zu ähnlichen Schlüssen: Als Folge einer permanenten keynesianischen „Vollbeschäftigungspolitik" drohe Inflation und zugleich steigende Arbeitslosigkeit, warnten MPS-Okonomen - mehr als zwei Jahrzehnte, bevor das Phänomen der „Stagflation" tatsächlich sichtbar wurde. Eine Spaltung in zwei Lager in der MPS offenbarten die Diskussionen zu Fragen der Währungsordnung. Den Anhängern real gedeckter Währungen mit festen Paritäten stand Friedman als anfangs alleiniger Befürworter von „fiat money" mit Geldmengenregel und flexiblen Wechselkursen gegenüber. Erst als das BrettonWoods-System immer stärker in Schieflage geriet, begann die Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft in den sechziger Jahren zu kippen. Differenzen gab es in der MPS auch in der Frage der Sozialpolitik. Das Neue am Neoliberalismus bedeutete hier, daß er eine begrenzte staatliche Sicherung durchaus akzeptierte. Vor dem Ausbau einer umfassenden wohlfahrtsstaatlichen Versorgung durch kollektive Sozialsysteme für alle Bürger warnten führende MPS-Mitglieder jedoch eindringlich. Totale staatliche Absicherung sei nur um den Preis der Aufgabe von individueller Freiheit und Würde möglich. Während Hayek eine Versicherungspflicht des Existenzminimums zugestand und ansonsten die Interaktion am Markt als ausreichendes soziales Gefüge ansah, gingen andere Neoliberale wie Röpke und besonders Rüstow darüber hinaus. Die Marktgesellschaft, so ihre soziologisch gefärbte Argumentation, bedürfe einer Flankierung durch sozial-, bildungs- und strukturpolitische Maßnahmen, kurz „Vitalpolitik", um eine menschenwürdige Ordnung zu schaffen. Diese Uberzeugung erklärt auch ihre abweichende Position in der Frage der Agrarpolitik. Ihre Vorliebe für eine ländlich verwurzelte Gesellschaft zeigte ein Verständnis des Neoliberalismus, das sich von dem der Mehrheit in der MPS absetzte.

198 • Wandlungen des Neoliberalismus Neben wirtschaftlichen Fragen widmete sich die Gesellschaft in den fünfziger und frühen sechziger Jahren auch außenpolitischen Fragen. Insbesondere diskutierte sie die Zukunft der Kolonien sowie Staaten der Dritten Welt, die Entwicklungspolitik der Industrieländer und den Weg der europäischen Integration. Die Haltung der Neoliberalen gegenüber noch bestehenden und ehemaligen Kolonien war mehrheitlich durch realpolitische Erwägungen geprägt. Vor allem gab es Sorge wegen einer Ausweitung des Einflußbereichs der Sowjets. Dem entgegenzutreten war auch eines der Motive westlicher Entwicklungshilfe, deren Theorie und Praxis in den Neoliberalen jedoch erbitterte Kritiker fand. Grundsätzlich monierten sie den planwirtschaftlichen und protektionistischen Ansatz. Derartige Tendenzen vermuteten führende MPS-Mitglieder auch hinter der Marschrichtung der europäischen Einigung, beginnend mit der Montanunion. Prinzipiell wurde die politische und wirtschaftliche Integration des Kontinents zwar begrüßt. Statt einer abgeschlossenen Zollunion und einer Integration, die neue zentralisierende und regulierende Institutionen schuf, plädierten Kritiker aus der MPS für ein Zusammenwachsen von unten über Freihandel und wirtschaftliche Verflechtung.

1. Zur Wettbewerbspolitik: Zwischen Regulierung und Liberalisierung Grundlegend für das Verständnis des Neoliberalismus waren seine wettbewerbspolitischen Vorstellungen. Ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Konkurrenz und Dezentralisierung galt den Neoliberalen als normatives Ziel. Sie sahen darin die Voraussetzung sowohl für ökonomische Effizienz wie für die Sicherung einer freiheitlichen Gesellschaft. Um den Wettbewerb gegen Ausschaltungsversuche zu schützen, forderten die frühen Neoliberalen konsequente Maßnahmen der Politik, insbesondere zur Bekämpfung kartellistischer und monopolistischer Tendenzen. Das Motto der ersten Sitzung der MPS-Gründungskonferenz 1947, ,„Free' Enterprise or Competitive Order", später abgewandelt in ,„Free' Enterprise and Competitive Order", war bewußt gewählt. Hayeks Formulierung wie auch sein Einführungsvortrag machten seinen damaligen Standpunkt klar, wonach die gewünschte wettbewerbliche Ordnung nicht automatische Folge des freien Spiels der Kräfte sei, sondern in einem bewußt konstruktiven Akt vom Staat zu setzen sei.1 Nicht allein die ordoliberale Freiburger Schule, die sich dieser Frage besonders annahm, sondern alle Zweige des frühen internationalen Neoliberalismus, also auch die ältere Generation der Chicagoer Schule sowie die Londoner und die Österreichische Schule — mit Mises als prominenter Ausnahme — vertraten diese Auffassung (vgl. Wegman, 2002, S. 180-189).

1.1. Auflösung aller Monopole und Kartelle Es war Eucken, der Hayek nach dem Krieg ermunterte und drängte, den Unterschied von Laissez-faire und anzustrebender Wettbewerbsordnung noch stärker herauszuarbeiten: „Heute, nachdem durch eine jahrzehntelange verfahrene Wirtschaftspolitik der Konzentra1 Diese frühe Position Hayeks unterscheidet sich von seinem späteren Vertrauen auf die spontane Bildung von Institutionen und Ordnungen im Rahmen einer sozialen Evolution.

Positionen und Kontroversen in der frühen M P S • 199

tionsprozeß schon so weit fortgeschritten ist wie in den meisten Industrieländern, würde ein Laissez-faire zu unerträglicher Vermachtung, monopolistischen, teilmonopolistischen oder oligopolistischen Marktformen, zu gleichgewichtslosen Märkten und zu sozialen Kämpfen führen." Ein „dritter, neuer Weg" sei der richtige, schrieb der Freiburger. Als Ursache der Fehlentwicklung der industriellen Konzentration nannte er staatliche Einriffe, „so das moderne Gesellschaftsrecht, insbesondere das Aktienrecht, so das Patentrecht, einschließlich des Lizenzrechts, so der Markenschutz mit dem Schutz der Preisbindungen der zweiten Hand. Ferner auch die Handelspolitik, auf die Sie sehr mit Recht oft hinweisen. Weiter auch das Steuerrecht, wie z. B. die Umsatzsteuer." Das jetzige Patentrecht sei „einer der Hauptschuldigen für die Konzern- und Monopolbildung und bedarf dringend des Umbaus, damit eine zureichende Wettbewerbsordnung entsteht". Auch einen Abbau des Patentschutzes hielt er für dringend geboten (Eucken an Hayek, 13.3.1946, in: HIA, N L Hayek 18-40). Von den führenden Ökonomen der frühen Chicagoer Schule übte vor allem Henry C. Simons in der Frage der Wettbewerbsordnung zu Anfang der vierziger Jahre einen starken Einfluß auf Hayek aus.2 Gemeinsam mit dem Chicagoer hatte er eine umfassende Forschungsarbeit zu den rechtlichen Rahmenbedingungen des Wettbewerbs zu erstellen geplant, gedacht als „positive Ergänzung" zu seiner Kritik an Kollektivismus und Laissez-faire in „The Road to Serfdom" (vgl. Hayek an Eucken, 3.11.1946, in: HIA, N L Hayek 18-40). Im Sommer 1946 unternahm er deshalb eine Amerikareise, konnte jedoch die geplante Untersuchung mit Simons nicht mehr beginnen, da dieser unerwartet verstarb. Wie schwer dieser Verlust Hayek traf, mag man seiner Begrüßungsansprache im April 1947 am Mont Pèlerin entnehmen, zumal noch weitere intellektuelle Stützen weggebrochen waren, namentlich der Wirtschaftshistoriker John Clapham und der französische Ökonom Etienne Mantoux, einer der Teilnehmer des Colloque Walter Lippmann, den Hayek als „Permanent Secretary" vorgesehen hatte. Der Tod dieser Männer und besonders der Verlust von Simons, „einem Mann, dessen ganzes Leben den Idealen und Problemen gewidmet war, mit denen wir uns beschäftigen werden", habe, so erklärte er, „meine Entschlossenheit, den Plan weiterzuverfolgen, völlig erschüttert" (Hayek, 1947a/1967, S. 153). Die Forderung des frühen Neoliberalismus nach einem staatlich gesetzten Wettbewerbsrahmen und einer aktiven antikartellistischen und antimonopolistischen Politik gründete auf der Befürchtung, der freie Wettbewerb sei potentiell immer gefährdet, da ihm eine Tendenz der Selbstzerstörung durch Marktabsprachen und Kartelle innewohne. In der Ablehnung des Laissez-faire standen die Vertreter der frühen Chicagoer Schule den Freiburger Wissenschaftlern um Eucken kaum nach. Simons' 1934 veröffentlichte Streitschrift mit dem doppeldeutigen Titel „A Positive Program for Laissez Faire" war, wie bereits dargestellt, dafür typisch: „Die Darstellung des Laissez-faire als einer bloßen Politik des Nichtstuns ist unglücklich und irreführend. Es ist die offenkundige Aufgabe des Staates, bei dieser Politik den rechtlichen und institutionellen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen der Wettbewerb effektiv als Kontrollagentur funktionieren kann" (Simons, 1934/1948, S. 42).

Neben Knight wurde Simons als eine der prägenden Figuren der Wirtschaftswissenschaften in Chicago auch in Europa bald wahrgenommen. Rittershausen (1951, S. 426) schrieb im Jahrbuch ORDO: „Der verstorbene Professor Henry C. Simons dürfte in den Vereinigten Staaten eine ähnliche Rolle gespielt haben und spielen wie in unserem Lande Walter Eucken." Simons sei in Chicago „mehr und mehr das Haupt einer ganzen ,Schule'" geworden. 2

200 • Wandlungen des Neoliberalismus Seine Forderung zur Überwindung des klischeehaften Bilds vom Laissez-faire zielte in Richtung einer staatlichen Einhegung des freien Spiels der Kräfte, aber nicht zur Ausschaltung, sondern zur Stärkung des Wettbewerbs. Eine „liberal-konservative Politik", meinte er, stehe und falle mit der Abschaffung der Monopole. „Sie impliziert, daß jede Industrie entweder effektiv wettbewerblich oder verstaatlicht sein soll und daß die Regierung definitiv die Verstaatlichung ... von jeder Industrie planen muß, wo der Wettbewerb nicht gesichert werden kann". Die Regulierung „natürlicher Monopole", wie etwa der Eisenbahnoder Telefonnetze in den Vereinigten Staaten, habe schlecht funktioniert, urteilte Simons, daher seien sie in öffentlichen Besitz zu überführen (ebd., S. 57-58). 3 Angesichts des heutigen Rufs der Chicagoer Schule mögen solche Aussagen eines ihrer frühen und prägenden Vordenker überraschen. Sie zeigen aber, daß selbst in Chicago das Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte des Marktes nur begrenzt war. Die Ähnlichkeiten mit dem Denken der deutschen Ordoliberalen sind unübersehbar.4 Allerdings gab es unterschiedliche Meinungen, wie mit Unternehmen zu verfahren sei, die oft als „natürliche Monopole" bezeichnet wurden. Wie Simons befürwortete auch Röpke, daß „public Utilities" vom Staat betrieben würden; Rüstow forderte beherzt die „Sozialisierung aller Wirtschaftszweige, die, wie insbesondere der Schienenverkehr und die public Utilities, aus natürlichen, technischen oder sonstigen Gründen eine unvermeidliche Monopolstruktur haben" (Rüstow, 1949, S. 134). Eucken hingegen warnte vor einem solchen Schritt: „Eine Verstaatlichung löst das Monopolproblem nicht. Staatliche Monopole — z. B. der Eisenbahn oder Elektrizitätswerke — treiben regelmäßig ebenso monopolistische Politik wie private Monopole" (Eucken, 1949, S. 66). Jede Verstaatlichung führe zu einer bedenklichen Verschmelzung von wirtschaftlicher und politischer Macht. Ebensowenig seien die Funktionäre der Arbeiterschaft zur Monopolaufsicht geeignet. Ein Monopolamt habe „vermeidbare Monopole aufzulösen und unvermeidbare zu beaufsichtigen", deren Zahl jedoch relativ gering sei (ebd., S. 68). Dabei stellte sich die heikle Frage, wie die Preise von regulierten privaten Monopolen festzusetzen seien. Wenn diese auf die Grenzkosten herabgedrückt würden, wie Eucken forderte, wobei er die Schwierigkeiten der Kostenermittlung eingestand, sei zwar „bei gegebenem Produktions-Apparat der günstigste Punkt für die Versorgung des Marktes erreicht" (ebd., S. 69, kursiv im Orig.). Allerdings fehle, warnte er, ein dem echten Wettbewerb analoger Druck auf die regulierten Unternehmen, laufend ihre Produktion zu rationalisieren und ihre Produkte zu verbessern. Die Wirkung dieses Drucks könne simuliert werden, wenn das Unter-

In der 1945 verfaßten Einleitung „A Political Credo" zu dem Sammelband „Economic Policy for a Free Society" forderte er erneut: „Alle Monopole und alle sehr großen Organisationen von Verkäufern (oder Käufern) sind Einschränkungen dieser Freiheit und sollten, außer wenn nur übergangsweise oder geringfügig, tendenziell der Regierung unterstellt werden, nicht nur weil sie Ausbeutung (eine Abkehr von der kommutativen Gerechtigkeit) und UnWirtschaftlichkeit bedeuten, sondern auch weil eine angemessen starke Regierung keine Usurpation ihrer Macht („coercive powers") tolerieren kann" (Simons, 1948, S. 4). 3

In einer Fußnote zu seinem posthum veröffentlichten Lehrbuch „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" erklärte Eucken die Beiträge Simons' neben denen Böhms und Mikschs als maßgebend für die Entwicklung seiner eigenen Ansichten zur Wettbewerbsordnung (vgl. Eucken, 1952, S. 255). 4

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 201 nehmen damit zu rechnen habe, „daß von Zeit zu Zeit seine Preise vom Monopolamt revidiert werden", schlug Eucken vor (ebd., S. 70). 5 Ziel der Ordoliberalen war es, alle Kartelle aufzulösen. Umstritten war aber, wie dann mit den einzelnen Unternehmen zu verfahren sei. Leonhard Miksch, wohl der interventionsfreudigste der Ordoliberalen, forderte zur Vermeidung aller Formen einer stillschweigenden oligopolistischen Zusammenarbeit eine „gebundene Konkurrenz" unter Aufsicht des Staates; Rüstow sprach von „staatlicher Einengung der Grenzen der Wirtschaftsfreiheit so lange, bis der verbleibende Rest nur noch im Sinne des Leistungswettbewerbes ausgenutzt werden kann" (Rüstow, 1949, S. 134). Eucken dagegen neigte in der Frage der Regulierung oligopolistischer Märkte der Ansicht jener zu, die den Staat mit dieser Aufgabe überfordert sahen, und meinte, eine entschiedene Monopolaufsicht sei ausreichend (vgl. Eucken, 1949, S. 71). Nicht nur die alte Garde der Chicagoer Neoliberalen, auch der junge Friedman als Vertreter der zweiten Generation distanzierte sich von der „negativen Philosophie" des Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts. Sie habe, so Friedman in einem 1951 veröffentlichten Aufsatz „Neo-Liberalism and Its Prospects", „die Gefahr unterschätzt, daß private Individuen durch Übereinkunft oder Zusammenschluß Macht usurpieren und effektiv die Freiheit anderer Individuen einschränken könnten". Unter solchen Umständen funktioniere das Preissystem nicht mehr. Der Neoliberalismus erkenne diese Gefahr, ersetze das Laissez-faire durch die Wettbewerbsordnung und „nutzt den Wettbewerb zwischen Produzenten, um Konsumenten gegen Ausbeutung zu schützen, den Wettbewerb zwischen Arbeitgebern, um die Arbeiter und Vermögensbesitzer zu schützen, und den Wettbewerb zwischen den Konsumenten, um die Unternehmen selbst zu schützen" (Friedman, 1950/1951, S. 4). Der Staat habe das System zu überwachen, wettbewerbsfreundliche Bedingungen zu schaffen, für einen stabilen monetären Rahmen zu sorgen und akutes Elend und Armut zu beseitigen, so Friedman zu den Aufgaben der öffentlichen Hand (vgl. ebd.). Diese allgemeine Definition des Neoliberalismus klang weitgehend identisch mit den Vorstellungen der Freiburger Schule. Jedenfalls zeigt sie, daß auch die frühe Chicagoer Schule davon ausging, ohne staatliche Aufsicht könne das reine Spiel der Marktkräfte den Wettbewerb pervertieren und ausschalten. Tatsächlich waren seit mindestens einem halben Jahrhundert Teile der Industrie durch einen unübersehbaren Konzentrationsprozeß geprägt. A m Ende dieser Entwicklung, so eine gängige Prophezeiung nicht nur von sozialistischer Seite, würden Mammutkonzerne mit monopolartiger Marktstellung stehen. Welcher Art aber sollten die staatlichen Gegenmaßnahmen sein, um den Wettbewerb zu sichern? Dies hing von den Definitionen von Wettbewerb, Marktbeherrschung und Monopol ab: Bereits beim Colloque Walter Lippmann 1938 waren hier Differenzen zwischen den Neoliberalen zutage getreten.

Die Theorie der staatlichen Regulierung von „natürlichen Monopolen" stand noch im Anfangsstadium. Viele Aspekte des komplexen Problems wurden noch nicht verstanden. Die von Eucken geforderte Preisfestlegung durch die Monopolbehörde auf dem Niveau der Grenzkosten mußte bei Unternehmen mit hohen fixen und sehr geringen variablen Kosten zu dauerhaften Verlusten führen, da die Kurve der Grenzkosten in diesem Fall unterhalb derjenigen der Durchschnittskosten liegt. Die Arbeiten des Betriebswirts Eugen Schmalenbach zur Problematik hoher Fixkosten waren den Ordoliberalen in Ansätzen bekannt, wurden aber abgelehnt (vgl. Rüstow, 1949, S. 156-157). 5

202 • Wandlungen des Neoliberalismus

1.2. Die dynamische Sicht des Wettbewerbs Die deutschen Ordoliberalen hingen am Idealbild eines vollständigen Wettbewerbs, der sich durch eine Vielzahl von kleinen Unternehmen mit geringem Marktanteil und keinerlei Preissetzungsspielraum auszeichnete. Auf der anderen Seite stand Mises, der gelassener auf die Entstehung großer Unternehmen blickte. Deren Wachstum sei Ausdruck ihres Erfolgs bei der optimalen Bedienung der Konsumentenwünsche. „All dieses Gerede über die Konzentration von wirtschaftlicher Macht ist unnütz. Je größer eine Firma ist, je mehr Leuten sie dient, um so mehr hängt sie davon ab, den Konsumenten, den vielen, der Masse zu gefallen. Wirtschaftliche Macht liegt in der Marktwirtschaft in den Händen der Verbraucher" (Mises, 1958, S. 9). Er war strikt der Auffassung, der Staat habe die Großunternehmen nicht anzurühren. Er solle lediglich alles unterlassen, was den Marktzutritt von potentiellen Wettbewerbern, etwa durch Zölle oder staatliche Lizenzen behindere. Mises' Vorstellung von Wettbewerbspolitik war also eine negative, sie erschöpfte sich in der Empfehlung größtmöglicher Zurückhaltung. Mit dieser Haltung stand er innerhalb der Mont Pèlerin Society anfangs ziemlich allein.6 Doch Mises wich keinen Zentimeter von seiner Position zurück. Bei der zweiten MPS-Konferenz 1949 in Seelisberg lieferte er sich ein heftiges Wortgefecht mit Eucken, von dem Röpke später folgendes berichtete: „Jene Diskussion, bei der es vor allem um das Monopolproblem und um die dem Staate und der Rechtsordnung dadurch zufallende Aufgabe ging, ist symbolisch für einen Richtungsstreit im liberalen Lager geblieben, der innerhalb der Mont-Pèlerin-Gesellschaft immer wieder hervortrat" (Röpke, 1961, S. 10-11). Daß es auch in Deutschland Anhänger der Thesen Mises' gab, belegt eine publizistische Kontroverse aus den Jahren 1955 und 1956, als gerade der politische Kampf um das von Erhard und Böhm angestrebte Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen tobte. Die Truppe der Ordoliberalen sah sich einer breiten Abwehrfront gegenüber. Besonders die Industrie wehrte sich gegen das Verbot von Kartellen und forderte zahlreiche Ausnahmen. In diese angespannte Situation platzte ein Artikel des Journalisten Hans Hellwig in einer vom Frankfurter MPS-Mitgüed Volkmar Muthesius verantworteten Zeitschrift mit der Überschrift „Wir brauchen kein Kartellgesetz". Ein von staatlicher Einmischung freier Markt, der keinen Rechtsschutz für Kartellabmachungen kenne, entwickle ausreichend Gegenkräfte gegen monopolistische Entwicklungen, hieß es dort. Das Schlußplädoyer lautete, „laissez faire die Kartelle, der Schaden, den sie anrichten, ist allemal geringer als der, den eine Kartellbehörde hervorrufen würde" (Hellwig, 1955, S. 19). Unter den Mitgliedern der MPS löste dieser Angriff auf die Ordoliberalen beträchtliche Unruhe und Verärgerung aus. 7 Etwas davon drang auch in die Öffentlichkeit, etwa durch einen

Graham bezichtigte ihn in der Diskussion am Mont Pèlerin 1947, er propagiere einen „Dschungel"-Kapitalismus (MPC, 1947a, Zweiter Teil, S. 5). 7 Besonders empörte sie, daß Hellwig die Vorstellungen der Ordoliberalen Eucken, Böhm und Miksch zum Leistungswettbewerb durch die spitze Bemerkung zu diskreditieren versuchte, ihre Beiträge seien während der nationalsozialistischen Zeit auch in der Schriftenreihe der Akademie für Deutsches Recht erschienen. Die Nationalsozialisten hätten, stichelte Hellwig, eine feine Nase für den „interventionistisch-sozialistischen Einschlag der neuen Wettbewerbslehre" gehabt (Hellwig, 1955, S. 17). Zu den Verstimmungen in der deutschen MPS-Gruppe 6

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 203

Artikel in der NZZ von Mötteli: Er sprach vom „Verdacht", daß in Muthesius' Zeitschrift „der historische Liberalismus gegen den Neoliberalismus ausgespielt werden sollte" (Mötteli, 1955). Lutz verfaßte in ORDO eine lange Erwiderung auf die „Altliberalen". Er sprach diesen das Recht ab, sich auf Adam Smith zu berufen, dessen Abscheubekundungen gegen die Geschäftsleuten unterstellte „Verschwörung gegen das Publikum" ihn klar als Gegner von Monopolabsprachen auswiesen (vgl. Lutz, 1956, S. 20). 8 Die Wohlfahrtsreduzierende Wirkung von Monopolen und Kartellen sei unbestreitbar. Allerdings rückte Lutz vorsichtig von einer zu engen Konzeption des vollkommenen Wettbewerbs ab, die einer statischen Theorie folge: „Sobald man die Wirtschaft dynamisch sieht, ist die dauernde Aufrechterhaltung der vollständigen Konkurrenz, selbst wenn wir sie einmal als zunächst vorhanden annehmen, gar nicht denkbar" (ebd., S 32). Neu entwickelte Produkte und Fertigungstechniken eines innovativen Anbieters würden mit einer temporären Monopolstellung belohnt. Dessen Vorsprung halte aber nicht lange an und sei ungefährlich für den Wettbewerb. In seinen Ausführungen zur dynamischen Betrachtung des Marktprozesses bezog sich Lutz auf einen Aufsatz von Hayek mit dem Titel „The Meaning of Competition". Hayek kritisierte hier das Konzept des „vollständigen Wettbewerbs" und des „Marktgleichgewichts", insbesondere die Unterstellung der vollkommenen Information aller Marktteilnehmer. Das relevante Wissen sei kein „Datum", sondern werde erst im Konkurrenzkampf um Käufer und im Verlauf der Interaktion am Markt geschaffen. „Die Lösung des wirtschaftlichen Problems der Gesellschaft ist in dieser Hinsicht eine Forschungsreise ins Unbekannte, ein Versuch, neue Wege zu entdecken, wie die Dinge besser gemacht werden können als bisher" (Hayek, 1946/1952, S. 133). Neben der Annahme der vollkommenen Information, die das Zeitelement vernachlässige, kritisierte Hayek die Annahme eines homogenen Angebots. Doch auch hier sei die „Unvollkommenheit" des Wettbewerbs kein Argument gegen, sondern für den Wettbewerb, da nur er die Produzenten zu Fortschritten und Verbesserungen für die Konsumenten treibe (vgl. ebd.). Hayeks Betonung des „unvollkommenen Wettbewerbs", des Zeitelements und des dynamischen Aspekts von Marktprozessen führte ihn langsam wieder zu einem wettbewerbspolitischen Standpunkt, der dem von Mises nicht unähnlich war. „Was wir wollen, ist nicht universelle Konkurrenz, sondern universelle Möglichkeit der Konkurrenz", erklärte er in einem Vortrag an der Universität zu Köln, der in ORDO dokumentiert wurde (Hayek, 1954, S. 12; kursiv im Orig.). „Ich sehe keine ernstlichen Bedenken dagegen, daß ein einziges Unternehmen in einem Artikel tatsächlich eine Monopolstellung hat und sogar durch lange Frist Monopolgewinne macht, weil es etwa einzigartige Vorteile der Lage oder der Begabung der Unternehmer oder dergl. besitzt - solange nur jederzeit jedem, der noch billiger produzieren kann, freisteht, in die Konkurrenz einzutreten" (ebd.). Wie Mises, der staatliche und recht-

wegen des „ziemlich taktlosen Querhiebs gegen Eucken" vgl. Hayeks Bericht (Hayek anjewkes, 26.8.1955, in: HIA, Slg. Hartwell 2). 8 Diesen Hinweis konterte Peter Muthesius mit dem vollständigen Zitat aus Smiths „Wealth of Nations", der zu den Treffen der Kaufleute, w o Marktabsprachen getroffen würden, ausführte: „Es ist allerdings nicht möglich, solchen Zusammenkünften durch ein Gesetz vorzubeugen, das sich ausführen ließe oder mit Freiheit und Gerechtigkeit verträglich wäre" (Muthesius, 1956, S. 160). Kartellverbote bedeuteten ein „erhebliches Maß an Dirigismus" und seien „ohne Eingriffe in die persönliche Freiheit gar nicht durchführbar" (ebd., S. 163).

204 • Wandlungen des Neoliberalismus liehe Privilegien als Vorbedingung von Monopolen ansah, betrachtete auch Hayek „die wichtigsten monopolistischen Entwicklungen durch gerichtliche Entscheidungen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ermöglicht" (ebd., S. 14). 9 Seine Anklage richtete sich also primär gegen den Staat und seine Organe, die das Wuchern der Kartelle ermöglicht und sanktioniert hatten. Umgekehrt konnte man daraus schließen, daß eine Rücknahme aller konzentrationsfreundlichen Gesetze die Kartelle und Monopole zusammenbrechen lassen würde. Interessant ist, daß Hayek die kartellfreundlichen deutschen Regelungen in einem Atemzug mit der amerikanischen Anti-Trustgesetzgebung nannte und beide entschieden verwarf, wie er auch das privilegierte Arbeitsmarktkartell der Gewerkschaften ablehnte. Niemand dürfe nach Ermessen in das Marktgeschehen eingreifen, so Hayek. Eine befriedigend funktionierende Marktwirtschaft sei nur bei strikter Einhaltung der Regeln des Rechtsstaates zu erwarten. Daher folgerte er: „Ich glaube insbesondere, daß die Spezialbehörden, seien es Kartell- oder Arbeitsämter, denen wir heute die ,Regelung' der Konkurrenz anvertrauen, grundsätzlich mit den eigentlichen Ordnungsprinzipien einer echten Wettbewerbswirtschaft unverträglich sind" (ebd., S. 10). Solche Aussagen aus dem Munde eines der prominentesten Neoliberalen mußten im Klima der deutschen Debatte um ein Kartellgesetz für Verwirrung sorgen. Man konnte sie gar als Ablehnung der Bemühungen der Ordoliberalen um die Einrichtung einer Wettbewerbsbehörde interpretieren. Hunold, der sich besorgt an Rüstow wandte, erhielt eine beruhigende Antwort: Auch wenn Hayek wiederholt den „Unterschied zwischen Neo- und Paläoliberalismus" verwischt habe, so Rüstow, nehme er doch in der Kartellfrage „eine Stellung ein, die an antikartellistischem Radikalismus noch weit über die unsrige hinausgeht. Er verwirft nicht nur die sog. Mißbrauchsgesetzgebung, sondern sogar die Ausnahmen, die in dem jetzigen Entwurf zugunsten der Kartelle unter bestimmten Voraussetzungen vorgesehen sind." Wenn es nach Hayek ginge, erklärte Rüstow anerkennend, „würde sämtlichen wettbewerbsbeschränkenden Verträgen ohne Ausnahme der Rechtsschutz entzogen werden und damit basta" (Rüstow an Hunold, 3.3.1954, in: NL Hunold). Obwohl Rüstow die gemeinsame kartellfeindliche Haltung richtig einschätzte, wollte er offenbar nicht eingestehen, daß zwischen Hayeks und der ordoliberalen Vorstellung von Wettbewerbspolitik mehr als nur graduelle Differenzen lagen. „Auch wenn wir uns darüber einig sind, daß das Ziel eine gut funktionierende Wettbewerbswirtschaft ist," hatte Hayek in Köln gesagt, „so gibt es doch noch einen wichtigen Unterschied zwischen jenen, die hier die Rolle des Staates auf die Schaffung eines angemessenen permanenten rechtlichen Rahmens beschränken möchten, und jenen, die glauben, daß die Erhaltung des Wettbewerbs darüber hinaus noch ständige Eingriffe der Staatsgewalt erforderlich macht." Der Gegensatz zwischen „permanentem Rahmen" und „Eingriffen" führe, so Hayek, „in gewissem Sinne" zurück zum alten Gegensatz zwischen Laissez-faire und Interventionismus (Hayek, 1954, S. 6). Sicher richteten sich diese Sätze gegen jene, die zwar den Wettbewerb stets im Munde führten, doch tatsächlich bestimmte Entwicklungen und Ergebnisse des Marktgeschehens ablehnten. Hayeks Ideal eines Rechtsstaates, der auf allgemeinen, für alle gleichermaßen

Ohne Zweifel dachte er hier an das Urteil des deutschen Reichsgerichts von 1897, das Kartellvereinbarungen zu zivilrechtlich bindenden Verträgen erklärt hatte. 5

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 205 geltenden Grundregeln beruhte, schloß eine Wettbewerbspolitik aus, die eine utopische „vollkommene Konkurrenz" oder mittelständische Marktstruktur ohne Konzentration erhalten oder herbeiführen sollte. Letzteres hatte aber manchem übereifrigen Ordoliberalen vorgeschwebt, etwa Leonhard Miksch. 10 Dieser hatte in seiner programmatischen Schrift „Wettbewerb als Aufgabe" von 1947 gefordert, „daß der Verlauf der freien Konkurrenz möglichst nachgeahmt und die Abweichung von der freien Konkurrenz zu einem Minimum gemacht werden soll" (Miksch, 1947, S. 62). Der Staat habe die Aufgabe, „Märkte so zu organisieren, daß im Endergebnis ein Zustand herauskommt, als ob vollständige Konkurrenz bestünde" (ebd., S. 222; vgl. dazu auch Miksch, 1949c). Gegen solche Vorstellungen einer staatlichen Simulation eines nichtexistenten Wettbewerbs hatte Röpke schon früh, wenn auch nicht öffentlich, Bedenken angemeldet. Der besonders von Miksch, aber auch von Eucken vertretene „Gedanke der ,Als-Ob-Konkurrenz' im Falle intraktabler Monopole" schien ihm problematisch. „Wie soll der Staat eine solche ,Als-ObKonkurrenz' herstellen, da er doch die Konkurrenzpreise nicht kennt? (Die Staatskontrolle der amerikanischen Eisenbahnen liefert dafür das krasseste Beispiel vollkommenen Unvermögens.) Gibt es aber noch einen Weltmarktpreis für das betreffende Produkt, so ist nicht einzusehen, warum die wirksamste Monopolkontrolle hier nicht darin besteht, die Auslandskonkurrenz zuzulassen." In den meisten Fällen sah er damit das Problem als gelöst an (Röpke an Mötteli, 4.3.1943, in: IWP, NL Röpke). Beim MPS-Treffen 1949 in Seelisberg milderte Miksch seine gestrenge Vision der staatlich erzwungenen Konkurrenzsimulation etwas ab und erklärte, die „Wettbewerbsordnung ist nicht als ein rigides Ideal vorgesehen. Sie läßt viele Möglichkeiten noch offen und ist daher hochgradig anpassungsfähig an unbekannte Veränderungen in der Zukunft" (Miksch, 1949a, S. 3). Dennoch konnte die von ihm vertretene Utopie des vollständigen Wettbewerbs benutzt werden, um ein gehöriges Maß an Interventionismus zu rechtfertigen. Durchaus als Kritik an der Vorstellung einer diskretionären Wettbewerbspolitik war zu verstehen, wenn Hayek sagte: „Wir können uns entweder darauf beschränken, die allgemeine Rechtsordnung so zu gestalten, daß eine Unterbindung der Konkurrenz schwierig oder unmöglich wird, oder wir können Behörden mit Ermessensvollmachten ausstatten, die jeweils zweckmäßigen Maßnahmen zu ergreifen, um, wo es für wünschenswert gehalten wird, Konkurrenz oder konkurrenzähnliche Zustände zu erzwingen" (Hayek, 1954, S. 9). 11 Auch Eucken hatte stets betont, daß die Wettbewerbspolitik rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen müsse, diese aber nie spezifiziert. Ziel der von ihm geforderten Monopolgesetzgebung und der zentralen Monopolaufsichtsbehörde sollte es sein, „die Träger wirtschaftlicher Macht", so Euckens vage Formulierung, „zu einem Verhalten zu veranlassen, als ob vollständige Konkurrenz bestünde" (Eucken, 1949, S. 68).

Zu Mikschs Entwicklung und wettbewerbstheoretischer Konzeption vgl. Berndt/Goldschmidt (2000). Hayek wollte den Tatbestand der Wettbewerbseinschränkung sehr eng fassen. So betonte er zwar, daß unlauterer Wettbewerb „im strengen und ursprünglichen Sinn dieses Ausdrucks", also Betrug, Täuschung und Irreführung, unbedingt verhindert werden müsse. Doch werde der Ausdruck Wettbewerbsbeschränkung wie auch die Klagen über halsabschneiderischen Wettbewerb („cutthroat competition") oft in einer Weise gebraucht, „in der sie die Unterbindung aller echten Konkurrenz rechtfertigen würden" (Hayek, 1954, S. 15). 10 11

206 • Wandlungen des Neoliberalismus Hayek schien deutlich weniger optimistisch als Eucken zu sein, ob eine mit der „rule of law" vereinbare Begrenzung der Eingriffskompetenzen eines solchen Monopolamts möglich sei (vgl. Möschel, 1989, S. 152-153). Seine diesbezüglichen Bedenken schärften bei vielen Neoliberalen das Bewußtsein der Problematik, dem Staat im Rahmen seiner Wettbewerbspolitik diskretionäre Eingriffe zu erlauben. Ahnlich wie Hayek bestand so auch Shenfield 1954 vor der MPS darauf, daß die "rule of law" im Zweifel wichtiger sei als der Wunsch nach größtmöglichem Wettbewerb. W o eine antimonopolistische Politik willkürliche administrative Akte zur Zerschlagung von marktbeherrschenden Positionen einzelner Unternehmen befürworte, sei das Recht als höchstes liberales Gut in Gefahr (vgl. Shenfield, 1954, S. 4). Eine mittlere Position vertrat 1959 Machlup in seinem Vortrag „Can a Liberal Defend Government Interventions to Restrict the Freedom of Business to Restrict Business?". Er bekannte, mehr Fragen als Antworten zu haben, und betonte die Meinungsvielfalt im neoliberalen Lager. Die meisten Kartelle und Monopole seien wohl staatlichen protektionistischen Maßnahmen und Gesetzen zu verdanken, so Machlup, doch nach realistischer Erwartung würden all diese Interventionen nicht bald beendet. „Einfach ,in der Zwischenzeit' nichts zu tun, die Existenz von Kartellen und anderen Monopolen hinzunehmen, bis die Gesellschaft eine vollständig liberale Wirtschaftsordnung anerkennt - also vielleicht für immer - , das ist unentschuldbar", erklärte er (Machlup, 1959, S. 7). Ein brauchbares Antimonopolgesetz müsse restriktive Unternehmensabsprachen verhindern, Preisdiskriminierung und Fusionen aber nicht generell verbieten. 12 Er sah jedoch die Schwierigkeit, ein allgemeines Gesetz zu schaffen, das rechtsstaatlichen Anforderungen genüge. Das einzig handhabbare Kriterium sei die Größe der Unternehmen. So solle ein Antimonopolgesetz seiner Ansicht nach Preisdiskriminierung und Fusionen erst ab einer gewissen Größe der beteiligten Unternehmen verbieten (vgl. ebd.). Die Betonung der „rule of law" als Fundament einer Wettbewerbsordnung war es also, die immer mehr MPS-Mitglieder von früheren neoliberalen Vorstellungen eines Gesetzes, welches genügend „kompetitives" unternehmerisches Handeln erzwingen könne, abrücken ließ. Zu unsicher schien, wie eine Wettbewerbsbehörde tatsächlich den Wettbewerb effizienter machen könne, nach welchen Regeln sie vorzugehen habe, welcher Kontrolle sie dabei unterworfen war. Die Ergebnisse der bisherigen Formen der Wettbewerbsregulierung waren oft nicht ermutigend. Die jüngere Generation der Chicagoer Neoliberalen gab die rigideren Ansichten zur Monopolkontrolle auf, die in der älteren Chicagoer Schule der dreißiger bis fünfziger Jahre vorherrschten. 13 Typisch für das gestiegene Markt- und Wettbewerbsvertrauen waren die Aussagen Friedmans zum Monopolproblem in „Capitalism and Freedom". Das Monopolproblem werde vielfach überschätzt, erklärte er dort. Im Umgang mit technisch bedingten Monopolen, wie der Eisenbahn oder dem Telefonnetz, sprach er sich gegen eine Verstaat-

12 Die Vielfalt an schädlichen wie auch harmlosen, ja sogar effizienz- und wohlfahrtssteigernden Formen von privater Preisdiskriminierung hatte Machlup in seinem Buch „The Political Economy of Monopoly" detailliert untersucht (vgl. Machlup, 1952, S. 135-163). 13 Wegman erklärt den Wandel in Chicago mit enttäuschenden Erfahrungen mit der revidierten Monopolgesetzgebung. Immer mehr „trat die Frage in den Mittelpunkt, wieviel Staat die Marktwirtschaft (er-)tragen kann" (Wegman, 2002, S. 189).

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 207

lichung, ja selbst gegen staatliche Regulierung aus. Bei der Wahl zwischen einem unkontrollierten privaten Monopol, einem vom Staat kontrollierten privaten Monopol oder einem verstaatlichten Monopol sei erstere Variante, also das unregulierte private Monopol, „das kleinste Übel" (Friedman, 1962/1971, S. 169). Er vertraute auf die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung, die das Monopol auflockern werde. Der Einstellungswandel zu Fragen der Regulierung war erstaunlich. Friedman sah private Monopole immer noch als schädlich an. Gemessen an dem Schaden, den die staatlichen Regulierungsbehörden anrichteten, waren unregulierte private Monopole aber vorzuziehen. Langfristig schien es, daß selbst Mises' Ansichten zur Wettbewerbspolitik im Lager der Neoliberalen an Gewicht gewinnen würden. Es spricht nicht für eine Außenseiterrolle Mises' innerhalb der Mont Pèlerin Society, wie sie Wegman (2002, S. 181) behauptet, daß gerade ihm die Aufgabe angetragen wurde, 1961 in Turin das Einführungsreferat zum wichtigen Thema „Small and Big Business" zu halten. Emphatisch beschrieb er die Segnungen der kapitalistischen Wirtschaft, jegliche Subventionen oder stützende Eingriffe zugunsten kleinerer und mittlerer Betriebe lehnte er strikt ab. Die vielfach betriebene Mittelstandspolitik folge einer romantischen, unökonomischen Logik, meinte Mises. „Jede weitere Verbesserung im Lebensstandard kann nur von der Weiterentwicklung des Big Business erwartet werden", so zitierte ihn die FAZ (Eick, 1961). Den konzentrationskritischen Standpunkt des Ordoliberalismus markierten in Turin zwei deutsche Redner, Wolfgang Frickhöffer und Alfred Flender, beide ausgewiesene Mittelstandsvertreter. Frickhöffer unterschied zwischen „legitimer" und „illegitimer" Konzentration. Erstere sei technisch bedingt und nicht zu beanstanden. Letztere aber werde durch staatliche Wettbewerbsverzerrung künstlich erzeugt. Als treffendes Beispiel für eine staatliche Begünstigung von Großunternehmen und Förderung der Konzentration nannte Frickhöffer die deutsche Umsatzsteuer. 14 Flender, der langjährige Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer, betonte im Gegensatz zu Mises die Forderung nach einer „gesunden Mischung von Groß- und Kleinbetrieben" (zit. n. ebd.). Auffällig war, daß bei der Diskussion zu „Small and Big Business" in Turin technisch-ökonomische Fragen dominierten und soziologische Aspekte der Wirtschaftsstruktur, einst ein Hauptanliegen besonders Rüstows und Röpkes, „etwas allzusehr in den Hintergrund gestellt wurden", wie Mötteli (1961) anmerkte. Rüstow war in Turin nicht anwesend; Röpke, obwohl Präsident der MPS, hatte offenbar schon resigniert.

2. Keynesianismus und Gewerkschaften Als Hayek 1947 die Neoliberalen am Mont Pèlerin um sich scharte, konnte er keine Illusionen mehr darüber haben, daß seine Position in Fragen der Konjunkturpolitik gegenüber dem Lager von Keynes auf ganzer Linie untergegangen war. So schrieb John Hicks

14 Nach dem Bruttoallphasenmodell erhob der Staat bei jedem Verkauf von Vor- und Zwischenprodukten eine Steuer auf den Bruttopreis — nicht bloß auf die Differenz aus Ein- und Verkaufspreis wie bei der Mehrwertsteuer heute. Logische Folge dieses bis 1 9 6 7 bestehenden deutschen Umsatzsteuermodells war ein starker Anreiz zur vertikalen Integration der gesamten Wertschöpfungskette innerhalb eines großen Unternehmens.

208 • Wandlungen des Neoliberalismus rückblickend in seinem Aufsatz „The Hayek Story", die ökonomischen Arbeiten Hayeks seien kaum einem modernen Studenten mehr bekannt: „Man erinnert sich kaum noch, daß es einmal eine Zeit gab, als die neuen Theorien von Hayek der hauptsächliche Rivale der neuen Theorien von Keynes waren" (Hicks, 1967, S. 203). Tatsächlich hatte der 1946 verstorbene Keynes eine Revolution des wirtschaftlichen Denkens bewirkt. Besonders die jüngere Generation der Wirtschaftswissenschafder war mit fliegenden Fahnen zu ihm übergelaufen: „Die ,General Theory' hat die meisten Ökonomen unter dem Alter von fünfunddreißig Jahren mit der unerwarteten Wucht einer Krankheit gepackt, die erstmals einen isolierten Stamm von Südseeinsulanern angriff und dezimierte", erinnerte Paul Samuelson das Aufkommen der neuen Theorie, die auch ihn nach kurzem Widerstand überwältigte. Ältere Ökonomen über fünfzig, wußte er zu berichten, hätten sich gegen das „Fieber" eher als immun erwiesen (Samuelson, 1946/1966, S. 1517-1518). Mit Sorge beobachtete Hayeks alter LSE-Kollege William Hütt, der nun in Kapstadt lehrte, daß „die meisten der jüngeren Skeptiker, die Bedenken bezüglich der ,neuen' Ökonomie ausdrückten, aus dem akademischen Leben herausgedrängt wurden. Es gab keine Inquisition, keine wahrnehmbare oder bewußte Unterdrückung der akademischen Freiheit; aber junge Nonkonformisten konnten nur selten eine Beförderung erwarten" (Hütt, 1964, S. 81). Wer Keynes nicht verstand oder ihn nicht als Messias begrüßte, galt als Dummkopf, klagte Hütt. 15 Selbst die glühenden Anhänger Keynes' mußten allerdings zugeben, wie schwer verdaulich, teilweise rätselhaft die Argumentation der „General Theory" war. Gerade darin lag ihre Stärke, denn jeder konnte sich die Stellen des Buchs herauspicken, die ihm entgegenkamen. Samuelson selbst erklärte: „Es ist ein schlecht geschriebenes Buch, schwach strukturiert; irgendein Laie, der es, von des Autors Ruf verführt, sich kaufte, wurde um seine fünf Schilling betrogen. Es ist nicht für den Unterrichtsgebrauch geeignet. Es ist arrogant, übelgelaunt, polemisch und nicht übermäßig großzügig mit Zugeständnissen. Es wimmelt von Schwindeleien und Verwirrungen." Und doch, so der überwältigte Schüler: „Kurz gesagt, es ist das Werk eines Genies" (Samuelson, 1948/1966, S. 1520-1521). Eine Flut von wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Büchern verbreitete das neue Paradigma: Der bereits 1947 erschienene Buchtitel „The Keynesian Revolution" von Lawrence Klein drückte ein allgemeines Empfinden aus, daß etwas großes Neues die alte Welt verändert hatte. Spätestens mit der Veröffentlichung von Samuelsons über Jahrzehnte sehr einflußreichem Lehrbuch „Economics: An Introductory Analysis" im Jahr 1948 schien den meisten der Schlußpunkt der akademischen Auseinandersetzung erreicht. Millionen von Studenten bezogen ihre keynesianischen Uberzeugungen aus Samuelsons Text, dessen Diagramm mit der 45-Grad-Linie und der sie schneidenden Konsumfunktion das von Keynes beschriebene Phänomen eines Gleichgewichts bei Unterbeschäftigung so einfach und bildlich veranschaulichte. In den folgenden Jahren entwickelte sich die keynesianische Makroökonomie zur neuen Orthodoxie. Seit Keynes' Tod waren seine komplexen Lehren allerdings erheblich simplifiziert und vulgarisiert worden. Es darf bezweifelt werden, ob sämtliche späteren Äußerungen der sich

15 Zu sagen, „daß Keynes total falsch liegt", hätte ähnliches Kopfschütteln hervorgerufen, wie die Zweifel eines Physikers an den Erkenntnissen von Einstein oder Bohr (Hütt, 1964, S. 81).

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 209

als „keynesianisch" bezeichnenden Schule die Zustimmung ihres verstorbenen Meisters erhalten hätten. 16 Zunehmend populär wurde in den fünfziger Jahren eine auf die Schlagworte „prime pumping" und „fine tuning" reduzierte Anleitung der staatlichen Wirtschaftslenkung. Bezeichnenderweise waren beide Formeln dem Vokabular der Hydraulik und der Mechanik entliehen. Gemeint war eine vorbeugende Nachfragestimulierung und Ressourcenlenkung durch öffentliches „demand management". Das keynesianische Rezept der schuldenfinanzierten Nachfragebelebung mutierte somit von einer zur Bewältigung von Krisen gedachten staatlichen Notfallmaßnahme zur Politikempfehlung auch für „normale Zeiten". In der praktischen Finanz- und Wirtschaftspolitik war dies schon in den Formulierungen des britischen „White Paper on Employment Policy" von 1942 enthalten, das der Regierung als eine ihrer primären Aufgaben und Verantwortungen die Erhaltung eines hohen und stabilen Niveaus der Beschäftigung auferlegte (vgl. Bleaney, 1985, S. 84). Die wissenschaftlichen Gegner dieser dauerinterventionistischen Politik wie Hayek waren weitgehend isoliert. In den Augen der Öffentlichkeit hatten sie sich durch ihre abwartende, „passive" Haltung gegenüber dem Phänomen der Weltwirtschaftskrise diskreditiert. Angesichts der fast geschlossenen Phalanx der Keynesianer gehörte erheblicher Mut dazu, abweichende Meinungen zu äußern. Was Elisabeth Noelle-Neumann (1980/2001) als die „Schweigespirale" beschrieben hat — die sanfte Verdrängung und das schließlich definitive Verstummen von Dissidenten — wirkte auch in der Wirtschaftswissenschaft der Nachkriegszeit. Wie stark der äußere Rechtfertigungs- und Anpassungsdruck war, zeigte das Beispiel Lionel Robbins'. Schon bei der Diskussion zum Thema „Contra-Cyclical Measures, Füll Employment, and Monetary Reform" am Mont Pélerin 1947 hatte er seine Wandlung zu einem gemäßigten Keynesianer bekannt. Er habe sich gezwungen gesehen, seine frühere ablehnende Haltung zur „Stabilisierungspolitik" zu revidieren (vgl. MPC, 1947h, S. VII-XI). Vom Trauma, in einer kritischen Phase der Weltgeschichte die „falsche" Meinung vertreten zu haben, sprechen noch selbstanklägerische Passagen in Robbins' Autobiographie. Darin distanzierte er sich bußfertig von seinem 1934 veröffentlichten Buch „The Great Depression" und machte eine nachträgliche Verbeugung vor Keynes, seinem ehemaligen Kontrahenten (vgl. Robbins, 1971, S. 153-154).17

16 Nach Veröffentlichung seiner „General Theory" war Keynes wiederholt mit Appellen zur Vorsicht hervorgetreten. Die expansive, kreditfinanzierte Fiskalpolitik wollte er schon 1937 abbrechen, als die britische Arbeitslosenrate immerhin noch über 11 Prozent lag, eine Quote von 4,5 Prozent erschien ihm für Friedenszeiten als normal (vgl. Hutchison, 1981, S. 118-119). Nach Ansicht von Keynes' Biographen akzeptierte dieser anscheinend sogar das später von Friedman benutzte Konzept der „natürlichen Arbeitslosenquote" — eine Erkenntnis, die dem Bemühen um forcierte „Vollbeschäftigung" entgegenstand (vgl. Skidelsky, 2000, S. 271-271). Kurz vor Ende seines Lebens schien Keynes zu den Quellen des klassischen Liberalismus zurückzukehren. Er verteidigte die „ewigen Wahrheiten von großer Wichtigkeit" der klassischen Ökonomie, insbesondere die Erkenntnis „natürlicher Kräfte ... oder sogar die unsichtbare Hand, die auf ein Gleichgewicht zusteuern" und beklagte eine Schwemme von „falschem und verrücktem modernistischem Zeug" in den Wirtschaftswissenschaften (Keynes, 1946, S. 172-187). Der angebliche Satz Keynes', „Ich bin kein Keynesianer" ist zwar nicht zweifelsfrei belegt, doch hat Hutchison (1981a) überzeugend dargestellt, wie viele spätere „Keynesianer" die begründeten Warnungen ihres Lehrmeisters mißachteten. 17 Seine Wandlung in dieser Hinsicht darf aber nicht überbewertet werden. Sicherlich sah Robbins seine früheren Positionen kritischer, insbesondere die von Hayek und Mises beeinflußte monetäre Konjunkturtheorie sowie deren Schlußfolgerung einer durch künstlich niedriggehaltene Zinsen verzerrten Produktionsstruktur. O'Brien (1988, S. 119-120) stellt aber klar, daß Robbins' vorsichtige Hinwendung zum Keynesianismus keineswegs eine bedingungslose Konversion bedeutete. Anklänge an die österreichische Konjunkturtheorie sowie deren Quelle bei Wiek-

210 • Wandlungen des Neoliberalismus Die verbliebenen Kritiker schienen auf verlorenem Posten zu kämpfen. Anders als Robbins blieb Röpke auch nach dem Weltkrieg standfest. Er hatte noch vor Keynes Möglichkeiten einer staatlichen Konjunkturpolitik ausgelotet und in der Brauns-Kommission eine „Initialzündung" zur Überwindung der destruktiven „sekundären" Krise gefordert. Nun aber dominierten für ihn klar die alten Gefahren einer durch defizitäre Haushaltspolitik und expansive Geldpolitik angeheizten Inflation. Und so gehörte Röpke in den fünfziger Jahren zum kleinen Chor der Kritiker dessen, was sich unter dem Banner des „Keynesianismus" formierte. „Selbst wenn ich an das meiste von Keynes glauben würde, so würde ich doch zögern, dies öffentlich zu sagen", ermahnte er Robbins (MPC, 1947h, S. XI). Auch später blieb Röpkes Einschätzung von Keynes' Rang als Wissenschaftler und seinem historischen Verdienst gespalten: „Wenn es keinen Keynes, besser gesagt, keinen Verfasser des Buchs ,The General Theory of Employment, Interest and Money' gegeben hätte, wäre die Wissenschaft der Nationalökonomie möglicherweise um einiges ärmer, aber die Völker wären um so viel reicher, als die Gesundheit ihrer Wirtschaft und Währung weniger durch Inflation gefährdet wäre" (Röpke, 1961, S. 275). 18

2.1. Die „orthodoxe" Kritik an Keynes: Mises, Hayek und Hütt Allgemein lehnten die Neoliberalen die undifferenzierte Praxis einer dauerhaft expansiven, „keynesianisch" genannten Defizitpolitik ab. Um sie wirksam zu bekämpfen, mußten aber die ihr zugrundeliegenden wissenschaftlichen Theoreme widerlegt werden. Die neoliberalen Wissenschaftler aus den Reihen der MPS bemühten sich darum, jedoch mit höchst unterschiedlichen Strategien. Mises etwa vertrat ungerührt den Standpunkt der orthodoxen liberalen Ökonomie, wonach Märkte sich selbst räumen und es dazu keinerlei staatlicher Eingriffe bedürfe. Er bekannte sich zu den klassischen Positionen des „Sayschen Gesetzes", das er gegen die bei Keynes mitschwingende Sorge vor einer Überproduktionskrise anführte (vgl. Mises, 1950/1980). In ihrer publizistischen Zuspitzung erschien Mises' Kritik teilweise holzschnittartig, wenn er Keynes' ökonomische Rezepte bloß als Variante von Silvio Gesells obskurer „Freigeld"Theorie sah und ihn als „neuen Propheten des Inflationismus" verspottete (Mises, 1948/

seil blieben spürbar. Euphorischen „Keynesianern", die eine staatlich induzierte Überschußnachfrage predigten, um das Ziel der totalen „Vollbeschäftigung" zu erreichen, erteilte Robbins auch nach 1945 eine scharfe Absage. 18 Jenseits der potentiell inflationistischen Konsequenzen schien für Röpke, wie Campbell (1992) meint, die Gefahr in einer Aufweichung moralischer Werte zu bestehen. Insbesondere die Ablehnung der bürgerlichen Tugend des Sparens und der Vorsorge durch viele Keynesianer sah er mit Sorge. Skidelsky (1977) hat gezeigt, wie stark Keynes ökonomische Ansichten von seinem persönlichen Lebenswandel und seinen antiviktorianischen Affekten beeinflußt waren. Diese waren vom Klima der Bloomsbury Group geprägt, wo Keynes in seinen Londoner Jahren intim verkehrte. Die Bloomsbury Group propagierte eine hedonistische, gegenwartsbezogene Ethik, die eine radikale Abkehr von der bürgerlich-puritanischen Moral, ihrer Betonung der Pflicht zu harter Arbeit und zum Sparen markierte. All dies stand diametral zu Röpkes Ideal der bürgerlichen Gesellschaft. Hayek hingen hatte, trotz aller inhaltlichen Differenzen mit Keynes, stets ein persönlich gutes Verhältnis zu diesem gehabt. Während der Evakuierung der LSE nach Cambridge standen sich die beiden recht nahe. Nach Keynes' Tod kondolierte Hayek der Witwe mit den Worten, Keynes sei „der eine wirklich große Mann gewesen, den ich jemals gekannt habe und für den ich unbegrenzte Bewunderung empfand. Die Welt wird ein sehr viel ärmerer Ort sein ohne ihn" (zit. n. Skidelsky, 2000, S. 472).

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 211

1980, S. 51). 19 Das Versprechen, die Leute durch das Drucken und Verteilen von Papiergeld reich zu machen, erinnere an das Wunder der Verwandlung von Steinen in Brote, meinte Mises; dahinter stecke ein fauler Zauber. Keynes' Theorie von 1936 markiere nicht den Beginn einer neuen Epoche, sondern habe mit ihrer Empfehlung unausgeglichener Haushalte lediglich die seit längerem praktizierte Budgetpolitik reflektiert. „Das Wesentliche der so glorifizierten progressiven' Wirtschaftspolitik des letzten Jahrzehnts war, immer größere Anteile der höheren Einkommen zu enteignen und die so eingenommenen Mittel dazu zu verwenden, öffentliche Verschwendung zu finanzieren und die Mitglieder der mächtigsten Interessengruppen", gemeint waren Gewerkschaften, „zu subventionieren" (ebd., S. 61). 20 Ebenso fundamental, aber weniger polemisch ging Hayek gegen die neue keynesianische Orthodoxie an. Seine Kritik zielte auf die Zulässigkeit des makroökonomischen Denkens per se. Wie auch Mises betrachtete Hayek die Technik der Aggregierung als methodisch inakzeptablen Schritt, der von den wahren Ursachen konjunktureller Krisen ablenke. Auf der MPS-Tagung in Beauvallon hielt Hayek fünf Jahre nach Kriegsende einen Vortrag, der erneut deutlich machte, wie wenig sich seine Sicht der Probleme von Arbeitslosigkeit und Vollbeschäftigung seit den Tagen seiner ersten Konfrontation mit Keynes geändert hatte (vgl. Hayek, 1950). Unter dem Einfluß von Keynes' Lehren seien die Dämme gegen inflationäre Geldpolitik aufgeweicht worden. Kurzfristig sei es gut möglich, daß eine Injektion zusätzlichen Geldes die Beschäftigung hebe, gab Hayek zu. Langfristig aber ergäben sich Gefahren für die Stabilität der Volkswirtschaft. Die seit Keynes übliche makroökonomische Betrachtung sei vergröbernd und ungeeignet, da sie die mikroökonomische Analyse der Kapitalstruktur außer acht lasse. Hier lag für Hayek der entscheidende Punkt. Die Arbeitslosigkeit sei niemals gleichmäßig über alle Branchen verteilt. Nicht eine allgemeine Nachfragelücke sei das Problem, vielmehr gebe es Diskrepanzen zwischen „der Verteilung der Arbeitskräfte und der Verteilung der Nachfrage" (ebd., S. 3). Damit war Hayek bei seiner alten These einer verzerrten Produktionsstruktur angelangt. Sei dies der Fall, so könne „nur eine Reallokation der Arbeitskräfte ... langfristig das Problem in einer freien Wirtschaft lösen" (ebd., S. 4). Dazu sei jedoch die unablässige monetäre Expansion, wie sie Keynesianer propagierten, kontraproduktiv. Diese mildere kurzfristig die Arbeitslosigkeit und schwäche damit den Druck zu strukturellen Anpassungen. Hayeks Kritik zielte also auf die Elastizität der Produktionsstruktur der Volkswirtschaft, sich auf geänderte Erfordernisse einzulassen. „Es erscheint höchst zweifelhaft ob die seit dem Krieg in den meisten Ländern verfolgten expansionistischen Politiken der notwendigen Anpassung an radikal veränderte Bedingungen des Welthandels eher geholfen oder diese eher behindert

19 Keynes hatte sich in der „General Theory" tatsächlich positiv auf Gesell und andere Ökonomen bezogen, die das „große Rätsel der [ungenügenden] Effektiven Nachfrage" als Ursache für Störungen des kapitalistischen Gleichgewichts sahen (vgl. Keynes, 1936, S. 32). Für Gesell, den Begründer der Freiwirtschaftslehre, waren (zu hohe) Zinsen die Wurzel allen Übels. Er sah, daß auf dem Markt ein Ungleichgewicht zwischen Geldbesitzern und Warenbesitzern bestehe: Erstere könnten abwarten, während letztere verkaufen müßten, da ihre Waren verderblich seien. Folglich müsse auch das Geld eine Art Verfallsdatum erhalten, meinte Gesell, um den Fluß von Waren und Geld im Gleichgewicht zu halten. Seine Theorien mündeten in der Forderung nach einem „Stempelgeld", auch „Schrumpfgeld" genannt. Keynes erklärte die Position und Begründung Gesells in der „General Theory" anders und bezeichnet die grundsätzliche Idee hinter dem „Stempelgeld" als „richtig" (ebd., S. 357).

Zu der von Mises markierten absoluten theoretischen Gegenposition zu Keynes „General Theory" vgl. Hoppe (1992).

20

212 • Wandlungen des Neoliberalismus

haben" (ebd., S. 5). Angesichts dieser strukturellen Ungleichgewichte seien die gängigen Vollbeschäftigungspolitiken wirkungslos. Ihre expansiven Impulse nach dem Gießkannenprinzip brächten nur ein nachhaltiges Ergebnis, nämlich Inflation. Letztlich würde man versuchen, diese „zurückzustauen", etwa durch Preiskontrollen oder andere volkswirtschaftlich schädliche Eingriffe, fürchtete Hayek (vgl. ebd., S. 6-8). Wenn im Kreise der MPS Theorie und Praxis keynesianischer Wirtschaftspolitik diskutiert wurden, lagen Fragen zur Stellung der Gewerkschaften nahe. Die nachfrageorientierte Doktrin diente den Gewerkschaften als Rechtfertigung höherer Tarifforderungen. Das gängige Argument lautete, daß Lohnerhöhungen auf breiter Front über eine Stärkung der allgemeinen Kaufkraft dem Absatz der Industrie wieder zugute kämen, deren Wachstum fördern und so - trotz gestiegener Lohnkosten — zu neuen Investitionen anregen würden. Der Denkfehler dabei, wandte der Arbeitsmarktexperte Hütt ein, lag wieder in der groben Aggregierung einzelner Lohneinkommen zu einer fiktiven „Gesamtnachfrage" (vgl. Hütt, 1949, S. 10-12). Löhne aus den verschiedensten Branchen würden zu einem durchschnittlichen „Lohnniveau" gebündelt, eine differenzierte Betrachtung der jeweiligen Beschäftigungssituation unterbleibe. Die Koordinationsfunktion der Preise auf dem Arbeitsmarkt werde somit außer Kraft gesetzt, wenn Löhne uniform erhöht würden. Dies zementiere letztlich die Arbeitslosigkeit in strukturschwachen Branchen. Hütt, seit langem ein scharfer Kritiker der Kartellmacht der Gewerkschaften, erklärte daher: „Die Notwendigkeit für eine drastische Reform des bestehenden Systems der Lohnbestimmung, um es flexibler zu machen, wird immer offenkundiger" (ebd., S. 17).21 Auch Hayek sah die Fragen des Keynesianismus eng mit der Politik der Gewerkschaften verknüpft. Wie viele Neoliberale hatte er den Verdacht, Keynes' eigentliche Absicht sei gewesen, durch eine inflationistische Politik die Reallöhne zu senken, da er erkannt habe, daß die Gewerkschaften trotz hoher Erwerbslosigkeit einer Senkung der Arbeitskosten nicht zustimmen wollten. Die notwendige Anpassung der Löhne nach unten sei als politisch unmöglich aufgegeben worden. Keynes habe damit vor der Starrheit des Arbeitsmarktes kapituliert. Das unbedingte gewerkschaftliche Streben, die Höhe der Reallöhne zu sichern, münde aber in einen Wettlauf zwischen Löhnen und Inflation, warnte Hayek. Allgemein verfestige sich in der Wirtschaft die Erwartung rascher und sich beschleunigender Geldentwertung, so daß schließlich ein Anstieg der Arbeitslosigkeit nur noch durch „immer stärkere Dosen Inflation" zu verhindern sei, so Hayek (1960/1991, S. 356). 22 In ähnlicher Weise warnte Röpke regelmäßig vor einer drohenden „Lohninflation", welche durch übermäßige Forderungen der Gewerkschaften jenseits des durch Produktivitätsgewinne gerechtfertigten Lohnspielraums in Gang gesetzt würde (vgl. etwa Röpke, 1958/1961, S. 287).

21 Allerdings war Hütt keineswegs ein prinzipieller ideologischer Gegner der Gewerkschaftsbewegung. Deren Anliegen, den Lebensstandard der Arbeiter zu verbessern, war auch seines. Zu seinem frühen Buch „The Theory of Collective Bargaining" erklärte er rückblickend: „Ich teilte vollkommen die egalitären Ideale, die, als ich schrieb, rasch die politischen Ziele in den demokratischen Teilen der Welt zu beherrschen begannen." Doch „Gerechtigkeit bei der Verteilung der Einkommen" könne man nur mit einem umverteilenden Steuersystem erlangen, nicht über die Verzerrung der Lohnstruktur, die stets kontraproduktiv sei, warnte Hütt (1949, S. 3).

Mit dieser Passage in der „Constitution of Liberty" nahm Hayek beiläufig die in den siebziger Jahren den Keynesianismus bedrängende Theorie rationaler Erwartungen vorweg.

22

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 213 Gegen eine solche Interpretation der Ursachen von Inflation trat Milton Friedman an, der seit Ende der vierziger Jahre an einer Rettung der alten „Quantitätstheorie" arbeitete (vgl. Hammond, 1999). Entsprechend betonte er die entscheidende Rolle der Geldpolitik für Änderungen des Preisniveaus und spielte die Bedeutung der Gewerkschaften und ihrer Lohnpolitik eher herunter.23

2.2. Friedmans empirische Einwände gegen den Keynesianismus Laut Keynes' Biograph war es Friedman, der „fast im Alleingang die keynesianische Orthodoxie umwarf" (Skidelsky, 1999, S. 36). Im Laufe von drei Jahrzehnten entwickelte er eine umfassende Kritik des Keynesianismus und stellte ihm eine systematische Neuformulierung der Geldtheorie entgegen, später „Monetarismus" genannt. Bis dahin war es ein langer Weg. 24 Ende der vierziger Jahre brachte Friedman noch eher eklektische Einwände gegen diskretionäre Finanz- und Geldpolitik vor. Er betonte die praktischen Schwierigkeiten von antizyklischen Stabilisierungsversuchen. Eine solche Politik müsse an der mangelnden Präzision der Konjunkturvorhersagen sowie aufgrund mehrerer retardierender Momente („lags") scheitern, so daß die aktive Nachfragepolitik stets zu spät komme. 25 Hatte sich der Konjunkturzyklus dann schon weiter bewegt, wirke die expansive Maßnahme nicht mehr anti-, sondern pro-zyklisch. Angesichts dieser praktischen Schwierigkeiten riet Friedman von einer diskretionären Politik nach keynesianischen Empfehlungen ab, die im Effekt nicht stabilisieren, sondern destabilisieren würde (vgl. Breit/Ransom, 1982, S. 234-235). Als Alternative entwickelte er 1948 in dem Aufsatz „A Monetary and Fiscal Framework for Economic Stability" einen detaillierten Plan für einen regelgebundenen Stabilisierungsmechanismus, der auf dem Treffen der MPS in Bloemendaal 1950 verteilt und diskutiert wurde. Eine staatliche Nachfragestabilisierung sollte hier quasi mit einem monetärfiskalischen Autopiloten gesteuert werden, indem der Umfang staatlicher Ausgaben und Steuern im vorhinein auf ein bestimmtes Niveau festgelegt würde, das über längere Perioden zwar einen ausgeglichenen Haushalt produzieren müßte, kurzfristig jedoch kontrazyklisch wirken sollte. Friedman war jedoch bewußt, daß auch unter dieser Regel eine effektive antizyklische Politik nicht gesichert war. Aufgrund der von ihm betonten Verzögerungseffekte

Die Warnungen vor „Lohninflation" bei Röpke dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch er die Geldpolitik als letztendlichen Schuldigen für inflationäre Entwicklungen sah. „Die Lohn-Preis-Spirale bedarf also der fortgesetzten Unterstützung durch die die Geldmenge bestimmenden Instanzen", so Röpke (1961, S. 294). In dieser Form konnte auch Friedman das Argument akzeptieren, „daß Gewerkschaften Lohnerhöhungen erzwingen, die Arbeitslosigkeit verursachen würden, wenn man nicht zu monetärer Expansion Zuflucht nähme", da ein Anstieg der Erwerbslosigkeit als „politisch inakzeptabel" gelte und „daher die monetären Autoritäten unter einer Vollbeschäftigungspolitik dazu gebracht werden, die Geldmenge auszuweiten und Preissteigerungen zu erlauben und zu fördern" (Friedman, 1958).

23

24 Eine systematische Gegenüberstellung der jeweiligen Methodologie, monetären Theorie und empfohlenen Politik v o n Friedman und Keynes findet sich bei Dostaler (1998). 25 Friedman sah drei Stufen der Verzögerung: Zunächst müsse die Regierung die konjunkturelle Störung erkennen, dann müsse sie sich auf Gegenmaßnahmen einigen, etwa höhere Staatsausgaben, und dann dauere es noch, bis der Nachfragestimulus tatsächlich zu wirken beginne. Insgesamt könne es zu einer Verzögerung von bis zu achtzehn Monaten kommen.

214 • Wandlungen des Neoliberalismus

sei nicht auszuschließen, daß selbst dieses Programm die zyklischen Fluktuationen eher intensivieren als abschwächen könnte (vgl. Friedman, 1948/1953). Ähnliche Bedenken hegte auch F. W. Paish, der Friedmans Plan in Bloemendaal zwar wohlwollend kommentierte, aber ebenfalls die praktischen Schwierigkeiten jeglicher keynesianischen Stabilisierungspolitik hervorhob: „Das ganze System erinnert mich an einen Autofahrer, der, da er eine Durchschnittsgeschwindigkeit von dreißig Meilen pro Stunde fahren möchte, zunächst bis auf vierzig stark beschleunigt und dann auf zwanzig stark herunterbremst" (Paish, 1950, S. 3). Die Kritik am ruckelnden „stop-go" (oder besser: „gostop") wurde mit der Zeit ein Standardvorwurf an die Adresse keynesianischer Nachfragepolitiker (vgl. Harris, 1976, S. 45-46). Auch Friedman verfolgte seine ursprüngliche Idee, eine kontrazyklische staatliche Stabilisierungspolitik durch regelgebundenes Verhalten zu erzwingen, in den folgenden Jahren nicht weiter; zu unsicher schien der Erfolg. Ab den frühen fünfziger Jahren wandte sich Friedman mit ganzer Energie der Geldtheorie zu. Dabei erhärteten sich seine Zweifel an der Richtigkeit der keynesianischen Lehren. Besonders ihre Behauptung einer erratischen Geldnachfrage zweifelte er an. 26 Mit dem Aufsatz „The Quantity Theory of Money - A Restatement", veröffentlicht im Jahr 1956, holte er zum ersten schweren Schlag gegen das Theoriegebäude des Keynesianismus aus: Die Umlaufgeschwindigkeit, so Friedmans empirisch untermauerte Uberzeugung, sei viel stabiler, als die Keynesianer angenommen hatten; eine Ausweitung des Geldangebots werde daher vorhersehbare Konsequenzen haben: steigende Inflation: „Es gibt vielleicht keine weitere empirische Relation in der Wirtschaft, deren Auftreten unter so unterschiedlichen Umständen beobachtet wurde, wie die Beziehung zwischen substantiellen kurzfristigen Geldmengenänderungen und Preisänderungen" (Friedman, 1956, S. 20-21). Die alte Quantitätstheorie war damit von ihm empirisch rehabilitiert worden. Geld und Geldpolitik spielten eine wichtige Rolle, so die Botschaft. Doch es sollte noch ein Jahrzehnt dauern, bis die Erkenntnis eines proportionalen Zusammenhangs zwischen Geldmengenexpansion und Geldwertminderung wieder ins allgemeine Bewußtsein gedrungen war. In knappster Form lautete die Kernaussage des von Friedman verfochtenen „Monetarismus": Inflation sei immer und überall ein monetäres Phänomen. Der Grundstein des Vertrauens, das Friedman zeitlebens in die Quantitätstheorie setzte, war schon während seines Studiums in Chicago in den dreißiger Jahren gelegt worden. An der dortigen Wirtschaftsfakultät, so seine Erinnerung, existierte eine „mündliche Tradition", die Inflation als rein monetäres Phänomen deutete. Und schon Simons hatte in seinem Aufsatz „Rules versus Authorities in Monetary Policy" sein Mißtrauen gegen diskretionäre Handlungsspielräume der Notenbanken begründet (vgl. Simons, 1936/1948). 27

Laut keynesianischer Doktrin war die alte Quantitätstheorie nutzlos, da die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes stark schwanke und nicht vorhersagbar sei, ebensowenig wie die Geldnachfrage der Wirtschaftssubjekte. Daraus folgte für Keynes, daß expansive monetäre Maßnahmen weitgehend wirkungs- und bedeutungslos seien, da eine Ausweitung des Geldangebots in Krisenzeiten durch eine schier unendliche Liquiditätspräferenz geschluckt würde und keine Auswirkungen auf die reale Volkswirtschaft habe. 27 Zu Obereinstimmungen und Unterschieden von Friedmans und Simons' Ansichten in Fragen der Geldtheorie und der Geldpolitik vgl. Friedman (1967).

26

Positionen und Kontroversen in der frühen M P S • 215

Die theoretische Erkenntnis, daß „Authorities" fatal irren können, wurde durch eine historische Untersuchung bestärkt. Ab den frühen fünfziger Jahren begann Friedman gemeinsam mit Anna J. Schwartz eine großangelegte Studie zur amerikanischen Geldpolitik, die schließlich als „A Monetary History of the United States. 1867 - 1960" veröffentlicht wurde. Friedman und Schwartz erkannten Anzeichen dafür, daß eine falsche Geldpoliük der Federal Reserve, besonders ihr als unverhältnismäßig restriktiv kritisierter Kurs in den Jahren 1930 und 1931, entscheidend zur Verschärfung der Wirtschaftskrise geführt habe (vgl. Friedman/Schwartz, 1963, S. 391-399). Die Erkenntnis daraus war, daß die Notenbank, um kurzfristige monetäre Störungen auszuschließen, einer festen Geldmengenregel folgen müsse. Langfristige Stabilität der Preise, das wichtigste Ziel der Geldpolitik, sei zu erreichen, wenn die Geldmenge entsprechend der Produktivitäts- und Bevölkerungszunahme steige.28 Extreme Einbrüche könnten so vermieden werden, eine „Feinsteuerung" darüber hinaus sei zweifelhaft. „Unser Versuch, mehr zu tun, als wir können, ist seinerseits eine Störung und vergrößert vielleicht eher die Instabilität" (Friedman, 1959, S. 216). Im Jahr 1957 legte Friedman mit „A Theory of the Consumption Function" eine Studie vor, die erneut einen zentralen Baustein der keynesianischen Doktrin angriff, diesmal die Konsumfunktion. Keynes' Theorie einer abnehmenden Konsumneigung beruhte auf der Behauptung eines psychologischen Gesetzes, wonach die Ausgaben für den Konsum stets etwas langsamer als das Einkommen steigen würden.29 Mit seinem Buch wandte sich Friedman gegen die keynesianische Annahme einer Abhängigkeit der Konsumnachfrage (wie auch Geldnachfrage) primär vom gegenwärtigen Einkommen und präsentierte statt dessen die Lebenseinkommenshypothese. Friedman behauptete und suchte mit Tests zu belegen, daß weniger das aktuelle Einkommen der Wirtschaftssubjekte als ihr „permanentes Einkommen", also das erwartete Lebenseinkommen, ihr Konsumniveau bestimme. Kurzfristige Schwankungen des verfügbaren Einkommens, so die Schlußfolgerung, hätten keineswegs die behaupteten verheerenden Einbrüche zur Folge, wie sie Keynesianer durch staatliche Ausgabenprogramme zu kompensieren suchten. Das Gespenst der chronischen Unternachfrage hatte damit an Schrecken verloren. Anders als die Neoliberalen der österreichischen Schule, allen voran Mises und Hayek, die den makroökonomischen Ansatz der Keynesianer rundweg ablehnten, ließ Friedman sich also auf deren Denken ein (vgl. Lilley, 1977, S. 30). Er beschritt den mühsamen Weg einer Detailkritik mittels empirischer Überprüfung der Postulate der „General Theory". Sein gezielter Beschuß einzelner Elemente des keynesianischen Theoriegebäudes erwies sich langfristig als äußert wirkungsvoll. Es gelang ihm mit ökonometrischen Studien, die tragenden Säulen der „General Theory" zu zerstören: Im Widerspruch zu Keynes' These einer erratischen Geldnachfrage aufgrund der angeblichen Liquiditätspräferenz entwickelte 28 Nach früheren Erfahrungen, so Friedmans geldpolitische Empfehlung, liege das erstrebenswerte Geldmengenwachstum zwischen 3 bis 5 Prozent jährlich (vgl. Friedman, 1958). Anders als Simons, der noch ein bestimmtes Preisniveau als Zielgröße der Fed definieren wollte, war nach Friedman das Wachstum der Geldmenge das relevante Kriterium, da allein diese Größe direkt von der Notenbank zu steuern sei.

Der Schluß lag nahe, daß sich mit einer Zunahme des Volkseinkommens eine immer breitere Nachfragelücke auftun müsse, wenn nicht der Staat mit zusätzlichen Ausgabenprogrammen einspringe. Zudem diente Keynes' These einer stark nachlassenden Konsumneigung Politikern mit egalitaristischen Zielen als wissenschaftliche Rechtfertigung einer nivellierenden Einkommensumverteilung. Sie wurde als Nachweis für deren ökonomisch positive Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung gesehen. 29

216 • Wandlungen des Neoliberalismus

Friedman den Nachweis einer stabilen, von rationalen Faktoren abhängigen Geldnachfrage; gegen Keynes' Behauptung einer primär vom aktuell verfügbaren Einkommen abhängenden Konsumfunktion setzte Friedman die Lebenseinkommenshypothese. Insgesamt war Friedmans Kritik am Keynesianismus darauf angelegt, die Hoffnung auf die Steuerbarkeit der Konjunkturverläufe oder deren Stabilisierung zu erschüttern. Bei allen Meinungsverschiedenheiten im Detail herrschte hier Einigkeit unter den Neoliberalen: Eine permanent expansive staatliche Nachfragepolitik, um „Vollbeschäftigung" zu garantieren, müsse auf die Dauer katastrophale inflationäre Folgen haben. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren waren diese aber allenfalls in Ansätzen erkennbar. Die makroökonomische Orthodoxie der Nachkriegszeit kollabierte also nicht allein unter dem Druck theoretischer Kritik, wie sie Friedman oder Hayek äußerten. Deren Zeit kam erst später, als ab Ende der sechziger Jahre die Inflationsraten weltweit anzogen und zugleich das Wirtschaftswachstum nachließ. Erst dann begann die Sicherheit zu schwinden, mit der die keynesianische Mehrheit der Ökonomen von „demand management" und „fine tuning" gesprochen hatte.

3. Zur Währungsordnung Eine über Jahre in der MPS leidenschaftlich geführte Kontroverse betraf die Frage der monetären Ordnung. Das Thema berührte einen zentralen Nerv: Während die meisten staatlichen Interventionen zwar das Funktionieren des Preismechanismus hemmen oder verzerren konnten, entschied eine falsche monetäre Ordnung über Sein oder Nichtsein der Marktwirtschaft und überhaupt einer stabilen Gesellschaft.30 Aus diesem Grunde betonte etwa Eucken wieder und wieder den „Primat der Währungspolitik", der alle anderen Aspekte der Wirtschaftspolitik überrage (vgl. Eucken, 1949, S. 3436) ,31 Stabiles, verläßliches Geld, das eine reibungslose, dezentrale Koordinierung der Wirtschaftssubjekte garantiere, und ein internationales Währungssystem, welches den weltweiten Austausch ermögliche, galten als unerläßlich für das Gelingen des neoliberalen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems. Preissignale dienten als Kompaß der einzelnen Wettbewerbsteilnehmer. Durch Instabilität des Geldes würde dieser Kompaß ruiniert, jegliche Orientierung unmöglich. Die MPS-Mitglieder waren um drastische Warnungen nicht verlegen: Jacques Rueff erklärte die Inflation bei einem Treffen zu einer „weit größeren Bedrohung der Freiheit als den Marxismus" (Rueff, 1958, S. 1). Und Milton Friedman meinte, Inflation

30 „Um die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, muß man ihr Geldwesen verwüsten", so lautete ein Lenin zugeschriebener Ausspruch, der als Warnung kursierte (zit. n. Eucken, 1949, S. 34). Auch Keynes hatte in seiner Schrift zum Versailler Vertrag 1 9 1 9 in apokalyptischen Worten vor den Folgen der Inflation gewarnt: „Lenin hatte sicherlich recht: Es gibt kein feineres und kein sichereres Mittel, die bestehenden Grundlagen der Gesellschaft umzustürzen, als die Zerstörung der Währung" (Keynes, 1919/2003, S. 236). Das historische Gedächtnis der Neoliberalen reichte weit zurück, bis zu antiken Beispielen folgenschwerer Inflationen. So beschwor etwa Graham Hutton auf der MPS-Tagung 1 9 5 8 in Princeton die gesellschaftliche Zerrüttung und schließlich den Zusammenbruch des immer stärker zentralisierten Römischen Reiches durch die damalige Münzverschlechterung und steigende Steuerlast (vgl. Hutton, 1958). 31

Einen guten Überblick über die ordoliberale Vorstellung von Geldpolitik bietet Bernholz (1989).

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 217

sei, nach der Gefahr eines dritten Weltkrieges, „die ernsteste Gefahr" für das Überleben der freien Gesellschaft (Friedman, 1958, S. I). 32 Um so heftiger rang man in der MPS um die richtige Gestaltung der monetären Ordnung. Abstrahiert man von Differenzen im Detail, so erkennt man zwei Lager: Auf der einen Seite standen die Anhänger eines Goldstandards (oder sonstigen Warenstandards) mit festen Währungsparitäten, auf der anderen Seite standen die Fürsprecher eines Systems staatlich geschaffener, ungedeckter Währungen („fiat money") mit flexiblen Wechselkursen. 33 Als Wortführer der Vertreter des Goldstands tat sich in den fünfziger und frühen sechziger der unermüdliche Rueff hervor; auf Seiten der flexiblen Wechselkurse kämpfte Friedman anfangs recht einsam, später unterstützt von Haberler und Machlup. Zwischen den Anhängern der Golddeckung in der MPS und Friedmans Empfehlung einer reinen „Fiat"Währung, deren Angebot mit konstanter, aber moderater Rate zu erhöhen sei, lagen scheinbar Welten. Trotz aller Kontroversen darf jedoch die grundlegende Übereinstimmung beider Seiten nicht übersehen werden: Sie mißtrauten administrativem Ermessen in Währungsfragen und suchten folglich nach Wegen, diskretionäre Einflußmöglichkeiten der Politik auf Geldschöpfung und monetäre Ordnung zu minimieren oder ganz auszuschließen (vgl. Kemp,1961, S. 2).

3.1. Goldstandard und Warenwährung Einigkeit herrschte also über das Ziel, nicht aber über die Mittel. Die Anhänger des Goldstandards, die in den ersten Jahren in der MPS klar dominierten, blickten zurück auf die Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die internationale Akzeptanz des Goldstandards schuf ein stabiles Währungssystem und damit ein günstiges Umfeld für die weltweite wirtschaftliche Integration und Arbeitsteilung sowie wachsenden Wohlstand. 34 Schwankungen des Geldwertes konnten sich lediglich aus Änderungen des Verhältnisses von internationaler Waren- zur goldgedeckten Geldmenge ergeben. Die Entdeckung neuer Vorkommen des Edelmetalls oder verbesserte Fördertechniken mochten so zwar Schübe des Goldangebots und eine monetäre Expansion auslösen, doch das Geldmengenwachstum und damit auch das Preisniveau waren dem manipulativen Zugriff politischer Kräfte entzogen. 35 Wenn es vor 1914 Perioden der „Goldinflation" und „Golddeflation" gab, so verliefen diese relativ harmlos.

32 Lediglich Bertrand de Jouvenel warnte vor Panik und erklärte die gegenwärtig zu beobachtende Inflation zu einem psychologischen Problem (vgl. Jouvenel, 1958a, S. 1). 33 Wegman (2002, S. 381) unterscheidet in der Währungsfrage vier Gruppen in der MPS: „Wiedereinführung des reinen Goldstandards in seiner klassischen Form, d.h. ohne Goldpreisbindung", „Unechter Goldstandard mit fixiertem, verdoppeltem Goldpreis", „Unechter Goldstandard mit fixiertem, halbiertem Goldpreis" sowie „Flexible Wechselkurse". Tatsächlich entscheidend ist die Unterscheidung zwischen den beiden MPS-Richtungen v o n „gedecktem" und „ungedecktem" Geld. 34 Drei Voraussetzungen gab es für das Funktionieren eines echten Goldstandards: die strikte Deckung des Geldes mit einer bestimmten Menge Goldes, die freie Konvertibilität der Währungen und die Möglichkeit eines ungehinderten Devisentauschs, um durch Arbitrage kleinere Preisungleichgewichte auszugleichen. 35 Tatsächlich enthielt der Goldstandard sogar einen gewissen, wenn auch nur langsam wirkenden automatischen Stabilisator, der die Goldproduktion beschleunigte oder bremste, sobald das Preisniveau zu stark stieg oder fiel.

2 1 8 • Wandlungen des Neoliberalismus Die nostalgischen Erinnerungen an den Goldstandard schienen verständlich nach den verheerenden Erfahrungen der Zwischenkriegszeit mit explodierender Geldschöpfung, Hyperinflationen und Deflationen. Für Neoliberale wie Mises blieb der Goldstandard das einzige System, das auf lange Sicht eine politische Manipulation des Geldes und konfiskatorische Umverteilung verhindern konnte (vgl. Ebeling, 1985, S. 43-45). Gold erschien als der sichere Anker, nach dessen Verlust die Welt in eine gefahrliche Krise abgeglitten war. Eine klare Mehrheit der MPS-Mitglieder trauerte in den fünfziger Jahren der disziplinierenden Wirkung des alten Systems nach. Man fürchtete das Spiel der Macht mit dem Geld. Angesichts der bitteren Erfahrungen diskutierten sie immer neue Konzepte, wie die Währungen gegen politische Zerrüttung immunisiert werden könnten. So nannte Hunold in einem Bericht über die MPS-Tagung in Bloemendaal als „Kernfrage: Welches Geld- und Kreditsystem soll eingeführt werden, um dem Inflationsdruck und der willkürlichen Ausdehnung der Staatsausgaben ein wirksames und möglichst automatisch funktionierendes Gegengewicht entgegenzustellen?" (Hunold, 1950). Ein damals populäres Konzept war neben dem Goldstandard auch der „Graham-Plan", um den in Bloemendal an zwei Tagen die Diskussionen kreisten. Gemäß diesem von den Ökonomen Benjamin Graham und Frank D. Graham seit Mitte der dreißiger Jahre entwickelten Vorschlag sollte der Geldwert über Ziehungsrechte an den Preis eines für die gesamte Volkswirtschaft repräsentativen Warenkorbs gekoppelt sein. Von den einzelnen Bestandteilen dieses Korbes müßten entsprechende Mengen staatlich gekauft und gelagert werden, die bei Schwankungen des Preisniveaus laufend anzupassen seien. Stiegen die Preise, so sollte dem Wirtschaftskreislauf etwas an Liquidität durch die teilweise Auflösung der Warendepots entzogen werden. Geldmenge und Warenmenge, so die Hoffnung, wären perfekt korreliert; der Geldwert bliebe absolut stabil. Zudem würden die Zu- und Verkäufe der Warendepots auch konjunkturell stabilisierend wirken.36 Einige prominente Neoliberale waren daher sehr angetan von dem Gedanken (vgl. Eucken, 1949, S. 79-83). Daß die WarenReserve-Währung einem gleichsam „mechanischen und voraussagbaren Gesetz unterworfen" sei, nahm auch Hayek für sie ein (1943/1952, S. 280).

3.2. Friedmans Plädoyer für „fiat money" Im Grunde lag die Idee der „Waren-Reserve-Währung" nahe bei der Goldwährung. Das Geld sollte aber nicht nur mit einem einzigen realen Gut, dem Edelmetall, sondern mit einem ganzen Bündel von Waren „gedeckt" sein. Friedman unterzog den Ansatz der durch reale Güter, seien es Waren- oder Goldreserven, gedeckten Währungen in einem Vortrag beim MPS-Treffen in Bloemendaal einer gründlichen Prüfung und verwarf ihn (vgl. Friedman, 1950/1953b). Zu den Vorteilen der Warenwährungen zählte auch er, daß die Geldschöpfung automatisch und von politischen Kräften unabhängig erfolge sowie eine antizyklische Tendenz habe. Hyperinflationen seien damit ausgeschlossen, eine deflatorische

Verschiebungen der relativen Preise durch gewandelte Verbraucherwünsche oder Produktionsbedingungen waren natürlich nicht ausgeschlossen. Sie zu fixieren hätte die Lenkungswirkung des Preismechanismus und damit die Marktwirtschaft zerstört. Der Begriff Preisstabilität bezog sich auf den Preis des fiktiven Warenkorbs; die interne Gewichtung der darin enthaltenen Güter hätte also ständig angepaßt werden müssen. 36

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 219 Tendenz allerdings nicht. Die vorgeschlagenen breiten Warenbündel seien aber unrealistisch und unpraktikabel. 37 Alle leicht verderblichen landwirtschaftlichen Güter kamen nicht in Frage. Letztlich blieben nur bestimmte metallische und mineralische Rohstoffe, so daß der Korb kaum repräsentativ für die Gesamtproduktion sein könne (vgl. ebd., S. 223-229). Mittels einer historischen Simulation zeigte Friedman, daß ein solcher Warenbündel-Index in den vergangenen hundertfünfzig Jahren sogar heftiger geschwankt habe als das allgemeine Preisniveau (vgl. ebd., S. 230-231). Als gravierendsten Nachteil einer Waren-Reserve-Währung wertete Friedman die hohen volkswirtschaftlichen Kosten, die mit der Produktion und Lagerung der zur Währungsdeckung nötigen Rohstoffe verbunden seien. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, errechnete Friedman, hätten in den Vereinigten Staaten „ungefähr 1,5 Prozent des Volkseinkommens der Warenreservenproduktion für die Währung gewidmet werden müssen, damit die Preise konstant geblieben wären" (ebd., S. 235). Unmengen von Gütern müßten also dem Konsum entzogen und in Lagern begraben werden, damit die Geldmenge mit dem Produktionswachstum Schritt halte. Um eine sich über Jahrhunderte erstreckende Akkumulation von toten Reserven zu vermeiden, hielt Friedman ein anderes Währungskonzept für billiger und attraktiver: ein staatliches Papiergeld, das an eine strikte Geldmengenregel gebunden war. Seine Kritik einer realen Deckung des Geldes spitzte Friedman in den folgenden Jahren weiter zu. Der Goldstandard sei technisch inferior und erfordere „das seltsame Spektakel, viele Männer hart arbeiten zu lassen, um in einem Teil der Erde ein Metall aus der Erde zu graben, um es dann woanders wieder zu vergraben" (Friedman, 1958, S. 5). 38 Für klare Fronten in der Diskussion wollte Friedman mit seiner 1961 in Turin vorgestellten Unterscheidung zwischen einem „echten" und einem „unechten" Goldstandard sorgen. Ersterer zeichne sich aus durch den ausschließlichen Gebrauch von Gold als Zahlungsmittel und stimme völlig mit liberalen Grundsätzen überein. Dagegen sei letzterer nur oberflächlich betrachtet an Gold gebunden, da ja nationale Zentralbanken existierten, die den Zu- und Abfluß ausländischer Liquidität „neutralisieren", also die Geldmenge nach politischen Maßgaben manipulieren könnten. Dieser heute verbreitete „unechte Goldstandard" stünde völlig im Gegensatz zu liberalen Grundsätzen. Bei einem echten Goldstandard enthalte sich der Staat einer gesetzlichen Festsetzung des Goldpreises (vgl. Friedman, 1962). 39 In der MPSDiskussion sprach er von einer „Schizophrenie selbst liberaler Wissenschaftler", die nicht erkennen wollten, daß Gold „eine Ware sein [muß] wie jede andere auch", berichtete die NZZ (Mötteli, 1961b).

37 Benjamin Graham hatte fünf Arten von Getreide, Fette und Öle, drei weitere Grundnahrungsmittel, vier Metalle bis hin zu Textilfaserstoffen, Tabak, Häuten, Kautschuk und Petroleum für den Warenkorb vorgesehen. 38 War dieser Teil seiner Argumentation schwer zu widerlegen, so blieben Vorbehalte gegen seine Empfehlung eines „fiat money". Die Freunde des Goldstandards in der MPS, zumeist Anhänger der „Austrian Economics", sahen auch hier erhebliche Kosten, besonders die Allokationsverluste durch die „fiat money"-Inflation (vgl. Garrison, 1985, S. 67-70). 39 Seit Januar 1934, als Roosevelt den Dollar abgewertet hatte, war der Preis bei 35 Dollar je Feinunze festgeschrieben.

220 • Wandlungen des Neoliberalismus

3.3. Kritik am Bretton-Woods-System Ein echt liberales Währungssystem erforderte nach Friedman die radikale Abkehr vom Bretton-Woods-System: Der Goldpreis und ebenso die festen Wechselkurse sollten freigegeben werden. Diejenigen Bürger, die Gold oder andere Waren als Zahlungsmittel wünschten, könnten sich derer bedienen. Aber die Staaten hätten ihre Goldreserven aufzulösen und statt dessen nationale Papiergeldwährungen anzubieten. Deren Stabilität hinge allein von der Einhaltung strikter Regeln des Geldmengenwachstums ab. Auch jene in der MPS, die Friedmans klare Position zugunsten freier Wechselkurse ablehnten, waren sich über die Probleme der bestehenden internationalen Währungsordnung im klaren. Erklärtes Ziel des 1944 ausgehandelten Bretton-Woods-Systems war, für stabile Währungsparitäten zu sorgen. Wie in der Zeit des Goldstandards sollten die Wechselkurse nur innerhalb sehr enger Bandbreiten von 2 Prozent schwanken. Allerdings waren die beteiligten Regierungen nicht bereit, sich den Konsequenzen dieser Ordnung zu unterwerfen und zur Sicherung der festgezurrten Währungsrelationen auf eigenständige monetäre und fiskalische Spielräume zu verzichten. Eucken bemerkte in seinem Buch „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" über den Kompromiß von Bretton Woods: „Man findet in dem Abkommen Elemente der Goldwährung, des Systems der veränderlichen Wechselkurse und schließlich auch des Systems der Devisenbewirtschaftung" (Eucken, 1952, S. 168). Nur eine kleine Gruppe von Staaten in Europa, allen voran Deutschland, die Schweiz und Belgien, hielten Mitte der fünfziger Jahre einen dezidierten Hartwährungskurs, der eine rigide Geldpolitik und strikte Finanzpolitik erforderte. Viele andere Staaten hielten dies aber für schädlich; ihre Priorität lautete „Vollbeschäftigung". Hier lag von Anfang an ein Konstruktionsproblem von Bretton-Woods vor. Die unterschiedlich expansiven Strategien der Geld- und Fiskalpolitik kollidierten mit dem Ziel weltweit fester Wechselkurse. Folglich konnte die angestrebte Konvertibilität bis Ende der fünfziger Jahre nicht realisiert werden; und danach führten internationale Kapitalströme immer wieder zu schweren Ungleichgewichten. 40 Während Deutschland, das zu einem der größten Exporteure aufstieg, eine strikte Geld- und Fiskalpolitik verfolgte, erlaubten sich seine Handelspartner höhere Budgetdefizite, eine expansivere Geldpolitik und damit höhere Inflationsraten. Die Vereinigten Staaten erlebten eine stetige Verschlechterung ihrer Leistungsbilanz. Ab 1958 wiesen diese ein Defizit aus, welches über die kommenden Jahre immer stärker anwuchs. Es dauerte nicht lange, bis die amerikanischen Reserven beim IWF aufgebraucht waren. Damit erschien ungewiß, ob der Dollarkurs standhalten könnte. Mit dem Dollar, der Hauptreservewährung, stand jedoch das ganze internationale System fester Wechselkurse zur Disposition.

In den ersten Jahren nach Kriegsende war Europa noch stark von Importen aus den Vereinigten Staaten abhängig, denen keine entsprechenden Exporte gegenüberstanden. Die als bedrohlich angesehene „Dollar-Lücke" schloß sich Anfang der fünfziger Jahre aber unerwartet rasch. In Verbindung mit den substantiellen Zollsenkungen der GATT-Runden begünstigte das System stabiler Wechselkurse eine Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung und einen steilen Aufschwung des Welthandels, dessen Volumen sich von 1 9 4 8 bis 1960 nominell mehr als verdoppelte (vgl. Kenwood/Loughheed, 1999, S. 299). Diese stürmische Entwicklung zerrte aber auch am System der festgefügten Wechselkurse, da verschiedene nationale Regierungen weiter unterschiedliche Geldpolitiken verfolgten.

40

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 221

Nun verschärften sich die Debatten in der MPS. Immer drängender wurde die Suche nach Alternativen zum Bretton-Woods-System. Bei der MPS-Tagung 1957 in St. Moritz waren die Fürsprecher flexibler Wechselkurse, diesmal angeführt von L. Albert Hahn, noch in der Minderheit. Hahn erklärte, die Versuche der deutschen Bundesbank, einen restriktiven Kurs zu fahren und ein Uberschwappen der weltweit höheren Inflationsraten zu vermeiden, seien ohne eine Aufwertung der D-Mark nicht lange durchzuhalten. Es gebe unter den gegebenen Umständen „nur einen natürlichen Weg zum Schutz gegen die Weltinflation: flexible Wechselkurse" (Hahn, 1957). Bei der MPS-Tagung 1960 in Kassel drängten Hahn und Haberler erneut auf eine Anpassung des D-Mark-Wechselkurses. Es liege eine fundamentale Gleichgewichtsstörung vor, deren Ursache die unterschiedliche monetäre Disziplin von Amerikanern und Deutschen sei. Der Damm, den die Bundesbank gegen den Zufluß weiteren ausländischen Kapitals zu errichten versuche, kuriere lediglich die Symptome und könne damit nur den Zeitpunkt der Aufwertung hinauszögern (vgl. Hahn, 1960). Einige Redner, berichtete die NZZ, hätten bei dem Treffen eine völlige Freigabe der Wechselkurse erwogen, die dem liberalen Ideal am meisten entspräche. Hahn selbst forderte eine „Stufenflexibilität" (vgl. Linder, 1960b). Unter den Teilnehmern der Tagung befand sich auch Ludwig Erhard, der die Plädoyers für eine Änderung des D-Mark-Kurses aufmerksam verfolgte. „Zweifellos", schrieb im Jahr darauf der FAZ-Wirtschaftsjournalist Jürgen Eick, hätten die „vielstimmigen Argumente" in Kassel den wenige Monate später gefaßten Entschluß der Bundesregierung zur D-Mark-Aufwertung befördert (Eick, 1961). Auch der sehr energische publizistische Einsatz Röpkes, der in der FAZ einen flammenden Aufsatz zugunsten einer Aufwertung verfaßt hatte, mochte die Entscheidung der Bonner Politiker beeinflußt haben (vgl. Röpke 1961b; vgl. auch Röpke an G. Willgerodt, 5.3.1961, in: IWP, NL Röpke; Ders., 1976, S. 172-173). Mit der einmaligen Korrektur falscher Wechselkurse war es aber nicht getan, da die strukturell bedingten Ungleichgewichte bald erneut sichtbar wurden. Beim MPS-Treffen 1961 in Turin ergab sich erstmals eine Mehrheit von Rednern, die eine grundsätzliche Reform des internationalen Währungssystems forderten. Diese Gruppe, darunter Machlup, Friedman, Hahn und llau, wollten die Flucht nach vorn antreten und die Wechselkurse völlig freigeben. Sie sähen darin das einzige Mittel „zur Vermeidung periodischer Schwierigkeiten und der Gefahr direkter staatlicher Kontrollen" (Mötteli, 1961b). Eine andere Gruppe, angeführt von Rueff, Heilperin und Hazlitt, fürchtete für den Fall der Wechselkursfreigabe ein weltweites Chaos und startete ein verzweifeltes Plädoyer für eine Rückkehr zur echten Golddeckung. Der herausragende Vorteil des alten Goldstandards, so Hazlitt, sei die von der Natur und Produktionstechnologie begrenzte Verfügbarkeit des Angebots, die dem ungedeckten Papiergeld fehle. Er betrachtete es als Illusion und Ausdruck politischer Naivität zu hoffen, gesetzlich oder verfassungsmäßig verankerte Regeln könnten die Geldschöpfung zügeln. „Papiergeld führt früher oder später überall zu einer großen und manchmal katastrophalen Inflation" (Hazlitt, 1961a, S. 3). Noch schärfer klang die Warnung von Rueff zum angeblich unmittelbar drohenden Kollaps der internationalen Währungsordnung. Die Situation erinnerte ihn an den Gold-DevisenStandard der zwanziger Jahre, der die monetäre Disziplin gelockert und Defizite erlaubt habe. Statt solider Goldreserven dienten nun immer zweifelhaftere Dollarberge als Deckung

222 • Wandlungen des Neoliberalismus für Schulden, deren Wert zusammenschmelzen müsse, sobald ausländische Gläubiger und Notenbanken ihre Auslagen bei den Vereinigten Staaten in Form von Gold zurückverlangten. Für Rueff, der die Jahre der Depression im Pariser Finanzministerium erlebt hatte, gab es nun eine klare Parallele zum „Kartenhaus" des Jahres 1929, wenn auch die Kapitallawine diesmal in umgekehrter Richtung zu rollen drohe. Allein die Rückkehr zum Goldstandard, meinte er, könne eine Wiederholung der Katastrophe verhindern (vgl. Rueff, 1961, S. 7). 41 Auf sein Drängen gingen dann auch die aufsehenerregenden, letztlich vergeblichen Vorstöße der französischen Regierung ab Ende 1963 zurück, Bretton-Woods zugunsten eines angepaßten Goldstandards aufzugeben. 42 Für die Verfechter des Goldstandards gab es jedoch ein Problem zu klären. Seit Jahren blieb die weltweite Goldproduktion deutlich hinter dem Wachstum des internationalen Handels zurück. Im Falle der Rückkehr zum echten Goldstandard bestand daher, wie Courtin, der Vizepräsident des Monetary Committee der Internationalen Handelskammer in Genf, vor der MPS erklärte, ein „internationales Liquiditätsproblem", das eine schädliche kontraktive Wirkung entfalten müßte (vgl. Mötteli, 1961b). Aus diesem Grund empfahlen Heilperin, Rueff und Courtin eine drastische Erhöhung, eine Verdopplung des Goldpreises. Das „Tabu des 35 Dollar-Preises" dürfe nicht den Weg zu einer „dauerhaften monetären Reform für die westliche Welt" versperren (Heilperin, 1961, S. 9). Die geforderte drastische Erhöhung des Goldpreises hätte tatsächlich die weltweite Produktion des Edelmetalls angeregt und eine monetäre Expansion zur Folge gehabt. Genau diese jedoch fürchteten die Kritiker wie Hahn. 43 Nach Ansicht von Machlup, der die hypothetische Alternative eines echten Goldstandards durchaus positiv beurteilte, aber für irreal hielt, drohte für den Fall einer plötzlichen Goldpreisänderung ein währungspolitisches Chaos (vgl. Machlup, 1961, S. 1). Die Kritiker hatten hier die Logik auf ihrer Seite: Während der echte Goldstandard noch Schutz gegen politische Manipulation verspreche, würde eine willkürliche Goldpreisänderung dieses Prinzip ad absurdum führen. Genau dies war es, was Friedman als „unechten Goldstandard" gebrandmarkt hatte. Wie die Verfechter freier Wechselkurse gewarnt hatten, zeichnete sich nun immer deutlicher ab, daß eine Fortschreibung der festen Wechselkursparitäten nur hinter einem Schleier von Kontrollen und Einschränkungen des grenzüberschreitenden Zahlungsverkehrs möglich war. Nur so könnten die betroffenen

Zu Rueffs eigenwilliger Geldtheorie vgl. Maarek (1996). Die Quantitätstheorie hielt er für ein künstliches, „rein arithmetisches" Konzept ohne Bezug zum echten Wirtschaftsleben. Rueff sah die Geldmenge nicht als von der Notenbank kontrollierbare Größe, sondern primär vom Verhalten der Liquiditätsbesitzer bestimmt. Unter bestimmten Umständen, etwa bei hohen staatlichen Defiziten oder im Fall einer allgemein antizipierten Inflation, seien heftige Ausweichreaktionen nicht zu bremsen. Die Stabilisierungsinstrumente der Notenbank versagten unter diesen Umständen, Inflation sei unvermeidlich. 42 Während Rueffs Kritik am internationalen Währungssystem frei von antiamerikanischen Hintergedanken war, traf dies auf viele andere französische Experten nicht zu. De Gaulle lehnte den am Dollar hängenden Gold-DevisenStandard ab, da dieser den Vereinigten Staaten einen kaum begrenzten Verschuldungsspielraum eröffnete. Im Februar 1965 versuchte De Gaulle, die Amerikaner mit der Drohung eines Umtausches der französischen Goldreserven unter Druck zu setzen. Bei der MPS-Tagung in Stresa im Herbst des Jahres ergaben sich daraus gewisse Spannungen zwischen französischen und amerikanischen Teilnehmern. Im Bericht der NZZ hieß es, „das ,böse Wort' von der französischen Sabotage ... geisterte durch einige Voten" (Mötteli, 1965). 43 Neben den zu befürchtenden inflationären Effekten gab es auch außenpolitische Einwände: Eine Goldpreisverdopplung brächte lediglich Rußland, Südafrika und Ländern mit großen Goldvorräten massive Gewinne, wogegen die goldarmen Staaten darunter leiden würden, warnte Hahn (1960, S. 1). 41

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 223 Regierungen den Druck der Ungleichgewichte abfangen und Zahlungsbilanzkrisen verhindern, warnte Machlup (vgl. ebd.). Angesichts chronischer Defizite der Hauptreserveländer seien ein Aufzehren ihrer IWF-Kreditfazilitäten, schließlich Druck auf die Wechselkurse und staatliche Gegenmaßnahmen, also Devisenkontrollen, vorgezeichnet. Das Festklammern an unrealistischen Wechselkursen gefährde somit den Fortbestand der Konvertibilität und damit das ganze System des freien Kapital- und Warenverkehrs. „Wenn wir als Liberale Devisenrestriktionen unerträglich finden, und die meisten Leute und ihre Regierungen Einschnitte bei der effektiven Nachfrage unerträglich finden, sehe ich nur eine einzige Wahl: freie Wechselkurse", erklärte Machlup (1961, S. 7). Die nächste MPS-Konferenz 1965 in Stresa, die sich mit Fragen der internationalen Währungsordnung befaßte, sollte zeigen, wie rasch die Mehrheit der Neoliberalen ins Lager freier Wechselkurse überlief.

4. Zu Wohlfahrtsstaat und neoliberaler Sozialpolitik Während die Frage der internationalen monetären Ordnung eher ein abstraktes Thema für Währungsfachleute blieb, erregte der Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Strukturen unmittelbar die Gemüter der Wähler - und ebenso die der neoliberalen Wissenschaftler. Ihre Haltung zur staatlichen Sozialpolitik war durchaus ambivalent. Auf dem Colloque Walter Lippmann 1938 hatte man eine vorsichtige Revision der bisherigen, ablehnenden Position betrieben. Zur Geburtsstunde des Neoliberalismus waren vielfach Stimmen lautgeworden, die eine gewisse materielle Grundsicherung durch ein staatlich garantiertes Minimum befürworteten. Mehr noch aber vertraute man dem Wettbewerb der Marktwirtschaft, der Motor gewaltiger Produktivitätsgewinne sein könne, die auch den unteren sozialen Schichten steigenden Wohlstand bescheren würden, wenn nur die Koordination durch den Preismechanismus nicht durch staatliche Eingriffe blockiert werde. Auch bei der Gründung der MPS 1947 war deutlich geworden, daß wichtige Vertreter des Neoliberalismus eine staatliche Sozialpolitik und materielle Absicherung eines Existenzminimums grundsätzlich befürworteten. Originell war Friedmans Vorschlag einer negativen Steuer zur Aufbesserung niedriger Einkommen. Dieses Modell enthielt ein klar egalisierendes Element, doch im Gegensatz zu Vorschlägen für ein staatlich garantiertes Mindesteinkommen setzte die negative Einkommensteuer nicht die Gesetze des Marktes für den Niedriglohnsektor außer Kraft, sondern integrierte auch Geringqualifizierte in den Arbeitsmarkt. Die neoliberale Sozialpolitik, dies ergaben die Diskussionen am Mont Pèlerin, verstand sich nicht als Gegensatz zur Marktwirtschaft, sondern als maßvolle Ergänzung. Wichtig erschien den MPS-Gründern, daß solche sozialpolitischen Interventionen zu vermeiden seien, die den Marktmechanismus zerstörten. Historisch belastet war die sozialpolitische Debatte durch die marxistische Behauptung eines immerwährenden Antagonismus zwischen „Arbeit" und „Kapital". 44 Einige der Vordenker

Nach dem sozialistischen Freund-Feind-Schema waren die neoliberalen Ökonomen nichts anderes als die Hilfsbüttel des „Kapitals" und damit Gegner der Arbeiterschaft (vgl. etwa Walpen, 2004, S. 116 u. 180).

44

224 • Wandlungen des Neoliberalismus der MPS waren ernsthaft bemüht, diese Frontstellung zu überwinden. Eucken beklagte bei der Sitzung des MPS-Vorstands in Basel im September 1948, dem Liberalismus hafte das große Stigma an, „unsozial" zu sein. Seine Vertreter, so die gängige Meinung, verstünden zwar etwas von Wirtschaft und Technik, hätten aber „kein Herz für die Arbeiter". An dieser Stelle setzten Gruppen an, die sich als „liberal-sozial" bezeichneten und „schwerwiegende Konzessionen an den Sozialismus machen", warnte Eucken. Man müsse viel deutlicher klarstellen, von welchem System die Arbeiterschaft tatsächlich profitiere und wo sie leide. Schon jetzt könne man sagen, daß die totalitären Staaten weit weniger „sozial" seien als die frühere marktliberale Wirtschaft. „Im neunzehnten Jahrhundert hing der Arbeiter von seinem privaten Unternehmer oder seinem Arbeitgeber ab, während er heute einem anonymen Büro untergeordnet ist", so Eucken. Für die nächste Tagung einigten sich der Vorstand der MPS daher als Schwerpunktthema auf Fragen zur Gewerkschaftspolitik, zum Verhältnis von Arbeiterschaft und Betriebsleitung sowie zu Sinn und Grenzen des Strebens nach „sozialer Sicherheit" (Protokoll vom 19.9.1948, in: HIA, MPS-Slg. 1). Die Konferenz in Seeüsberg 1949 stand dann ganz im Zeichen der „Arbeiterfrage" (vgl. Mötteli, 1949). Hütt sprach über „Trade Unions and the Price System" und verkündete, es sei an der Zeit, einen „wesentlichen großen Plan zur ökonomischen Abrüstung" vorzulegen. Eine allgemeine Entideologisierung der Arbeiterbewegung müsse durch Aufklärungsarbeit von Wirtschaftswissenschaftlern flankiert werden, forderte er (Hütt, 1949, S. 20). 45 Die folgende MPS-Debatte um die Mitbestimmung in großen Unternehmen war ebenfalls gezeichnet von dem Bemühen, verhärtete Fronten aufzulockern. Zwar warnten alle Redner vor einer totalen „Demokratisierung" der Wirtschaft, die nichts anderes als die Enteignung privater Unternehmer darstelle. Von einer Verteufelung der organisierten Arbeiterbewegung und ihren Forderungen waren die Vorträge weit entfernt. Mit Bezug auf die britischen Gewerkschaften erklärte Dennison gar, diese seien, trotz abzulehnender monopolistischer Tendenzen, ein „Bollwerk gegen schlimmere Übel". Eine gewisse Mitbestimmung könne sie in die betriebliche Verantwortung einbeziehen und so zu ihrer Mäßigung beitragen (Dennison, 1949, S. 9-10). Wichtig war den Neoliberalen die Feststellung, daß auch die Arbeitnehmer in einem marktwirtschaftlichen System mehr Wohlstand und mehr Freiheit zu erwarten hätten als in einem planwirtschaftlichen System. Böhm fragte, wie ein größerer Teil der Arbeiterschaft für das Programm von Wettbewerb und Marktwirtschaft gewonnen werden könne und betonte, dazu sei es notwendig, daß sich auch der Arbeiter als „Bürger" fühle, als Teilnehmer innerhalb der Wettbewerbsordnung, der gleiche Rechte habe. Dies solle ein zentrales Forschungsfeld für die MPS werden. Um das Gefühl der Abhängigkeit zu mildern, müßte streng gegen Monopole vorgegangen werden (vgl. Böhm, 1949). Und K. F. Maier erklärte in seinem Vortrag „The Demand for Social Security": Die angebliche Sicherheit, welche die Planwirtschaft in Rußland oder anderswo verspreche, sei in Wirklichkeit der höchste Grad der

Sein unter den Neoliberalen weithin beachteter „Plan for Reconstruction", veröffentlicht bereits 1943, war ein erster Versuch dafür: Er enthielt detaillierte Vorschläge, wie die Gewerkschaften für die notwendige Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu gewinnen seien. Zentral erschien Hütt eine großzügige Entschädigung jener, deren Reallöhne vorübergehend sinken würden, sowie, um die „ideologischen Hindernisse" zu überwinden, die Überführung des gesamten Gewerkschaftsapparats in eine neue Bürokratie zur Verwaltung der fälligen Kompensationen und zur Regulierung von Monopolen am Arbeitsmarkt. 45

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 225

Unsicherheit, da der einzelne keine individuellen Rechte auf Selbstbestimmung mehr habe und auf Gedeih und Verderb der zentralen und allmächtigen Behörde ausgeliefert sei. „Freiheit ist daher eine Bedingung für wirtschaftliche Sicherheit. Es ist ein fataler Irrtum, sie als eine Alternative dazu zu betrachten" (Maier, 1949, S. 2). Die wohl bekannteste Präsentation dieser These hatte Hayek in „The Road to Serfdom" vorgelegt: Ein Staat, der seine Bürger rundum versorge, erlange Macht über das gesellschaftliche Leben und nähere sich einem totalitären System, hatte er gewarnt. Hayek unterschied zwei Arten von Sicherheit: Einerseits die begrenzte Sicherheit, also eine Absicherung gegen schwere körperliche Entbehrung und die Gewährung eines gewissen Existenzminimums an Nahrung, Obdach und Kleidung, und andererseits die „absolute Sicherheit", also das Versprechen eines staatlichen Mindesteinkommens oder der Anspruch auf einen bestimmten Lebensstandard (vgl. Hayek, 1944/1971, S. 156-157). Diese „absolute Sicherheit", warnte er, sei mit einer freiheitlichen Ordnung unvereinbar. Sie könne nur um den Preis eines Verlusts der persönlichen Freiheit erkauft werden: „Entweder hat das Individuum sowohl die Entscheidung und das Risiko, oder beides ist ihm abgenommen" (ebd., S. 164). Entsprechend dem Grundtenor von „The Road to Serfdom" erklärte er, völlige staatliche Absicherung werde in eine militärisch organisierte Gesellschaft führen, sie ähnele zuletzt der „Sicherheit der Kaserne" (ebd., S. 165). Aus humanitären Erwägungen heraus war Hayek durchaus bereit, begrenzte Maßnahmen des Staates zur Sicherung eines sozialen Minimums zu akzeptieren. Hayek stand einer staatlichen Pflichtversicherung keineswegs ablehnend gegenüber. Etwa eine obligatorische Versicherung gegen Krankheits- oder Unfallrisiken sei vertretbar, da man es mit echten, versicherungsfähigen Risiken zu tun habe. Zudem plädierte er für eine begrenzte liberale Politik zur Milderung von sozialen Härten, wobei er sich ausdrücklich auf Hütts „Plan for Reconstruction" von 1943 bezog. Gleichwohl sah er die Gefahr einer sozialpolitischen Rutschbahn, die über weitgehende Fürsorge in eine unfreie Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung abglitt.

4.1. Die Alternative: „Vitalpolitik" statt Sozialpolitik In dramatischen Sätzen beschwor auch Röpke schon frühzeitig die Gefahr einer Entmündigung der Bürger durch soziale Massenbetreuung und Massenfürsorge. Anders als Hayek, der die politischen Gefahren in den Vordergrund stellte, betonte er die kulturellen Auswirkungen des Sozialstaats. Es sei ein Irrweg, dem Staat die Lösung aller sozialen Probleme zu überantworten, denn parallel zum Ausbau der staatlichen Versorgung sinke der Wille zur Selbstverantwortung, die gegenseitige Hilfsbereitschaft unter Nachbarn und Freunden sowie das Bewußtsein einer Pflicht zum Beistand für Angehörige. Je mehr der Staat über eine obligatorische Selbstversicherung hinausgehe und alle in eine kollektive Fürsorge einbinde, zerstöre er die Strukturen echter Sozialität, die Familien sowie die freiwilligen Gemeinschaften. Im rundum tätigen Wohlfahrtsstaat sah Röpke die Bestrebung, „den Massen sowohl das Denken wie die Ausfüllung der Muße abzunehmen und sie bei gleichzeitigem Verlust elementarer Freiheiten - ja sogar des Bedürfnisses nach solchen Freiheiten - mit allen möglichen Annehmlichkeiten des Zivilisationskomforts einzulullen". Damit werde der Mensch zu einem „schweifwedelnden Haustier" entwürdigt: „Das Ideal der komfortablen Stallfütterung

226 • Wandlungen des Neoliberalismus

können wir es nennen und damit ungefähr das treffen, was die Alten mit dem Ruf ,panem et circenses' umschrieben" (Röpke, 1942/1979, S. 267). Wie Hayek sahen Röpke und auch Rüstow den freien, selbstbestimmten Menschen bedroht, falls der Staat eine totale Sicherung seiner materiellen Existenz verspreche. Gleichwohl waren sie weit davon entfernt, die reine Marktwirtschaft als ausreichende Basis einer humanen und freiheitlichen Gesellschaft anzuerkennen. Auf keinen Fall wollte Röpke zum „sozialen Darwinismus des Laissez-faire" zurückkehren, „der jeden dem Kampf ums Dasein unter den höchst ungleichen Startbedingungen von heute überlassen will", sondern betonte die Möglichkeit eines „dritten Weges" (ebd., S. 265). In viel stärkerem Maß als andere Neoliberale betonten Röpke und noch mehr Rüstow die unangenehmen Nebenfolgen der entfesselten Marktwirtschaft im neunzehnten Jahrhundert (vgl. etwa Rüstow, 1949, S. 108).46 Der Ruf nach Sicherheit, den sich sozialistische Strömungen nutzbar machten, war Rüstow durchaus verständlich, nur warnte er vor dem Verlust an Freiheit, die mit der „Sicherheit" der Planwirtschaft verbunden sei. „Planwirtschaft bedarf, soll sie funktionieren, einheitlicher Leitung ... eines einzigen Leiters: Diktatur ist die allein angemessene Organisationsform der Planwirtschaft" (ebd., S. 120). Was Rüstow von den meisten anderen Neoliberalen, auch von Röpke, unterschied, war seine äußerst kritische Haltung gegenüber den bestehenden Privateigentumsverhältnissen: „Daß die Verteilung von Vermögen und Einkommen in unserer plutokratischen Wirtschaftsordnung irgend etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hätte, wird wohl heute niemand mehr im Ernst behaupten wollen" (ebd., S. 122). Unüberhörbar war dies ein Echo seiner früheren sozialistischen Uberzeugungen. Seine Abneigung gegen ererbten Reichtum, die doch im neoliberalen Kontext eher ungewöhnlich war, hatte Rüstow in seiner monumentalen Studie „Ortsbestimmung der Gegenwart" mit der Uberlagerungsthese zu erklären versucht.47 Aus dieser Grundannahme folgerte er, daß zum einen mehr Wettbewerb herrschen müsse, um mit alten Privilegien aufzuräumen, zum anderen aber die nicht redlich erworbenen großen Vermögen, insbesondere die Möglichkeiten des Vererbens eingeschränkt werden müßten, schließlich seien „die heutigen Reichen im ganzen immer noch die Erben der einstigen Eroberer, ihres Besitzes, wie übrigens auch ihrer Gesinnung, und auch die wenigen Selfmademen unter ihnen haben meist aus der gleichen Gesinnung und mit entsprechenden Methoden gearbeitet" (ebd.).

46 Den Obergang der fest strukturierten feudalen Agrarwirtschaft zur stark arbeitsteiligen Industrie- und Handelsgesellschaft sah Rüstow als Beginn eines problematischen Atomisierungsprozesses: Die einstmals weitgehend autarken Bauern wurden damit aus ihren dörflichen Gemeinschaften herausgerissen und mußten sich bei wechselnden Arbeitgebern verdingen. Durchaus mit Mitgefühl beschrieb er die Ängste der in eine neue Umgebung verpflanzten Lohnarbeiter: ihr Gefühl der Abhängigkeit v o n anonymen Marktkräften, die Unsicherheit ihres Auskommens und das verbreitete Unbehagen angesichts eines rasenden Wandels sowohl der ökonomischen wie der sozialen Verhältnisse (vgl. Rüstow, 1949, S. 114-119).

„Überlagerung", womit er die Unterwerfung friedlicher Ackerbauern durch kriegerische Eroberervölker meinte, war der zentrale Begriff seines kultursoziologischen Denkens, das er anhand historischer und prähistorischer Belege anschaulich machen wollte. Das früheste Beispiel einer „Überlagerung" datierte Rüstow auf das Ende der letzten Eiszeit, worauf immer neue Wellen der „Überlagerung" gefolgt seien. Die Ambivalenz des Vorgangs sah Rüstow darin, daß der Unterwerfung einer Kultur durch eine andere zwar Unterdrückung und Freiheitsberaubung folgten, die er scharf verurteilte. Jedoch hätten erst Beherrschung und Ausbeutung die Bedingungen zum Entstehen v o n Hochkulturen geschaffen, deren oberste Schicht von den Früchten der Arbeit anderer lebe und sich daher geistigen und kulturellen Tätigkeiten zuwenden könne (vgl. Rüstow, 1950a, S. 39-40). Vieles an diesem Schema war kulturanthropologisch spekulativ und historisch letztlich unhaltbar. Vgl. zur Kritik die Literatur bei Meier-Rust (1993, S. 126-129) und Müller (2003, S. 155). 47

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 227 Als Ausweg aus der historisch gewachsenen Vermögenskonzentration empfahl er daher eine Politik forcierter „Startgerechtigkeit". Diese umfaßte nicht nur gleiche Bildungschancen, die Rüstow durch Stipendien und Freiplätze an Schulen und Universitäten zu erreichen hoffte. Explizit beharrte er auch auf einer Gleichheit der materiellen Ausgangspositionen jeden Bürgers. Zu diesem Zweck entwickelte er den Vorschlag einer stark progressiven, für große Vermögen annähernd konfiskatorischen Besteuerung von Erbschaften. A m Start sollten absolut egalisierte Bedingungen herrschen. Reichtümer dürften nicht von Generation zu Generation übertragen werden, forderte er (vgl. ebd., S. 146-152). Mit dieser radikalen Position, die er später nicht weiter verfolgte, stand Rüstow im Lager der Neoliberalen ziemlich isoliert am linken Rand. In einer Rezension des ersten Bandes der „Ortsbestimmung der Gegenwart" fragte Edith Eucken-Erdsiek, wie der Bestand einer Gesellschaft auf Dauer erhalten bleiben solle, „wenn man den Forderungen nach Einebnung aller gesellschaftlichen Unterschiede zu weit nachgibt?". Zudem warnte sie davor, daß die „Gleichberechtigungswünsche anfangen, eine Tendenz ins Maßlose zu entwickeln" (Eucken-Erdsiek, 1951, S. 452). Auch Röpke teilte die Abneigung seines Freundes gegen große Erbschaften nicht, warnte vor den Folgen einer konfiskatorischen Besteuerung und widersprach ganz entschieden der Forderung seines Freundes nach einer egalitär verstandenen „Startgerechtigkeit" (vgl. Röpke, 1958/1961, S. 194 u. 348). 48 W o sich beide trafen war die Erkenntnis, daß für das Funktionieren der Marktwirtschaft neben rechtlichen auch soziologische Rahmenbedingungen zählten. Ökonomische Krisen, etwa die Große Depression der dreißiger Jahre, empfanden sie als Teil einer viel umfassenderen Gesellschaftskrise. Der wirtschaftliche Niedergang war damit nicht isoliert zu betrachten. Ihrer Ansicht nach mußte das neoliberale Gegenprogramm folglich, in den Worten Euckens, die „Interdependenz der Ordnungen" berücksichtigen. Eine marktwirtschaftliche Erneuerung schien Rüstow und Röpke nur eingebettet in sozialund strukturpolitische Initiativen, durch eine Revitalisierung der bürgerlichen Gesellschaft möglich (vgl. Röpke/Rüstow, 1938). Wie schon beim Colloque Walter Lippmann nutzten sie die Treffen der Mont Pèlerin Society, um ihre soziologische, erweiterte Version des Neoliberalismus zu propagieren. Röpke sprach 1949 in Seelisberg eindringlich von der geistigen Deformation, welche die „proletarisierte Gesellschaft" mit sich bringe. Die Mehrzahl der modernen Massenmenschen lebe „ohne wirtschaftliche und soziologische Reserven", also ohne nennenswertes Eigentum und ohne ein Netz stabiler sozialer Beziehungen (Röpke, 1949/1950, S 228). Je mehr der selbständige und selbstbewußte Mittelstand, denn um diesen ging es Röpke, durch die fortschreitende „Proletarisierung" verschwinde, desto eher suche die entwurzelte Masse Zuflucht im Kollektivismus, der mit „mechanisierter Massenfursorge" und Umverteilung ihre Bedürfnisse zu stillen verspreche. Daraus ergebe sich eine Kettenreaktion: „wachsende Proletarisierung bedeutet abnehmenden Widerstand gegen eine Politik der Einkommensnivellierung und der weiteren Vernichtung des Mittelstandes" (ebd., S. 230). Mit dem Schwinden der Schicht der verantwortlichen Kultur- und Leistungsträger sei letztlich auch die Demokratie gefährdet, fürchtete Röpke, der sich dabei auf ein von Aristoteles abgeleitetes Kreislaufmodell politischer Ordnungen berief. Um dem entgegenzuwirken, sei eine „Politik der Entproletarisierung" zu entwerfen, die eine Wiederverwurzelung der Arbeiter im Eigentum, zuletzt gar ihre Verbürgerlichung begünstige. Hier rechnete er allerdings mit starkem Widerstand, der nicht nur von sozialistischer Seite kommen werde. Einwände

48

Zur Problematik der Startgerechtigkeit vgl. auch Hank (2006).

228 • Wandlungen des Neoliberalismus

gegen eine derart verstandene Sozialpolitik sah Röpke auch von jenen voraus, „die mit dem Ruf nach freien Märkten, freier Konkurrenz, Freihandel und freier Unternehmung alles gesagt glauben" (ebd., S. 231). Die Position der „paläoliberalen" Marktpuristen, wie sie Mises verkörperte, sahen Röpke und Rüstow in der MPS doch recht zahlreich vertreten und hörten entsprechenden Widerspruch. Diesen führten sie auf eine gefährliche liberale „Soziologieblindheit" zurück, welche die Notwendigkeit des außerökonomischen Rahmens der Marktwirtschaft nicht sehen wolle. Um die sozialen Strukturen zu stärken, propagierte besonders Rüstow ein Programm der „Vitalpolitik", die sich von einer rein materiell verstandenen Sozial- und Versorgungspolitik qualitativ absetzen wollte (vgl. Hegner, 2000, S. 52-68). Seine Überlegungen gingen aus von der Erkenntnis einer zunehmenden Desintegration der industriellen Gesellschaft, deren ehemals feste soziale Struktur in isolierte Atome zerfalle. Dieses Phänomen glaubte er im Osten wie im Westen zu beobachten. 49 Das Konzept einer reinen Marktgesellschaft befriedigte Rüstow nicht, da das Konkurrenzprinzip keine ausreichende integrative Kraft habe (vgl. Rüstow, 1957). Die Marktwirtschaft müsse daher durch eine geeignete „Vitalpolitik" flankiert werden, um eine wahrhaft freiheitliche Gesellschaft zu ermöglichen. In erster Linie ging es Rüstow wie auch Röpke um die Stärkung der kleinen, subsidiären Einheiten, die den zentralisierenden und „vermassenden" Tendenzen widerstehen können. Rüstow war überzeugt, daß eine Politik, „die auf Entmassung, auf Heilung dieses sozialen Krankheitszustands gerichtet ist, vor allem die Familie achten und fördern muß" (ebd., S. 221). 50 Die weiteren Elemente seiner „Vitalpolitik" waren gemäß dem Subsidiaritätsprinzip gestaffelt. Maßnahmen zur Stärkung intakter Familien als Keimzellen der Gesellschaft sollten durch entzerrende Siedlungsstrukturpolitik ergänzt werden. Die räumliche Konzentration und Zusammenballung der Menschen in grauen Großstadtwüsten galten ihm als bedenkliche Entwicklungen, denen mit einer Förderung von ländlichen oder halbländlichen Eigenheimen entgegenzuwirken sei (vgl. ebd., S. 222-225). 51 Zusätzlich zur Siedlungs- und Regionalpolitik galt Rüstows Interesse einer Besserung der Arbeitsbedingungen in den einzelnen Betrieben. Durch gezielte Initiativen einer betrieblichen Sozialpolitik ließe sich die latente Gefahr des Klassenkampfs bannen (vgl. ebd., S. 230). 52 Soziologisch argumentierende Neoliberale wie Rüstow, Röpke und auch Müller-Armack waren von der Notwendigkeit einer breiteren Streuung des Eigentums überzeugt, die auch

Im Ostblock fördere die totalitäre Diktatur bewußt die Vermassung, indem sie traditionelle soziale Institutionen zerschlage, um anschließend die „unübersehbare Masse von pulverisierten Einzelnen" im Apparat der kommunistischen Befehlswirtschaft zusammenzuschweißen (Rüstow, 1957, S. 215). Diese Art „pathologischer Pseudointegration" (ebd., S. 229) stellte seine Horrorvorstellung dar, da sie den absoluten Verlust der Würde des Individuums bedeutete. 49

Die Familienpolitik müsse aber „sehr behutsam vorgehen ... und mehr Wert darauf legen, der Familie die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu entfalten, als unmittelbar von Obrigkeits wegen, und sei es auch nur finanziell, einzugreifen". Restaurative Absichten lagen Rüstow fern. Nicht die „Rückkehr zu überholten, vielfach verstaubten, verkalkten Familienformen des 19. Jahrhunderts" sei das Ziel, vielmehr eine Erneuerung der „ewigen Familie" (Rüstow, 1957, S. 222). 51 In mancher Hinsicht waren Rüstows Vorschläge zur Wiederverwurzelung der „proletarisierten" Arbeiter in Eigentum und Boden an den „Distributismus" eines Hilaire Belloc angelehnt, dessen Schrift „An Essay on the Restauration of Property" er nach dem Krieg „mit Nachdruck" empfahl (Rüstow, 1949, S. 161). 52 Als Pionier der Betriebssoziologie mit dem Ziel einer „Befriedung der Betriebe" wie als kritischer Beobachter der Gewerkschaften hatte sich insbesondere der katholische Sozialwissenschaftler Goetz Briefs hervorgetan, der vor den Nationalsozialisten 1 9 3 4 in die Vereinigten Staaten floh und zum weiteren Kreis der Ordoliberalen zählte (vgl. Klein-Zirbes, 2004). Ende der fünfziger Jahre stieß Briefs zur MPS, verließ diese aber nach einigen Jahren wieder. 50

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 229 durch staatliche Fördermaßnahmen und eine moderate Umverteilung anzustreben sei. Die Mehrheit der MPS-Mitglieder gestand wohl zu, daß das Gefühl der wirtschaftlichen Teilhabe die Zustimmung zur Marktwirtschaft fördern könne. Weitergehende staatliche Interventionen, wie sie Rüstow propagierte, etwa in der Wohnungsmarkt- oder Siedlungsstruktur, sahen sie jedoch skeptisch. Übersetzt in konkrete politische Maßnahmen konnte unter dem Rubrum der „Vitalpolitik" ein schwer begrenzbarer Katalog staatlicher Interventionen und Regulierung gerechtfertigt werden. Mises unterstellte dem deutschen Ordoliberalismus in einem Aufsatz, sich „nur in Einzelzügen von der Sozialpolitik der Schmoller- und WagnerSchule" zu unterscheiden (Mises, 1957, S. 603). Zwar erschien solche Polemik weit überzogen, doch die Mehrheit in der MPS blieb auf Distanz zu den Vorstellungen der soziologisch argumentierenden Neo- bzw. Ordoliberalen. Wie Müller-Armack rückblickend schrieb, war in der Gesellschaft stets ein „Vorherrschen des angelsächsischen Temperaments" bemerkbar: „Versuche, vor allem die Sozial-, Vital- und Gesellschaftspolitik, wie sie Röpke, Rüstow und ich anstrebten, ins Spiel zu bringen, fanden wenig Widerhall, wenn nicht gar offenen Widerspruch" (Müller-Armack, 1971, S. 45).

4.2. Hayek: Was ist und was heißt „sozial"? Auch Hayek gehörte zu den Skeptikern. Ihn ergriff ein wachsendes Unbehagen am Begriff „sozial", der ihm immer mehr zur generellen Rechtfertigung kollektivistischer Maßnahmen zu verkommen schien. Mitte der fünfziger Jahre ging Hayek so weit, sich offen als Gegner des Wortes zu bekennen. E r sah seinen häufigen und unkritischen Gebrauch als Gefahr für den Fortbestand einer freien Gesellschaft. Seine Sorge wurde durch die Entwicklung in Deutschland bestärkt. Zu seinem Mißfallen firmierte die Marktwirtschaft dort als „soziale Marktwirtschaft", und das Grundgesetz nannte als Basis nicht den Rechtsstaat, sondern einen „sozialen Rechtsstaat". Hier schien ihm größte Vorsicht angebracht, daß nicht der vage Zusatz „sozial" den präzisen inhaltlichen Gehalt von Marktwirtschaft und Rechtsstaat aushöhlen und sogar ins Gegenteil verkehren würde. Anläßlich eines von Hunold arrangierten Vortrags in Zürich untersuchte er daher die Frage: „Was ist und was heißt .sozial'?" (vgl. Hayek, 1957). Seine Ausführungen erschienen als maximale Provokation des Zeitgeistes, denn Hayek erklärte, das Schlagwort „sozial" sei letztlich inhaltsleer. Es gelte, den „goldenen Nebel", der die Vokabel umgebe, zu zerstreuen (ebd., S. 72). Die Hinzufügung von „sozial" beraube jeden Begriff seiner klaren Bedeutung, mache ihn zu einem „unbeschränkt dehnbaren Kautschukwort" und diene oftmals bloß „als Camouflage von Wünschen . . . , die mit gemeinsamen Interessen gewiß nichts zu tun haben" (ebd., S. 73). 53 Wie Hayek beobachtete, war das Adjektiv „sozial" in politischen Diskussionen zunehmend an die Stelle von Begriffen wie „moralisch" oder einfach „gut" getreten. Dem semantischen Wandel entspreche dabei auch eine Änderung des Sinns: Die ursprüngliche und wahre

53 Später prägte Hayek die Bezeichnung „Wieselwort": Wie das kleine Nagetier, das seine Zähne in Eier schlage und diese austrinke, wobei die äußere Schale unverletzt scheine, sauge auch das Beiwort „sozial" den Inhalt anderer Begriffe heraus, bis nichts als eine Worthülle übrigbliebe (vgl. Hayek, 1983b, S. 28-29).

230 • Wandlungen des Neoliberalismus Bedeutung von sozial sei gerade die Ordnung menschlicher Beziehungen, die scharf von der bewußten Organisation des Staates zu trennen sei. Das „Soziale" umfasse nur das, was „spontan gewachsen" war. Soziale Kräfte und soziale Gebilde manifestierten sich demnach in evolutionären Leistungen wie den verschiedenen Sprachen und Sitten oder dem in angelsächsischen Ländern vorherrschenden, gewachsenen Recht des „common law". Das wahrhaft Soziale sei nicht Ergebnis rationaler Planung aus zentraler Warte, sondern dezentral entstanden, als Resultat langer Entwicklungs- und Auswahlprozesse. 54 Dagegen laufe die Forderung nach „sozialer" Politik auf bewußte Planung der Gesellschaft hinaus, warnte Hayek. 55 Das soziale Ordnungsgeflecht gegenseitiger wirtschaftlicher Beziehungen, das sich im Markt manifestiere, werde also durch als „sozial" deklarierte Eingriffe staatlicher Politik zerstört, so Hayek. Einem falschen Rationalismus folgend werde alles abgelehnt, was der Planer nicht als „rational" und seinen egalitären Zielen dienlich empfinde. In erster Linie gerieten damit der Markt und die Moral der allgemeinen Regeln ins Schußfeld, aber auch das Gefühl individueller Verantwortung werde verwischt. Diese Politik wertete Hayek als höchst asozialen Angriff auf das gewachsene Rechtsempfinden und die traditionelle Moral, die Ausdrucksformen des wahrhaft Sozialen. Zudem gefährde der Wunsch nach „sozialer" Korrektur der einzelnen Ergebnisse marktwirtschaftlichen Tausches den Rechtsstaat. Gemäß dessen klassischem Ideal sollte jeder Fall nach abstrakten, allgemeinen Regeln beurteilt werden, wogegen der „soziale" Rechtsstaat je nach „sozialer" Lage der Betroffenen handele. Hayeks abschließendes Fazit klang düster: „Die Ideale der Freiheit, der Unabhängigkeit, der Selbstverantwortung und des Respekts vor der Persönlichkeit sind unter der Herrschaft des .Sozialen' zurückgedrängt worden" (ebd., S. 84).

4.3. Freiheitliche „Soziale Sicherung" Gleichwohl bedeutete diese vernichtende Analyse nicht, daß Hayek nunmehr jegliche Ansätze staatlicher materieller Absicherung gegen „soziale" Risiken ablehnen sollte. Vielmehr suchte er nach einer vertretbaren Alternative, einem liberalen Sozialstaatsmodell. Diese Frage nahm, neben der Kritik des herkömmlichen kollektivistischen Wohlfahrtsstaats, in seinem Buch „The Constitution of Liberty" breiten Raum ein. Die liberale Utopie, die er damit vorlegte, zielte auf eine freiheitliche Gesellschaftsordnung, die willkürlichen Zwang weitestgehend vermeide, indem sie auf allgemeine und gleiche Spielregeln baue. Innerhalb dieser könne jeder seine speziellen Fähigkeiten und Talente entfalten. Im rechtsstaatlich begrenzten, fairen Wettbewerb mit anderen werde er zum Wohle aller produktiv tätig. Ob die Ordnung nun „gerecht" sei, befand Hayek, lasse sich nicht daran messen, ob die einzelnen Teil-

54 Hier zeigte sich eine deutliche Verschiebung in seinem Denken: Standen in den dreißiger Jahren informationstheoretische Argumente im Vordergrund, griff Hayek nun vermehrt auf evolutionstheoretische Kategorien des Wachstums und der Auslese zurück. Diese deuteten auf ein stärker evolutorisches Verständnis gesellschaftlicher Prozesse und rückten ihn noch weiter vom rationalistischen und positivistisch-konstruktivistischen Denken weg, das charakteristisch für die sozialtechnokratischen Propagandisten des Wohlfahrtsstaats sei. 55 In den siebziger Jahren verschärfte Hayek seine Argumentation weiter und erklärte das Streben nach einer umverteilenden „sozialen Gerechtigkeit" zu einem Atavismus. Es sei ein wohl erklärbares, doch primitives Relikt der mentalen Prägung der Menschen durch ihr früheres steinzeitliches Leben in kleinen Horden, wo Verteilung von Beute das Überleben der Gruppe sicherte (vgl. Hayek, 1976/1996).

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 231

nehmer letztlich gleiche Ergebnisse erzielten, sondern nur, ob sie nach gleichen Regeln spielten. 56 Die Frage, ob eine bestimmte Einkommensverteilung gerecht sei, entbehre des Sinns, meinte er. Gleichheit der juristischen Bedingungen führe unweigerlich auch zu Ungleichheit der Ergebnisse, zu einer ungleichen materiellen Verteilung (vgl. Hayek, 1960/1991, S. 121). Während Hayek also eine generelle Absage an egalisierende Gerechtigkeitsvorstellungen formulierte, war er im Kapitel „Soziale Sicherheit" dennoch zu Kompromissen mit dem Zeitgeist gezwungen. Dort konstatierte er, wie sehr nach allgemeiner Ansicht der Staat inzwischen „die anerkannte Pflicht" habe, „für die dringendsten Bedürfnisse im Alter, bei Arbeitslosigkeit, im Krankheitsfall usw. zu sorgen, unabhängig davon, ob die Einzelnen selbst hätten Vorsorge treffen können oder sollen" (ebd., S. 362). An dieser dauerhaften Prägung der öffentlichen Meinung, einer Spätfolge der sozialistischen Epoche, war anscheinend nicht mehr zu rütteln, glaubte er. Daher sei nun, so Hayek, ein Versicherungszwang für jeden einzelnen unumgänglich, um die Gefahr einer Haftung der Allgemeinheit für die mangelnde Vorsorge des einzelnen zu vermeiden. Er ging soweit zu sagen, daß „die Berechtigung des ganzen Sozialversicherungsapparats wahrscheinlich auch von den konsequentesten Verteidigern der Freiheit" anerkannt werden könne, da der allgemeine Versicherungszwang „nur einen Zwang zur Verhütung stärkeren Zwangs auf den einzelnen im Interesse anderer" darstelle (ebd.). 57 Offenbar hielt Hayek es also für ratsam, in seinem System der Zwangsvermeidung eine Ausnahme zu gestatten: Der Staat sollte Individuen zwingen dürfen, sich zu ihrem eigenen Schutz versichern zu müssen, da ansonsten eine Inanspruchnahme der Allgemeinheit zur Versorgung unversicherter nodeidender Personen drohe. Dieses soziale Netz dürfe aber nicht auf einem staatlichen Monopol bauen, forderte Hayek. Zwangsmitgliedschaften bei einer einheitlichen, vom Staat beherrschten Einrichtung lehnte er ab. Statt dessen warb er für Wettbewerb unter privaten Versicherungsinstitutionen, die in einem schrittweisen Prozeß allmählich geeignete Formen der sozialen Sicherung entwickeln würden. Die Aufgabe dieser Versicherungen werde sich auf einen echten Risikoausgleich beschränken, besonders auf dem Gebiet der Alters- und der Krankenversorgung, nicht jedoch eine egalisierende Einkommensumverteilung umschließen, die das staatliche System der Sozial-,,Versicherung" zunehmend kennzeichne. Äußerst negativ beurteilte Hayek die Entwicklung der staatlichen Altersfürsorge in westlichen Ländern. Erst zerstöre der Staat durch inflationistische Politik die Möglichkeiten einer eigenverantwortlichen Kapitalbildung für das Pensionsalter. Dann degradiere er die Bezieher umlagefinanzierter Renten zu Geschenkempfängern, deren Ansprüche unsicher seien. 58 Kaum ein gutes Wort hatte Hayek auch zur bestehenden Arbeitslosenversicherung zu sagen. Sie diene heute vornehmlich dazu, die Lohnforderungen der Gewerkschaften zu unterstützen, die mit einem hohen Beschäfti-

56 Sein Entwurf einer freiheitlichen Verfassung nahm damit die klassische Unterscheidung zwischen „distributiver" und „kommutativer" Gerechtigkeit auf, wie sie Aristoteles oder auch Thomas von Aquin formuliert hatten, und legte ein eindrucksvolles Plädoyer zugunsten letzterer v o r (vgl. Hayek, 1 9 6 0 / 1 9 9 1 , S. 114). 57 Jacob Viner schrieb in einer Rezension über „The Constitution of Liberty", Hayeks „positive Vorschläge für staatliche Aktivität im Bereich der ,Wohlfahrt* ... [sind] ein so substantielles Programm, daß sie jeglichen Anspruch, den Hayek auf das Label Laissez-faire haben mag, zerstören" (Viner, 1961, S. 236). 58 Wenn einmal die arbeitenden Jungen den Ruheständlern aufgrund steigender Lasten die weitere Unterstützung versagten, sei nicht einmal ausgeschlossen, daß „Konzentrationslager für die Alten ... wahrscheinlich das Schicksal der alten Generation sein" würden, warnte er (Hayek, 1 9 6 0 / 1 9 9 1 , S. 377).

232 • Wandlungen des Neoliberalismus gungsgrad nicht zu vereinbaren seien. Das „Zwangssystem sogenannter Arbeitslosenversicherung" würde damit „wahrscheinlich auf die Dauer das Übel verschlimmern", zu dessen Abhilfe es angeblich geschaffen worden sei (ebd., S. 382). Für die Zukunft sah Hayek schwarz: Lange Zeit habe die Bekämpfung der „sozialen Übel" im Vordergrund gestanden. Doch die fortschreitende Verstaatlichung der Wohlfahrtsaufsicht bringe neue, potentiell schwerwiegendere Gefahren mit sich, namentlich „Inflation, wirtschaftslähmende Besteuerung, Zwang ausübende Gewerkschaften, eine ständig wachsende Herrschaft der Regierung über das Schulwesen und eine Sozialversicherungsbürokratie mit weitreichenden Ermessensvollmachten" (ebd., S. 386).

4.4. Die Umverteilung am Siedepunkt Wie vertrugen sich derart düstere Einschätzungen mit den oft gehörten Lobeshymnen etwa auf den schwedischen Wohlfahrtsstaat? Die Linke pries das skandinavische Modell als Beispiel eines freien, sozialstaatlich verwalteten Landes. Bei der Berliner MPS-Tagung 1956 untersuchte Rüstow das vermeintliche Vorbild. Er sah Indizien, daß die Schweden keinesfalls das glücklichste Volk auf Erden seien. Statt dessen gebe es allgemeine Unzufriedenheit, wenn das Leben ohne Herausforderungen sei. Es verliere damit „seine Würze und seinen Geschmack", wenn man „zu sehr bevormundet und ,von oben' beschützt" werde, wenn jedes Risiko „von der Wiege bis zur Bahre" durch staatlich durchgesetzte soziale Sicherheit abgeschirmt werde (Rüstow, 1956, S. 2). Das Optimum an Sozialpolitik sei in Schweden bei weitem überschritten worden, nun führe die Überdehnung der kollektiven Sicherung zu immer mehr Zentralisierung und zu einem Verlust an Freiheit. Damit sei die rechte Balance zwischen den Extremen des reinen Individualismus und des Kollektivismus verloren gegangen, meinte Rüstow. Je mehr der Wohlfahrtsstaat Risiken versichere und damit Eigenverantwortung, individuelle Initiative und Leistungsanreize schwäche, fördere er eine Versorgungsmentalität. Schließlich müsse er aber verhindern, daß die Bürger sich voll ins soziale Netz fallen ließen. Dazu werde der Staat letztlich auf Überwachung, Drohung und Arbeitszwang setzen, um eine Überbeanspruchung der Wohlfahrtseinrichtungen zu verhindern. Rüstows Vortrag gipfelte in einer für die neoliberale Argumentation typischen rhetorischen Figur: „Würde dies nicht,... wenn konsequent verfolgt, zu einem Zwangsstaat, zur totalitären Diktatur führen? Würde es sich nicht als ein Weg in die Knechtschaft erweisen, gegen den Willen derer, die ihn beschreiten, der über einen langen und eleganten Umweg schließlich in Moskau endet?" (ebd., S. 6, Hervorheb. im Orig). 59 Auch Röpke war angesichts des weiter voranschreitenden Ausbaus wohlfahrtsstaatlicher Strukturen alarmiert. Mitte der fünfziger Jahre sah er die reale Gefahr eines Umschlagens der deutschen „Sozialen Marktwirtschaft" in einen Versorgungsstaat, der die ökonomischen, sozialen wie auch ethischen Grundlagen der Marktwirtschaft untergrabe. „Oder ist es etwa ein Fortschritt, den Kreis der als wirtschaftlich unmündig zu behandelnden und daher vom Daß der schwedische „Mittelweg" immer stärker in die sozialistische Richtung führe, waren allgemeine Sorge der frühen Neoliberalen (vgl. Harper, 1959). Eine lesenswerte Abrechung der latent-totalitären Merkmale des schwedischen Wohlfahrtsstaatssystems hat später Roland Huntford (1972) vorgelegt.

59

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 233

Staat zu ihrem Glück zu Zwingenden immer weiter zu ziehen?" (Röpke, 1955). Als einen Hoffnungsschimmer registrierte er, daß das Versprechen einer grenzenlosen Ausweitung kollektivistischer Absicherung zunehmend auf Widerspruch stoße. Selbst frühere Befürworter wie Lord Beveridge schienen ein Stück weit ernüchtert. Doch Röpke überschätzte das angebliche „Kreuzfeuer der Kritik". Mochte es zwar hier und dort akademische und politische Einzelstimmen geben, die Einwände formulierten, ein Massenprotest war nicht einmal in Ansätzen zu sehen. Tatsächlich wurde jeder weitere Schub zur Verbreiterung des kollektiven Wohlfahrtsstaats, jede neue kollektive Versicherungsinstitution von den Wählern dankbar begrüßt. Nur eine kleine Minderheit sah darin wie Röpke in erster Linie „Zwang und Bevormundung" (ebd.). Trotz steigenden Wohlstands immer breiterer Schichten erschallte also der Ruf nach dauerhafter staatlicher Versorgung, wie Röpke sorgenvoll zur Kenntnis nahm. Dieser legitimierte die Machtansprüche einer wachsenden Sozialbürokratie, die im Prinzip des Wohlfahrtsstaats eine Technik zur sozialen Revolution gefunden habe, meinte Röpke. An deren Ende stehe die totale Egalisierung von Einkommen und Vermögen, jedoch auch der Verlust echten Gemeinsinns und bürgerlicher Kultur.60 In vieler Hinsicht nahm Röpke Aspekte einer kommunitaristischen Kritik am bürokratischen Wohlfahrtsstaat vorweg, wenn er klagte, die einst von überschaubaren familiären und nachbarschaftlichen Netzwerken getragene Solidarität werde auf anonyme und immer stärker zentralisierte Staatsapparate übertragen. Der Wohlfahrtsstaat mutiere zu einem gewaltigen „Pumpwerk", worin „ein erheblicher Teil des Einkommens fortgesetzt ... erfaßt wird und, unter erheblichen Leitungsverlusten, vom Staate umgeleitet wird" (Röpke, 1957). Allerdings sei bald nicht mehr klar, wer letztlich vom ewigen Umschaufeln profitiere: „Das System der Massenversorgung kann immer weniger von den höheren Einkommen allein getragen werden und muß daher denselben Massen aufgebürdet werden, auf die es berechnet ist." Zum Großteil werde also Geld von der linken in die rechte Tasche gesteckt, allerdings „auf dem Umwege des Staates und mit den gewaltigen Leitungsverlusten dieses Umweges" (ebd.). Nachdem die Rentenreform des Jahres 1957 in Deutschland einen qualitativen Sprung in Richtung Wohlfahrtsstaat brachte, wurde Röpkes Kritik noch schärfer: Er ahnte, daß der Wohlfahrtsstaat eine Einbahnstraße sein könnte. Es fehle in der Massendemokratie die Bremse, um den Wettlauf der Parteien zu mehr und mehr sozialen Versprechungen, erkauft durch mehr und mehr Umverteilung oder auch Inflation, zu stoppen. Allerdings gebe es einen kritischen Punkt, den „Siedepunkt", an dem „die Suppe überkocht". Dieser sei erreicht, wenn die Finanzlast des Wohlfahrtsstaats so drückend werde, „daß sie auch seinen Nutznießern, den Massen selber, deutlich spürbar wird und für jeden die Frage praktische Bedeutung gewinnt, ob er bei diesem Hin- und Herpumpen mit einem Plus oder einem

In diesem Punkt bedienten sich viele Neoliberale scharf antiegalitaristischer Argumente, wie sie etwa Jouvenels Bändchen „The Ethics of Redistribution" enthielt. Scharf progressive Besteuerung und Einkommensnivellierung, warnte dieser, vernichteten das alte kunstfördernde Mäzenatentum sowie jene Elite, deren verfeinerter und materiell unabhängiger Lebensstil eine Voraussetzung von höherer Kultur sei. Unklar sei zudem, ob die Enteignung der Reichen tatsächlich den ärmeren Schichten zugute komme oder eher den Bürokratieapparat stärke. Jouvenels Überzeugung lautete knapp: „Je mehr Umverteilung, desto mehr Macht für den Staat" (Jouvenel, 1952/1990, S. 43). Mit der Entwicklung des französischen Wohlfahrtsstaats setzte er sich detailliert beim Princetoner MPS-Treffen auseinander (vgl. Jouvenel, 1958b). 60

234 • Wandlungen des Neoliberalismus Minus herauskommt". Eine zweite Möglichkeit, die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats zu stoppen, sei „eine bösartige Kettenreaktion", wenn nämlich auf der einen Seite die Leistungsbereitschaft durch exzessive Besteuerung und fortwährende Umverteilung stark absinke und auf der anderen Seite die Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat und damit die Kosten explodierten. 61 Als dritte mögliche Variante sah Röpke die Gefahr einer „chronischen Inflation", wenn der Staat die Sozialleistungen nur noch durch Geldschöpfung finanzieren könne (Röpke, 1958/1962, S. 301-302).

4.5. Pragmatische Kritik der Effizienz des Wohlfahrtsstaats In ihrer Ablehnung des sich ausbreitenden wohlfahrtsstaatlichen Apparats waren sich die Wortführer der MPS einig, doch gelangten sie, wie gezeigt, zu diesem Urteil auf unterschiedliche Weise. Für Hayek stand im Vordergrund, daß die Ausrichtung des Staates auf bestimmte „soziale" Ziele das System allgemeiner, abstrakter Regeln, die „rule of law", beschädige, die er als Voraussetzung einer freiheitlichen Ordnung sah. Mit dem Rechtsstaat drohe auch die Fähigkeit zur evolutorischen und damit sozialen Höherentwicklung der modernen Gesellschaft verlorenzugehen, so sein Einwand gegen „sozial"-staatliche Interventionen. Dagegen betonte Röpke die moralischen und kulturellen Konsequenzen einer kollektivierten Fürsorge. Der Wohlfahrtsstaat brachte für ihn die Gefahr einer systematischen Schwächung des individuellen und familiären Verantwortungsgefühls, der subsidiären Hilfsstrukturen, was die Fundamente der bürgerlichen, freien Gesellschaft auszuhöhlen drohe. Neben diesen Einwänden philosophischer sowie moralischer Art gab es noch einen pragmatischen Argumentationsstrang, dem etwa Friedman in seinem Buch „Capitalism and Freedom" folgte: Er war einer generellen Unterstützung für die unteren Einkommensschichten nicht abgeneigt, bezweifelte aber die Effizienz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Eingriffe. Staatlich zugewiesene Sachleistungen, etwa Wohnrechte im Fall des öffentlichen Wohnungsbaus, lehnte er als paternalistisch ab und plädierte statt dessen für nicht zweckgebundene Geldleistungen. Auch in der Frage von Mindestlöhnen betonte Friedman, daß ein vermeintlich zum Wohl der Bezieher niedriger Einkommen geschaffenes Gesetz diesen tatsächlich schade. Die Einführung des Mindestlohnsatzes bedeute Arbeitslosigkeit für all jene, die zuvor weniger verdient hatten, also vor allem ungelernte Arbeiter. 62 Statt der Vielzahl von Sozialgesetzen und Sondermaßnahmen warb Friedman für eine einzige staatliche Hilfe in Form einer „negativen Einkommensteuer". Diese komme treffsicher den unteren Einkommensgruppen zugute, zudem verzerre sie den Markt und schwäche die Anreize weniger, als herkömmliche Subventionen und Zuschüsse dies täten. Also sei

Beides klang plausibel und deutete für Röpke auf eine baldige Reaktion der Wähler, eine Abkehr v o m Modell der kollektiven Versorgung, jedoch unterschätzte er die Fähigkeit des Wohlfahrtsstaates, die wahren Kosten der von ihm bereitgestellten „sozialen Sicherheit" zu verschleiern. 62 Der Mindestlohn nutze nur jenen Gruppen, die so von billiger Konkurrenz befreit würden, so Friedman, der namentlich die in Gewerkschaften organisierten Facharbeiter oder die Unternehmen im industrialisierten Norden der Vereinigten Staaten nannte, die sich der Wettbewerber aus dem Süden endedigen wollten. 61

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 235 sie effizienter und transparenter, bei gleichen Kosten könne den unteren Einkommensgruppen mehr Geld zukommen, rechnete er vor (vgl. Friedman, 1962/1971, S. 244-249). Alle drei Argumentationen fanden unter den MPS-Mitgliedern Anhänger. Moralisierende Einwände gegen den Wohlfahrtsstaat wurden bei späteren Treffen aber seltener gehört; Kritiker beriefen sich nun vermehrt auf die ökonomischen Fehlanreize, die geringe Effizienz und die hohen Kosten des Sozialstaates. Erst später kamen in der angelsächsischen Diskussion wieder Stimmen auf, die wie Röpke das staatliche Wohlfahrtssystem als Ursache einer Erosion der moralischen und kulturellen Fundamente westlicher Gesellschaften ansahen.

5. Zum Agrarprotektionismus Die ökonomische Bedeutung der Landwirtschaft und das politische Gewicht der dort arbeitenden Bevölkerung erklären die Aufmerksamkeit, die agrarpolitischen Themen innerhalb der MPS geschenkt wurde. Beim Gründungstreffen am Mont Pèlerin hatte Brandt die Landwirtschaft als „Testboden" liberaler Ideen bezeichnet. Die Bauern befänden sich in einer „Schlüsselposition", welche über Wohl und Wehe der Marktwirtschaft entscheide. Allerdings war gerade der Agrarsektor weitgehend vom Marktgeschehen abgekoppelt und hing stark von Subventionen, politischen Vorgaben und Lobbyismus ab. Der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung war zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts noch erheblich: In Deutschland war noch etwa ein Viertel aller Beschäftigten im primären Sektor, davon größtenteils in der Landwirtschaft, tätig, in den Vereinigten Staaten war es etwas weniger als ein Viertel. Lediglich in Großbritannien hatte es schon früher einen starken Strukturwandel gegeben; nur mehr ein Zehntel der Erwerbspersonen arbeiteten dort im Agrarbereich. Die meisten kontinentaleuropäischen Bauern hatten eher kleine Höfe mit geringer und stark parzellierter Anbaufläche, woraus hohe Kosten resultierten. Rationalisierungsgewinne durch moderne Produktionstechnik waren hier nur in bescheidenem Umfang zu erzielen.

5.1. Regulierung und Inflexibilität Wo es möglich war, entschieden sich die Landwirte und ihre Verbände gegen den Markt und flüchteten in staatliche Regulierung und Subventionen. Der bundesdeutsche Ernährungsminister Heinrich Lübke, als Gast zur MPS-Konferenz 1954 in Venedig geladen, versuchte den Neoliberalen zu erklären, warum dies so richtig sei: „Die Landwirtschaft wird in allen Ländern der westlichen Welt in einem hohen Ausmaß gelenkt und gefördert", betonte er (Lübke, 1954, S. 1). Beispielsweise in den Vereinigten Staaten, wo im Zuge des New Deal einschneidende Maßnahmen zur Steuerung der landwirtschaftlichen Produktion beschlossen worden waren. Lübke nannte diese Gesetzgebung „sehr eindrucksvoll", denn sie habe „weite

236 • Wandlungen des Neoliberalismus Gebiete der Erde vor Hunger bewahrt" (ebd., S. 5). 63 Auch in den Staaten Westeuropas konnte er auf eine Vielzahl protektionistischer und stützender Maßnahmen hinweisen. 64 Deutschland war hier keine Ausnahme. Schon seit dem Kaiserreich leistete es sich einen ausgeprägten Agrarprotektionismus, der in der Notsituation nach dem Zweiten Weltkrieg durch planwirtschaftliche Elemente verstärkt worden war. „Marktordnungsgesetze" verhinderten für Produkte wie Getreide, Zucker, Milch und Fett eine freie Preisbildung. Ziel all dieser Maßnahmen sei die „Schaffung einer gleichmäßigen Marktbeschickung" und ein „ausgeglichenes Preisniveau im Sinne des Verbrauchers", erklärte Lübke (ebd., S. 7). Es seien die besonderen ökonomischen Charakteristika des Agrarsektors, die solche staatlichen Eingriffe rechtfertigten, so der Minister. Namentlich nannte er das unelastische Angebot an landwirtschaftlichen Erzeugnissen, bedingt durch lange Produktionszyklen, sowie die preisunelastische Nachfrage nach Lebensmitteln. In Verbindung mit unwägbaren Wetterumständen würden diese geringen Elastizitäten zu übermäßigen Preisausschlägen führen, falls nicht ausgleichend eingegriffen werde. Eine freie Marktwirtschaft, so Lübke, könne „weder ganz allgemein die bestmögliche Versorgung der Verbraucher" gewährleisten, noch „die erforderliche Entwicklung und Erhaltung insbesondere der Landwirtschaft der europäischen Länder" ermöglichen (ebd., S. 4). Allerdings, gab er zu, bestehe bei behördlicher Preisbindung die Gefahr einer „Kettenreaktion staatlicher wirtschaftlicher Eingriffe, die tatsächlich in die wirtschaftliche Unfreiheit führen". Der Grundsatz der deutschen Landwirtschaftspolitik müsse daher sein, so der Minister, daß der Staat „als Geburtshelfer und Förderer der gesunden und lauteren privaten Initiative und Selbsthilfe tätig" werde, eine Dauerabhängigkeit von Subventionen aber vermeide (ebd., S. 9). Im Unterschied zu Deutschland, wo der Agrarprotektionismus eine lange Tradition hatte, galt Großbritannien bis in die zwanziger Jahre als Musterland an marktwirtschaftlicher Offenheit. Doch auch hier hatte man im Zuge der Depression eine agrarpolitische Wende eingeleitet. 65 Zwar bedeutete dies eine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit der Landwirte, aber die große Mehrheit nahm die staatliche Agrarplanung gerne hin, da im Gegenzug eine Einkommensstabilisierung winkte. Eine Ausnahme machte der britische Geflügelproduzent und Gründer des Institute of Economic Affairs, Antony Fisher, dessen stark expandierender Betrieb in den fünfziger Jahren unter der staatlichen Zuteilungs- und

63 Eine Erklärung zu dieser Behauptung blieb er schuldig. Tatsächlich war das erklärte Ziel des Agricultural Adjustment Act von 1933 eine Reduzierung der landwirtschaftlichen Anbaufläche und damit Verknappung des Angebots, um die Preise für Agrargüter zu stützen. Wie eine Verknappung von Nahrungsmitteln die Welt vor Hunger bewahrt haben könnte, blieb rätselhaft. 64 Großbritannien, das einst mit der Rücknahme der Getreidezölle die Ära des Freihandels eingeleitet hatte, schützte nun seine Landwirtschaft durch Einfuhrkontrollen und gewährte den Bauern hohe Subventionen. In Frankreich war es nicht anders. Dort mußte per Gesetz die gesamte Weizenernte zu festgelegten Preisen an eine staatliche Stelle abgeliefert werden, welche eine öffentliche Vorratshaltung betrieb. Ähnliche Preis- und Abnahmegarantien für landwirtschaftliche Produkte gab es in den Benelux-Staaten, in Skandinavien und den Mittelmeerstaaten. 65 Im Jahr 1930 waren Importzölle auch für landwirtschaftliche Güter beschlossen worden, 1931 richtete die Regierung MacDonald mit dem Agricultural Marketing Act eine Reihe von Absatzkommissionen ein, die den Verkauf etwa von Milch oder Kartoffeln zu festgesetzten Preisen monopolisierten. Ende der dreißiger Jahre wurde die Lenkung der Agrarproduktion intensiviert und den Bedürfnissen der Kriegswirtschaft angepaßt. Der Agricultural Act von 1947 verlängerte diesen Interventionismus.

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 237 Absatzpolitik litt.66 Er empfand die staatliche Regulierung nicht als Sicherheit, sondern als Hemmschuh, wie er bei mehreren Treffen der MPS klagte (vgl. Fisher, 1954; 1958; 1959). Besonders beunruhigte ihn, daß die Regierung Attlee die Drohung einer Sozialisierung einzelner Landwirte ausgesprochen hatte, die nach ihrer Meinung „ineffizient" arbeiteten. Zu seinem Entsetzen befürwortete der Bauernbund diese - wenn auch selten angewandte Praxis. „Die Farmers' Union gibt uns ein Beispiel für Leute, die bereit sind, ihre Freiheit aufzugeben und für das ,Versprechen von Sicherheit' einzutauschen" (Fisher, 1958, S. 3). Während Fisher von den Folgen interventionistischer und planwirtschaftlicher Maßnahmen in der Praxis berichtete, analysierte Brandt auf der MPS-Tagung 1959 in Oxford die wissenschaftliche Debatte zur Agrarpolitik. Nach dem am häufigsten gehörten Argument war es den Bauern nicht möglich, ihre Produktion den Preisen anzupassen, da sie einen hohen Anteil von Fixkosten hätten, unkontrollierbaren Einflüssen des Wetters und anderer Wachstumsfaktoren ausgeliefert seien und zudem Änderungen der Anbaufläche nur mit langen Verzögerungen machbar seien. Aus all dem resultiere ein stark unelastisches Angebot. In Verbindung mit dem technologischen Fortschritt auch in der Landwirtschaft sei daher eine „ewige Uberproduktion" zu befürchten, so die oft gehörte Klage. Angesichts der geringen Preiselastizität auch der Nachfrage führe das Überangebot zu Preisverfall und Einkommenseinbußen. Brandt hielt diesen Thesen die historische Erfahrung entgegen, die durchaus die Anpassungsfähigkeit der Landwirte an sich wandelnde Preis- und Nachfragekonditionen zeigte. Tatsächlich, so stellte er fest, sei es die Politik der staatlich gestützten Preise und Absatzgarantien, die zur Überproduktion führe. Die oft behauptete Anomalie der Reaktion bäuerlicher Betriebe, die auf fallende Preise angeblich mit erhöhter Produktion antworteten, um ihr Einkommen zu steigern, nannte er „völlig idiotisch"; die empirischen Daten widersprächen dem klar (vgl. Brandt, 1959, S. 8). Auch die gängigen Klagen über „Landflucht" ließ er nicht gelten. Der Strukturwandel in Form einer kontinuierlichen Abwanderung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft sei eine natürliche Folge ihrer gesteigerten Produktivität und Fähigkeit, eine wachsende Bevölkerung zu ernähren. Etwas Unnatürliches oder Schädliches konnte Brandt hier nicht erkennen, schließlich sei der Transfer ausschließlich durch die größere Attraktivität der Beschäftigung in solchen Wirtschaftsbereichen motiviert, die noch Arbeitskräftemangel hätten und daher höhere Löhne böten. Dagegen verhindere die staatliche Stützung der bäuerlichen Einkünfte eine Korrektur der Fehlallokation von Arbeitskräften. Vernichtend fiel Brandts Urteil über die besonders in Amerika geförderte Kartellierung der Landwirtschaft aus. Diese blockiere Marktzutritte, schreibe die Landnutzungsstruktur willkürlich fest und verkruste den ökonomischen Prozeß „mit dem unvermeidlichen Resultat, Kostenreduktion zu vereiteln, Kapitalbildung zu erschweren und die effektivste Allokation von produktiven Ressourcen zu verhindern" (ebd., S. 9). Politisch - auch diese Warnung durfte nicht fehlen - bestünde die Gefahr, in eine Art Polizeistaat abzurutschen, wenn die Regierung eine umfassende Kontrolle über den Einsatz der Produktionsfaktoren ausübe. Ökonomisch sei die unvermeidliche Konsequenz des Agrarinterventionismus ein wegen der enormen Kosten des Subventionswesens geringeres Wachstum (ebd., S. 8-9).

66 Wegen der staatlichen Zuteilung und Rationierung von Futtermitteln war es ihm bis 1953 nur eingeschränkt möglich, seine industrielle Geflügelfabrikation im gewünschten Umfang zu betreiben.

238 • Wandlungen des Neoliberalismus

5.2. Hilfen für den Strukturwandel Aus neoliberaler Perspektive war der Strukturwandel unvermeidlich und gesamtökonomisch gewinnbringend. Doch auch Brandt sah, daß eine große Zahl bäuerlicher Familien, deren Höfe im Wettbewerb nicht bestehen konnten, in soziale Schwierigkeiten geraten würden. Hier müsse eine humane Gesellschaft einspringen, jedoch in solcher Weise, daß die Empfänger von Hilfen so rasch wie möglich in ökonomisch sinnvolle und produktive Bereiche transferiert würden, forderte Brandt (ebd., S. 10). Dieser Vorschlag entsprach der Grundidee des von Rüstow formulierten Konzepts der „liberalen Intervention", die den Strukturwandel nicht aufzuhalten, sondern seinen Ablauf zu glätten und für die Betroffenen zu erleichtern versuchte. Konkrete Vorschläge dazu präsentierte der Agrarexperte Eric Nash. Die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten müsse verringert, die Größe der einzelnen Betriebe erhöht werden. Für den Ubergang zu einer effizienten Agrarwirtschaft empfahl Nash, über dem Marktniveau liegende Mindestpreise abzuschaffen und dem Bauern als Entschädigung eine staatliche Aufbesserung des Einkommens zu geben, „die ihn nicht dazu verführt, unnötig viel zu produzieren, die ihn nicht dazu verführt, ein Bauer zu bleiben, und die künftig keinen Neuen in die Landwirtschaft zieht, der nicht bereit ist, sie zu den Bedingungen des freien Marktes auszuüben" (Nash, 1959, S. 6). Sein Vorschlag zielte also auf eine Art persönliche Rente für die Bauern, die deren Verluste nach Abschaffung der gestützten Absatzpreise kompensieren sollte, aber nicht länger unerwünschte Anreizeffekte mit sich brächte. 67 Auf diese Weise, so Nash, werde das System aus Subventionen und gestützten Preisen beendet, ohne daß die Bauern Einbußen zu erleiden hätten. 68 Der Übergang zu einem freien Markt für die Landwirtschaft wirke zum Wohle von Verbrauchern und Steuerzahlern (vgl. ebd.). Nicht alle Mitglieder der MPS sahen die Landwirtschaft aber als einen Wirtschaftszweig wie jeden anderen, dessen Effizienz es durch mehr Marktorientierung zu steigern gelte. Landwirtschaftsminister Lübke mochte ihnen zwar als „kollektivistisches Fabelwesen" vorkommen, wie Hennecke (2001, S. 259) schreibt. Doch Hunold hatte diesen bewußt „als Gegengewicht" zu Brandt eingeladen, den er als „Draufgänger" bezeichnete, „mit dessen Thesen ich gar nicht immer einig gehe. Gott bewahre uns vor dem Agrar-Kollektivismus und dem Auslöschen der letzten Reste des Bauerntums. Viele von Brandts Ideen und sein Traktorenkomplex laufen ja darauf hinaus" (Hunold an Hayek, 13.1.1954, in: IWP, NL Hunold). Sicher war auch Hunold gegen eine dauerhafte staatliche Subventionierung oder Preisfestsetzung im Bereich der Landwirtschaft, wie sie die Agrarlobby wünschte. Doch sah er wie Röpke und Rüstow die traditionelle Bauernschaft und den ländlichen Raum als gesellschaftsstabilisierend und daher erhaltenswert an. Allerdings sollte dies nicht mit den üblichen Methoden staatlicher Stützung und Lenkung gelingen, sondern durch Hilfe zur Selbsthilfe.

Im Kern bedeutete dieser Vorschlag einen Wechsel von der Objekt- zu einer Subjektförderung. Die Zahlungen sollten persönlich gebunden sein und auslaufen, wenn der ursprüngliche Empfanger nicht länger in der Landwirtschaft tätig war; Erben oder Neubauern hätten kein Anrecht auf Fortsetzung der Renten, so Nashs Plan. Allerdings blieb zu fragen, ob nicht eine solche Terminierung der staatlichen Hilfen den Wert der landwirtschaftlichen Betriebe und des Bodens erheblich mindern würde, wenn die Subventionsrente auf eine Generation verkürzt würde. Auch gegen diese Reform des Subventionswesens wären daher Widerstände zu erwarten. 67

68

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 239

In gewisser Weise stellte für Röpke eine eigenständige und dezentrale Landwirtschaft einen Wert an sich dar, der über ihre reine Funktion als Lieferant von Nahrungsmitteln und Rohstoffen hinausging. In „Civitas humana" hatte er „dem bäuerlichen Kern der Volkswirtschaft" ein eigenes Kapitel gewidmet und leidenschaftlich vor „Agrarplanwirtschaft, Agrarmonopolismus oder Agrarkollektivismus" gewarnt (Röpke, 1944, S. 313). Er bedauerte ein mögliches Verschwinden „von echtem, knorrigem, es mit dem Leben auf eigene Faust aufnehmendem Bauerntum" (ebd., S. 315). Mit der Ankunft billiger Agrarprodukte aus Ubersee gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, nachdem ein deutlicher Preisverfall einsetzte, hätten sich die Bauern vom Grundsatz des wirtschaftlichen Liberalismus abgewandt. Es sei nun zu prüfen, ob die Schwierigkeiten der Bauern durch „konforme Anpassungsinterventionen" zu lindern seien. Eine Rückkehr zum Laissez-faire sei ausgeschlossen, meinte Röpke, auch in der Landwirtschaft sei ein „Dritter Weg" zu suchen (ebd., S. 321). Die „konstruktive Agrarpolitik", die ihm vorschwebte, sollte einer Monopolbildung den Kampf ansagen. Durch „Forschung, Aufklärung und Unterweisung [sollte] der bäuerlichen Landwirtschaft eine gesunde, ihrer Natur entsprechende und ihrer Standortlage Rechnung tragende Struktur" gegeben werden. Alle der Marktwirtschaft „konformen Mittel" der Selbsthilfe, insbesondere genossenschaftliche Zusammenschlüsse, aber ebenso Staatshilfen seien für die Bauern zu mobilisieren (ebd., S. 329). Noch weiter ging Rüstow in seinen Vorstellungen zu einer der menschlichen „Vitalsituation" angemessenen Landwirtschaft. Er forderte eine „grundsätzliche Umstellung der gesamten Agrarpolitik auf Förderung eines gesunden, marktfesten, hochproduktiven Kleinbauerntums, einschließlich des kleinbäuerlichen Obst-, Gemüse- und Gartenbaus" (Rüstow, 1949, S. 134-135). Woher nahm er die Gewißheit, daß Kleinbauern „hochproduktiv" arbeiten und am Markt bestehen könnten? Rüstows und auch Röpkes Überlegungen schienen hier teilweise von Wunschdenken geprägt. Manche dieser Empfehlungen mußten Brandt als romantisch erscheinen, jedoch wollte auch er nicht alle staatlichen Eingriffe verdammen. Ihm ging es weniger um die ländliche Sozialstruktur als um konsequente Produktivitätssteigerungen als Ausweg aus dem System der staatlichen Preiskontrollen und direkten Subventionen. Eine legitime Aufgabe der staatlichen Agrarpolitik sei die Unterstützung des bäuerlichen Bildungswesens und der Forschung sowie die praktische Beratung und Schulung der Bauern. Beispiele für eine auf Produktivitätssteigerungen ausgerichtete, marktwirtschaftliche Agrarpolitik, die von Subventionen weitgehend Abstand nahm, lieferten Dänemark und die Niederlande. 69 Christian Gandil berichtete 1954 vor der MPS von den Erfolgen in Dänemark, wo die Bauernverbände in Zusammenarbeit mit dem Staat systematisch die Modernisierung der Landwirtschaft betrieben. „Holland und Dänemark", schrieb die NZZ über die MPS-Diskussion, hätten den Beweis geliefert, „daß die Brandtsche Konzeption einer liberalen Agrarpolitik nicht nur die Utopie eines weltfremden Theoretikers ist" (Ottinger, 1954). 70

Die dortigen Bauern setzten einen Großteil ihrer Produktion auf dem Weltmarkt ab und waren daher gezwungen, zur Überwindung der Handelsschranken sehr kostengünstig zu arbeiten und laufend ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. 70 Die seltene Ausnahme eines außereuropäischen Politikers, der für eine marktwirtschaftliche Prinzipien in Agrarfragen eintrat, war der brasilianische Industrielle, Minister und Professor Eugenio Gudin, der in den fünfziger Jahren in der MPS aktiv war (vgl. Gudin, 1958). 69

240 • Wandlungen des Neoliberalismus

6. Zu Kolonialismus und Entwicklungshilfe Wiederholt wurden bei Treffen der MPS in den fünfziger Jahren auch die Probleme des Kolonialismus debattiert. Die hohe Brisanz des Themas war offensichtlich: Der Zweite Weltkrieg hatte auch die siegreichen europäischen Mächte entschieden geschwächt und auf sich selbst zurückgeworfen. Eine Loslösung ihrer kolonialen Gebiete war bloß noch eine Frauge der Zeit. Großbritannien entließ den größten Teile seiner überseeischen Besitzungen, Indien und Pakistan, schon 1947 in die Eigenständigkeit. Die Entkolonialisierung Afrikas gestaltete sich schwieriger. Erst Anfang der sechziger Jahre konnten die meisten schwarzafrikanischen Länder ihre Unabhängigkeit von Frankreich, Großbritannien und Belgien erlangen. Die Gefahr war nun, daß diese neuen Staaten sich der Sowjetunion zuwandten. Auch deshalb rückte die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Entwicklung der bislang peripheren Länder auf die politische Agenda des Westens.

6.1. Schutzherren oder „Uberlagerer" Unter linksgerichteten Intellektuellen in Europa und den Vereinigten Staaten genossen die antikolonialen Bewegungen starke Sympathien, wobei sich die genuine Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts mit Ressentiments gegen die kapitalistische, „ausbeuterische" Kultur der Kolonialmächte verband. Solche Gefühle waren den Rednern der MPS-Tagungen fremd. Allerdings bestand nach Brandt „selbst innerhalb unserer kleinen Gesellschaft eine unversöhnliche Kluft, sobald das Thema der kolonialen Angelegenheiten angeschnitten wird" (Brandt, 1957, S. 1). Er selbst trat als Wortführer derjenigen auf, die sich vom „heuchlerischen Angriff auf den Kolonialismus" wenig beeindruckt zeigten (ebd., S. 2). Dieser diene nur den Interessen der Sowjetmacht, die sich antiwestlicher Affekte der Bewohner der Kolonien bediene, um selbst einen Fuß in die Tür zu bekommen. Wichtig sei eine schrittweise Lockerung der westlichen kolonialen Herrschaft, welche den verbleibenden Kolonien langsam und vorsichtig den Weg in die Selbständigkeit bahne, ohne sie in Anarchie stürzen zu lassen oder sowjetisch gesteuerten Befreiungsbewegungen auszuliefern (vgl. ebd., S. 3 u. 9). In Abwägung der Alternativen kam auch Arthur Shenfield zu dem Ergebnis, daß in manchen Fällen die Entkolonialisierung aus liberaler Perspektive einen Rückschritt bedeute: Er müsse „Liberalen kaum sagen, daß es schwierig ist für sie, Fremdbestimmung zum eigenen Besten [der Beherrschten] zu befürworten" (Shenfield, 1957, S. 5). Die Kolonien des britischen Empires hätten sich allerdings durch eine effiziente und nicht-korrupte Verwaltung sowie den Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen ausgezeichnet. Bei einem plötzlichen Rückzug der Kolonialverwalter sei damit zu rechnen, daß die Standards der Regierungstätigkeit sinken würden, meinte Shenfield. Der „einfache Mann" würde in den dann selbstbestimmten Staaten nicht eine liberalere, sondern eine weniger liberale Welt vorfinden (ebd., S. 2). Abgesehen vom Problem mangelhaft ausgebildeter und korrupter lokaler Führungsschichten bestehe die Gefahr, so Shenfield, daß die Kolonien, sobald unabhängig, einem wirtschaftlichem Nationalismus und Dirigismus verfielen. Die sozialistischen Regierungschefs Nasser und Nehru waren hier abschreckende Beispiele (vgl. ebd., S. 4).

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 241 Heftig gestritten wurde in den fünfziger Jahren auch darüber, welche geschichtliche Bilanz die Kolonialregime in Afrika und Asien vorzuweisen hätten. Zum Zwecke der Delegitimierung suchten Kritiker deren Leistungen möglichst negativ darzustellen. Diese Sicht fand auf der Linken viele Anhänger. Sie stellten die Geschichte des Kolonialismus als eine einzige Kette materieller Ausbeutung und Unterdrückung dar. 71 Gegen diese Lesart wandten sich verschiedene Redner beim MPS-Treffen in St. Moritz. „Die zivilisatorische Rolle der Kolonisation zu verneinen hieße, das Offensichtliche zu verneinen", erklärte Edmond Giscard d'Estaing, der Präsident der internationalen Handelskammer in Paris (Giscard d'Estaing, 1957, S. 1). Auch Brandt nahm die Kolonialmächte in Schutz. Den Franzosen, mittlerweile Hauptzielscheibe der internationalen Kritik, attestierte er, sie hätten „die Topkaliber ihrer fähigsten Verwalter, Wissenschaftler und Ingenieure" in ihre afrikanischen Gebiete geschickt und leisteten „in Hunderten von kleineren Regionen wunderbare Aufbauarbeit, von der weder die europäische, noch die amerikanische Öffentlichkeit jemals etwas hört". Es gebe nichts, dessen sich der Westen zu schämen hätte, meinte er, „trotz vieler Irrtümer im Detail und der traurigen Unzulänglichkeit allen menschlichen Handelns" (Brandt, 1957, S. 6 u. 8). Nicht alle Neoliberalen folgten dieser rechtfertigenden Linie, die historisch - nicht nur aus marxistischer Perspektive — angreifbar war. 72 Als leidenschaftlichster Ankläger jeglicher Kolonialherrschaft trat Rüstow in der MPS auf. Gemäß seiner These von der „Überlagerung" als historischer Erbsünde aller Hochkulturen trat er für eine konsequente „Entmachtung" aller Herrschenden ein, die er als späte Nachfolger der einstigen „Überlagerer" oder als Nutznießer von deren Gewalt ansah. Dieses Schema führte Rüstow, auf die Frage der Kolonien angewandt, zu der dringenden Empfehlung eines totalen Rückzugs aller Kolonialmächte und Siedler sowie zu seiner Klage: „Allgemein scheint es uns gegenüber den Opfern unserer durch Jahrhunderte betriebenen Kolonialüberlagerung immer noch an Bewußtsein unserer Schuld und an Bußfertigkeit zu fehlen", wie er im dritten Band der „Ortsbestimmung der Gegenwart" ausführte (Rüstow, 1957b, S. 516). Gegen ein solches verordnetes Schuldbewußtsein sträubte sich aber die Mehrheit der Neoliberalen. In einem Rundschreiben zum Treffen in St. Moritz, wo Rüstow seine Thesen zum Kolonialismus vorgetragen hatte, bemerkte Hayek den scharfen Widerspruch, auf den Rüstows Worte stießen (vgl. „President's Circular", 19.9.1957, in: LA, MPS-Slg.). In einem polemisch gefärbten Bericht über die Tagung fragte Schoeck, wie es denn komme, „daß ge-

Im neunzehnten Jahrhundert hatte es in allen politischen Lagern eifrige Unterstützer des Kolonialismus gegeben, die eine fortschrittliche „Zivilisationsmission" der Weißen postulierten. Dazu gehörten neben Liberalen wie Palmerstone und Gladstone auch große Teile der politischen Linken, einschließlich Marx und einige frühe fabianische Sozialisten. Westliche Kolonisation wurde als Geburtshelfer der Moderne angesehen, die der übrigen Welt die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft, des Materialismus und der Gleichheit bringen würde (vgl. Semmel, 1993). Erst nach der Jahrhundertwende setzte mit Hobsons Imperialismus-Theorie, die koloniale Expansion als Ventil für die Uberproduktion der kapitalistischen Länder kritisierte, auf der Linken ein Umdenken ein. Nachdem Lenin den Imperialismus als „höchste Stufe des Kapitalismus" erkannt hatte, attackierten linke Intellektuelle die westliche Kolonialpolitik mit zunehmender Schärfe. 71

Zwar stimmte es, daß etwa der Kongo, wie Brandt voll Empörung berichtete, „noch vor kaum zwei Generationen ... ein Gebiet war mit der abscheulichsten Barbarei unter Wilden und einer unglaublichen Unsicherheit für Leib, Gesundheit und Freiheit, [verursacht] nicht vom weißen Mann, sondern durch die farbigen Rassen und Stämme gegeneinander" (Brandt, 1957, S. 6). Diese Darstellung blendete jedoch einiges aus, was schon zur Jahrhundertwende die westliche Öffentlichkeit verstört hatte, etwa die Massaker belgischer Kolonialtruppen unter König Leopold II., die alle „Barbarei" der „Wilden" in den Schatten gestellt hatten. 72

242 • Wandlungen des Neoliberalismus rade in der jetzigen Stunde der Westen oder einige seiner Intellektuellen es für nötig halten, mit pathetischen Schuldgefühlen zu paradieren?" Dazu zitiert er Frankels Meinung, es sei „nutzloser Masochismus, Klagelieder über die unterentwickelten Gebiete zu verbreiten" (Schoeck, 1957c). 73 Nicht wenige MPS-Mitgüeder stellten also in den fünfziger Jahren ethische Bedenken zurück und nahmen angesichts der sowjetischen Ambitionen in Afrika und Asien in der Frage der Kolonien eine realpolitische Haltung ein, die jedoch im Konflikt zu oft betonten freiheitlichen Prinzipien stand. Die weitere Entwicklung des afrikanischen Kontinents bestätigte aber die Sorgen jener Skeptiker, daß die neuen selbstbestimmten politischen Systeme eher in eine anti-liberale Richtung tendierten und nicht zu einer nachhaltigen Besserung der sozio-ökonomischen Lage ihrer Bevölkerungen beitrugen. 74

6.2. Umverteilung global Eng verknüpft mit der Problematik des Kolonialismus waren alle Fragen der Entwicklungshilfe. Der amerikanische Präsident Harry Truman hatte in seiner Amtsantrittsrede substantielle Zahlungen der Vereinigten Staaten in Aussicht gestellt. Hinter der „Point Four" genannten Ankündigung stand nicht zuletzt der Wunsch, diese Länder mit Geschenken dem westlichen Lager geneigt zu machen und die Gefahr des sowjetischen Werbens zu minimieren. Die MPS beschäftigte sich auf mehreren Tagungen intensiv mit dem Thema Entwicklungshilfe, erstmals 1951 in Beauvallon. Dabei stand der Tenor der neoliberalen Debatten wie gewöhnlich in scharfem Kontrast zum Zeitgeist. Zwar beeilte man sich zu betonen, man wolle „die unterentwickelten Gebiete nicht einfach in ihrem eigenen Saft schmoren lassen". Das menschliche Elend in Afrika und Asien ließ die Neoliberalen nicht gleichgültig, doch rieten sie zu äußerster Vorsicht, wenn es um großangelegte Pläne vom Reißbrett einer „kollektivistischen Entwicklungshilfe" ging (Mötteli, 1951). Richtungweisend wurde die Kritik des an der L S E und später in Cambridge lehrenden ungarisch-britischen Ökonomen P. T. Bauer, der einen beharrlichen, meist aber vergeblichen Kampf gegen die Entwicklungshilfedoktrinen der Vereinten Nationen, der Weltbank und der westlichen Regierungen führte. Bauer war 1948 noch ein recht junger Dozent, als er Mitglied der MPS wurde, doch prägte er schon bald die dortigen Diskussionen. Seiner Ansicht nach richteten die herrschende Theorie und Praxis der westlichen Entwicklungshilfe großen Schaden an. Die gängige Behauptung vom „Teufelskreis der Armut", der nur durch äußeren

Schoecks Bericht, der interne Konflikte an die Öffentlichkeit trag und zudem Mitglieder der Gesellschaft durch abwertende Bemerkungen bloßstellte, löste einigen Unmut in MPS-Kreisen aus (vgl. Hunold an Rüstow, 24.10.1957, in: IWP, N L Hunold). 74 Fast alle post-kolonialen Regime, beginnend 1957 mit der Regierungsübernahme von Kwame Nkrumah in Ghana, setzten auf sozialistische Konzepte. Der Staatssektor (und die Korruption) nahmen dramatisch zu, die privatwirtschaftliche Initiative verkümmerte. Aus anfänglichen Demokratien wurden oftmals Diktaturen, wie Ghana ab 1964. Eine endlose Folge von Bürgerkriegen und Stammesfehden, meist um die Kontrolle der Bodenschätze wie im Kongo, kostete hohen Blutzoll. Investoren zogen sich zurück, da sie keine Rechtssicherheit mehr sahen und mit willkürlicher Enteignung zu rechnen hatten; die verbliebenen Weißen wurden zu Sündeböcken gemacht. Immer wieder werden sie Zielscheibe eines nur wenig kaschierten umgekehrten Rassismus, beginnend etwa in Kenia durch die Mau-Mau-Bewegung und heute in Simbabwe durch Robert Mugabe, dessen Vertreibung weißer Farmer eine Hungersnot in seinem eigentlich fruchtbaren Land bewirkt hat. In den meisten afrikanischen Ländern ist der Lebensstandard heute niedriger als in den fünfziger Jahren (vgl. Thielke/Wiedemann, 2007). 73

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 243

Eingriff zu durchbrechen sei, zweifelte er an und verwies dabei auf Europas industriellen Aufstieg aus eigener Kraft. Für Bauer war „Entwicklungshilfe" nicht Lösung, sondern vielmehr Teil der Probleme der „unterentwickelten Länder", da sie diese in eine staatswirtschaftliche Sackgasse leite und so Armut und Stagnation zementiere. Profitieren von der Entwicklungshilfe würden staatliche Führungsschichten, die sich den westlichen Geldsegen aufteilten, nicht aber die Bevölkerung. 75 „Entwicklungsökonomie" als ein Fach, das speziell auf die Bedürfnisse „unterentwickelter" Länder zugeschnittene Theorien formulierte, stellte in den fünfziger Jahren noch eine relativ junge Disziplin dar.76 Tonangebend waren hier Wissenschaftler wie der in führender Position bei den Vereinten Nationen tätige schwedische Sozialist Gunnar Myrdal oder sein norwegischer Kollege Ragnar Nurkse, die auf straffe zentrale Planung der Entwicklungsanstrengungen durch staatliche Stellen und technische Experten setzten.77 Ihre Inspiration bezogen sie oftmals von den scheinbaren Erfolgen der Sowjetunion, der innerhalb relativ kurzer Zeit gelungen war, durch forcierte Investitionen und eine Betonung der Schwerindustrie das agrarisch geprägte Land mit Industriebetrieben zu überziehen.78 Auch nichtsozialistische Ökonomen wie W. W. Rostow erlagen der Faszination der zentralen Planung, um den Aufbau industrieller Strukturen zu beschleunigen.79 Von der klassisch-liberalen Einsicht einer durch vertiefte Arbeitsteilung und internationalen Austausch angetriebenen natürlichen Entwicklung von Produktivität und Wohlstand hielt die große Mehrheit der „Entwicklungsökonomen" nichts. Sie hatten eine negativ gefärbte

Ein beliebter, provozierender Ausspruch Bauers lautete: „Auslandshilfe ist der Prozeß, in dem ärmere Leute in den reichen Ländern die reichen Leute in den ärmeren Ländern unterstützen" (Bauer, 1971, S. 115). Das Wachstum des Staatssektors, der darauf folgende Kampf um die Beute (später „rent seeking" genannt) wie auch die Ermunterung zu staatswirtschaftlichem Aufbau gingen auf Kosten des privaten Sektors und privatwirtschaftlicher, produktiver Anstrengungen, warnte Bauer. Damit werde der Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung eher erschwert, denn gefördert (vgl. ebd., S. S. 95-135). 76 Die frühesten Formulierungen von „Entwicklungstheorie" finden sich natürlich bei Adam Smith, der fortschreitende Arbeitsteilung und Spezialisierung zur Grundbedingung von Produktivitätsgewinnen und wachsendem Wohlstand, also „Entwicklung" erklärte. Privateigentum, Eigeninidative und freier Handel waren die institutionellen Voraussetzungen, denen Europa seine frühe „Entwicklung" zur beherrschenden Wirtschaftsmacht der Welt verdankte (vgl. Raico, 1994b). Die Kennzeichnung „unterentwickelt" für afrikanische, asiatische oder südamerikanische Länder wird hier in Anführungszeichen gesetzt, da sie einen absoluten und objektiven Maßstab impliziert, woran der Grad der „Entwicklung" gemessen werden könnte. 77 Für eine gute Darstellung der planwirtschaftlichen „Entwicklungsökonomen" der Zeit vgl. Robert/Araujo (1997, S. 102-134). 78 Myrdal beschrieb 1956 den allgemeinen Glauben an eine planwirtschaftliche Entwicklung: „Alle Berater der unterentwickelten Länder, die sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht haben, sich mit dem Problem zu befassen, ... empfehlen zentrale Planung als erste Vorbedingung für Fortschritt" (Myrdal, 1956, S. 201). Das sowjetische System sei Grundlage jeglichen Ansatzes zur Entwicklung, erklärte Myrdal, der die Erfolgsmeldungen der Moskauer Statistiken für bare Münze nahm. 79 Nach Rostows Stufentheorie hatte jede Ökonomie fünf Stadien zu durchlaufen, von der traditionellen Gesellschaft bis hin zur reifen Wirtschaft mit Massenkonsum und Massenproduktion. Entscheidend für die „unterentwikkelten" Länder war nun, den „take-off"' zu schaffen, welcher durch starke Erhöhung der Spar- und Investitionsquote eingeleitet würde. Aus Rostows mechanischem Stufenmodell konnte man schlußfolgern, daß ein forcierter Kapital- und Technologieeinsatz genügte, um eine Kettenreaktion der Industrialisierung auszulösen. Dies konnte also auch nach zentralen Lenkungsmaßgaben erfolgen. China und Indien sagte er für das Jahr 1960 ihr „Abheben" voraus, denn „die Pläne beider Länder, in ihren gesamten Investitionszielen und der sektoralen Zusammensetzung, sind konsistent mit den ,take-off-Erfordernissen" (Rostow, 1960, S. 45-46). 75

244 • Wandlungen des Neoliberalismus Sicht des internationalen Handels als einer subtilen Form imperialistischer Ausbeutung. 80 Myrdals Rat an die bald im Kollektiv als „Dritte Welt" bezeichneten Länder lautete daher, sich so weit wie möglich vom internationalen Handel zurückzuziehen, keine industriellen Produkte mehr aus der „Ersten Welt" zu kaufen und statt dessen eine eigene Industrie auszubauen. Wissenschaftlich unterfuttert wurde diese empfohlene Industrialisierungsstrategie mittels „Import-Substituierung" (ISI) durch die zeitgleich vom argentinischen Ökonomen Raul Prebisch und dem bei den Vereinten Nationen tätigen deutschen Emigranten Hans W. Singer formulierte Prebisch-Singer-Hypothese: Demnach litten die hauptsächlich Agrarprodukte exportierenden Länder der „Dritten Welt" unter einer fortschreitenden Verschlechterung ihrer „terms of trade", da allein die kapitalistischen Länder der „Ersten Welt" vom technologischen Fortschritt profitieren und immer billiger produzieren würden. Die Ausfuhren der „Dritten Welt" brächten dieser immer weniger Deviseneinnahmen, während die Einfuhr dringend benötigter Maschinen und Industriegüter beständig teurer würde, so die von Prebisch und Singer vertretene These. In der Zwischenkriegszeit hatte sich eine ganze Reihe von Staaten in Südamerika, Asien und Afrika vom internadonalen Handel verabschiedet, umgab sich mit hohen Zollbarrieren und übernahm die ISI-Strategie. Mit großem finanziellen Aufwand versuchten sie, abgeschirmt vom internadonalen Wettbewerb eine eigene Industrie hochzuziehen. Myrdal, Prebisch und andere einflußreiche Berater der Vereinten Nationen bestärkten sie in ihrer Haltung. Faktisch förderte also der „kapitalistische" Westen - sehr zum Entsetzen der Neoliberalen — in großem Stil die protektionistischen und planwirtschaftlichen Maßnahmen der „unterentwickelten Länder", sowohl ideell wie auch materiell. Eine ganze Reihe politischer Führer afrikanischer und asiatischer Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig wurden, hatte ihre Ausbildung an europäischen Hochschulen erhalten, darunter viele an der LSE, w o sie mit sozialistischen und planwirtschaftlichen Ideen in Berührung gekommen waren. Das bekannteste Beispiel dafür war Indiens späterer Premierminister Nehru, der in London tief beeindruckt die sozialistischen Thesen von Harold Laski, Hayeks linkem Widerpart, gehört hatte. Auf Reisen in die Sowjetunion konnte er die Praxis der zentralen Planwirtschaft studieren und war begeistert (vgl. Kamath, 1994, S. 93-95). Nachdem er die Macht in Indien übernommen hatte, leitete er, beraten von P. C. Mahalanobis, Anfang der fünfziger Jahre erste Schritte zur Erstellung von Fünf-Jahres-Plänen zur Industrialisierung Indiens unter staatlicher Lenkung ein. Die maßgeblichen ausländischen Entwicklungsfachleute, allen voran Myrdal, nahmen Nehrus planwirtschaftliches Konzept mit Wohlwollen auf. Der zweite Fünf-Jahres-Plan fiel noch ambitiöser als der erste aus und sah eine Ausweitung wirtschaftlicher Kontrollen, die Sozialisierung von großen Teilen der Industrie und eine kräftige monetäre Expansion vor. Oberste Priorität war, den Ratschlägen internationaler Fachleute folgend, der Aufbau der Schwerindustrie unter Vernachlässigung der traditionellen Gewerbezweige und der Landwirtschaft.

80 Nach der marxistischen „Dependenztheorie" beruhte der Erfolg des kapitalistischen „Zentrums" seit Jahrhunderten auf Ausplünderung der Länder der „Peripherie", zunächst als Kolonien, anschließend durch einen abhängig machenden Handel. Multinationale Unternehmen, die in afrikanischen oder asiatischen Staaten investierten und vornehmlich im Export von Primärprodukten engagiert waren, trügen wenig zu einer Hebung des Wohlstands dieser Länder bei, meinte die Mehrheit der „Entwicklungsökonomen". Vielmehr galten sie als reine Profitsauger, welche die „Unterentwickelten" ihrer natürlichen Ressourcen beraubten.

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 245 Anläßlich der Vorstellung des Plans 1956 wagte ein einziges Mitglied des wirtschaftlichen Beirats der Regierung, B. R. Shenoy, offenen Widerspruch. 81 Der Ökonom, der über Bauer in Kontakt mit der MPS stand, begründete seine Ablehnung sowohl mit ökonomischen wie auch politischen Gründen. Der Planungsrahmen, kritisierte Shenoy, enthalte überoptimistische Wachstumsziele, die auf zu hohen Sparraten basierten und nur durch ein totalitäres Regime verwirklicht werden könnten. Den zentralverwaltungswirtschaftlichen Geist, der Nehrus Indien prägte, wies er grundsätzlich als Gefahr für persönliche Freiheit und das demokratische politische System zurück. Praktisch richtete sich seine Kritik gegen die Welle von Verstaatlichungen. Eine effiziente Führung von Betrieben durch Beamte anstatt durch private Unternehmer sei nicht gewährleistet. Sein Freund Bauer, der Indien ab den späten fünfziger Jahren öfter besuchte, berichtet von der allgemeinen Ablehnung und Verachtung, die Shenoy für sein Bekenntnis zur Marktwirtschaft entgegenschlugen (vgl. Bauer, 1998). Nicht nur war er wissenschaftlich isoliert, auch die diplomatischen Vertreter westlicher Länder distanzierten sich von ihm. Ein leitender Beamter des britischen Hochkommissariats erklärte Shenoy zum „anerkannten Irren", erinnerte sich Bauer (ebd., S. 3). Um so wichtiger waren die Kontakte, die Shenoy ab den späten fünfziger Jahren über die MPS knüpfen konnte. Seine Warnung vor Inflation und Zahlungsbilanzkrisen als Folge der starken Geldmengenausweitung bewahrheitete sich schon ein Jahr nach Verabschiedung des Plans. Bei der MPS-Tagung 1959 in Oxford berichtete Shenoy, daß entgegen allen Planzielen das indische Pro-Kopf-Einkommen gesunken sei. „Es scheint ratsam, die bisherige Politik der staatlichen Einmischung in die Preisbildung und das Wirtschaftsleben — unter Berufung auf den Plan und zur Erreichung einer sozialistischen Mustergesellschaft — aufzugeben". Westliche Hilfsgelder hätten es der Regierung Nehru ermöglicht, ihre falsche Wirtschaftspolitik fortzusetzen. „In solchen Fällen aber mag die Auslandshilfe eher ein schlechter als ein guter Dienst sein", so das Fazit des indischen Ökonomen (Shenoy, 1959). Einige Journalisten aus den Reihen der MPS bemühten sich, Shenoys Kritik in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Chamberlin, 1959). Sie erkannten die Gefahr, die Länder der „Dritten Welt" durch eine im Ansatz verfehlte Entwicklungshilfe dem marktwirtschaftlichen Lager eher zu entfremden, statt sie an den Westen zu binden, und so ungewollt „Kapitalhilfe für die Sozialisierung der Entwicklungsländer" zu leisten, wie die FAZ ihren Bericht über die Vorträge der MPSKonferenz in Princeton überschrieb (Welter, 1958). Insgesamt blieben solche Warnungen aber weitgehend ohne Resonanz. Die neoliberale Kritik an den gängigen Empfehlungen der „Entwicklungsökonomie", an Import-Substitution, Marktabschottung, inflationärer Nachfragepolitik und planwirtschaftlichen Experimenten, zeigte bis in die siebziger Jahren wenig Wirkung. Kritiker wie Bauer und Shenoy kamen in dieser Zeit gegen den mächtigen, von Myrdal und Prebisch angeführten Chor sozialistischer

Belliktoth Raghunath Shenoy, geboren 1905, war zunächst Dozent und Professor an verschiedenen indischen Universitäten, ab 1948 Forschungsdirektor der Reserve Bank in Bombay, anschließend von 1951 bis 1953 Vertreter Indiens bei der Weltbank in Washington. Ab 1955 lehrte er an der Gujarat University in Ahmedabad (vgl. Lebenslauf in: HIA, MPS-Slg. 40). Trotz seiner hohen Position lebte und arbeitete er in äußerst bescheidenen Umständen, zudem sah er sich politischen Repressionen ausgesetzt.

81

246 • Wandlungen des Neoliberalismus Entwicklungsberater nicht an. 82 Indiens ökonomische Entwicklung in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit war äußerst enttäuschend (vgl. Kamath, 1994, S. 114-118). Zur selben Zeit erbrachten andere asiatische Volkswirtschaften wie Japan, später auch Hongkong, Südkorea oder Taiwan den Beweis, daß sich mit einer Strategie der Exportorientierung und der Öffnung zum Weltmarkt ein dauerhaft starkes Wachstum erzielen ließ.

7. Europa zwischen Integration und Zentralisierung Wenn auch die Neoliberalen gelegentlich den Blick auf die Wirtschaftspolitik der Peripherie richteten, so war doch klar, daß sich die Zukunft der Freiheit im Zentrum des industrialisierten Westens entscheiden würde. Das Schicksal des vom Krieg verwüsteten europäischen Kontinents war Hayeks ursprüngliche Sorge und Antrieb bei seinen Plänen zur Gründung einer internationalen Vereinigung liberaler Wissenschaftler gewesen. Die Entwicklung Europas ließ die MPS auch in den kommenden Jahrzehnten nicht ruhen. Je mehr die Bedrohung durch die Sowjetunion zu einer Spaltung der Welt in zwei militärischideologische Blöcke führte, trug dies zur politischen Stabilisierung des Westens bei, der sich 1949 im NATO-Bündnis zusammenschloß. Zeitgleich nahmen die bereits seit der Zwischenkriegszeit kursierenden Ideen zur Vereinigung Europas erste konkrete Formen an. Angestoßen durch den 1950 präsentierten Plan des französischen Außenministers Robert Schuman kam es 1952 zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Schumans Ziel war, die Produktion der kriegswichtigen Rohstoffe Kohle und Stahl der ehemaligen „Erbfeinde" Deutschland und Frankreich unter die Kontrolle einer „Hohen Behörde" zu stellen. Sein Plan hatte damit eine friedenssichernde Komponente. Zudem entsprach er einer allgemeinen europabegeisterten Stimmung nach dem Krieg, die auch Jean Monnet, den geistigen Urheber des „Schuman-Plans" und ersten Präsidenten der Hohen Behörde, motivierte. Aus der Perspektive der in der MPS verbundenen Neoliberalen erschien die Montanunion als ambivalentes Projekt: Einerseits war begrüßenswert, daß innerhalb eines Jahres alle Zölle und mengenmäßigen Beschränkungen bei Eisenerzen, Kohle und Eisenschrott abgeschafft wurden und sich damit der industrielle Wettbewerb zwischen den Teilnehmern Deutschland, Frankreich, Italien und den Beneluxstaaten belebte. Andererseits aber mißtrauten viele Neoliberale der in Luxemburg angesiedelten Bürokratie, sahen in der Montanunion die Keimzelle einer möglichen europäischen Planungsadministration. Als Franz Etzel, der stellvertretende Leiter der Hohen Behörde als Gast bei der MPS-Konferenz 1953 in Seelisberg sprach, schlug ihm viel Skepsis entgegen (vgl. Mötteli, 1953b). Zwar beteuerte er, „die große Anzahl von Regelungen, die im Vertrag enthalten sind, ist ... kein Beweis für den oft gehörten falschen Vorwurf, daß die Gemeinschaft eine starke Neigung für Regeln und Regulierung zeige". Ein echter und unverfälschter Wettbewerb sei Leitgedanke der Montanunion (Etzel, 1953, S. 8). Dagegen äußerte etwa Erhard schwere Bedenken. Er warnte, „daß ein falsches

Langfristig aber, schätzt Bauer, habe etwa Shenoy in Indien eine ganze Generation jüngerer Ökonomen, darunter das MPS-Mitglied M. P. Bhatt, ebenfalls Professor an der Gujarat Universität, mit seinem Denken und seiner Standfestigkeit beeindruckt und durchaus politisch Einfluß gehabt (vgl. Bauer, 1998). 82

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 247 Modell am Ende zu einem riesigen internationalen Kartellarrangement führen wird" (Erhard, 1953. S. 1). Zu den schärfsten und frühesten Kritikern der Montanunion zählte Röpke. Eine europäische Geisteshaltung konnte ihm niemand absprechen. 83 Die bürokratische Gemeinschaft für Kohle und Stahl erschien ihm dagegen als zentralistischer Irrweg. Noch vor ihrer Gründung attackierte er die „Hohe Behörde" als administrative Vorstufe zu einem Superstaat, der die europäische Vielfalt zu überwölben und die Marktwirtschaft durch planwirtschaftliche Elemente zu zerstöre drohe (vgl. Röpke, 1950b). „Nur die liberale ,offene' Methode der internationalen Wirtschaftsintegration", warnte Röpke immer wieder, „kann zum Ziele führen, nicht die kollektivistische, geschlossene'. Sie setzt weder einen Superstaat noch Superpläne, noch Superkonferenzen, noch eine Superbürokratie voraus." (Röpke, 1952, S. 247-248). Seine Befürchtungen hinsichtlich einer „Politisierung der wirtschaftlichen Ordnung" sah Röpke bald bestätigt. Er unterstellte der Luxemburger Behörde die Absicht, ihre vertraglich festgesetzten Kompetenzen der Investitionsplanung und Kapazitätensteuerung verstärkt nutzen zu wollen. Dann aber sei heftiger politischer Streit um Ressourcenzuteilung und nationale Diskriminierung zu erwarten. Die Montanunion könnte „statt eines Bindemittels zu einem Sprengmittel der europäischen Völker" werden (Röpke, 1955, S. 96). In jedem Fall aber sei eine grobe Fehlallokation von Kapital zu erwarten, wenn Investitionen nicht mehr nach Rentabilitäts- und Gewinnerwartungen, sondern aufgrund politischen Kalküls getätigt würden (vgl. ebd., S. 80-87). Tatsächlich hatte die Montanunion, wie Röpke warnte, ein Doppelgesicht: Zum einen enthielten die EGKS-Statuten ein Bekenntnis zu Wettbewerb und Markt, zugleich jedoch sollte die „Hohe Behörde" im Zusammenspiel mit dem Ministerrat die Aktivitäten zur indirekten Planung von Kapazitäten und Produktion vorantreiben, etwa durch eine staatliche Beeinflussung der Finanzierung von Investitionen. So ergab sich eine „ungeklärte Spannung zwischen einer planwirtschaftlichen und einer marktwirtschaftlichen Lenkung", urteilt Peukert (1992, S. 1078-1081). 84 Im Kreise der MPS überwog folglich die Kritik an der Marschroute zur europäischen Einigung. Grundsätzlich vertrat man das Ideal einer nicht-bürokratischen Integration über Freihandel und wirtschaftliche Offenheit. Wichtigste Voraussetzung dafür, betonten Redner auf MPS-Tagungen immer wieder, sei die Konvertibilität der Währungen. 8 5 Obwohl die Hoffnung nach einem Ende der Devisenrestriktionen lange Zeit unerfüllt blieb, zeigten sich

Seine Bücher und Artikel zeugten von tiefer Verbundenheit mit den kulturellen und freiheitlichen Traditionen des Kontinents, seine Ablehnung nationalistischer Engstirnigkeit stand außer Frage. Schon früh hatte er das Ideal einer subsidiären Föderation propagiert, die einen Rahmen für den Austausch der Völker bot und dabei den kleineren Einheiten viel Freiheit beließ. Geradezu boshaft ist daher die Bemerkung bei Hentschel (1998, S. 401), der Röpke als „ganz und gar hartgesottenen Anti- Europäer" abtut. 84 Sieht man von einigen Übertreibungen ab, behielt Röpke mit seiner pessimistischen Prognose zu den Konsequenzen der Investitionslenkung in der EGKS recht: „Die Geschichte der Montanunion sollte auch im weiteren zu einer traurigen Entwicklung mit drastischen Überkapazitäten, der bewußten Förderung unrentabler Betriebe, dem permanenten Streit um Fördermaßnahmen, diplomatischen und halbherzigen Lenkungsirrfahrten usw. führen" (Peukert, 1992, S. 1084). 85 In der zeitgenössischen Publizistik firmierte dieser Weg als „funktionale Integration". Die neoliberale Position ist von Ernst Haas' Theorie zu unterscheiden, dessen „Funktionalismus" eher das Gegenteil meint. Nach Haas sollte die ursprünglich sektoral begrenzte Integration nach dem Beispiel der Montanunion durch „spill-over-Effekte" auf wietere Bereiche übergreifen, bis hin zur Bildung supranationaler Interessengruppen und zur Vereinheitlichung der politischen Institutionen. Diese Aussicht schien Neoliberalen wie Röpke keineswegs verlockend. 83

248 • Wandlungen des Neoliberalismus

Neoliberale wie Röpke nicht blind gegenüber Fortschritten. E r äußerte sich lobend über den „im ganzen doch so erfolgreichen Weg der europäischen Wirtschaftsintegration, der mit der O E E C und ihren Aktionen der E Z U und der Liberalisierung beschritten worden ist" (Röpke, 1958, S. 32). Hier differenzierte er: Während die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit ( O E E C ) liberalem Geist entsprach, hegte er schwerste Vorbehalte gegen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ( E W G ) . Andere Mitglieder der M P S waren eher optimistisch, was die E W G betraf. Bei der Tagung der Gesellschaft im September 1957 in St. Moritz, wenige Monate nach Unterzeichnung der Römischen Verträge, „prallten die Meinungen scharf aufeinander" (Bieri, 1957). Neben vehementen Kritikern der E W G , darunter Röpke, Haberler, Mises und Hahn, gab es auch eine kleinere Gruppe von Fürsprechern, besonders Rueff und, mit Vorbehalten, Heilperin und A. de Graaf (vgl. Dürr, 1957, S. 582). Die Erwartungen, ob positiv oder negativ, schienen v o m jeweiligen nationalen Hintergrund gefärbt zu sein. Angesichts der Erfahrungen mit der dirigistischen Politik in Frankreich schien Rueff die E W G als mögliche Rettung. E r sah eher ihre liberalisierende Kraft und betonte die Beseitigung von Handelsbeschränkungen innerhalb der Gemeinschaft. Die Mehrheit der MPS-Neoliberalen brachte dagegen prinzipielle Einwände ins Spiel: Das EWG-Modell

einer

regionalen

Zollunion

mit

gemeinsamem

Außenzoll

sei

von

fragwürdigem Wert, da es Europa und die westliche Welt spalte. Unzweifelhafte Vorteile bringe nur eine offene Freihandelszone, die einen umfassenden Abbau von Handelshemmnissen auch gegenüber Drittländern ermögliche. Die EWG-Skeptiker, angeführt von Röpke und Haberler, griffen damit eine Argumentation auf, die J a c o b Viner in seiner grundlegenden Studie „The Customs Union Issue" im Jahr 1950 vorgestellt hatte. Darin widerlegte Viner die bis dato unter liberalen Ö k o n o m e n vorherrschende Meinung, daß jede bilaterale Zollsenkung zwingend wohlfahrtsfördernd wirke, da sie ja einen Schritt zum allgemeinen Freihandel darstelle. Die Zollunion, so Viner, belebe zwar den Handel zwischen ihren Mitgliedern, doch gleichzeitig schließe sie partiell den Handel mit den Ländern aus, die nicht an ihr teilnehmen. I m Gegensatz zum Freihandel, der unbedingt positive Wohlfahrtsgewinne bringe, lenke die Zollunion die Handelsströme zum Teil lediglich um und verhindere so die produktivste internationale Arbeitsteilung (vgl. Viner, 1950). 8 6 Befürchtungen dieser Art äußerte in St. Moritz auch Haberler, der sich seit den dreißiger Jahren

intensiv mit Außenhandelstheorie

beschäftigte. 87

Viners Theorie

der

handels-

schaffenden und handelsumlenkenden Effekte einer Zollunion gab Kritikern der europäischen Zollunion dann ein starkes Argument zur Hand. Die Bildung regionaler Handels-

Anhand einfacher Zahlenbeispiele ließ sich in Modellrechnungen zeigen, daß die von Viner betonten handelsumlenkenden die handelsschaffenden Effekte einer Zollunion theoretisch überwiegen konnten. Eine solche Umschichtung zugunsten von Standorten mit höheren Realkosten wäre aber unwirtschaftlich und hätte Wohlfahrtsverluste zur Folge. Zu den Annahmen des Modells von Viner, die zumindest in den fünfziger bis siebziger Jahren klar erfüllt waren, vgl. Peukert (1992, S. 998). 86

Schon 1933, als das protektionistische Karussell sich gerade heftig zu drehen begann, hatte er am Ende seines Buchs „Der internationale Handel" verschiedene „taktische Überlegungen über den Weg zum Freihandel" angestellt (vgl. Haberler, 1933/1970, S. 288-289). Ein System von Präferenzzöllen, wie es die großen Handelsblöcke der dreißiger Jahre errichteten, sei nur ein schwacher Ersatz für echten Freihandel und brächte weit geringere Wohlfahrtsgewinne, lautete Haberlers Urteil damals. 87

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 249

räume wie der EWG-Zollunion erschien ihnen nun nicht bloß taktisch, sondern grundsätzlich fragwürdig. Der Nettoeffekt des regional begrenzten Abbaus von Handelsschranken innerhalb der EWG, ohnehin durch lange Übergangszeiten von zwölf Jahren verzögert, könne nur dann positiv sein, wenn der neue Außentarif der Gemeinschaft niedrig lag und eine große Zahl von Ländern teilnehme. Diese Bedingungen sah Haberler ebenso wie Röpke bei der „kleineuropäischen Lösung" nicht gegeben. Im Gegenteil, sie fürchteten eine Zunahme protektionistischer Tendenzen und prangerten diese aus zweierlei Gründen an: Wirtschaftliche Abschottung beraube zum einen die unterentwickelten Länder ihrer Exportchancen, zum anderen schädige sie die Verbraucher innerhalb der industrialisierten Länder, die höhere Preise zu zahlen hatten. Es gebe nur Verlierer, niemand - außer den protegierten Interessengruppen — gewinne. 88 Auch die EWG hatte, trotz aller Lippenbekenntnisse zum Prinzip des Wettbewerbs, zumindest teilweise den Charakter eines Bollwerks gegen die Konkurrenz der Weltmärkte, besonders im hochsubventionierten Agrarsektor. 89 Der gemeinsame Außentarif wurde nach dem ungewichteten arithmetischen Mittel der Zölle der sechs EWG-Gründungsmitglieder berechnet. Für Staaten mit einer liberalen Außenhandelspolitik wie Deutschland und die Beneluxländer hatte dies eine Erhöhung der Handelsbarrieren gegenüber EWG-Drittstaaten zur Folge. Aus der Perspektive von Frankreich und Italien dagegen, die bislang stärker abgeschottet waren, brachte der Gemeinsame Markt eine außenwirtschaftliche Öffnung und ermöglichte in den folgenden Jahren kräftige Handelszuwächse. Diese unterschiedliche Ausgangslage erklärt die widersprüchliche Bewertung der EWG in der MPS. Während Franzosen und Niederländer sie als liberalisierende Kraft begrüßten, fürchteten Deutsche und EWG-Außenseiter eine protektionistische Gemeinschaft (vgl. Wegman, 2002, S. 399 u. 403). Röpke warnte vor überzogenem politischem Enthusiasmus und forderte eine nüchterne ökonomische Analyse der EWG. Die Integration als ideologisches Dogma zu sehen war ihm fremd. In Anlehnung an Alfred Marshalls berühmten Ausspruch, wonach ein guter Ökonom, der es gut mit seinem Land meine und deshalb für Freihandel werbe, selten als Patriot gelte, meinte auch Röpke, es sei schwierig, als liberaler Ökonom ein „guter Europäer" zu sein und als solcher zu gelten. 90 Sein Mitgefühl galt den Außenseitern des „Kleinen Europas", die vor den Toren der EWG ausgegrenzt blieben. „Während eine Türe geöffnet wird, wird eine andere geschlossen", beklagte er die Schwächen des EWG-Modells (Röpke, 1957a, S. 3). Pessimistisch stimmten Röpke einige Formulierungen der Römischen Verträge, die man als Vorboten einer dirigistischen, europaweiten Koordinierung der europäischen Volks-

Im Jahr 1958 bestimmte Haberler als Vorsitzender einer GATl-Expertengruppe maßgeblich den Tenor eines Gutachtens, das großen Einfluß auf die GATT-Verhandlungen der sechziger Jahre zur weiteren Liberalisierung des Welthandels ausübte. Der sogenannte Haberler-Bericht prangerte den unverhohlenen Agrarprotektionismus der Industrieländer an, der die Länder der „Dritten Welt" schwer benachteilige und ihre Entwicklung behindere (vgl. Kenwood/Lougheed, 1999, S. 286). 89 Dem französischen Engagement zum Aufbau eines vereinten Europas nach 1945 lagen drei kühl kalkulierte Motive zugrunde, wie Müller-Brandeck-Bocquet (2005) darstellt. Erstens ging es Paris um eine Eindämmung der Gefahr eines deutschen Übergewichts in Europa, zweitens um den Erhalt der außenpolitischen und strategischen Bedeutung Frankreichs in der Welt, und drittens mußte ein europäischer Zahlmeister für die Subventionierung der kostenverschlingenden französischen Landwirtschaft gefunden werde. 90 Immer wieder warnte er in den folgenden Jahren die Schweiz, sein Gasdand, einem spirituell endeerten, überregulierten europäischen Verbund beizutreten (vgl. Zmirak, 2001, S. 187-192). 88

250 • Wandlungen des Neoliberalismus wirtschaften interpretieren konnte. So meinte er, „das Projekt des Gemeinsamen Marktes kombiniert Tendenzen sowohl hin zu einer Marktwirtschaft als auch zur ökonomischen Planung" (ebd., S. 5). Seine Kritik schien ungerecht angesichts eines Vertrags, dessen Kern die sogenannten vier Grundfreiheiten waren: also der ungehinderte Waren- und Dienstleistungsverkehr, die Freizügigkeit für Arbeitnehmer sowie die Niederlassungsfreiheit für Kapital und Investoren. Dies durfte als Quantensprung der Liberalisierung der europäischen Wirtschaft gelten. Doch daneben waren in den Verhandlungen zum EWG-Vertrag von französischer Seite ganz andere Töne zu hören, namentlich die Forderung nach „sozialer Harmonisierung" und einer Investitionsplanung in Europa. 91 Mit der Forderung nach „Harmonisierung" wollte Paris effektiv die Konkurrenz östlich des Rheins bremsen, indem die Deutschen sich verpflichten würden, ebenfalls sehr kostspielige sozialstaatliche Regelungen zu übernehmen. 92 Solche Überlegungen waren marktwirtschaftlichen Ökonomen ein Greuel. Der „abwegige Gedanke ... der ,Harmonisierung'" weckte bei vielen Neoliberalen, auch bei Erhard, heftige Abwehrreflexe. Würde der französische Wunsch Realität, sei von einem „wirtschaftlichen Massensterben" auszugehen, wenn die Lohnkosten ohne Rücksicht auf die Arbeitsproduktivität angehoben würden, schrieb er in „Wohlstand für alle" (Erhard, 1957, S. 307 bzw. 309). 9 3 Zwar erhielt die E W G laut den Römischen Verträgen kein Mandat zur Angleichung der Sozialpolitiken, sondern lediglich Kompetenzen für eine gemeinsame Verkehrs-, Energie und Atompolitik. Als folgenreich erwies sich aber langfristig der besonders von Frankreich geförderte Einstieg in eine gemeinsame Agrarpolitik, deren hohe Aufwendungen für den Aufkauf von Uberschüssen und für Subventionen bald der mit Abstand größte Haushaltsposten der Gemeinschaft wurden. Wie Röpke sah aber auch Erhard die Motive und Methoden der französischen Europapolitik kritisch. Seine anfangliche Freude über das Projekt der europäischen Einigung wich bald tiefer Skepsis, denn zwischen seinem liberalen Credo und der wirtschaftlichen „Planification", mit der Paris experimentierte, lagen tatsächlich Welten. Erhard sah auch die später praktizierte Angleichung der Lebensverhältnisse in Europa durch Regional- und Strukturhilfen voraus. Er prophezeite „Fonds, aus denen diejenigen, die im Nachteil sind oder es zu sein glauben, entweder entschädigt oder künstlich hochgepäppelt

Frankreich hatte in den fünfziger Jahren eine chronisch defizitäre Leistungsbilanz gegenüber Deutschland, was seine EZU-Quoten aufzehrte. Eine wiederholte Abwertung des Francs lag nahe, doch Paris wollte diese aus Prestigegründen vermeiden. Um 1958 war nicht mehr zu übersehen, wie sehr der Ausbau eines kostspieligen Wohlfahrtsstaates und die durch billiges Geld der Banque de France geförderte Inflation die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft belasteten. 92 Diese Strategie, genannt „raise thy rival's costs", liegt wohl den meisten Forderungen nach „Harmonisierung" gesetzlicher Regelungen zugrunde, sofern nicht das Motiv eine schlichte Senkung von Transaktionskosten, etwa durch technische Normen oder Standardisierung ist. In den fünfziger Jahren regte Jean Monnet mehrfach an, die Arbeitskosten durch eine Angleichung des Arbeitsrechts und der Löhne in der Gemeinschaft auf französischem Niveau zu „harmonisieren", insbesondere durch eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine Verlängerung des Jahresurlaubs für deutsche Arbeitnehmer. 93 Sein Staatssekretär Müller-Armack, der an den Verhandlungen in Rom beteiligt war, bemerkte später, wie der französische Ruf nach einer „sozialen Harmonisierung" leiser wurde, sobald die deutschen Reallöhne - wegen des Produktivitätswachstums — über das französische Niveau gestiegen waren (vgl. Müller-Armack, 1971, S. 72. u. 74). „Unser Standpunkt war, die Öffnung der Märkte werde von sich aus einen gewissen Gleichschritt auch im Sozialen herbeiführen und man würde das ganze Einigungswerk in Gefahr bringen, wenn man die komplizierte Koordinierung im sozialpolitischen Bereich an den Anfang setze" (ebd., S. 72). 91

Positionen und Kontroversen in der frühen MPS • 251 werden". Mit der Marktwirtschaft, die er vertrete, sei dies unvereinbar, denn dadurch werde „nicht die Leistung prämiert, sondern das Gegenteil getan, es wird der Leistungsschwächere — aus welchen Gründen auch immer - subventioniert" (ebd., S. 310). Einwände dieser Art brachten auch Erhard bald Verdächtigungen und Diffamierungen als „schlechter Europäer" ein. Meist wurden sie von Seiten der europäischen Bürokratie gestreut. Auch Adenauer mißfiel Erhards offenherzige Kritik am französischen Weg zur europäischen Einigung. Die Differenzen der beiden in der Außenpolitik trugen erheblich zur Verschlechterung ihres Verhältnisses bei (vgl. Hentschel, 1998, 345-346). Adenauer, so mutmaßte Erhard, betrachte die europäische Einigung in engster Anlehnung an Frankreich als Selbstzweck, als Garant der politischen und psychologischen Westintegration Deutschlands. Erhard dagegen hielt wenig davon, Außenpolitik auf Kosten der Wirtschaft zu machen. Er „wollte die billigste und effektivste wirtschaftliche Integration", schreibt Mierzejewski (2005, S. 233). Nach dem liberalen Ansatz ging es allein um Integration durch Abbau von Handelshemmnissen. Der dirigistische Ansatz, dem Frankreich zuneigte, meinte Integration durch eine Koordinierung nationaler Wirtschaftspolitiken und abgestimmte Pläne zur Regionalentwicklung und Investitionslenkung. Erhard wollte aber die marktwirtschaftliche Ordnung nicht auf dem Altar der E W G opfern und plädierte statt dessen für eine offene, atlantisch ausgerichtete Freihandelszone, wie sie die britische Regierung wiederholt vorschlug. Daß die Mehrheit der Neoliberalen ihm darin folgte, belegt ein Bericht der NZZ: „Der Riß, der Europa momentan in zwei Lager teilt, ist auch in der Mont Pèlerin Society zu finden. Es muß allerdings einschränkend beigefügt werden, daß die Protagonisten der EWG, die hauptsächlich aus Frankreich und Italien stammen, einen überaus schweren Stand und kaum je die Chance hatten, mit ihrer Auffassung einer .liberalen Integration' im Plenum der Gesellschaft zu überzeugen", hieß es über die Kasseler Tagung zwei Jahre nach Gründung der EWG (Lindner, 1960). Die Befürworter der EWG, so der Bericht weiter, vermochten trotz „erheblichen rhetorischen Aufwands, den sie in die Rechtfertigung der EWG investierten,... bei der Mehrheit der Tagungsteilnehmer nicht durchzudringen" (ebd.). Auch in späteren Jahren sollte Kritik an protektionistischen, dirigistischen und zentralisierenden Tendenzen der Brüsseler Behörden auf Treffen der MPS häufiges Thema sein.

8. Zusammenfassung: Auf verlorenem Posten? Die Darstellung der in der MPS in den fünfziger und frühen sechziger Jahren diskutierten Themen und Positionen zeigt, daß die Neoliberalen konsequent im Widerspruch zum ökonomischen "Mainstream" und auf der Seite der politischen Verlierer standen. Abstrahiert man von Differenzen in Details unter den Mitgliedern und geht von der Existenz eines mehrheitsfähigen „MPS-Neoliberalismus" aus, so ergibt sich folgendes Bild: Während die Neoliberalen für eine marktwirtschaftliche Ordnungspolitik eintraten, die ein Höchstmaß an Wettbewerb ermöglichen sollte, mißtraute die Mehrzahl der Ökonomen der freien Konkurrenz. Hier wirkte die Erfahrung der Großen Depression nach, wonach das Spiel der Marktkräfte ohne staatliche Intervention Chaos und Instabilität bringen müsse. Ins-

252 • Wandlungen des Neoliberalismus besondere war die Mehrheit der Ökonomen gemäß der keynesianischen Lehre überzeugt, daß der Staat mit einer ausgleichenden Politik zur Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage einspringen müsse, um Einbrüche der Konjunktur und fortgesetzte Unterbeschäftigung zu verhindern. Die Kritik der in der MPS zusammengeschlossenen Neoliberalen an solchen makroökonomischen Ansätzen wurde in den fünfziger und frühen sechziger Jahren kaum zur Kenntnis genommen. Ein Grund dafür war, daß die von neoliberaler Seite behauptete Folge, das Aufkommen von Inflation durch eine dauerhafte fiskalische und monetäre Überstimulierung, während der Zeit des stürmischen wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg bis Mitte der sechziger Jahre wenig sichtbar wurde. Die Dominanz keynesianischer Ansichten in der Konjunkturtheorie in den fünfziger und sechziger Jahren war Teil der allgemeinen Absage an das einstige liberale Vertrauen auf die Selbstregulierungskräfte des Marktes. Auch der überwiegende Teil der Neoliberalen in der MPS suchte vom Laissez-faire Abstand zu halten und plädierte für einen staatlich zu setzenden Rahmen für die Marktwirtschaft. Eine Minderheit war zudem geneigt, eine maßvolle staatliche Gesellschafts- und Strukturpolitik zur Erhaltung des außerökonomischen Rahmens der Marktwirtschaft als notwendig anzusehen. Darüber hinausgehende interventionistische Zugeständnisse wollten sie nicht machen. Insbesondere im Ausbau eines umfassenden Wohlfahrtsstaats erblickten die Neoliberalen die Gefahr einer Verstaatlichung des wahrhaft Sozialen, wirkten aber auch hier wie Rufer in der Wüste. Während sie vor einem drohenden Verlust an individueller Freiheit und Verantwortung warnten, beschleunigte sich in allen westlichen Staaten der Aufbau kollektiver Sozialsysteme. Ebenso ignoriert wurde von der Politik die neoliberale Forderung, den Strukturwandel der Landwirtschaft staatlicherseits nicht durch Subventionen und Preisbindungen zu behindern, sondern konstruktiv und sozialverträglich zu begleiten. In der Frage der Entwicklungsländer kämpften sie vergeblich gegen die Förderung planwirtschaftlicher Experimente mit westlichen Geldern. Und auch im Streit um den richtigen Weg der europäischen Integration stand die Mehrheit der MPS-Neoliberalen dem Modell der begrenzten Einigung durch eine Zoll- und Wirtschaftsunion mit ansatzweise dirigistischen Zügen skeptisch bis ablehnend gegenüber und damit auf der Seite der politischen Verlierer. Allerdings bedarf die allgemeine Aussage, die von den Neoliberalen der MPS repräsentierte intellektuelle Strömung habe sich in den fünfziger und sechziger Jahren in der Defensive befunden, einer Differenzierung. Trotz der vielfältigen Kritik, die Mitglieder der MPS auf den Treffen der Gesellschaft vorbrachten, hatten sie keinen Anlaß zur Verzweiflung. Die schlimmsten Befürchtungen, die ihr Gründungstreffen am Mont Pèlerin überschattet hatten, wurden nicht bestätigt. Mehrere europäische Länder begaben sich in den fünfziger Jahren in der Wirtschaftspolitik auf einen freiheitlichen Kurs. Im nächsten Kapitel soll der Anteü, den einzelne MPS-Neoliberale an diesen Entwicklungen hatten, im jeweiligen nationalen Kontext untersucht werden.

VII. Neoliberale in der Politik: Durchbräche und Durststrecken Obwohl Hayek selbst einer weit in die Zukunft gerichteten intellektuellen Strategie anhing, gab es unter den frühen Mitgliedern der MPS einige, die sich nach 1945 in die Politik begaben und dort Einfluß nehmen konnten. Die Entwicklung in Deutschland, Italien, Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten zeigt höchst unterschiedliche Ergebnisse dieser Bemühungen, sich der sozialistischen Tendenz entgegenzustemmen. Auffällig war dabei, wie die Bewältigung der jüngsten Vergangenheit den künftigen Kurs bestimmte: So bildeten die Erfahrungen der Großen Depression und des Krieges den Hintergrund, vor dem wirtschaftspolitische Entscheidungen getroffen wurden. Die insgesamt kollektivistische Reaktion auf die Krise der dreißiger Jahre wurde von weiten Teilen der westlichen Intelligenz und der Politik als Erbe und Auftrag positiv bewertet und begründete nach dem Krieg einen neuen Konsens, der vermehrte staatliche Lenkung der Wirtschaft als unerläßlich ansah. Eine gewisse Ausnahme war das besiegte Deutschland, da hier das lenkungswirtschaftliche Experiment in Zusammenhang mit einem diskreditierten politischen System stand. Die Gruppe der Neoliberalen in Westdeutschland vermochte 1948 eine einmalige politische und personale Konstellation zu nutzen, die eine überraschende Wende ermöglichte. Handstreichartig konnte Ludwig Erhard den Hebel von der Plan- zur Marktwirtschaft umlegen, indem er staatlich regulierte Preise freigab und die zentrale Bewirtschaftung aufhob. Dabei profitierte er von der Unterstützung durch neoliberale Mitstreiter wie Eucken, Böhm, Miksch, Müller-Armack, Röpke und Rüstow, die sich in der MPS zu sammeln begannen. Schon Ende der fünfziger Jahre zeigte sich jedoch, daß auch die westdeutschen Neoliberalen die wohlfahrtsstaatliche Tendenz nicht aufhalten konnten. In Italien konnte, ähnlich wie in der frühen Bundesrepublik, eine kleine Gruppe von Neoliberalen um Luigi Einaudi nach dem Krieg eine makroökonomische Stabilisierung und Weichenstellung zu mehr Markt vornehmen, allerdings fehlte es an ordnungspolitischer Konsequenz und Konstanz. In Frankreich dominierten auf der Linken wie der Rechten traditionell etatistische und planwirtschaftliche Konzepte für eine ökonomische Modernisierung. Obwohl Jacques Rueff Ende der fünfziger Jahre die Möglichkeit für einzelne neoliberale Reformen erhielt, hatte er als Einzelkämpfer kaum Chancen gegen die allgemein dirigistischen Auffassungen der politischen Klasse in Paris. Von besonderem Interesse ist die Entwicklung in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Die beiden angelsächsischen Mächte wurden nach 1945 Vorreiter einer keynesianischen Wirtschaftspolitik. In Großbritannien begann Labour eine Welle von Verstaatlichungen und den Aufbau eines umfassenden Wohlfahrtsstaats. Erstaunlich rasch bildete sich ein neuer parteiübergreifender Konsens in der Wirtschaftspolitik heraus, der über Jahrzehnte grundsätzlich Bestand haben sollte. Dessen Merkmale waren eine gemischte Wirtschaft mit großem Staatssektor und starken Gewerkschaften, ein umfassender Wohlfahrtsstaat sowie eine auf „Vollbeschäftigung" ausgerichtete keynesianische Budgetpolitik. Dagegen begehrte nur eine winzige Minderheit auf, darunter der Unternehmer Antony Fisher. Sein 1955 gegründetes Institute of Economic Affairs, geleitet von Ralph Harris und Arthur Seidon, wurde zum Urtyp aller späteren neoliberalen Think Tanks und profitierte stark von der Vernetzung über die MPS. Anfangs fand das IEA mit seinen marktliberalen Thesen

254 • Wandlungen des Neoliberalismus kaum ein Echo in der Politik, doch vereinzelt begannen sich in den sechziger Jahren prominentere Vertreter der Tories, allen voran Enoch Powell sowie jüngere Abgeordnete wie Geoffrey Howe, Keith Joseph und Margaret Thatcher für die Philosophie des IEA zu interessieren. Auch in den Vereinigten Staaten war der individualistische Flügel der Konservativen nach 1945 zunächst marginalisiert. Der New Deal mit seinem zuvor undenkbaren Maß an bundesstaatlicher Lenkung der Wirtschaft hatte die Mentalität der Amerikaner nachhaltig geprägt. Bereits kurz nach dem Krieg erklärte der Employment Act die Schaffung von Arbeitsplätzen zur staatlichen Aufgabe, eine neue, mit vereinfachten keynesianischen Modellen arbeitende makroökonomische Orthodoxie etablierte sich. Von dieser schwierigen Lage ausgehend bildete sich nur mühsam eine neoliberale Gegenströmung, die allgemein dem „konservativen" Lager zugerechnet wurde. Kristallisationspunkte dieser Bewegung wurden Stiftungen, wie die Foundation for Economic Education, oder kleinere Zeitschriften aus dem MPSUmfeld. Auf die nationale politische Bühne gelangten ihre Ideen erstmals in den sechziger Jahren mit der Präsidentschaftskandidatur von Barry Goldwater. Insgesamt zeigte sich, daß die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg ihren bereits in den dreißiger und vierziger Jahren eingeschlagenen interventionistischen Kurs in Wirtschaftsfragen eher fortsetzten und um keynesianische „Vollbeschäftigungspolitik" ergänzten, während die Verlierer nach 1945 politisch so ungefestigt waren, daß sich entschlossenen Einzelkämpfern erstaunliche Spielräume für neoliberale Ansätze boten.

1. Deutschland: Neuanfang in Ruinen Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Gedanke an eine Rückkehr zu einem marktliberalen System allgemein als absurd und gefahrlich zurückgewiesen. Auch die nichtsozialistischen westlichen Demokratien glaubten, ihre Lektion aus der Großen Depression gelernt zu haben. Sie behielten viele der in den dreißiger und vierziger Jahren erprobten Elemente dirigistischer, zentraler Wirtschaftslenkung bei und verstärkten die wohlfahrtsstaatliche Fürsorge für breite Bevölkerungsschichten. Eine dezentrale Selbststeuerung der Wirtschaft über das Preissystem schied aus. Wie der marxistische Historiker Eric Hobsbawm mit Genugtuung bemerkte: „Nach 1945 waren sie alle effektiv Staaten, die bewußt und aktiv die Oberhoheit des freien Marktes ablehnten und an ein aktives Management und eine staatliche Wirtschaftsplanung glaubten." Dagegen wirkten die versprengten Anhänger der Marktwirtschaft, etwa Hayek, wie „Propheten in der Wüste", deren Mahnungen und Warnungen ungehört verhallten, so Hobsbawm (1995, S. 226). Ironischerweise konnten die sich in der MPS sammelnden Neoliberalen einen großen Durchbruch dort feiern, wo man es kaum erwartet hätte: im kriegszerstörten und besetzten Deutschland, ausgerechnet dort, wo die kollektivistische und etatistische Tradition in Europa besonders tief verwurzelt schien. Die Bedeutung dieser Wende wird klar im Rückblick auf die Monate und Jahre unmittelbar nach dem Zusammenbruch im Mai 1945: Das Land bot ein Bild schwerster Zerstörung, seine Städte waren verwüstet vom Bombenkrieg. Ein Strom von mehr als 12 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten kam hinzu. Die

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 255 Versorgungslage der Bevölkerung blieb kritisch, besonders im ungewöhnlich harten Winter 1946/1947. Große Teile der Infrastruktur waren vernichtet, die Industrieproduktion lag danieder. Wenn auch die alliierten Luftangriffe die deutschen industriellen Anlagen weniger schwer als angenommen getroffen hatten, war die Produktion noch 1947 um etwa die Hälfte niedriger als vor dem Krieg. Mit der Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen kollabierte auch das System der bürokratischen Lenkung der Volkswirtschaft. Obwohl die Voraussetzungen wegbrachen, behielten die alliierten Militärbehörden die wesentlichen Merkmale der nationalsozialistischen Wirtschaftsplanung bei: die zentrale Bewirtschaftung und Zuteilung von Rohstoffen, die Rationierung von Lebensmitteln und Verbrauchsgütern sowie den seit 1936 gültigen Lohn- und Preisstopp. Letzterer hemmte jegliche wirtschaftliche Aktivität, da die Struktur der relativen Preise schon lange nicht mehr der realen Knappheit der Güter entsprach. Die grobe Verzerrung entwertete die Signalwirkung der offiziellen Preise und machte sie ungeeignet, Produktionsfaktoren in die produktivste Verwendung zu führen. Die Unternehmen waren nicht in der Lage, zu den diktierten Preisen kostendeckend zu produzieren; ohne Gewinnanreiz zogen sie es vor, ihr Angebot zurückzubehalten. Auch die Löhne der Arbeiter, die in wertloser Reichsmark gezahlt wurden, lähmten die Motivation. Die Arbeitsdisziplin war äußerst gering, es gab hohe wöchentliche Fehlzeiten. All dies trug zu einer sehr niedrigen Produktivität der deutschen Volkswirtschaft bei. So trocknete der Preisstopp die offiziellen Märkte aus. Der massenhaft zirkulierenden alten Reichsmark stand kein Warenangebot gegenüber, nur die Schwarzmärkte florierten, wo man gegen Zigaretten das Notwendigste kaufen konnte. Diese neue Form der Tauschwirtschaft war offenkundig ineffizient und mit hohen Transaktionskosten belastet. Die vier Siegermächte verfuhren von Anfang an wirtschaftspolitisch recht unterschiedlich in den ihnen unterstellten Besatzungszonen. Die Amerikaner hatten zwar den MorgenthauPlan von 1944 auf Eis gelegt, der die komplette Deindustrialisierung Deutschlands vorgesehen hatte. Ihr Hauptziel nach der Direktive JCS 1067 vom April 1945 blieb aber, den Kriegsverlierer ökonomisch wie militärisch auf niedrigstem Niveau unter Kontrolle zu halten. Erst langsam und unter dem Eindruck innenpolitischer Entwicklungen revidierten sie ihre Pläne.1 Auf der Potsdamer Konferenz einigten sich die Sieger auf die Dezentralisierung und Dekartellisierung der deutschen Volkswirtschaft, die unter nationalsozialistischer Führung in Teilen zu Industriekonglomeraten verschmolzen worden war. Vor allem die sowjetische Besatzung in Mitteldeutschland, in geringerem Maße auch die Franzosen im Südwesten, forderten erhebliche Reparationen durch die Demontage von Industrieanlagen und die Ausfuhr von Rohstoffen aus ihren Zonen. Moskau trieb schon früh die Eingliederung in den sowjetischen Machtbereich und den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft nach sozialistischem Muster voran. Pragmatisch gingen die Briten vor, die

1 Gillingham (1993) betont den wachsenden Einfluß scharf antikommunistischer Kräfte in Washington nach dem Sieg der Republikaner bei den Kongreßwahlen 1946. Dies hatte Einfluß auf die Industriepolitik der amerikanischen Besatzungsmacht, indem allzu eifrige „Reformer" ausgebremst wurden, die noch in der Tradition des New Deal standen und den Umbau der deutschen Produktionskartelle offensiv betrieben (vgl. ebd., S. 118). Erste Ansätze für die Idee des Marshall-Plans wurden im Winter 1 9 4 6 / 1 9 4 7 entwickelt, als die amerikanische Politik erstmals die Gefahr eines Abrutschens großer Teile Westeuropas in den sowjetischen Machtbereich voll erkannte.

256 • Wandlungen des Neoliberalismus

zwar auch Demontagen vorantrieben, aber bald auch Überlegungen zum Wiederaufbau wirtschaftlicher Strukturen anstellten. London bereitete zwar Verstaatlichungen von Schlüsselindustrien vor und ernannte den marxistisch ausgerichteten Gewerkschaftsfunktionär Viktor Agartz zum Leiter ihrer Wirtschaftsverwaltung, bemühte sich aber zugleich, kommunistische Kräfte in Schach zu halten. Der Schwäche der industriellen Produktion suchte man im britischen Sektor durch planwirtschaftliche Anreize beizukommen, etwa in der Form von Präferenzrationen für Arbeiter im Kohlebergbau. Bei den amerikanischen Stellen dachten einige der führenden Leute liberaler, besonders General Lucius D. Clay, der 1947 oberster Militärgouvemeur wurde. Er hatte bereits 1946 einen Stopp der Demontagen verfügt und umgab sich mit Beratern, die angesichts der sich zuspitzenden Versorgungskrise über marktwirtschaftliche Alternativen nachdachten. Aber auch unter den amerikanischen Ökonomen gab es doch etliche, die einer zentralen Koordinierung und planmäßigen Lenkung von Industrien und von Rohstoffen das Wort redeten. Die Erfahrung des New Deal wirkte stark nach. So schrieb John K. Galbraith, kurzzeitig Chef der Abteilung für die besetzten Gebiete beim US-Außenministerium, in seinem Aufsatz „The German Economy", es gebe nur einen einzigen Weg, um die laufende Verschlechterung der Lage aufzuhalten, „durch organisierte Aktion — das heißt durch Planung". Für ihn wie für viele andere Anhänger des New Deal lautete die relevante Frage nicht, „ob es Planung geben muß ..., sondern ob diese Planung zielstrebig und effektiv ist" (Galbraith, 1948, S. 95). Solche Ratgeber betrachteten die Neo- bzw. Ordoliberalen als ihre Gegner. Röpke, der sein Heimatland 1947 und 1948 nach den langen Jahren der Emigration zum ersten Mal wieder besucht hatte, war äußert unzufrieden mit den „Experten" der Amerikaner: „Wie ihre alten Jeeps, so laden sie in Deutschland ihre drüben abgemeldeten New Dealer ab", beklagte er in einem Brief (Röpke an D o h m , 1.6.1948, in: IWP, N L Röpke). Wie die Alliierten neigten auch die maßgeblichen deutschen politischen Kräfte eher zu planwirtschaftlichen Rezepten für den Wiederaufbau. Offensichtlich war es der „Antikapitalismus, der die unmittelbare Nachkriegsdiskussion über eine wirtschafts- und sozialpolitische Neuordnung beherrschte" (Ambrosius, 1977, S. 14). Quer durch alle politischen Lager herrschte ein diffuses kollektivistisches Gefühl vor, das die zentrale Zuteilung von Ressourcen nicht nur als den gerechten, sondern auch als effizientesten Weg nahelegte. Die K P D , die aus der Ostzone propagandistische Unterstützung erhielt, forderte eine umfassende Kollektivierung, die traditionell sozialistische S P D strebte die Verstaatlichung großer Teile von Industrie und Gewerbe an. Auch in den Reihen der bürgerlichen C D U hatten solche Ideen prominente Fürsprecher. Jacob Kaiser, der führende Mann der Partei in Berlin, oder Johannes Albers, ein Vertreter des Arbeitnehmerflügels, predigten eine sozialistische Ordnung aus christlichen Motiven, die mit dem alten bürgerlich-liberalen Wirtschaftsmodell brechen und so den Klassenkampf überwinden werde.2 Ihre Mischung aus katholischer Soziallehre und gewerkschaftlichem Antikapitalismus fand breiten Anklang. Das im Februar 1947 verabschiedete Ahlener Programm der CDU in der britischen Zone forderte, ganz

Nach Ansicht Kaisers dämmerte ein „Zeitalter des werktätigen Volkes". Dazu hätte der „Rest der Menschen besitzbürgerlicher Lebensorientierung" seine Privilegien abzugeben; ohnehin seien die „Reste eines bürgerlichen Daseins im deutschen Volk" bereits weitgehend zerstört, meinte er im Jahr 1946 (zit. n. Ambrosius, 1977, S. 14).

2

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 257 christlich-sozialistisch, die Vergesellschaftung der Schwerindustrie und eine weitgehende staatliche Planung der Wirtschaft (vgl. ebd., S. 14-24).

1.1. Der Überzeugungstäter: Ludwig Erhard Aus Genf beobachtete Röpke die Entwicklung mit größter Sorge. An seinen Freiburger Kollegen Eucken schrieb er: „Ich halte daran fest, daß es jetzt nicht auf Massenwirkung, sondern auf Klärung, Kontakt und Verständnis in den kleinen und hoffentlich zur Führung berufenen Kreisen ankommt" (Röpke an Eucken, 2.10.1946, in: IWP, NL Röpke). In dieser Situation trat mit Ludwig Erhard ein Mann auf die politische Bühne, der offenbar zur Führung berufen war und in seinen wirtschaftspolitischen Auffassungen den neo- bzw. ordoliberalen Vorstellungen zuneigte. 3 In den Nachkriegswirren gelangte Erhard in nur drei Jahren in die entscheidende Position des Direktors der Wirtschaftsverwaltung der amerikanisch-britischen Bizone. An dieser Schaltstelle konnte er im Sommer 1948 den Hebel von Plan- auf Marktwirtschaft umlegen. Erhard gelang es, der CDU ihre sozialistischen Träume auszutreiben. „Die Planwirtschaft ist das Unsozialste, was es überhaupt gibt, und nur die Marktwirtschaft ist sozial", rief Erhard den Parteifunktionären der britischen Zone bei einem Treffen in Königswinter Anfang 1949 zu (zit. n. Mierzejewski, 2005, S. 137). Wenig später legte sich die CDU in den Düsseldorfer Leitsätzen auf die „soziale Marktwirtschaft" fest. Erhard wurde erster Wirtschaftsminister der Bundesrepublik und bald weltweit als Personifizierung des deutschen „Wirtschaftswunders" bekannt. Als im Mai 1945 Deutschland kapituliert hatte und die Besatzung begann, deutete noch nichts auf diese Karriere hin. Erhard war bereits ein Mann fortgeschrittenen Alters und öffentlich bislang kaum in Erscheinung getreten, nur in Fachkreisen war er als Ökonom bekannt. 4 Von seinem Doktorvater Franz Oppenheimer hatte er eine Abneigung gegen Kartelle, Monopole und die Macht der Interessengruppen übernommen (vgl. ebd., S. 25) . 5 Prägend war auch die Erfahrung der Hyperinflation, die seine Familie schwer schädigte. Geldwertstabilität galt ihm fortan als äußerst wichtig. Ab 1928 hatte er als Assistent beim Nürnberger Institut für Wirtschaftbeobachtung der deutschen Fertigwaren beruflich Fuß fassen können, einer Einrichtung zur empirischen Markt- und Konsumforschung. Durch

3 Zu Leben und Bedeutung Erhards vgl. Hentschel (1998) und Mierzejewski (2005). Letztere Arbeit ist ersterer vorzuziehen, die trotz ihrer historischen Detailfülle ein ressentimentgeladenes, zuweilen hämisches Zerrbild zeichnet (vgl. Fack, 1996; Starbatty, 1997). Hentschels ökonomische Analyse verfehlt den Kern der Erfolgsgeschichte der „Sozialen Marktwirtschaft" der frühen Bundesrepublik. Mierzejewskis Darstellung dagegen ist weniger detailverliebt, arbeitet aber die großen Linien von Erhards marktwirtschaftlicher Konzeption, insbesondere auch sein Verständnis des Beiworts „sozial", klarer heraus. 4 Der 1897 im fränkischen Fürth geborene Sohn eines Textilhändlers hatte nach Teilnahme am Ersten Weltkrieg ein Studium an der neugegründeten Nürnberger Handelshochschule absolviert und ab 1922 in Frankfurt bei Franz Oppenheimer promoviert, der sich als „liberaler Sozialist" bezeichnete und recht heterodoxe ökonomische Theorien vertrat. Zu Oppenheimers Theorie der „Bodensperre" und seiner Forderung nach einer Enteignung von Großgrundbesitzern vgl. Haselbach (2000, S. 71-74). 5 Wohl war Oppenheimer andkapitalistischer Gegner der „Profitinteressen", doch zugleich ein radikaler Individualist und Anti-Etaast. Er mißtraute der lenkenden Hand des Staates und befürwortete eine unverfälschte Wettbewerbswirtschaft mit freien Marktzugangsmöglichkeiten und Chancen für alle, eine „Gesellschaft der Freien und Gleichen". Nicht ein Übermaß an marktwirtschaftlichem Wettbewerb, sondern die Abwesenheit desselben und seine Verfälschung durch Monopolisten waren demnach die für soziales Elend verantwortlichen Übel der Zeit.

258 • Wandlungen des Neoliberalismus seine Arbeit konnte Erhard wichtige Kontakte zu Vertretern der deutschen Wirtschaft und Wissenschaft knüpfen. So machte er Bekanntschaft mit Rüstow und Müller-Armack. Zudem studierte er neuere volkswirtschaftliche Arbeiten, darunter Euckens und Böhms monopolkritische und ordnungspolitische Schriften (vgl. ebd., S. 35 u. 47-49). Während des Zweiten Weltkrieges arbeitet Erhard in einem kleinen privaten Forschungsinstitut, machte sich aber bereits eigene Gedanken zu einem ordnungspolitischen Neuanfang. Anfang 1944, als die militärische Niederlage bereits absehbar war, verfaßte Erhard eine geheime Denkschrift zur Frage der Kriegsschulden und des Ubergangs zur Friedenswirtschaft. Als das entscheidende Problem erkannte er den extremen Geldüberhang nach Jahren der monetären Expansion durch die Nationalsozialisten (vgl. Herbst, 1982, S. 410415). Würde das Ungleichgewicht zwischen Geld- und Gütermenge nicht gelöst, schien der wirtschaftliche Aufbau nach dem Krieg schwer gefährdet. Erhard präsentierte ebenso einfache wie radikale Schritte zur Schuldenkonsolidierung und zur Überwindung des Geldüberhangs (vgl. ebd., S. 424-428). Weiter plädierte er für eine schrittweise Abschaffung der Preiskontrollen und für eine Rückkehr zur Koordination über den Markt. So schrieb er in der Einleitung: „Ich war und bin der Auffassung, daß die günstigste Methode, den öffentlichen Bedarf zu decken, immer noch die über den Wettbewerb am Markte ist", schrieb er im Vorwort (Erhard, 1943-44/1977, S. ix). Seine Denkschrift schloß mit Sätzen, die an das Credo der Ordoliberalen erinnerten: „Nie mehr wird der Staat in die Rolle des Nachtwächters zurückverwiesen werden, denn auch die freieste Marktwirtschaft, und gerade diese, bedarf eines Organs der Rechtssetzung und Rechtsüberwachung." Wenn hier auch Skepsis gegenüber einer Politik des Laissez-faire deutlich wurde, stellte er doch klar, „das erstrebenswerte Ziel bleibt in jedem Falle die freie, auf echtem Leistungswettbewerb beruhende Marktwirtschaft mit den jener Wirtschaft immanenten Regulativen" (ebd., S. 264). 6 Das Kriegsende hatte Erhard in Fürth erlebt. Die Amerikaner betrauten ihn mit der Aufgabe, das Wirtschaftsamt in seiner Heimatstadt neu zu organisieren. Schon im Oktober 1945 sandten sie ihn als Wirtschaftsminister ins bayerische Kabinett, vermutlich weil sie ein Gegengewicht zum sozialistischen Regierungschef Wilhelm Hoegner haben wollten. 7 Für kurze Zeit lehrte er dann als Honorarprofessor an der Universität München, bis er im Herbst 1947 auf Vorschlag der FDP zur in Bad Homburg angesiedelten Sonderstelle Geld und Kredit abgestellt und bald deren Leiter wurde. Damit war Erhard in die Nähe des Zentrums der amerikanischen und britischen Besatzungsmacht in Deutschland gelangt. Seine Stelle arbeitete dem Frankfurter Wirtschaftsrat der Bizone zu und hatte die Aufgabe, Grundsatzfragen einer bevorstehenden Währungsreform zu klären. Erhards marktwirtschaftliche Prinzipien hatten sich in den vergangenen zwei Jahren trotz politischer Anfechtungen gefestigt. Seine Nähe zu ordoliberalen Anschauungen war nun unverkennbar, wenn er dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage am Markt grundsätzlich die Fähigkeit zu einer optimalen

Während die Auftraggeber der Studie, ein Kreis um Rudolf Stahl, den Chef der Reichsgruppe Industrie, skeptisch blieben und sie durch Gegenentwürfe zu relativieren versuchten, war Goerdeler beeindruckt. Der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister, nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler im Juli 1 9 4 4 auf der Flucht vor der Gestapo, notierte, Erhard habe zur Schuldenfrage „eine sehr gute Arbeit" verfaßt. Mit ihm sei man „gut beraten", so Goerdeler (zit. n. Hentschel, 1998, S. 38). 6

Diese erste Erfahrung Erhards als aktiver Politiker währte nur knapp über ein Jahr. Spannungen mit der CSUBauernlobby und den Gewerkschaften veranlaßten Erhard, das Kabinett zu verlassen (vgl. Benz, 1983, S. 424). 7

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 259 Ressourcenlenkung zusprach, den Staat jedoch als Garanten des rechtlichen Wettbewerbsrahmens für unverzichtbar hielt. Im Januar 1948 legte Erhards Sonderstelle Geld und Kredit den Alliierten mit dem „Homburger Plan" ein erstes konkretes Konzept für die geplante Währungsreform vor. Kernstück des „Homburger Plans" war eine massive Reduzierung des monetären Überhangs. 8 Für Erhard stand außer Zweifel, daß eine Währungsreform nur in Verbindung mit einer umfassenden Wirtschaftsreform Erfolg haben könnte, zumal das bisherige bürokratische Rationierungssystem immer augenfälliger zur Erstarrung des offiziellen wirtschaftlichen Lebens und einer Verdrängung der Güter auf Schwarzmärkte führte. Gegenüber Gewerkschaftsvertretern äußerte er Anfang 1948, daß nur eine Aufhebung der Kontrollen die verzerrte Preis- und Anreizstruktur der Wirtschaft heilen könne: „Ich behaupte, es gibt in Deutschland im Augenblick nicht einen richtigen Preis. Sie sind alle falsch. Jeder Preis ist falsch und jede Preisrelation ist falsch" (zit. n. Mierzejewski, 2005, S. 99).

1.2. Ordoliberale Vorarbeiten zur Wirtschaftsreform Nicht nur Erhard, auch die Freiburger Professoren um Walter Eucken hatten schon während des Krieges einige geheime Entwürfe für eine künftige Wirtschaftsordnung ausgearbeitet, so etwa die Ende 1942 entstandene christlich orientierte „Freiburger Denkschrift" von Eucken, Dietze, Lampe und dem Historiker Gerhard Ritter. Es hatte besonderer Mut dazugehört, an staatspolitischen Alternativen zum NS-Regime zu arbeiten, da dies im Fall einer Enttarnung als Hochverrat mit dem Tode geahndet worden wäre. Die vor allem von Ritter formulierten „Grundzüge einer politischen Gemeinschaftsordnung nach christlichem Verständnis" mischten protestantisch-konservative Ideen mit Forderungen nach umfassenden Menschen- und Bürgerrechten, während Eucken auf Elemente einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik gedrängt hatte. 9 Im Anhang 4 zur „Wirtschafts- und Sozialordnung" schrieben Eucken, Dietze und Lampe in scharfem Widerspruch zur Theorie und Praxis der nationalsozialistischen Wirtschaft, „eine auf weiteres Vorantreiben zentraler Leitung gerichtete und damit auf Vollendung des Kollektivismus hinauslaufende Wirtschaftspolitik ist abzulehnen". Statt dessen sollte Wettbewerb ermöglicht werden und „die Ordnung auf Selbstverantwortlichkeit der Einzelwirtschaftenden beruhen, sollen Markt- und Preisfreiheit herrschen" (zit. n. Rübsam/Schadek, 1990, S. 89). Selbst während der Phase des totalen Krieges hatten die Freiburger innerhalb des staatlichen Systems gewisse Freiräume gefunden, um Alternativen zum NS-Regime zu formulieren. Solche Debatten fanden ab März 1943 in der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath statt. Sie war die diskrete Fortsetzung der ab 1940 bestehenden, 1943 als „nicht kriegswichtig"

Dies sollte durch Neutralisieren von 80 Prozent aller liquiden Mittel geschehen, weitere 15 Prozent sollten in Bankkonten eingefroren und nur 5 Prozent in neue Währung umgetauscht werden. Von alliierten Vorschlägen, etwa dem Colm-Dodge-Goldsmith-Plan, unterschied sich dieses Konzept durch eine schonendere Behandlung der Eigentümer von Staatsschuldpapieren. Deren Ansprüche sollten nicht einfach gestrichen werden, sondern in nicht handelbare Wertpapiere umgewandelt werden, bis sich die inflationäre Lage entspannt hätte. Damit bezog sich Erhard teilweise auf Gedanken, die seinem früheren Memorandum zur Schuldenkonsolidierung entstammten. 9 Zu Entstehung und dem Kreis der Mitarbeiter der Denkschrift vgl. Blumenberg-Lampe (1973, S. 21-29). 8

260 • Wandlungen des Neoliberalismus eingestellten Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre der Klasse IV der Akademie für Deutsches Recht unter der Leitung des Bonner Ökonomen Beckerath (vgl. BlumenbergLampe, 1973). Dieser weltanschaulich heterogenen Gruppe gehörten mehr als ein Dutzend regimekritischer Wissenschafder an, neben Beckerath, Eucken und Dietze auch Böhm, Heinrich von Stackelberg und Schmölders. 1943 rechneten sie mit dem baldigen Untergang des NS-Staats und machten sich daran, „ein wenigstens einigermaßen klar umrissenes wirtschaftspolitisches Programm zu entwerfen ..., um das Unsere zur Vermeidung eines vollendeten Chaos beizutragen", wie Lampe an Schmölders schrieb (zit. n. ebd., S. 40). Inmitten der Kriegswirren arbeiteten sie an mehr als vierzig Teilgutachten für die wirtschaftliche Transformation, den Übergang von der Kriegsproduktion zu einer „primär marktlichen Wirtschaftsordnung", wobei der Abbau der Zwangsbewirtschaftung aber mit „Ordnungsmaßnahmen" verbunden sei sollte (vgl. ebd., S. 61-65). Schon im November 1941 hatte Eucken in einer Studie „Wettbewerb als Grundprinzip der Wirtschaftsverfassung" drei Hauptschwächen der nationalsozialistischen Befehlswirtschaft aufgezählt: Sie sei zu starr und bediene vorzugsweise die Rüstungsindustrie auf Kosten der Konsumentenwünsche, der Preisstopp habe sie der echten Knappheitsindikatoren beraubt, und die enorme Kreditexpansion habe zu einer gefährlichen Diskrepanz zwischen Kaufkraft und Angebot geführt (vgl. Rieter/Schmolz, 1993, S. 99). Eucken erkannte Schwierigkeiten, die einer raschen Überführung in eine Marktwirtschaft nach dem Krieg im Wege stünden: Erst müsse die Geldmenge reduziert und die kartellistische Wirtschaftsstruktur aufgebrochen sowie eine wirksame Monopolkontrolle eingeführt werden, dann sei eine Rückkehr zum freien Markt denkbar. Eine solche wettbewerbliche Ordnung schwebte Eucken als „Dritter Weg" zwischen Laissez-faire und Planwirtschaft vor (vgl. ebd., S. 100). Im Sommer 1943, als die Niederlage immer wahrscheinlicher wurde, präzisierte Eucken seine Vorstellungen einer stufenweisen Transformation der gelenkten Kriegswirtschaft in eine freie Friedenswirtschaft. In der ersten, vorbereitenden Phase müsse die zentrale Planung weiter Teile der Wirtschaft noch beibehalten werden, um die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln zu sichern. Erst wenn der Kaufkraftüberhang bereinigt worden sei, könnte die Aufhebung der Preiskontrollen und der Rationierung beginnen (vgl. ebd., S. 103). Ähnliche Überlegungen trug Eucken nun vor, als Ende Januar 1948 erstmals ein Wissenschaftlicher Beirat der bizonalen Verwaltung für Wirtschaft zusammenkam. Obwohl die Debatten in einer freundlichen Atmosphäre geführt wurden, prallten doch inhaltlich unvereinbare Meinungen aufeinander. Die ordoliberale Fraktion war prominent vertreten mit Eucken, Böhm, Miksch und Lampe sowie verstärkt durch Beckerath, die den Tenor der Beratungen vorgaben (vgl. Nicholls, 1994, S. 186-205). Besonders Eucken war es zu verdanken, daß die Weichen der Diskussionen auf Markt und Wettbewerb gestellt wurden. Die gesamte existierende Preisstruktur sei nichtssagend, klagte er in ähnlichen Worten wie 1947 am Mont Pèlerin (vgl. ebd., S. 189). Ohne einen effektiven Lenkungsmechanismus sei keine Erholung der Wirtschaft zu erwarten. Auch Böhm, zum Vorsitzenden des Beirats gewählt, schlug in diese Kerbe und forderte eine rasche Aufhebung der Preiskontrollen. MüllerArmack schrieb die Produktionsengpässe der marktverzerrenden Wirkung der Kontrollen zu, wollte aber längere Übergangszeiten für die Lockerung der Bewirtschaftung in sensiblen Bereichen. Und Miksch, der Mitglied der SPD war, erklärte, es gebe kein unsozialeres und ungerechteres System als das der Schwarzmärkte. Während die einen gut verdienten, müßten

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 261

viele Not erleiden. Daher seien die Märkte zu deregulieren, um die wirtschaftlichen Aktivitäten wieder auf eine gesetzliche Basis zu stellen (vgl. ebd., S. 185 u. 202). Den Ordoliberalen im Beirat saßen sozialdemokratisch oder sozialistisch ausgerichtete Ökonomen gegenüber, angeführt von Gerhard Weisser, Karl Schiller sowie Wilhelm Kromphardt. Auch sie erkannten die Schwierigkeiten der verwalteten Mangelwirtschaft, wollten aber das Prinzip der zentralen Planung nicht aufgeben. Weisser, ein führender SPDMann, von den Briten 1945 als Finanzminister in Braunschweig eingesetzt und später Generalsekretär ihres Zonenbeirats, plädierte für eine gelockerte Lenkungsmethodik. Der Arbeitsmarkt sollte staatlich geplant und die Löhne „politisch" festgesetzt werden. Ebenso sollte die Planungsbehörde über Industrieansiedlung und Wohnungsbau entscheiden. Sein Ziel sei Vollbeschäftigung durch eine moderate indirekte Planung und makroökonomische Steuerung nach keynesianischem Muster, erklärte Weisser. Als Alternative zu einer Rückkehr zum Markt präsentierten die sozialistischen Ökonomen den von Kromphardt skizzierten Plan einer „Marktspaltung und Kernplanung". Eine Aufteilung ermögliche, daß neben dem geplanten Sektor auch ein schmaler marktwirtschaftlicher Bereich zugelassen werde. 10 Die SPD-Ökonomen waren zuversichtlich, mit dem Vorschlag bei der Mehrheit im Beirat durchzudringen. Hochgestimmt meinte Weisser im März 1948 in einem Brief an Erich Ollenhauer, den Vorsitzenden der SPD, die Beratungen im Wissenschaftlichen Beirat würden sich zugunsten der Planer entwickeln (vgl. ebd., S. 200). Aus Sicht der Ordoliberalen war zwar positiv, daß die sozialdemokratische Seite mit Kromphardts Entwurf auch marktwirtschaftliche und wettbewerbliche Steuerungselemente anerkannte. Allerdings erwies sich auch seine Methode der Planung „mit leichter Hand" als übermäßig kompliziert, hätte doch, so der Vorwurf, jede Hausfrau für den Kauf einer Nähnadel sogleich Bezugsrechte für Rohstahl vorlegen müssen. Die Methode der „Endkontingentierung" war offenkundig nur bedingt praktikabel und mußte bei Vor- und Zwischenprodukten in einer komplexen arbeitsteiligen Wirtschaft scheitern. Der im April 1948 verabschiedete Abschlußbericht des Wissenschaftlichen Beirats enthielt daher Euckens zentrale Forderung nach einer Freigabe der Preise, mit Ausnahme einiger Grundversorgungsgüter. Das Ende der Preiskontrollen müsse im Zuge der Währungsreform geschehen, ansonst wäre diese „wertlos, wenn nicht sogar gefährlich" (zit. n. ebd., S. 204). 11

10 Die mangelhafte Ausrichtung der Planwirtschaft auf die Wünsche der Konsumenten sollte demnach durch spezielle Bezugsrechte verbessert werden. Eine verfeinerte „Endkontingentierung" sollte die Zuteilung von Rohmaterialien rationaler nach dem Bedarf gestalten. Allerdings zeigten schon Kromphardts Beispiele für Konsumgüter, deren Herstellung und Vertrieb privat über den Markt erfolgen dürfe - namentlich erwähnte er die Produktion von Aschenbechern daß eben fast die gesamte Volkswirtschaft staatlich zentral gelenkt werden sollte (vgl. Nicholls, 1994, S. 198). 11 Auch Oswald von Nell-Breuning, der einflußreiche Vordenker der katholischen Soziallehre, stimmte letztlich mit den ordoliberalen Vertretern im Wissenschaftlichen Beirat. Später erklärte er seine Entscheidung für die Marktwirtschaft, daß diese eher der menschlichen Moral gemäß sei, da sie nicht — wie das System der Zentralverwaltungswirtschaft - die Menschen zwinge, ihren eigenen Interessen zuwider zu handeln, sich zu verbiegen und letztlich auch zu betrügen, wie es Franz Böhm betont hatte (vgl. Nell-Breuning, 1975, S. 469-470).

2 6 2 • Wandlungen des Neoliberalismus

1.3. Auftakt zum „Wirtschaftswunder" und die Rolle der MPS Die Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats war trotz einiger Unklarheiten ein deutliches Signal im Sinne der Neo- bzw. Ordoliberalen (vgl. Ambrosius, 1977, S. 167). Das Votum der Mehrheit um Eucken stärkte jene Kräfte in der Wirtschaftsverwaltung der Bizone, allen voran Erhard, die für eine Liberalisierung und Deregulierung standen, wenn sie vor dem großen Schritt auch noch zögerten. 12 Anfang März war Erhard überraschend zum Direktor der äußerst heterogen besetzten Wirtschaftsverwaltung gewählt worden. 13 Es fanden sich dort alle Schattierungen wirtschaftspolitischen Denkens, von Anhängern einer bürokratischen Zuteilungswirtschaft und marxistischen Planwirtschaftlern über gemäßigte Sozialisten bis hin zu ordoliberalen Marktwirtschaftlern. Von seinen Mitarbeitern konnte sich Erhard einzig auf Miksch, den Leiter der Grundsatzabteilung „Preise und Löhne" resdos verlassen, der bald zu seiner rechten Hand wurde. 14 In seiner Antrittsrede am 21. April 1948 erläuterte Erhard vor dem Wirtschaftsrat seine Pläne: Es gelte, „das Übel an der Wurzel anzupacken" und dem „Spuk der preisgestoppten Inflation" ein Ende zu setzen. Mit der Währungsreform müsse daher eine Umstellung der Wirtschaftsordnung einhergehen, um der Produktions- und Konsumseite mehr Spielraum einzuräumen und mit der „Befreiung von der staatlichen Befehlswirtschaft" das „entwürdigende Joch einer alles Leben überwuchernden Bürokratie" abzustreifen (Erhard, 1948/1988, S. 110). Nur durch Wettbewerb, der den Leistungswillen entfache, könne die wirtschaftliche Not überwunden werden. Dagegen wäre die „persönlichkeitstötende Gleichmacherei ein falsch verstandenes soziales Ethos", das niemandem helfen, dem ganzen Volk aber schaden und den Weg in eine bessere Zukunft verbauen würde (ebd, 112). Klar wurde, daß Erhard eine grundsätzliche Abkehr von der bisher gängigen alliierten Prämisse eines gelenkten Aufbaus beabsichtigte. Er sah seine Aufgabe nicht darin, die Politik der Rationierung und der Verwaltung des Mangels zu verbessern und effizienter zu gestalten, sondern sie so bald wie möglich abzuschaffen. Zwar schimpften einige Sozialdemokraten und Gewerkschafter über den neuen Direktor, doch offenbar nahmen sie seine gewagten Ankündigungen nicht ernst.

12 Wann genau Erhard den Entschluß für die Wirtschaftsreform traf, läßt sich schwer rekonstruieren. Zahlreiche Historiker haben aber darauf hingewiesen, wie entscheidend der Einfluß besonders Euckens auf ihn war (vgl. etwa Commun, 1993, S. 1994). Immer wieder wurde in neoliberalen Kreisen auch auf das „Beispiel Belgien" hingewiesen, wo nach 1945 eine marktwirtschaftliche Wende im Kleinen gelungen war (vgl. Baudhuin, 1953). 13 Bald nach Gründung der Behörde 1947 war der marxistische Ökonom Viktor Agartz auf den Chefposten gelangt, der für die Beibehaltung der Bewirtschaftungsvorschriften und zentrale ökonomische Planung stand, aber im Juli 1947 wegen Differenzen mit den Briten zurücktrat. Zu seinem Nachfolger wurde mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP der CSU-Politiker Johannes Semler bestimmt, der jedoch nach einer abwertenden Bemerkung über die Wirtschaftspolitik der Alliierten - er hatte Hilfslieferungen öffentlich als „Hühnerfutter" bezeichnet - seinen Hut nehmen mußte. Ohne Semlers „lästerliches Reden" wäre Erhard nicht in die entscheidende Position aufgestiegen (Hentschel, 1998, S. 61). Seine Wahl erfolgte nur mit knapper Mehrheit, auch aus den Reihen der CDU kamen einige Gegenstimmen, die Jakob Kaiser, der Frontmann des linken Flügels organisiert hatte (vgl. ebd., S. 64). Nach Ansicht von Nörr (1999) bedeutete das Ausscheiden von Agartz eine Vorentscheidung gegen die Planwirtschaft; die eigentliche Entscheidung für die Marktwirtschaft erfolgte aber erst mit der Wahl Erhards im März 1948. 14 Schon im Herbst 1946 hatte Miksch geschrieben, daß die Zeit für eine fundamentale Weichenstellung schon bald kommen könne: Es sei „notwendig, sich über die endgültig angestrebte Wirtschaftsverfassung eine möglichst genaue Vorstellung zu machen"; auch durch Maßnahmen, die keine grundsätzliche Entscheidung über die künftige Wirtschaftsordnung „im günstigen oder ungünstigen Sinne präjudizieren", erkannte Miksch (zit. nach Ambrosius, 1977, S. 114). Er selbst strebte die „Marktform" der vollständigen Konkurrenz im ordoliberalen Sinne an (vgl. ebd.).

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 263 Eine Abkehr von der Bewirtschaftung schien den meisten von ihnen unter den gegebenen Umständen völlig undenkbar. 15 Erhard fädelte die Preisfreigabe dennoch ein, weitgehend heimlich und fast handstreichartig. Während die alliierten Militäradministrationen der Bizone unter der Leitung des amerikanischen Wirtschaftsfachmanns Edward Tenenbaum immer konkretere Schritte auf eine Währungsreform hin machten und dabei wenig Rücksprache mit den Deutschen hielten, bereiteten Erhard und seine Mitarbeiter im Windschatten der alliierten Planungen ein Gesetz über die „Leitsätze zur Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform" vor. Nur ein kleiner Kreis war eingeweiht. Die Federführung lag bei Miksch, auch Müller-Armack war an der endgültigen Formulierung beteiligt (vgl. Ambrosius, S. 172-173 u. 180). Das nur aus vier Artikeln bestehende „Leitsätzegesetz" klang harmlos. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine Neuformulierung der bestehenden Richtlinien für Preiskontrollen. Tatsächlich enthielt es nichts Geringeres als eine Generalvollmacht für Erhard, nach seinem Ermessen Preiskontrollen abzuschaffen. 16 Recht überraschend gaben dann die Besatzungsmächte den westdeutschen Wirtschaftsbeamten den Termin für die Währungsreform für den 20. Juni 1948 vor. Sie gestand jedem Bürger ein Kopfgeld von 40 D-Mark zu, machte darüber hinaus aber 90 Prozent der alten Barbestände und rund 93,5 Prozent der Bankguthaben auf Reichsmark ungültig. 17 Erhard blieben nur wenige Tage für die Beratung des „Leitsätzegesetzes". Unter Hinweis auf die Zeitnot gelang es Erhard, den Frankfurter Wirtschaftsrat regelrecht zu überrumpeln. Wie zu erwarten, griffen die Sozialdemokraten sein gewagtes Vorhaben am 17. und 18. Juni 1948 heftig an. Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher warnte vor einem „Stahlbad der freien Preise" und beklagte: „Es ist meinem Gefühl nach ein überaus fragwürdiger Schritt, einen todkranken Mann ins kalte Wasser zu schmeißen, und die deutsche Wirtschaft ist ein todkranker Mann seit drei Jahren." Das „Restchen von Pulsschlag, das diese kranke Wirtschaft noch hat", werde man am Tag der Währungsreform kaum noch sehen, warnte der SPD-Mann (zit. n. Erhard, 1957, S. 106-107). Trotz des erbitterten Widerstands gelang dem auf parlamentarischem Parkett noch unerfahrenen Direktor der Wirtschaftsverwaltung also sein Coup. Gegen die Abgeordneten der Linken stimmte eine knappe Mehrheit des Wirtschaftsrats dem „Leitsätzegesetz" zu. Später

15 So schrieb die linksliberale Journalistin Marion Gräfin Dönhoff rückblickend: „Obgleich alle die Zwangswirtschaft satt hatten, denn sie hatte dazu geführt, daß es überhaupt keine Waren mehr gab, weil niemand mehr bereit war, für Geld etwas zu verkaufen oder gegen Geld irgendeine Arbeit zu leisten, konnte sich niemand vorstellen, auf welche Weise man dieses System beseitigen könne". Nachdem sie auf einer Pressekonferenz Erhards forschen Plan gehört hatte, entfuhr es der späteren Herausgeberin der Zeit gegenüber Kollegen „Gott schütze uns davor, daß der einmal Wirtschaftsminister wird. Das wäre nach Hitler und der Zerstückelung Deutschlands die dritte Katastrophe" (Dönhoff, 1981, S. 148-150). 10 In der sozialdemokratischen Presse gab es dazu wütende Kommentare. Einer erkannte klar, wer die geistigen Urheber des Gesetzes waren: „Man glaubt abermals, Eucken und seine Schule, Röpke, Hayek und die anderen Neuliberalen dem Verfasser der ,Leitsätze' über die Schulter blicken zu sehen" (zit. n. Ambrosius, 1977, S. 180). 17 Der amerikanische Plan zum Währungsschnitt traf die Sparer ungleich härter, als dies dem Wunsch Erhards und anderer deutscher Experten entsprochen hatte. Mit einem Schlag verloren die Besitzer von Sparkonten oder festverzinslichen Wertpapieren mehr als neun Zehntel ihres Vermögens, während jene begünstigt waren, die Grund und Boden oder Sachwerte besaßen oder Schulden hatten. Aus diesem Grund forderte die deutsche Seite einen Lastenausgleich, der aber erst mit Verzögerung anlief und nur sehr begrenzt Ausgleich zwischen Gewinnern und Verlierern schaffte.

264 • Wandlungen des Neoliberalismus wurde hervorgehoben, wie Erhard bei der Vorbereitung mit einer „seltsam traumwandlerisch anmutenden Zielsicherheit" agierte (Benz, 1983, S. 432). Noch am Abend nach der Währungsreform kündigte Erhard im Rundfunk an, in der kommenden Woche einen Großteil aller Preiskontrollen aufzuheben. Ausgenommen davon waren lediglich eine Reihe von Grundnahrungsmitteln, Rohstoffe wie Kohle, Eisen und Ol sowie die Tarife für Elektrizität, Gas und Wasser. Die Warnungen von Seiten der SPD, den „todkranken Mann" nicht „ins kalte Wasser zu schmeißen", erwiesen sich als falsch. Wie Müller-Armack vorhergesagt hatte, bedeutete die Preisfreigabe nicht den „Sprung ins Dunkel und ins Chaos, sondern umgekehrt den Schritt aus dem Chaos in die natürliche Ordnung1 (Müller-Armack, 1948/1974, S. 104, kursiv i. Orig.). Die deutsche Volkswirtschaft fing erstaunlich rasch wieder an, sich zu regen, nachdem die hemmenden Fesseln der Kontrollen und Bewirtschaftungsvorschriften gefallen waren. Beide Maßnahmen, Währungsreform und Wirtschaftsreform, gehörten zusammen. 18 Erstere vernichtete den Geldüberhang und minderte so die Gefahr einer Inflationslawine, sobald die Preise freigegeben wurden. Und letztere ermöglichte es den Unternehmen, zu einer realistischen Kostenrechnung zurückzukehren. Folglich wurden Waren und Vorprodukte nicht mehr gehortet oder über Tauschgeschäfte verschoben, sondern auf dem Markt offen angeboten. Die Preise konnten wieder als Knappheitsindikatoren wirken, was eine deutlich effizientere Ressourcenallokation brachte. Ebenso stieg die Arbeitsproduktivität, sobald die Löhne in einer Währung bezahlt wurden, die reale Kaufkraft versprach. Fast zeitgleich mit dem Währungsschnitt trat zudem eine Steuerreform in Kraft, die den bisherigen konfiskatorischen Grenzsatz der Einkommensteuer senkte und höhere Abschreibungen zuließ. Zusammen stellten all diese Maßnahmen das Musterbeispiel einer radikalen Angebotsreform dar. Sie erhöhten die Anreize für Leistung und Investition und steigerten die Allokationseffizienz. Damit wurde das in den Jahren der Kontrollen und Bewirtschaftung gehemmte wirtschaftliche Potential freigesetzt, der Motor der Wachstumskräfte sprang an. Nach Jahren des Mangels schienen die Schaufenster plötzlich von Waren überzuquellen. Die Produktion zog innerhalb eines halben Jahres um bemerkenswerte 50 Prozent an. Zugleich bedeutete das Ende der staatlich kontrollierten Preise, daß diese steigen konnten, für einige Monate sogar rascher als die noch gestoppten Löhne. Zudem, was ebenfalls vorhersehbar war, kletterte die Zahl der registrierten Arbeitslosen in bedenkliche Höhen, nachdem die bislang verdeckte Erwerbslosigkeit offengelegt wurde. Trotz aller Freude über die verbesserte Versorgungslage war Erhards Politik daher hochgradig umstritten. Wütende Proteste und Demonstrationen bis zu einem Generalstreik der Gewerkschaften richteten sich gegen Erhard. Auch bekannte ausländische Ökonomen des keynesianischen Lagers, etwa Walter Heller, äußerten harsche Kritik. Und der Oxford-Dozent Thomas Balough, später geadelter Berater einer britischen Labour-Regierung, warnte düster, die Alliierten begingen einen großen Fehler, indem sie Erhards fatales Experiment duldeten (vgl. Hutchison, 1981b, S. 166-168).

18 Eucken hatte dies zehn Tage vor Erhards großer Tat in einem Zeitungsartikel angesprochen: „Währungsreform, Aufhebung der staatlichen Preisbindungen und des Bewirtschaftungssystems sind . . . komplementäre, sich gegenseitig ergänzende wirtschaftspolitische Akte" (Eucken, 1948b).

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 265

Im Inland wie im Ausland war Erhard also umstritten. 19 Für den derart bedrängten Wirtschaftsdirektor war es eine große Hilfe, als im August 1948 ein Gutachten von Röpke erschien, das Adenauer in Auftrag gegeben hatte. Unter dem Titel „Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig?" verteidigte Röpke die Politik Erhards gegen Anfeindungen: „Auch der hartnäckigste Gegner der Marktwirtschaft muß anerkennen, daß sie, gemessen an dem durch sie überwundenen Zustand, ein ungeheurer Erfolg und ein Experimentalbeweis für die Überlegenheit eines Wirtschaftsprinzips ist, so überzeugend, wie ihn die Wirtschaftsgeschichte kein zweites Mal kennt." Es sei „der Unterschied zwischen heute und damals", also vor den Reformen vom Juni 1948, „so ungeheuer, daß Ausländer, die nach einigen Jahren nach Deutschland zurückkehren, von einem Wunder sprechen" (Röpke, 1950, S. 18). 20 Dank solcher Rückendeckung konnte Erhard seine ordnungspolitische Grundsatzentscheidung gegen Angriffe verteidigen und Kurs halten. Selbst während der Koreakrise, als 1951 erneut Inflationsängste aufkamen, von verschiedenen Seiten der Ruf nach einer Wiedereinführung von Kontrollen und Bewirtschaftung ertönte und zugleich eine Lockerung der Geldpolitik und eine Stärkung der Nachfrage durch staatliche Ausgaben gefordert wurde, um dem befürchteten Konjunktureinbruch zu begegnen, wich Erhard dem politischen Druck geschickt aus. Das ihm auferlegte staatliche Investitionspaket verkleinerte und verzögerte er bis gegen Ende 1951, als der nun tatsächlich eintretende, exportinduzierte Aufschwung es gänzlich überflüssig machte. Mit der Koreakrise überwand die deutsche Volkswirtschaft die Durststrecke nach der Liberalisierung und fand zu dauerhaftem, sehr kräftigem Wachstum. In den fünfziger Jahren nahm das deutsche B I P real um durchschnittlich knapp 8 Prozent jährlich zu, im stärksten Jahr des ersten Wachstumszyklus, 1955, stieg es gar um 12 Prozent. Die Arbeitslosigkeit, die 1950 kurzzeitig auf 12 Prozent geklettert war, fiel nun rasch und kontinuierlich. Gegen Mitte der fünfziger Jahre herrschte praktisch Vollbeschäftigung, mit dem Versiegen des Stroms von Flüchtlingen aus dem Osten begann sich sogar ein Mangel an Arbeitskräften bemerkbar zu machen. Das Gerede vom deutschen „Wirtschaftswunder", das Röpke in seinem Gutachten erwähnt hatte, nahm alsbald überhand. Erhard selbst betonte, in der Wirtschaft gehe es nicht mit übernatürlichen Kräften zu. Der grandiose Aufstieg in den Westzonen sei Ergebnis des durch richtige Anreize zu voller Entfaltung gebrachten ökonomischen Potentials der deutschen Volkswirtschaft. Auch Erhards neoliberale Anhänger in der MPS stimmten zu. Korrekt müsse man von einer „Wirtschaft ohne Wunder" sprechen, so Hunold 1953 in seiner Einleitung zu einem Sammelband gleichen Namens, der Aufsätze zahlreicher prominenter MPS-Mitglieder, von Hayek bis Einaudi, vereinte. Es gebe kein Wirtschaftswunder, erklärte er, „weil der offensichtliche Erfolg der Politik der Marktwirtschaft das folgerichtige Ergebnis der Entfesselung der individuellen Kräfte im Rahmen einer die Einzelinteressen auf das Gesamtinteresse ausrichtenden Wirtschaftsordnung ist" (Hunold, 1953, S. 8). Jahrzehnte später erklärte Hayek zum Aufschwung nach 1948: „Ich muß gestehen, daß ich immer ein wenig das Gefühl habe, daß das deutsche Volk nicht wirklich weiß, was es Ludwig Erhard

19 Daß er nicht schon 1948 gestürzt worden war, lag wohl am „Wohlwollen General Clays, der Erhard gegen die Sachverständigen der eigenen Militäradministration unterstützte" (Ambrosius, 1977, S. 181). 2 0 Auch andere emigrierte neoliberale Wissenschafder aus dem Kreis der MPS, etwa Lutz und Haberler, schrieben lobende Artikel zu Erhards Wirtschaftspolitik (vgl. Hutchison, 1981b, S. 165).

266 • Wandlungen des Neoliberalismus verdankt. Das wirkliche Wunder am deutschen Wiederaufstieg und seine hauptsächliche Ursache sind, daß die anderen Verantwortlichen Ludwig Erhard gewähren ließen. ... Was dann folgte, war, was er beabsichtigt hatte, und kein wirkliches Wunder mehr" (zit. n. Hennecke, 2000, S. 269-270). 21 Welches waren die bestimmenden Ursachen für die marktwirtschaftliche Wende in Westdeutschland? Sowohl Keynes als auch Hayek waren der Ansicht, den „Ideen" der Ökonomen, also ihren Theorien, Spekulationen und praktischen Entwürfen, käme die überragende Rolle zu, den Lauf der Geschichte zu lenken. Dies galt, betonten beide, aber nur langfristig. Kurzfristig können „Ideen" nur in einem günstigen historischen Umfeld wirkmächtig werden. 22 In den drei Westzonen des besetzten Deutschlands profitierte die relativ kleine Gruppe neo- bzw. ordoüberaler Denker von einer historisch günstigen Konstellation. Nach dem Zusammenbruch von 1945 bildete sich kurzfristig eine Art geistiges und politisches Vakuum, die gesamte überkommene staatliche Ordnung stand zur Disposition. Sie propagierten ihre Vorstellungen einer Wettbewerbsordnung in Abgrenzung zu den Erfahrungen mit der gelenkten Ökonomie der Preiskontrollen und Ressourcenzuteilung, deren Fortbestehen nach 1945 katastrophale Ergebnisse zeigte. Am Beispiel des nationalsozialistischen Regimes konnten Eucken und seine Mitstreiter die Gefahren des Totalitarismus illustrieren, die politisch wie ökonomisch mit zentraler Planung einhergingen. Mit dieser Argumentation drangen sie bei den entscheidenden Weichenstellern in Deutschland durch (vgl. Hutchison, 1981b, S. 158 u. 160). Mit einigen wissenschaftlichen Vordenkern des deutschen Neo- bzw. Ordoüberalismus stand Erhard, wie schon erwähnt, bereits seit den dreißiger Jahren in Kontakt, andere lernte er Mitte der vierziger Jahre persönlich kennen oder las zumindest ihre Schriften. An Röpkes im NS-Reich verbotene Trilogie „Gesellschaftskrisis der Gegenwart", „Civitas humana" und „Internationale Ordnung" gelangte er auf illegalem Wege, noch während der trostlosen Endphase des Krieges, und saugte sie auf „wie die Wüste das Wasser" (Erhard, 1959, S. 12). Zu einem direkten Austausch zwischen dem Wirtschaftsdirektor und dem Gelehrten aus Genf

Obwohl die These, Westdeutschlands Aufschwung habe primär mit der doppelten ordnungspolitischen Weichenstellung von Währungs- und Wirtschaftsreform zu tun, in der Forschung bis heute dominiert, wurde verschiedentlich Einspruch erhoben. Die Vertreter der sogenannten „Rekonstruktionshypothese", angeführt seit den siebziger Jahren von Werner Abelshauser, sehen schon vor 1948 eine beginnende wirtschaftliche Erholung und verweisen auf die dafür günstigen Ausgangsbedingungen, etwa den hohen Anteil unzerstörter industrieller Kapazität und das Angebot gut ausgebildeter Arbeitskräfte, wie auch auf Investitionen der Nationalsozialisten in Ausbildung und Modernisierung (vgl. Abelshauser, 1999). Die Studie von Ludger Lindlar (1997) legt einen Schwerpunkt auf das Potential für „catching up", also das Schließen der technologischen Lücke der Bundesrepublik, aber auch anderer europäischer Länder gegenüber den Vereinigten Staaten, so daß Nützenadel (2002) einen „Abschied vom ,Sonderweg'" postuliert hat, als den man den Erfolg von Erhards ordoliberaler Wirtschaftsordnung nicht sehen dürfe. In seiner Erhard-Biographie hat Hentschel (1998, S. 214) behauptet, die „Ordnung war in England oder Frankreich so anders nicht, auch wenn sie dort des werbenden Namens und des großen Getues darum entbehrte". Mierzejewski (2005, S. 186-188) vertritt die gegenteilige Auffassung und betont, daß die sowjetische Zone in den fünfziger Jahren keinen vergleichbaren Aufschwung erlebte und auch die französische Zone, wo das Ende der Bewirtschaftung mit Verzögerung kam, sich langsamer entwickelte. In einer Gegenüberstellung von „Strukturbruch-" und „Rekonstruktionsthese" zeigt schließlich Prollius (2006, S. 92-95), wie die Liberalisierung unter Erhard der deutschen Wirtschaft bei ihrer Aufholjagd einen besonderen Schub und größere Chancen zur Ausschöpfung des ganzen Wachstumspotentials gab. 21

„Ideen haben im Allgemeinen, wenn sich nicht äußere Umstände mit ihnen vereinen, keine sehr schnelle oder unmittelbare Wirkung auf die Angelegenheiten der Menschen", so die Ansicht von John Stuart Mill (1845, S. 503). 22

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 267

kam es erstmals im August 1948. Mit Röpkes Freiburger Freund Eucken pflegte Erhard bereits seit Anfang 1948 eine lockere Arbeitsbeziehung, seit dieser bei den Besprechungen des Beirats der Frankfurter Wirtschaftsverwaltung das Wort geführt und dort für die Reformpläne wissenschaftlichen Rückhalt organisiert hatte. Eucken als Vizepräsident der MPS war es auch, der zu Jahresbeginn 1950 die Aufnahme Erhards in die Gesellschaft einfädelte. Die MPS war zu diesem Zeitpunkt noch eine völlig unbekannte Vereinigung von versprengten Neoliberalen, die in ihren Ländern und an ihren Universitäten zumeist isoliert waren und — von einigen Ausnahmen abgesehen - eher wenig publizistischen oder gar politischen Einfluß hatten. 23 Dennoch freute sich Erhard und fühlte sich geschmeichelt, in dem internationalen Wissenschafderkreis freundliche Aufnahme gefunden zu haben (vgl. Erhard an Eucken, 13.2.1950, in: HIA, MPS-Slg. 30). 1951 nahm er erstmals an einem der damals noch recht überschaubaren und geradezu familiären MPS-Treffen teil; seinen ersten Auftritt als Redner vor der Gesellschaft in Seelisberg nutzte er, um für die Einführung der Währungskonvertibilität in Europa zu werben (vgl. Mötteli, 1953). Rückblickend auf diese unruhigen Jahre war sich Hayek sicher, daß die neoliberale Truppe um Erhard, die Westdeutschland gegen alle Widerstände zur Marktwirtschaft führte, „erhebliche Kraft aus der Tatsache schöpfte, daß sie ... die Unterstützung und die intellektuelle Kraft einer neuen internationalen Bewegung hatten" (Hayek, 1972/1973, S. 5-6). Die Gruppe der Deutschen in der MPS wurde in dem Jahr, als der westdeutsche Wirtschaftsminister zu ihr stieß, durch zwei Todesfälle empfindlich geschwächt: Im April 1950 starb gänzlich unerwartet Eucken, im September 1950 folgte ihm Miksch. In den Augen der Ordoliberalen war besonders der Verlust Euckens eine wahre Katastrophe, hatte doch der erst 59jährige Freiburger Ökonom mit seiner strengen ordnungspolitischen Systematik der in ihrer wirtschaftspolitischen Grundsatzentscheidung noch gefährdeten jungen Bundesrepublik eine feste Orientierung zu geben versprochen. Aus London schrieb Robbins, der Euckens Gastgeber bei dessen Vortragsreise an die LSE war, wo dieser plötzlich und ohne Vorwarnung einem Herzschlag erlag: „So starb eine der nobelsten Persönlichkeiten unserer Zeit. Sie können sich die unaussprechliche Trauer und den Schock vorstellen, den wir fühlten" (zit. n. Hunold an Hayek, 24.7.1950, in: IWP, NL Hunold). In Zürich zeigte sich der Europäische Sekretär der MPS recht besorgt, denn er hatte „den Eindruck, daß seit dem Hinschied Euckens eine deutliche Lücke in der Kampffront des Liberalismus zurückgelassen worden ist" (Hunold an Rüstow, 24.7.1950, in: ebd.). Anfang 1954, knapp vier Jahre nach Euckens Tod, gründeten seine Freunde und Weggefährten in Freiburg das Walter-Eucken-Institut, einen frühen Think Tank der Ordoliberalen. 24

Es ist daher eine groteske, wenn auch für viele linksgerichtete Autoren typische Überschätzung der Macht des MPS-Netzwerks, wenn Roth (2001, S. 13-14) schreibt: „Jetzt [nach Aufnahme Erhards in die MPS] begannen die Vertreter der Alliierten Hochkommissare und der befreundeten Regierungen des Marshallplan-Blocks vorsichtiger zu verhandeln, denn im Konfliktfall konnten die Bonner Wirtschaftspolitiker künftig auf die Argumentationshilfen marktliberaler Theoretiker und Denkfabriken aus London, Chicago, New York, Paris, G e n f und Zürich zurückgreifen. Auch die Widersacher im eigenen Lager und die Sprecher der sozialdemokratischen Opposition hatten jetzt das Nachsehen." 23

Im Kuratorium des Walter-Eucken-Instituts, dessen erster Vorstand Friedrich A. Lutz und Fritz W. Meyer, erster wissenschaftlicher Leiter Karl Friedrich Maier war, saßen in den fünfziger Jahren zahlreiche deutsche und ausländische MPS-Mitglieder, so Brandt, Constantin von Dietze, Einaudi, Edith Eucken-Erdsiek, Haberler, Hayek, 24

268 • Wandlungen des Neoliberalismus Mit Miksch, dem Autor des „Leitsätzegesetzes", verlor Erhard just während der Korea-Krise einen Mitarbeiter, der ihm in der heißen Phase des Kampfes um die Wirtschaftsreform treu zur Seite gestanden hatte. 25 Zugleich wurde die MPS um einen Mitstreiter ärmer, der noch 1949 beim Treffen in Seelisberg mit seiner Interpretation des Neoliberalismus für Diskussionen gesorgt hatte. Miksch gehörte zu jenen, die den Bruch mit dem klassischen Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts in besonderer Weise betonten. Dessen Glauben an eine sich natürlich einstellende, harmonische Ordnung ohne Zwang hielt er für verfehlt und naiv. Man müsse diesen Uberoptimismus der alten Liberalen als Irrtum erkennen, so Miksch vor der MPS, da sie den Willen zur Macht und zur Durchsetzung egoistischer Ziele vernachlässigt hätten. Ihre rein negative Formulierung des Prinzips der Wirtschaftsfreiheit habe damit „kollektivistische" (gemeint waren vor allem kartellistische Tendenzen) begünstigt. Wahre Freiheit und echte Entfaltung des Individuums seien nur innerhalb einer rechtsstaatlich garantierten Wettbewerbsordnung möglich, erklärte er. Die Wettbewerbsordnung verspreche nicht Harmonie, sondern Gerechtigkeit, sie verspreche keine Sicherheit, sondern eröffne Chancen für jeden einzelnen, sich am Markt zu bewähren (vgl. Miksch, 1949). Eine systematische und lange Zeit sehr einflußreiche Darstellung der Funktionen des Staates in der ordoliberalen Wirtschaftsordnung hatte Eucken entwickelt. Sie umfaßte sieben unverzichtbare „konstituierende" Prinzipien: ganz oben der freie Preismechanismus nach dem Ideal der vollständigen Konkurrenz, dann Geldwertstabilität, Marktoffenheit, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Haftungspflicht und wirtschaftspolitische Konstanz. Nicht umsonst hatte Eucken das Prinzip wettbewerblich organisierter und flexibler Märkte an die erste Stelle gestellt; dieses folgte aus seiner Analyse des früheren Scheiterns der deutschen Wirtschaft. Auch das Gebot der Geldwertstabilität entsprang den traumatischen deutschen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit. Ebenso sahen die Ordoliberalen ihre Forderung nach Offenheit der Märkte als eine Lektion der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Institution des Privateigentums galt ihnen sowohl als Voraussetzung für einen effizienten Einsatz von Produktionsfaktoren wie auch als Garant für politische Freiheit und Unabhängigkeit. Wenn das Privateigentum staatlich garantiert und Vertragsfreiheit gewährleistet wurde, war als Kehrseite der Chancen wirtschaftlichen Handelns auch die Pflicht zur Haftung zu beachten. Wichtig erschien der Freiburger Schule zudem, daß die Wirtschaftspolitik auf Konstanz achte, damit Investoren PlanungsSicherheit hätten (vgl. Eucken, 1949, S. 32-62). Diese „konstituierenden" Prinzipien bildeten den Kernbestand wirtschaftsliberalen Denkens seit jeher. Darüber hinaus führte Eucken „regulierende" Prinzipien ein, die das Etikett „neoliberal" für seine Wettbewerbsordnung rechtfertigten. Dazu zählte er in erster Linie die Monopolkontrolle und Kartellzerschlagung, um vollständige Konkurrenz herzustellen, eine gewisse steuerliche „Korrektur" der durch den Markt erzielten Einkommensverteilung, Maßnahmen zur Behebung externer Effekte und anormaler Angebotsreaktionen, staatliches „antikonjunkturelles Verhalten" sowie eine währungspolitische Stabilisierungspolitik (vgl. ebd., S. 64-79). Gemeinsam umspannten Euckens „konstituierende" und „regulierende"

Hunold, Machlup, Müller-Armack, Bernhard Pfister, Rüstow und Welter. Als fördernde Mitglieder gehörten ihm ferner Böhm, Erhard, K. Paul Hensel, Hans Ilau, Volkmar Muthesius und Röpke an (vgl. ORDO, 1956, S. 401-402). 25 Die geistige Verbundenheit Mikschs mit Eucken und dessen Freiburger Schule kam auch dadurch zum Ausdruck, daß er schließlich neben Eucken auf dem Dorffriedhof von Günterstal bei Freiburg bestattet wurde (vgl. EuckenErdsiek an Hunold, 26.9.1950, in: HIA, MPS-Slg. 30).

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 269 Prinzipien den Rahmen der Wirtschaftsverfassung, der vom Staat, so die ordoliberale Forderung, zu setzen und zu verteidigen sei. Damit war ein „konstruktivistischer" Akt verbunden, der die ordoliberale Konzeption von der älteren liberalen Betonung einer evolutorisch, durch dezentrale Koordinierung spontan entstehenden Ordnung unterschied. Wie Grosseketder (1997, S. 61-63) betont, sahen Eucken und die Freiburger die Wirtschaftsverfassung als ein „Kollektivgut", dessen Nutzen allgemein sei und von dem realistisch niemand ausgeschlossen werden dürfe. Dieses „Kollektivgut", so der Schluß, könne nicht privat hervorgebracht werden; dazu benötige man den Staat, der als Schiedsrichter über den Spielern zu stehen habe. 26

1.4. Müller-Armack und die „Soziale Marktwirtschaft" Einer Mehrheit der Bevölkerung blieb die Theorie der Wettbewerbsordnung unverständlich. Nach Umfragen hatten die Bürger nur schwammige Vorstellungen, was genau mit „Soziale Marktwirtschaft" gemeint war, der griffigen, doch mehrdeutigen Parole, mit der Erhard und die CDU erstmals zur Bundestagswahl 1949 warben (vgl. Benz, 1983, 439-440). Den Begriff hatte Müller-Armack geprägt, der in den fünfziger Jahren zu einem der engsten Berater Erhards aufstieg, zunächst als Leiter der Grundsatzabteilung im Wirtschaftsministerium, später als Staatssekretär für Europafragen. Sein eigenes Verständnis der „Sozialen Marktwirtschaft" war durch Ideen der evangelischen Sozialethik geprägt und zeugte vom verschlungenen intellektuellen Werdegang. Müller-Armack, geboren 1901 in Essen, hatte als junger Privatdozent an der Universität zu Köln zunächst zu konjunkturtheoretischen Problemen geforscht und schon früh eine aktivere staatliche Politik zur Vermeidung wirtschaftlicher Schwankungen gefordert (vgl. Watrin, 2000, S. 195-196). Abgestoßen vom Zerfall der Weimarer Republik in ein von Interessengruppen beherrschtes, instabiles Staatswesen, veröffentlichte er 1933 angesichts der sich abzeichnenden politischen Umwälzungen die Schrift „Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich", die gewisse Sympathie für eine korporatistische Neuordnung zeigte. 27 Allerdings äußerte er als überzeugter Christ früh Vorbehalte gegen die Rassentheorie und den Antisemitismus der Nationalsozialisten. 28 Zunehmend wich er auf politisch ungefährliche

26 Diese Voraussetzungen schienen aber, nach aller Erfahrung, in der von Verbänden und Lobbyisten beherrschten Demokratie fraglich. Die Erkenntnis, daß der interventionsfreudige Staat in der Weimarer Zeit von organisierten Interessen gekapert worden und die Wettbewerbsordnung darauf degeneriert sei, stand ja am Anfang aller ordoliberalen Überlegungen (vgl. Böhm, 1950a, S. xxxvi). Dagegen setzten die Ordoliberalen, wie bereits gezeigt, ihre Hoffnung in den „starken" Staat, der dem Verlangen nach punktuellen Interventionen widerstehen könne. Institutionelle Schutzwälle, wie sie die „public choice"-Theorie später forderte, sahen sie nur im Falle der Notenbank vor; ansonsten vertrauten sie auf die ordnungspolitische Moral und gemeinwohlorientierte Verantwortung der „ordnenden Potenzen", der beratenden Wissenschaft und besonders der handelnden Staatsmänner (vgl. Grossekettler, 1997, 74-91). Zur ordoliberalen Konzeption von Staat und Marktwirtschaft vgl. Streit/Wohlgemuth (2000, S. 230-234), die das Fehlen einer kritischen „ökonomischen Theorie der Politik" bei den Ordoliberalen anmerken.

Die bald vergessene Schrift schien den neuen Machthabern zwar in einzelnen Formulierungen entgegenzukommen; in ihrer wirtschaftspolitischen „Konkretisierung", dem Plädoyer für maßvolle konjunkturpolitische und protektionistische Ansätze, blieb sie jedoch „vergleichsweise harmlos" (Schefold, 1999, S. 24). 28 Obwohl Müller-Armack aus beruflichem Opportunismus in die NSDAP eintrat, wuchs in den folgenden Jahren seine Distanz zum Regime. Er entzog sich der eigentlich obligatorischen Mitgliedschaft im NS-Dozentenbund. Ein Neudruck von „Staatsidee und Wirtschaftsordnung" wurde 1935 verboten. 27

270 • Wandlungen des Neoliberalismus Studien aus und veröffentlichte 1940, nunmehr ordentlicher Professor in Münster, sein Werk „Genealogie der Wirtschaftsstile", das Max Webers Ansatz weiterzuführen und auszubauen versuchte. 29 Im Krieg gründete er die „Forschungsstelle für Allgemeine und Textile Marktwirtschaft" und lernte im Rahmen dieser Tätigkeit auch Erhard kennen. Als Leiter des „Instituts für Siedlungs- und Wohnungswesen", das seinem Lehrstuhl angegliedert wurde, mußte er sich mit den NS-Plänen zum staatlichen Bau von bis zu sechs Millionen Wohnungen befassen. 30 Offenbar mit Erfolg versuchte er, sich von den konkreten Planungen der Nationalsozialisten fernzuhalten und beschränkte sich auf administrative Aufgaben (vgl. Nicholls, 1994, S. 104-109). Das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft" reifte erst langsam in Müller-Armack. Im Mai 1944 verfaßte er unter dem Titel „Die Bewährungsprobe der Wirtschaftslenkung" eine Beurteilung des nationalsozialistischen Systems, die zweieinhalb Jahre später minimal überarbeitet als erster Teil von „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft" erscheinen sollte. In einer nüchternen Abwägung der Alternativen von Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft kam er zu einem vernichtenden Urteil über die NS-Ökonomie: Entgegen den propagandistischen Behauptungen hätten weder Verbraucher noch Arbeiter vom nationalsozialistischen Lenkungssystem profitiert. Den Verbrauchern gegenüber zeige das Regime eine „unverkennbare Gleichgültigkeit", die aufgrund des Fehlens von aussagekräftigen Knappheitspreisen, so Müller-Armack unter Bezug auf Mises, unvermeidlich sei. Die Arbeiter erhielten zwar scheinbare „soziale Sicherheit", in Wahrheit seien ihre Löhne auf niedrigem Niveau festgezurrt, und durch die offizielle Beschäftigungspolitik gerieten sie in eine Zwangslage (Müller-Armack, 1946/1966, S. 36 bzw. S. 47-50). Deutliche Worte fand er zur expansiven Konjunkturpolitik der Nationalsozialisten, die den realen Grad der Arbeitslosigkeit und Unwirtschaftlichkeit lediglich verschleiert habe. Die autarkistische Außenhandelspolitik geißelte er, da sie zwangsläufig zu Wohlstandsverlusten führe. „Das Abrücken von der liberalen Weltwirtschaft alten Gepräges ist so als ein kollektiv-psychologischer Vorgang zu beurteilen, der einer eigentlichen wirtschaftlichen Vernunft entbehrt, aber die Gewalt des Tatsächlichen auf seiner Seite hat", schrieb er (ebd., S. 59). Allerdings empfahl Müller-Armack „keineswegs eine Rückkehr zum alten Liberalismus", da dieser eine Sicherung der Wettbewerbsordnung des Marktes „geradezu sträflich vernachlässigte und sich auch darin irrte, daß er den Preismechanismus als eine völlig in sich funktionierende Maschinerie" betracht habe (ebd., S. 76). Als Alternative schlug er eine „gesteuerte Marktwirtschaft" vor, die „etwas toto coelo Verschiedenes gegenüber der liberalen Marktwirtschaft wie gegenüber der Wirtschaftlenkung" sei (ebd., S. 77). Dieses 1944 noch als „gesteuerte Marktwirtschaft" bezeichnete Konzept taufte er 1946 in „Soziale Markt-

Einzelne „Wirtschaftsstile" wie den Merkantilismus oder den Liberalismus versuchte er darin geistesgeschichtlichen Epochen zuzuordnen. Die Religionssoziologie galt als Randgebiet der Ökonomie und damit als relativ unpolitisches Feld. Dies war vermutlich der Grund, weshalb Müller-Armack dorthin auswich (vgl. Watrin, 2000, S. 201-204). Vgl. dazu auch Dietzfelbinger (2000). 30 Das 1938 vorgestellte Vorhaben einer so gigantischen Staatslenkung von Ressourcen jenseits der privaten Bauwirtschaft sah er kritisch, zumal eine Wohnungsnachfrage in dieser Größenordnung bei freien Mieten zweifelhaft war. Seit 1917 gab es in Deutschland eine gesetzliche Mietpreisbindung, die stetig verschärft wurde. Angeblich diente sie dem Schutz der Mieter, hatte aber eine subjektive Wohnraumknappheit zur Folge. Später schrieb er, „die mit dem Pathos sozialer Anklage behauptete Wohnungsnot" vor dem Kriege sei primär eine Konsequenz der „Störung der Wohnungsbewirtschaftung durch eine falsche Preispolitik" gewesen (Müller-Armack, 1946/1966, S. 137). 29

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 271 Wirtschaft" um. Obwohl als „dritte Form" und „Synthese" von liberaler Marktwirtschaft und Wirtschaftslenkung bezeichnet, meinte Müller-Armack kein Mischsystem (ebd., S. 109). Markt und Preismechanismus sollten die Fundamente der Wirtschaftsordnung bilden, der Staat aber die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs sichern und korrigierend eingreifen, wo dies „im Interesse sozialer Ziele" geboten schien. Dabei sei unbedingt zu beachten, alle Eingriffe „marktgerecht" vorzunehmen, damit die Signalfunktion des Preismechanismus nicht zerstört würde. Die „doppelte Optik" seines Konzepts lag darin, den Markt als produktiven Wohlstandsmotor zu erhalten und sogar auszubauen und zugleich den „Willen zu sozialen und kulturellen Zielen" nicht zu verleugnen (ebd., S. 129). Die Sozialpolitik müsse und könne marktverträglich sein, unterstrich Müller-Armack. 31 Allerdings fiel sein Katalog an staatlichen Interventionen doch umfangreicher aus, als es viele andere Neoliberale gutgeheißen hätten. In seinen 1948 veröffentlichten „Vorschlägen zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft" nannte auch Müller-Armack eine aktive Wettbewerbspolitik, die Oligopole und Monopole zu verhindern hätte, als grundlegendes Prinzip, präsentierte daneben aber eine lange Liste von Maßnahmen, etwa staatliche Siedlungs- und Regionalpolitik, Städteplanung und sozialen Wohnungsbau, Mittelstandsförderung und Hilfestellungen für eine genossenschaftliche Organisation, Einkommensbeihilfen für Geringverdiener und den Ausbau der Sozialversicherung bis hin zu einer maßvollen Konjunktur- und Beschäftigungspolitik. Überall hier, meinte er, bedürfe der Markt der Korrektur (vgl. Müller-Armack, 1948/1974, S. 100-101). An anderer Stelle erklärte er dazu: „Im Gegensatz zum Altliberalismus wissen wir um gewisse Mängel der Wettbewerbsapparatur in Form unvollkommener Märkte, von Oligopolen und Monopolen. Inverse Angebotselastizitäten auf dem Arbeitsmarkt und bei Agrarerzeugnissen verbieten uns, an eine Vollautomatik zu glauben" (Müller-Armack, 1952/1966, S. 234). 32 Ziel seiner Vision einer „Sozialen Marktwirtschaft" war es, das „Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs" zu verbinden (Müller-Armack, 1956, S. 390). Mit „Ausgleich" war nicht Nivellierung gemeint, sondern der Versuch, eine Balance in der Gesellschaft herzustellen (vgl. Koslowski, 1998, S. 81-84). Seiner Meinung nach war die Marktwirtschaft der Wohlstandsmotor, dessen Erträge dann auch für Gesellschafts- und Sozialpolitik genutzt werden sollten. Mit diesem instrumentellen, oder „funktionalen", wie er selbst sagte, Verständnis der Marktwirtschaft unterschied sich Müller-Armack von anderen prominenten MPS-Mitgliedern wie Eucken und Erhard oder gar Hayek, die die menschenwürdige Ordnung schon in und mit der privilegienlosen Marktwirtschaft weitgehend verwirklicht sahen (vgl. dazu Prollius, 2005, S. 54 u. 59). Ein Schlüsselbegriff für MüllerArmack war die „soziale Irenik", der Wille zu einer übergreifenden Gesellschaftskonzeption

31 Statt der gescheiterten staatlichen Preisfestsetzung sollte ein Ausgleich zugunsten der sozial Schwächeren nachgelagert über das Steuersystem stattfinden. Und anstellte der kontraproduktiven Mietpreisbindung und Wohnraumbewirtschaftung seien Mietzuschüsse zu gewähren, so Müller-Armacks Beispiele. Damit lag er ganz auf Linie der neoliberalen Forderung nach einer „konformen" Sozialpolitik. Vgl. dazu Grossekettler (1997, S. 52-59). 32 Grossekettler (1997, S. 64-70) sieht in den meisten Fällen zumindest einen Anfangsverdacht für „Marktversagen", sei es aufgrund externer Effekte oder der Unmöglichkeit einer privaten Versicherung gegen soziale Risiken aufgrund adverser Selekdon. Mit der Theorie des „Marktversagens" selbst bei weitester Auslegung nicht zu rechtfertigen war Müller-Armacks Eintreten für staatliche Mindesdohnhöhe „als Ordnungstaxe ..., die sich im wesentlichen in der Höhe des Gleichgewichtslohnes hält, um willkürliche Einzellohnsenkungen zu vermeiden" (Müller-Armack, 1946/ 1966, S. 133).

272 • Wandlungen des Neoliberalismus zur Versöhnung von bislang konkurrierenden und einander bekämpfenden Weltanschauungen (vgl. Starbatty, 1982, S. 14). Zudem betonte er, die „Soziale Marktwirtschaft" sei ein „progressiver Stilgedanke", der auf Herausforderungen mit stets neuen Ausgestaltungen antworte. Im Unterschied zu Eucken, der eine geschlossene Wettbewerbskonzeption verfolgte, hatte Müller-Armack kein festgefügtes Bild einer Ordnung (vgl. ebd., S. 12-13 u. 16).

1.5. Der zähe Kampf um die Wettbewerbsordnung Mit der Wirtschafts- und Währungsreform von 1948 und späteren Schritten zur Liberalisierung weiterer Märkte waren die wichtigsten „konstituierenden" Prinzipien der von Eucken entwickelten Wirtschaftsordnung verwirklicht worden. Dies war Grund zur Genugtuung für die deutschen Neo- bzw. Ordoliberalen. Bezüglich der „regulierenden Prinzipien", die Eucken aufgestellt hatte, erschien das Bild weniger klar. Das wichtigste Ziel, die für die Wettbewerbsordnung unverzichtbare effektive Monopolkontrolle, war noch nicht erreicht. Zwar hatten die Alliierten nach dem Krieg erste Vorstöße zur Zerschlagung von industriellen Kartellen und Konglomeraten gemacht. 33 Die Bemühungen um eine umfassende Entflechtung und Dekonzentration der deutschen Wirtschaft kamen aber kaum weiter. In vielen Branchen lebte das Erbe von Jahrzehnten kartellfreundlicher Rechtsprechung sowie der NS-Industriepolitik fort. Für die deutschen MPS-Mitglieder war dies ein inakzeptabler Zustand. Die Vertreter der Freiburger Schule strebten ein scharfes Kartellgesetz an, das „Dreh- und Angelpunkt der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung" werden sollte (Prollius, 2006, S. 104). Hoffnungen hatte ein bereits ab 1947 vom sogenannten „Josten-Ausschuß" konzipierter Entwurf für ein Wettbewerbsgesetz geweckt, das Kartell- und Marktabsprachen grundsätzlich unter Strafe stellen wollte und „marktbeherrschende" Unternehmen entflechten wollte. 34 Als dieser Plan aber im Sommer 1949 an die Öffentlichkeit gelangte und das Echo der Presse sehr negativ war, beauftragte Erhard seine Ministeriumsmitarbeiter mit einer eigenen Vorlage. Trotz des gebetsmühlenhaften Werbens des Wirtschaftsministers, erst die Aktivierung des vollen Wettbewerbs mache die Marktwirtschaft zu einer wahrhaft sozialen, blieb es bei Ankündigungen. Böhm sah zunehmend verbittert, wie sich die Beratungen endlos hinzogen. In einem Brief an Hunold klagte er, daß alle Fortschritte von „kartellfreundlichen Unternehmern" verzögert und behindert würden. „Die Freude darüber, daß ich ... mit meiner Kartellkritik isoliert geblieben bin, ist unverhohlen", so der mittlerweile in Frankfurt lehrende Juraprofessor (Böhm an Hunold, 12.5.1951, in: HIA, MPS-Slg. 30). Aus Zürich schallte ihm prompt ein aufmunternder Schlachtruf des MPS-Sekretärs zurück: Man müsse hart bleiben, schließlich ginge es um den „Kampf der Neoliberalen um die Sache der Konsumenten und . . . gegen den historischen Liberalismus, also gegen den Monopolkapitalismus" (Hunold an Böhm, 15.6.1951, in: ebd.).

So beschlagnahmten die Amerikaner die berüchtigte I. G. Farbenindustrie und zerteilten sie in drei Chemieuntemehmen, die Briten lösten das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat auf. 34 In dem Ausschuß von Paul Josten, dem früheren Chef der Kartellabteilung im Reichswirtschaftsministerium, hatten auch Eucken und Böhm ihre Erfahrung und ihr Fachwissen eingebracht. 33

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 273 Auch in der CDU, deren „Düsseldorfer Leitsätze" Böhm 1949 mitformuliert hatte, gab es nur wenig prinzipienfeste Verbündete in der Kartellfrage. 35 Fritz Berg, der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), reagierte allergisch auf die drohende Kartellgesetzgebung. Der BDI suchte darauf höchst geschickt, über verschiedene Kanäle den Kanzler, das Kabinett, die Regierungsparteien sowie die Presse zu bearbeiten. So erreichte er, daß die von Erhards Ministerium auf Grundlage des Josten-Entwurfs erarbeitete Gesetzesvorlage vielfach umgearbeitet und abgemildert wurde, bis sie Ende 1951 vom Kabinett gebilligt und in den Bundestag gebracht wurde. Obwohl das Gesetz nach ablehnenden Signalen des Bundesrats Anfang 1953 im Vermitüungsausschuß weiter verwässert wurde, blieb Berg strikt dagegen. Er insistierte, daß ein striktes Kartellverbot der internationalen Posidon der deutschen Volkswirtschaft schaden müsse. Zu viel innerer Wettbewerb sei ruinös und münde ins Chaos, hieß es aus dem Industrieverband. Kartelle dagegen sicherten Arbeitsplätze und stärkten gerade auch kleinere und mittlere Unternehmen, lediglich der „Mißbrauch" von Kartellen sollte untersagt werden. 36 Die politisch engagierten deutschen MPS-Mitglieder waren frustriert über den zähen Fortgang der Dinge. Böhm, im September 1953 für die CDU in den Bundestag gewählt, stieß in der eigenen Fraktion auf Widerstände, besonders bei der CSU. In langen Briefen an Erhard klagte er, daß eine Durchlöcherung des Verbotsgrundsatzes alle ordoliberalen Hoffnungen auf vollständigen Wettbewerb zunichte mache. Vom ursprünglichen Verbotsprinzip sei nur noch eine Fassade geblieben, meinte er, hinter der zahlreiche Ausnahmen und Sondervorschriften lägen, die eine Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen leicht machten (vgl. Hentschel, 1998, S. 272). Erhard wollte aber den Kampf noch nicht aufgeben. In einer Rede vor dem Deutschen Industrie- und Handelstag erklärte er im April 1954: „Um es ganz deutlich zu sagen: Wir sind auf dem falschen Weg. Ich werde nicht müde werden, für die Marktwirtschaft zu kämpfen. Aber ich stehe allein da" (zit. n. Mierzejewski, 2005, S. 206). Erhard betrachtete den Streit um das Wettbewerbsgesetz als die entscheidende Schlacht zur Verwirklichung der von ihm vertretenen Idee der Marktwirtschaft. Dabei sah er sich dann im Mai 1954 in der kuriosen Situation, daß sein Vorschlag eines Verbotsgesetzes im Bundesrat allein bei SPD-geführten Ländern Unterstützung fand, während die CDU-regierten Länder einem Gegenentwurf nach dem Mißbrauchsprinzip zuneigten. Bald war allgemein die Rede vom „Kartellkrieg". Dabei stieß Erhards Plädoyer für mehr Wettbewerb zugunsten der Verbraucher bei den Sozialdemokraten auf mehr Verständnis als bei den Christdemokraten. Es begann sich abzuzeichnen, daß Teile der SPD, angeführt vom früheren Hamburger Wirtschaftssenator Karl Schiller, ihren Frieden mit einer sozialpolitisch begrenzten Marktwirtschaft machten, was sich 1959 im „Godesberger Programm" der Partei niederschlug. 37 Schließlich erschien der im Juni 1954 erarbeitete, nochmals verwässerte und Adenauer teilte nicht die Glaubenssätze zur Wettbewerbsordnung, die Erhard und Böhm antrieben; er war pragmatisch eingestellt und hatte stets ein offenes Ohr für Berater und Vertraute aus Industrie- und Finanzkreisen. 36 Unterschwellig transportierten die Gegner der geplanten Kartellgesetzgebung auch den Vorwurf, damit würden alliierte Maßnahmen zur Schädigung der deutschen Industrie umgesetzt. 37 Zu diesem langsamen und schmerzhaften inneren Reformprozeß vgl. Nicholls (1994, S. 300-321). Schiller, ein gemäßigter Sozialdemokrat mit keynesianischen Ansichten, hatte schon 1952 auf dem Dortmunder SPD-Parteitag erklärt, niemand habe ein größeres Interesse an Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsunternehmen als die deutschen Arbeiter, die als Verbraucher davon profitierten. Zur selben Zeit erfand er verschiedene Bezeichnungen für einen „dritten Weg", von „Minimalplanung" über „sozialistische Marktwirtschaft" und „geplante Marktwirtschaft" 35

274 • Wandlungen des Neoliberalismus reichlich komplizierte Entwurf des Kartellgesetzes in den Augen der Ordoliberalen derart zahnlos, daß nun Böhm weitere Beratung entlang dieser Vorgaben im Bundestag zu verhindern versuchte. Erbost über die Entwicklung donnerte er in einer Debatte: „Alle Änderungen nämlich, die in den letzten Jahren verlangt und angekündigt wurden, zielten in ein und dieselbe Richtung, nämlich in die Richtung: Weg von der Konzeption des Bundeswirtschaftsministers! Weg vom Wettbewerb! Hin zum Kartell!" (Böhm, 1955, S. 4211 B). Von Seiten der Industrie wurde den ordoliberalen Professoren regelmäßig Dogmatismus vorgeworfen (vgl. Nicholls, 1994, S. 333). Sie wollten tatsächlich den Wettbewerb stärken, doch war ihr Denken, wie dies zu geschehen habe, keineswegs starr. Dies bewies eine kleine Kontroverse am Rande des politischen Geschehens. Wie bereits erwähnt, hatte in der von Muthesius geleiteten Wirtschaftszeitschrift im Frühjahr 1955 ein Autor den ordoliberalen Ansatz zum Kartellverbot angegriffen und statt dessen eine völlige Liberalisierung des Außenhandels gefordert, die den Wettbewerb beleben werde. Der Artikel endete mit dem Aufruf: „laissez faire die Kartelle, der Schaden, den sie anrichten, ist allemal geringer als der, den eine Kartellbehörde hervorrufen würde" (Hellwig, 1955, S. 19).38 Obwohl empört über einzelne Formulierungen, zeigten sich die Ordoliberalen im Prinzip durchaus offen für die Argumentation. So schrieb Rüstow, der zur selben Zeit den Vorsitz der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) übernahm,; der Standpunkt Hellwigs als solcher sei diskutabel, daß ein Kartellgesetz ausreichend sei, das lediglich alle Kartellverträge für rechtlich nichtig erkläre (vgl. Rüstow an Hunold, 4..5.1955, in: IWP, NL Hunold). Diese Feststellung berührte den auch in der MPS kontrovers diskutierten Kern des Neoliberalismus: Genügte es, wenn der Staat lediglich seine bisherigen rechtlichen wie faktischen Hilfestellungen bei der Bildung von Monopolen und Kartellen einstellte, wenn er alle Marktzutrittsbarrieren abschaffte und korporatistischen Arrangements seinen Segen entzog? Nach der Überzeugung von Mises oder Muthesius waren dann die Wettbewerbskräfte stark genug, um wirtschaftliche Machtstellungen zu brechen. „Wenn die Aufhebung dieser Maßnahmen, insbesondere aller Schutzzölle, praktisch erreichbar wäre," erklärte nun überraschend auch Rüstow, „so wäre ich jedenfalls ohne weiteres bereit, zunächst einmal den Erfolg abzuwarten und inzwischen auf alle sonstigen antikartellistischen Maßnahmen zu verzichten" (Rüstow an Muthesius, 10.6.1955, in: ebd.). Ein solches Eingeständnis des ASM-Vorsitzenden, falls öffentlich gemacht, wäre als Signal verstanden worden, daß im ordoliberalen Lager der Wille zu einer aktiven staatlichen Bekämpfung von Kartellen geschwunden sei. Ohnehin standen die Chancen für ein striktes Verbotsgesetz immer schlechter. Dem BDI gelang es in ausdauernder Lobbyarbeit, noch bis hin zu „Marktwirtschaft von links" (vgl. ebd, S. 307). Anfangs war Schiller noch ein Einzelkämpfer in der SPD. Unter dem Eindruck des mit Erhards „Sozialer Marktwirtschaft" verbundenen Aufschwungs verabschiedeten sich die Ideologen der Partei schließlich von älteren marxistischen Konzepten und schwenkten auf Schillers Linie ein. Der Gewerkschaftsbund dagegen verharrte Mitte der fünfziger Jahre noch in marxistischen Positionen und sah, getreu der Theorie vom „organisierten Kapitalismus", der den Übergang zum Sozialismus erleichtere, durchaus eine Berechtigung für Kartelle. Der DGB stimmte dem BDI zu, daß Kartelle eine legitime Funktion besäßen, freilich aber gesetzlich kontrolliert werden müßten. 38 Der Autor Hans Hellwig war Bruder des CDU-Politikers Fritz Hellwig, der im Hauptberuf ein von den Arbeitgeberverbänden finanziertes Institut leitete und 1956 Vorsitzender des mit dem Kartellgesetz befaßten wirtschaftspolitischen Ausschusses des Bundestages wurde. Erhard lehnte Hellwig als Vertreter der Großindustrie in dieser Position ab (vgl. Hentschel, 1998, S. 360-362).

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 275 mehr Ausnahmen zugunsten genehmigter Kartelle in den Gesetzestext aufzunehmen. Böhm war über diese Entwicklung so verärgert, daß er im März 1955 einen eigenen Gesetzentwurf in den Bundestag einbrachte, der wieder dem ursprünglichen Josten-Vorschlag nahekam. Doch Erhard sah sich gezwungen, kartellpolitische Konzessionen zu machen. In seinem Anfang 1957 erschienenen Buch „Wohlstand für alle" wetterte er zunächst über mehrere Seiten gegen wettbewerbsscheue Unternehmer, die sich zum Schaden der Verbraucher unter Kartelldächer flüchteten. Zuletzt aber gestand er einige Ausnahmen vom Verbotsprinzip zu, etwa Konditionenkartelle, Exportkartelle und Rationalisierungskartelle. Der Wirtschaftsminister war sichtlich bemüht, den von der Industrie gestreuten Vorwurf des Dogmatismus zu entkräften (vgl. Erhard, 1957, S. 164-184). Als dann im Juli 1957, rund zehn Jahre, nachdem die Josten-Kommission ihren ersten Entwurf zu besprechen begonnen hatte, im Bundestag das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) verabschiedet wurde, war von der Maximalposition der Ordoliberalen nicht mehr viel übriggeblieben. Zwar legte das GWB im Grundsatz ein Verbot von Kartellen fest, doch wurden zahlreiche Abweichungen von diesem Prinzip gestattet. Unter bestimmten Voraussetzungen waren Absprachen mit Genehmigung des neu geschaffenen Kartellamts oder einer Ministererlaubnis möglich, gegen „marktbeherrschende" Unternehmen wurde nicht vorgegangen. Trotzdem war das Prinzip des Kartellverbots gerettet. Dies war ein entscheidender Erfolg, wenn auch einigen prominenten Ordoliberalen ihre Enttäuschung angesichts der Ausnahmen anzumerken war. 39 Aus Sicht von Erhard, Böhm und ihren Mitstreitern blieb das Gesetz zwar unvollkommen, doch die alte deutsche Kartelltradition war definitiv gebrochen. Dazu trug neben dem GWB natürlich auch der zunehmende grenzüberschreitende Wettbewerb bei, der die Wirksamkeit nationaler Marktabsprachen erodierte (vgl. Giersch/Paque/Schmieding, 1992, S. 85). Den oft gehörten Ehrentitel, es sei das eigentliche „Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft", wie es Erhard gewünscht hatte, verdiente das GWB nicht. Ebensowenig aber die harsche Kritik, es habe „die faktische Rückkehr zum organisierten Kapitalismus', zur korporativen Marktwirtschaft" markiert, wie Prollius (2006, S. 104) meint. Und obwohl der Grad der Konzentration durch Fusionen und Zusammenschlüsse in vielen Bereichen der westdeutschen Industrie in den folgenden Jahrzehnten deutlich zunahm, sich Großunternehmen und Konzerne bildeten und der Mittelstand teilweise an Boden verlor, so war dennoch der Grundsatz des dezentralen Wettbewerbs, für den die Ordoliberalen standen, hierdurch nicht gefährdet. Hatten sie, an der Spitze Erhard und Böhm, ihre Maximalforderung 1957 verfehlt, blieb ihre Vision einer Wettbewerbsordnung in der Substanz doch erhalten. MPS-Mitglied Ernst-Joachim Mestmäcker, ein Schüler Böhms, hat die Auseinandersetzung um das GWB rückblickend als einen „trotz zahlreicher politischer Kompromisse im Ergebnis erfolgreichen K a m p f gewürdigt (Mestmäcker, 1996, S. 62).

Tatsächlich nahm die Zahl der genehmigten Kartelle nach 1 9 5 7 erst einmal wieder leicht zu, obwohl die Kartellierung niemals wieder das Ausmaß wie in der Weimarer Zeit erreichte. Hatten im Jahr 1 9 3 0 rund 3 0 0 0 Kartelle bestanden, so lag die Zahl in den sechziger Jahren stets unter 200. 39

276 • Wandlungen des Neoliberalismus

1.6. Das „Sündenregister" der sozialen Marktwirtschaft Die Erfolgsgeschichte der „Sozialen Marktwirtschaft" nur am rasch steigenden materiellen Wohlstand der Westdeutschen zu messen, lehnten ihre neo- bzw. ordoliberalen Vordenker ab. Ihnen ging es nicht bloß um wirtschaftliche Effizienz, sondern um eine Gesellschaft, die Freiheit und Verantwortung durch eine subsidiäre, marktwirtschaftliche Ordnung in die rechte Balance brächte. Die „Soziale Marktwirtschaft" sollte allen ein selbständiges Leben ermöglichen. Jede Einschränkung des Wettbewerbs und der Wahlmöglichkeiten setzten sie mit Einschränkungen der persönlichen Freiheit gleich. Mit Unbehagen verfolgten die deutschen Neoliberalen, daß hier auf einigen Gebieten nur wenig Fortschritte, teils auch Rückschritte, zu verzeichnen waren. Erhard selbst schrieb von einem „umfangreichen Sündenregister", entstanden durch das Nachgeben gegenüber Gruppeninteressen wie auch durch Mängel der Wirtschaftspolitik. Neben den Kartellneigungen der Industrie erwähnte er den Wunsch nach wettbewerbsfeindlichen Berufsordnungen, den Ruf nach „paritätischer" gewerkschaftlicher Mitbestimmung wie auch die Bestrebungen zur Ausdehnung der „kollektiven Zwangsversicherung". „All diese Beispiele zeigen, wieviel Schlacken das marktwirtschaftliche System noch verunzieren" (Erhard, 1957, S. 143). 40 Die verstärkt ab Mitte der fünfziger Jahre betriebene Einbeziehung immer größerer Teile der Bevölkerung in einen kollektiven Wohlfahrtsstaat entwickelte sich in den Augen der Neoliberalen zu einer echten Bedrohung der Marktwirtschaft. Schon in den ersten Jahren hatte die Bundesrepublik eine recht hohe staatliche Sozialleistungsquote von mehr als 35 Prozent der Staatsausgaben ausgewiesen. 41 Nach den Vorstellungen der Ordoliberalen sollten diese Hilfen jedoch in dem Maße zurückgefahren werden, wie der zunehmende allgemeine Wohlstand mehr Selbsthilfe und Eigenvorsorge ermöglichte. Mitte der fünfziger Jahre herrschte Vollbeschäftigung, und die Wachstumsraten waren sehr hoch. Gemäß der Theorie und Hoffnung der Ordoliberalen hätte nun der Sozialstaat beschränkt werden können. Genau das Gegenteil trat jedoch ein. Schon früh hatte Hayek kritisiert, daß die Parole der „Sozialen Marktwirtschaft" offen schien für unterschiedliche Interpretationen und Auslegungen. Ihr Schöpfer, Müller-Armack, hatte sie stets verteidigt. Vor der MPS erklärte er in Seelisberg, es sei „eine Tatsache, daß dieser soziale ,touch' einer der Faktoren war, der half, die erste Wahl des Deutschen Bundestages zu gewinnen, daher sollten wir zumindest den symbolischen Wert des Begriffs ... anerkennen" (Müller-Armack, 1953, S. 3). Ihm selbst ging es aber nicht bloß um Symbolik, er wollte die als „Soziale Marktwirtschaft" bezeichnete Wirtschaftsordnung mit sozialstaatlicher

An weiteren blinden Flecken auf der Landkarte der bundesdeutschen Marktwirtschaft wären noch zu erwähnen: der durch staatliche „Marktordnungen" hochgradig regulierte und subventionierte Agrarsektor, das öffentliche Engagement im Wohnungsbau, lange nachdem die kriegsbedingte Knappheit überwunden war, das Fortbestehen der traditionellen staatlichen Monopolunternehmen von Bahn und Post oder die Beihilfen an Eisen- und Stahl-, Kohle- sowie Werftenindustrie. Vgl. zur staatlichen Preispolitik von 1948 bis 1963 die Studie von Zündorf (2006). Von einem echten Arbeitsmarkt konnte eigentlich auch keine Rede sein, da hier die Tarifgesetzgebung ein beidseitiges Kartell aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern sanktionierte. 41 Wie Schwarz (1981, S. 328) betont hat, gab die Bundesrepublik in den frühen fünfziger Jahren mehr Geld für Soziales aus als die exemplarischen Wohlfahrtsstaaten wie Schweden oder Großbritannien. Dies war aber unmittelbar nach dem Krieg nicht verwunderlich: Millionen von Kriegsversehrten, Witwen und Waisen, zu denen noch Vertriebene und Flüchtlinge aus dem Osten kamen, waren auf staatliche Hilfe angewiesen. 40

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 277 Substanz füllen. „Jetzt, da unsere Soziale Marktwirtschaft so weit etabliert wurde, ist es Zeit, sogar noch mehr Gewicht auf den sozialen Aspekt zu legen" (ebd., S. 8). Die Mehrheit der deutschen MPS-Mitglieder, auch Erhard, warnte frühzeitig vor einem Überhandnehmen der sozialpolitischen Eingriffe. Nicht viele Bundesdeutsche teilten aber die Ansicht ihres Wirtschaftsministers, „je freier die Wirtschaft, um so sozialer ist sie auch", wie dieser 1953 bei einer Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft erklärte (zit. n. Mierzejewski, 2005, S. 59).42 Bei einem späteren MPS-Treffen erklärte Erhard gegenüber Hayek: „Ich hoffe, Sie mißverstehen mich nicht, wenn ich von sozialer Marktwirtschaft spreche. Ich meine, daß der Markt an sich sozial ist, nicht daß er sozial gemacht werden muß", so erinnerte sich der MPS-Gründer (Hayek, 1983c, S. 55). Wenn die Ordoliberalen im Falle des GWB im Juli 1957 nur einen halben Erfolg hatten erringen können, so war die ein halbes Jahr zuvor beschlossene Rentenreform eine herbe Niederlage, deren weitreichende Konsequenzen erst Jahrzehnte später offenbar wurden. Die Rentenreform war Ergebnis eines verwickelten politischen Prozesses, in dem Erhard auf ganzer Linie unterging. Adenauer hatte zu Beginn der zweiten Legislaturperiode eine umfassende Reform der gesamten staatlichen Sozialleistungen und Beihilfen versprochen. Das Ziel, die kaum noch durchschaubare Vielzahl von Sondergesetzen auf wenige klare Grundsätze zu reduzieren, konnten auch die Ordoliberalen akzeptieren. Ab 1955 zeichnete sich dann aber ab, daß es allein auf eine drastische Aufstockung und „Dynamisierung" der Altersrenten hinauslief. Der Kanzler stand unter erheblichem politischen Druck: Von links lockte die SPD die Wähler mit dem Versprechen eines Wohlfahrtsstaats nach dem Vorbild des britischen Beveridge-Plans. Auch der gewerkschaftsnahe Flügel der CDU drängte auf höhere Sozialleistungen. Dagegen stemmten sich neben Finanzminister Fritz Schäffer, der um seine Rücklagen besorgt war, vor allem die prominenten deutschen MPS-Mitglieder, an der Spitze Erhard, der publizistische Schützenhilfe von Röpke und Rüstow erhielt. Sie warnten vor explodierenden Kosten wie auch schädlichen Anreizwirkungen eines zu großzügigen Versorgungssystems. Besonders Röpke fürchtete, als Folge der jahrelangen Hochkonjunktur könnten die ordnungspolitischen Dämme aufweichen. Mit großer Sorge schrieb er gegen die Anzeichen von „Maßlosigkeit" an, die seiner Ansicht nach den Kern der Marktwirtschaft anzugreifen begannen (vgl. Röpke, 1956b). Langfristig folgenschwer erwies sich die mit der Rentenreform 1957 besiegelte Abkehr vom Kapitaldeckungsverfahren, wie es zuvor - zumindest formal - noch galt.43 Adenauers

42 Ab Mitte der fünfziger Jahre entwickelte sich die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft unter dem Vorsitz von Rüstow zur führenden deutschen Vereinigung zur Propagierung neoliberaler Konzepte zur Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie war damit eine bedeutende Stütze sowie auch inoffizielles Sprachrohr des Wirtschaftsministers. Zur einigermaßen kuriosen Gründungsgeschichte der seit 1953 bestehenden ASM vgl. Haselbach (1991, S. 214). 43 Die dabei gebildeten Reserven waren in den beiden Weltkriegen und folgenden Inflationen zweimal vernichtet worden. So leuchtete Adenauer der zur Jahreswende 1955/1956 präsentierte Vorschlag des Kölner Privatdozenten Wilfrid Schreiber ein, statt des mühsamen Kapitaldeckungsverfahrens künftig eine scheinbar einfache, generationenübergreifende Umlage anzuwenden, wobei die arbeitende Bevölkerung mit ihren Einzahlungen die laufenden Renten der nicht mehr Erwerbstätigen aufbringen sollte. Zudem sah Schreibers Plan eine „Dynamisierung" der Rentenzahlungen gemäß der Steigerung der allgemeinen Lohneinkünfte vor. Diese regelmäßige und automatische Anhebung bedeutete faktisch eine Loslösung der Summe der Auszahlungen von den vorigen Einzahlungen, also eine Abkehr vom versicherungstechnischen Prinzip der Äquivalenz.

278 • Wandlungen des Neoliberalismus

Berater präsentierten die neue, umlagefinanzierte Rente geschickt als „Generationenvertrag", mittels dessen die bislang vernachlässigten Alten am steigenden Wohlstand partizipieren könnten. Von der Öffentlichkeit wurde die Idee heftig beklatscht. Aus der Perspektive der MPS-Neoliberalen stellte sich die „dynamische" Staatsrente aber als abenteuerlicher Eingriff in die Struktur einer eigenverantwortlichen Gesellschaft dar, der den Willen zur Selbsthilfe zerstören müsse. Erhard warnte den Kanzler im Mai 1955, in der frühen Phase der Diskussion, vor einem Versorgungsstaat: „Wenn das Sicherheits- und Rentendenken alle Schichten und Berufszweige erfaßt haben wird, ... dann wird die Einsicht zu spät kommen, daß man damit die gesellschaftliche Ordnung zerstört und dabei niemand etwas gewonnen hat" (Erhard an Adenauer, 24.5.1955, in: B Ä K , B 102/40896). Nach Ansicht des Wirtschaftsministers sollte die staatliche Rente einen Grundbedarf für das Alter sichern. Was darüber hinaus ging, sollte jeder Bürger durch eigenständiges Sparen und Vorsorgen selbst in die Hand nehmen. Öffentlich warnte Erhard vor den finanziellen Risiken einer drastisch ausgeweiteten staatlichen Rentenversicherung. 44 Zudem sahen Erhard und andere Kritiker akute Inflationsgefahr durch eine Indexierung der Rentenleistungen. Viel schärfer noch fielen die publizistischen Breitseiten aus, die Röpke aus G e n f abfeuerte. In einem Aufsatz „Probleme der kollektiven Alterssicherung" zog er sämtliche Register. Zum einen argumentierte er volkswirtschaftlich, warnte vor dem Versiegen der Sparkapitalbildung, wenn jeder sich auf eine staatliche Rente verlasse und keine persönlichen Reserven als Grundlage für die Altersversorgung mehr bilde. Zum anderen aber bezog er sich auf die sozial schädlichen Konsequenzen des Sozialstaates, geißelte eine staatlich organisierte Massenfürsorge als „Prothese" für echte Sicherheit und Solidarität. Das staatliche Rentenversprechen sah er dazu angetan, die Unmündigkeit der Bürger zu verstärken. Die Forderung nach einer staatlich herbeizuführenden „Solidarität der Generationen" lehnte er ab: „Ihr Fehler besteht darin, das Struktur- und Moralprinzip der Familie von dieser echtesten aller Gemeinschaften auf die im Staate organisierte Gesellschaft als Ganzes zu übertragen, auf die es nicht anwendbar ist, ohne sich in etwas ganz anderes, nämlich in Kollektivismus zu verwandeln" (Röpke, 1956a). Als die Rentenreform schließlich Ende Januar 1957 von einer großen Koalition aus C D U / C S U und S P D gegen nur wenige Gegenstimmen der F P D beschlossen wurde, urteilte Röpke in einem Schreiben an Hans Ilau recht bitter, dies sei der „Sieg der Sozialdemagogen" gewesen: „Hier sehen sie die moderne Massendemokratie an der Arbeit!" (Röpke an Ilau, 4.2.1957, in: IWP, N L Röpke). Ohne Zweifel war die Rentenreform auch mit Blick auf den nahen Wahlkampf von Adenauer forciert worden. 45 Die „dynamische Rente" brachte den Rentenempfängern der Ar-

Angesichts der demographischen Unwägbarkeiten - die relativ präzisen Prognosen des statistischen Bundesamtes sahen einen Anstieg des Rentneranteils von rund 9 auf fast 15 Prozent bis Ende der siebziger Jahre voraus, weiter ging die Vorhersage nicht - war eine massive Belastung durch steigende Beiträge und eine Verschlechterung der Rendite der Rentenversicherung absehbar. Tatsächlich ähnelt das bei der Rente seit 1957 betriebene Umlageverfahren dem Prinzip des Schneeballsystems: Eine posiüve Rendite für einen Teilnehmer ist dann zu erwarten, wenn die Zahl der später hinzukommenden Teilnehmer steigt; umgekehrt sinkt die Rendite bei abnehmender Teilnehmerzahl in den negativen Bereich. Hätte man sich 1957 für ein individuelles Kapitaldeckungsverfahren bei staatlicher Grundsicherung entschieden, wären die Erträge für die Rentner der Jahrgänge ab 1930 entscheidend höher ausgefallen; vgl. dazu Plickert (2003, S. 42-48). 44

Die CDU hatte einen speziellen sozialpolitischen Arbeitskreis mit Namen „Programmkommission" eingerichtet, der sozialpolitische Geschenke für allerlei Wählergruppen schnürte. Ein möglichst großes Stück vom allgemeinen

45

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 279 beiterversicherung im Wahljahr eine durchschnittliche Steigerung ihrer Bezüge um 65 Prozent, für die Angestelltenversicherung waren es gar 72 Prozent. Das Dankeschön der Beschenkten blieb nicht aus: Im September 1957 konnte die Union bei der Bundestagswahl eine absolute Mehrheit der Sitze erringen. Die Kritiker wie Erhard und Röpke schienen widerlegt, da kein inflationärer Schub durch die zusätzliche Kaufkraft auftrat; die langfristig steigende Belastung der umlagefinanzierten „dynamischen Rente" wurde erst dann spürbar und immer schwerer zu tragen, als die politisch Verantwortlichen längst abgetreten waren (vgl. Schwarz, 1981, S. 324-336.). Noch schärfer urteilt Mierzejewski (2005, S. 240): „Die Verabschiedung dieses Gesetzes kann mit gutem Grund als das Ende der sozialen Marktwirtschaft angesehen werden. Es markierte eine entschiedene Abkehr der Politik weg vom Markt und hin zu Schaffung des Wohlfahrtsstaates."

1.7. Auseinandersetzung mit dem Osten Der Ausbau des westdeutschen Sozialwesens war für Adenauer auch ein Mittel, um im Systemwettbewerb mit der DDR zu punkten. Diese versprach ihren Bürgern umfassende Versorgung. Für den Kanzler ergab sich daher die Notwendigkeit, die „Soziale Marktwirtschaft" gegenüber dem Sozialismus so attraktiv wie möglich zu machen. Auch die MPS setzte sich mit den Erfordernissen des Kalten Krieges auseinander, besonders auf ihrer Tagung 1956 in Berlin, jedoch kam sie zu gänzlich anderen Schlußfolgerungen: Nicht Nachahmung kollektivistischer Sicherungssysteme, sondern eine konsequente Annäherung an das Ideal der Marktwirtschaft müsse die Politik des Westens sein. Nur dies bedeute mehr ökonomische Stärke und sichere die Freiheit, so der allgemeine Tenor der MPS-Redner in Berlin. Erhard warnte vor einer Abkehr von marktwirtschaftlichen Prinzipien durch verteilungs- und sozialpolitische Vorstöße: Die „Ideologie der ,Neuverteilung des Sozialprodukts'" leiste egalitären Tendenzen Vorschub, die auf kurzfristigen Konsum ausgerichtet seien, aber die Wirtschaft langfristig schwächten, so der Bericht der NZZ (Bieri, 1956b). Mit den rätselhaften politischen Entwicklungen in Moskau beschäftigte sich Rüstow (1956a). In einem zweiten Vortrag erhob er schwere Vorwürfe gegen den aufkommenden Wohlfahrtsstaat: Der Ausbau kollektiver Versorgung schwäche die dezentralen, subsidiären Kräfte, besonders den Zusammenhalt der Familien, und berge die Gefahr der Inflation und des Verlusts persönlicher Freiheit durch umfassende Kontrolle als Kehrseite der umfassenden Versorgung (vgl. Rüstow, 1956b). Hunold hatte für die kleine Gruppe von 40 Teilnehmern des Berliner MPS-Treffens ein etwas abgelegenes Hotel in Grunewald ausgewählt. Neben Vorträgen und Diskussionen standen auch Besuche beim Westberliner Senat und der Industrie- und Handelskammer auf dem Programm. Einige Mitglieder machten auf eigene Faust einen Abstecher in den Ostteil der Stadt. Hier fanden sie all das verwirklicht, wovor Hayek in „The Road to Serfdom" gewarnt hatte: Der seit 1945 betriebene Aufbau einer Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild hatte zu massiven Einschnitten in die Freiheit und Würde der DDR-Bürger geführt.

Wohlfahrtskuchen für die eigene Klientel abzuschneiden, war Ziel des Arbeitskreises, den Spötter treffend „Kuchenausschuß" nannten.

280 • Wandlungen des Neoliberalismus

Nach der Phase der „demokratisch-antifaschistischen Umwälzung", so die SED-Sprachregelung, angefangen mit der „Bodenreform" und der Verstaatlichung eines Großteils von Industrie, Finanzsektor, Gewerbe und Handel, folgte ab Ende 1949 eine zweite, ruhigere Phase der „Errichtung der Grundlagen des Sozialismus". Zugleich verstärkte die SED nun die ideologische Konfrontation mit dem „kapitalistischen Klassenfeind". Zielscheibe ihrer Propaganda war das marktwirtschaftliche Gegenbild im westdeutschen Teilstaat, der sich ökonomisch weit dynamischer entwickelte. Um so heftiger tobte daher die Propagandaschlacht. Als Reaktion auf die NZZ-Berichte zur MPS-Tagung in Berlin ließ die SED-Parteizeitung Neues Deutschland den Ökonomiestudenten Herbert Meißner einen Aufsatz schreiben. Er sollte die Fehler der Neoliberalen entlarven. In der Marktwirtschaft hätten die Individuen zwar die Freiheit, ob sie „schwarze oder braune Schuhe" tragen wollten, schrieb Meißner, sie blieben jedoch sozial in ihrer Gehaltsgruppe gefangen. Insbesondere hingen die Bildungschancen von den finanziellen Möglichkeiten ab. „Man vergleiche damit die Entwicklungsmöglichkeiten für jeden Befähigten in der DDR oder die freimütige Diskussion unserer Werktätigen über die Verbesserung der Verwaltung von Staat und Wirtschaft." Die Hauptschwierigkeit der Marktwirtschaft, das habe die MPS-Tagung ergeben, sei die zunehmende Machtkonzentration, wogegen in der DDR „die Verwaltung von Staat und Wirtschaft immer demokratischere Formen annimmt". Im Unterschied zum Westen, der stets mit Inflationstendenzen zu kämpfen habe, sei die sozialistische Planwirtschaft gegen solche Übel gefeit (Meißner, 1956). Aggressiver und polemischer noch geriet eine im Jahr 1957 veröffentlichte Abrechnung mit „Theorie und Praxis des Neoliberalismus" aus der Feder des Ost-Berliner Hochschullehrers Robert Naumann. „Das Märchen von der freien oder sozialen Marktwirtschaft" lautete der Untertitel seines Buchs. Der marxistische Professor gab zu, daß neben Unternehmern auch „breite Schichten der Werktätigen, Mittelständler und Bauern" in den „Bann" der neoliberalen Lehren geraten seien. „Es gelang den herrschenden Kreisen Westdeutschlands sogar, Teile der Arbeiterklasse vermittels der Lehre von der sozialen Marktwirtschaft zu verwirren" (Naumann, 1957, S. 8). Dabei sei der Neoliberalismus als „ideologische Waffe des untergehenden Kapitalismus" zu entlarven (ebd., S. 11). Getreu dem marxistischen Muster erklärte Naumann den Neoliberalismus zum „Produkt der Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus". Er bringe das Bestreben der „Großbourgeoisie" zum Ausdruck, die „kapitalistische Ausbeutung den geänderten Verhältnissen anzupassen" (ebd., S. 56). Im Abschnitt „Praxis" versuchte Naumann eine reale Verelendung der westdeutschen Arbeiter und die überlegene Leistungsfähigkeit des Sozialismus der DDR zu belegen. Diese holzschnittartige Gegenüberstellung entsprach wohl ideologischen Vorgaben, aber überhaupt nicht der Realität. In den fünfziger Jahren flüchten hunderttausende DDR-Bürger über die innerdeutsche Grenze, obwohl sie dort laut Naumann nur „Lohnsklaverei" erwartete. Die Neoliberalen bezeichnete er als „Feinde des deutschen Volkes und Helfershelfer der Kriegstreiber" (ebd., S. 366). Seine abschließende Verwünschung galt der „seit mehr als hundert Jahren" sich entwickelnden „Inkonsequenz, Doppelseitigkeit, Heuchelei und Sophisterei des Liberalismus", die im Neoliberalismus „auf die Spitze getrieben" sei. Der Neoliberalismus verkörpere „eine Weiterentwicklung der reaktionären Züge des Liberalismus"

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 281 und zeige „das Fortschreiten des Verwesungsprozesses der reaktionären politischen Ökonomie" (ebd., S. 383). Sicher sei, so Naumanns pathetische Schlußsätze: „Die Krise reift schnell heran. Aufgabe der Arbeiter wird sein, dem Neoliberalismus den Todesstoß zu versetzen" (ebd., S. 393). Mit solchen Leuten war kaum zu diskutieren. Die Ideologen im Osten ließen sich nicht durch Argumente, nur durch Stärke beeindrucken, war die Mehrheit der Mitglieder in der MPS überzeugt. In der Frage der richtigen Strategie im Kalten Krieg vertraten sie daher einen harten Kurs gegenüber Drohungen und waren nicht bereit zu einer auch nur rhetorischen Entspannung. 46 Als besonders kämpferisch tat sich hier Hunold hervor, der 1955 in seinem Schweizerischen Institut für Auslandsforschung einen Vortragszyklus zum „Kalten Krieg" organisiert hatte. 47 Ziel sei es, die geistigen Grundlagen des kommunistischen Totalitarismus zu erforschen, „jener Bewegung, die nicht nur durch brutale militärische Kraftentfaltung, sondern mittels eines feingespannten und geschickt getarnten Netzes von Beeinflussungen unsere abendländische Zivilisation bedroht", so der MPS-Sekretär im Geleitwort zu dem Sammelband mit den Vorträgen. Dies sei dringend notwendig, „denn die große Gefahr einer Koexistenz besteht ja gerade darin, daß wir uns in Sicherheit wiegen, daß man versucht, uns einzuschläfern, und daß die ideologischen Gegensätze vergessen werden" (Hunold, 1955a, S. 7 bzw. 9, kursiv, im Orig.). Diese Gefahr bestand bei den aktiven Mitgliedern der MPS nicht, doch auch hier gab es abweichende Meinungen. Während die meisten Neoliberalen auf Härte setzten, glaubte Böhm durch eine Verringerung der Konfrontation den Zerfall der kommunistischen Systeme beschleunigen zu können. Beim Berliner MPS-Treffen erläuterte er seine Strategie: Die Schwachstelle der Planwirtschaft sei die inhärent schlechte Konsumgüterversorgung, die zugunsten der Rüstungs- und Investitionsgüter chronisch vernachlässigt werde. Der Westen könne diese Schwachstelle aber nur durch eine „Entdramatisierung" der Gegnerschaft offenlegen. Wenn man sich zwar um militärische Abwehrbereitschaft, aber zugleich um verbale Abrüstung bemühe, müßten die Defizite im Osten offenbar werden und die wachsende Unzufriedenheit der Bürger den inneren Verfall der kommunistischen Diktaturen beschleunigen, so hoffte der CDU-Politiker (vgl. Böhm, 1956, bes. S. 17-20). Heftiger Widerspruch kam von Röpke, der eine „Politik des unentwegten Stillhaltens" und Abwartens auf den Selbstzerfall des Kommunismus entschieden ablehnte. Dies werde die bei vielen im Westen ohnehin verbreitete Neigung zu ideologischen Kompromissen und Nachgeben gegenüber dem Ostblock noch verstärken, warnte er in der Diskussion (vgl. Bieri, 1956a). Auch gegen die Möglichkeit einer gelockerten Handelspolitik wurden Einwände erhoben: Nach Ansicht von Wolfgang Förster, einem übergelaufenen höheren Beamten der ostzonalen Regierung,

Als prominente Ausnahme wäre Walter Lippmann zu nennen, der in seinen Zeitlingskommentaren für Verhandlungen mit den Sowjets und das Modell einer friedlichen „Koexistenz" warb; grundsätzlich schien er eher Westdeutschland als dem Osten zu mißtrauen (vgl. Schlaack, 2004, S. 365-366). Viele MPS-Mitglieder hielten Lippmanns Publizistik für fatal, da sie eine Schwächung der antikommunistischen Frontstellung befürchteten. Wie bereits erwähnt, hatte sich eine geistige Entfremdung zwischen Lippmann und den Neoliberalen schon seit längerem abgezeichnet. 47 Von zwölf Rednern waren neun MPS-Mitglieder, darunter Carlo Antoni, Raymond Aron, Hans Barth, Salvador de Madariaga, Röpke, Rüstow und David McCord Wright, was einmal mehr die Bedeutung des neoliberalen Netzwerks für Hunolds Institut belegt.

46

282 • Wandlungen des Neoliberalismus

bot der Osthandel der DDR die praktische Chance, die Versorgungsengpässe ihrer Planwirtschaft zu lindern, und stabilisiere so das Ost-Berliner Regime (vgl. ebd.).48 Wie stark die im Warschauer Pakt zusammengeschlossenen Staaten militärisch wie wirtschaftlich tatsächlich waren, blieb eine offene Frage. Den offiziellen Statistiken des Ostblocks war nicht zu trauen, doch seit es den Sowjets 1957 gelungen war, mit dem Sputnik den ersten Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schießen, ging im Westen die Angst um, der Osten habe technologisch stark auf- oder gar überholt. Nicht wenigen Beobachtern erschien es, der Sozialismus könne die Marktwirtschaft an Innovationskraft übertreffen.49 Dieser Einschätzung trat G. Warren Nutter, Friedmans erster Doktorand, beim MPS-Treffen in Oxford entgegen. Die tatsächliche sowjetische Wirtschaftskraft schätzte er Mitte der fünfziger Jahre auf nur 23 Prozent der US-amerikanischen Wirtschaftskraft (vgl. Nutter, 1959a/1983, S. 170). Das war weit weniger, als allgemein angenommen wurde. Der an der Universität Virginia lehrende Ökonom betonte zudem, daß die Aufholjagd der Sowjets nicht durch höheres Produktivitätswachstum, sondern durch vermehrten Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit und auch Kapital erfolge. Nur rund 40 Prozent des sowjetischen Wachstums seit der Revolution seien auf gestiegene Produktivität zurückzuführen, wogegen diese in den Vereinigten Staaten ganze 67 Prozent ausmache (vgl. ebd., S. 167). Daraus folgte die beruhigende Erkenntnis, daß die Sowjets den Westen ökonomisch nicht einholen würden: Da die Fortschritte der sozialistischen Planwirtschaft hauptsächlich auf einer verschärften Arbeitspflicht für alle Bürger beruhten, das Erwerbspersonenpotential jedoch bald ausgeschöpft sein würde, müsse das Wachstum der Sowjetunion bald an Grenzen stoßen.50 Mit dieser Analyse stand Nutter Anfang der sechziger Jahre eher allein da.51 Beim MPS-Treffen in Stresa 1965 arbeitete er die Probleme der sowjetischen Wirtschaft noch stärker heraus. Er betonte erneut die Einseitigkeit der sozialistischen Industrialisierung. Völlig vernachlässigt worden seien Wohnwirtschaft, Verkehrswesen, Landwirtschaft, Dienstleistungssektor und Leichtindustrie. Es herrsche große Unzufriedenheit bei den russischen

48 Zudem rechnete Förster vor, wie die DDR ihre Ausfuhren in den Westen künstlich verbilligte, indem sie innerhalb der staatlichen Volkswirtschaft kräftig quersubventionierte und in einigen Bereichen die Löhne auf künstlich niedrigem Niveau hielt (vgl. Bieri, 1956a). 4 ' Als Antwort gab es in allen westlichen Staaten neue Anstrengungen für wissenschaftliche und technische Innovationen. Insbesondere wurde die Forderung nach mehr öffentlichen Mitteln für Forschung und Entwicklung laut. Unter den Neoliberalen gab es aber auch Kritiker der Staatssubventionierung. Yale Brozen warnte beim MPS-Treffen in Knokke, daß Steuergelder oftmals nicht besonders effizient eingesetzt würden, zudem die staatliche die private Forschung verdrängen könnte und insgesamt das Produktivitätswachstum nicht optimal sei (vgl. Brozen, 1962). Machlup argumentierte gegen eine Überbetonung von angewandter technischer Entwicklung zulasten der Ausbildung wissenschaftlicher Lehrer (vgl. Machlup 1962). Beide kamen letztlich zu dem Schluß, so der FAZ-Kommentar zu der Tagung, „daß man auf dem Gebiet der angewandten Forschung die staatlichen Anstrengungen ruhig zurückschrauben könne, es würden sich dann automatisch die privaten Anstrengungen der Industrie vermehren", wogegen die Grundlagenforschung durchaus öffentlicher Hilfe bedürfe (Neumeister, 1962). 50 Allerdings, warnte Nutter, könnten sich die Aussichten für den Westen verdüstern, wenn dieser weiter die Kräfte der Marktwirtschaft hemme, während zugleich die Sowjets erfolgreich mit Anreizsystemen innerhalb der Planwirtschaft experimentierten. Die letzten drei Absätze von Nutters Rede, die diesen Gedanken enthalten, erschienen in der gedruckten Version nicht mehr (vgl. Manuskript in: LA, MPS-SLg.). 51 Führende Ökonomen wie W. W. Rostow sagten der Sowjetunion einen Sprung auf die letzte „Entwicklungsstufe" und damit eine dynamische Zukunft voraus (vgl. Nützenadel, 2005, S. 190-191).

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 283 Verbrauchern. Eine von westlicher Seite blauäugig betriebene „Entspannung" würde in dieser Situation nur den Machthabern helfen, erklärte er (vgl. Nutter, 1965/1983). 52 Verschiedentlich suchten MPS-Mitglieder auch in direkten Kontakt mit sowjetischen Wissenschaftlern zu treten, um ihnen neoliberales Gedankengut vorzustellen. Hier tat sich Renato Mieli von der Universität Venedig hervor, einst Chefredakteur des Parteiblatts der italienischen KP, der nach der russischen Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 seinen früheren Uberzeugungen abgeschworen hatte. Als Gründer des Centro per studi e ricerche su problemi economico-sociali (CESES) organisierte er ab den sechziger Jahren gemeinsam mit Nutter regelmäßig Konferenzen mit sowjetischen Ökonomen, w o über Vor- und Nachteile des plan- bzw. marktwirtschaftlichen Systems gestritten wurde. Zahlreiche MPS-Mitglieder, darunter die Friedmans, nahmen an diesen Konferenzen teil. Die Beschäftigung der MPS mit dem System der Planwirtschaft beschränkte sich nicht rein auf ökonomische Aspekte. Der Erkenntnis der Interdependenz der Ordnungen folgend nahm man stets auch die politischen und sozialen Umstände der unterschiedlichen Systeme von Markt- und Planwirtschaft in den Blick. Als die MPS 1960 in Kassel erneut nahe der Grenze zum Ostblock debattierte, lautete das Motto der ersten Sitzung „The Front Lines of Freedom". In einem Schreiben an Otto von Habsburg erklärte Hunold dazu: „Unter ,Front Line of Freedom' verstehen wir das Abstecken der Grenzpunkte, bis wohin wir in der freien Welt gehen dürfen. Es soll also eine Auseinandersetzung mit dem Sinistro, dem Konformismus, den intellektuellen Progressisten, dem Osthandel und dem Kulturaustausch sein, etwa im Sinne von Röpkes ,Umgang mit dem Bolschewismus'" (Hunold an Habsburg, 3.6.1960, in: HIA, MPS-Slg. 14). Bei einer Fahrt an die innerdeutsche Grenze nahe Friedland konnten die Mitglieder der Gesellschaft die mit Stacheldraht bewehrten DDR-Sperranlagen inspizieren. Rund ein Jahr später baute das SED-Regime die Berliner Mauer, um die fortgesetzte Abwanderung gerade ihrer jungen, qualifizierten Bürger zu stoppen. Eine weitere Eskalation des Kalten Krieges stand bevor. Im Wettbewerb der Systeme hatte die D D R damit die Notbremse gegen ein weiteres personelles Ausbluten gezogen und indirekt ihr ökonomisches und politisches Scheitern eingestanden. Der durch Ludwig Erhards Wirtschaftsreformen eingeleitete Aufschwung in Westdeutschland zeigte sich dem geplanten Aufschwung in Mitteldeutschland weit überlegen. Hayek würdigte rückblickend die Leistung Erhards, Euckens und Müller-Armacks bei der Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft als ungeheuer wichtigen Beitrag zur „Wiederbelebung des Wirtschaftsliberalismus" in den fünfziger und sechziger Jahren. „Das Beispiel hatte wohl größere internationale Wirkung als die im gleichen Zeitraum einsetzenden Bemühungen um eine geistige Wiedergeburt und Rekonstruktion der Theorie des Liberalismus", meinte Hayek (1973b/1996, S. 249). In gewisser Weise relativierte er damit seine sonst betonte Uberzeugung vom Primat der Ideen. Was Erhard 1948 vollbracht hatte, war reinste „Propaganda der Tat".

Mitte der sechziger Jahre gingen auch die offiziellen Einschätzungen der CIA und anderer Dienste von einer schwächeren Leistungskraft der Moskauer Planökonomie aus. Nutter wurde unter Präsident Nixon von 1969 bis 1 9 7 3 Assistent Secretary im amerikanischen Verteidigungsministerium. 52

284 • Wandlungen des Neoliberalismus

2. Italien: Stabilisierung in unsicheren Zeiten Ein kleines „Wunder" war auch in Italien geschehen. Es galt in den frühen fünfziger Jahren neben Deutschland als Beispiel einer marktwirtschaftlichen Neuorientierung, wenn es auch eine vergleichbare ordnungspolitische Linie vermissen ließ. Kurz nach Kriegsende schien auch eine linkssozialistische Entwicklung möglich. Das in Opposition zu Mussolinis Herrschaft gebildete „antifaschistische" Bündnis war weltanschaulich heterogen und zeigte schon bald Risse. Zur Frage der wirtschaftlichen und konstitutionellen Neuordnung des Landes vertrat man diametral entgegengesetzte Konzepte. 1946 begann sich die politische Landschaft zu polarisieren, die Auseinandersetzung zwischen konservativ-liberalen und sozialistischen Kräften nahm an Schärfe zu. Angesichts des politischen Gewichts linksextremer Gruppierungen war die Zukunft höchst ungewiß. Bei der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung Anfang Juni 1946 erhielten die fast gleichstarken sozialistischen und kommunistischen Parteien knapp über 40 Prozent der Stimmen. Bis Ende der vierziger Jahre stand das Land mehrfach am Rande einer kommunistischen Machtübernahme. In dieser Situation war es von großer Bedeutung, rasch die italienische Wirtschaft, besonders aber die Währung, zu stabilisieren. Daß dies gelang, war zum großen Teil der drastischen geldpolitischen Bremsung zu verdanken, die Luigi Einaudi, seit 1945 Gouverneur der Notenbank, durchsetzen konnte. 53 Es gelang ihm damit, den weiteren Verfall der Lira zu stoppen. Die Bedeutung dieses Schritts in jener politisch überhitzten Zeit kann schwerlich überschätzt werden. Einaudi stand bereits in seinem achten Lebensjahrzehnt, als ihm diese herausragende Aufgabe zufiel. Neben seiner Tätigkeit an der Spitze der Nationalbank wirkte er als Mitglied der Liberalen Partei in der verfassunggebenden Versammlung mit. 1947 wurde Einaudi unter De Gasperi kurzzeitig Finanzminister und Vizepremier. Im März 1948 wählte ihn das nun bürgerlich dominierte Parlament zum Präsidenten der Republik. In den sieben Jahren seiner Amtszeit übte Einaudi einen mäßigenden Einfluß auf die Parteien aus, konnte aber konkrete wirtschaftspolitische Entscheidungen nur noch in geringem Maße beeinflussen. Neben Einaudi hatten noch einige weitere italienische MPS-Mitglieder in der kritischen Phase der späten vierziger Jahre politische Schlüsselstellungen inne, so Costantino BrescianiTurroni, seit Kriegsende Direktor der Bank von Rom und 1946 bis 1947 kurzzeitig italienischer Außenhandelsminister. Der noch junge Finanzwissenschafder Giovanni Demaria führte in der verfassungsgebenden Versammlung den Vorsitz der Wirtschaftskommission. 54 Eine wichtige geistige Autorität im Hintergrund war der in Rom lehrende Philosoph Carlo Antoni, ein Schüler Benedetto Croces, der als einziger Italiener an der MPS-Gründung 1947 teilnehmen konnte. Neben Croce, der lange Zeit die größte philosophische Autorität des 53 Geboren 1874 in Piemont, begann er noch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Privatdozent an der Universität Turin zu lehren. Im Jahr 1 9 1 9 zum Senator auf Lebenszeit ernannt, opponierte Einaudi dann 1924, nach der Ermordung Matteottis, öffentlich gegen Mussolinis Regime, wurde darauf aus allen Ämtern an der Universität endassen und zog sich auf sein abgelegenes Landgut im Piemont zurück. Im September 1943, nachdem Mussolini nochmals die Macht übernommen hatte, war der fast siebzigjährige Senator a.D. mit seiner Frau zu Fuß über einen einsamen Bergpaß in die Schweiz geflüchtet, w o sie mehr als ein Jahr in verschiedenen Auffanglagern lebten. 54 Zu den wirtschafte- und sozialpolitischen Ansichten der drei neoliberalen Ökonomen Einaudi, Bresciani-Turroni und Demaria vgl. die aus sozialdemokratischer Sicht verfaßte Arbeit von Richter (1963), der besonders Einaudi wirtschaftsliberalen Dogmatismus vorwirft. Zu den Biographien der drei vgl.: ebd. (S. 3-5).

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 285 italienischen Liberalismus war, trat immer stärker Einaudi als geistiger Vater des italienischen Neoliberalismus hervor. 55 Ein frühes Zentrum dieser schon in den dreißiger Jahren in Umrissen erkennbaren Denkrichtung war die privat errichtete Handelshochschule Bocconi in Mailand, an der Einaudi und Bresciani zeitweise lehrten und deren Rektor Demaria nach 1945 wurde. Die Kontakte zur MPS kamen hauptsächlich über Röpke zustande, der den wesentlich älteren Einaudi schon in den zwanziger Jahren bei einer Konferenz kennengelernt hatte. Die beiden blieben in Briefkontakt und spürten eine Geistesverwandtschaft. Ihr Verständnis dessen, was den Neoliberalismus ausmache, ähnelte sich sehr. So schrieb Einaudi eine Besprechung zu Röpkes Buch „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart", dessen Argumente er in einfühlsamer und zustimmender Weise referierte (vgl. Einaudi, 1942/1954). Ein Ökonom, der nur ökonomische Fakten zusammentrage und rein utilitaristisch die Effizienz von Märkten analysiere, jedoch die weiteren kulturellen Zusammenhänge ignoriere, sei ein schlechter Ratgeber, war Einaudi überzeugt. Die wettbewerbliche Marktwirtschaft bedürfe einer sie stützenden, dezentralen mittelständischen Sozialstruktur, um eine menschenwürdige Gesellschaftsordnung zu schaffen. Die Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht in wenigen Händen erachtete Einaudi als Fehlentwicklung, die potentiell größte Gefahren berge. Für ihn stellten Monopole den „Feind Nr. 1" der Gesellschaft dar, deren Entstehung er aber hauptsächlich durch staatliche Interventionen, durch Zölle, Subventionen und Kontingente begünstigt sah (vgl. Richter, 1963, S. 39-40). Italiens jüngere Geschichte bot dafür Anschauungsunterricht. Mussolini hatte nach seinem Machtantritt versucht, Italien durch eine staatlich geförderte wirtschaftliche Umstrukturierung autark zu machen. Die Effizienz der „korporatistischen" Lenkung blieb weitgehend propagandistische Fiktion. Seit 1933 erlangte das staatliche Instituto per la Ricostruzione Industriale (IRI) durch Kreditvergabe an notleidende Unternehmen indirekt Kontrolle über diese.56 Ein großer Teil der italienischen Wirtschaft, darunter das gesamte Telekommunikationsnetz, die Fluggesellschaften, die Mehrzahl der Schiffswerften, fast die gesamte Eisenproduktion, ein Großteil der Stahlindustrie, ein Viertel der Finanzbranche und viele andere Betriebe, blieb auch nach dem Krieg im staatsnahen Bereich. Ab Mitte der fünfziger Jahre stieg der staatliche Raffineriegigant ENI unter der Führung des energischen Enrico Mattei zu einem der beherrschenden Unternehmen des Landes auf; dieser Erfolg diente Befürwortern eines staatswirtschaftlichen Modells als Beleg für die Vorzüge effizient geführter staatlicher Unternehmen. Die italienischen Neoliberalen dagegen kritisierten die große Zahl von Staatsbetrieben. Einaudi entwickelte nach dem Krieg detaillierte Vorschläge, wie Privatisierungen durchzuführen seien, damit die Anteile an den Unternehmen möglichst breit gestreut würden. Nur bei technisch unvermeidlichen Monopolen sei ein öffentlicher Betrieb zu empfehlen (vgl. 55 Anders als Croce, der zwischen „liberalismo" und „liberismo" unterschied, glaubten Einaudi und die übrigen Neoliberalen nicht, daß es möglich sei, wirtschaftliche und politische Freiheit zu trennen, sondern verteidigten die Marktwirtschaft sowie das Privateigentum als Garanten von persönlicher Würde und politischer Freiheit (vgl. dazu Antoni, 1957). 56 Zunächst betraf dies die drei wichtigsten Banken, dann die Schwerindustrie, Teile der Textilbranche in Süditalien und anderer Wirtschaftszweige. Das v o m IRI dirigierte Geflecht von Konzernen überlebte den Systemwechsel 1 9 4 5 relativ unbeschadet.

286 • Wandlungen des Neoliberalismus

Richter, 1963, S. 20-22). Das Ziel der Neoliberalen um Einaudi, Bresciani-Turroni und Demaria war die Entfaltung einer kompetitiven, dezentralen Privatwirtschaft innerhalb eines rechtlichen Rahmens. Als Voraussetzung füir dynamisches Wachstum sahen sie die Eröffnung von Freiräumen für die Privatwirtschaft. Dafür waren politische Weichen gestellt worden. Schon kurz nach Kriegsende wagte die Regierung auf Drängen Einaudis erste Schritte zur Aufhebung von Preiskontrollen und Rationierung, 1946 wurde der Außenhandel teilweise liberalisiert. Wie in Westdeutschland entfesselte dies die Marktkräfte. In den fünfziger Jahren erlebte Italien ein robustes Wirtschaftswachstum von fast 5 Prozent jährlich. Wie in Deutschland kam bald die Rede von einem „Wunder" auf (vgl. Scimone, 1964). Die Ursachen dafür waren umstritten. Wie in Deutschland half der langsam einsetzende Strukturwandel, bei dem Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abwanderten und für die Industrie frei wurden. Das Problem des starken regionalen Gefälles zwischen dem aufstrebenden Norden und dem stagnierenden Süden blieb jedoch bestehen. Der öffentliche Sektor war mächtig, einige Chefs großer Staatsbetriebe entwickelten auch politische Ambitionen, wie Bruno Leoni vor der MPS in Oxford beklagte (vgl. Hamm, 1959). Mehrfach gab es Mitte der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre unter sozialistischen Regierungen Ansätze zu einer staatlichen Rahmenplanung und großen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zugunsten der strukturschwachen Regionen. Mangels Praktikabilität kamen diese aber nicht über das Stadium theoretischer Erwägung hinweg. Der Versuch einer umfassenden Planwirtschaft, so kommentierte Sergio Ricossa vor der MPS, sei zum Scheitern verurteilt, auch wegen des Zustands der italienischen Verwaltung (vgl. Ricossa, 1964). Die Bilanz der italienischen Neoliberalen in den fünfziger Jahren war also trotz anfänglicher Erfolge gemischt. Hatte Einaudi nach dem Krieg mit der Stabilisierung der Währung einer marktwirtschaftlichen Entwicklung ein solides Fundament gegeben, so war in den folgenden Jahren von einer konsequent wettbewerbsorientierten Politik wenig zu sehen. Einaudi gab sowohl uneinsichtigen Politikern wie auch untauglichen Wirtschaftsberatern die Schuld daran. Bei der Turiner Tagung der MPS 1961 hielt der greise Altpräsident die Eröffnungsrede. Sein Vortrag „Politicians and Economists" beklagte eine einseitig auf mathematisch-technische Analysen ausgerichtete ökonomische Wissenschaft, deren Expertenjargon dem Politiker zwar unverständlich bleibe, ihn aber um so mehr beeindrucke. Die Aufgabe neoliberaler Ökonomen sei es, mit klarer Sprache die einfachen Zusammenhänge zwischen gesetzlicher Regulierung und dem davon bestimmten Verhalten der Bürger zu erklären — etwa zwischen einer hohen Grenzsteuerbelastung und geringer Arbeits- oder Investitionsneigung (vgl. Einaudi, 1961, S. 5-7). Der verantwortungsbewußte Ökonom, so Einaudi, dürfe sich nicht auf die neutrale Darstellung von Ursachen und Wirkungen beschränken, sondern müsse einen eigenen ethischen Standpunkt beziehen, ein „Werturteil" wagen. In der Kontroverse um kumulative Verstaatlichungen dürfe er nicht allein auf die Probleme einer effizienten Führung sozialisierter Unternehmen verweisen, sondern müsse fragen, welche politischen und gesellschaftlichen Folgen die Tendenz zu einer Verflechtung von Staat und Wirtschaft habe: „Die Gesellschaft, die zu immer mehr staatlicher Organisation tendiert, wird einen neuen Typ Arbeiter hervorbringen", warnte Einaudi. „Eine verstaatlichte Gesellschaft, die Schritt für Schritt ein Monopol über die Arbeitswelt verlangt, verändert allmählich ihr Wesen" (ebd., S. 7). Der Wirt-

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 287

schaftswissenschaftler dürfe sich bei solchen Fragen nicht hinter einer vorgeblichen Neutralität wertfreier Analysen verstecken, schärfte der italienische Altpräsident den Teilnehmern der MPS-Konferenz ein (vgl. ebd., S. 8). Knapp zwei Monate später starb er auf seinem Alterssitz im Piemont.

3. Frankreich: Etatismus mit Tradition Wie in Italien ging auch in Frankreich die extreme Linke, die sich in der Résistance hervorgetan hatte, gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervor und forderte nun mehr staatliche Kontrolle über die Wirtschaft. Auch die politische Rechte hing etatistischen und dirigistischen Konzepten an. Weithin wurde die militärische Niederlage 1940 als Folge der Schwäche einer rückständigen, von risikoscheuen Familienbetrieben geprägten Wirtschaftsstruktur gedeutet, die dringend einer umfassenden Modernisierung bedürfe.57 Schon im März 1944 hatte die Exilregierung um General de Gaulle ein breit angelegtes Verstaatlichungsprogramm verkündet. Dessen Ziel einer allgemeinen strukturellen Reform hatte der Conseil National de la Résistance entworfen, teils nach dem Vorbild der Sowjetunion, teils nach dem Beispiel des New Deal. Getrieben von der Kommunistischen Partei (PCF) und der ihr nahestehenden Gewerkschaft CGT nahm die Regierung so innerhalb von zwei Jahren einen erheblichen Teil der Industrie in öffentlichen Besitz. Bereits Ende 1944 war ein Großteil aller Kohlebergwerke verstaatlicht, Mitte 1945 wurde der Flugzeugmotorenhersteller Gnome & Rhône sowie der Automobilbauer Renault konfisziert, wenig später die Banque de France sowie die vier größten Geschäftsbanken des Landes und 1946 die gesamte Versorgungswirtschaft und drei Dutzend Versicherungsgesellschaften (vgl. Chadeau, 2000, S. 188-190).58 Zwar endete die Welle der Verstaatlichungen 1947, und die PCF, bei den ersten Wahlen zur Nationalversammlung 1945 noch knapp stärkste Partei vor Christdemokraten und Sozialisten, schied aus der Regierung aus. Über die Gewerkschaft CGT und die erweiterten Möglichkeiten der Mitbestimmung übte sie aber weiter indirekt Einfluß auf große Teile der Industrie aus. Ihr Streikpotential blieb eine ernste Bedrohung für die kurzlebigen Regierungen der IV. Republik.

57 Diese damals verbreitete These stellte in systematischer Form erstmals David Landes (1949) auf. Er vertrat die Ansicht, daß Frankreichs eher schleppende wirtschaftliche Entwicklung im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert den allzu konservativen, patriarchalisch geführten Unternehmen geschuldet sei. In ähnlicher Weise argumentierte später Wiener (1981), der relative Niedergang Großbritanniens seit dem späten neunzehnten Jahrhundert sei einer passiven, wenig initiativen Oberschicht anzulasten, die neue Chancen in der Industrie verschlafen und sich lieber auf Landgütern vergnügt habe. 58 Insbesondere die Verstaatlichung von Renault ging auf starken Druck der Kommunisten zurück, die das Unternehmen der Kollaboration mit den deutschen Besatzungsbehörden verdächtigten. Allerdings hatten Renaults Hauptkonkurrenten in ebenso großem Umfang Fahrzeuge für die deutsche Armee gebaut. Chadeau schreibt daher, die Enteignung von Renault wie Gnome & Rhone sei „als Rache für die Vorkriegsperiode" zu verstehen, „als beide Firmen und ihre Führung sehr aktiv waren im Kampf gegen den wachsenden Einfluß der Kommunistischen Partei in strategischen Industrien" (Chadeau, 2000, S. 189).

288 • Wandlungen des Neoliberalismus

3.1. Laboratorium der „indikativen" Planung Frankreich entwickelte sich in den kommenden Jahrzehnten zu einem Laboratorium für mildere Formen einer protektionistischen Planwirtschaft, teilweise mit deutlich nationalistischen und autarkistischen Zügen. 59 D e Gaulle, der 1944 erste Weichen stellte, verfügte zunächst über kein eigentliches wirtschaftliches Programm. Aufgrund seiner militärischen Erfahrungen war er jedoch instinktiv geneigt, das Funktionieren der Wirtschaft eher nach dem Modell einer Steuerung durch eine starke zentrale Hand zu sehen. Hier sah er die Aufgabe des Staates. Jean Monnet, sein wichtigster Berater in ökonomischen Fragen, erklärte als oberste Priorität eine Modernisierung der Industrie und rasche Steigerung der Produktion. Dazu wurde 1946 ein Commissariat Général du Plan eingerichtet, dessen Leiter er wurde. In dieser Funktion ging Monnet nun daran, Ressourcen und Investitionen zu lenken und Strategien für mehr Wachstum zu entwerfen. Dies alles geschah in enger Abstimmung mit Gewerkschaften und Arbeitgebern. Private unternehmerische Initiative allein sah die Regierung als ungenügend an, um Frankreich ökonomisch zu stärken und seine Position in der Welt zu sichern. Während der ersten Planperiode von 1947 bis 1950 waren vornehmlich die Basissektoren betroffen, später wurde der Plan auf die gesamte Volkswirtschaft ausgeweitet. Mit dem Hinweis auf ökonomische Stagnation und geringe Investitionsneigung französischer Unternehmer in der Zwischenkriegszeit wollte nun eine rational geschulte staatliche Bürokratie die Privatwirtschaft antreiben. Ihre Methode der „indikativen Planung" setzte sich von der starren Planwirtschaft östlicher Prägung dadurch ab, daß man statt mit direkter Anweisung und Kontrolle eher mit Anreizen und sanftem Druck operierte. Mittels Voraussagen über die künftige Entwicklung wichtiger makroökonomischer sowie sektoraler Größen sollten den formal freien Unternehmern von staatlicher Seite Anhaltspunkte für Investitionen und Produktion gegeben werden. 60 Von der Einbettung privaten wirtschaftlichen Handelns in den großen nationalen Plan erhoffte sich der Staat eine Reduktion des individuellen Risikos und mehr konjunkturelle Stabilität. Die Mehrheit der französischen MPS-Mitglieder lehnte das ganze Konzept der „Planifikation" vehement ab, doch gab es auch vereinzelte Anhänger. Diese Spaltung der neoliberalen Wissenschaftler in einen kleinen dirigistischen und einen größeren antidirigistischen Flügel empfand nicht nur der Berichterstatter der FAZ als „kurios" (vgl. Grün, 1964a). Kritiker wie der Rechtsprofessor Daniel Villey von der Universität von Poitiers beklagten, die „Planifikation" verführe zu einem Glauben an die Allmacht der Technokraten statt zum Vertrauen in die private Initiative. Letztlich bezweifelte er, ob es wirklich einen Plan oder

59 Der historische Vorläufer dieser dirigistischen und voluntaristischen Auffassung von Wirtschaftspolitik ist im Colbertismus zu finden. Im Geiste des Merkantilismus versuchte der Minister Ludwigs XIV. durch staatliche Interventionen und Lenkung Frankreichs Wirtschaft zu protegieren, zu fördern und zu modernisieren und auf das Ziel der nationalen Eigenständigkeit auszurichten. Die von Colbert gelegte Tradition lebt bis heute untergründig fort (vgl. Dormois, 2004, S. 43).

Zwar erklärte man die französische „Planifikation" als lediglich „indikativ", also „richtungsweisend", doch wußte der Staat Wege, um die Privatwirtschaft zur Gefolgschaft zu bewegen. Vor allem die Kreditvergabepolitik durch staatseigene Großbanken ebenso wie Steuervergünstigungen und Subventionen sollten die Bereitschaft zur Kooperation mit den offiziellen Planvorgaben erhöhen. Unternehmen, die sich um staatliche Aufträge bemühten, waren ebenfalls gut beraten, die Planvorgaben zu beachten (vgl. Tholl, 1965, S. 247-258). 60

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 289

nur die Fiktion eines solchen gäbe (vgl. Villey, 1964). Andere Teilnehmer der MPS-Tagung in Semmering wiesen darauf hin, auf welch dünner und fragwürdiger statistischer Grundlage die indikativen Pläne beruhten (vgl. Grün, 1964b). Tatsächlich arbeitete im Pariser Generalplanungskommissariat, gemessen an den immensen planwirtschaftlichen Verwaltungsapparaten im Ostblock, nur ein vergleichsweise kleiner Stab von Ökonomen und Statistikern. Kritiker betonten, die Pläne seien wenig glaubhaft, da sie auf stark vereinfachenden Annahmen und spekulativen Schätzungen zum mittel- bis langfristigen Wachstum aufbauten, als deren Folge regelmäßig gravierende Voraussagefehler und grobe Verzeichnungen der tatsächlichen Entwicklung auftraten (vgl. Tholl, 1965, S. 229-236). Auffällig war zudem, daß die Vordenker und führenden Praktiker der „Planifikation" zumeist ausgebildete Ingenieure waren. 61 Aus Sicht vieler Neoliberaler war dies ein Beleg für die Thesen von Hayek und Röpke, die das planwirtschaftliche Denken auf eine mechanistische Vorstellung von Wirtschaft und Gesellschaft zurückführten. Der technische Bildungshintergrund der französischen Planungselite schien Hayeks Warnung vor einer „szientistischen Hybris" zu bestätigen (vgl. Hayek, 1952/1979, S. 185-213). In ähnlicher Weise hatte Röpke die Ursprünge des Glaubens an planwirtschaftliche Überlegenheit besonders im rationalistisch-kartesianischen Aufklärungsdenken erkannt (vgl. Röpke, 1944, S. 103-167). Neben der Ecole Polytechnique war es die Ecole Nationale d'Administration (ENA), an der ein Großteil der technokratischen Elite damals wie heute ihre Ausbildung erhielt und deren Lehrpläne großes Gewicht auf die Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit ökonomischer wie sozialer Prozesse legten. Diese Prägung mag die fortdauernde französische Neigung zu einer dirigistischen Politik erklären. Unbestreitbar erlebte auch Frankreich in den zweieinhalb Jahrzehnten nach dem Weltkrieg einen beachtlichen Aufschwung. Seine „Erfahrung mit dem Dirigismus wird allgemein wohlwollend gesehen von Historikern, die die Erfolge des ,Goldenen Zeitalters' der Ablösung der privaten durch öffentliche Entscheidungsfindung zuschreiben", schreibt Dormois (2005, S. 57). Die jährliche Wachstumsrate des BSP zwischen 1950 und 1959 lag bei durchschnittlich 4,6 Prozent. Gemessen am deutschen Wachstum von 8,6 Prozent pro Jahr mochte dieser Wert eher bescheiden wirken, er lag sogar knapp unter dem Durchschnitt der OECD-Länder (vgl. ebd., S. 18). Wie auch beim Nachbarn östlich des Rheins war ein Hauptfaktor des französischen Wachstums die Produktivitätszunahme im Sog der Aufholjagd, des „catching up", gegenüber der technisch überlegenen amerikanischen Wirtschaft. 62 Ebenso bot der Strukturwandel weg vom Agrarsektor, der allerdings durch die hohen Subventionen für Landwirte eher gebremst wurde, Aussicht auf Produktivitätsgewinne. Ob aber die Möglichkeiten der Restrukturierung und Modernisierung der französischen Wirtschaft unter der Leitung der staatlichen Planungsbehörde optimal genutzt wurden, blieb eine offene Frage. So schrieb Vera Lutz, die an der LSE ausgebildete Ökonomin und Frau des späteren MPS-Präsidenten Friedrich Lutz, als Fazit einer Studie zum französischen

Jean Monnet, der erste Plankommissar ab 1946, war gelernter Bergbauingenieur, sein Nachfolger Etienne Hirsch hatte ebenfalls Ingenieurwesen studiert. Pierre Massé schließlich, der in den sechziger Jahren die Behörde leitete, hatte an der École Polytechnique Straßenbau studiert. 62 Nach zwei Jahrzehnten relativer Stagnation in Europa existierte ein enormes Potential für Investitionen in eine technologische Modernisierung (vgl. dazu Nelson/Wright, 1992).

01

290 • Wandlungen des Neoliberalismus „Wirtschaftswunder": „Der Plan beruht im Moment ... hauptsächlich auf einer Form staatlichen ,Paternalismus' (bestehend aus finanziellen und fiskalischen Hilfen) gegenüber der Industrie oder ausgewählten Teilen davon. Eine Gefahr davon ist, daß er langfristig die Vitalität der Industrie schwächt und die allgemeine Effizienz der Wirtschaft schwächen könnte" (Lutz, 1964, S. 166). Ausdruck des mangelnden Vertrauens auf die Fähigkeiten der Privatwirtschaft waren der stete Ausbau und die Bevorzugung des öffentlichen Sektors. In den anderthalb Jahrzehnten nach Ende der Verstaatlichungswelle von 1947 gab es beinahe eine Verdoppelung des Anteils der direkt beim Staat angestellten Arbeiter und Angestellten von 8,4 Prozent auf rund 14 Prozent (vgl. Dormois, 2005, S. 45). Im Vergleich mit anderen westlichen Industrieländern lag Frankreich damit an der Spitze, ebenso bei den staatlichen Sozialleistungen. Während die Bedeutung der indikativen Investitionsplanung zur Mitte der fünfziger Jahre mangels Erfolgen zurückging, stieg das Interesse an einer expansiven keynesianischen Nachfragepolitik. Diese, da finanziert durch Geld der Zentralbank, mußte allerdings durch eine schleichende Inflation und zunehmenden Abwertungsdruck erkauft werden. So war „die Erosion der Währung der Preis, den die Regierung bereit war, für ihr Nachfragemanagement zu bezahlen" (ebd., S. 59).

3.2. Ein neoliberales Intermezzo: Rueffs Reformen Gegen Ende der fünfziger Jahre näherte sich die französische Inflationsrate einer für die Wechselkursparität des Franc kritischen Marke. De Gaulle, 1958 gerade an die Macht zurückgekehrt, gab dem Drängen seines wirtschaftsliberalen Finanzministers Antoine Pinay nach, der die Notwendigkeit einer radikalen Bremsung der französischen Ausgabenpolitik erkannte. Pinays wichtigster Berater war der prominente MPS-Okonom Rueff. 63 Als Beamter im Finanzministerium hatte dieser schon die währungspolitischen Stürme der späten zwanziger und dreißiger Jahre erlebt und schon die Stabilisierungspolitik von Poincaré maßgeblich mitentwickelt. 1940 amtierte Rueff kurzzeitig als stellvertretender Gouverneur der Banque de France, wechselte dann wieder in die Finanzinspektion, die ihm mehr Abstand zur Vichy-Regierung ermöglichte und war anschließend 1944 bis 1952 Vorsitzender der interalliierten Reparationskonferenz, später Richter am Gerichtshof der Montanunion in Luxemburg und kurzzeitig Ministerpräsident von Monaco. Eine harte Währung und freie Preise galten Rueff als Grundvoraussetzung für eine gesunde Wirtschaft. Mit zunehmender Beunruhigung verfolgte er die keynesianisch inspirierte Fiskalpolitik der fünfziger Jahre, die durch Kredite der Zentralbank an die Regierung, also Geldschöpfung, finanziert wurde. Eingreifen konnte er nicht, da er zu weit weg vom politischen Geschehen in Paris stand. Er sah sich als unbequemer Mahner, der auf Posten „im Exil" abgeschoben wurde. „Rueff, mit den Ideen, die er hat, kann man ihn nur im Ausland gebrauchen!" so lautete der Spruch über ihn im Pariser Finanzministerium (Rueff, 1961a, S. 111).

63

Zu Rueffs Leben und Werk vgl. Guindey (1997).

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 291 Die Chance, die sich unter den neuen politischen Gegebenheiten 1958 ergab, sah er sofort, wie er vor der MPS erklärte (vgl. Rueff, 1959). Ursprünglich hatte Pinay eine weitere Abwertung des Franc unter allen Umständen verhindern wollen. Rueff überzeugte ihn, daß eine Anpassung des Wechselkurses an ein realistisches Niveau unabdingbar sei, um die chronische Schieflage der Zahlungsbilanz zu beenden. Innerhalb weniger Wochen erarbeitete Rueff mit einer Gruppe von Fachleuten einen Katalog von Maßnahmen, den der französische Ministerrat in den letzten Tagen des Jahres 1958 absegnete. Im Kern ging es bei der als „Rueff-Plan" bekannt gewordenen Reform um eine Haushaltssanierung durch Steigerung der Steuerereinnahmen bei gleichzeitiger Streichung von Subventionen und Ausgaben. Warnende Stimmen sagten einen Einbruch der Konjunktur voraus, wenn der Staat sich finanzpolitisch zu stark zurücknehme, doch nichts dergleichen geschah. Die Wirtschaft wuchs Anfang der sechziger Jahre schneller als zuvor. Und erstmals seit Jahren wies Frankreich eine aktive Außenhandelsbilanz aus. Das wichtigste Ergebnis der von Rueff angeregten Sanierungsmaßnahmen war jedoch ein scharfer Rückgang der Inflation. Zum einen war deren interne Quelle verstopft worden, indem die Kredite und Vorschüsse der Banque de France an den Staat aufhörten. Zum anderen wirkte die Abwertung des Franc um 15 Prozent und die drastische Handelsliberalisierung gegenüber den fünf anderen Mitgliedstaaten der EWG im Jahr 1962 dämpfend auf die Importpreise. Das allgemeine Staunen über den unmittelbaren Erfolg seiner Reform wollte Rueff nicht gelten lassen, da er von der Wirksamkeit der neoliberalen Medizin stets überzeugt war: „Wenn Ingenieure eine Brücke konstruieren, wundert sich niemand darüber, daß sie hält; aber daß eine Stabilisierungsaktion einer langen Inflationszeit ein Ende machen soll, erscheint ungewöhnlich und suspekt", schrieb er (Rueff, 1961a, S. 118-119). Zur Jahreswende 1959/1960 legte Rueff erneut einen aufsehenerregenden Plan zur weiteren Liberalisierung und Deregulierung der französischen Wirtschaft vor, den er gemeinsam mit Louis Armand, dem langjährigen Leiter der Staatsbahnen, verfaßt hatte. Dieser Rueff-Armand-Bericht zielte explizit auf eine Beseitigung der „Sklerosen in unserer Wirtschaftsstruktur" (ebd., S. 123). Damit waren die zahlreichen Überreste protektionistischer Regulierung einzelner Berufszweige und Branchen gemeint, die noch aus der Zwischenkriegszeit, der Vichy-Ara sowie der Zeit des Wiederaufbaus stammten. Die französische Wirtschaft erschien ihnen gefangen in einem protektionistischen Schutzkäfig und einem Gespinst von Regulierungen und Kontrollen. Doch der politische Wind stand nicht mehr günstig für ihr Vorhaben, mehr Wettbewerb zu wagen. 64 Rückblickend erwiesen sich die von Rueff inspirierten Reformen nicht als Trendwende, sie blieben eine Episode. Zeitweilig konnten die französischen Finanzen konsolidiert werden, bald darauf verfiel die Regierung wieder ins alte Schuldenmachen, und die Inflation zog wieder an. Rueffs politischer Förderer Pinay wurde nach langen und zermürbenden Auseinandersetzungen mit den Anhängern einer dirigistischen Umkehr entlassen. Ministerpräsident Michel Debre leitete schon 1960 eine solche autoritäre Wende in der Wirtschaftspolitik ein, die den Planungszügel nun deutlich straffer faßte. Die massive Ausweitung der mikro- und makroökonomischen Interventions- und Steuerungsmöglichkeiten begriff er als

64 Erst sieben Jahre später wurde eine der Anregungen des Rueff-Armand-Berichts, die Deregulierung des Bankensektors, teilweise verwirklicht.

292 • Wandlungen des Neoliberalismus Chance, daß „die Regierung die Mittel zur Kontrolle der nationalen Wirtschaft erhält" (zit. n. Dormois, 2004, S. 57). De Gaulle erklärte den neuen pompösen Plan zur „großen Sache" der V. Republik und verkündete, seine Zielsetzungen hätten für jeden einzelnen Bürger den „Charakter einer brennenden Verpflichtung" (zit. n. Tholl, 1965, S. 207). Allerdings begannen aufgrund der engeren wirtschaftlichen Verflechtung im europäischen Gemeinsamen Markt die Möglichkeiten für nationalen Dirigismus zu schwinden; im Zuge der Olpreiskrise von 1973, die sämtliche Wirtschaftsdaten durcheinanderwirbelte, mußte die französische Regierung ihre „indikative" Planung endgültig begraben.

4. Großbritannien: Der Weg zum keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens Krisen- und Kriegserfahrung der dreißiger und vierziger Jahre prägten, wie bereits festgestellt, in vielen Ländern die Wirtschaftspolitik nach 1945. Auch in Großbritannien beeinflußte die Wahrnehmung der jüngsten Vergangenheit die Weichenstellung für die Nachkriegszeit. Fünf Jahre zähen militärischen Ringens hatten in Hayeks Wahlheimat die Koordinaten der Wirtschafts- und Sozialpolitik verrückt und ein egalitäres gesellschaftliches Klima geschaffen. Weite Teile der Bevölkerung verlangten nach dem Aufbau eines kollektivistischen Wohlfahrtssystems und mehr staatlicher Planung der Wirtschaft. Die Studie "The Road to 1945" von Paul Addison hat detailliert die Ursprünge dieses Paradigmenwechsels analysiert, der mit einer Linksverschiebung der öffentlichen Meinung begann und nach dem Krieg in einen neuen sozial- und wirtschaftspolitischen Konsens mündete (vgl. Addison, 1975). 65 Aus der Erfahrung der Briten mit einer straff gelenkten Kriegswirtschaft erwuchsen Forderungen, auch nach dem Krieg weiter auf ökonomische Planung und Kontrollen zu setzen. 66 Typisch waren Überlegungen, die William Beveridge Mitte 1942 notierte: „In Zeiten des totalen Krieges wird die Anpassung der Ressourcen an die Bedürfnisse durch vollständige staatliche Planung vorgenommen", erkannte er. Sollte all dies denn nach dem Krieg wieder aufgegeben werden? Die „Erfahrung von 1920-39", so der LSE-Direktor, lege nahe, daß die „frühere Methode des Friedens" kaum zur Bekämpfung der Armut geeignet sei (zit. n. Harris, 1977, S. 432-433). Die Soldaten von der Front sowie die Arbeiter in der Rüstungsindustrie erwarteten als Dank für ihren Dienst mehr „soziale Sicherheit" vom Staat,

Nach Addison (1975) kam der Wendepunkt der öffentlichen Meinung mit der britischen Niederlage in Dünkirchen 1940. Ungeachtet der Popularität ihres Kriegspremiers lag über den Konservativen, besonders über ihrem „rechten" Flügel, der Schatten Chamberlains, dessen „Appeasment"-Politik nun als schwerer Fehler erkannt wurde. Dagegen spürten sozialistische Kräfte immer mehr Aufwind. Die Sowjetunion, die nun ein militärischer Verbündeter war, genoß weit über kommunistische Kreise hinaus hohes Ansehen. Die scheinbare Leistungskraft ihres planwirtschaftlichen Systems fand allgemeine Bewunderung. 66 Die Mobilisierung der gesamten britischen Wirtschaft erfolgte durch eine extrem zentralisierte Steuerung. Die vom Parlament im Mai 1940 gebilligte Emergency Powers Bill gab der Regierung dazu schier unbegrenzte Kompetenzen. Greenleaf (1983a, S. 63) meint gar, „daß die Wirtschaft in Britannien während des Krieges in einem höheren Grad staatlicher Aufsicht unterworfen war als die von Nazi-Deutschland". Auch in der Frage der staatlichen Abschöpfung von Einkommen und Vermögen brach die Notsituation des Krieges frühere Widerstände: Der Höchststeuersatz für „Kriegsgewinne" betrug 100 Prozent; die allgemeine Einkommen- und Verbrauchsteuerbelastung stieg auf bislang ungekannte Höhen. 65

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 293 ökonomische „Teilhabe" und größere Gleichheit durch materielle Umverteilung. Die oft beklagte Klassengesellschaft sollte endlich einer egalitären Gesellschaft weichen. Während Churchills Aufmerksamkeit ganz der Kriegsführung galt, entwarfen verschiedene Komitees und Arbeitsgruppen, meist auf Initiative von Labour, aber mit Billigung der Tories, Pläne für den wohlfahrtsstaatlichen Umbau der britischen Gesellschaft, die nach dem Krieg als Vorlagen dienten. 67 Schon 1942 legte Beveridge den nach ihm benannten Bericht zur Reform der Sozialversicherung vor. Darin hieß es: „Das hier vorgestellte System bedeutet in einigen Punkten eine Revolution, aber in wichtigen Punkten eine natürliche Weiterentwicklung aus der Vergangenheit. Es ist eine britische Revolution" (Beveridge, 1942/1943, S. 26). Der Bericht, der einen „Generalangriff auf fünf gigantische Mißstände" — die „five giants" der Armut, der Krankheit, der Unwissenheit, des Schmutzes und des Müßiggangs ankündigte (vgl. ebd., S. 261), löste quer durch alle Schichten ein geradezu enthusiastisches Echo aus. Laut Meinungsumfragen stimmten 86 Prozent der Bevölkerung seinen Plänen zu, nur 6 Prozent waren dagegen (vgl. Addison, 1975, S. 215-218). Konkret schlug Beveridge vor, die existierenden Sozialkassen zu vereinheitlichen, aufzustocken und die Mitgliedschaft darin kollektiv zwingend zu machen. Umfassende staatliche soziale Sicherung lautete die Parole, die 1948 dann zur Gründung des steuerfinanzierten National Health Service (NHS), des Grundsteins des britischen Wohlfahrtsstaates, führen sollte. Nach kurzem Zögern hing auch Churchill sein Segel in den neuen Wind. In einer Radioansprache betonte der konservative Premier: „Sie müssen mich und meine Kollegen zu den großen Anhängern einer nationalen verpflichtenden Sozialversicherung für alle Klassen und alle Zwecke von der Wiege bis zur Bahre zählen" (zit. n. Addison, 1993, S. 72-73). Auch die Konservativen, angefeuert von Zirkeln wie dem Tory Reform Committee, folgten also dem Zeitgeist und näherten sich den sozialpolitischen Ansichten der Linken an. 68 Die faktische Konvergenz der Vorstellungen von Tories und Labour wurde im Wahlkampf 1945 nur kurz verschleiert durch Churchills an Hayeks „The Road to Serfdom" angelehnte Warnung vor „einer Art Gestapo", falls das Land den Sozialismus wähle. Nach einem Aufschrei in der Presse vermied Churchill in späteren Jahren solche Rhetorik. Die Wahlniederlage traf Churchill und die Tories ins Mark, hatte man doch mit dem charismatischen Kriegspremier an der Spitze fest auf einen Sieg gegen den eher farblosen Attlee gewettet. Während die Konservativen ihre Wunden leckten und sich dem kollektivistischen Zeitgeist anzupassen begannen, hatte die Labour-Regierung freie Fahrt.

Äußerst wichtig war dabei die Vorarbeit unabhängiger Expertengruppen und sozialpolitischer Verbände. Addison (1975, S. 182) meint, „die Parteien folgten den Ereignissen eher, statt das Tempo vorzugeben". Zu den Architekten des nach 1945 errichteten Wohlfahrtsstaates zählt er unter anderem die Organisation Political and Economic Planning (PEP), die Next Five Years Group und die junge Schule keynesianischer Ökonomen. 68 Exponenten der alten Parteilinie wie der Minister Lord Beaverbrook, die auf einer liberalen Wirtschaftspolitik bestanden, wurden an den rechten Rand gedrängt. Kleinere Gruppen wie die Society of Individualists von Ernest Benn oder die Vereinigung Aims of Industry, die eine Ausweitung von Kontrollen und Regulierung im Zuge der Kriegswirtschaft ablehnten, kämpften zunehmend auf verlorenem Posten (vgl. Cockett, 1994, S. 68-74). 67

294 • Wandlungen des Neoliberalismus

4.1. Labours Marsch in den Sozialismus Begleitet vom Jubel der Öffentlichkeit und eher symbolischem Protest der Konservativen machte sich Labour daran, die im Wahlmanifest „Let Us Face the Future" angekündigten Verstaatlichungen umzusetzen (vgl. Dunkerley/Hare, 1991, S. 382-389). Im Mai 1946 wurde die halbstaatliche Bank of England in öffentlichen Besitz überführt, ebenso im Januar 1947 der Kohlebergbau. 69 Im April 1948 folgten die Elektrizitäts- und im Mai 1948 die Gaswerke. 70 Kaum Widerspruch regte sich gegen die Verstaatlichung der Eisenbahngesellschaften samt der ihnen angeschlossenen Hotels, Schiffsgesellschaften, Werften, Docks und großer Teile des Kanalsystems. Lediglich die im Jahr 1948 beschlossene Nationalisierung der Eisen- und Stahlindustrie war öffentlich umstritten und wurde von den Konservativen fünf Jahre später rückgängig gemacht. Die Welle der Sozialisierungen ließ den öffentlichen Sektor sprunghaft wachsen: 1951 machten die verstaatlichten Unternehmen etwa ein Drittel der britischen Industrieproduktion und fast 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Regierung Attlee pries ihre Sozialisierungsmaßnahmen als Beitrag zur Effizienzsteigerung der oft defizitären und technisch rückständigen Unternehmen. Tatsächlich aber bereitete die Führung der staatlichen Industrien von Anfang an Schwierigkeiten. 71 Über die direkte Verstaatlichung von Schlüsselindustrien hinaus bediente sich die Regierung Atdee indirekter Methoden zur Steuerung der Wirtschaft. 72 Trotz aufkommender Forderungen nach einem Ende der Bewirtschaftung hielt Labour an den Bestimmungen zur Preiskontrolle und Rationierung fest, verschärfte sie teilweise noch. In einem Aufsatz zur britischen Wirtschaft beklagte Hayek 1947 die fortgesetzte Lähmung der Privatwirtschaft. Er sah aber voraus, „daß in den maßgeblichen Regierungskreisen das Versagen der planwirtschaftlichen Versuche nur als Beweis dafür angesehen wird, daß noch nicht genug geplant und noch nicht genug Zwangsmaßnahmen angewendet wurden" (Hayek, 1947/ 1992, S. 40). Die von Mises frühzeitig erkannte Interventionsspirale wirkte auch hier: So wurden die Absatzpreise etwa von Kohle, Stahl oder Bauholz auf so niedrigem Niveau festgeschrieben, daß sich hohe Uberschußnachfragen bildeten. Der „Mangel" diente dann der w Dieser Sektor war ohnehin schon seit dem Coal Mines Act 1930 in staatlich regulierten Kartellen zusammengeschlossen und damit nur noch halbprivat. 70 Auch die Versorgungswirtschaft war bereits im Zuge der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre teilweise in staatliche Regie übernommen oder zumindest mit Preisvorschriften reguliert worden. 71 Das Kernproblem war, sie ohne die Disziplin des Wettbewerbs zu Leistung und Innovation zu treiben. Viele der Staatsbetriebe wiesen Jahr um Jahr Verluste aus und waren international kaum wettbewerbsfähig. Und entgegen den Erwartungen der regierenden Sozialisten verbesserten sich auch die Beziehungen zu den Gewerkschaften in den verstaatlichten Betrieben nicht; die Gewerkschaften nutzten ihre Machtstellung, um fällige Rationalisierungsmaßnahmen oder eine Verschlankung der Produktion zu behindern. Einige dieser Probleme öffentlicher Betriebe hatte der für die Verstaatlichungen zuständige Minister und begeisterte Planwirtschaftler Herbert Morrison in seinem 1933 veröffentlichten Buch „Socialisation and Transport" vorhergesagt. A m Beispiel des öffentlichen Nahverkehrs, des London Passenger Transport Board (LPTB), den er Anfang der dreißiger Jahre maßgeblich mitgestaltet hatte, warnte Morrison vor einer möglicherweise nachlässigen und unwirtschaftlichen Betriebsführung, wenn die Kontrolle des Marktes sowie die Möglichkeit des Konkurses durch unbegrenzte Staatszuschüsse entfalle (vgl. Dunkerley/Hare, 1991, S. 390).

Auch hier profitierten die Sozialisten von der Vorarbeit, die bis 1945 geleistet worden war. Man habe „vom Krieg ein System von kriegszeitlichen Kontrollen und Regelungen geerbt," freute sich Minister Aneurin Bevan, „das unter normalen Bedingungen nicht hätte realisiert werden können, ohne so etwas wie einer Revolution nahezukommen" (zit. n. Greenleaf, 1983a, S. 75). 72

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 295 Regierung als Beleg für die Notwendigkeit fortgesetzter zentraler Zuteilung (vgl. Cairncross, 1991, S. 38-39). Etwa 60 Prozent der gängigen Konsumgüter unterlagen bis in die fünfziger Jahre staatlichen Preiskontrollen und Rationierung. Darüber hinaus unternahm die Regierung eine mittelfristige Lenkung der verbliebenen Privatwirtschaft durch Investitionskontrollen, etwa durch die selektive Genehmigung von Bauvorhaben. Mittels Importbeschränkungen versuchte sie der wiederkehrenden Zahlungsbilanzkrisen Herr zu werden. 73 Für mehrere Jahrzehnte maßgebend wurde die Hinwendung zu keynesianischen Mustern der Finanzpolitik, die nach 1945 zur „neuen Orthodoxie" wurden (Bleaney, 1985, 83). Dies kündigte sich schon im Weißbuch zur „Employment Policy" vom Mai 1944 an, beschlossen auch mit den Stimmen der Konservativen. Den keynesianischen Geist der Zeit atmete auch Beveridges im selben Jahr erschienenes Büchlein „Füll Employment in a Free Society". Darin erklärte er die überragende Bedeutung einer ausreichenden Gesamtnachfrage. Eine vollständige Sozialisierung der Wirtschaft sei nicht unbedingt notwendig, meinte er. Die neue Vollbeschäftigungspolitik müsse „eher eine Politik der Vergesellschaftung der Nachfrage als der Produktion" sein, letztere könne aber noch folgen (Beveridge, 1944/1946, S. 34). Konkret forderte er einen permanenten staatlichen Druck durch fiskalische Expansion: „Die wirksame Nachfrage muß immer größer sein als die Produktivkräfte. Das kann aber nur dann geschehen, wenn wir die traditionelle ungeplante Marktwirtschaft durch eine geplante Wirtschaft ersetzen" (ebd., S. 51). Finanzminister Stafford Cripps führte Ende der vierziger Jahre offiziell Rhetorik und Methoden der Nachfragesteuerung ein. Sein ab 1950 amtierender Nachfolger Hugh Gaitskell galt als Mustertyp des keynesianischen Finanzpolitikers, der die letzten Reste der früher im Schatzamt vorherrschenden „Treasury View" zugunsten der Zielvorstellung staatlich garantierter „Vollbeschäftigung" beseitigte. Nach Ansicht der Wähler blieben die versprochenen raschen Erfolge bei der wirtschaftlichen Sanierung aber aus. Die britischen Neoliberalen hofften auf einen Stimmungswechsel. John Jewkes meinte 1950 in einem Brief an Hunold, „die Gezeitenwende des Sozialismus ist gekommen. Selbst in England, nach fünf Jahren Erfahrung, beginnen die Leute, ihre Meinung zur Nationalisierung und Planung zu ändern. Bei der nächsten Wahl werden die Sozialisten aus dem Amt gehen" (Jewkes an Hunold, 5.3.1950, in: HIA, MPS-Slg. 30). Diese Prognose stellte sich als richtig heraus. Die Regierung Attlee wurde abgewählt, ein radikaler Politikwechsel unter den Konservativen blieb aber aus. Labour hatte das Fundament für einen neuen politischen Konsens in Großbritannien gelegt, der rund drei Jahrzehnte Gültigkeit beanspruchte (vgl. Addison, 1975, S. 270-278). Dessen Eckpunkte lauteten: eine „gemischte Wirtschaft" mit einem starken Staatssektor und mächtigen Gewerkschaften, ein umfassender Wohlfahrtsstaat und eine keynesianische Finanzpolitik mit dem Ziel der Vollbeschäftigung. Der Regierungswechsel zu den Konservativen Anfang der fünfziger Jahre brachte zwar eine Lockerung der Preiskontrollen und Rationierungen, die Ergebnisse der Verstaatlichungswelle wurden aber mit Ausnahme der Stahlwerke nicht angetastet. Churchill war mit dem Spruch „Set the People Free" in den Wahlkampf gezogen, seine Regierung rüttelte aber nicht wesentlich an den von Labour geschaffenen Tatsachen. Innerhalb der Konservativen Partei 73 Der Druck der „Dollarlücke" nahm jedoch zu und erzwang 1949 eine Abwertung des Pfunds um 30 Prozent gegenüber dem Dollar, der zahlreiche andere Länder folgten; gleichzeitig griffen die ersten Maßnahmen zur Handelsliberalisierung im Rahmen der OECD.

296 • Wandlungen des Neoliberalismus

hatten sich nach der Wahlniederlage von 1945 eine Reihe von Politikern vom progressiven Flügel, allen voran R. A. Butler und Macmillan, Gehör verschafft, die ein Arrangement mit dem neuen Konsens auf Basis wohlfahrtsstaatlicher und kollektivistischer Prämissen verlangten.74 Auch der fiskalische Keynesianismus war nun bei den Konservativen in sicheren Händen, wie die Kontinuität der von Gaitskell etablierten nachfrageorientierten Budgetpolitik zeigte. Als die Konservativen 1951 zurück an die Macht kamen, führte ihr Finanzminister Butler die keynesianische Politik seines Vorgängers bruchlos fort. So wenig änderte sich, daß allgemein von einer Synthese namens „Butskellismus" die Rede war.

4.2. Gegenkräfte: Antony Fisher und das Institute of Economic Affairs Neoliberale Kritiker dieser Entwicklung standen zunächst ziemlich im Abseits. Sie rannten vergeblich gegen den neuen politischen Konsens an, den erst drei Jahrzehnte später Margaret Thatcher aufkündigte. Der Mann, der nach Einschätzung Friedmans „die wichtigste Person bei der Entwicklung des Thatcherismus" werden sollte, hieß Antony Fisher (zit. n. Cockett, 1994, S. 122). Geboren 1915 in eine bürgerliche Familie, hatte er in Eton und Cambridge studiert, sich anschließend erfolglos als Leihwagenunternehmer betätig und war im Kriege als Pilot der Royal Air Force ausgezeichnet worden. Gerade ins Zivilleben zurückgekehrt, las er im Reader's Digest die Kurzversion von Hayeks „The Road to Serfdom". Die Schrift traf ihn wie der Blitz einer politischen Erleuchtung. Sofort wollte er sich im Abwehrkampf gegen den Sozialismus betätigen und trat den Tories bei. Schließlich besuchte er 1947 Hayek in dessen LSE-Büro, um zu fragen, zu welchen politischen Aktivitäten dieser ihm rate. Doch Hayek warnte ihn vor einer Parteikarriere, die reine Zeitverschwendung sei. „Der entscheidende Einfluß in der Schlacht der Ideen und der Politik geht von den Intellektuellen aus", so gab Fisher später Hayeks Worte wieder. „Ich sollte zusammen mit anderen eine wissenschaftliche Forschungsorganisation gründen, um Intellektuelle an Universitäten, Schulen, im Journalismus und Rundfunk mit maßgeblichen Studien zur ökonomischen Theorie des Marktes und ihrer praktischen Anwendung zu versorgen" (zit. n. ebd., S. 123-124). Es sollte zehn Jahre dauern, bis Fisher diesem Rat folgen konnte. Zunächst widmete er sich dem Aufbau eines landwirtschaftlichen Betriebs von 400 Hektar in Sussex, den er nach dem Krieg gekauft hatte, veröffentlichte nebenbei das Büchlein „The Case for Freedom" und nahm 1951 auf Einladung Hayeks als Gast an der Tagung der MPS in Beauvallon teil. Bei einer Reise in die Vereinigten Staaten im Jahr 1952, wo er die ihm über die MPS bekannte Foundation for Economic Education besuchte, wies ihn deren Chefökonom F. A. Harper in Ithaka auf die Technik der Massenhaltung von Hühnern hin. Fisher studierte die neue amerikanische Form agroindustrieller Produktion und führte sie in Großbritannien ein. Sein Angebot an Hühnchenfleisch war konkurrenzlos günstig und bewirkte längerfristig einen Preis-

Ein Zeichen dafür, wie nahe sich die beiden großen Parteien in Fragen der staatlichen Wirtschaftsplanung standen, war die Karriere von Angus Maude, der von 1948 bis 1950 als stellvertretender Vorsitzender der Organisation Political and Economic Planning fungierte, anschließend führender Abgeordneter der Konservativen wurde (vgl. Denham/Garnett, 1998, S. 35). Später wurde Maude dem rechten Flügel der Partei zugerechnet. 74

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 297

stürz. Sein Betrieb, kurz zuvor noch durch eine Rinderkrankheit beinahe ruiniert, nahm einen rasanten Aufschwung. 1953 beschäftigte die Firma Buxted Chicken schon 200 Mitarbeiter und machte einen Umsatz von 5 Millionen Pfund.75 Fisher war ein reicher Mann. Nun schien ihm die Zeit gekommen, gemäß Hayeks Anregung eine wissenschaftliche Einrichtung zur Verbreitung wirtschaftsliberaler Ideen zu gründen. Das Institute of Economic Affairs (IEA) wurde offiziell im November 1955 in einem kleinen Büro im östlichen Zentrum von London eröffnet.76 Das IEA hielt Distanz zu direkten politischen Aktionen und bemühte sich um parteipolitische Neutralität, auch um seinen Status als gemeinnützigen Verein nicht zu gefährden.77 Nach Fishers Wunsch sollte das IEA die Taktik der Fabianer kopieren und zunächst mit Publikationen und Vorträgen an junge Akademiker an den Universitäten, Journalisten und andere Multiplikatoren herantreten, also an jene, die Hayek als „second-hand dealers in ideas" bezeichnet hatte. Die wissenschaftliche Substanz holte sich das IEA zu einem guten Teil aus der MPS, wo Fisher seit Beginn der fünfziger Jahre wertvolle Kontakte knüpfen konnte und selbst mehrfach als Redner auftrat. Langfristig entwickelte sich eine enge und fruchtbare Zusammenarbeit zwischen der MPS, dem diskreten wissenschaftlichen Forum, und dem IEA, einem der Öffentlichkeit und der Politik zugewandten Think Tank. Im sechsköpfigen Wissenschaftlichen Beirat des IEA saßen mehrere Mitglieder der MPS, darunter Lord Grantchester (zuvor Sir Alfred SuensonTaylor), der Agrarexperte Eric Nash und die LSE-Okonomen George Schwartz und Graham Hutton.78 Für die praktische Leitung des IEA konnte Fisher bald den 1924 geborenen Ralph Harris gewinnen, einen energischen Organisator und guten Redner, der zuvor für die Parteizentrale der Tories, als Dozent an der Universität St. Andrews und als Leitartikler beim Glasgow Herald gearbeitet hatte. Seine marktwirtschaftliche Überzeugung hatte sich Ende der vierziger Jahre gebildet, als er in Cambridge bei Stanley Dennison, einem Gründungsmitglied der MPS, studierte. Als Cheflektor des IEA engagierte Fisher den 1916 geborenen Ökonomen Arthur Seidon. Auch dieser, ein enttäuschter Aktivist der Liberalen Partei, war während seines Studiums an der LSE in den dreißiger Jahren von späteren Mitgliedern der MPS, unter

1968 verkaufte Fisher seine Firma für 21 Millionen Pfund und investierte in eine Farm zur Zucht von Meeresschildkröten. Amerikanische Umweltschützer erzwangen 1973 das Aus für den Betrieb, obwohl eigentlich die Zucht der gefährdeten Tiere das Überleben der Art eher förderte. Fisher verzichtete auf den Schutz der beschränkten Haftung und zahlte alle Gläubiger voll aus, wie der spätere IEA-Chef John Blundell (2002, S. 52) betont. 76 Ausführlich zur Arbeit und Wirkung des IEA vgl. Cockett (1994, bes. S. 132-199) und Denham/Garnett (1998, S. 83-115). Neben Fisher, der für die Anschubfinanzierung sorgte, engagierte sich in der Anfangszeit auch Oliver Smedley. Die beiden kannten sich von der antikollektivistischen Society of Individualists. Smedley, der Mitglied der Liberalen Partei war, kämpfte auch dort für eine Kurskorrektur, doch vergebens. Die einst von Gladstone geprägte Partei hatte sich unter dem Einfluß von Keynes und Beveridge in den dreißiger und vierziger Jahren von ihren Wurzeln entfernt und propagierte laut den neuen wohlfahrtstaatlichen Konsens. Mit der Wahl J o Grimonds zum Vorsitzenden 1956 rückte sie weiter nach links. Es wurde klar, daß die im politischen Sinkflug befindliche Partei keine Plattform für marktwirtschaftliche Ideen bieten würde. Ironischerweise änderte Grimond zwei Jahrzehnte später seine Meinung und wurde in den achtziger Jahren in der MPS aktiv. 75

Smedleys fortgesetzte Aktivität in der Liberalen Partei bot vordergründig den Anlaß für Fisher, ihn aus dem IEA herauszudrängen. Der tatsächliche Grund waren aber wohl persönliche Unstimmigkeiten zwischen Smedley und Harris, der ab 1957 als IEA-Direktor das Heft in der Hand hielt (vgl. Cockett, 1994, S. 137). 78 Keine Mitglieder, aber gelegentliche Gäste der MPS waren die weiteren IEA-Beiräte, der LSE-Ökonom Colin Clark und der Finanzjournalist Oskar Hobson. Lord Grantchester, ein aktives Mitglied der Liberalen, verließ im Zuge der Auseinandersetzung um Smedley den Beirat des IEA. 77

298 • Wandlungen des Neoliberalismus anderem von Robbins, Plant, dessen Assistent er kurzzeitig wurde, sowie Hayek geprägt worden. Sowohl Harris als auch Seidon stammten aus einfachen, sogar ärmlichen Verhältnissen. Letzterer war Sohn eines Flickschusters aus dem Londoner East End und in jungen Jahren überzeugter Sozialist gewesen. Gerade dieser familiäre Hintergrund machte ihre Kritik am staatlichen Wohlfahrtssystem glaubwürdig, selbst in den Augen linksgerichteter Intellektueller. Während das IEA vom Beziehungsnetz der MPS-Mitglieder lebte, wurde das Institut selbst bald zur lokalen organisatorischen Basis der Tagung der Gesellschaft am Christ Church College in Oxford 19 5 9.79 Harris und Seidon hielten dort einen Vortrag „The Tactics and Strategy of the Advance to a Free Economy", worin sie die Vorgehensweise ihres Instituts erläuterten und sich recht optimistisch zeigten. Inzwischen sei es möglich „mit etwas Aussicht auf Verständnis den freien Markt zu predigen, ohne automatisch als Lakaien der Kapitalisten angegriffen zu werden" (Harris/Seldon, 1959, S. 2). Konkret präsentierten Harris und Seidon eine lange Liste mit Forderungen. Der erste Schritt müsse die Lockerung des Bewirtschaftungssystems sein: eine Liberalisierung des Außenhandels und des Devisenverkehrs, die Abschaffung von Kontrollen, Lizenzen und Rationierung, das Ende der Zuteilung von Arbeitskräften, eine schrittweise Freigabe von Mieten, weniger Eigentumsbeschränkungen und mehr Freiheit bei der Kapitalverwendung. In einem zweiten Schritt wollten sie in die Offensive gehen und mehr Marktwirtschaft wagen, namentlich durch die Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen, eine Rückgängigmachung der Verstaatlichung, die Einführung von Kostenbeteiligungen beim NHS, die Zulassung privater, kommerzieller Fernsehsender, eine Abkehr von der Politik des billigen Geldes, mehr Freihandel und mehr Interesse an privaten Wohltätigkeitsorganisationen sowie an freiwilligen Vereinigungen (vgl. ebd., S. 3-4). Gewisse Fortschritte seien zu verzeichnen, erklärten Harris und Seidon, doch Widerstand gegen wirtschaftsliberale Reformen rege sich von mehreren Seiten: von den „etablierten Interessen", von der Politik und von den Intellektuellen. Das IEA müsse an „zwei Fronten" kämpfen, „nicht nur mit Intellektuellen und Politikern, welche die Grundsätze einer freien Gesellschaft ablehnen oder nicht verstehen, sondern auch mit Geschäftsleuten, die diese bekennen, aber sich aus dem Wettbewerb mit [Kartell-]Verträgen verabschieden wollen, wenn es ihnen gefällt" (ebd., S. 6). Andererseits konnten Harris und Seidon von Firmen berichten, die trotz namentlicher Kritik an ihren Praktiken, etwa der verpflichtenden Preisbindung des Einzelhandels, die Arbeit des IEA mit Spenden förderten. Ihren Hauptgegner, das wurde klar, sahen Harris und Seidon in jenen sozialistischen Intellektuellen, als deren „schlimmste Sünde" sie nannten: „Arroganz und ein Streben, zu herrschen und das Wohlbefinden der Massen vorzuschreiben" (ebd., S. 7). Wichtig war also, einen klaren Standpunkt einzunehmen: für den Wettbewerb und gegen Protektionismus, Paternalismus oder die Politik einzelner Interessengruppen. Dabei griffen sie die restriktiven und wettbewerbsfeindlichen Praktiken privater Unternehmen mit ebensolcher Härte an wie die Politik der Gewerkschaften.

79 Dieses war das erste große Treffen der Gesellschaft in Großbritannien. 1953 und 1955 hatten einige Mitglieder kleinere Konferenzen in Oxford organisiert, doch insgesamt waren die Aktivitäten der Briten aufgrund des gespannten Verhältnisses von Hayek und Robbins eher gering.

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 299 Wie die Fabianer ein halbes Jahrhundert zuvor, begann das IEA mit der Herausgabe von Publikationen. 80 Ab 1960 kamen in der Reihe der sogenannten „Hobart Papers" jährlich mehrere Studien heraus. Den Schwerpunkt legten sie ganz bewußt auf mikroökonomische Untersuchungen im Kontrast zur keynesianischen makroökonomischen Diskussion der Nachkriegszeit. Die „Hobart Papers" sollten neues Interesse an marktwirtschaftlichen Alternativen zum herrschenden Interventions- und Wohlfahrtsstaat wecken. In der Tat stießen sie auf ein zunehmend starkes Echo, wobei die Verbindung zu Mitgliedern der MPS mitunter entscheidend half, Zugang zur Presse zu gewinnen. 81 Das IEA richtete sich an Fachleute wie auch interessierte Laien und hielt daher seine Schriften stets in leicht verständlicher Sprache. Anhand einzelner wirtschaftspolitischer Probleme berührten sie grundlegende ökonomische Fragen aus liberaler Perspektive. Der rote Faden durch alle Veröffentlichungen war die These, marktwirtschaftliche Lösungen könnten bessere Ergebnisse erbringen als staatliche oder kollektivistische Arrangements. Aus den Reihen der Politik kamen darauf zwiespältige Reaktionen. „Von ein paar ermutigenden Ausnahmen abgesehen haben jene, die privat unsere Ansichten akzeptieren, dann bedauert, daß diese noch nicht politisch praktikabel' seien". Es gebe zu viele „vorsichtige, furchtsame oder zynische Politiker" (Harris/Seidon, 1959, S. 10 bzw. II). 82 Um so wichtiger war es für das IEA, die öffentliche Meinung zu bearbeiten, damit das bislang „Unmögliche" möglich werde. Allerdings zeigte der britische Nachkriegskonsens des „Butskellismus" noch keinerlei Risse. Im Gegenteil, die Jahre der Regierung Macmillan von 1957 bis 1963 markierten für marktwirtschaftlich ausgerichtete Konservative und Liberale einen Tiefpunkt. Schon in den dreißiger Jahren war Macmillan als Befürworter eines hochgradig interventionistischen „Mittelwegs" aufgetreten. Gemeinsam mit Buder stand er nach 1945 für einen reformerischen „New Conservatism". Dieser zeichnete sich aus durch Zutrauen in die planerischen Fähigkeiten des Staates, ein Bemühen um Aussöhnung mit den Gewerkschaften, das Bekenntnis zum Wohlfahrtsstaat sowie zum Ziel der Vollbeschäftigung durch staatliche Nachfragepolitik. Auf einen konjunkturellen Einbruch antwortete die Regierung in keynesianischer Weise mit einer weiteren Ausgabenerhöhung um 50 Millionen Pfund, worauf drei Kabinettsmitglieder, darunter der für Finanzen zuständige Staatssekretär

Beispielsweise warb Seidon 1957 in „Pensions in a Free Society" für eine schrittweise Umstellung der steuerfinanzierten staatlichen Renten auf eine kapitalgedeckte, durch eigene Ersparnisse finanzierte Altersvorsorge — dies zu einer Zeit, als die Labour-Partei eine Ausweitung der staatlichen Rentenansprüche forderte. Die Studie „Hire Purchase in a Free Society", veröffentlicht 1958, wandte sich gegen die mit „antiinflatorischen" Argumenten begründete staatliche Einschränkung von Ratenkaufverträgen und Konsumentenkrediten; „The City's Invisible Earnings" betonte den volkswirtschaftlichen Wert der Londoner Finanzbranche; „Advertising in a Free Society" aus dem Jahr 1959 wollte die Werbebranche von den oft gehörten Anklagen reinigen, sie verleite die Menschen zu falschem Konsumverhalten; „Trade Unions in a Free Society" kritisierte die kartellartige Macht der Gewerkschaften. 81 Einer der ersten Publikationen des IEA „The Free Convertibility of Sterling" wurde etwa durch eine lobende Rezension von Hazlitt in seiner Navsmek-Kolumne breite Publizität verschafft. 82 Wohl die einzige der frühen Studien des IEA, die politische Wirkung entfaltete, war „Resale Price Maintenance and Shoppers' Choice", vorgelegt 1960 von Basil Yamey. Der an der LSE lehrende Wirtschaftsprofessor errechnete einen volkswirtschaftlichen Schaden von 180 Millionen Pfund als Folge der RPM, die Preiswettbewerb im Einzelhandel unterband. Jeder Bürger könne fast 4 Pfund jährlich sparen, wenn RPM abgeschafft würde. Vier Jahre später brachte die Regierung Heath gegen den Widerstand kleinerer Ladenbesitzer ein Gesetz zur Aufhebung der verpflichtenden Preisbindungen durch. Umstritten ist, ob die IEA-Studie Auslöser von Heaths Reform war, wie Blundell (2001, S. 23-24) schreibt, oder die Aufhebung von RPM unabhängig von Yameys Studie ohnehin von langer Hand beabsichtigt war (vgl. Denham, 1996, S. 18-19 und Denham/Garnett, 1998, S. 92-93). 80

300 • Wandlungen des Neoliberalismus Enoch Powell 1958, unter Protest zurücktraten. Macmillan tat ihren Abgang ironisch als „kleinere lokale Schwierigkeiten" ab, doch später konnte man darin das erste Aufbegehren gegen den keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens sehen. Ohne Zweifel war Powell eine intellektuelle Ausnahmeerscheinung der britischen Politik der Nachkriegszeit. Ende der fünfziger Jahre konnte er bereits auf eine dreifache steile Karriere an der Universität, im Militär und in der Politik zurückblicken. Der 1912 geborene, hochbegabte Mann hatte in sehr jungen Jahren einen Ruf auf eine Professur für Altphilologie an der Universität Sydney erhalten, war dann im Weltkrieg vom einfachen Soldaten bis zum Brigadegeneral, einem der jüngsten der britischen Armee, befördert worden und konnte nach Kriegsende rasch in der konservativen Partei aufsteigen, für die er ab 1950 im Parlament saß. Dort erwarb er sich bald den Ruf eines zugleich nationalkonservativen und wirtschaftsliberalen Rebellen, der sowohl vor akademischem Publikum brillieren als auch mit volkstümlichen Reden die Massen bewegen konnte. Er war der erste Politiker von Rang, der sich zur Philosophie des IEA bekannte, regelmäßigen Kontakt hielt und bald auch die MPS kennenlernte, deren Mitglied er Mitte der sechziger Jahre wurde. Ein ähnliches Interesse an der Arbeit von Fishers Institut begannen zur selben Zeit einige jüngere Parlamentarier der Konservativen zu bekunden, darunter Geoffrey Howe, Keith Joseph und Margaret Thatcher. Trotz der Behauptung Macmillans im Wahlkampf 1959, das Land habe es „noch niemals so gut gehabt", war kaum noch zu übersehen, daß Großbritannien im internationalen Vergleich kontinuierlich zurückfiel. Industrielles Wachstum und Produktivität lagen niedriger als in den meisten anderen Industriestaaten. Besonders auffällig und auch demütigend war, wie rasch Westdeutschland wirtschaftlich in Europa in Führung ging. Anfang der sechziger Jahre setzte daher eine zaghafte Debatte über die Ursachen des relativen Abstiegs der einstigen führenden Wirtschaftsmacht der Welt ein. Erstmals wurden Zweifel an der Effektivität der keynesianischen Nachfragepolitik laut, die aufgrund wiederkehrender Zahlungsbilanzkrisen zu häufigen, ruckartigen Kurswechseln gezwungen war. Das resultierende „stop-go" war schwerlich „antizyklisch" zu nennen und verunsicherte die Wirtschaft. Angesichts der fragwürdigen Erfolge der nachfrageorientierten Politik stieg das Interesse an angebotsorientierten Theorien Anfang der sechziger Jahre (vgl. Kirby, 1981, S. 243). Allerdings war es nicht etwa die westdeutsche marktwirtschaftliche Alternative, sondern das eher planwirtschaftliche französische Vorbild, dem sich die britische Politik zuwandte. Ermutigt durch die PEP-Studie „Growth in the British Economy" wählte Macmillan eine interventionistische Strategie. Staatlich konzipierte „indikative Planung" sollte eine Modernisierung der britischen Wirtschaft, mehr Investitionen und höhere Wachstumsraten bringen. Der 1962 gegründete National Economic Development Council (NEDC) stellte in Absprache mit Arbeitgebern und Gewerkschaften einen „Nationalen Plan" auf. Die britischen Neoliberalen waren alarmiert: Arthur Shenfield klagte vor der MPS in Knokke über diesen neuerlichen Anlauf zu einer milden planwirtschaftlichen Steuerung. Die Regierung wolle zwar keine totale Einbindung der privaten Wirtschaft in den „Nationalen Plan", doch könne dies wohl das unbeabsichtigte Ergebnis sein, falls sich die hochgesteckten Erwartungen nicht

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 301 realisieren ließen (vgl. Shenfield, 1962). Tatsächlich beruhte das Wachstumsziel von 4 Prozent auf unrealistischen Annahmen und wurde deutlich verfehlt.83 Der Chor der Kritiker vom I E A konnte sich bestätigt fühlen. Sie hatten die Schwierigkeiten einer staatlichen Planung der Zukunft vorausgesagt. Darauf sah sich erstmals ein Staatssekretär von Labour zu einer direkten Erwiderung an das IEA veranlaßt, was als Zeichen dafür galt, daß dieses langsam zu einem politisch ernstzunehmenden Think Tank aufstieg (vgl. Denham/Garnett, 1998, S. 96). In der Folge wurde das I E A Brennpunkt aller wirtschaftsliberalen Bemühungen, als deren Herold immer lauter Powell auftrat. Von 1960 bis 1963 hatte er als Gesundheitsminister amtiert und sein Mißfallen an Macmillans dirigistischer Wirtschaftspolitik nicht öffentlich äußern können. Von der Kabinettsdisziplin befreit, begann er einen Kreuzzug gegen den britischen Interventionsstaat. 1964, im Jahr der Abwahl der Konservativen, gab das Institut einen Sammelband mit dem Titel „Rebirth of a Nation" sowie eine vergleichende Studie „Economic ,Miracles'" zu wirtschaftspolitischen Erfahrungen in Deutschland, Frankreich und Italien nach 1945 heraus. Zu beiden Büchern steuerte Powell einen Beitrag bei. Im Vorwort zu „Economic .Miracles'" fragte er, ob es sein könne, daß die ökonomischen „Wunder" nicht wegen, sondern trotz der staatlichen Eingriffe passiert seien. Sein besonderes Augenmerk galt dabei der westdeutschen Entwicklung, wo man die Entfesselung der Marktkräfte gewagt hatte (vgl. Powell, 1964, S. xvii). Den Einwand, daß ähnliches in Großbritannien nicht möglich sei, ließ Powell nicht gelten. Beim MPS-Treffen 1967 in Vichy hielt er einen Vortrag zum Unterschied zwischen Politikern, die sich den Zwängen des kurzfristig „Möglichen" auslieferten, und Intellektuellen, die das „Unmögliche" träumen könnten: „Der Politiker schaut oft danach, was politisch praktikabel' ist, jedoch nur für die nahe Zukunft — er muß sich vor dem vulgären Irrtum hüten, daß es Taten oder Vorschläge gebe, die für immer, notwendig und inhärent politisch unmöglich' sind" (Powell, 1967, S. 2). Auch wenn Powell, der zeitlebens ein Zwitter zwischen einem Politiker und einem Intellektuellen blieb, wenig später politisch ins Abseits gedrängt wurde, blieb ihm die Genugtuung, den lähmenden britischen Nachkriegskonsens aufgekündigt zu haben. Jüngere Kräfte wie Joseph und Thatcher übernahmen später seinen Kampf für mehr Markt und weniger Staat. Dank der Arbeit des I E A hatten die Vorbereitungen für eine wirtschaftsliberale Wende begonnen.

5. Vereinigte Staaten: Die Nachwirkungen des New Deal Aus der Perspektive von Ländern wie Großbritannien, wo nach 1945 sozialistische Regierungen die Macht übernahmen, erschienen die Vereinigten Staaten noch immer als ein freiheitliches Land. Nach Ansicht der entschiedenen Anhänger des „American dream" der traditionellen Vision von den individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und, damit korrespon-

83 Ausgerechnet die Labour-Regierung von Harold Wilson, der mit großen planwirtschaftlichen Versprechen angetreten war, mußte das Projekt anläßlich einer neuerlichen schweren Zahlungsbilanzkrise 1966 abbrechen. S o endete der Versuch der „indikativen Planung" blamabel, das öffentliche Zutrauen in die dirigistischen Modernisierungsfahigkeiten des Staates erhielt damit einen schweren Schlag (vgl. Kirby, 1981, S. 246).

302 • Wandlungen des Neoliberalismus dierend, der notwendigen Begrenzung des Staates hatten sich jedoch auch hier die Gewichte in Richtung Zentralismus, Etatismus und Kollektivismus zu verschieben begonnen. Der New Deal, nach Ansicht der meisten ein erfolgreiches Programm zur Uberwindung der Depression, trug zu einer neuen Einstellung gegenüber staatlichen Eingriffen in Wirtschaft und Gesellschaft bei, ebenso die nationale Mobilisierung im Weltkrieg. Es setzte eine gewisse Gewöhnung gegenüber dem Wachstum der Staatsquote seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein: Lag der Anteil der öffentlichen Ausgaben am BIP Mitte der zwanziger Jahre noch bei rund 10 Prozent, so stieg er bis Mitte der dreißiger Jahre auf knapp 20 Prozent und näherte sich während des Zweiten Weltkrieges fast 50 Prozent. Nach 1945 sank der Staatsanteil am BSP wieder ab, jedoch nie wieder auf das alte niedrige Niveau vor der Depression. Ende der vierziger Jahre näherte sich der Staatsanteil wieder der Marke von 20 Prozent. Während des Koreakriegs erreichte er mehr als 28 Prozent, fiel danach kurz ab, um dann bis Mitte der sechziger Jahre auf fast 30 Prozent und bis Mitte der siebziger Jahre auf mehr als 35 Prozent zu steigen (vgl. Higgs, 1987, S. 22-23). 84 Anders als in Europa wurde die offene Verstaatlichung von Industrien in den Vereinigten Staaten weiter von einer großen Mehrheit abgelehnt. Die Einstellung der Amerikaner zum Verhältnis von Individuum, Wirtschaft und Staat hatte sich aber durch die Ereignisse der Depression und des Krieges bis 1945 fundamental gewandelt. Institutionalisiert wurde dieser Wandel durch die Gesetzgebung des New Deal, die der Bundesregierung in Washington erstmals ganz erhebliches Gewicht in der Wirtschaft verlieh und einen massiven Schub zur politischen Zentralisierung bewirkte. Zeitgleich bahnte sich eine „fiskalische Revolution" (Stein, 1996a) an, welche die ältere politische Norm ausgeglichener Staatshaushalte verblassen ließ. 85 Nach der Erfahrung der Massenarbeitslosigkeit, die erst im Zuge des Zweiten Weltkriegs wirklich beseitigt werden konnte, ertönte laut der Ruf nach einer staatlichen Politik für „Vollbeschäftigung". Daß private Investitionen und privater Konsum allein oft nicht ausreichten, war nun Mehrheitsmeinung (vgl. Stein, 1996a, S. 169-175). Das neue Vertrauen in die Fähigkeiten des Staates, Beschäftigung zu schaffen, schlug sich in der Employment Bill von 1945 nieder. Diesem Gesetz war zwar ein erhebliches politisches Tauziehen vorangegangen, das bewies, daß die Gegner einer totalen Beschäftigungsgarantie noch eine effektive Opposition bilden konnten. 86 Nach längeren Verhandlungen zwischen

Anhand dieser Entwicklung hat Higgs demonstriert, daß mit jeder wirtschaftlichen oder militärischen Krise die Staatsquote deutlich zunahm und nach Ende der Krise nur teilweise wieder nachgab. Jede neue „Krise", zum nationalen Ausnahmezustand erklärt, war Katalysator einer dauernden Ausweitung der Sphäre kollektiver Kontrolle (vgl. Higgs, 1987, S. 17-18). 85 Selbst im Wahlkampf 1932 hatte Roosevelt, der später als großer fiskalischer Expansionist und Proto-Keynesianer auftrat, sehr vehement die Position des „balanced budget" vertreten; vgl. dazu Stein (1996a, S. 43-47). 86 Ursprünglich hatten mehrere linksgerichtete Senatoren, allen voran die Demokraten Murray und Wagner, im Dezember 1944 eine „Füll Employment Bill" entworfen, welche dem Staat die Verantwortung zuwies, ein „Recht auf Arbeit" zu garantieren. Gegen diesen Gesetzentwurf erhob sich heftiger Widerspruch. Die Gegner der „Füll Employment Bill" fürchteten, ein zu hochgestecktes Ziel staatlicher Beschäftigungspolitik sei nur zum Preis von Inflation oder Lohn- und Preiskontrollen zu erreichen. Henry Simons, aus Chicago zu einer Anhörung des Senats angereist, forderte die Politiker auf, der Staat solle sich besser auf Preisstabilität denn auf das Vollbeschäftigungsziel konzentrieren. Senator Robert Taft, eine Galionsfigur der alten Konservativen, mit dem etwa der MPS-Journalist Henry Hazlitt in regem Austausch stand, bemühte sich, rechtliche Barrieren gegen eine unbegrenzte jährliche Verschuldung in den Gesetzestext einzubauen, doch erwiesen sich die Zusätze als weitgehend wirkungslos (vgl. Stein, 1996a, S. 197-204).

84

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 303 dem demokratisch dominierten Senat und dem Repräsentantenhaus einigte man sich auf eine leicht verwässerte Version des ursprünglich stark aktivistischen Gesetzes. Das im Titel angedeutete Ziel lautete jetzt nicht mehr, wie anfangs geplant, „Füll Employment", sondern schlicht „Employment". Im Text war die Rede von „maximaler Beschäftigung, Produktion und Kaufkraft", die der Staat zu gewährleisten habe (zit. n. ebd., S. 201). Die Einrichtung des Council of Economic Advisers (CEA) und die vom Präsidenten vorgenommene Ernennung des Agrarökonomen Edwin Nourses zum ersten Vorsitzenden und Leon Keyserling zu dessen Stellvertreter war ein deutliches Signal, schließlich galten beide als überzeugte Keynesianer und hingen zudem Ideen einer sektoralen Neugestaltung der Wirtschaft durch eine zentrale Planungsbehörde an. Besonders Keyserling, der ab 1950 den CEA-Vorsitz übernahm, fiel durch Vorschläge für eine staatliche Investitionssteuerung auf, die an den frühen New Deal erinnerten (vgl. ebd., S. 205). Die US-Wirtschaftspolitik kurz nach dem Krieg wies in den Augen der amerikanischen MPS-Mitglieder in eine bedenkliche Richtung. Obwohl die Lebensmittelrationierung Ende 1945 weitgehend aufgehoben wurde, wünschte Präsident Truman die seit Kriegsbeginn bestehenden Preis- und Lohnkontrollen fortzuführen. Erst nach der Wahlniederlage der Demokraten 1946 erzwang der Kongreß eine schrittweise Freigabe der Preise. Schon zuvor hatten sich die Gewerkschaften auf einen Konfrontationskurs begeben. Nach Ansicht ihrer Kritiker waren sie seit dem National Labour Relations Act, dem sogenannten Wagner Act von 1935, ungebührlich privilegiert und hatten erheblich an Einfluß gewonnen. Lag der Anteil von Gewerkschaftsmitgliedern 1930 bei nur etwa 6 Prozent der Arbeiterschaft, so war er bis Ende der vierziger Jahre auf fast 25 Prozent gestiegen. Die Macht der Gewerkschaften war besonders konzentriert im Bergbau, im Eisenbahnwesen und der Schwerindustrie. Als Reaktion auf Massenstreiks im Frühjahr 1946 beschloß der nun republikanisch dominierte Kongreß gegen Trumans Widerstand im Juni 1947 eine Korrektur der einseitigen Gesetzeslage. Das nach seinen Urhebern Taft und Hardey benannte Gesetz sollte den Zwang der „closed shops" beenden, zudem für mehr demokratische und finanzielle Transparenz der Gewerkschaftsorganisationen sorgen und Arbeitskämpfe entschärfen. Tatsächlich blieb die Wirkung des Taft-Hardey Act begrenzt. 87 Während Teile des interventionistischen Erbes des New Deal politisch revidiert wurden, beherrschte die Erfahrung der dreißiger Jahre den Zeitgeist in der Wirtschaftswissenschaft weiter. Marktliberalen Ansätzen stand die Mehrheit der Ökonomen skeptisch gegenüber. Paul Samuelson, einer der prominentesten der Zunft, popularisierte mit seinem Lehrbuch „Economics" eine einfache Technik keynesianischer MakroSteuerung. Die Standardregeln einer antizyklischen Fiskalpolitik verinnerlichte auch Trumans republikanischer Nachfolger Eisenhower und wollte so der Rezession von 1957/58 mit dem Versuch staatlicher Nachfragestimulierung begegnen. 88 Der von ihm 1953 zum CEA-Vorsitzenden berufene Arthur

Rund zehn Jahre nach Verabschiedung des Taft-Hartley Act monierte der Chicagoer Arbeitsmarktexperte H. Gregg Lewis bei der MPS-Tagung in Princeton, durch das Gesetz sei „das Gesicht der Gewerkschaften nur wenig verändert". Um das „Monopol" auf dem Arbeitsmarkt zu brechen, empfahl Lewis die Abschaffung jeglicher Protektion und Privilegierung. Die „angemessene Haltung des Staats gegenüber dem Gewerkschaftswesen" sei „vollkommene Neutralität" (vgl. Lewis, 1958, S. 2 u. 5-6). 88 So ermunterte der Präsident die Öffentlichkeit zu gesteigertem Konsum. „Kaufen" erklärte er zur nationalen Bürgerpflicht. 87

304 • Wandlungen des Neoliberalismus

Bums vom National Bureau of Economic Research, ein früher Mentor Milton Friedmans und passives Mitglied der MPS, war zwar kein Keynesianer, hielt aber eine moderate Konjunkturpolitik durch staatliche Aufträge und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für notwendig (vgl. Stein, 1996b, S. 14).89 Als Eisenhower Ende der fünfziger Jahre den MPSÖkonomen Brandt als Berater engagierte, war ein Aufatmen bei vielen amerikanischen Neoliberalen zu hören. John Davenport meinte auf dem Treffen der Gesellschaft in Princeton, „es ist kein Geheimnis, daß in den Vereinigten Staaten viele Amerikaner nachts besser schlafen in dem Bewußtsein, daß Dr. Karl Brandt ... nun ein Amt bekleidet, das einst von Leon Keyserling besetzt war" (Davenport, 1959, S. 1). Unter Kennedy gaben ab 1961 wieder dezidiert keynesianische und interventionistische Berater wie Walter Heller, Paul Samuelson und James Tobin im CEA den Ton an. Einer der einflußreichsten Ökonomen der Zeit wurde der Harvard-Professor John K. Galbraith, dessen Buch „The Affluent Society" die These vertrat, das kapitalistische Wirtschaftssystem habe zwar großen privaten Wohlstand, teilweise Überfluß und verschwenderischen Konsum hervorgebracht, doch zugleich verkümmere der öffentliche Sektor. Abseits der mittels manipulativer Werbung künstlich geweckten Konsumwünsche, so Galbraiths Klage, blieben erhebliche Bedürfnisse der Gesellschaft unbefriedigt. Der Staat sei chronisch unterfinanziert, daher könne er wichtige öffentliche Güter nicht bereitstellen. Die Argumentation wurde zuletzt reduziert auf das Schlagwort „privater Reichtum und staatliche Armut" (Galbraith, 1958, S. 257). 90 Insgesamt lieferte das Buch all jenen Munition, die für eine erhebliche Ausweitung der staatlichen Ausgaben und Aufgaben plädierten, sei es im Bereich Infrastruktur, der Sanierung von Innenstädten, der öffentlichen Bildung oder auch für Landschaftsprojekte. Nur durch höhere staatliche Investitionen und mehr „öffentliche Güter" könne die Wohlfahrt der Amerikaner noch gehoben werden, so der Appell von Galbraith, der von Kennedy zum Botschafter in Indien ernannt wurde und später die wohlfahrtsstaatlichen Reformen der Ära Johnson inspirierte. Die MPS fühlte sich durch Galbraiths immens populäres Buch direkt herausgefordert. Bei ihrem Kasseler Treffen 1960 beschäftigte sie sich in einer eigenen Sitzung mit Vorträgen von John Davenport und David MacCord Wright ausführlich mit dessen Thesen. Stigler und Hayek kritisierten in der Diskussion besonders die willkürliche Unterscheidung von „echten" und „künstlich geweckten" Bedürfnissen, die Galbraith vornahm. Zudem wies Stigler die Behauptung zurück, die Vereinigten Staaten hätten einen unterfinanzierten öffentlichen Sektor. Tatsächlich hatte sich der Anteil der Staatsausgaben am BIP, ohne Berücksichtigung der

Obwohl die meisten Präsidenten bei der Auswahl der CEA-Mitglieder generell Leute der eigenen Partei bevorzugten, gab es Ausnahmen. Die Ernennung Bums' 1952 war eine Überraschung, da dieser damals noch als registrierter Demokrat auftrat. Nach Stein, der sechzehn Jahre später von Nixon in den CEA berufen wurde, neigte damals die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Ökonomen den Demokraten zu, so daß es schwierig war, eingetragene Republikaner für den CEA zu finden. Auch Stein war zum Zeitpunkt seiner Ernennung noch (wenn auch passives) Mitglied der Demokraten (vgl. Stein, 1996b, S. 7). 90 Als Motivation für sein Buch beschrieb Galbraith im Vorwort seine Sorge angesichts des angeblich wachsenden Einflusses von Ökonomen, welche hinter die Errungenschaften des New Deal zurückgehen, den interventionistischen Staat zurückdrängen und den Markt rehabilitieren wollten. Namentlich nannte er Hayek, mit dem ihn seit Studientagen an der LSE eine gegenseitige Abneigung verband, sowie die Chicagoer Schule. In ihrem Wirken sah Galbraith eine akute Gefahr, gegen die sich eine aufgeklärte, nach seinem Verständnis „liberale" Öffentlichkeit zur Wehr setzen müsse. 89

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 305

Militärausgaben, seit der Jahrhundertwende glatt verdoppelt. 91 In systematischer Weise setzte sich James Buchanan mit der Frage des steigenden Staatsanteils auseinander. Der an der University of Virginia lehrende Ökonom entwickelte in dieser Zeit gemeinsam mit Gordon Tullock die „Public Choice"-Theorie, die differenzierte Aussagen über die demokratischen Wahlentscheidung der Bürger und das Handeln von Politikern und Bürokraten erlauben sollte. Aufbauen konnte er dabei auf Anthony Downs „Economic Theory of Democracy", die radikal mit der Sicht brach, Politiker und Parteien verfolgten das Allgemeinwohl. Statt dessen unterstellte er ein eigennütziges Nutzenkalkül, also das Streben nach Wählerstimmenund Machtmaximierung. Einige Ergebnisse seiner Studien mit Tullock, die in das bahnbrechende Werk „The Calculus of Consent" mündeten, präsentierte Buchanan 1959 beim MPS-Treffen in Oxford. Während nach Downs' Theorie zu erwarten war, daß die Parteien in die Mitte rücken würden, da hier die Mehrheiten zu finden waren, daß also der Medianwähler entscheide, betonte Buchanan die Bedeutung von straff organisierten Minderheiten, die durch intensives Lobbying und politische Tauschgeschäfte (log-rolling) parlamentarische Entscheidungen zu ihren Gunsten herbeiführen konnten. Vor der MPS in Oxford erklärte Buchanan die Grundzüge des Spiels: Eine Minderheit wünsche ein bestimmtes, ihr große Gewinne versprechendes politisches Projekt. Um ihr Ziel zu erreichen, nehme sie einen Teil der erwarteten Gewinne und verteile ihn an andere Gruppen, bis sie 51 Prozent der Stimmen für das Projekt gesichert habe. Die Kosten werden dagegen auf die Allgemeinheit abgewälzt. So würden Projekte öffentlich finanziert, die keineswegs im öffentlichen Interesse lägen. Da Buchanan und Tullock davon ausgingen, daß solche Art von politischem Stimmenkauf in der Demokratie eher die Regel als die Ausnahme sei, lag der Schluß nahe, daß der Staatsanteil also weit über das aus Sicht der „Wohlfahrtstheorie" vertretbare Maß hinaus steige (vgl. Buchanan, 1959/1960). 92 Um die Tendenz des demokratischen Systems zu einer kontinuierlichen Ausdehnung von staatlichen Projekten und Umverteilung zu stoppen, empfahl die um Buchanan und Tullock entstehende „Public Choice"-Schule institutionelle Reformen des Systems der Mehrheitsentscheidungen, etwa durch eine Erhöhung der notwendigen Quoren für parlamentarische Entscheidungen, sowie strengere Budgetierungsrichtlinien. In den fünfziger und sechziger Jahren wehte der ökonomische Zeitgeist jedoch noch in die entgegengesetzte Richtung. Nicht eine Begrenzung der staatlichen Aufgaben und Ausgaben, sondern eine drastische Ausweitung wurde hier diskutiert.

" Die Kasseler Diskussionsbeiträge wurden anschließend im Mont Pèlerin Quarterly (Jg. 2, Oktober 1960) dokumentiert. 92 Das unterentwickelte Bewußtsein der Bürger für die Problematik führte Buchanan auf mangelnde Information zurück. Besonders die „Fiskalillusion", daß nämlich Gewinne durch staatliche Umverteilung und Leistungen direkt verbucht würden, während die Kosten eher breit gestreut und nicht so direkt wahrgenommen würden, verhindere, daß sich effektiver Widerstand bilde. Später entwickelten die „Public Choice"-Vordenker die Theorie der „rationalen Ignoranz", wonach es für den einzelnen Bürger zu teuer und angesichts der ungewissen Erfolgsaussichten nicht lohnend sei, sich zu informieren und zu engagieren. Buchanan wurde ab den sechziger Jahren einer der aktivsten Redner der MPS (vgl. Buchanan, 1962; 1964; 1968; 1970).

306 • Wandlungen des Neoliberalismus

5.1. „Liberale" und Konservative Wie in den wirtschaftlichen Fachdebatten, so war auch in der allgemeinen politischen Diskussion eine starke Verschiebung der Lager zu erkennen. Die fünfziger Jahre sahen das Ende des alten, radikal individualistischen und antiinterventionistischen Republikanismus und den Aufstieg einer geläuterten linken Mitte, die sich mit Arthur Schlesinger als „vitales Zentrum" verstand und vorgab, die Tradition des amerikanischen „Liberalismus" zu verkörpern. Vom Selbstbewußtsein dieses linken „vitalen Zentrums" kündete etwa Lionell Trillings oft zitierte Behauptung: „In den Vereinigten Staaten ist gegenwärtig der Liberalismus nicht nur die dominante, sondern sogar die einzige intellektuelle Tradition. Denn es ist eine schlichte Tatsache, daß heutzutage keine konservativen oder reaktionären Ideen mehr im allgemeinen Umlauf sind" (Trilling, 1950, S. ix). Die neuen linken „Liberalen" waren mehrheitlich antikommunistisch ausgerichtet, ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen wurzelten aber fest im Boden des New Deal, also dem genauen Gegenteil dessen, was früher einmal, vor der „progressiven" Umdeutung, liberale Lehre war. Die kleine liberal-konservative Minderheit, die den New Deal weiterhin ablehnte, wurde folglich „reaktionär" genannt. „Es ist schwierig, sich zu erinnern, wie isoliert der konservative Rest („remnant") in den vierziger und frühen fünfziger Jahren war, der sich bei Fackelschein in seinen Katakomben t r a f , meint der spätere MPS-Präsident Edwin Feulner (2003, S. 4). Faktisch umfaßte die recht heterogene „konservative intellektuelle Bewegung", so die Sammelbezeichnung von George Nash, sowohl Liberale im europäischen Sinn, wie Mises und Hayek, als auch konservative Traditionalisten wie etwa Russell Kirk. Anfangs völlig einflußlos und marginalisiert, entwickelte sie sich zur geistigen Vorhut jener Gegenrevolution, die einmal mit dem Namen Reagan verbunden werden sollte. Einen frühen Kristallisationspunkt solcher Bemühungen auf liberaler Seite bildete die Foundation for Economic Education (FEE), gegründet im März 1946 von Leonard Read. 93 Sitz der Stiftung war eine Villa im stillen Irvington am Hudson nahe New York. Zu ihrem wissenschaftlichen Beirat gehörten prominente MPS-Mitglieder wie Hazlitt und Mises. Letzterer trat als eine Art „Spiritus rector" der Stiftung auf. Der strikte Wirtschaftsliberalismus der FEE-Mitarbeiter, darunter die MPS-Mitglieder F. A. Harper, H. Cornuelle, W. Curtis und Bettina BienGreaves, übertraf an Radikalität die meist deutlich gemäßigteren europäischen Neoliberalen, etwa die deutschen Ordoliberalen. 94 Neben Übersetzungen liberaler Klassiker wie Bastiats „La Loi" produzierte die FEE leicht lesbare Broschüren zu ökonomischen Themen, die massenhaft an Interessenten versandt wurden. Später veranstaltete sie vermehrt Vorträge

Leonard Read, der die FEE bis zu seinem Lebensende 1 9 8 4 leitete, hatte zuvor bei der Handelskammer der Vereinigten Staaten gearbeitet. Unter ihrem Präsidenten Henry Harriman begrüßte die Handelskammer zu Beginn der dreißiger Jahre den wettbewerbsregulierenden Ansatz des New Deal. Erst eine Begegnung mit dem liberalen Manager W. C. Mullendore überzeugte Read von den Grundsätzen des Wettbewerbs; als er 1 9 3 8 Chef der Handelskammer von Los Angeles wurde, begann er in Kalifornien mit Kampagnen gegen eine Ausweitung des Wohlfahrtsstaats. Nach dem Krieg wurde Read dann Vizepräsident des National Industrial Conference Board. Da er dort mit seinen Vorstellungen nicht durchdrang, machte er sich mit der FEE selbständig. Zu seiner Biographie vgl. Sennholz (1996). 93

Nach dem ersten Treffen hatte Read in einem Brief an den Yale-Ökonomen Fred F. Fairchild 1 9 4 8 enttäuscht geäußert, die am Mont Pèlerin versammelten Liberalen seien allenfalls „middle-of-the-roaders", jedoch „keine brauchbare K r a f t im Kampf für die Freiheit" (zit. n. Doherty, 2007, S. 214).

94

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 307 und Seminare, die neues Interesse an wirtschaftsliberalem Gedankengut zu wecken versuchten. Trotz ihres populären Ansatzes wandte sich die F E E in erster Linie an Intellektuelle. Ihre Zielgruppe waren Wissenschafder, Lehrer und Studenten sowie Multiplikatoren in den Medien, zudem Politiker und Geschäftsleute. Dank guter Beziehungen zu einigen Zeitschriften und Zeitungen, etwa dem Reader's Digest, konnten die F E E und ihre Mitarbeiter schon in ihrer Frühzeit große Breitenwirkung entfalten und wurden schnell Zielscheibe von Angriffen linker Journalisten und Politiker bis hin zur Präsidenten-Witwe Eleanor Roosevelt (vgl. Greaves, 1996, S. 339-341). Zu den Büchern, die aufgrund des Einsatzes der F E E in sehr hoher Auflage verbreitet wurden, zählte auch Hazlitts „Economics in One Lesson" von 1946, das Mises ökonomische Lehre in einfach konsumierbare Portionen verpackte und über die Jahrzehnte in mehr als einer halben Million Exemplaren verkauft wurde. Im selben Jahr publizierte die F E E die Studie „Roofs or Ceilings?" der jungen Chicagoer Ökonomen Stigler und Friedman, eine scharfe Analyse der Folgen der staatlichen Mietpreisbindungen, deren Kurzversion in einer Auflage von mehr als einer halben Million verbreitet wurde. Hazlitts von der F E E verlegte Schrift „Will Dollars Save the World?", eine Kritik des European Recovery Program, erschien auszugsweise im Reader's Digest. Neben der F E E waren es Zeitschriften, um die sich die aufkommende liberal-konservative Bewegung scharte. 1955 übernahm die F E E das in finanzielle Schwierigkeiten geratene Magazin The Freeman?5 Die Zeitschrift, nach ihrer Wiedergründung 1950 von Hazlitt, dem unermüdlichen publizistischen Kämpfer für die liberale Sache, redaktionell betreut, wartete zum einen mit Beiträgen etwa von John T. Flinn auf, dem bekannten Veteranen der Opposition gegen den New Deal, zudem bot sie neoliberalen Autoren wie Mises, Hayek und Röpke eine publizistische Plattform, als größere amerikanische Medien sie noch weitgehend ignorierten. Der Durchbruch aus dem intellektuellen Untergrund kam mit der von William F. Buckley aus der Taufe gehobene National Review, deren Gründung 1955 zur eigentlichen Geburtsstunde der intellektuellen „konservativen Bewegung" der Nachkriegszeit wurde (vgl. Nash, 1976, S. 148-153). 96 Der 1925 geborene Buckley, Autor des ebenso kontroversen wie gefeierten Buchs „God and Man at Yale", erwies sich als begnadeter Journalist. Seine 'National Review entwickelte sich zur bedeutendsten publizistischen Institution der amerikanischen Rechten. Mitte der sechziger Jahre sprang die Auflage über die Marke von Hunderttausend. Auf ihren Seiten wechselten sich Wirtschaftsliberale mit traditionellen Konservativen ab. Diese „fusionism" genannte Taktik, die beide politischen Strömungen zusammenschweißen sollte, ging auf den Publi-

The Freeman konnte auf eine abenteuerliche Vorgeschichte zurückblicken. Schon in den zwanziger Jahren hatte es ein gelegentlich in anarchistische Töne verfallendes Blatt gleichen Namens unter der Leitung Albert J . Nocks gegeben. Der gebildete, zugleich exzentrisch-libertäre Nock, ein ehemaliger Pfarrer der Episcopal Church und Autor des 1935 erschienenen Klassikers „Our Enemy, the State", hat über seinen Tod 1945 hinaus großen Einfluß auf die Entwicklung der intellektuellen „konservativen Bewegung" gehabt (vgl. Winterberger, 1996). Zu den Bewunderern Nocks zählten viele frühe amerikanische MPS-Mitglieder (vgl. Nash, 1976, S. 14-15). 95

Im selben Jahr kam auch erstmals die Zeitschrift Modem Age heraus, die Rüssel Kirk editierte. Obwohl sie hauptsächlich auf die traditionell konservativen Zirkel abzielte und nur selten wirtschaftliche Fragen ansprach, gab es unter den „editorial advisers" mit Wilhelm Röpke und David McCord Wright auch zwei Ökonomen, die das neoliberale Element hereinbrachten.

96

308 • Wandlungen des Neoliberalismus zisten Frank A. Meyer zurück, einen engen Vertrauten Buckleys. Freilich war die Zusammenarbeit nicht immer spannungsfrei: Den religiös orientierten Traditionalisten wie Kirk erschienen die rein auf ökonomische Freiheit bedachten Liberalen als gefährliche Relativisten; umgekehrt mißbilligten die neoliberalen Intellektuellen zuweilen autoritäre Züge im Denken der Konservativen, besonders deren Neigung zu staatlichen Verboten in moralischen Fragen. 97 Buckley selbst vertrat einen freiheitlichen Konservatismus, der staatliche Regulierung und Intervention in der Wirtschaft so gering wie möglich halten wollte, darüber hinaus erachtete er aber ein solides moralisches Fundament für die Marktwirtschaft als nötig. Seine Zeitschrift bot zahlreichen Mitgliedern der MPS ein Forum und berichtete regelmäßig über die Treffen der Gesellschaft, der Buckley selbst beitrat. 98 Verbindende Klammer der Allianz aus Liberalen und Konservativen nach dem Weltkrieg war ihre Ablehnung von Kollektivismus und Kommunismus. Die im Zuge des Kalten Kriegs bemerkbare innere Mobilmachung erfaßte viele amerikanische Liberale ebenso wie die Konservativen. 99 Zwiespältig war das Verhältnis der intellektuellen „konservativen Bewegung" zum Treiben des Senators Joseph McCarthy, dessen rabiate Kampagne gegen tatsächliche oder vermutete Kommunisten und deren Sympathisanten in Regierung und Medien die amerikanische Öffentlichkeit spaltete. Einige Mitglieder der MPS betrachteten mit Sorge, wie sich ein Klima des ideologischen Verdachts etablierte, das die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit bedrohte. Machlup etwa sah gar „eine echte Art Faschismus" heraufziehen (Machlup an Friedman, 28.10.1952, in: HIA, NL Machlup 38). Andererseits gab es in den Reihen der MPS auch viele, denen zwar McCarthys plumper und zuweilen demagogischer Stil mißfiel, die aber die Arbeit seines Ausschusses durchaus nicht für völlig verkehrt hielten. Eine davon war die britische Schriftstellerin Rebecca West, seit Ende der vierziger Jahre wie ihr Mann Henry Andrews aktives Mitglied der MPS. Sie gehörte zu jenen, die vor einer Unterwanderung der westlichen Demokratien durch kommunistische „fellow travellers" warnten. 100 Aufschlußreich ist daher, daß gerade West neben Raymond

Über die auf hohem philosophischen Niveau ausgetragene „konservativ-libertäre Debatte" gibt der Sammelband „Freedom and Virtue" (Carey, 2004) Aufschluß, der Aufsätze aus den sechziger bis achtziger Jahren vereint. Kritisch zu den Möglichkeiten eines Zusammengehens von Konservativen und Liberalen sowie zu unterschiedlichen Konzepten von Tugend und freiem Willen vgl. Bozell (1962/2004). Zu den latent immer spürbaren Bruchlinien der Allianz vgl. Nisbet (1980/2004). 98 Die weltanschauliche Spannbreite der Autoren der National Review markieren zwei Extreme: Zum einen der säkular-libertäre Ökonom Murray Rothbard, zum anderen der katholisch-konservative Gelehrte Erik von KuehneltLeddihn, bekanntgeworden durch sein Buch „Liberty or Equality". Zum politischen Standpunkt Kuehnelt-Leddihns vgl. Zeitz (2003). Beide wurden Ende der fünfziger Jahre Mitglied der MPS, der eine empfohlen von Mises, der andere von Röpke. Dean Rüssel, der Buckley in die MPS einführte, erinnert sich, daß zu seinem „äußersten Erstaunen" anfangs „erhebliche Opposition" gegen die Aufnahme Buckleys bestand. Rüssel mobilisierte darauf die Unterstützung von fast zwei Dutzend prominenten Mitgliedern zugunsten des National-Review-Grirndtrs (vgl. Russeis MPS-Fragebogen, 1984, in: HIA, Slg. Hartwell). 99 Eine Ausnahme blieb eine kleine Gruppe von Schülern von Mises' New Yorker Seminar wie Rothbard, Ralph Raico oder Leonard P. Liggio, die zwar rechts standen, aber im Zuge des Kalten Krieges eine Ausweitung der Macht von amerikanischer Regierung und amerikanischem Militär ebenso ablehnten wie die Bedrohung der Sowjetunion. Meyer attackierte 1962 in einem Artikel in der National Review diese libertäre Fraktion und drängte Rothbard damit aus der „konservativen Bewegung" hinaus (vgl. Meyer, 1962/2004, S. 14-15). 100 West, Anfang der zwanziger Jahre Lebensgefährtin von H. G. Wells und lange auf der Linken aktiv, beschrieb in einer aufsehenerregenden Serie von Artikeln in der Sunday Times im März 1953 ein Netz kommunistischer „fellow travellers", also pro-sowjetischer Agenten, was ihr die Feindschaft ehemaliger Freunde und prominenter Linker wie Arthur Schlesinger eintrug. Zu West vgl. Rollyson (1996). 97

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 309 Aron und Carlo Antoni beim MPS-Treffen in Beauvallon 1951 als Rednerin zum Thema „The Source of the Pro-Soviet Bias Outside Russia" eingeladen wurde.

5.2. Hayek: "Why I am Not a Conservative" Als eine der Galionsfiguren der „konservativen Bewegung" etablierte sich der 1918 geborene Historiker Russell Kirk. Durch seine rege publizistische Tätigkeit trug er maßgeblich zur Wiederentdeckung des liberalen Konservatismus Edmund Burkes in Amerika bei, war aber zugleich auch romantisch und skeptisch gegenüber der Moderne. Seine breitgefächerte ideengeschichtliche Studie „The Conservative Mind" von 1953 prägte eine ganze Generation von Konservativen (vgl. Nash, 1976, S. 69-76). Frühzeitig wurde auch Röpke auf Kirk aufmerksam, zu dem er bald „geistige Kameradschaft" empfand. Er lobte Kirks Buch als „das nach Substanz und Form fesselndste Werk..., das mir seit langer Zeit untergekommen war" und äußerte die Hoffnung, daß in Amerika „Konservatismus und Liberalismus (im europäischen Sinne) mehr und mehr miteinander verschmelzen" (Röpke, 1955b). An Hunold schrieb er, Kirk sei „ein Mann, mit dem wir durch die MPS, aber auch vielleicht durch Ihr Institut Fühlung aufnehmen sollten ... Nach meiner Meinung [wäre] Kirk ein sehr würdiges Mitglied unserer Society" (vgl. Röpke an Hunold, 12. Juni 1955, in: HIA, MPS-Slg. 7). Im Frühjahr 1957 lud Hunold den amerikanischen Historiker somit zum MPS-Jubiläumstreffen nach St. Moritz ein. Hayek gegenüber, der dort ein Referat „Why I am not a Conservative" halten wollte, machte Hunold die Ankündigung, Kirk werde „natürlich ein Gegenreferat halten mit dem Titel ,Why I am a Conservative'" (Hunold an Hayek, 5. Juni 1957, in: N L Hunold). Über diese Information zeigte Hayek sich nicht gerade begeistert: „Ich bin etwas entsetzt über die Einladung an Kirk, die bei unseren akademischen hiesigen Freunden gewiß Anstoß erregen wird, und mit einem gewissen Recht" (Hayek an Hunold, 8. Juni 1957, in: ebd.). Im folgenden Jahr bat Hayek inständig, Kirk nicht wieder einzuladen, da dies „es ja unvermeidlich machen würde, ihn zum Mitglied zu wählen, und dazu scheint er mir noch immer nicht geeignet". In Hayeks Augen blieb Kirk „der Repräsentant einer ganz bestimmten Richtung, eines wirtschaftsverachtenden und in vieler Beziehung wirklich reaktionären Konservatismus" (Hayek an Hunold, 23. März 1958, in: ebd.). 101 Trotz solcher Bedenken wurde Kirk 1961 zum MPS-Treffen in Turin erneut eingeladen und hielt erstmals einen Vortrag zu „The Decline of Territorial Democracy in America". Dessen Tendenz, eine gelehrte Klage über die Abkehr vom Prinzip der Subsidiarität, die Zersetzung

101 Hayeks Vermutung, Kirk vertrete einen „wirtschaftsverachtenden" Konservatismus, trifft nicht zu. Schon 1944 hatte der junge Kirk sowohl Hayeks „The Road to Serfdom" als auch Mises' „Bureaucracy" mit großer Zustimmung gelesen (vgl. Nash, 1976, S. 12). Wie Attarian (1996) darstellt, befürwortete Kirk den marktwirtschaftlichen Wettbewerb, verteidigte den Schutz des Privateigentums und lehnte exzessive Steuern sowie kollektivistische staatliche Sozialprogramme ab, welche er als Bedrohung der familiären und subsidiären Bande der Solidarität ansah. Allerdings betonte Kirk die hinter den ökonomischen Problemen liegende ethische und religiöse Sinnfrage, darin Röpke ähnlich. Die Marktwirtschaft sei kein Selbstzweck, waren beide überzeugt, zudem ruhe sie auf einem bestimmten kulturellen und sozialen Fundament. Am puristischen Liberalismus, verkörpert durch Mises, kritisierte Kirk, „wenn einmal die übernatürlichen und traditionellen Bindungen aufgelöst sind, wird das ökonomische Eigeninteresse lächerlich ungeeignet sein, um ein Wirtschaftssystem zusammenzuhalten, und sogar noch weniger geeignet, um die Ordnung aufrecht zu erhalten." (zit. n. ebd., 1976, S. 81).

310 • Wandlungen des Neoliberalismus der kleinen politischen Einheiten und eine zunehmende Zentralisierung, durfte auf Zustimmung im Kreise der Neoliberalen hoffen (vgl. Kirk, 1961a). Im Anschluß berichtete er in der National Review lobend über einen angeblichen Geisteswandel der MPS: „Vor einigen Jahren hätte die Gesellschaft fast noch ,The John Stuart Mill Club' ... genannt werden können" aufgrund des „ziemlich rigiden Festhalten [s] an den liberalen Dogmen des neunzehnten Jahrhunderts und einer rationalistischen Gegnerschaft gegen das Christentum bei ziemlich vielen ihrer Mitglieder." Jetzt stünde die Gesellschaft dem Konservatismus aufgeschlossener gegenüber, meinte er. „Wir mögen auf ein Zusammengehen der besten Elemente des alten Konservatismus und des alten Liberalismus hoffen ..." (Kirk, 1961b). Zu diesem Artikel kam bald ein Leserbrief aus Chicago, unterzeichnet von Director, Friedman und Stigler. Die drei betonten, daß es keine einheitliche Linie der Gesellschaft gebe und diese offen und tolerant für unterschiedliche Meinungen sei. Nicht richtig war allerdings ihre Behauptung: „Religiöse Fraugen wurden bei der ursprünglichen Konferenz nicht angesprochen und auch nicht bei irgendeiner der anderen, die wir besucht haben" (Director/Friedman/Stigler, 1961).102 Obwohl es in der Nachkriegszeit vornehmlich konservative Politiker und Strömungen waren, die wirtschaftsliberales Gedankengut aufgriffen, war Hayek demonstrativ um Distanz bemüht. Sein genuin liberales Profil in Abgrenzung vom Konservatismus hatte er in einer Ansprache als Präsident 1957 vor der MPS zu klären versucht. Der Vortrag war betitelt „Why I am N o t a Conservative" und wurde später als Nachwort zur „Constitution of Liberty" abgedruckt. 103 Hayek ließ hier keinen Zweifel daran, daß für ihn das Wort „Konservatismus" den unangenehmen Beigeschmack der Innovationsfeindlichkeit, des Antiintellektualismus und der Staatsgläubigkeit hatte. Sich gegen zu schnelle oder gar revolutionäre Veränderungen zu wehren, sei eine notwendige Haltung, meinte Hayek. E r selbst könne sich aber nicht damit begnügen, als „Bremse des Fortschritts" zu wirken. Irreführend sei es, den Liberalismus auf einem linearen Spektrum in der Mitte zwischen Sozialismus und Konservatismus zu verorten, so daß Liberale und Konservative immer an einem Strang gegen die sozialistische Tendenz ziehen würden, im Gegenteil. „Es waren immer Konservative, die dem Sozialismus Zugeständnisse gemacht haben und ihm zuvorkamen", meinte er (Hayek, 1960/1991, S. 483). Zwar fände sich selbst bei politischen Reaktionären wie Coleridge, Bonald, D e Maistre, Justus Moser oder Donoso Cortes „ein Verständnis der Bedeutung spontan entstandener Institutionen wie Sprache, Recht, Moral und Konvention", von dem Liberale etwas hätten lernen können, meinte Hayek. D o c h letztlich habe die „Bewunderung der Konservativen für freies Wachstum" immer nur vergangenen Zeiten gegolten, mit Blick auf die Zukunft mangele es ihnen an „Vertrauen auf die spontanen Kräfte der Anpassung" (ebd., S. 484).

102 Offenbar wurde Kirk sogar Mitglied der MPS, wie der Schriftwechsel zur sogenannten „Hunold-Affäre", der großen Krise der Gesellschaft, indirekt belegt. In diesem Zusammenhang stand er auf Seiten des MPS-Sekretärs und Röpkes, auf dessen Rundschreiben vom 6. Dezember 1961 er ihm eine Vollmacht schickte (vgl. „Proxy-Vote" von Kirk, [Ende 1961], in: HIA, MPS-Slg. 1). Kirk trat auch bei Hunolds Schweizerischem Institut für Auslandsforschung als Redner auf. 103 Interessanterweise war im MPS -Programm und ebenso auf dem vervielfäkigten Skript der Titel noch mit einem Fragezeichen versehen, lautete also „Why I Am Not A Conservative?" (vgl. Hayek, 1957). Im Anschluß an Hayek erhielt Kirk die Gelegenheit zu einer freien Gegenrede, wobei er sich nach Ansicht seines Verlegers recht gut schlug (vgl. Regnery, 1979, S. 159).

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 311

Trotz dieser Abgrenzung war unübersehbar, wo Hayek zu konservativen Positionen neigte, insbesondere in seiner positiven Einschätzung von Traditionen und Institutionen. Im Unterschied zum Konservativen, der Überlieferungen aus purer Nostalgie für unantastbar hielt, rekurrierte Hayeks Argument gegen Sozialexperimente auf seine Thesen zur Beschränktheit des individuellen menschlichen Wissens und Verstandes. Er schätzte Traditionen und Institutionen, weil sie dem einzelnen „als Ergebnis eines kumulativen Wachstums zur Verfügung stehen, ohne daß sie je von einem einzelnen Verstand erdacht worden sind", wie er in „The Constitution of Liberty" schrieb (Hayek, ebd., S. 36). Aus seiner Überlegung zum Wert evolutionär gewachsener sozialer Institutionen folgte die konservative Einsicht vom Wechselspiel von Tradition und Freiheit: „So paradox es klingen mag, eine erfolgreiche freie Gesellschaft wird immer eine in hohem Maße traditionsgebundene Gesellschaft sein." Die „Hochachtung von Tradition und Gebräuchen, von gewachsenen Einrichtungen und von Regeln, deren Ursprung wir nicht kennen" gründete auf seiner Überzeugung, daß „das Ergebnis des Experimentierens vieler Generationen mehr Erfahrung verkörpern kann, als der einzelne Mensch besitzt" (ebd., S. 78). Ein freiwilliger Konformismus der Individuen, der sie zur Einhaltung einer tradierten, sich langsam und evolutionär entwickelnden Moral anhält und so den sozialen Umgang erleichtert, war demnach einem gesetzlichen Zwang durch detaillierte Reglementierung des Zusammenlebens allemal überlegen, die dann nötig wäre, falls jegliche moralische Konvention ihre Verbindlichkeit verlieren würde. Letztere Form eines konstruierten, von allen Traditionen gewaltsam abgeschnittenen Sozialwesens, wie sie der Ostblock unter kommunistischen Vorzeichen zu errichten versuchte, war für Liberale wie Konservative gleichsam eine Horrorvorstellung.

5.3. Hoffnungsträger Goldwater Mit der Präsidentschaftskandidatur von Barry Goldwater 1964 sprang erstmals ein Mann auf die große politische Bühne, der Hoffnungen auf eine libertär-konservative Wende weckte. Bislang zirkulierten Vorschläge für einen radikalen Bruch mit dem Erbe des New Deal zwar in der akademischen Unterströmung, galten aber in politisch relevanten Kreisen als indiskutabel. Wie in Großbritannien hatte sich ein neuer Konsens gebildet, der auf Roosevelts Interventionismus und Sozialgesetzgebung aufbaute und den auch das an der Ostküste angesiedelte Establishment der Republikaner nicht anzutasten wagte. Goldwater gelang es, linksliberale Schwergewichte der Partei wie den Öl-Milliardär Nelson Rockefeller beiseite zu schieben. Mit der ihm eigenen Rücksichtslosigkeit setzte er sich über die ungeschriebenen Regeln des amerikanischen „juste milieu" hinweg und wagte den Frontalangriff auf alles, was seit dem New Deal an staatlicher Regulierung begonnen worden war.104 Sein Programm war die komplette Negation des New Deal und des Keynesianismus: Umkehr zu ausgeglichenen Haushalten, Beendigung der staatlichen Landwirtschaftsprogramme, mehr wirtschaftliche

,04 Schon 1934 hatte er sich als Geschäftsführer des väterlichen Unternehmens dem Zwang zu staatlichen Preiskontrollen widersetzt und die Plakette des „Blue Eagle", das öffentliche Bekenntnis zum New Deal; von seinen Läden abmontiert (vgl. Perlstein, 2001, S. 20). Später profilierte sich Goldwater in scharfen Auseinandersetzungen mit dem sozialistischen Anführer der United Automobile Workers.

312 • Wandlungen des Neoliberalismus

Freiheit, deutliche Steuersenkungen und eine allgemeine Privatisierung bis hin zum Verkauf der Tennessee Valley Authority (vgl. Perlstein, 2001, S. 46). Seine 1960 veröffentlichte Streitschrift „The Conscience of a Conservative" sprach liberale Kerngedanken an: die Eindämmung der Staatsmacht zugunsten privater Freiheit und Verantwortung. Goldwater wetterte darin gegen eine Ausweitung der Zentralgewalt, die sich in das Privadeben einmische und die Bürger entmündige, prangerte die Steuer- und Abgabenlast an sowie den Machtmißbrauch der Gewerkschaften, „Big Labor" genannt. Der Konservative, so Goldwater, betrachte die Politik als „die Kunst, das Maximum an Freiheit für die Individuen zu erreichen, das mit der Aufrechterhaltung der Ordnung zu vereinbaren ist" (Goldwater, 1960, S. 13). Im Kapitel „The Perils of Power", gespickt mit Zitaten von Acton und Tocqueville, zeigte sich Goldwater besorgt über die Tendenz beider großer Parteien, die Lösung für alle Probleme in immer mehr Interventionskompetenzen für die Regierung in Washington zu sehen. Das Resultat dieser Tendenz sei „ein Leviathan, eine ungeheure Bundesbehörde", die den Bezug zu den Menschen verloren habe und nicht mehr von ihnen kontrolliert werde (ebd., S. 20). Nach Goldwater verletzte dies die amerikanische Verfassung als „ein System von Schranken gegen die natürliche Tenden^ der Regierung, in Richtung Absolutismus wachsen" (ebd., S. 18, kursiv im Orig.). Solche Ansichten, obwohl als „konservativ" bezeichnet, erinnerten stark an die Thesen, die Hayek vertrat.105 In nur vier Jahren wurden rund 3,5 Millionen Exemplare von dem Buch verkauft. „The Conscience of a Conservative" war damit eine der erfolgreichsten politischen Schriften der Nachkriegszeit und machte Goldwater landesweit bekannt.106 Einzelne amerikanische Mitglieder der MPS wurden schon früh auf den Senator aus Arizona aufmerksam und verfolgten seinen politischen Aufstieg wohlwollend. Zu den frühen intellektuellen Förderern Goldwaters zählten neben Konservativen wie Russell Kirk auch prominente Liberale wie Richard Ware von der Reim Foundation, die immer wieder auch die MPS finanziell unterstützte, sowie Karl Brandt, Stefan Possony, Warren Nutter und Yale Brozen (vgl. Nash, 1976, S. 421). Milton Friedman kannte Goldwater seit den späten fünfziger Jahren persönlich. Ende 1960 trat er mit wirtschaftspolitischen Vorschlägen an den Senator heran, 1964 beriet er ihn im Wahlkampf (vgl. Edwards, 1995, S. 101 u. 432; Perlstein, 2001, S. 421).107 In der MPS fieberten nicht wenige im Wahlkampf mit dem republikanischen Herausforderer mit. „Barry Goldwater trete in einem Maße für die Marktwirtschaft ein, wie dies kein Präsident zuvor getan habe", berichtete die FAZ über MPS-Stimmen beim Treffen in Semmering: „Die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Liberalen [sagt]: Wir sind für Goldwater. Viele sind fest davon überzeugt, daß Goldwater die Wahl gewinnen werde", so die 105 N h Darstellung des Journalisten und Politikberaters Lee Edwards, der Goldwater aus nächster Nähe kennenlernte, hatte dieser schon als junger Mann Hayek gelesen und sei während seiner frühen Jahre im Senat „sehr von der Arbeit von Professor F. A. Hayek beeinflußt" worden (Edwards, 1995, S. 271). Hayek sei Goldwaters „Lieblingsphilosoph" gewesen, behauptet Edwards (ebd., S. 281). Perlstein (2001) weiß davon nichts zu berichten. a c

Autor („Ghost Writer") des Büchleins war zu weiten Teilen Brent Bozell, der Schwager von William Buckley. Charakteristisch für die Art von Diffamierungen, welche eine konsequent antikollektivistische Haltung zu dieser Zeit provozierte, war die Reaktion des demokratischen Senators Joseph Clark, mit dem Friedman 1961 ein öffentliches Streitgespräch hatte. Clark beschimpfte den Chicagoer Ökonomen als „Neoanarchist", der zudem „ein guter Kandidat für die nächste Präsidentschaft der J o h n Birch Society" sein könnte (zit. n. Perlstein, 2001, S. 421). Auch Goldwater schadete die von Teilen der Medien behauptete Nähe seiner Kampagne zu den anukommunistischen „Birchers" unter Führung ihres paranoiden Gründers Robert Welch. 106

107

Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken • 313

vorherrschende Meinung (Eick, 1964). Mit dieser Prognose lagen sie gründlich daneben. Nicht die liberale Staatsskepsis, die Goldwater motivierte und die ihn zum Hoffnungsträger der MPS-Mitglieder machte, wurde von den Medien vermittelt, sondern das Zerrbild eines machthungrigen, rechten Amokläufers. Goldwater lieferte ihnen durch unbedachte Bemerkungen die passenden Stichwörter, indem er etwa verkündete, „Extremismus bei der Verfolgung der Freiheit" sei „keine Sünde" - fortan klebte das „Extremisten"-Etikett an ihm. 108 Weitere Munition lieferte Goldwater seinen Gegnern durch allzu forsche Aussagen zur nuklearen Option im Kalten Krieg. Der Wahlkampf entwickelte sich zum härtesten, den die Vereinigten Staaten bislang erlebt hatten, und die Polemik gegen den republikanischen Kandidaten steigerte sich zu wüsten Tiraden. 109 Die Niederlage des republikanischen Kandidaten gegen Amtsinhaber Lyndon B. Johnson hätte vernichtender nicht sein können. Entgegen der pessimistischen Einschätzung vieler Beobachter erholte sich die republikanische Partei jedoch erstaunlich schnell von dem Debakel, das Goldwater an der Urne verursacht hatte. Seine Botschaft lebte weiter. Für die Vordenker der liberal-konservativen Allianz war entscheidend, daß erstmalig ein führender Politiker das Experiment gewagt hatte, eine radikale Alternative zum „post-New-Deal"Konsens öffentlich zu präsentieren (vgl. Edwards, 1995, S. 360). Goldwaters Argumente prägten eine ganze Generation junger Aktivisten, die nach 1964 in die Politik gingen und nach und nach die Gewichte in der republikanischen Partei verschoben. Trotz des schlechten Wahlergebnisses, so urteilte Friedman, war langfristig die Wirkung von Goldwaters Kandidatur die Uberwindung der „bislang dominanten Rockefeller-Republikaner und ein entscheidender Schritt in der allmählichen Verschiebung der öffentlichen Meinung ... hin zu einem marktwirtschaftlichen Konservatismus" (Friedman/Friedman, 1998, S. 369). In der letzten Woche des Wahlkampfs 1964 hatte sich zudem ein junger Politiker und ehemaliger Schauspieler, bislang noch ohne Amt und größere Bekanntheit, mit einer mitreißenden Fernsehansprache hervorgetan. „Ich bin den größten Teil meines Lebens Anhänger der Demokratischen Partei gewesen. Kürzlich habe ich es für angebracht gehalten, einen anderen Kurs einzuschlagen", erklärte Ronald Reagan dort. Dann rechnete er vor, wieviel Steuern die einzelnen an die Regierung zu zahlen hätten, und vermittelte die Vision einer Begrenzung des Staates zugunsten größerer individueller Freiheit, dies alles mit mehr rednerischem Talent und größerer Einfühlung als der zuweilen etwas barsche Goldwater: „Es gibt nur ein Aufwärts oder ein Abwärts: aufwärts zum uralten Traum des Menschen, zur endgültigen individuellen Freiheit im Einklang mit Recht und Ordnung - oder abwärts zum Ameisenhaufen des Totalitarismus. ... Sie und ich haben eine Verabredung mit dem Schicksal. Wir können für unsere Kinder die letzte, beste Hoffnung der Menschheit bewahren oder

loe Dj e umstrittene und von der Presse weidlich ausgeschlachtete Passage in Goldwaters Ansprache im Cow Palace in San Francisco war tatsächlich ein nicht kenntlich gemachtes Zitat einer römischen Senatsrede von Cicero, eingefügt auf Anregung des Politikprofessors Harry Jaffa (vgl. Friedman/Friedman, 1998, S. 368). Daß Goldwater tatsächlich ein radikaler Libertärer und weniger ein Konservativer war, zeigten einige seiner späteren Positionen zu Abtreibung und „gay right", die rechten christlichen Gruppen wie der Moral Majority nicht gefallen konnten (vgl. Edwards, 1995, S. 420-425). Martin Luther King etwa beklagte in Goldwaters Kampagne „gefährliche Anzeichen von Hitlerismus", andere streuten systematisch Zweifel an Goldwaters mentaler Gesundheit (vgl. Nash, 1976, S. 291 u. S. 421). 109

314 • Wandlungen des Neoliberalismus sie dazu verurteilen, den letzten Schritt in eine tausendjährige Dunkelheit zu gehen" (zit. n. Reagan, 1990, S. 140-141). Mit dieser Rede wurde Reagan landesweit beliebt und gewann in der republikanischen Partei mächtige Gönner (vgl. Perlstein, 2001, S. 499-504). Diese drängten ihn 1966, bei der Gouverneurswahl in Kalifornien anzutreten, die er souverän für sich entschied. Noch war aber nicht abzusehen, daß Reagan sechzehn Jahre später in enger Zusammenarbeit mit MPSMitgliedem eine radikal marktwirtschaftliche Wende einleiten sollte.

4. Teil: Beginn einer neoliberalen Gezeitenwende

VIII. Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens In den späten sechziger Jahren gingen die in der MPS versammelten Neoliberalen in die Offensive. Sie waren um so erfolgreicher, je mehr sich das ökonomische Klima verschlechterte. Nachdem die internen Turbulenzen der „Hunold-Affäre" überstanden waren, gelangte die MPS in ruhigeres Fahrwasser; eine große Zahl von gut besuchten Konferenzen und Regionaltreffen zeugte von der Aktivität und Attraktivität der Gesellschaft. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen der keynesianischen „Vollbeschäftigungspolitik" war es Friedman, der entscheidende Erfolge erzielte. Die Kernaussage seiner Rede von 1967 vor der American Economic Association lautete, daß ein „trade o f f , also eine politische Alternative, zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation nicht bestehe: Alle Bemühungen einer expansiven Politik bewirkten letztlich nur steigende Inflationsraten, die in die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte eingebaut würden. In den folgenden Jahren bestätigte das in den keynesianischen Lehrbüchern nicht vorgesehene Phänomen der Stagflation alle neoliberalen Warnungen. Der Glaube an die Möglichkeiten einer staatlichen Steuerung von Konjunktur und Wachstum wurde dadurch tief erschüttert. Während in der ökonomischen Wissenschaft die marktwirtschaftliche Fraktion nun immer stärkere Beachtung fand, entfernten sich große Teile der akademischen Jugend im Gefolge der Studentenunruhen von bürgerlich-liberalen Werten. Die um 1968 aufkommende Neue Linke griff auf ältere marxistische und antikapitalistische Argumente zurück und stellte somit eine ernsthafte Herausforderung für den Neoliberalismus dar, auf die führende Mitglieder und Sympathisanten der MPS in unterschiedlicher und teilweise überraschender Weise reagierten. In der praktischen Wirtschaftspolitik hatte die beginnende Gezeitenwende der Wissenschaft hin zu neoliberalen Konzeptionen anfangs kaum oder gar keine Wirkung. Westdeutschland übernahm genau zum Zeitpunkt des theoretischen Niedergangs des Keynesianismus diesen als wirtschaftspolitisches Leitbild. Mit der Gewichtsverschiebung in der MPS zulasten der deutschen Ordoliberalen korrespondierte ein langsamer Verfall der von Mitgliedern der Gesellschaft einst mitgestalteten Sozialen Marktwirtschaft. Die neoliberalen Ökonomen um Erhard waren schon in den sechziger Jahren konzeptionell nicht mehr die treibende Kraft und wurden schließlich an den Rand gedrängt. In den Vereinigten Staaten und in Großbritannien fanden dagegen Mitglieder der MPS gegen Ende der sechziger Jahre verstärkt Zugang zu den dortigen konservativen Parteien. Die Regierungen von Nixon und Heath Anfang der siebziger Jahre brachten jedoch trotz starker Beteiligung von Mitgliedern oder Sympathisanten der MPS schwere Enttäuschungen. Die erhoffte neoliberale Wende wurde im Ansatz erstickt, als sowohl Nixon wie auch Heath, ratlos angesichts der beginnenden Stagflation, auf interventionistische Rezepte zurückgriffen. Mitte der siebziger Jahre spitzten sich die ökonomischen Probleme zu. Besonders in Großbritannien entwickelte sich ein akutes Krisenbewußtsein. Die dortigen MPS-Mitglieder zogen, angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs und der Lähmung durch schleichenden Sozialismus und übermächtige Gewerkschaften, warnende Parallelen zum Schicksal von Ländern wie Chile, dessen sozialistisches Experiment in einer Katastrophe endete.

318 • Wandlungen des Neoliberalismus Während die ökonomische und politische Lage sich Mitte der siebziger Jahre weiter verdüsterte, gab es in der MPS doch auch Anlaß zur Freude, vor allem über die Nobelpreise für Hayek und Friedman. Trotz prinzipiell gleicher Stoßrichtung bestanden auch gravierende Differenzen zwischen beiden. Ihre Anhänger, Monetaristen und Strukturalisten, diskutierten auf Treffen der MPS unterschiedliche Ansätze zur Überwindung der Stagflation. Ebenso entwickelten sie nach dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods unterschiedliche Strategien, um dauerhaft monetäre Stabilität garantieren zu können. Eine fundamentale Wandlung machte der Neoliberalismus in den sechziger und siebziger Jahren bezüglich seiner Haltung zur Wettbewerbsstabilität und Wettbewerbsordnung durch: Hatten die Vertreter der frühen Chicagoer Schule eine potentielle Selbstgefährdung des Wettbewerbs angenommen, so änderte die jüngere Generation der Chicagoer Schule ihre Meinung hierzu. Diese neue wettbewerbspolitische Position dominierte bald auch die MPS, so daß von einer „Rolle rückwärts" des Neoliberalismus zum älteren liberalen Laissez-faire zu sprechen ist. Damit wandelte sich die neoliberale Wirtschaftstheorie von einer defensiven zu einer offensiven Strategie zur Verteidigung des Marktes.

1. Die MPS konsolidiert sich: Neue Attacken gegen den Keynesianismus Nachdem die Gesellschaft die interne Auseinandersetzung um ihren streitbaren Sekretär zu Anfang der sechziger Jahre überwunden hatte, ging ihre Entwicklung wieder in ruhigere Bahnen und bergauf. Zwar hatte das Scherbengericht gegen Hunold den Austritt Röpkes und Rüstows, mithin der wichtigsten Vertreter des „soziologischen Neoliberalismus", gebracht, dies tat der Aktivität der Gesellschaft aber keinen Abbruch. Die älteren Mitglieder der Gründergeneration traten ab Mitte der sechziger Jahre ohnehin mehr in den Hintergrund und jüngere Mitglieder übernahmen mehr und mehr die Referate und Diskussionen auf den Tagungen. Hayek, nunmehr Ehrenpräsident der MPS, beteiligte sich nicht an der Organisation, sondern machte nur noch selten gelehrte Bemerkungen, meist zu sozialphilosophischen Themen. Als einflußreichster Ökonom in der MPS tat sich zur selben Zeit immer klarer Friedman hervor. Von 1970 bis 1972 amtierte er als Präsident der MPS, als seine Kritik der weltweit praktizierten, nun aber in die Krise geratenden keynesianischen Nachfragepolitik immer stärker Beachtung fand. Personell wie inhaltlich dominierten in der Gesellschaft nun die Mitglieder aus dem angelsächsischen Raum.' Wie Hunold geahnt hatte, übernahm Ralph Harris eine zunehmend wichtige Rolle in der MPS: Ab 1967 wirkte er neun Jahre lang als Sekretär der MPS. Der IEA-Direktor erwies sich als äußerst fähiger Verwalter und ebenso umsichtiger wie diskreter Organisator. Ab 1976 führte der Wiener Max Thum, einst engster Mitarbeiter des österreichischen Finanzministers Reinhold Karnitz und später bei der Weltbank beschäftigt, das

' Laut Mitgliederverzeichnis von 1966 stellten Amerikaner 41,8 Prozent und Deutsche 11,1 Prozent der Mitglieder, die Briten nur noch 9,3 Prozent, die Franzosen 8,9 Prozent, Schweizer 5,0 Prozent und Italiener 3,1 Prozent. Der Anteil von MPS-Mitgliedern anderer Nationalität war mit rund 20 Prozent geringfügig gestiegen. Bis 1975, als die Zahl der MPS-Mitglieder insgesamt schon 381 betrug, stieg der Anteil der Amerikaner auf mehr als 46 Prozent, die anderen nationalen Anteile stagnierten oder sanken (vgl. Mitgliederverzeichnisse in: LA).

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 319 Amt des MPS-Sekretärs, das er zwölf Jahre, bis 1988, innehatte. Die Präsidentschaft rotierte regelmäßig: Auf Friedman folgte Arthur Shenfield bis 1974, nach ihm amtierte der Franzose Gaston Leduc bis 1976, nach ihm George Stigler bis 1978, darauf folgend der guatemalische Ökonom Manuel Ayau bis 1980, der Gründer der privaten Universität Francisco Marroquin, und schließlich von 1980 bis 1982 der Japaner Chiaki Nishiyama, ein Schüler Hayeks. Auch mit der Wahl ihrer Tagungsorte wagte sich die MPS nun über die Grenzen Europas und Nordamerikas hinaus. Nachdem sie 1964 noch in Semmering in den österreichischen Alpen und 1965 in Stresa am Lago Maggiore getagt hatte, hielt sie 1966 ein Treffen in Tokio ab, wofür sich eine aktive Gruppe japanischer Mitglieder engagiert hatte.2 1967 gab es ein Treffen im französischen Vichy und 1968 im schottischen Aviemore, 1969 hielt die MPS ein Regionaltreffen in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, ab. 1970 fand ein großes Treffen in München statt, 1971 ein Regionaltreffen am Rockford College westlich von Chicago. Zur 25-Jahre-Feier der Gründung der MPS 1972 kehrte man zu den Ursprüngen zurück und hielt in Montreux, nahe dem Mont Pèlerin, ein Jubiläumstreffen ab. Zunehmend häufig organisierten lokale Gruppen kleinere Regionaltreffen, etwa 1973 in Salzburg und in Guatemala City. 1974 gab es eine große Tagung in Brüssel, 1975 trafen sich die Mitglieder der Gesellschaft am Hillsdale College in Michigan. Im Jahr 1976 gab es Treffen in Paris und im schottischen St. Andrews, wo mit einer Reihe von Vorträgen des zweihundertsten Geburtstages von Adam Smith gedacht wurde. 1978 schließlich kam die Gesellschaft in Hongkong unter dem Motto „Is the Tide Turning?" zusammen. 3 Die sich allmählich abzeichnende intellektuelle und politische Gezeitenwende war Ergebnis langer und zäher Auseinandersetzungen der neoliberalen Minderheit mit der keynesianischen Mehrheit der ökonomischen Fachwelt. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren wurden die Warnungen vor einer drohenden Inflation als Folge keynesianischer Politik kaum gehört. Die Teuerungsraten erschienen im historischen Vergleich eher moderat. Allgemein wurde dem staatlichen „demand management" ein wertvoller Beitrag zum Wachstum und zur Stabilität der Nachkriegszeit bescheinigt. Erst ab Mitte der sechziger Jahre trafen Ideen und Umstände zusammen, um eine Wende des ökonomischen Denkens einzuleiten. Die zunehmende Bedeutung neoliberaler Ökonomen zeigte sich schon, als MPS-Mitglieder in den sechziger Jahren an die Spitze der American Economic Association gelangten: 1963 übernahm Gottfried Haberler das Amt des Präsidenten der AEA, 1964 folgte ihm George Stigler, 1966 übernahm Fritz Machlup den Posten, auf den 1967 dann Milton Friedman, der auf-

Zu den frühesten japanischen Mitgliedern der MPS ab den späten fünfziger Jahren gehörten Nobutane Kiuchi, Takuma Yasui, Kazutaka Kikawada, Jhizo Koizumi, Tutor des japanischen Kronprinzen, und Masamichi Yamagiwa, Chef der Bank von Japan. Besonders aktiv war Kiuchi, Enkel des Mitsubishi-Gründers und erfolgreicher Geschäftsmann, der vor dem Krieg in London und Hamburg gearbeitet hatte und später, vor allem durch die Begegnung mit Hayek, sich neoliberalem Gedankengut verschrieb. 1962 hatte er eine eigene japanische Gruppe mit dem Namen MPS zu gründen versucht. Das Treffen 1966 in Tokio hatte Chiaki Nishiyama angeregt, ein Schüler Hayeks (vgl. Hartwell, 1995, S. 144-145 u. 207-208). Ungeachtet der Begeisterung der Japaner für den MPS-Neoliberalismus fiel westlichen Teilnehmern doch der kulturelle Unterschied zwischen abendländischer und fernöstlicher Freiheitsphilosophie auf. Masatoshi Matsushita, der Präsident der Rikkyo-Universität in Tokio, betonte in seinem Referat vor der MPS den Aspekt der „inneren Freiheit", eine buddhistische geistige Gelassenheit, die auch durch äußeren Zwang nicht zu zerstören sei, während Daniel Villey die Wurzeln des Liberalismus auf das Christentum zurückführte (vgl. Linder, 1966). 2

Zu organisatorischen Details und stichpunkthaft zu den Themen der Treffen ab Mitte der sechziger bis Ende der siebziger Jahre vgl. Hartwell (1995, S. 142-185).

3

320 • Wandlungen des Neoliberalismus

steigende Stern der Chicagoer Schule, folgte. Sein fünf Jahre zuvor erschienenes Buch „Capitalism and Freedom", eine radikale, provokative Kampfansage an das linksliberale Establishment, war noch weitgehend ignoriert worden. 4 Nun rückte Friedman ins Zentrum der Debatte. Der keynesianisch-wohlfahrtsstaatliche Konsens bröckelte in dem Maße, als reale ökonomische Entwicklungen die neoliberalen Voraussagen zu bestätigen begannen. Zu den ökonomischen Standardargumenten des keynesianischen Konsenses gehörte die sogenannte Phillips-Kurve. 5 Demnach galt es als ausgemacht, daß Regierungen vor der Alternative zwischen Arbeitslosigkeit oder Inflation stünden. Der mit der Phillips-Kurve scheinbar empirisch belegte „trade-off' implizierte, daß der Staat, um Inflation zu vermeiden, ein hohes Niveau an Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen müsse. Andererseits könne man eine als „Vollbeschäftigung" definierte geringe Arbeitslosigkeit erreichen, indem man ein gewisses Maß an kontinuierlicher Geldentwertung toleriere. Mit diesem angeblichen „trade-off konfrontiert, entschied sich die große Mehrheit der Ökonomen und Politiker für eine aktive und expansionistische Finanz- und Geldpolitik. Ihr Denken war noch immer von den Erfahrungen der Großen Depression und der sie begleitenden Deflation geprägt. Eine Wiederholung dieser Katastrophe auszuschließen galt als das überragende Ziel der Wirtschaftspolitik nach 1945. Sorgen vor einer durch übermäßige Expansion bedingten Inflation spielten daher eine untergeordnete Rolle. Außerhalb des deutschsprachigen Raums, wo es eine besondere Sensibilität für inflationäre Tendenzen gab, nahm man die Warnungen der neoliberalen Kassandren kaum ernst. Allgemein hatte sich die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion in den fünfziger und sechziger Jahren auf makroökonomische Betrachtungen verlegt. Kritiker, die wie Hayek das Denken in aggregierten ökonomischen Größen ablehnten, standen isoliert. Dagegen konnte Friedman mit seinen Arbeiten eine Bresche in die keynesianische Front schlagen, indem er deren einseitigem Fokus auf fiskalische Fragestellungen die Bedeutung monetärer Probleme entgegenstellte. Mit dem Anstieg der Inflationsraten ab Mitte der sechziger Jahre wurde seinen Thesen stärker Beachtung geschenkt. Gegen Ende der sechziger Jahre wuchsen die Zweifel an der keynesianischen Orthodoxie, als weltweit inflationäre Tendenzen sichtbar wurden und zugleich die Arbeitslosigkeit zu steigen begann. Einen Markstein in der wissenschaftlichen Diskussion setzte Friedman 1967 mit seiner Eröffnungsrede auf dem achtzigsten Jahrestreffen der AEA in Washington. Friedman nutzte die Gelegenheit, dem Plenum der amerikanischen Ökonomenzunft seine monetaristischen Überzeugungen in knapper, sachlicher und doch provozierender Weise vorzutragen. Diese gipfelten in der Behauptung, daß der behauptete „trade-off zwischen höherer Arbeitslosigkeit und höherer Inflation langfristig überhaupt nicht existiere (vgl. Friedman, 1968).

Keine einzige der großen amerikanischen Zeitungen brachte eine Rezension, lediglich in einigen Fachblättern erschienen (meist negative) Kritiken. Über die Jahre entwickelte sich das Buch aber zu einem weltweiten Bestseller. Bis heute ist „Capitalism and Freedom" in 18 Sprachen übersetzt und eine halbe Million mal verkauft worden. 5 Die im Jahr 1958 veröffentlichte Studie des britischen Mathematikers A. W. Phillips basierte auf britischem Zahlenmaterial von 1861 und 1957. Für diese historische Periode hatte er einen empirischen Zusammenhang zwischen hoher Beschäftigimg und rasch steigenden Nominallöhnen festgestellt (vgl. Phillips, 1958). Über eine Kausalität war damit noch nichts ausgesagt. Auf andere Beispiele, etwa die Daten der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte seit 1900, traf der Befund einer starken Korrelation nicht zu, wie Solow und Samuelson erkennen mußten (vgl. Beaud/Dostaller, 1995, S. 89-90). 4

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 321 In erster Linie ging es ihm darum, die unter dem Einfluß von Keynes lange vernachlässigte Geldpolitik zurück ins Bewußtsein zu holen, gleichzeitig aber die Grenzen ihrer Wirksamkeit zu betonen. Zwei Botschaften suchte er vor der AEA zu vermitteln: Zum einen geißelte er die allzu simple Ansicht keynesianisch ausgerichteter Ökonomen und Politiker, daß von der Notenbank reichlich zur Verfugung gestellte Liquidität die Zinsen am Kapitalmarkt niedrig halten könne, um damit Investitionen anzuregen. Die Auswirkungen einer monetären Expansion auf das Zinsniveau seien wesentlich komplizierter. Anders als in den mechanischen keynesianischen Modellen dargestellt, könne eine Geldmengenausweitung statt der beabsichtigten niedrigen Zinsen sogar höhere Zinsen nach sich ziehen, wenn die Anleger eine steigende Inflation als Folge der laxen Geldpolitik befürchteten. Entscheidend sei die Erwartung der Marktteilnehmer, erklärte Friedman: Sinke deren Vertrauen in die Geldwertstabilität, so bewirke die monetäre Expansion am Ende nicht „billiges Geld", sondern das Gegenteil. 6 Noch brisanter waren Friedmans Überlegungen zur Arbeitslosigkeit. Mit den Mitteln einer expansiven Geldpolitik, so die These, ließe sich dauerhaft kein hohes Beschäftigungsniveau erzwingen. Aufsehen erregte dabei seine Formulierung einer „natürlichen Arbeitslosenquote". 7 Diese korrespondiere mit der Struktur des Arbeitsmarktes. Alle institutionellen Faktoren, die das Funktionieren dieses Marktes behinderten, etwa gesetzliche Mindestlöhne oder die Stärke der Gewerkschaften, beeinflußten die Höhe der „natürlichen Arbeitslosenquote". Versuche man, durch beschleunigtes Geldmengenwachstum die Arbeitslosigkeit unter dieses Niveau zu senken, würde kurzfristig zwar die Konsumnachfrage angeregt. Bald aber realisierten die Wirtschaftssubjekte, daß die Preise anzögen und ihre Reallöhne dadurch geschmälert würden, so daß der Konsum wieder eingeschränkt werde. Um die Konjunktur weiter am Laufen zu halten, könne die Geldpolitik nun erneut auf sinkende Zinsen setzen. Dazu müsse sie aber das Wachstum der Geldmenge noch mehr beschleunigen, um die Inflationserwartungen der Wirtschaftssubjekte zu übertreffen. Langfristig stoße die Vollbeschäfugungspolitik immer an eine Grenze: die „natürliche Arbeitslosenquote". Das Fazit lautete daher: „Es gibt immer einen vorübergehenden ,trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit; es gibt [aber] keinen permanenten ,trade-off" (ebd., S. 11). Damit sprach Friedman das Todesurteil über die Praxis der aktivistischen, expansionistischen Konjunkturpolitik. Seiner Ansicht nach lag die vielbeschworene Phillips-Kurve also nicht schräg, sondern war in Wirklichkeit eine senkrechte Gerade. Langfristig stehe die Politik nicht vor der Alternative von Inflation oder Arbeitslosigkeit, sondern habe nur die Wahl zwischen verschiedenen hohen Inflationsniveaus. Die Vorstellung einer „Geldillusion", der die Wirtschaftssubjekte regelmäßig erlägen, sei ein Irrtum. 8 Der anfängliche Beschäftigungseffekt einer mit höherer Inflation erkauften Konjunkturbelebung, schätzte Friedman, dauere zwei bis fünf Jahre, danach setze die Gegenbewegung ein: Das Wachstum „Als empirische Tatsache", so stellte er fest, „sind niedrige Zinssätze ein Zeichen dafür, daß die Geldpolitik straff war — in dem Sinne, daß die Geldmenge langsam gewachsen ist; hohe Zinssätze sind ein Zeichen dafür, daß die Geldpolitik zu locker war — in dem Sinne, daß die Geldmenge schnell gewachsen ist" (Friedman, 1968, S. 7; kursiv im Orig.). 7 Der Terminus war in Analogie zu Wicksells „natürlichem Zins" gewählt, sorgte jedoch gleich für Mißverständnisse. Tatsächlich war gemeint, wie das später entwickelte Akronym NAIRU („non accelerating inflation rate of unemployment") verdeutlichte, daß die „natürliche Arbeitslosenquote" jene Untergrenze markiere, die nur um den Preis einer kontinuierlich steigenden Inflation unterschritten werden könne. 8 Sein bevorzugter Satz dazu stammte von Abraham Lincoln: „You can't fool all the people all the time." 6

322 • Wandlungen des Neoliberalismus sinke, die Arbeitslosigkeit steige und einzig eine höhere Inflationsrate bleibe, die in die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte eingebaut werde. 9 Um die Inflation unter Kontrolle zu bringen, empfahl er eine geldpolitische Bremsung. Diese brächte eine vorübergehende Rezession, bis die Inflationserwartungen gesunken seien. Anschließend werde das Wachstum auf natürliche Weise wieder anlaufen. Bald war seine Theorie in aller Munde. Hatte das auflagenstarke Wochenmagazin Time im Dezember 1965 noch eine verklärende Titelgeschichte über Keynes gebracht, prangte vier Jahre später Friedmans Konterfei auf dem Heft. Auf die Anhänger der keynesianischen Orthodoxie mußte der Auftrieb, den seine Ideen erlebten, höchst beunruhigend wirken. Einige Beobachter glaubten noch, daß die angekündigte wissenschaftliche Konterrevolution steckenbleiben werde (vgl. Johnson, 1971, S. 13). Dem war nicht so: Friedmans geldtheoretische Lehre wurde von seinen Schülern und Anhängern, den „Chicago Boys", in alle Welt getragen. In Europa taten sich besonders Karl Brunner und sein Mitstreiter Allan Meitzer hervor, die zu den wichtigsten Protagonisten des Wissenstransfers, besonders nach Deutschland, wurden. Der gebürtige Schweizer Brunner, der, wie erwähnt, mit Hunold und Mötteli in den vierziger Jahren eine eigene Studiengruppe hatten gründen wollen, war nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten ausgewandert und dort stark von der Chicagoer Schule beeinflußt worden, deren Ideen er dann ab den späten sechziger Jahren an europäische Ökonomen vermittelte. 10 Bedeutung erlangten ab 1970 seine Konstanzer Seminare, die Wissenschaftler und Geldpolitiker, etwa die der deutschen Bundesbank, zu intensiven Diskussionen zusammenbrachten (vgl. Janssen, 2006, S. 101-113). Auch in der MPS sammelte Friedman eine immer zahlreichere Anhängerschaft, die seine „monetaristische Position" übernahm. 11 Wenig später war gar die Rede von einer „monetaristischen Revolution" in der Geldtheorie (Brunner, 1970/1973). Friedman bezeichnete den Umbruch im makroökonomischen Denken in einem Vortrag in London als „The Counter-Revolution in Monetary Theory". Seine britischen Freunde vom I E A griffen die Wendung auf und publizierten den Redetext (vgl. Friedman, 1970). Wie noch zu zeigen ist, gab es in der MPS aber auch Bedenken gegen das Konzept: Monetaristen und Strukturalisten stritten, ob eine geldpolitische Bremsung allein zur Überwindung der Stagflation ausreichend sei oder ergänzend einer umfassenden strukturpolitischen Angebotsreform bedürfe.

Nur von überraschend beschleunigten Geldmengenausweitungen, die geheim vorbereitet und daher vom Publikum nicht antizipiert würden, könnten tatsächliche Impulse für das Wachstum ausgehen. Eine solche Strategie der permanenten monetären Überraschungen könne den Beschäftigungsgrad zwar manipulieren, sie sei aber zugleich in hohem Maß destabilisierend und gefahrlich. Unstetigkeit und Überrumpelung wären damit zur Regel erhoben, wo doch gerade Stetigkeit und Verläßlichkeit die Merkmale einer vernünftigen Geldpolitik sein müßten. 10 Brunner lehrte an verschiedenen Hochschulen, zunächst an der UCLA, der Ohio State University und ab 1971 an der Universität Rochester im Staate New York, zugleich hielt er ab 1974 Vorlesungen an der Universität Bern. " Die Wortschöpfung „monetaristisch", die Friedman aber wenig schätzte, stammte von Brunner (1968/1974, S. 332). Sein in der Zeitschrift der Federal Reserve Bank von St. Louis veröffentlichter Aufsatz diskutierte die Bedeutung „einer Geldtheorie . . . die hier als monetarisüsche Position bezeichnet wird" (Brunner, 1968/1974, S. 332). Erst einige Seiten später erwähnte er als Beispiel einer monetaristischen Sicht die historisch-empirische Studie von Friedman und Schwartz zur amerikanischen Geldpolitik (vgl. ebd., S. 357).

9

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 323

2. Die Revolte von 1968 und die Reaktion der Neoliberalen Während in der Wirtschaftswissenschaft nun neoliberale Konzepte breit und ernsthaft diskutiert wurden, zeichnete sich bei einem erheblichen Teil der akademischen Jugend eine drastische Verschiebung der politischen Einstellung ab. Der Ausbruch linksgerichteter, studentischer Rebellionen im Jahr 1968 traf die Neoliberalen ziemlich unerwartet. Der radikale Pendelschlag nach links überraschte sie, obwohl Anzeichen einer wachsenden Unruhe in der jüngeren Generation schon seit Mitte der sechziger Jahre zu spüren waren. In Berkeley, Paris, Berlin und an vielen anderen Hochschulorten machte sich der jugendliche Protest in teils gewaltsamen Aktionen Luft. Die spezifischen Anlässe und Motive waren zwar national unterschiedlich: in den Vereinigten Staaten vor allem die Gegnerschaft gegen den eskalierenden Vietnamkrieg, in Frankreich die Opposition gegen den als autoritär empfundenen Kurs von General de Gaulle und in Deutschland der Gestus der vergangenheitsbewältigenden Anklage gegen die Vätergeneration. 12 Ein verbindendes Moment der Studentenbewegungen weltweit war ihre Fundamentalkritik der bestehenden Gesellschaftsordnung. Bürgerliche Kultur und Marktwirtschaft lehnten die verschiedenen 68er-Bewegungen ab, wenn auch ihre wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Alternativen eher vage blieben. Jenseits ihrer Verachtung des Bestehenden hatten sie keine ausgereifte Gesellschaftsvision anzubieten. Das Wort „Freiheit" war zwar ein Leitmotiv, doch das Freiheitsverständnis der 68er war gekennzeichnet von Ambivalenzen und Widersprüchen. Zwar zeigten die Wortführer der Studentenbewegung eine ostentative Abneigung gegen den Staat und seine Institutionen, gleichzeitig aber forderten sie soziale „Rechte", also wohlfahrtsstaatliche Versorgungsansprüche, und die Verstaatlichung der Wirtschaft. Ihr hedonistischer Individualismus verband sich zugleich mit Vorstellungen einer unmittelbaren Gemeinschaft, die an romantische Vorbilder erinnerte. Politische oder traditionelle moralische Autoritäten wurden abgelehnt, zugleich jedoch traten Vordenker und Wortführer des Protests auf, die selbst in autoritärer und doktrinärer Weise Gefolgschaft verlangten. Auf Demonstrationen wurden die Porträts sozialistischer Führer wie Marx, Lenin, Mao oder Che Guevara wie Ikonen mitgeführt. 13 All dies mußte die Verfechter der Marktwirtschaft in Alarmbereitschaft versetzen. Obwohl sich die extremen ideologischen Positionen der linken Studenten im Laufe der Zeit abschliffen, markierte der Aufstand von 1968 doch eine wichtige Zäsur der Nachkriegszeit im Westen. Bedeutend aus dem Blickwinkel der Neoliberalen war, daß der bislang außerhalb linksradikaler Intellektuellenzirkel geltende antikommunistische Konsens aufzuweichen be-

12 Bei der Auseinandersetzung junger deutscher Linksradikaler, etwa des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), mit dem Nationalsozialismus war auffällig, daß die konkrete Aufarbeitung des NS-Regimes und seiner historischen Genese wie auch der des Antisemitismus schon Mitte der sechziger Jahre „spürbar zurückging ... zugunsten einer Ausrichtung auf die abstrakteren und globaleren Komplexe wie Kapitalismus, Imperialismus, Faschismus usw." (Koenen, 2002, S. 298-299). Offenbar war dies im Sinne einer politischen Instrumentalisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit vielversprechender und entsprach im Übrigen der von Max Horkheimer ausgegebenen Losung: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen." 13 Die Intellektuellen der aufstrebenden Bewegung beriefen sich auf Versatzstücke marxistischer, trotzkistischer, anarchistischer und syndikalistischer Theorien, bedienten sich dieses ideologischen Erbes aber in eklektischer und teils ironisierender Weise. Partiell wies die weltanschaulich irisierende Neue Linke damit Merkmale eines ideologischen Maskenspiels auf, das sich in narzißtischer Inszenierung und Selbst-radikalisierung gefiel (vgl. Koenen, 2002).

324 • Wandlungen des Neoliberalismus

gann. Kurzfristig belebte die 68er-Bewegung ältere „antikapitalistische" Diskurse neu. Langfristig leitete sie auf ihrem von Marcuse angeregten „Marsch durch die Institutionen" eine beschleunigte Sozialdemokratisierung der westlichen Staaten ein. Ideengeschichtlich bedeutete diese von Jürgen Habermas als „Fundamentalliberalisierung" bezeichnete Entwicklung einen Bruch mit der Vergangenheit, indem der alte bürgerlich-liberale Begriff der Freiheitsrechte, ursprünglich als Abwehrrechte gegen den Staat gemeint, nun im Sinne sozialer Anspruchsrechte umdefiniert wurde. Der Umdeutung und Endeerung des traditionellen Freiheitsbegriffs, wie ihn Hayek in „The Constitution of Liberty" dargelegt hatte, konnten die Neoliberalen anfangs kaum etwas entgegensetzen. Nicht der liberale Leistungsgedanke, sondern egalitaristische Entwürfe wie John Rawls „A Theory of Justice" waren es, die in den siebziger Jahren in der akademischen Welt gefeiert wurden.14 Viele der engagierten linken Studenten wünschten noch weitergehende sozialistische Experimente. Die MPS reagierte auf die von den Universitäten in Teile der Medien übergreifende radikalantikapitalistische Stimmung auf ihrer Münchner Tagung 1970 mit mehreren Vorträgen zum „Bild des Unternehmers". MPS-Präsident Schmölders von der Universität zu Köln konnte mit der beruhigenden Nachricht aufwarten, daß laut einer empirischen Untersuchung seines Instituts unternehmerfeindliche und klassenkämpferische Parolen nur von wenigen Deutschen vertreten würden. Der Unternehmer werde in Westdeutschland allgemein positiv beurteilt. Fast 80 Prozent der Befragten sahen ihn als einen tüchtigen, ideenreichen und verantwortungsvollen Menschen, der Fortschritte brächte und Wohlstand für sich und andere schaffe. Mehr als 50 Prozent der Befragten beklagten allerdings auch eine mangelnde soziale Einstellung der Unternehmer und meinten, diese lebten „von der Arbeit anderer" oder „auf Kosten anderer Leute". Nur 16 Prozent der Befragten erklärten, die Unternehmer seien eine generell überflüssige soziale Gruppe und die Wirtschaft liefe auch ohne sie (vgl. Schmölders, 1970, S. 8-10). Ähnliche Befunde wurden aus anderen Ländern berichtet.15 Insgesamt beklagten die MPS-Redner ein zu geringes Verständnis der Öffentlichkeit für die Zusammenhänge der Wirtschaft und speziell die Stellung, die Aufgaben und die Pflichten des Unternehmers. Darüber herrschte freilich auch in der MPS eine gespaltene Ansicht:

14 Rawls hatte in den späten sechziger Jahren kurzzeitig Kontakt zur MPS. Auf Einladung von Friedman kam der junge Harvard-Philosoph als Gast zu einem MPS-Treffen und wurde 1968 sogar Mitglied der Gesellschaft, an der er jedoch bald das Interesse verlor und 1971 wegen Zahlungsrückständen ausschied. Offensichtlich paßte er mit seiner sozialdemokratischen Ausrichtung nicht in die MPS. Nach seiner „Theory of Justice" war nur die Gesellschaft als gerecht anzusehen, die jeder Mensch in einem fiktiven Urzustand — also ohne Wissen um seinen tatsächlichen sozialen Status, Talente u.a., also hinter einem „Schleier des Nichtwissens" — freiwillig akzeptieren würde. Da Rawls implizit von stark risikoaversen Menschen ausging, folgerte daraus eine grundsätzlich egalitäre Konzeption; Ungleichheit sei nur dann hinnehmbar, wenn noch mehr Umverteilung insgesamt zu einer Verarmung oder Schlechterstellung der am wenigsten Begünstigten führe (vgl. Rawls, 1971, S. 60-78). Diesem Argument Rawls' war entgegen-zuhalten, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung vorteilhaft gerade auch für die am wenigsten Begünstigten sei, wie Mises schon in „Die Gemeinwirtschaft" erklärt hatte (vgl. Mises, 1922/1981, S. 432-35). 15 So erklärte Fertig, daß im Allgemeinen die Unternehmer in den Vereinigten Staaten geachtet würden, er beklagte jedoch Ressentiments gegen „big business" (vgl. Fertig, 1970). Besonders interessant waren die Vorträge von B. R. Shenoy über Indien und W. H. Hütt über Südafrika, die beide mit Kritik auch an den Unternehmern ihrer Länder nicht sparten: Shenoy analysierte das problematische Erbe des traditionellen indischen Kastenwesens, wobei die sozialistische Politik nach 1948 für die mangelhafte soziale Entwicklung verantwortlich zu machen sei (vgl. Shenoy, 1970). Ähnlich kritisch analysierte Hütt das südafrikanische System der Apartheid, dessen Schranken gegen die Entwicklung der nicht-privilegierten Bevölkerungsgruppen er darstellte, was insgesamt zu einer starken Politisierung der Wirtschaft geführt habe (vgl. Hütt, 1970).

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 325 Friedman trug in München seine bekannte Ansicht vor, daß ein Unternehmensleiter, der „sozial" handele in dem Sinne, daß er nicht das Maximum an Gewinn anstrebe, seine Pflichten gegenüber den Eigentümern vernachlässige und letztlich durch eine Minderung der wirtschaftlichen Effizienz auch der Gesellschaft allgemein mehr sozialen Schaden als Nutzen bringe (vgl. Friedman, 1970). 16 Diese sehr selbstbewußte und auch provozierende Verteidigung des Kapitalismus erschien einigen deutschen Ordoüberalen zu undifferenziert. So warnte Böhm in seinem Vortrag vor einer Vertrauenskrise der Marktwirtschaft, falls einzelne Unternehmer sich nicht dem Wettbewerb stellten, sondern Marktmacht ausüben könnten. In ihrem eigenen Interesse sollten Unternehmer auf wettbewerbsbeeinträchtigende Geschäftsmethoden verzichten (vgl. Böhm, 1970/1971). Natürlich bestand hier kein Dissens in der Sache. Auch die amerikanischen Neoliberalen um Friedman verstanden unter „Kapitalismus" jenen Leistungswettbewerb, den die deutschen Ordoüberalen wünschten. Allerdings fiel doch der unterschiedliche Akzent in den Argumentationen auf. Böhm drängte mit Blick auf die öffentliche Meinung die Unternehmer zu einem streng verbraucherorientierten Verhalten, das Friedman einfach voraussetzte. Mit der über das Ökonomische hinausgehenden intellektuellen Herausforderung der fundamentaloppositionellen Neuen Linken befaßte sich die MPS nur am Rande. Kritische Analysen oder Diskussionen, speziell der Hintergründe und Bedeutung der 68er, blieben auf Tagungen der Gesellschaft die Ausnahme. Immerhin kamen die MPS-Mitglieder, die an Universitäten tätig waren, mit dem studentischen Aufbegehren direkt in Kontakt. Einer der wenigen aus dem Umfeld der MPS, der sich 1968 spontan auf die Seite der rebellierenden Studenten stellte, war Jouvenel, der öffentlich Sympathie mit der Bewegung gegen das „Establishment" bekundete (vgl. Mahoney, 2005, S. 163-164). Sein Freund Raymond Aron dagegen zeigte sich entsetzt ob der Entladung destruktiver Energie, die er bei studentischen Exzessen an der Sorbonne sah. Seine Abneigung gegen De Gaulle überwindend, sprang er diesem öffentlich bei (vgl. Mann, 1984, S. 78). Sowohl Jouvenel als auch Aron gehörten der MPS seit einigen Jahren nicht mehr an und pflegten nur noch losen Kontakt zu ihren Mitgliedern. In der Mehrzahl lehnten diese den Versuch einer Kulturrevolution durch die 68er vehement ab. Einige amerikanische MPS-Mitglieder wie Donald L. Kemmerer waren in Führungspositionen bei den University Professors for Academic Order engagiert, die — vergleichbar dem westdeutschen Bund Freiheit der Wissenschaft — gegen eine linke Unterwanderung der Hochschulen Front machten. Es war Louis Rougier, der sich 1969 als einer der ersten in einem Vortrag vor der von Hunold gegründeten Wilhelm-Röpke-Stiftung den psychologischen und soziologischen Aspekten des Aufkommens der 68er widmete, insbesondere der Frage: „Ist der Aufruhr der Jugend das Symptom einer Kulturkrise?" (vgl. Rougier, 1970). In weiten Teilen sah er die Studentenrevolte als Ausdruck von Verzweiflung an den modernen Massenuniversitäten. Der stark zunehmende Andrang zu Fächern wie Soziologie, Psychologie und Philosophie, die beruflich wenig Perspektiven böten, führe zur „Entstehung eines zukünftigen intellek-

16 Seine Kritik des verführerischen Slogans „soziale Verantwortung" hatte er schon in den frühen sechziger Jahren immer wieder vertreten. Dabei trieb ihn die Sorge um, daß zunächst moralische Appelle an die „soziale Verantwortung" von Bürgern zuletzt in staatlich-gesetzlichen Dirigismus münden könnten (vgl. etwa Friedman,

1965).

326 • Wandlungen des Neoliberalismus tuellen Proletariats, das keinen anderen Ausweg sieht als die revolutionäre Agitation und nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen hat" (ebd., S. 69, kursiv im Orig.). Rougier zeigte Verständnis für die Sorgen der akademischen Jugend. Ihren Abscheu gegen eine rein auf konsumistische Ziele gerichtete Wohlstandsgesellschaft konnte er nachvollziehen, glaubte Überdruß angesichts eines rundum versorgten und überregulierten Lebens zu erkennen. Diese Langeweile wertete er als „Abfallprodukt der Sattheit einer bis zum Ubermaß ausgefüllten, beschützten, geplanten und geregelten Existenz". Die „Bevormundung des einzelnen durch das Kollektiv" sei das eigentliche Leiden der Jugend, die statt dessen Wagnis, Herausforderungen und Heroismus fordere, so Rougier (ebd., S. 73-74). 17 Daß Röpke die Ideen und Taten der rebellierenden Studenten mißbilligt hätte, war nach seinen Schriften anzunehmen. Röpke hatte in den fünfziger und sechziger Jahren vehement gegen eine Umwandlung der alten deutschen Hochschulen zu Massenuniversitäten gestritten. E r kritisierte den erleichterten Zugang zum Studium und die Absenkung des Niveaus als eine Politik des „Bildungsjakobinismus". Obwohl sein früher T o d 1966 es ihm ersparte, Zeuge des späteren Umbruchs zu werden, hatte Röpke ein feines Gespür für die Vorboten der Entwicklung bewiesen. Das Phänomen des „Sinistrismo", wie er den seit Beginn der sechziger Jahre merkbaren politischen Linksdrall abschätzig nannte, erfüllte ihn in den letzten Jahren seines Lebens mit zunehmender Angst. Sein Neffe, der Ökonom Hans Willgerodt, sah in den antikapitalistischen Forderungen der außerparlamentarischen Opposition nach 1968 eine „teilweise verblüffende Ähnlichkeit mit Strömungen, die das Ende der Weimarer Republik begleitet und schließlich herbeigeführt haben" (Willgerodt, 1973, S. 103). Der wieder offenere Flirt von Intellektuellen mit kommunistischen Ideen schien ihm die Abwehrfront gegenüber dem Ostblock zu schwächen. Röpke hatte die Anzeichen eines permissiveren Lebensstils früh erkannt und kritisiert, wie er sich nach 1968 durchzusetzen begann, damit verbunden eine Abwertung der traditionellen Moral und Sitten, den ideologisch gewollten Verlust bürgerlichen Schamgefühls und die politisch instrumentalisierte Auslebung des Sexualtriebes. All dies deute darauf hin, so Röpke, daß die Deutschen dabei seien, „moralisch zu verfaulen" (vgl. Dirsch, 2003, S. 81-82). Den Wertewandel begriff Röpke als Ergebnis fragwürdiger Belehrungen von „Modewissenschaften" wie der Psychologie, der Soziologie und der Politologie. Auch Hayek, der kulturpessimistische Anklänge sonst zu vermeiden bemüht war, machte aus seiner Antipathie gegenüber diesen ideologisierten Disziplinen kein Hehl. In einem Vortrag vor der MPS, später als Epilog zu „Law, Legislation and Liberty" verwendet, benannte er neben Karl Marx auch Siegmund Freud als den Hauptschuldigen einer fortschreitenden Wertezerstörung. Den Begründer der Psychoanalyse erklärte er aufgrund seines Einflusses auf das Erziehungswesen zum „wohl größte[n] Zerstörer der Kultur". Unter seinem Einfluß werde die Existenz einer Grenze zwischen „Richtig" und „Falsch" relativiert und geleugnet. In Anspielung auf die jugendliche „Counterculture" schrieb er: „Jene nicht domestizierten Barbaren, die sich entfremdet nennen von etwas, das sie nie gelernt haben, und die sogar versuchen, eine

17 So zutreffend seine Analyse der psychologischen Hintergründe des Aufbegehrens eines Teils der Jugend, ihres Unbehagens an einem (wohlfahrts-)staatüch abgesicherten und vorgezeichneten Dasein war, so stand sie doch in Widerspruch zu den sozialistischen Parolen und Vorbildern der 68er, die ja noch mehr kollektive Einbindung verlangt hätten.

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 327 ,Gegenkultur' zu entwerfen, sind das notwendige Produkt einer permissiven Erziehung, die es versäumt, die Bürde der Kultur weiterzureichen, und die natürlichen Instinkten vertraut, die die Instinkte des Wilden sind'. Im übrigen sei es kein Wunder, folgerte er, wenn laut Studien „ein beachtlicher Teil der heutigen Terroristen" zuvor Soziologie, Politologie oder Pädagogik studiert hätte (Hayek, 1978/1996, S. 67-68, kursiv im Orig.). Immer deutlicher zeigte sich in solchen Aussagen ein konservativer Zug in Hayeks Denken. In seine Theorie der kulturellen Evolution und seine daraus resultierende Wertschätzung überkommener, abstrakter Regeln menschlichen Verhaltens, die anfangs primär auf die Handelsordnung des Marktes bezogen war, begann er nun auch andere Aspekte der traditionellen, bürgerlichen Moral und Gesittung einzubeziehen. Intakte Familien, welche die 68er systematisch zersetzen und auflösen wollten, erkannte Hayek als institutionellen Grundstein erfolgreicher freier Gesellschaften. Eine prinzipiell tradidonsfeindliche Haltung, die auch mancher Liberale als Weg der individuellen Emanzipation vertreten hatte, erschien ihm zunehmend als ein Zeichen von Überheblichkeit und Dummheit. So war es konsequent, daß Hayek den im Gefolge von 1968 die westlichen Gesellschaften erfassenden Werterelativismus als Gefahr ansah. 18 Bei der 25-Jahre-Feier der MPS 1972 in Montreux hörten die Mitglieder einen Vortrag des amerikanischen Publizisten Irving Kristol mit dem an Schumpeter erinnernden Titel „Socialism, Capitalism and Nihilism". 19 Der zum Vordenker der amerikanischen Neokonservativen avancierte frühere Trotzkist stellte dort recht düstere Überlegungen zu selbstzerstörerischen Tendenzen der westlichen marktwirtschaftlichen Gesellschaften an. Die Mitglieder der „Mont Pélerin-Bewegung", so Kristol, hätten in den vergangenen Jahren „eine eindrucksvolle Reihe von Schlachten gewonnen", sie seien jedoch „ernsthaft in Gefahr, den Krieg zu verlieren" (Kristol, 1972/1973, S. 50). Die ökonomische Debatte über die Vorzüge der Marktwirtschaft gegenüber der Planwirtschaft sei geklärt, aber dies tangiere die jungen Radikalen wenig. „Die Neue Linke ist in jeder Beziehung so kollektivistisch wie die Alte — interessiert sich aber weit weniger für die wirtschaftlichen Argumente . . . als für die politischphilosophische Auseinandersetzung." Spezifisches Kennzeichen der Neuen Linken sei „ihre Weigerung, ökonomisch denken, und ihre Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft, eben weil diese ökonomisch denkt' (ebd., S. 54, kursiv im Orig.). Die bürgerliche Gesellschaft hielt Kristol für geschwächt, weil sie die religiöse Sinnfrage in eine Konsumfrage umgedeutet habe. Mit dem fortschreitenden Verschwinden der Religion und dem Aufzehren ihres moralischen Kapitals bilde sich ein geistiges Vakuum, in welches die Neue Linke stoßen könne. Gegenwärtig erlebe man, so Kristol, die „fröhliche und

18 Die Frage, wie weit Hayek sich konservativem Denken annäherte, beschäftigte in späteren Jahren auch MPSTagungen (vgl. Minogue, 1985; Diaz, 1994). Hayeks Haltung zu Fragen der evolutionär entstandenen sozialen Ordnung und Moral, so bemerkten einige, ähnelte immer stärker der Position des konservativen LSE-Politologen Michael Oakshott, des großen Kritikers rationalistischer und konstruktivistischer Gesellschaftsentwürfe. Diesen beiden warf Buchanan (1979, S. 275) eine „panglossianische" Haltung vor. Gemeint war die kosmologische Weltsicht des Pangloss aus Voltaires Roman „Candide", der alle bestehenden Verhältnisse prinzipiell gutheißt. 19 Irving Kristol kam in Begleitung seiner Frau, der Historikerin Gertrud Himmelfarb und seines Sohnes William Kristol nach Montreux. A b den siebziger Jahren konnte Kristol als Herausgeber der Zeitschrift The Public Interest gemeinsam mit anderen ehemals linken, nun nach rechts gewendeten Publizisten in der „konservativen Bewegung" der Vereinigten Staaten stetig Einfluß gewinnen.

328 • Wandlungen des Neoliberalismus

dumme Selbstzerstörung der bürgerlichen Gesellschaft", an deren sittlichen Fundamenten auch viele Unternehmen der Medienbranche nagten, die pornographische, familienfeindliche und antikapitalistische Inhalte verbreiteten. „Unsere Kapitalisten fördern das Ethos der Neuen Linken ... Für sie ist es ein ,Geschäft wie andere auch'" (ebd., S. 62-63). Auch Liberale wie Friedman, kritisiert er, hätten „die Idee der bürgerlichen Tugend ... ausgemerzt und durch die Idee der Freiheit ersetzt". Selbst Hayek, der „nach Temperament und Gefühl dem neuen Nihilismus unverkennbar feindlich gegenübersteht", hätten dem wenig entgegenzustellen. Obwohl er die Notwendigkeit von Traditionen anerkenne, basiere auch seine Philosophie letzten Endes nur auf dem Konzept der individuellen „Selbstverwirklichung", so Kristol (ebd., S. 63-64). Ohne ein bürgerliches Ethos, das den sozialistisch-kollektivistischen Gemeinschaftsverheißungen entgegenzustellen sei, sah Kristol die freie Gesellschaft verloren. „Welche Medizin soll man einer sozialen Ordnung verschreiben, die krank ist, weil sie ihre Seele verloren hat?" (ebd., S. 66). Auch Kristol selbst wußte keine definitiven Antworten. E r stellte aber immerhin Fragen, die in der MPS seit dem Abgang von Röpke oder Rüstow nur noch selten zu hören waren. Offenbar hatte seine offene Kritik an prominenten Neoliberalen diese nicht verstimmt. Zumindest erging bald darauf ein höfliches Schreiben des MPS-Sekretärs Harris an Kristol, daß dieser als Mitglied herzlich willkommen sei. Doch Kristol lehnte ab: E r befinde sich nicht auf einer Wellenlänge mit der MPS, sei zudem kein Ökonom und „Libertärer", schrieb er als Antwort. Damit er sich in der Gesellschaft heimisch fühlen könne, müsse mindestens ein Dutzend Leute aus seinem Umfeld eingeladen werden (Kristol an Harris, 17.10.1972, in: HIA, Slg. Friedman, 85-8). Darauf erhielt er von Friedman, dem gerade gewählten Präsidenten der MPS, erneut ein werbendes Schreiben. Offenbar lag Friedman viel daran, Kristol als Mitglied zu gewinnen. Vergeblich suchte er Einwände Kristols zum Verhältnis von „Libertären" und Konservativen mit dem Hinweis zu zerstreuen, „daß es ein sehr großes Element traditionellen Konservatismus unter den Mitgliedern" gebe (Friedman an Kristol, 1.11.1972, in: ebd.). 20 Das Bemühen der MPS-Spitze um einen engeren Kontakt zu führenden konservativen Intellektuellen war deutlich. Gleichwohl gab es auch eine Minderheit unter den Mitgliedern in der Gesellschaft, die den Studentenunruhen eine positive Seite abgewinnen konnte. Namentlich der Wirtschaftsprofessor Murray Rothbard, einer der Lieblingsschüler Mises' und Galionsfigur der anarchistisch angehauchten Libertären, hatte schon Anfang der sechziger Jahre aus Protest gegen die unbedingte Unterstützung der amerikanischen Rechten für den Kalten Krieg und die damit verbundene staatliche Aufrüstung eine Annäherung an einige Positionen der pazifistischen Linken vollzogen (vgl. Payne, 2005). 21 Dabei sah er sich keineswegs als

Er selbst stand den gesellschaftspolitischen Anliegen der traditionellen Konservativen jedoch distanziert gegenüber. Friedman sah die rebellischen Neuen Linken nicht prinzipiell als weltanschauliche Feinde, sondern eher als Irregeleitete. So unterstützte er manche ihrer Forderungen nach mehr Selbstbestimmung, die jedoch in einer sozialistischen Ordnung niemals zu verwirklichen seien. Wenn Friedman an Universitäten Vorträge hielt und linke Gruppen wie die Students fbr a Democratic Society (SDS) lautstark gegen ihn als einen Verfechter des Kapitalismus protestierten, suchte er sie mit der Bemerkung zu besänftigen: „Ihr Ziel ist dasselbe wie meines - größere individuelle Freiheit. Der Unterschied ist, daß ich weiß, wie man das Ziel erreicht, und Sie wissen es nicht" (Friedman/ Friedman, 1998, S. 341-342). 21 Mises selbst sah die immer radikaleren anarchistischen Züge seiner Schüler mit Sorge. Er war dem Staat gegenüber äußerst kritisch eingestellt, sprach sich aber klar gegen einen völligen Verzicht auf die staatliche Ordnungs20

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 329 Linker, sondern weiterhin als Rechter: E r verstand seine Haltung als konsequente Weiterentwicklung der anti-interventionistischen Positionen der amerikanischen Old Right, deren Hauptvertreter, besonders die Publizisten Albert J . Nock und Frank Chodorov, vielen amerikanischen MPS-Mitgliedern als Ikonen galten (vgl. Nash, 1976, S. 11-14 u. 22-26). Ähnlich wie Rothbard meinte der junge Historiker Ralph Raico, einer von Hayeks Doktoranden aus Chicago und später MPS-Mitglied, daß die Hauptgefahr im Kalten Krieg nicht der Kommunismus, sondern ein überbordender heimischer Uberwachungsstaat sei.22 Mit dem militärischen Engagement in Vietnam, so sahen es viele amerikanische Libertäre, ginge eine weitere bedrohliche Ausweitung staatlicher Eingriffe in das zivile Leben einher, etwa die neu eingeführte Verpflichtung junger Männer zum Wehrdienst. Gegen diese Maßnahmen erhoben einige der prominentesten MPS-Mitglieder ihre Stimme, etwa Friedman, der sich sehr engagiert für eine reine Freiwilligenarmee aussprach und Einfluß auf Nixons Entscheidung 1973 in dieser Sache hatte. Rothbard und seine Freunde gingen aber viel weiter. Ihr leidenschaftlicher Protest gegen den eskalierenden Krieg in Vietnam, den sie als Ausdruck eines amerikanischen Imperialismus werteten, trieb sie in eine seltsame Allianz mit Intellektuellen der Neuen Linken. 23 Abgestoßen vom staatstragenden Antikommunismus, den die Liberalen und Konservativen um die National Review vertraten, suchten Rothbard und seine Mitstreiter, darunter Leonard Liggio, ab Mitte der sechziger Jahre eine Plattform für eine radikal-liberale Bewegung zu formen. Basis der Zusammenarbeit mit undogmatischen Linken sollte die Gegnerschaft zum „Establishment" sein, das Rothbard mit der Washingtoner korporatistisch-etatistischen Machtkonzentration gleichsetzte. Die Zusammenarbeit Rothbards und seiner Anhänger mit Teilen der Neuen Linken endete bald in einem Desaster. Zwar gelang es ihnen, im größten Verband der Bewegung, den Students for a Democratic Society (SDS), Fuß zu fassen und auf Kongressen mitzudiskutieren. Für kurze Zeit saßen Anarcho-Kapitalisten wie Rothbard mit linken Kulturrevolutionären auf einem gemeinsamen Podium. 24 Doch die taktische Allianz zwischen exzentrischen linken und rechten Gegnern des „Establishments" war ideologisch viel zu heterogen für eine dauerhafte Zusammenarbeit. Das Erstarken einer kommunistischen Fraktion im SDS führte im Juni 1968 zur Spaltung des Verbandes, dessen Mitglieder sich darauf

macht aus, die innere und äußere Sicherheit garantiere und damit die zivile und friedliche Kooperation erst ermögliche (vgl. Sennholz, 1978, S. 174-175). 22 Diese Entwicklungen sahen die radikalen Libertären als Folge einer nach dem Zweiten Weltkrieg gezielt geschürten, teilweise irrationalen Angst vor der Sowjetunion, deren Verhalten eher opportunistisch und weniger strategisch-aggressiv und expansiv als gemeinhin angenommen sei (vgl. Raico, 2001b, S. 548-560). Als wirkliche Gefahr begriffen sie die beständig wachsende, imperiale Zentralmacht in Washington. Auch einige prominente liberale Konservative hatten anfangs Bedenken wegen des Kalten Krieges, etwa der MPS-Mitgründer Morley. Er sah zwar die Bedrohung durch Sowjetrußland als „sehr real" an, fürchtete aber, daß diese „benutzt wird, um die Auflösung der amerikanischen Republik zu propagieren" und „die Errichtung eines amerikanischen Imperiums an ihrer Stelle" (zit. n. Nash, 1976, S. 111). 2 3 Dazu gehörten etwa die revisionistischen Historiker Gabriel Kolko und William Appleman Williams. Rothbards Haß auf das Washingtoner "Establishment" ging soweit, daß er sogar einen sozialistischen Revolutionär wie Che Guevara als „heroische Figur" zu loben begann. In einem Nachruf auf den kubanischen Revolutionär verkündete er, „wir alle wußten, daß sein Feind unser Feind war — dieser große Koloß, der alle Völker der Welt unterdrückt und bedroht, der US-Imperialismus" (zit. n. Payne, 2005, S. 15-16). 2 4 Zu diesen stieß auch Karl Hess, während des Wahlkampfs 1964 wichtigster Redenschreiber von Barry Goldwater. Unter dem Einfluß Rothbards wandte sich Hess zunächst von den Republikanern und ihrem Antikommunismus ab, um bald darauf weiter nach links ins anarcho-sozialistische Lager zu wandern.

330 • Wandlungen des Neoliberalismus in anderen sozialistischen und kommunistischen, vereinzelt auch terroristischen, Gruppen wie den Weathermen neu sammelten (vgl. Payne, 2005, S. 15-23). Nach dem Scheitern der Querfrontstrategie konzentrierte sich Rothbard wieder auf eine Sammlung der marktwirtschaftlichen Libertären. Innerhalb der MPS blieb die anarcho-kapitalistische Fraktion von Rothbard, Raico und Liggio mit ihrer antietatistischen Radikalität stets eher in der Rolle von Außenseitern, obwohl letzterer vier Jahrzehnte später zum Präsidenten der Gesellschaft gewählt werden sollte.

3. Deutschland: Bedeutungsverlust des Ordoliberalismus Die sechziger Jahre brachten also ideologische Gärung, aber auch eine Klärung der Fronten. In der akademischen Wirtschaftswissenschaft gab es erste zaghafte Anzeichen eines Umschwungs zugunsten neoliberaler Konzepte. Dabei waren auch gegenläufige Tendenzen zu erkennen. Gerade zu dem Zeitpunkt, als in der angelsächsischen Diskussion die Attacken auf den Keynesianismus zunahmen, bemühten sich in Westdeutschland Ökonomen und Politiker um eine verspätete Übernahme des keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Modells. Hatte in den fünfziger Jahren das Beispiel der marktwirtschaftlichen Reformen in Westdeutschland in der MPS viel Aufsehen erregt, so stand die ordnungspolitische Konzeption nun wieder zur Disposition (vgl. Prollius, 2006, S. 109). Oberflächlich betrachtet war die Bundesrepublik nach wie vor eine feste Burg der Marktwirtschaft. Erhard wurde bei seinen Auftritten vor der MPS, etwa in Kassel, mit viel Applaus als neoliberaler Vorzeigepolitiker gefeiert. 1963 konnte der bislang parteilose Wirtschaftsfachmann dem greisen Adenauer als zweiter Kanzler nachfolgen. 25 Seine nur dreijährige Regierungszeit geriet aber zu einer herben Enttäuschung. Das parteipolitische Geschäft der Macht war Erhard immer fremd geblieben. Seiner Ansicht nach sollte der Staat den Menschen Freiräume geben und sie befähigen, ihre Leben eigenständig zu meistern. Das zähe Ringen mit organisierten Gruppen verabscheute er im tiefsten Herzen. Letztlich erwies sich Erhard als zu schwach, um den ordnungspolitischen Entwurf zu verteidigen, den er und seine neo- bzw. ordoliberalen Mitstreiter gewünscht hatten (vgl. Mierzejewski, 2005, S. 279-285). Je mehr sich Vollbeschäftigung und allgemeiner Wohlstand einstellten, desto mehr wuchsen die Begehrlichkeiten, immer lauter erschallte der Ruf nach sozialpolitischer Umverteilung und Absicherung. Eine schwere Niederlage hatten Erhard und seine Mitstreiter schon bei der Rentenreform erlitten. Im Vergleich zu anderen westlichen Ländern lag die deutsche Staatsquote mit fast 40 Prozent des BIP ohnehin hoch. Anfang der sechziger Jahre schwächte sich das bislang außergewöhnlich starke Wachstum ab und fiel auf den westeuropäischen Durchschnitt. Entsprechend nahm der Druck verschiedener Interessengruppen zu, die verteilungspolitische oder protektionistische Wünsche vortrugen oder eine keynesianische staatliche Nachfragepolitik forderten. Erhard spürte, daß ihm die Dinge zu entgleiten drohten: So

Einige Vertraute und Berater, auch neoliberale Freunde, hatten ihm davon abraten wollen. So bekannte Röpke im Vorfeld der Kasseler MPS-Tagung: „Erhard ist ja das Gegenteil von einem Politiker und deshalb sind seine besten Freunde - darunter Rüstow und ich - davon überzeugt, daß man ihm wie Deutschland den besten Dienst leistet, wenn man ihn überredet, nicht den Kanzlerstuhl anzustreben" (Röpke an Hunold, 11.5.1960, in: IWP, NL Röpke). 25

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 331 hatte er schon auf der Kasseler MPS-Tagung vor einem „Mißbrauch der Freiheit" gewarnt. Das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Ordnung sei in Gefahr, je stärker einzelne Gruppen auf Sonderrechte und Transfers drängten. Er beobachte eine Flucht in die kollektive Sicherheit, auf europäischer Ebene immer mehr bürokratische Regulierung und einen Verlust an marktwirtschaftlicher Orientierung. „Wenn ich als Wirtschaftsminister in Zukunft nichts mehr bieten kann als mehr Lohn, mehr Konsum und mehr Fortschritt, dann habe ich meine Pflicht, wie ich sie sehe, nicht erfüllt", so zitierte ihn die FAZ (Grün, 1960). Wie in anderen westlichen Demokratien zeichnete sich auch in Westdeutschland ein sozioökonomischer Strukturwandel ab, der die Politik vor neue Herausforderungen stellte. Erhards enger Vertrauter Müller-Armack spürte den kommenden Umbruch und versuchte eine konzeptionelle Weiterentwicklung des wirtschaftspolitischen Leitbildes. In Vorträgen sprach er von einer „Zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft", die nun nicht mehr die rein ökonomischen Fragen betone: „Nicht die materielle Güterversorgung als vielmehr die sinnvolle und lebensgemäße Gestaltung der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt ... dürfte dabei im Vordergrund stehen" (Müller-Armack, 1959/1966, S. 265). Dies zielte über die Sicherung des Wettbewerbsrahmens hinaus auf staatliche Einhegung des sozialen Wandlungsprozesses. Er beobachtete zunehmende Unsicherheit und Zukunftsangst und hoffte, dem durch „bewußte Schaffung neuer Stabilitäten" entgegenwirken zu können (MüllerArmack, 1960/1966, S. 272). Sein Konzept einer umfassenden Gesellschaftspolitik beinhaltete eine Vielzahl von Vorschlägen, von einer Förderung der Selbständigkeit und des Mittelstandes über eine Verbesserung der Ausbildung und der betrieblichen Situation bis hin zu einer Raumordnungs-, Struktur- und Umweltschutzpolitik sowie eine konjunkturelle Stabilisierung durch antizyklische Haushaltspolitik (vgl. ebd., S. 289-291). Generell implizierte dies verstärkte öffentliche Investitionen und einen ausgeweiteten öffentlichen Sektor. 26 Teilweise waren Müller-Armacks neue Ideen für eine die Gegensätze abmildernde Politik als Antwort auf das Zerbrechen der Gesellschaft in konkurrierende Interessengruppen zu verstehen. Er hoffte, durch frühzeitiges Gegensteuern eine weitere Verformung der Marktwirtschaft aufhalten zu können. In diese Richtung zielte das vieldeutige Konzept der „Formierten Gesellschaft", das Erhard, nunmehr Kanzler, im Bundestagswahlkampf 1965 vorstellte.27 Damit wollte Erhard zum Ausdruck bringen, daß er die Zeit gekommen sah, Abschied zu nehmen von einer in Klassen und Gruppen geschiedenen Gesellschaft. Durch eine moralisch überhöhte Neuordnung, eine „Formierung" sollte die Allgemeinheit über die organisierten Interessen gestellt werden. Deren Praxis, sich im demokratischen System besondere Vorteile auf Kosten der Allgemeinheit zu verschaffen, sollte eingedämmt werden. Konkret sollte die Verantwortung für Sozialpolitik in ein teilweise

Offenbar sah Müller-Armack die bundesdeutsche „Soziale Marktwirtschaft" als stark genug an, um einen größeren Staatsanteil und mehr Interventionen aushalten zu können. Die deutsche Wirtschaftspolitik sei keineswegs im-mer „dogmatisch" gewesen, bekräftigte er, und die Erfahrung habe gezeigt, „daß die Marktwirtschaft einen guten Teil nicht marktkonformer Maßnahmen ohne Einbuße ihres Wesens ertragen kann" (Müller-Armack, 1959/ 1966, S. 257-258). 27 Das Konzept und die Formulierung stammten von den konservativen Publizisten Rüdiger Altmann und Johannes Gross, doch einige gedankliche Grundzüge hatte schon Müller-Armack vorbereitet. Dieser war zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Politik ausgeschieden und hatte sich auf seinen Lehrstuhl an der Universität Köln zurückgezogen. Er sah das, was 1965 diskutiert wurde, eher skeptisch; man habe leider „meine Anregungen . . . zu spät und in einer nicht glücklichen Form" aufgegriffen (Müller-Armack, 1965/1966, S. 11). 26

332 • Wandlungen des Neoliberalismus mit Privatisierungserlösen finanziertes „Gemeinschaftswerk" ausgegliedert werden, das dem parlamentarischen Klientelwesen eher entzogen wäre (vgl. Mierzejewski, S. 302-304). Zu den Wahlkampfberatern, die das Leitbild der „Formierten Gesellschaft" inhaltlich zu füllen bemüht waren, zählte neben Rüdiger Altmann und Johannes Groß auch der in der NS-Zeit emigrierte Soziologe Goetz Briefs, der wie viele Ordoliberale eine gegenüber dem „Pluralismus" sehr kritische Theorie vertrat. 28 Vor der MPS hatte er in Oxford in seinem Vortrag „Some Economic Aspects of the Pluralistic Society" seine Theorie zu den Hintergründen des historischen Niedergangs der Marktwirtschaft dargestellt: Der klassische Liberalismus, so Briefs, preise die gemäß ihrem Eigeninteresse im Wettbewerb handelnden Individuen als Quelle des allgemeinen Wohlstands. Er verkenne jedoch die Gefahr, daß sie sich zur Ausschaltung des Wettbewerbs gruppenweise organisierten. Gut organisierten Gruppen, wie den Gewerkschaften oder den Bauernverbänden, die den Staat mit ihren Forderungen zu durchdringen vermochten, stünden in der „pluralistischen Gesellschaft" diejenigen Bevölkerungsschichten gegenüber, die sich kaum gemeinschaftlich organisieren ließen (vgl. Briefs, 1959; vgl. auch Ders., 1966). Damit waren die Probleme dargestellt, denen Erhard mit der „Formierten Gesellschaft" beikommen wollte. Wohlwollende Kommentatoren aus dem Kreis der MPS wie Mötteli pflichteten bei, „daß die Demokratie ebenso wie die ihr zugeordnete Marktwirtschaft die Gesellschaft ... nicht einfach als Datum hinnehmen können, ohne Gefahr zu laufen, zwischen den Mühlsteinen der ,countervailing power' zermalmt zu werden" (Mötteli, 1966, S. 229). Wenn die politischen Parteien nur noch als Gehilfen von Gruppeninteressen aufträten, hätten sie ausgedient. Erhards Vorstoß trug aber nicht weit. Auch von liberaler Seite gab es einige Zweifel an dem Konzept, dem Mötteli eine Überbetonung der Funktion der sozialstaatlichen „Solidarität" vorwarf (ebd., S. 241-242). 29 Unklar blieb tatsächlich, wie die in Interessengruppen gespaltene Gesellschaft sich nicht durch autoritären Zwang, sondern aus eigener Kraft, so Erhards Hoffnung, auf eine dem Gemeinwohl verpflichtete wettbewerbliche Ordnung besinnen sollte. Mit rein moralischen Appellen, auf die er sich als Wirtschaftsminister über Jahre verlegt hatte, war dem unerwünschten Rentenstreben auf Dauer kaum beizukommen.

3.1. Neuer Planungsglaube Schon zu Beginn von Erhards Kanzlerschaft zeigte sich, daß die an westdeutschen Universitäten einst stärker beachtete Freiburger Schule immer mehr an Bedeutung verloren

Die Kritik am „Pluralismus", wie sie in der Zwischenkriegszeit entwickelt wurde, führte immer wieder zu Mißverständnissen - in der innenpolitischen Diskussion wie auch bei ausländischen Beobachtern. Grund dafür war vor allem die eigenwillige Terminologie: „Ich glaube, Sie benutzen das W o r t Pluralismus' ziemlich anders als üblicherweise die Amerikaner", erkannte schon früh Harry Gideonse in einem Brief an seinen Freund Röpke. Während die Amerikaner mit „Pluralismus" eine bestimmte „kulturelle Vielfalt" bezeichneten, also das Gegenteil von „Gleichschaltung", verstanden die deutschen Ordoliberalen unter „Pluralismus" eine von Gruppeninteressen beherrschte Gesellschaft (Gideonse an Röpke, 31.7.1942, in: IWP, NL Röpke). 28

V o m politischen Gegner wurde es dagegen als kaum verschleiertes Zeichen einer autoritären Gesinnung verdammt (vgl. Haselbach, 1 9 9 1 , S. 225-230).

29

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 333 hatte. Ihre vorwiegend mikroökonomischen Analysen verschiedener Ordnungssysteme und der darin wirkenden Anreiz-, Allokations- und Koordinationsmechanismen waren nicht mehr gefragt. Als moderner galten nun die im angelsächsischen Raum vorherrschenden mathematischen und makroökonomischen Ansätze, die sich auf Neoklassik und Keynesianismus beriefen (vgl. Nützenadel, 2005, S. 44). 30 Verspätet fand die Bundesrepublik damit zumindest akademischen Anschluß an den „Mainstream" der westlichen Welt. Zugleich wurde die Ökonomenzunft immer selbstbewußter: Es gab intensive Bemühungen, detaillierte Statistiken und imposante Gleichungssysteme sowie „Input-Output"-Tabellen zu produzieren, mit denen sich das makroökonomische Geschehen angeblich immer exakter und objektiver abbilden und vorhersagen ließ. Insgesamt wuchs der Glaube an die Plan- und Steuerbarkeit der Wirtschaft, was Nützenadel als „Die Stunde der Ökonomen" bezeichnet hat. Einige der weit ins Abseits geratenen deutschen Neoliberalen wie Albert Hahn oder Friedrich Lutz hatten frühzeitig auf Grenzen der Vorhersagekunst hingewiesen. Hahn wetterte schon in den fünfziger Jahren gegen eine „Prophezeiungs-Manie", deren Ergebnisse oft genug recht dürftig waren. Er betonte die Komplexität des wirtschaftlichen Geschehens, das die „Traumwelt" der Formeln und Kurven übersteige (Hahn, 1952, S. 342). Für Lutz war schon der Ansatz einer quantitativen Determinierung ökonomischer Entwicklung verfehlt, da die Marktwirtschaft grundsätzlich von Risiko und Unsicherheit lebe, so argumentierte er in seinem Buch „Das Problem der Wirtschaftsprognosen" (Lutz, 1955). Beide sahen sie hier einen Widerspruch zu den Gegebenheiten einer offenen und freien Marktgesellschaft — ein Argument, das auch Hayek in immer neuen Versionen vorbrachte. Parallel zur Marginalisierung des Ordoliberalismus gewann auch in der Bundesrepublik eine wissenschaftliche Strömung an Bedeutung, die unter dem Namen „Konvergenztheorie" mit starkem, wohlwollendem Interesse die Planmethoden und Reformexperimente der sozialistischen Wirtschaften jenseits des „Eisernen Vorhangs" verfolgte (vgl. Nützenadel, 2005, S. 187-197). In den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich war die „Konvergenztheorie" schon länger diskutiert worden. Anfang der sechziger Jahre drängten schließlich einflußreiche Kräfte immer stärker auf eine „Entspannung" und „Entideologisierung" des Konflikts zwischen Ost und West. Progressiv gesinnte Wissenschaftler meinten, in einigen Ländern des Ostblocks Ansätze zur Verbesserung der bislang recht starren Planungsvorgaben zu beobachten. 31 Obwohl diese Reformversuche nur mäßige Ergebnisse zeitigten und die planwirtschaftlichen Zügel aus politischen Erwägungen bald wieder straffer gefaßt wurden, erschien die Entwicklung aus der Perspektive der frühen sechziger Jahre als Beleg einer „Liberalisierung" der östlichen Planwirtschaften. Zahlreiche Wissenschaftler und Publizisten schlössen daraus auf einen generellen Trend zur „Systemkonvergenz" zwischen dem

Zu geringen Bedeutung der Ordoliberalen in späteren Jahren bemerkte einmal Hayek (1983a, S. 15): „Aber der Ordo-Kreis wurde nicht zu einer großen Bewegung. Es mangelte ihm der inspirierende Leiter, der Eucken gewesen wäre." 31 Viel diskutiert wurde etwa das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NOSPL) in der DDR. Diese Auflockerung der alten Planwirtschaft stalinistischen Typs schien große Veränderungen zu bringen. Ziel der Anstrengungen war erklärtermaßen eine Produktivitätssteigerung durch mehr Flexibilität. Zu diesem Zweck experimentierten einige Ostblock-Regime nun verstärkt mit Techniken einer dezentraleren Entscheidungsfindung, setzten begrenzt Anreize für mehr Eigeninitiative der Betriebsleiter und erwogen zeitweilig eine lockerere Steuerung der Produktion über Rahmendaten. 30

334 • Wandlungen des Neoliberalismus sozialistischen, aber sich vermeintlich dem Markt öffnenden Osten und dem nichtsozialistischen, sich aber staatlich-technokratischer Lenkung öffnenden Westen. 32 Die Gegner dieses Verwischens der Unterschiede von freiheitlichem und kollektivistischem System befanden sich in der Defensive. Beim MPS-Treffen in Stresa 1965 machte Frank Knight einige theoretische Anmerkungen zum Thema „Liberal Movements in Socialist Countries". Er stellte heraus, daß trotz aller Bemühungen im Ostblock um mehr Effizienz die oberste Kontrolle letztlich weiterhin von der Partei ausgeübt werde, es also mit der Freiheit nicht weit her sei (vgl. Knight, 1965/1966). Aus den Reihen der deutschen Ordoliberalen hielt Egon Tuchtfeldt gegen die „Konvergenztheorie". Mit Bezug auf Arbeiten von Mises und Hayek stellte er die Unvereinbarkeit von Markt- und Planwirtschaft heraus. Er bekannte und beklagte, daß in westlichen Ländern mit „indikativen" Planungstechniken experimentiert werde, was oberflächlich betrachtet auf eine Konvergenz mit östlichen Staaten hindeute. Zugleich warnte er davor, die Wandlungsfähigkeit der sozialistischen Systeme zu überschätzen. Von einer echten „Liberalisierung" könne dort keine Rede sein: „Ein totalitäres System kann keine ernsthafte Auflockerung in irgendeinem Bereich (Wirtschaft, Gesellschaft, Staat) zulassen, durch die das Machtmonopol der Staatspartei gefährdet wird. Nur unter Berücksichtigung dieser grundlegenden Zusammenhänge lassen sich taktische ,Liberalisierungsmaßnahmen' richtig beurteilen und nicht voreilig als Zeichen einer Konvergenz der Ordnungen deuten" (Tuchtfeldt, 1969, S. 58). Derartige Einwände gingen aber unter im Chor derer, die im Osten eine mächtige Wachstums- und Wohlstandsmaschine im Entstehen sehen wollten. Aufgrund der veränderten Wahrnehmung der Planungselemente wurde die wirtschaftliche Stärke der DDR und der Sowjetunion vielfach grotesk überschätzt, wogegen MPS-Ökonomen wie Nutter meist vergeblich argumentierten. Nicht nur sozialistisch oder sozialdemokratisch orientierte Ökonomen und Politiker forderten den verstärkten Einsatz staatlicher Steuerungselemente. Auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums fürchteten viele, der Westen würde abgehängt, wenn alles privaten Unternehmern und Investoren überlassen werde. Eine selbstbewußte Expertenriege unterstützte die verstärkte Koordinierung und Vernetzung von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft. 33 Das vermeintlich brachliegende ökonomische Potential in

Einer der Vordenker der „Konvergenztheorie" war der niederländische Ökonom Jan Tinbergen. Er lobte die angeblich weitreichenden Reformanstrengungen in osteuropäischen Ländern, ihre planwirtschaftlichen Entscheidungsprozesse dezentraler zu gestalten und dazu verstärkt Knappheitssignale wie Preise und Zinsen nutzen zu wollen. Ähnliches hatte er selbst nach dem Krieg als erster Leiter des Zentralen Planungsbüros in Den Haag angestrebt (vgl. Tinbergen, 1947). Nun war er optimistisch, daß sich auf Grundlage der Wohlfahrtstheorie eine „Mischform von zentralisierten und dezentralisierten Entscheidungen", also von Plan und Markt, als „Optimum der Wirtschaftsorganisation" wissenschaftlich exakt bestimmen ließe. In dieser Beziehung könne der Westen jenseits ideologischer Differenzen vom Osten viel lernen: Das „Optimum der Wirtschaftsorganisation" sei mathematisch berechenbar. Wegweisend erschien ihm die Methode der „linearen Programmierung", die wirtschaftliche Planungsprozesse zu optimieren helfe. Mittelfristig prophezeite er eine Einebnung der realen Unterschiede zwischen den Systemen. Die strenge Abgrenzung zwischen „kapitalistischer" und „sozialistischer" Wirtschaftstheorie hielt er damit für überholt, so wie es „für Ost und West auch nur eine Physik gibt" (Tinbergen, 1969, S. 62). 32

Geradezu neidisch betrachteten einzelne Wissenschaftler und Publizisten die Versuche einzelner sozialistischer Staaten, die ebenso geheimnisvolle wie überschätzte Technik der „Kybernetik", eine Form der mathematisch gestützten Ablaufsteuerung, für mehr Effizienz in Wirtschaftsplanung und Verwaltung zu nutzen (vgl. Nützenadel, 2005, S. 197-203). 33

Der Kampf gegen den keyriesianischen Konsens • 335 westlichen Staaten könne durch bewußte und rationale Eingriffe des Staates nutzbar gemacht werden, hieß es.

3.2. Ubergang zur keynesianischen Globalsteuerung Der Begriff der „Planung" nahm langsam wieder eine positive Färbung an. „Indikative Planung" betrieben schließlich die Franzosen, scheinbar zunehmend erfolgreich. Und eine konjunkturelle „Steuerung", verstanden als keynesianisches „demand management", wie es Briten und Amerikaner praktizierten, vermißten immer mehr Politiker und Ökonomen in der Bundesrepublik. Erhard hatte in den späten sechziger Jahren versucht, sich mit seiner ganzen Autorität als Vater des „Wirtschaftswunders" gegen diese Tendenzen zu stellen. Die Unbefangenheit, mit der nun wieder planwirtschaftliche Ansätze diskutiert wurden, erfüllte ihn mit Sorge. Wie bei zahlreichen anderen Gelegenheiten zog er beim MPS-Treffen 1968 in Aviemore gegen das „moderne Plandenken" zu Feld. Dieses gefährde zuerst die wirtschaftliche Freiheit und auf Dauer auch die politische, warnte Erhard in seiner Eröffnungsrede (vgl. Rudolph, 1968). Solche Klagen des zwei Jahre zuvor von einem kurzzeitigen Konjunktureinbruch hinweggefegten ehemaligen Kanzlers konnten nur noch wenige beeindrucken. Nach Erhards Abgang setzte auch Westdeutschland vermehrt auf eine politische Stützung der Konjunktur im Rahmen einer „Globalsteuerung". Einen gewissen Beitrag zu dieser Entwicklung hatte auch der 1963 eingerichtete fünfköpfige Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geleistet. Das dem amerikanischen CEA nachgebildete Gremium war politisch „ausgewogen" besetzt worden. Mit dem Eucken-Schüler Fritz W. Meyer gehörte ihm von Anfang an auch ein Mitglied der MPS an, zudem der in Saarbrücken lehrende Herbert Giersch, der über Hayek Mitte der sechziger Jahre ebenfalls zu der Gesellschaft stieß. Im Gutachtergremium pochte Giersch zunächst stark auf stabilitätspolitische Anstrengungen zur Sicherung der Geldwertstabilität. Anders als vom Wirtschaftsminister intendiert, begannen die „Fünf Weisen", wie sie in der Presse genannt wurden, auch Empfehlungen für eine Stabilisierungspolitik zu geben, die als Unterstützung einer maßvollen keynesianischen Nachfragepolitik gewertet werden konnten. Obwohl Giersch in den meisten Fragen wirtschaftsliberal orientiert war, glaubte er, der Staat habe zur Vermeidung extremer konjunktureller Abstürze stabilisierend und steuernd einzugreifen. So wurde er einer der Vordenker einer makroökonomischen „Globalsteuerung". Und um dabei die Inflation unter Kontrolle zu halten, empfahl er eine „Konzertierte Aktion", also ein Zusammenwirken der Regierung mit Arbeitgebern und Gewerkschaften. Insgesamt begann sich der Schwerpunkt der deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion von der Angebotsseite immer stärker auf die Nachfrageseite zu verlagern. Unter der Großen Koalition ab 1966 vollzog Westdeutschland den verspäteten Übergang zu einem gemäßigten Keynesianismus. Die von den Ordoliberalen einst geforderte klare Trennung zwischen Ordnungs- und Prozeßpolitik wurde damit verwischt. Treibende politische Kraft des neuen keynesianischen Kurses war der SPD-Politiker Karl Schiller, der bei Amtsantritt als Wirtschaftsminister eine „aufgeklärte Marktwirtschaft" ankündigte. Dazu gehörte der Versuch einer systematischen staatlichen Beeinflussung der Konjunktur. Das Wort „Globalsteuerung" versprach eine Neuorientierung. Zwar war auch Erhard überzeugt gewesen, daß

336 • Wandlungen des Neoliberalismus eine gewisse Stabilisierung der Konjunktur nötig sei. Dies bezog er jedoch vor allem auf die WährungsStabilität. Um einer Überhitzung vorzubeugen, hatte er sich aber auf „psychologische Mittel", also Appelle zum Maßhalten und zur Kostendeckelung, beschränkt oder nutzte günstige Gelegenheiten der Hochkonjunktur zu weiteren, auch unilateralen Handelsliberalisierungen, die ebenfalls dämpfend auf die Preise wirkten. Eine systematische Beeinflussung makroökonomischer Größen durch staatliche Interventionen, um Wachstum anzuregen oder Störungen zu beheben, lag ihm fern (vgl. Kloten, 1996, S. 101-108). Dieser vergleichsweise bescheidene konjunkturpolitische Ansatz wurde nun von einem ambitionierteren staatlichen Programm abgelöst. Schon im Mai 1967 verabschiedete der Bundestag das Gesetz zur Förderung von Stabilität und Wachstum. Das Gesetz basierte noch auf Entwürfen der bürgerlichen Vorgängerregierung. Es wurde aber von Schiller als Einstieg in eine neue Ära genutzt. Oft als „Magna Charta" des deutschen Keynesianismus gerühmt, kodifizierte das Gesetz einfache Regeln einer antizyklischen Haushalts- und Steuerpolitik. Schiller machte sogleich extensiven Gebrauch von den neuen fiskalischen Möglichkeiten und legte ein erstes staatliches Ausgabenprogramm auf, dem zwei weitere folgen sollten. Die erste „Konjunkturspritze" fiel genau in die Zeit, als ein kräftiger Aufschwung der deutschen Exporte den konjunkturellen Schwächeanfall der Jahre 1966 und 1967 beendete. Das Wachstum kehrte also schon 1968 mit einer Zunahme des BSP von 7,1 Prozent zurück. Der folgende, ungewöhnlich kräftige Aufschwung wurde vielfach als Erfolg der neuen keynesianischen Wunderwaffe gepriesen. 34 Mittels staatlicher Eingriffe glaubte Schiller, die makroökonomischen Kräfte beherrschen und quantitativen „Zielprojektionen" annähern zu können. Zugleich etablierte er eine institutionalisierte Form der Zusammenarbeit zwischen Regierung, Notenbank, Arbeitgebern und Gewerkschaften: die „Konzertierte Aktion". In formellen Gesprächsrunden sollten künftig wirtschaftliche Orientierungsdaten ausgetauscht und die künftige Lohn- und Preispolitik abgestimmt werden. Die Mitglieder der MPS zeigten sich auf ihrer Tagung in Vichy im Herbst 1967 wenig begeistert von dem konjunkturpolitischen Experimentieren. Der Straßburger Ökonom François Bilger warnte, offene Volkswirtschaften wie die deutsche seien immer stärker von der Weltkonjunktur abhängig. Sie hätten daher kaum Spielräume für nationale Interventionen. Zudem bestünde die Gefahr, daß beim Versuch, konjunkturelle Schwankungen auszuschalten, wichtige Anpassungsprozesse unterdrückt würden. Diese seien zwar schmerzhaft, doch unvermeidlich und auch heilsam, da sie eine strukturelle Erneuerung der Wirtschaft ermöglichten. Zur „Konzertierten Aktion" gab er zu bedenken, diese könne „leicht gegen die Logik der Marktwirtschaft, insbesondere gegen den Grundsatz des Wettbewerbs verstoßen" (Bilger, 1969, S. 3). Auch Friedrich Lutz, der in Vichy zum MPSPräsidenten gewählt wurde, war skeptisch, was die Erfolgsmöglichkeiten der Konjunktursteuerung und einer Lohn- und Preisbindungspolitik anging. Mit Hinweis auf die gescheiterten amerikanischen Versuche mit „guide posts" für Lohnerhöhungen sagte er voraus, das

In Wirklichkeit, so zeigte eine genauere Analyse der konjunkturpolitischen Intervention, war die Ausgabenpolitik erst zu spät expansiv geworden und wirkte damit pro-zyklisch, die steuerlichen Maßnahmen zur Belebung von Konsum und Investitionen wurden vornehmlich unter wahltaktischen Gesichtspunkten ergriffen (vgl. Starbatty, 1976, S. 65-117).

34

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 337 Experiment der „Konzertierten Aktion" werde an den Gewerkschaften scheitern, sobald die Lage auf dem Arbeitsmarkt wieder angespannter sei (vgl. Lutz, 1967). Obwohl ihr MPS-Kollege Giersch die Politik einer maßvollen Konjunkturstabilisierung anfangs befürwortet hatte, wollte er das Versprechen der „Globalsteuerung" nicht im Sinne eines „fine tuning" durch punktuelle, kurzfristige Eingriffe in den Marktablauf verstanden wissen. Ihm ging es eher um die Einstellung der Rahmenbedingungen, so daß die Konjunktur nur mäßig schwanken werde. Dagegen tendierte die Mehrzahl der Ökonomen dazu, den Begriff „Globalsteuerung" ganz wörtlich als Steuerung, Lenkung und Planung durch den Staat zu interpretieren. Angesichts dieser Tendenz waren die deutschen MPS-Mitglieder zunehmend besorgt: „Haben wir noch eine soziale Marktwirtschaft?" fragte Lenel bei einem Vortrag. Der einstige Assistent von Eucken kritisierte eine Häufung interventionistischer Sündenfälle, die Zunahme preisverzerrender Subventionen sowie eine übersteigerte Sozialpolitik, die das Fundament bürgerlicher Eigenverantwortung und damit der Marktwirtschaft angreife. Besonders skeptisch beurteilte er Schillers Versuche der Konjunktursteuerung, die oft nicht antizyklisch, sondern pro-zyklisch und damit destabilisierend wirkten. Zudem gab er zu bedenken: „Die neue Konzeption ist auch problematisch, weil ihre Verwirklichung die Fähigkeit zu quantifizierten Projektionen über die künftige Entwicklung und damit mehr Kenntnisse erfordert, als wir bis heute haben, ja für ein marktwirtschaftliches System wohl überhaupt je haben werden" (Lenel, 1971, S. 43).35 Die 1969 angetretene sozial-liberale Regierung unter dem SPD-Kanzler Willy Brandt vollendete den Ubergang zu einer keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Politik. Neben das politische Ziel der Währungsstabilität, wie es primär die ordoliberale Lehre gefordert hatte, trat nun gleichwertig das Ziel der „Vollbeschäftigung". Zugleich änderte sich das Verhalten der Gewerkschaften. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hatten diese mit einer zumeist moderaten Lohnpolitik dazu beigetragen, daß die Unternehmen über hohe Gewinnrücklagen ihren Kapitalstock weiter aufbauen und so kräftige Produktivitätssteigerungen erzielen konnten. 36 Diese kooperative Haltung hatte lange Zeit das starke westdeutsche Wachstum getragen, das sowohl Unternehmen wie Arbeitnehmern zugute kam. Ab 1969 aber, vielleicht ermutigt durch die laute Rhetorik der Neuen Linken, legten die Gewerkschaften eine merklich aggressivere Haltung an den Tag und setzten in harten Tarifkämpfen bald zweistellige Bruttolohnzuwächse durch. Zwischen 1970 und 1972 stiegen die effektiven Einkommen je Beschäftigten um rund 40 Prozent. Der plötzliche Kostenschub nährte auch Inflationsbefürchtungen. Während Deutschland in den sechziger Jahren zu den preisstabilsten Ländern gehört hatte, lag die Teuerungsrate schon 1972 mit 5,8 Prozent über dem Durchschnitt der industrialisierten Welt (vgl. Weimer, 1998, S. 220). Die Öffentlichkeit wie auch die deutschen Neoliberalen trieb nun die Angst vor steigender Inflation um. Diese Sorge erhielt weitere Nahrung durch den kostspieligen Ausbau des In solchen Passagen klang das alte informationstheoretische Argument an, das die österreichische Schule seit der Zwischenkriegszeit beschäftigte und das Hayek zuletzt in seiner Kritik an der „Anmaßung von Wissen" formulierte. 3 6 Die andauernde Lohnzurückhaltung erscheint rückblickend geradezu paradox, da unerklärlich „altruistisch". Bis Ende der sechziger Jahre „agierten die Gewerkschaften in den kollektiven Tarifverhandlungen, als ob sie ein Interesse nicht bloß an der Beschäftigung von westdeutschen Gewerkschaftsmitgliedern hätten, sondern auch von potentiellen ausländischen Arbeitern" (Giersch/Paque/Schmieding, 1992, S, 131). Eine mögliche Erklärung wäre, daß die Gewerkschaft über Jahre das tatsächliche reale Wachstum systematisch unterschätzte. 35

338 • Wandlungen des Neoliberalismus Wohlfahrtsstaats. Neben ihrer Ankündigung eines außenpolitischen Kurswechsels hatte die SPD den Wahlkampf 1969 mit dem Versprechen von mehr „sozialer Gerechtigkeit" und „sozialer Symmetrie" bestritten. In erster Linie waren damit mehr steuerliche Umverteilung und ein Ausbau staatlicher Versorgungssysteme gemeint. Anfang der siebziger Jahre öffnete die Regierung also das Füllhorn des Sozialstaats.37 Von 1970 bis 1975 kam es so zu einer glatten Verdopplung der staatlichen Sozialausgaben. Die Sozialquote, also der von staatlichen Sozialsystemen verbrauchte Anteil am Bruttosozialprodukt, stieg im selben Zeitraum von 25,5 Prozent auf 32,1 Prozent (vgl. ebd., S. 216). Die massive Erweiterung des Wohlfahrtsstaats unter der sozialliberalen Koalition verstärkte unter den deutschen MPSMitgliedern die Zweifel an der Gültigkeit der marktwirtschaftlichen Grundorientierung: „Man hat sich nie offiziell von der sozialen Marktwirtschaft losgesagt, doch wurde sie mit sozialistischen Zutaten durchsetzt", beklagte etwa Josef Molsberger (1984, S. 5). Beim Ausbau des kollektiven Sozialsystems geriet zunehmend die Geldwertstabilität aus dem Blick. Warnende Stimmen dazu gab es auch innerhalb der Regierung. SPD-Finanzminister Alexander Möller, der spendierfreudige Kabinettskollegen nicht im Zaum halten konnte, sah im Frühjahr 1971 als einzigen Ausweg seinen Rücktritt. Auch Schiller, der darauf Möllers Amt übernahm, stand gegen die Parteilinke zunehmend mit dem Rücken zur Wand. Seine Mahnungen zu Sparsamkeit und Besonnenheit stießen auf taube Ohren. Er mußte sehen, wie die keynesianische Empfehlung des „deficit spending" mißbraucht werden konnte und als Rechtfertigung für hemmungsloses Schuldenmachen diente. Die Geister, die er gerufen hatte, konnte Schiller, nunmehr „Superminister", nicht mehr kontrollieren. Im Mai 1972 legte er einen alarmierenden Bericht über die Entwicklung der Staatsfinanzen vor, doch das Kabinett schlug seine Warnungen in den Wind. Anfang Juni schrieb er in seinem Rücktrittsgesuch an Kanzler Brandt, er sei nicht mehr bereit, eine kurzfristige Schuldenpolitik nach dem Motto „nach uns die Sintflut" zu unterstützen. Die Regierung habe die Pflicht, über den Wahltag hinaus zu denken und das Volk über Grenzen der Belastbarkeit des Staates aufzuklären, warnte Schiller (vgl. Weimer, 1998, S. 226-229). Die desillusionierenden Erfahrungen bewirkten beim langjährigen ökonomischen Vordenker der Sozialdemokraten eine Abwendung vom Keynesianismus. Enttäuscht verließ er die SPD und trat in gemeinsamen öffentlichen Appellen mit Erhard als Hüter marktwirtschaftlicher Prinzipien auf. Im Herbst 1972 lud ihn die MPS zu ihrem Regionaltreffen nach Salzburg ein. Zwar war Schiller letztlich verhindert, doch „allein die Tatsache, daß der frühere SPDMinister als Gastreferent eingeladen war, zeigt", so urteilte die NZZ, „wie die in der Auswahl

37 Bei der gesetzlichen Krankenversicherung, beim Wohngeldgesetz oder bei staatlichen Zuschüssen für die Ausbildung wurde die öffentliche Hand nun deutlich großzügiger. Eine andauernde massive Ausweitung staatlicher Leistungen brachte auch das Rentenreformgesetz von 1972, indem etwa der Kreis der Berechtigten ausgeweitet, nicht-berufstätigen Frauen verschiedene Anrechnungszeiten gewährt, eine allgemeine Mindestrente eingeführt und zudem Möglichkeiten geschaffen wurden, gegen geringe Abschläge früher als mit 65 Jahren in Rente zu gehen. In der Folge wuchs der Bedarf an staatlichen Zuzahlungen an die Rentenkassen, die sich vom Prinzip einer echten Versicherung immer weiter entfernten. Insgesamt bewirkte die Rentenreform eine Nivellierung und Abkoppelung der Auszahlungen von den individuellen Beiträgen.

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 339 ihrer Redner recht selektive Mont Pèlerin Society den wirtschaftspolitischen Standort Schillers einstuft" (Gy.B., 1973). 38

4. Vereinigte Staaten: Das Erbe der Reformära Auch die amerikanischen Mitglieder der MPS beobachteten in den sechziger Jahren in ihrem Land eine Linksverschiebung, die eine neue Welle staatlicher Interventionen brachte. Mit der Präsidentschaft von Lyndon B. Johnson kam die Hochzeit staatlicher Reformen im Sozialwesen. In seine Amtszeit fiel der seit Roosevelts New Deal größte Schub zur Ausweitung kollektiver Sozialsysteme. 39 Linksgerichtete Ökonomen wie Galbraith hatten schon seit langem grundsätzlich einen zu geringen Staatsanteil und daraus resultierend eine chronische Unterfinanzierung des öffentlichen Sektors beklagt. Dem behaupteten Notstand stellte Johnson die Vision einer staatlich egalisierten und geförderten „Great Society" gegenüber. Dazu gehörten staatliche Agenturen zur Forcierung des beruflichen Aufstiegs von Minderheiten und eine Aufstockung von Bildungsprogrammen, milliardenschwere staatliche Investitionen in die Innenstädte, die Einrichtung eines steuerfinanzierten Systems medizinischer Versorgung („Medicaid" und „Medicare"), sowie eine Ausweitung der Sozialhilfe auf weitere Bevölkerungsschichten. Adolf A. Berle, ein einstiger Vordenker des New Deal, erklärte 1965 enthusiastisch: Sollte der „War on Poverty" erfolgreich sein, „wird sich eine neue Ära der Weltgeschichte aufgetan haben. Die soziale und wirtschaftliche Revolution, die von Präsident Franklin D. Roosevelt begonnen worden war, wird vollendet worden sein - soweit Wirtschaftspolitik dies zu tun vermag" (zit. n. Schild, 1998, S. 604). Die amerikanischen Neoliberalen lehnten die interventionistische Wirtschafts- und Sozialpolitik ab. Beim MPS-Treffen 1968 trugen sie scharfe Kritik vor, etwa an der Anhebung des gesetzlichen Mindesdohnes, die besonders jungen Schwarzen den Einstieg in den Arbeitsmarkt verbauen würde (vgl. Brozen, 1968). Statt durch staatliche Lohnersatzleistungen neue Hürden für Arbeitsaufnahme zu schaffen, warben neoliberale Ökonomen für anreizkompatible Lohnzusatzleistungen durch eine umgekehrte Einkommensteuer (vgl. Polanyi, 1968). Generell kritisierten sie die absehbaren hohen Kosten von Johnsons Programmen, etwa den Ausgabenanstieg bei der medizinischen Versorgung, sobald der Staat die Rechnungen der Bürger übernahm. Zudem sahen sie schädliche Anreize des Wohlfahrtsstaates, eine zunehmende Abhängigkeit von kollektiven Versorgungssystemen und eine Schwächung des Gefühls der bürgerlichen und familiären Eigen-

Der Kontakt riß aber in den folgenden Jahren nicht ab. 1979 nahm Schiller am Regionaltreffen der MPS in Madrid teil, dessen spezieller Fokus auf die Probleme des Wohlfahrtsstaats gerichtet war. Anläßlich der Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises 1979 an Schiller würdigte Hayek diesen als denjenigen deutschen Politiker, „der sich nach Ludwig Erhard ... wahrscheinlich das größte Verdienst um die Erhaltung der Marktwirtschaft gemacht hat" (zit. n. Hennecke, 2000, S. 338). 39 Um dafür die nötige politische Dynamik zu schaffen und Widerstände zu brechen, mußte Johnson zunächst eine „Krise" ausrufen. Gleich nach seiner Amtsübernahme 1963 hatte er es verstanden, die öffentliche Meinung auf das Phänomen einer ungleichen Partizipation unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen am amerikanischen Massenwohlstand zu fokussieren. In martialischer Dramatisierung rief er im Januar 1964 einen „Krieg gegen die Armut" aus. Zur Frage, ob ideologische Gründe oder die Nachfrage bestimmter Interessengruppen der Katalysator für Johnsons Ausweitung der Staatstätigkeit war, vgl. Higgs (1987, S. 245-250). 38

340 • Wandlungen des Neoliberalismus Verantwortung, während sich das reale Wachstum abschwächte. Insgesamt schien die amerikanische Wirtschaft in eine kritische Phase zu kommen. Kritiker warfen dem demokratischen Präsidenten vor, keine ernsthaften Schritte zur Bekämpfung der seit Mitte der sechziger Jahre anziehenden Inflation zu unternehmen, die gegen Ende von Johnsons Amtszeit erstmals die Marke von 5 Prozent erreichte.

4.1. Hoffnung auf eine Wende unter Nixon Der konservative Republikaner Richard Nixon teilte in vielen Punkten ihre Kritik an Johnsons Politik und präsentierte sich als marktwirtschaftliche Alternative. So waren die amerikanischen MPS-Mitglieder begeistert, als Nixon 1968 als republikanischer Präsidentschaftskandidat gegen Johnson aufgestellt wurde. Friedman, der Nixon bereits Ende der fünfziger Jahre kennengelernt hatte, wurde im Wahlkampf 1968 auf Vermitdung von Burns an die Spitze von Nixons ökonomischer Beratergruppe berufen (vgl. Friedman/Friedman, 1998, S. 375). Tatsächlich schien nun die politische Konstellation günstig für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel. Nach seinem Wahlsieg traf Nixon eine Reihe von Personalentscheidungen, die den Neoliberalen der MPS gefallen konnten: George Shultz, ein enger Freund und Kollege Friedmans und beeinflußt von dessen monetaristischer Lehre, wurde zunächst Arbeitsminister, bald avancierte er zum Finanzminister und übernahm zudem den Posten des Special Assistant des Präsidenten für Wirtschaftspolitik. Damit nahm Shultz, der Mitte der siebziger Jahre der MPS beitrat, eine Schlüsselstellung in der Regierung Nixon ein. Vorsitzender des Council of Economic Advisers wurde Paul McCracken, auch er ein überzeugter Wirtschaftsliberaler, der 1972 MPS-Mitglied wurde. Ein weiterer Ökonom aus den Reihen der Gesellschaft, der unter Nixon in den CEA berufen wurde und dort 1972 den Vorsitz von McCracken übernahm, war der in Chicago promovierte Finanzfachmann Herbert Stein. 40 Zudem gab Nixon bekannt, Burns an die Spitze der Fed zu holen. Angesichts dieser Gruppe von prominenten Wirtschaftsliberalen mit höchsten Positionen in der Regierung, im CEA und bei der Fed schien eine entschiedene wirtschaftspolitische Wende 1970 denkbar. Tatsächlich aber wagte die Regierung Nixon nur zaghafte Modifikationen an dem von Johnson geschaffenen Wohlfahrtsstaat und seiner keynesianischen Erbschaft. Sie folgte fiskal- und geldpolitischen Ansätzen zur Konjunkturbelebung, die in sich widersprüchlich waren. Nixons Umgang mit dem immer dringlicheren Inflationsproblem mündete schließlich in eine Sackgasse. Daß seine Regierung letztlich zur Einführung von Preiskontrollen bereit war, einer „so radikalen Abkehr von konservativer, freimarktwirtschaftlichen Philosophie", wie Stein (1994, S. 167) bedauernd eingestand, blieb vielen ein Rätsel. Teils war es einer unglücklichen politischen Dynamik geschuldet, teils aber auch dem ökonomischen Opportunismus des Präsidenten. Herbert Stein hatte zuvor viele Jahre für das wirtschaftsnahe Committee for Economic Development gearbeitet. Zum Zeitpunkt seiner Berufung in den CEA war er registrierter Anhänger der Demokraten, jedoch nicht parteipolitisch aufgefallen. Nach seiner Berufung durch Nixon wechselte er zu den Republikanern, die er in folgenden Wahlkämpfen häufig beriet (vgl. Stein, 1996b, S. 7). Die späteren „Supply Side"-Ökonomen nahmen ihm übel, daß er zu häufig Budgetkonsolidierung durch Steuererhöhungen erwog. 40

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 341 Von Anfang an kämpfte die Regierung Nixon wirtschaftspolitisch einen Zweifrontenkampf. Sie wollte Strategien gegen das nachlassende Wirtschaftswachstum und die langsam steigenden Arbeitslosenzahlen entwickeln und mußte zugleich die Inflation in den Griff bekommen. Dabei scheuten Nixon und seine Berater eine harte geldpolitische Bremsung. Ihnen fehlte die Entschlossenheit, das immer drängendere Problem durch eine strikte Drosselung der Geldmengenwachstumsrate anzugehen und dabei auch einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen, die Ende der sechziger Jahre noch unter 5 Prozent lag. Wohl waren Nixons Berater mehrheitlich dezidiert wirtschaftsliberal, jedoch zugleich auch pragmatisch eingestellt und stets bemüht, ihre ursprünglichen ökonomischen Reformideen dem engen Spielraum dessen anzupassen, was als politisch vertretbar erschien. Daraus resultierte eine Ängstlichkeit, die sich den noch immer herrschenden Dogmen keynesianischer Nachfragepolitik unterordnete. 41 Nixon selbst fürchtete den Vorwurf eines marktwirtschaftlichen Dogmatismus und suchte die Nähe des Urbanen, progressiven Milieus besonders der Ostküste. Anfang 1971 kam für die neoliberalen Unterstützer des Präsidenten die erste große Enttäuschung, als Nixon in einer Regierungsansprache die Grundsätze einer neuen, expansiven Fiskalpolitik zur Stimulierung des Wachstums vorstellte. Der Budgetvorschlag akzeptierte explizit die Logik der Defizite und verabschiedete sich vom älteren republikanischen Ideal eines ausgeglichenen Haushalts. Nixons Rhetorik zum „Vollbeschäftigungs-Budget" gipfelte in einem euphorischen Satz gegenüber Journalisten: „Jetzt bin ich ein Keynesianer". Dieses Bekenntnis schwemmte eine Menge wütender Wählerpost ins Weiße Haus (vgl. ebd., S. 135 u. 172-173).

4.2. „Schlimmer als Watergate" Etwa zur selben Zeit mehrten sich die Anzeichen einer stärkeren konjunkturellen Abkühlung, als die Regierung für vertretbar hielt. Nixon wollte seinen fiskalpolitischen Stimulus auf keinen Fall durch eine rigide Geldpolitik konterkariert sehen und suchte nach einer schmerzlosen Therapie der Inflation. Opposition und Teile der Presse forderten lautstark eine staatliche „Einkommenspolitik", also die dirigistische Regulierung der Löhne und Preise. Scheinbar einfach und bequem schien diese Lösung. Der neue Finanzminister John Conally war ein starker Fürsprecher einer „Einkommenspolitik". Anfangs leisteten McCracken und Stein vom CEA noch heftigen Widerstand. Burns, ab Februar 1970 Chef der Notenbank, war ebenso wie sie eigentlich überzeugt, daß Preiskontrollen volkswirtschaftlich schädlich seien. Doch aus politischen Erwägungen änderte er im Laufe des Jahres seine Meinung und plädierte öffentlich für eine „freiwillige" Selbstkontrolle der Industrie durch eine „Lohn-Preis-Kommission". Daß sich selbst der als Marktwirtschaftler bekannte Burns nun der Position derer näherte, die zur Bremsung der Inflation die private Lohn- und Preispolitik an die staatliche Leine legen wollten, gab in Washington den Ausschlag.

Rückblickend stellte Stein (1994, S. 147) fest, daß die von Nixon berufenen CEA-Ökonomen sich zwar deutlich von der linksgerichteten Politik ihrer Vorgänger abzusetzen glaubten, „aber tatsächlich waren sie nur am anderen Rand eines ziemlich schmalen Spektrums des ökonomischen ,Mainstream'". 41

342 • Wandlungen des Neoliberalismus

Zur Jahresmitte 1971 war Nixon einer Entscheidung nahe: Trotz bleibender Bedenken begann er sich immer mehr mit der Idee von Preiskontrollen anzufreunden. Diese schienen Nixon auch geboten, da er bereits die einseitige Aufhebung der Dollar-Konvertibilität plante, was dem Bretton-Woods-System einen schweren Schlag versetzen würde. Die absehbare Abwertung ließ weitere inflationäre Schübe befürchten. So drängte Nixon immer stärker auf eine staatliche „Einkommenspolitik", um den erwarteten Auftrieb von Löhnen und Preisen zu dämpfen. Auf einem von Nixon Mitte August 1971 einberufenen, regelrecht konspirativen dreitägigen Treffen in Camp David einigte sich sein engster wirtschaftspolitischer Beraterkreis, abgeschlossen von der Außenwelt und „den Realitäten des ökonomischen und politischen Lebens", schließlich auf die umstrittene Maßnahme (ebd., S. 176). Die Öffentlichkeit war begeistert von Nixons Ankündigung der Preiskontrollen. In den Augen seiner neoliberalen Unterstützer stellte sie jedoch einen Sündenfall ersten Ranges dar. Friedman kritisierte die Entscheidung in seiner Nemwek-¥Lolumne: Durch die staatliche Verwaltung der Preise und Löhne werde die Wirtschaft ihres inneren Lenkungsmechanismus beraubt. Eine Verzerrung der relativen Preise führe in jedem Fall zu schweren ökonomischen Einbußen (vgl. Friedman 1971/1972, S. 15). Nixons Regierung hatte das scheinbar rettende Floß der „geregelten" Preise bestiegen. Die Neoliberalen betrachteten es als Irrfahrt und sagten die Schwierigkeiten voraus, von dem Floß wieder herunterzukommen. Eine abrupte Freigabe der Preise, glaubten etwa McCracken und Stein, wäre ein zu extremer Schock für die Verbraucher gewesen. Der aufgebaute Preisstau hätte sich plötzlich entladen. Zudem blieb die ökonomische Strategie Nixons weitgehend erfolglos. Trotz der von der Regierung geförderten leichten fiskalischen und monetären Expansion sank die Arbeitslosigkeit von rund 6 Prozent kaum. Die interventionistische Notfallübung der Preiskontrollen erwies sich als erstaunlich langlebig, obwohl Nixon gegenüber Shultz versichert hatte, es wäre „ein Glück, daß die Kontrollen von Leuten eingeführt wurden, die nicht wirklich an sie glauben, denn sie könnten die Kontrollen in der Wiege erwürgen, falls sie zu lange leben sollten" (zit. n. Stein, 1994, S. 182). Nach Ablauf der ersten neunzig Tage wurden neue Obergrenzen für Preissteigerungen erlassen. Als infolge der expansiven Geldpolitik der Preisdruck wieder stärker wurde, nahm Nixon 1973 erneut zu einer totalen Preissperre Zuflucht. Letztlich konnten die als Übergangsmaßnahme gedachten Kontrollen erst nach zweieinhalb Jahren im April 1974 abgeschafft werden.42 Rückblickend erklärte Friedman, Nixons Einführung von Lohn- und Preiskontrollen habe „dem Land weit mehr geschadet als jede der späteren Aktionen, die zu seinem Rücktritt führten" - gemeint war der Watergate-Skandal (Friedman/Friedman, 1998, S. 383-384). Die anfängliche Begeisterung war deutlich abgekühlt, obwohl Friedman 1972 nochmals für Nixon stimmte. Später zweifelte er aber, ob seine Unterstützung für diesen jemals gerechtfertigt war (vgl. ebd., S. 387). In Reaktion auf Nixons Entscheidung, die Goldkonvertibilität auszusetzen und zeitgleich Preiskontrollen einzuführen, gründeten einige libertäre Aktivisten aus dem Umfeld der MPS

Zu den letzten Überbleibseln von Nixons Preisstopp gehörte das komplizierte System der Ölpreisregulierung mit zweierlei Preisvorgaben für heimische und ausländische Produzenten, das bis Anfang der achtziger Jahre bestand. Es hatte zur Folge, daß die amerikanische Öl-Versorgung empfindlich verknappt und damit wiederholt Energiekrisen heraufbeschworen wurden.

42

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 343

Ende 1971 die Libertarian Party (LP).43 Sie vertrat die Forderung nach totaler wirtschaftlicher und individueller Freiheit. Die Steuern sollten dramatisch gesenkt, der Staat auf ein Minimum reduziert werden. 44 Die oft als exzentrisch angesehene LP konnte bei Wahlen in den späteren siebziger Jahren, auch aufgrund der finanziellen Unterstützung des Milliardärs Charles Koch, einige Achtungserfolge erzielen, besonders in Kalifornien. Unter den Bedingungen des amerikanischen Mehrheitswahlrechts kam sie jedoch nie über einen Stimmenanteil von 1 oder 2 Prozent hinaus und war weit davon entfernt, den beiden großen Parteien ernsthafte Konkurrenz zu machen. Wichtig war sie als Katalysator der libertären Bewegung. Nicht wenige der jüngeren marktwirtschaftlichen Aktivisten, die später Reagan unterstützten, sammelten in der LP erste politische Erfahrungen, darunter Edward Crane und David Boaz, beide später MPS-Mitglieder und 1977 Gründer des einflußreichen „Cato Institute" (vgl. Kelley, 1997, S. 109-143).

5. Großbritannien: Der erstarrte Konsens Auch in Großbritannien erlebten die dortigen Mitglieder und Sympathisanten der MPS Anfang der siebziger Jahre eine herbe Enttäuschung. Die politische und ideologische Ausgangslage stellte sich dort noch schwieriger dar als in den Vereinigten Staaten: Parteiübergreifend hatte sich ein keynesianisch-wohlfahrtsstaatlicher Konsens über das Land gelegt. Die nach dem Krieg vollzogene Verschmelzung von sozialistischer und konservativer Wirtschafts- und Finanzpolitik zum „Butskellismus" definierte als oberstes Ziel die Sicherung von Vollbeschäftigung durch expansive Budgetpolitik mit stetig wachsender Verschuldung. Allgemein akzeptiert war zudem die Tatsache der „mixed economy" und die gezwungenermaßen enge Kooperation mit den Gewerkschaftsverbänden. Der konservative Premierminister Harold Macmillan, der die Tories auf einen progressiven „Mittelweg" einschwor, wie auch der ab 1964 amtierende sozialistische Premier Harold Wilson waren überzeugt, daß der Dreiklang von keynesianischer Finanzpolitik, kollektivem Wohlfahrtsstaat und starker

Sie bezog ihre ideologische Inspiration von den klassischen liberalen Philosophen, besonders Locke und Smith. Der greise Mises, sein Schüler Rothbard und die Autorin Ayn Rand waren die intellektuellen Leitsterne der Partei, für die auch David Friedman, der Sohn Milton Friedmans, gewisse Sympathien hatte. Erster Präsidentschaftskandidat 1972 war John Hospers, der Dekan der philosophischen Fakultät der University of South California, der einen verschwindend geringen Stimmenanteil erhielt. Allerdings gab es eine kleine Sensation, als der republikanische Wahlmann Roger Lea MacBride, ein radikaler Liberaler, Nixon seine Stimme verweigerte und sie Hospers gab. Der Jurist und Femsehproduzent MacBride, der bald darauf Mitglied der MPS wurde, trat 1976 als Kandidat der LP an. Das Mitteilungsblatt der MPS verkündete nicht ohne Stolz, daß nun erstmals ein Mitglied der Gesellschaft für das Amt des Präsidenten kandidiere (vgl. MPS-Navs/etter 8, Juli 1975, in: LA, MPS-Slg.). 43

Der anarchistische Flügel der Libertären wollte den Staat am liebsten gleich ganz abschaffen. Ein Streitpunkt war die Frage der nationalen Verteidigung. Rothbard und seine Anhänger glaubten, auch militärische und polizeiliche Sicherheit könne privatwirtschaftlich erbracht werden. Der Philosoph Robert Nozick, den Rothbard zu libertären Ideen bekehrte, beschrieb in seinem 1974 erschienen Buch „Anarchy, State and Utopia", wie aus einer Vielzahl konkurrierender privater Sicherheitsanbieter schließlich ein dominanter Anbieter entstehen könne, der als Minimalstaat legitim sei (vgl. Nozick, 1974). Vgl. zu der Problematik auch Hoppe (2003). Dagegen glaubten andere radikallibertäre Ökonomen wie David Friedman eher, daß Verteidigung ein öffentliches Gut und nur kollektiv zu stellen sei. Viele US-Libertäre vertraten auch in gesellschaftspolitischen Fragen ein absolutes Laissez-faire; es gab aber auch jene, die eine eher traditionelle Moral als Grundlage der Marktwirtschaft für wichtig hielten. 44

344 • Wandlungen des Neoliberalismus Gewerkschaftsmacht die richtige ökonomische Strategie für das Land sei. Störend in diesem Bild waren allerdings die höheren Inflationsraten als in anderen westlichen Industrienationen und, daraus folgend, die wiederholten Zahlungsbilanzkrisen. Steigende Kosten bei geringem Produktivitätsfortschritt führten zu einer sinkenden Wettbewerbsfähigkeit der britischen Industrie, deren Weltmarktanteil kontinuierlich schrumpfte.

5.1. Das IEA sammelt Verbündete Vereinzelt meldeten sich daher Stimmen, die einen radikalen Kurswechsel anmahnten. Das von Antony Fisher gegründete Institute of Economic Affairs propagierte unermüdlich einen Rückbau des Staates. Mitte der sechziger Jahre hatte sich das Büro des IEA im Bezirk Westminster nahe dem Parlament als Anlaufpunkt einer kleinen, doch wachsenden Schar marktwirtschaftlich orientierter Wissenschafder, Publizisten und Politiker fest etabliert. Hier liefen die verschiedenen Fäden zusammen, die Arthur Harris und Arthur Seidon geschickt auch über die MPS zu knüpfen verstanden (vgl. Cockett, 1994, S. 159-199). Offiziell bemühte sich das als gemeinnützig anerkannte IEA um einen parteipolitisch neutralen Standpunkt. Zu seinen Veranstaltungen lud es Vertreter sowohl der Konservativen wie auch von Labour oder den Liberalen ein. Letztere zeigten aber nur vereinzelt Interesse, mehr Nachfrage bestand bei den Tories. Anfangs war Enoch Powell das einzige politische Schwergewicht, das sich offen und affirmativ zu den Ideen des IEA bekannte. Er galt aber in seiner Partei als Sonderfall, wurde zwar ob seiner rhetorischen und intellektuellen Begabungen geschätzt, hatte aber nur eine kleine Anhängerschar, wie seine kläglich gescheiterte Kandidatur gegen Macmillan um das Amt des Parteiführers 1965 zeigte. Etwas später als Powell streckten noch einige andere Politiker der Konservativen ihre Fühler zum IEA aus. Zu den Nachwuchsleuten, die regelmäßig Ratschlag und Anregung beim IEA suchten, gehörte der 1918 geborene Keith Joseph, Wohnungsbauminister in Macmillans letztem Kabinett. 45 Kurz nach der Wahlniederlage der Tories 1964 tauchte er erstmals beim IEA auf und begegnete den dort propagierten radikalen Konzepten zunächst mit dem ungläubigen Einwand, ob sie denn auch „politisch praktikabel" seien (vgl. Denham/Garnett, 2001, S. 137-139). Hatte Joseph sich in frühen Reden als Befürworter von mehr wirtschaftlicher Freiheit profiliert, so erhielt seine bislang eher intuitive Argumentation durch das IEA eine wissenschaftliche Bestätigung und Fundierung. Über Harris kam er später auch mit der MPS in Berührung, an deren Treffen er später mehrmals teilnahm.

Der Sohn eines zu Reichtum gekommenen jüdischen Bauunternehmers und späteren Lord Mayors von London war in der Konservativen Partei ab Mitte der fünfziger Jahre rasch die Karriereleiter emporgestiegen. Zur Biographie vgl. Halcrow (1989) und die materialreiche Studie von Denham/Garnett (2001). Seine Politik als Wohnungsbauminister unterschied sich wenig vom etatistischen Zeitgeist. An eine Aufhebung der Mietpreisbindung, die den privaten Wohnungsmarkt seit dem Zweiten Weltkrieg fesselte und damit das Immobilienangebot verknappte, mochte er nicht denken. Statt dessen bemühte sich Joseph um eine staatliche Lösung der beklagten Wohnungsnot, indem massiv Steuergelder in die Errichtung von Hochhaussiedlungen gepumpt wurden (vgl. Halcrow, 1989, S. 2932). Später schärfte sich sein kritisches Gespür für die Fragwürdigkeit gutgemeinter Interventionen. 45

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 345 Interesse an den Aktivitäten der Gesellschaft zeigte auch Geoffrey Howe, der bereits 1960 Kontakt zum damaligen MPS-Sekretär Hunold aufnahm (Howe an Hunold, 25.7.1960, in: HIA, MPS-Slg. 41). 46 Zur selben Zeit trat er in regen Austausch mit dem IEA. Auf Vorschlag Harris' wurde er 1968 zur Mitgliedschaft in der MPS eingeladen. Im Schlepptau von Joseph und Howe stieß gegen Mitte der sechziger Jahre auch die jüngere Abgeordnete Margaret Thatcher erstmals zu den Veranstaltungen des IEA, von dessen Philosophie sie angetan war. Weiter gehörten zur kleinen Gruppe marktwirtschaftlich ausgerichteter Tories der Parlamentsabgeordnete John Biffen sowie Diana Spearman, die in der Parteizentrale der Konservativen arbeitete. Einen schweren Rückschlag erlitt die Sache der wirtschaftsliberalen Fraktion, nachdem Powell von der Parteispitze um Heath aufgrund einer von der Presse als „rassistisch" skandalisierten, einwanderungskritischen Rede vom April 1968 politisch kaltgestellt wurde. Mit dem wortgewaltigen, ebenso volkstümlichen wie hochgebildeten Politiker verloren die britischen Wirtschaftsliberalen ihr wichtigstes Zugpferd. Powell verblieb noch sechs Jahre in der Partei, war aber weitgehend isoliert. Heath gelang es, ihn als extremistischen Außenseiter zu stilisieren, dessen Ansichten zur Einwanderung, zu Europa wie auch zur Wirtschaft jenseits jeglicher Vernunft lägen. Ausgerechnet im Jahr 1968, als Powell aus dem Schattenkabinett gedrängt wurde und der Trubel der Neuen Linken alle Aufmerksamkeit absorbierte, warnte David Collard von der Fabian Society vor einem Erstarken der vom IEA vertretenen Richtung. „The New Right" nannte er sie im Titel seines „Fabian Tract 387", ein zwar vergröberndes, doch im britischen Kontext verständliches und dauerhaftes politisches Etikett. Der junge Dozent von der Universität Bristol beobachtete mit Sorge, wie die um das IEA gescharten Wissenschafder und Publizisten bei Teilen der Politik und der Medien auf offene Ohren stießen. Collard erkannte, welch geistige Opposition sich hier zu formieren begann und beklagte ein Versäumnis der überwiegend keynesianisch orientierten Wirtschaftswissenschaft: „Die Mehrheit der akademischen Ökonomen hat die Neue Rechte nicht ernst genommen", schrieb er. Eine fachliche Auseinandersetzung mit ihren Ideen fehle; dies habe dazu geführt, daß „Gegenargumente meist bloß von Instinkten, Gefühlen und einem vagen Abscheu gegen das Profitmotiv" geleitet seien. Dabei, so das widerwillige Eingeständnis des Autors der Fabian Society, verdiene die „Neue Rechte" durchaus Respekt „für die Qualität, die Konsistenz und die Schärfe ihres Ansatzes" (Collard, 1968, S. 1 bzw. 5).

5.2. Enttäuschung mit Heath und die „britische Krankheit" Überraschend konnte 1970 der konservative Parteiführer Edward Heath den sozialistischen Premierminister Wilson ablösen. Im Wahlkampf hatte er sich entschlossen gezeigt, ernsthafte Anstrengungen zur Bekämpfung der Inflation zu unternehmen. Der Kampf gegen die

Der junge Anwalt, der 1964 erstmals einen Sitz im Unterhaus eroberte, war in der „Bow Group" innerhalb der Konservativen Partei aktiv, einer ideologisch recht heterogenen Vereinigung, deren Mitglieder zum Teil marktwirtschaftlichen Alternativen jenseits des keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsenses gegenüber aufgeschlossen waren. Besonderes Interesse zeigte Howe an nicht-etatistischen Konzepten in der Gesundheits- und Sozialpolitik und versuchte, seine unorthodoxen Vorschläge mit kurzen Schriften und Presseartikeln in die öffentliche Diskussion einzubringen (vgl. Cockett, 1994, S. 169-171). 46

346 • Wandlungen des Neoliberalismus

steigenden Preise sowie für solide Finanzen habe nun Priorität, verkündete Heath den Wählern. Um dies zu erreichen, wollte er das Ausgabenwachstum verlangsamen. Zudem versprach er, die Machtfülle der Gewerkschaften zu beschränken, deren aggressiveren Lohnforderungen er inflationstreibende Wirkung unterstellte. Allgemein präsentierten sich die Konservativen als Partei, die mehr Marktwirtschaft wagen wolle. Der Staat müsse sich zurückziehen, das wuchernde Subventionswesen beschneiden und der unternehmerischen Initiative mehr Freiraum lassen, so der Tenor einer Erklärung des Parteitags. Bei einem Treffen des Schattenkabinetts in Selsdon Park klang die der Presse übermittelte Erklärung scharf wirtschaftsliberal, worauf Wilson der Opposition radikale Wendeabsichten unterstellte. Seinem marktwirtschaftlichen Herausforderer gab er den (steinzeitlich klingenden) Spottnamen „Selsdon Man" (vgl. Geppert, 2002, S. 154-156). Keith Joseph, der nun als Guru der Marktliberalen galt, hatte durch sein offensives Vorgehen im Wahlkampf diesen Eindruck bestärkt. „We are the radicals now", lautete die Überschrift eines Artikels für den Daily Telegraph, worin er die wirtschaftspolitischen Absichten der Tories erläuterte (vgl. Halcrow, 1989, S. 43-44). Im Kreise des IEA wurde die Entwicklung aufmerksam, gar enthusiastisch verfolgt. Seidon jubelte nach Heaths Wahlsieg 1970 in einem Brief an Joseph über die Aussicht, „den Sozialismus für alle Zeit zu zerstören" (zit. n. Cockett, 1994, S. 204). Allerdings hatte Heath Erwartungen geweckt, die er nicht erfüllen sollte. Statt des in Aussicht gestellten Abbaus von Subventionen und Verkaufs von Staatsbeteiligungen lud sich die Regierung noch weitere Beteiligungen auf, etwa an dem in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Unternehmen Rolls Royce. 47 Ähnlich erlitt Heath auch Schiffbruch mit seinem Versprechen einer sparsameren Budgetpolitik. Als sich Ende 1971 die Zahl der Arbeitslosen der Marke von 1 Million näherte, vollzog Heath eine scharfe Kehrtwende hin zu einer expansiven Ausgabenpolitik. Zuvor hatte sein Finanzminister in einem Zwischenhaushalt bereits erste kurzfristige Notmaßnahmen vorgelegt, unverkennbar in der keynesianischen Hoffnung auf Nachfragestimulierung. Überzeugte Neoliberale waren entsetzt über den neuen Kurs der Regierung. Schon im August 1971 hielt das IEA seine Bedenken nicht mehr zurück und veröffentlichte eine vielbeachtete Analyse „Government and the Market Economy", eine harsche Kritik aus der Feder des Finanzjournalisten Samuel Brittan. Der LSE-Wirtschaftsprofessor und Regierungsberater Alan Walters, dem IEA seit längerem verbunden und Anfang der siebziger Jahre erstmals Gast, später engagiertes Mitglied der MPS, warnte Heath Ende 1971 in einem dramatischen Appell vor den Folgen seiner expansiven Fiskalpolitik und der mangelnden Beachtung des Geldmengenwachstums. Eine ganze Reihe von IEA-nahen Ökonomen, darunter die MPS-Mitglieder S. H. Frankel von der Universität Oxford, Harry Johnson aus Chicago, der damals an der LSE lehrte, und David Laidler von der Universität Manchester, unterzeichneten Walters' Denkschrift gegen die drohende Inflationsgefahr. 1972 übergaben sie ihre Protestnote unter dem Titel „Memorial to the Prime Minister" der Presse, was

Zunächst übernahm die Regierung einen Großteil der Schulden des angeschlagenen Motoren- und Fahrzeugherstellers, schließlich wurde die Prestigefirma ebenso wie eine Glasgower Schiffswerft komplett verstaatlicht. A n Privatisierungen hatte Heath nach dreieinhalb Jahren nur den Verkauf des Reiseunternehmens Thomas Cook und der seit dem Ersten Weltkrieg staatlich betriebenen Kneipen in Carlisle vorzuweisen. 47

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 347

einiges Aufsehen erregte. Bei Heath stieß Walters mit seiner monetaristischen Strategie zur Bekämpfung der Inflation jedoch auf taube Ohren. Schließlich mußte er kapitulieren und gab seinen Posten als Regierungsberater auf (vgl. ebd., S. 209-210). Auch in der Frage der Gewerkschaftsreform waren die Neoliberalen bald ernüchtert. Heaths groß angekündigter Industrial Relations Act von 1972 stieß auf hartnäckigen Widerstand der um ihre Pfründe besorgten Gewerkschaftsführer. 48 Diese formierten sich zu einer Kampffront gegen die Regierung. Beim Bergarbeiterstreik im Winter 1972 mußte Heath eine erste empfindliche Niederlage einstecken. Im Tarifkonflikt mit dem mächtigen TUC-Chef Jack Jones nahm er dann zum Mittel befristeter Lohn- und Preiskontrollen Zuflucht. Der Premierminister brach damit sein Wahlversprechen und ein Grundprinzip der Marktwirtschaft, doch einzig Powell stimmte gegen das Gesetz, drei weitere konservative Abgeordnete, darunter Biffen, blieben der Abstimmung fern. Als im Winter 1973/1974 die marxistischen Bergarbeiterführer Heath inmitten der Energiekrise mit Streiks erneut herausforderten, sah dieser schließlich keinen Ausweg mehr. Er suchte Rettung in vorgezogenen Neuwahlen im Februar 1974, verfehlte aber knapp eine Mehrheit gegen die stark mobilisierte Linke. 49 Nach vergeblichen Koalitionssondierungen trat der angeschlagene Premierminister zurück. Als sein Nachfolger kam erneut Wilson an die Macht, der nach wenigen Monaten einen zweiten Urnengang ausrief und Heath endgültig schlug. Sehr wenig bis gar nichts schien der Regierung Heath in ihren dreieinhalb Jahren geglückt zu sein. Die Umkehrung ihrer marktwirtschaftlichen Versprechen ins Gegenteil empfanden die Vordenker des IEA als schlimmen Verrat. 50 Nicht nur war die dramatisch angekündigte wirtschaftsliberale Wende ausgeblieben. Heaths Regierung hatte die meisten ihrer neoliberal klingenden Reformansätze bald begraben, sich dem zuvor bekämpften, keynesianischwohlfahrtsstaatlichen Konsens gebeugt und den etatistischen und interventionistischen Kurs der Regierungen Macmillan und Wilson weitgehend fortgesetzt. Was der konservative Premierminister als flexible und pragmatische Reaktion auf ungünstige Umstände auslegte, sahen seine Kritiker vom IEA als eklatanten Mangel an Prinzipien. In der Tat kümmerte sich Heath nicht allzu viel um eine philosophisch oder ökonomisch konsistente Begründung seiner Politik, sondern blieb — wie so viele Tories - stolz auf seinen politischen Pragmatismus. Der vom politischen Gegner im Wahlkampf 1970 erfundene stramm kapitalistische „Selsdon Man" entsprach nicht seinen Vorstellungen.

Eigentlich hatte das Gesetz eine Reihe von Privilegien der Gewerkschaften abschaffen wollen, etwa ihre Immunität bei militanten Streiks oder die Möglichkeit, „closed shops" einzurichten und so die gesamte Belegschaft einer Firma zum Beitritt zur Gewerkschaft zu zwingen. Doch der Industrial Relaüons Act enthielt eine Menge Schlupflöcher, die Umsetzung blieb mangelhaft und wurde zudem vom Trade Union Congress (TUC) nach Kräften boykottiert. 49 Diese profitierte zudem wohl auch vom Wahlaufruf des verbitterten konservativen Rebellen Powell für Labour, der Heath wegen dessen Europapolitik abgewählt sehen wollte. Beim MPS-Treffen 1974 in Brüssel begründete Powell seine EWG-kritische Haltung: Besonders hob er dort auf die „Regionalpolitik" der Gemeinschaft ab, welche zu Umverteilungskonflikten führe und im Widerspruch zu den Prinzipien der Römischen Verträge stünde. Durch Regionalhilfen würde ausgeglichen, was interne Migration nicht schaffe, nämlich eine Egalisierung des Wohlstands innerhalb der Gemeinschaft (vgl. Powell, 1974). 48

Nach dem glanzlosen Ende der Regierung zog das IEA schon Anfang 1975 Bilanz. In einer offenen Anklage warf Harris Heath vor, insbesondere bei der Inflationsbekämpfung versagt zu haben, während sein Co-Autor Brendon Sewill vom Conservative Research Department ihm hier zustimmte, ansonsten aber eher milder urteilte (vgl. Harris/Sewill, 1975). 50

348 • Wandlungen des Neoliberalismus

Aus Sicht der Neoliberalen hatten es die Konservativen versäumt, eine grundsätzliche Klärung ihres wirtschaftspolitischen Standpunkts vorzunehmen. Insbesondere beklagten sie ein Versagen bei der Bekämpfung der Inflation, die nach dem Olpreisschock beängstigend anzog. 1975 erreichte die britische Teuerungsrate in der Spitze sogar mehr als 20 Prozent. Die entscheidende Bedeutung einer restriktiven Geldpolitik war weder Heath noch den meisten Konservativen voll bewußt; sie sahen die Verantwortung eher bei übermäßigen Lohnforderungen der Gewerkschaften. Obwohl einige Spitzenpolitiker der Tories den Staatsanteil zu hoch fanden, identifizierten sich viele noch immer mit der „gemischten Wirtschaft" und scheuten einen radikalen Bruch mit dem keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens. Heath selbst war an ökonomischer Theorie wenig interessiert. Zwar hatte er einmal Mitte der fünfziger Jahre an einem Treffen von MPS-Mitgüedern im Merton College in Oxford teilgenommen. Auf eine ideologische Affinität zum Neoliberalismus konnte daraus aber nicht geschlossen werden. Sein Interesse galt in erster Linie dem eigenen Machterhalt, nicht einer abstrakten wirtschaftstheoretischen Vision. Vom Standpunkt der IEA-Vordenker besonders enttäuschend blieb das Schweigen der Exponenten des marktwirtschaftlichen Flügels in Heaths Regierung. Namentlich Sozialminister Joseph, Bildungsministerin Thatcher und Handelsminister Howe hatten die interventionistischen Kehrtwenden der Regierung geduldig mitgetragen. Alle Versuche seitens Harris' und Seidons, diese drei an die neoliberale Linie zu erinnern, waren vergebens gewesen. Howe, zwar engagiert und bemüht, doch politisch noch recht unerfahren, erwies sich als treuer Parteisoldat und Vollstrecker der Kabinettsbeschlüsse. Zunächst rang er als zweiter Kronanwalt mit den juristischen Feinheiten des Industrial Relations Act, als Handelsminister oblag es ihm dann, ab November 1972 die marktwidrige Lohn- und Preispolitik zu überwachen. 51 Mut zum offenen Widerspruch fand auch Joseph nicht, der als Sozialminister den wohlfahrtsstaatlichen Koloß des NHS mit rund 800.000 Mitarbeitern zu lenken hatte. 52 Seidon, der die Entwicklung vom I E A aus verfolgte, hielt dem Minister in energischen Schreiben vor, er sei zu zaghaft und wage es nicht, die Sozialbürokratie herauszufordern. Anfang 1972 gab Seidon entnervt auf (vgl. Cockett, 1994, S. 206). Erst nach dem Ende der Regierung Heath, dann aber um so schonungsloser, fand Joseph zu einer Kritik der wirtschaftspolitischen Versäumnisse seiner Partei. Auch Thatcher, die 1970 erstmals am Kabinettstisch Platz genommen hatte, dort aber nicht besonders auffiel und sich bald in ihr Bildungsministerium vergrub, machte sich bald schwere Vorwürfe, dem wirtschaftspolitischen Schlingerkurs der Regierung Heath nicht energisch widersprochen zu haben. „Seine Irrtümer — unsere Irrtümer, denn wir machten ja alle mit —

51 Seine eigene Darstellung seiner Rolle in Heaths Regierungszeit erweckt den Eindruck naiver Unwissenheit. Er habe bei seiner Berufung zum Minister für Handel und Verbraucher kaum gewußt, was seine Aufgabe sein würde. Kurz darauf habe er auf Heaths Geheiß die „beinahe diktatorische Kontrolle über die Preise der gesamten Wirtschaft" übernehmen müssen, schrieb er in seinen Memoiren. Nur sehr zaghaft habe er es gewagt, den Premier an „unsere ursprüngliche frei-marktliche Philosophie" zu erinnern (Howe, 1994, S. 70 u. 75-76).

Hatten die Konservativen vor der Wahl gewisse marktwirtschaftliche Korrekturen am staatlichen Gesundheitssystem erwogen, etwa mehr finanzielle Eigenbeteiligung der Patienten, so verzichteten sie angesichts des zu erwartenden öffentlichen Widerstands darauf. Joseph tastete die grundsätzlichen Prinzipien des sozialistischen Gesundheitssystems nicht an; den Gedanken an eine Privatisierung von Krankhäusern wies er von sich. Zwar verfügte er hier und dort Kürzungen, doch unter dem Strich stieg die britische Sozialquote in seiner Amtszeit: von 23,4 Prozent auf 27,3 Prozent (vgl. Halcrow, 1989, S. 47-50).

52

Der Kampf gegen den keynesiariischen Konsens • 349

haben der Konservativen Partei und dem Lande ungeheuren Schaden zugefügt", gestand sie rückblickend ein (Thatcher, 1995b, S. 234). Die Regierung sei an Kompromissen mit dem sozialistischen Zeitgeist gescheitert, so ihr Urteil. Die Erfahrung der Jahre 1970 bis 1974 habe sie schließlich gelehrt, „daß eine von konservativen Politikern betriebene sozialistische Politik . . . noch katastrophaler ist als eine von Labour-Politikern betriebene". Denn kollektivistisches Denken, das nicht einmal von egalitärem Idealismus befeuert sei, erschien ihr als „höchst reizloses Credo" (ebd., S. 235). Seit Anfang der siebziger Jahre verstärkte sich in Teilen der britischen Öffentlichkeit ein akutes Krisenbewußtsein, das über frühere Zweifel hinausging (vgl. Geppert, 2002, S. 197211). Das Schlagwort von der „britischen Krankheit" kam auf. Langsam begriff ein Massenpublikum die Realität des relativen wirtschaftlichen Niedergangs der einst weltweit führenden Industrienation. Großbritannien, der „kranke Mann Europas", habe den Anschluß an die ökonomische Entwicklung verpaßt. Verglichen mit ihren kontinentaleuropäischen Konkurrenten stellte sich seine Wirtschaft tatsächlich als wenig produktiv und innovativ dar. Insbesondere die westdeutsche Konkurrenz hatte rasant aufgeholt und schon Anfang der siebziger Jahre die britischen Produktivitätsraten überflügelt. Entsprechend fiel der britische Weltmarktanteil für industrielle Güter. 53 Hatten die Briten im Jahr 1950 nach der Schweiz noch das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Westeuropa erzielt, waren sie nun von sechs Nationen überholt worden und lagen bloß noch im oberen Mittelfeld. Von allen westeuropäischen Staaten war die britische durchschnittliche Wachstumsrate in den Jahren 1948 bis 1973 die niedrigste (vgl. Crafts, 1995, S. 435). „Was ist die britische Krankheit . . . ? " fragte Arthur Shenfield, damals MPS-Präsident, bei der Brüsseler Tagung der Gesellschaft im September 1974. E r stellte besonders der organisierten Arbeiterschaft und ihren Führern ein vernichtendes Zeugnis aus: „Selbstzerstörerische Widerspenstigkeit der Gewerkschaften, belegt durch exzessive Lohnforderungen, Widerstand gegen den Produktivitätsfortschritt, die Häufigkeit von Streiks und Arbeitsverlangsamungen, die unreflektiert feindselige Einstellung der Beschäftigten gegen die Arbeitgeber kombiniert mit äußerster Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen der Gemeinschaft oder anderen Arbeitern oder gegenüber ihrem eigenen langfristigen Interesse", diagnostizierte er. All dies führe „zu einer beklagenswert schlechten nationalen Wirtschaftsleistung" (Shenfield, 1974, S. 1). Das Land verkomme vor den Augen seiner Bürger. Zwar gebe es Symptome der Krankheit in ähnlicher Weise auch anderswo in der westlichen Welt. Aber Großbritannien weise alle Probleme, von der Gewerkschaftsmilitanz über die Wirtschaftsstagnation bis hin zur Inflationsrate, in ihrer schlimmsten Ausprägung auf, warnte Shenfield. E r ging sogar so weit, ernste Zweifel an der politischen Stabilität des Landes und am Uberleben der Demokratie zu äußern, falls der Niedergang anhalte. Sollten Inflation und Arbeitslosigkeit weiter steigen, sagte Shenfield ein apokalyptisches Szenario voraus: Von der Linken geschürte gewalttätige Arbeiterunruhen und eine totale wirtschaftliche Blockade könnten zum Zusammenbruch von Recht und Ordnung führen.

Hatte der britische Weltmarktanteil nach dem Zweiten Weltkrieg noch mehr als 25 Prozent betragen, schrumpfte er auf 16,5 Prozent im Jahr 1960 und weiter auf 10,8 Prozent im Jahr 1970. Ausdruck und Folge der britischen Schwäche war auch der im internationalen Vergleich markante Abbau von Arbeitskräften im industriellen Sektor (vgl. Crafts, 1991, S. 83-85). 53

350 • Wandlungen des Neoliberalismus Das öffentliche Leben käme zum Erliegen, worauf als Reaktion eine autoritäre Wende möglich sei mit strikten ökonomischen wie politischen Kontrollen und einer Einschränkung bürgerlicher Freiheiten wie in Chile. Zur chaotischen Entwicklung des südamerikanischen Landes bestehe „eine exakte Parallele", gab Shenfield zu Protokoll (ebd., S. 8). Seine abschließenden Worte gaben Zeugnis von der Verzweiflung vieler britischer Neoliberaler: „Meine lieben Gefährten vom Mont Pèlerin, das Bild, das ich Euch vorgelegt habe, ist dunkel und deprimierend. Wir befinden uns noch auf dem Weg zur Knechtschaft, obwohl sich das Pflaster in vieler Hinsicht von dem unterscheidet, das Professor Hayek 1944 erkannte. ... Wenn Britannien das Ende dieses Weges erreicht, wird dies die ganze Welt erschüttern. Wir in dieser Gesellschaft wissen, was getan werden muß, um denselben Weg zurückzugehen. Mit wenig Zuversicht, doch vielleicht ein wenig unauslöschlicher Hoffnung warte ich auf den schallenden Ruf .Fertig zur Wende!'" (ebd., S. 11).

6. Chile: Ein warnendes Beispiel Mit dem Stichwort Chile war ein wunder Punkt der politischen Auseinandersetzung der frühen siebziger Jahre getroffen. Sowohl die Neoliberalen als auch die Linke sahen das Schicksal des südamerikanischen Landes als Menetekel, freilich aus ganz unterschiedlichen Gründen. Die internationale Linke betrauerte den Abbruch des chilenischen sozialistischen Experiments im September 1973 durch die Militärs um General Augusto Pinochet. Dagegen datierten die marktwirtschaftlich orientierten Ökonomen der MPS den Beginn des Dramas drei Jahre früher auf die Wahl des Linksradikalen Salvador Allende, der einen „demokratischen Weg zum Sozialismus" versprochen, aber das Land ins Chaos und an den Rand eines Bürgerkriegs geführt hatte. Obwohl Allende im September 1970 nur 36 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten und die „Unidad Populär", das ihn stützende Parteienbündnis aus Sozialisten, Kommunisten und Radikalen, im Parlament weniger Sitze hatte als Christdemokraten und Nationalkonservative, glaubte der marxistische Politiker, das Mandat für eine revolutionäre Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft zu besitzen. 54 Hatte Allende für die Verstaatlichung der großen Bergbaugesellschaften im Juli 1971 noch eine parlamentarische Mehrheit erhalten, so agierte er bei der Sozialisierung weiterer heimischer Unternehmen am Parlament vorbei, gestützt auf fragwürdige präsidiale Vollmachten. Die linksbürgerlichen Christdemokraten gingen auf Distanz zu Allende, dessen Versprechen, die demokratische Verfassung zu respektieren, sie anfangs noch vertraut hatten. Allgemein verschärfte sich das politische Klima. Innerhalb der Koalition drängten die radikaleren Kräfte auf eine revolutionäre Machtübernahme durch das Proletariat. Bürgertum und Mittelstand versuchten Gegenwehr mit Demonstrationen und Boykotts. Die Auseinandersetzung in der Presse nahm einen immer schärferen Ton an, von den linken und rechten Rändern des politischen Spektrums meldeten sich bewaffnete Gruppen mit Attentaten — insgesamt herrschte eine Atmosphäre der Angst und Verunsicherung.

Wichtigste Programmpunkte waren die Verstaatlichung der großen Kupferminen, die Enteignung von privaten Banken und Versicherungen, eine Bodenreform zur konsequenten Kollektivierung aller großen und mitderen landwirtschaftlichen Betriebe sowie eine massive Ausweitung der staatlichen Arbeitsprogramme und Sozialleistungen. 54

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 351 Im ersten Jahr der sozialistischen Regierung war die wirtschaftliche Entwicklung noch recht gut gewesen, dann setzten mit der großangelegten Verstaatlichungskampagne aber massive Probleme ein. In den Kupferunternehmen, die vor 1970 mehr als 80 Prozent der chilenischen Devisen verdienten, brach die Arbeitsproduktivität massiv ein, zwischen 19 und 28 Prozent in den fuhrenden Minen, nachdem qualifiziertes Management und Techniker vertrieben und Führungsposten mit politischen Gefolgsleuten der Linksregierung besetzt worden waren. Zugleich sank die Arbeitsmoral unter der nach politischen Vorgaben aufgestockten Belegschaft, wilde Streiks und Konflikte um Lohnerhöhungen und Arbeitsbedingungen nahmen zu. In einer Zeit sinkender Kupferpreise brachte dies eine dramatische Verschlechterung der Rentabilität (vgl. Collier/Sater, 1996, S. 334-337). Die unter Allende radikal beschleunigte Landreform zeitigte ebenfalls katastrophale Ergebnisse. 55 In kurzer Zeit lag ein Teil der Anbaufläche brach. Die Ernte wurde entsprechend geringer, bei Weizen um mehr als ein Drittel, bei Kartoffeln um mehr als ein Siebtel. Schon 1972 herrschte Knappheit an Lebensmitteln, deren Preise staatlich niedrig festgeschrieben waren, so daß die Regierung aus dem Ausland in großem Umfang zukaufen und dafür 56 Prozent ihrer Exporteinnahmen aufwenden mußte (vgl. ebd., S. 340). Um die wachsenden Ausgaben zu bewältigen, betrieb die Regierung Allende eine extrem expansive Geld- und Fiskalpolitik. Die Haushaltsdefizite explodierten und wurden durch Schulden im Ausland abgedeckt.56 Der verstaatlichte Sektor, der bis 1973 rund 80 Prozent der Wirtschaft umfaßte, rutschte immer tiefer in die roten Zahlen. Er verschlang schließlich mehr als 60 Prozent des öffentlichen Budgets. Die Regierung stopfte die Löcher mit frischem Geld der Notenbank. Trotz des offiziellen Preisstopps zog daraufhin die Inflationsrate dramatisch an. Lag sie im ersten Jahr nach Allendes Amtsantritt noch bei 55 Prozent, stieg sie im folgenden Jahr schon auf rund 300 Prozent (vgl. ebd., S. 344-346). Bis Ende 1972 gerieten sowohl der staatliche Sektor als auch der verbliebene private Sektor an den Rand des Zusammenbruchs. 1973 herrschte finanzielles Chaos: Die Inflationsrate, genährt durch ein kreditfinanziertes staatliches Budgetdefizit in Höhe von 24 Prozent des BIP, betrug im Jahresdurchschnitt mehr als 600 Prozent, kurzzeitig näherte sie sich der Marke von 1000 Prozent. Akute Versorgungsengpässe und hektisch eingeführte Rationierungsmaßnahmen sorgten für Unruhe in der Bevölkerung; in immer mehr Betrieben ruhte die Arbeit. Streiks und Boykotte wurden alltäglich, ebenso gewalttätige Zusammenstöße bei Demonstrationen. In dieser Situation griff das Militär ein, von großen Teilen der Bevölkerung und der Opposition dazu ermutigt. Der als loyal geltende, noch kurz zuvor von Allende zum Oberbefehlshaber beförderte Augusto Pinochet putschte am 11. September 1973 gegen die gewählte sozialistische Regierung. Der Präsident verübte Selbstmord, führende Politiker der sozialistischen und kommunistischen Parteien emigrierten vor der nun einsetzenden Ver-

Anfangs war die Beschlagnahmung aller Güter von mehr als 80 Hektar gesetzlich beschlossen und durchgeführt worden, bald kam es zu eigenmächtigen Besetzungen von Farmen durch lokale Gruppen. Die verstaatlichten Betriebe wurden als landwirtschaftliche Kollektive umgestaltet, jedoch von den neuen Verwaltern äußerst ineffizient geführt. Angesichts der mangelnden Sicherheit ihrer Eigentumsrechte sank auch bei den verbleibenden privaten Landwirten die Produktionsbereitschaft. Nachdem nordamerikanische Institutionen das Regime Allendes nicht weiter finanzieren wollten, sprangen die Sowjetunion und China ein, auch westeuropäische Banken gewährten weiterhin Kredite. 55

352 • Wandlungen des Neoliberalismus folgung. Weltweit gab es darauf, besonders in der linksgerichteten Presse, die das chilenische Experiment eines „demokratischen Wegs zum Sozialismus" mit Wohlwollen begleitet hatte, einen Aufschrei der Empörung. Die von Militärs und Spezialeinheiten verübten schweren Menschenrechtsverletzungen wurden zu Recht angeprangert, teilweise aber auch übertrieben. So verkündete „Radio Moskau" die Zahl von 700.000 Toten in zwei Tagen nach dem Putsch (vgl. ebd., S. 360). Information und Propaganda waren nur noch schwer zu unterscheiden. Eine Protestwelle rollte um den Globus, und über das Pinochet-Regime wurde eine Art moralischer Bann verhängt. 57 Die Erwartungen der chilenischen Bevölkerung richteten sich auf eine Uberwindung der Wirtschaftskrise. Allerdings hatten die nun regierenden Militärs anfangs kaum eine Vorstellung, welche Maßnahmen sie dazu ergreifen sollten. Als wirtschaftspolitische Berater stellte sich der neuen Staatsspitze eine Gruppe von marktliberalen Ökonomen zur Verfügung, angeführt von Sergio de Castro. Sie wurden „Chicago Boys" genannt, da viele von ihnen ihre akademische Ausbildung im Chicagoer Graduiertenprogramm abgeschlossen hatten. Schon seit Mitte der fünfziger Jahre gab es eine Kooperation der Universität Chicago mit der Katholischen Universität in Santiago de Chile. 58 So konnten ab 1957 im Rahmen dieses von MPS-Mitglied Gregg Lewis koordinierten Austauschs etwa hundert Chilenen in Chicago studieren und meist auch promovieren. Betreut wurden sie vor allem von Arnold Harberger. 59 Sie belegten dort Kurse besonders in MikroÖkonomie und Geldtheorie, die stark von Friedmans Lehren geprägt waren (vgl. Valdes, 1995, S. 137-158). Bei ihrer Rückkehr nach Chile übernahm eine Reihe dieser „Chicago Boys" selbst akademische Posten. De Castro, der zu den ersten Austauschstudenten gehört hatte, stieg 1965 in der neuen Wirtschaftsfakultät der Katholischen Universität von Santiago zum Dekan auf und prägte fortan deren Ausrichtung. Die sich gegen akademische und politische Widerstände langsam etablierende marktliberale Schule in Chile bildete bis Ende der sechziger Jahre ein Netzwerk, das weiterhin intensive Kontakte mit Chicago pflegte (vgl. ebd., S. 162-200). Die Ideen der „Chicago Boys" begannen, auf ganz Lateinamerika auszustrahlen, wo sich akademische Außenposten und Think Tanks bildeten. 60 Ein Feld zur Erprobung der markt-

Tatsächlich war bei vielen westlichen Intellektuellen die Trauer über den Abbruch des sozialistischen Experiments mindestens so groß wie die Empörung über Menschenrechtsverletzungen, wie sie auch in anderen südamerikanischen Diktaturen zu beklagen waren. Mitte der siebziger Jahre gab es spektakuläre Attentate auf chilenische Exilanten wie General Carlos Prats und Orlando Letelier. Die anhaltende Verfolgung von Oppositionellen im Lande kostete nach Schätzungen etwa 3000 Menschenleben. Vergleichbare Opferzahlen, etwa auf Kuba, wo seit den sechziger Jahren zwischen 7000 und 10000 Menschen erschossen worden waren, riefen bei Gruppen wie Amnesty International weit schwächeren Protest hervor. 58 Das von Theodore W. Schultz ausgehandelte Programm war mit Hilfe der staatlichen amerikanischen International Cooperation Administration ins Leben gerufen. Deren Wunsch war es, zum einen in Entwicklungs- und Schwellenländern die höhere Bildung zu verbessern, zugleich aber auch einem weiteren Vordringen der von den Sowjets geförderten sozialistischen Wirtschaftstheorie entgegenzuwirken, die auch die damalige UN-Entwicklungsideologie unter Raul Prebisch inspirierte (vgl. Valdés, 1995, S. 81-126). ! 9 Harberger war mit zahlreichen MPS-Mitgliedern befreundet, trat aber erst Jahrzehnte später, 1994, der Gesellschaft bei. 60 Zu den frühesten lateinamerikanischen neoliberalen Institutionen gehört das Instituto de Investigaciones Sociales y Económicas (IIES) von Gustavo Velasco in Mexico City (gegründet 1955), das Centro de Estudios sobre la Libertad (CESL) von Alberto Benegas Lynch in Argentinien (1957) und das Centro de Estudios Economico Sociales in Guatemala City von Manuel Ayau (1959). Velasco, Lynch und Ayau wurden in den sechziger Jahren alle Mitglieder der MPS, Ayau später sogar ihr Präsident. In den siebziger und achtziger Jahren kamen noch weitere markt57

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 353

wirtschaftlichen Reformideen bot jedoch allein "Chile. Zunächst schien Pinochet, darin bestärkt von einigen Industriellen und Wirtschaftsminister Raul Säez, eher einem behutsamen Stabilisierungsansatz zugeneigt, ohne das traditionell hohe Maß an staatlicher ökonomischer Aktivität und Regulierung grundsätzlich in Frage zu stellen. Aus Sicht der „Chicago Boys" war dies zu wenig. Nicht nur die drei Jahre des sozialistischen Experiments galten ihnen als Irrweg, sondern die gesamte protektionistische und interventionistische Wirtschaftspolitik seit den dreißiger Jahren, als der schleichende Niedergang des einstmals zu den wohlhabendsten Ländern in Südamerika zählenden Chile begonnen hatte. Die Merkmale des damals eingeschlagenen Wegs beschrieb Rolf Lüders, Nachfolger von D e Castro als Dekan der Wirtschaftsfakultät der Katholischen Universität von Santiago, 1980 in einem Vortrag vor der MPS: Staatlich geplante Importsubstitution, staatlich gelenkte Investitionen, staatlich festgesetzte Preise und Löhne sowie staatlich kontrollierte Zinsen und Kapitalmärkte. Diese umfassende Regulierung war nach Meinung der „Chicago Boys" ursächlich für das schwache chilenische Wachstum (vgl. Lüders, 1980, S. 1-8). Nachdem einige der „Chicago Boys" in die staatliche Planungsbehörde O D E P L A N berufen worden waren, drängten sie noch im Oktober 1973 auf eine Freigabe der Preise. Das Ende fast aller Preiskontrollen sollte ein wichtiger Schritt zur Wiederherstellung einer Marktwirtschaft sein, zudem begann die Regierung mit ersten Rückübertragungen verstaatlichter Unternehmen. Weiter geschah aber in den ersten anderthalb Jahren wenig. Schien das Schlimmste nach der Krise zunächst vorbei, so wurde bald aber auch Chiles Wirtschaft vom Olpreisschock niedergeworfen, zudem begann der Kupferpreis auf dem Weltmarkt zu sinken und die Exporterlöse schrumpften dramatisch. 1975 brach die Konjunktur stark ein, die Zahl der Arbeitslosen, zuvor teilweise durch staatliche Beschäftigungsprogramme noch verdeckt, schnellte in die Höhe. Lag die Erwerbslosenquote 1974, kurz nachdem die Militärregierung die Verantwortung übernommen hatte, bei rund 9 Prozent, so stieg sie binnen eines Jahres auf 14,5 Prozent. Auch die Inflation hatte die Regierung keineswegs unter Kontrolle gebracht: Zwar war sie seit dem Höchststand von 1973 etwas gebremst, betrug aber 1975 immer noch mehr als 300 Prozent. Hier lag nach Meinung führender Neoliberaler wie Friedman, dem Lehrer der „Chicago Boys", das fundamentale Hindernis für eine rasche Rückkehr zu Marktwirtschaft und mehr Wachstum. Gemeinsam mit Harberger besuchte er im März 1975 auf Einladung der von Lüders geführten chilenischen BHC-Bank das Land, hielt dort Vorträge und machte sich bei Gesprächen mit Geschäftsleuten, Wissenschaftlern und Regierungsvertretern ein Bild der Lage. Auch mit Pinochet hatten Friedman und Harberger eine knapp einstündige Unterredung. Getreu seinen monetaristischen Überzeugungen drängte Friedman den General zu einer scharfen geldpolitischen Bremsung, einer „Schockbehandlung", um die Inflation wirkungsvoll zu bekämpfen. Nach seiner Rückkehr nach Chicago schickte Friedman noch einen längeren Brief an den General mit Vorschlägen zur monetären Stabilisierung: Primär gelte es, das durch Geldschöpfung finanzierte exorbitante Haushaltsdefizit abzubauen. Dazu sollte

wirtschaftliche Denkfabriken hinzu, so das Zuloaga Instituto in Venezuela, das Instituto de Pesquizas Económicas e Sociales von Paolo Ayres in Brasilien, das Instituto para la Libertad y la Democracia von Hernando de Soto in Peru und das Instituto de Investigaciones Económicas y Sociales von E. Altamirano in El Salvador.

354 • Wandlungen des Neoliberalismus

die Regierung sich öffentlich verpflichten, innerhalb eines Jahres die Staatsausgaben um 25 Prozent zu senken (vgl. Friedman/Friedman, 1998, S. 591-594).61 Schon vor diesem Brief war den chilenischen „Chicago Boys" die Notwendigkeit einer scharfen monetären Bremsung klar gewesen. Der als „Superminister" fungierende Finanzfachmannjorge Cauas unterstützte Friedmans Empfehlung, ebenso De Castro, der 1975 zunächst Wirtschaftsminister wurde, im Dezember 1976 von Cauas das Finanzministerium übernahm und zur zentralen Figur der ökonomischen Wende in Chile aufstieg. Nachdem die Staatsspitze grünes Licht gegeben hatte, leitete De Castro eine drastische Reduktion der Staatsausgaben ein, die geldpolitischen Zügel wurden erheblich gestrafft. Wie vorherzusehen, tauchte die chilenische Wirtschaft zunächst in eine tiefe Rezession. Als der bisher üppige Strom an staatlichen Geldern, die Quelle der Inflation, gedrosselt wurde, sank das BSP um fast 13 Prozent. Doch der Einbruch dauerte nur kurz, schon bald fand die Wirtschaft wieder festen Boden: Die Konjunktur zog an, das BSP wuchs 1976 um 3,5 Prozent, 1977 sogar um 9,9 Prozent. Zugleich zeigte der Kampf gegen die Inflation nun Erfolge: Die Inflationsrate konnte von mehr als 300 Prozent auf gut 30 Prozent gedrückt werden. Allerdings beschränkten sich die chilenischen Reformen nicht bloß auf eine geld- und fiskalpolitische Kontraktion, das Ziel war eine umfassende Belebung der Privatwirtschaft und Liberalisierung der Märkte. Dazu wurde der Staatssektor massiv abgebaut: Von den von Allende geerbten 400 staatlichen Unternehmen wurden bis Ende der achtziger Jahre rund 90 Prozent privatisiert, der größte Teil der enteigneten landwirtschaftlichen Betriebe rückübertragen oder verkauft. Zugleich beendete die Regierung die protektionistische Handelspolitik und senkte die Zölle von bislang durchschnittlich 70 Prozent auf moderate 10 Prozent. Eine unternehmerfreundliche Steuerreform, die Deregulierung der Kapitalmärkte sowie die Öffnung des Landes für ausländische Anleger bewirkten eine Explosion von Investitionen. In den fünf Jahren, die auf die „Schocktherapie" folgten, wuchs die chilenische Wirtschaft außergewöhnlich stark und stetig, durchschnittlich um mehr als 7 Prozent jährlich (vgl. Collier/Sater, 1995, S. 364-369). Gegen Ende der siebziger Jahre galt Chile in ökonomischer Hinsicht als eine ausgemachte Erfolgsgeschichte. In der MPS verfolgte man die Entwicklung mit lebhaftem Interesse. Man war zwar abgestoßen von den repressiven Zügen des Regimes, doch auch angezogen von dessen durchgreifenden Reformen. Erstaunlich war, daß bislang kaum Kontakte zu den chilenischen Neoliberalen bestanden, wie Don Lipsett in einer Notiz an Ed Feulner, damals Schatzmeister der MPS, feststellte (Lipsett an Feulner, o.D. [verm. Anfang 1980], in: HIA, MPS-Slg. 23). Die Gesellschaft hatte lediglich ein einziges Mitglied in Chile: Pedro Ibanez, ein Unternehmer und früherer Senator der inzwischen aufgelösten konservativen Partido Nacional, der sich 1973 aus der Politik zurückgezogen hatte. So wurde vor dem großen MPS-Treffen im kalifornischen Palo Alto im September 1980 die Teilnahme von sechs Gästen aus Chile diskutiert, darunter prominente „Chicago Boys", wie die Ex-Minister Pablo Baraona und Jorge Cauas sowie Carlos Caceres und Rolf Lüders. Ganz wohl war den MPS-

Seine Reise nach Chile sowie sein kurzer Kontakt mit Pinochet brachten dem Chicagoer Professor erhebliche Kritik in der Presse ein; bei späteren Vorträgen von ihm traten häufig kleinere Gruppen von Demonstranten auf, anläßlich der Verleihung des Nobelpreises an Friedman 1976 in Stockholm waren es gar 5000, die gegen ihn protestierten (vgl. ebd., S. 400-404). 61

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 355 Organisatoren dabei nicht. Eine Verbindung zu Personen, die aktuell eine offizielle Funktion in Chile bekleideten, wollten sie vermeiden (vgl. Feulner an Collin, 20.5.1980, in: ebd.). So wurde aus Sorge vor Protesten in letzter Minute der bekannte Finanzminister De Castro wieder von der Rednerliste genommen (vgl. Maitre, 1980). 62 Die fortgesetzte Ächtung, die Chile erfuhr, sahen viele MPS-Neoliberale als politisch motiviert an. Die Friedmans vermuteten dahinter eine über den Abbruch des Experiments von Allende verbitterte Linke (vgl. Friedman/Friedman, 1998, S. 398). Tatsächlich gab es linksgerichtete Organisationen, die versuchten, die chilenische Staatsführung international zu isolieren, jedoch gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen anderer Diktaturen etwa im Ostblock oder in China kaum protestierten. Die ungleiche Behandlung Chiles in der Presse erschien Hayek als „internationaler Rufmord" (vgl. Hayek, 1978). Er warnte vor einem UN-Boykott des Landes, das er im Herbst 1977 auf private Einladung hin besucht hatte. Wie auch Friedman glaubte er an eine von sozialistischer Seite gesteuerte Kampagne. Hayek nahm dabei die chilenische Wirklichkeit sehr selektiv, auf ökonomische Fortschritte verengt wahr. 63 Daß es trotz wirtschaftlicher Freiheit weiterhin an elementaren bürgerlichen Freiheiten fehlte, spielte er herunter. Drei Jahre nach dem Putsch war zwar die Gewalt gegen Oppositionelle deutlich abgeflaut, doch noch immer gab es Repressionen. Hayek umging die Problematik, indem er Verbrechen sozialistischer Staaten gegen die Untaten der antisozialistischen Junta aufrechnete. Nachdem in Polen Ende 1981 das Kriegsrecht ausgerufen worden war, schrieb er in einem Leserbrief: „Jeder Pole, der das Glück hätte, nach Chile entkommen zu können, könnte sich glücklich preisen" (zit. n. Hennecke, 2000, S. 349). Mit solcher Nachsichtigkeit gegenüber dem autoritären Regime in Chile beschädigte Hayek seine Glaubwürdigkeit als Freiheitsdenker (vgl. ebd., S. 350-351). Eine moralische Gratwanderung war auch das Regional treffen der MPS, das im November 1981 im chilenischen Küstenort Vina del Mar stattfand. Organisiert hatte es ein Komitee südamerikanischer Mitglieder unter der Leitung von Pedro Ibanez. Ein weites Feld an Themen wurde bei der viertägigen Konferenz behandelt: Es reichte von Vorträgen zur Meinungs- und Pressefreiheit, zur Bildungspolitik, zu den Problemen von Staatsunternehmen, zur Steuer- und Sozialpolitik bis hin zu ethischen Aspekten des Kapitalismus sowie zu historischen Reformerfahrungen und der Frage des richtigen konstitutionellen Rahmens der Demokratie. Als Redner und Diskutanten traten vor allem prominente amerikanische und britische Ökonomen wie Friedman, Buchanan, Tullock, Harberger, Hartwell und Shenfield auf. Unter den 230 Teilnehmern waren mehr als 140 Gäste, darunter überwiegend chilenische, aber auch viele argentinische und andere südamerikanische Geschäftsleute und Professoren. Journalisten regierungsnaher Zeitungen wie El Mercurio feierten die Konferenz in ihrem Land, das sonst von internationalen Vereinigungen als Tagungsort gemieden wurde.

Allerdings wurden De Castro und Lüders, sein Nachfolger im Finanzministerium, als Mitglied in die Gesellschaft aufgenommen (vgl. MPS-Newsletter, Februar 1983, in: LA, MPS-Slg.). 63 „Die mit Problemen der Wirtschafts- und Finanzpolitik befaßten Mitglieder der chilenischen Regierung, die ich mit wenigen Ausnahmen kennengelernt habe, sind gebildete, vernünftige und einsichtsvolle Männer, die ehrlich hoffen, daß das Land bald wieder einer demokratischen Ordnung zugeführt werden kann", schrieb er in einem kurzen Bericht (Hayek, 1978, S. 44). 62

356 • Wandlungen des Neoliberalismus Kritiker haben die Tagung als Beleg für eine grundsätzliche Verbindung der neoliberalen Vision von einer freien Wirtschaftsordnung mit den Rahmenbedingungen eines autoritären Regimes gewertet (vgl. Walpen/Plehwe, 2001). Tatsächlich nahmen die wenigsten MPSRedner explizit Bezug auf Chiles Situation. Die Diskussionen drehten sich überwiegend um allgemeine ökonomische und politische Probleme. Wo die Entwicklung des Gastlandes angesprochen wurde, war für die Neoliberalen eine positive Wertung der wirtschaftlichen Reformen seit dem Ende der Regierung Allende unvermeidlich. „Nach vierzig Jahren sozialistischem Niedergang stand uns noch ein Weg offen — ,Friedmanismus' - vorausgesetzt, daß wir eine Regierung hätten, die stark und mutig genug wäre, diesen zu etablieren", erklärte Pedro Ibanez in seiner Begrüßungsansprache (Ibanez, 1981, S. 3). In eine ähnliche Richtung gingen die Aussagen Wolfgang Frickhöffers, der die chilenischen ökonomischen Reformen nach 1973 mit der westdeutschen Wirtschafts- und Währungsreform von 1948 verglich. Auch jene seien unter den Bedingungen einer Militärregierung umgesetzt worden, erklärte der ASM-Vorsitzende. Hätte es damals starke parlamentarische Strukturen und Interessengruppen gegeben, wäre Erhards Coup nicht gelungen (vgl. Frickhöffer, 1981, S. 1-2). Grundsätzliche Fragen der politischen Ordnung behandelte Buchanan in seinem Vortrag „Democracy, Limited or Unlimited?". Gemäß seiner „Public Choice"-Theorie betonte er die Notwendigkeit konstitutioneller Schranken gegen das Abgleiten eines demokratischen in ein unfreiheitliches Regime. Eine starke Gewaltenteilung und dezentrale Machtverteilung, wie sie die frühen Vereinigten Staaten ausgezeichnet hatten, erklärte er zur idealen Ordnung, die jedoch im Zuge des demokratischen Prozesses, verstanden als weitgehend unbeschränkte Herrschaft der Mehrheit, zu erodieren drohe. Damit Politik nicht zu einem reinen Nullsummenspiel durch willkürlich erzwungene Umverteilung von Ressourcen verkomme, so Buchanan, müßten die Regeln des politischen „Spiels" strikter definiert und der zulässige Raum kollektiver Entscheidungen enger gefaßt werden. Nur in einem solchen konstitutionellen Rahmen einer begrenzten Demokratie sei sichergestellt, daß nicht nur ein Teil, sondern die Gesamtheit der Bürger langfristig profitiere (vgl. Buchanan, 1981).64 Auch der Vortrag des Kölner Ökonomen Christian Watrin, der über die historische Entwicklung der demokratischen und parlamentarischen Bewegung und ihrer Ziele seit dem achtzehnten Jahrhundert referierte, stellte die Verletzlichkeit einer demokratischen Verfassung heraus, etwa mit seinem Hinweis auf das Schicksal der Weimarer Republik. Hier konnten die Zuhörer in Vina del Mar unschwer eine Analogie zur chilenischen Situation der frühen siebziger Jahre erkennen, als radikale politische Kräfte unter Ausnutzung des demokratischen Verfassungssystems die Grundlagen desselben aushöhlten. Sobald das Ideal der Gleichheit und der unbeschränkte Volkswille, wie ihn Rousseau verherrlicht hatte, über den Wert der Freiheit des Einzelnen gestellt werde, schlage das System der Mehrheitsherrschaft in Tyrannei um, warnte Watrin. Diese als „jakobinisch" bezeichnete Gefahr sah er nicht bloß

64 Diese Argumentation, die der Begründer der „Public Choice"-Theorie in ähnlicher Form schon sehr häufig bei verschiedenen nordamerikanischen und europäischen Konferenzen vorgetragen hatte, enthielt keine direkte Stellungnahme zur speziellen Situation in Chile. Im dorügen Kontext schien sie jedoch sehr ambivalent und konnte als relativierender Kommentar zur Demokratie und damit als Rechtfertigung der Junta verstanden werden. Allerdings machte Buchanan mit seiner Betonung der Gewaltenteilung und seiner Ablehnung von Machtkonzentration klar, daß eine autokratische Militärregierung ohne rechtsstaatlichen Rahmen eine ebenso verwerfliche Willkürherrschaft sei wie die unbeschränkte Mehrheitsherrschaft.

Der Kampf gegen den keynesianischeri Konsens • 357

in jungen und unerfahrenen Demokratien. Das Wachstum eines zum „Leviathan" degenerierenden Wohlfahrtsstaates müsse auch die westlichen demokratischen Länder beunruhigen; hier sei eine Uberdehnung und Überlastung des öffentlichen Sektors zu beobachten, bis der Staat unter seinem eigenen Gewicht zu kollabieren drohe (vgl. Watrin, 1981, S. 1-13). Von seinem Weg in die Unfreiheit erholte sich Chile nur langsam. Hatte es die schmerzhafte Erfahrung einer politischen Destabilisierung als Folge verfehlter wirtschaftspolitischer Experimente machen müssen, so brachte die wirtschaftliche Erholung in der autoritären Phase die Chance zu einer schrittweisen Entspannung der politischen Verhältnisse. Anfang der achtziger Jahre wurde die Wende zugunsten einer Rückkehr zur Demokratie eingeleitet. Bei einer Volksabstimmung im September 1980 hatten mehr als zwei Drittel der Wähler den Vorschlag Pinochets für eine neue Verfassung akzeptiert. Das Regime war angesichts des starken wirtschaftlichen Aufschwungs stabilisiert und stützte sich auf eine mehrheitliche Zustimmung der Bürger. Die Verfassung, die im März 1981 in Kraft trat, sah zwar eine sehr starke Stellung für den Präsidenten mit einer achtjährigen Amtszeit vor, benannte aber auch einen Zeitplan für einen geordneten Abgang der Militärregierung, die sich nach einer Übergangsphase freien Wahlen stellen mußte. Somit fiel die MPS-Tagung in Vina del Mar in eine Zeit des politischen Frühlings in Chile, als die autoritären Elemente des Systems bereits zu weichen begannen. Friedman warnte aber vor einem dirigistischen Rückfall des Militärs und drängte, „um die Erfolge unter Pinochet zu erhalten, sollte Chile ... die parlamentarische Demokratie zum baldmöglichsten Zeitpunkt wiederherstellen", so zitierte ihn die National Review (Chamberlain, 1982). In der Wirtschafts- und Sozialpolitik machte das Land weiterhin durch energische Reformen von sich reden, die den neoliberalen Ökonomen der MPS imponierten. Das einst staatliche umlagefinanzierte Rentensystem wurde von Sozialminister José Pinera 1980/1981 durch parallele Strukturen einer kapitalgedeckten Vorsorge weitgehend ersetzt.65 Auch im Gesundheitswesen wurde das staatliche Monopol durch die Etablierung von privaten Krankenversicherungen aufgebrochen. Als schwerer Fehler stellte sich die Anbindung des chilenischen Peso an den US-Dollar heraus. Finanzminister De Castro hatte damit 1981 ein Signal für einen noch strikteren Stabilitätskurs geben wollen, um die Inflation, die gerade unter 10 Prozent gedrückt worden war, endgültig zu besiegen. Beim MPS-Treffen im Herbst 1981 lobte Friedman diesen Schritt noch (vgl. Friedman, 1981, S. 12-14).66 Allerdings war der Zeitpunkt denkbar ungünstig. Die feste Wechselkursbindung riß Chile mit in die Rezession, als die amerikanische Notenbank das Geldmengenwachstum stark zu bremsen begann und der US-Dollar aufwertete. 1982 brach das chilenische BIP um etwa 14 Prozent ein, und De Castro mußte zurücktreten. Nachdem der Peso wieder freigegeben worden war und ab-

Auf freiwilliger Basis konnten sich alle Arbeiter und Angestellten für den Wechsel zu einer privaten Rentenkasse entscheiden, die individuelle, vererbbare Konten einrichteten. Die angelegten Summen verzeichneten in den ersten fünfzehn Jahren durchschnittlich real 14 Prozent Wertzuwachs jährlich (vgl. Roberts/Araujo, 1997, S. 31). 66 In seinen Memoiren hat Friedman diesen Punkt anders dargestellt. Er zweifle, ob es „jemals einen guten Zeitpunkt gibt für ein Land wie Chile, das eine Zentralbank hat, seine Währung anzubinden" (Friedman/Friedman, 1998, S. 405). Tatsächlich hatte er auch Ende 1981 in Vina del Mar als Voraussetzung für einen solchen Schritt betont, daß keine eigene eigenständige Notenbank existiere, doch zugleich erklärt, die theoretisch „,beste Politik' ist vor kurzem von zumindest einem Entwicklungsland angenommen worden — namentlich unserem Gastland Chile" (Friedman, 1981, S. 13-14). 65

358 • Wandlungen des Neoliberalismus

werten konnte, fand die chilenische Wirtschaft Mitte der achtziger Jahre zu starkem Wachstum zurück. Auch nach dem Abgang von De Castro und trotz leichter interventionistischer Rückfälle des Regimes blieb Chile ein marktwirtschaftliches Vorzeigeland in Südamerika (vgl. Clapham, 1982; Büchi, 1992). Wichtige Ämter wurden weiterhin von neoliberalen Ökonomen gehalten, von denen einige der MPS beitraten, etwa Hernan Büchi, der 1981 die Gesundheitsreform auf den Weg brachte, Lüders, der 1982/1983 für kurze Zeit Wirtschaftsminister war, sowie Caceres, der die Einrichtung einer unabhängigen, nach deutschem Vorbild gestalteten Notenbank vorantrieb und mehrere Jahre deren Leitung übernahm. 1989 war er es, der als Innenminister die Abhaltung freier und fairer Wahlen garantierte, die schließlich die friedliche Ablösung Pinochets als Staatschef ermöglichten. Mehr als sechzehn Jahre hatte die Diktatur gedauert, die auf dem ökonomischen und politischen Scherbenhaufen von Allendes sozialistischem Experiment an die Macht gekommen war. Angesichts der sich ab den frühen siebziger Jahren auch in westlichen Industriestaaten verschlechternden Wirtschaftslage fürchteten nicht wenige Beobachter dort eine vergleichbare Destabilisierung. Die älteren Neoliberalen, die noch eine Erinnerung an die dreißiger Jahre hatten, reagierten auf die Anzeichen steigender Inflations- und Arbeitslosenquoten mit großer Sorge. Auch in einigen westlichen Demokratien erschien die soziale und politische Lage zunehmend so angespannt, daß pessimistische Stimmen vor Schlimmem warnten. Wie erwähnt, hatte Shenfield 1974 vor der MPS ein bedrückendes Szenario an die Wand gemalt, wie auch Großbritannien, von Streiks und Inflation zerrüttet, in chilenische Verhältnisse abrutschen könnte. In einem Artikel betonte auch Friedman seine Überzeugung, daß ein direkter Zusammenhang zwischen einer übermäßigen Staatsquote und dem Verlust der politischen Freiheit bestehe: Ab einer kritischen Grenze von 60 Prozent drohe ein freiheitliches Staatswesen zu kippen, warnte er (vgl. Friedman, 1976a, S. 14).

7. „Hochgemuter Pessimismus": Das 25-Jahr-Jubiläum der MPS Ein Vierteljahrhundert nach ihrer Gründung befand sich die MPS in einer eigenartigen Lage: Wohl hatte sich die Gesellschaft als Forum neoliberalen Denkens fest etabliert. Ihre Mitgliederzahl war enorm gewachsen, die Organisation galt als gesichert. Hatten die Gründerväter im Jahr 1947 noch gegen akademische Ausgrenzung und Isolierung zu kämpfen, so schuf der Zusammenschluß vieler Einzelkämpfer über die Jahre ein weitgespanntes transnationales Netzwerk von Wissenschaftlern, Publizisten und auch einigen Politikern. Dieses vermochte die verstreuten Gruppen zu stärken und die neoliberalen Kernthesen in koordinierter Weise in den wissenschaftlichen Diskurs zu schleusen. So galten die Themen der MPS im Jahr 1972 nicht mehr als randständig und reaktionär, sondern wurden international ernsthaft debattiert. Trotz dieser für die MPS-Neoliberalen hoffnungsvollen Entwicklung herrschte kein Gefühl des Triumphs. Es zeigte sich zwar, daß viele Probleme, vor denen die Neoliberalen als Folge interventionistischer Politik gewarnt hatten, eingetreten waren. Die keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Ansichten dominierten aber trotz beginnender Stagflation noch weiter.

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 359 Noch immer bestimmten diese einen allgemeinen gesellschaftlichen Konsens der westlichen Demokratien. Gab es zu Beginn der siebziger Jahre erste Anzeichen eines Umdenkens bei Teilen der Wissenschaft, so schien doch eine radikale politische Wende zu mehr Markt und weniger Staat nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Nixon und Heath, vorschnell als Hoffnungsträger gehandelt, waren in den Augen der MPS-Mitgüeder eine große Enttäuschung. Welchen Sinn hatte das Fortbestehen der Gesellschaft in ihrer jetzigen Form, fragte sich Friedman, der 1971 die Präsidentschaft übernommen hatte. Als echter Notbund neoliberaler Denker war sie überflüssig geworden, glaubte er. Nicht wenigen aus der Gründergeneration mißfiel, daß die MPS-Treffen im Laufe der Jahre zu großen, unpersönlichen Kongressen mit zweihundert, dreihundert oder mehr Teilnehmern ausuferten. Die vertrauliche Atmosphäre der Anfangszeit ging dabei verloren, beklagte Friedman, zudem sah er eine gewisse Überalterung der Gesellschaft. Seiner Überzeugung nach hatte die MPS ihre Aufgabe erfüllt, die Neoliberalen in den schwierigen Jahren der Nachkriegszeit zu unterstützen. Zu ihrem Jubiläumstreffen 1972 sollte die Gesellschaft daher noch einen würdigen Schlußakt feiern und sich dann auflösen, meinte Friedman. Dieses Ansinnen wurde jedoch bei einer von ihm 1971 nach Montreux einberufenen Vorstandssitzung, zu der auch die Gründungsmitglieder eingeladen waren, einhellig zurückgewiesen (vgl. Friedman/Friedman, 1998, S. 334). Allerdings war den Mitgliedern die Notwendigkeit von Veränderungen in der Gesellschaft bewußt, um sie als ein exklusives wissenschaftliches Forum zu erhalten. Schon beim Treffen im schottischen Aviemore 1968 hatte die MPS-Vollversammlung ein Komitee ernannt, das Entwürfe zu einer Überarbeitung der Aufnahmebestimmungen erarbeiten sollte. Darauf gingen zahlreiche, teils widersprüchliche Vorschläge ein (vgl. „Extracts from letters on future of MPS", o.Dt. [wohl 1971], in: HIA, MPS-Slg. 18). Der Grundtenor der meisten Zuschriften war, daß die Mitgliederzahl zu rasch und unkontrolliert wüchse, zudem die Zahl der Gäste bei den Treffen überhandnehme. Der Vorstand beschloß daher in Montreux, die Zahl der jährlich zugelassenen Neumitglieder auf nicht mehr als 25 zu beschränken und zudem ein formelles Aufnahmeverfahren einzuführen. Außerdem wurde die Anregung angenommen, Gäste durch höhere Teilnahmegebühren an den Kosten zu beteiligen und auch die eigenen Mitglieder stärker zur Kasse zu bitten. Die in Montreux getroffenen Regelungen erwiesen sich in den folgenden Jahrzehnten als gangbarer Weg, die MPS personell, organisatorisch und finanziell zu stabilisieren, wenngleich einzelne Einwände bestehen blieben (vgl. Hartwell, 1995, S. 58-62). Zum Jubiläum in Montreux am Genfer See, nicht weit vom Mont Pèlerin, wo alles angefangen hatte, erschienen von den Gründungsmitgliedern immerhin zehn: Neben Hayek und Friedman waren dies Stanley Dennison, F. A. Harper, Henry Hazlitt, Trygve Hoff, Fritz Machlup, Karl Popper, Leonard Read und François Trévoux. Während die Mehrheit der Mitglieder die Entwicklung der MPS als Erfolgsgeschichte mit Zukunft begriff, blieb Friedman skeptisch. In seiner Eröffnungsansprache zum Jubiläumstreffen in Montreux vermittelte er erneut einen düsteren Ausblick (vgl. Friedman, 1972). Die MPS habe im Kampf der Ideen nur kurzzeitig Erfolge zu verbuchen gehabt, meinte er, die Mehrheit der Intellektuellen vertrete immer noch oder schon wieder kollektivistische Ziele. Der Weg in den totalen Kollektivismus sei nach dem Krieg gebremst worden, nicht aber das Wachstum des Staates. Die Aushöhlung wirtschaftlicher Freiheit schreite durch die schleichend zuneh-

360 • Wandlungen des Neoliberalismus mende Regulierung und Umverteilung voran. Das frühere Ziel kollektivistischer Kräfte, die direkte Übernahme des wirtschaftlichen Lebens durch den Staat, sei nun durch sanftere, doch ebenso illiberale Methoden ersetzt worden. Statt der zentralen Planung der Produktion erlebe man jetzt die weitgehende staatliche Umverteilung der Ergebnisse der Produktion, der privaten Einkommen. Zwar gebe es, so Friedman in Anspielung auf die Neue Linke, viel Gerede von einer „partizipatorischen Demokratie", das vordergründig einer individualistischen Anschauung zu entsprechen scheine, doch fielen diese Schlagworte im Kontext einer Bewegung, die sich gegen das Privateigentum und das freie Unternehmertum richtete, „die einzigen Institutionen, die individualistische Ziele zu erreichen vermögen" (ebd., S. 1). Im Hauptteil seines Vortrags mit dem Titel „Capitalism and the Jews" sprach Friedman die Tatsache an, daß in Vergangenheit und Gegenwart überproportional viele jüdische Intellektuelle — von Marx über Trotzki bis Marcuse — in der sozialistischen Bewegung engagiert waren, wo doch gerade ethnisch-religiöse Minderheiten wie die Juden enorm von den Chancen eines offenen Systems wie dem des Kapitalismus zu profitieren hätten. 67 Während in der Marktwirtschaft jeder frei am Wettbewerb teilnehmen könne, beruhe der Sozialismus auf einer zentralen Zuteilung von Ressourcen und berge damit die Gefahr einer systematischen Diskriminierung von Minderheiten durch die Mehrheit. Aber offenbar wollten viele dies nicht erkennen: „Weshalb sind wir mit unseren Anstrengungen, freiheitliche Ordnungsvorstellungen zu verbreiten, so erfolglos?", fragte Friedman (ebd.). Klagen dieser Art waren ein gängiger Topos im neoliberalen Diskurs. Die Mitglieder der MPS rangen um eine Erklärung, warum Marktwirtschaft, Wettbewerb und Kapitalismus weithin abgelehnt würden, obwohl diese Institutionen nach ihrer Überzeugung der Menschheit über die Jahrhunderte zu denkbar größten Produktivitätsfortschritten und enormem Wohlstand verholfen hatten. 68 Die Neoliberalen fühlten sich unverstanden. So schrieb Mötteü in der NZZ anläßlich des 25. Jahrestages der MPS-Gründung vom Eindruck eines „hochgemuten Pessimismus" in der Gesellschaft. „Ebbe und Flut des Liberalismus liegen nahe beieinander, und seine Regeneration und Restauration nach dem Zweiten Weltkrieg haben ihn nicht davor bewahrt, wieder in eine Talsohle zu geraten" (Mötteli, 1972, kursiv im Orig.). Obwohl sich das marktwirtschaftliche Experiment nach dem Krieg besonders in Westdeutschland als glänzender Erfolg erwiesen habe, befinde sich der Wirtschaftsliberalismus schon wieder in der Defensive. Mötteli meinte, die Idee der „Planification" nach französischem Vorbild gelte in Europa als die moderne Lösung, welche vermehrt auf Staatseingriffe, besonders bei der Lohn-, Gewinn- und Preisbildung, setze. Auch Wilhelm Seuß von der FAZ befürchtete, daß kollektivistische Tendenzen auf dem Vormarsch seien. Doch

Die Erklärung, die Friedman anbot, verwies auf historische und auf psychologische Gründe: So lägen die Ursprünge der antikapitalistischen Haltung vieler jüdischer Intellektueller im neunzehnten Jahrhundert, als die besitzenden, konservativen Schichten und Parteien, die den Markt bejahten, sich mit dem Christentum identifizierten und gegen Juden abschotteten, während die sozialistische Bewegung mit emanzipatorischen Verheißungen lockte. Zudem hätten Juden unter dem antisemitischen Vorwurf gelitten, sie seien raffgierige Kapitalisten, und wollten durch sozialistisches Engagement diesem Stereotyp entgegenwirken. Nicht alle Zuhörer fanden diese Ausfuhrungen restlos überzeugend (vgl. Neumeister, 1972). 67

Eine gute systematische Analyse der verbreiteten Ablehnung des „scheußlichen Marktes" präsentierte schließlich Kirzner (1974).

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 361 gebe es keinen Grund, „die Flinte ins Korn zu werfen". Die Devise der MPS müsse lauten: „Mehr Mut" (Seuß, 1972). Einen gewissen Stimmungsumschwung bewirkte das Treffen bei Hayek. In den letzten Jahren hatte er zunehmend unter einer depressiven Stimmung gelitten. Er sah eine Lawine von Problemen auf die westliche Welt zurollen, die im Teufelskreis aus beschleunigter keynesianischer Inflation und nachfrageseitigen Interventionen stecke. All dies bedrückte ihn. A m Ende der sehr harmonischen und produktiven Jubiläumstagung in Montreux zeigte er sich wieder optimistischer: Noch im vergangenen Jahr war er wie Friedman „überhaupt nicht sicher, daß die Gesellschaft noch eine bestimmte Funktion in der Zukunft hatte", erklärte er zum Abschluß des MPS-Treffens. Nun sei er aber „umgestimmt" durch die interessante Diskussion. „Obwohl ich nicht sicher bin, daß die Gesellschaft noch weiteren fünfundzwanzig Jahren entgegensehen kann, hoffe ich, daß sie fortbesteht, daß sie weiterhin gedeiht und daß wir noch viele Treffen dieser Art haben werden" (Hayek, 1972/1973, S. 7).

8. Akademischer Durchbruch der Neoliberalen Im Oktober 1974 erreichte Hayek eine Nachricht, die den nun 75-Jährigen aufs höchste überraschte und erfreute: Er war für den Ökonomie-Nobelpreis nominiert worden. Diese Ehrung brachte ihn zurück ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Seine Freunde und Kollegen waren begeistert. „Lieber Fritz: Ich kann Dir nicht sagen, wie entzückt ich bin," schrieb Friedman in einem kurzen Glückwunschbrief, „daß die Schweden endlich ihre politische Voreingenommenheit genügend überwunden haben, um Deine Beiträge anzuerkennen. Es hat viel zu lange gedauert, und selbst jetzt sind sie nur den halben Weg gegangen, aber das ist mehr, als ich von ihnen erwartet hätte" (zit. n. Ebenstein, 2001, S. 262). Der „halbe Weg", ein Wermutstropfen für Hayek, war dabei, daß er den Preis gemeinsam mit dem Sozialisten Gunnar Myrdal erhielt. „Daß der Nobelpreis zwischen mir und Myrdal geteilt wurde, war ja fast ein schlechter Witz", klagte Hayek (1983b, S. 50). Die gemeinsame Auszeichnung zweier so konträrer Denker war kein Zufall, sondern folgte einem genauen Kalkül des Preiskomitees: In erster Linie hatte dieses mit Myrdal den Vater des schwedischen Wohlfahrtsstaats zu würdigen beabsichtigt, glaubte aber, das Renommee der wissenschaftlichen Ehrung könne leiden, wenn allein der als linksaußen stehende Politiker ausgezeichnet würde. Der Präsident der schwedischen Reichsbank, Erik Lundberg, war als Vorsitzender des mehrheitlich sozialdemokratisch besetzten Auswahlkomitees für den Ökonomie-Nobelpreis mit der Lösung dieses Problems betraut. Bei einer Sitzung der International Economic Association hatte er sich an seinen deutschen Kollegen und Freund Herbert Giersch gewandt, der im Pausengespräch die Möglichkeit aufwarf, Hayek als komplementären zweiten Preisträger auszuwählen. Dieser Vorschlag fand spontan breite Zustimmung. Damit war eine gewisse Balance der Auszeichnung zwischen Links und Rechts zu erzielen und somit der Vorwurf der Einseitigkeit ausgeräumt. 69

„Mir persönlich ging es um die Promodon von Hayek, und zwar in einer Weise, daß ein zu befürchtender Ideologieverdacht gar nicht erst aufkäme", so Giersch (Schreiben an den Verfasser, 25.2.2006).

69

362 • Wandlungen des Neoliberalismus Der Nobelpreis für Ökonomie war noch eine relativ junge Auszeichnung. 70 In den ersten Jahren ging er vornehmlich an Wissenschaftler mit eher planwirtschaftlichen oder keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Ansichten. Den ersten Nobelpreis 1969 etwa erhielten Ragnar Frisch und Jan Tinbergen, zwei Pioniere ökonometrischer Makromodelle. Beide waren zeitlebens Sozialisten, glaubten an eine Beherrschbarkeit der wirtschaftlichen Konjunkturzyklen sowie an die Überlegenheit zentraler, staatlicher Allokation von Ressourcen im Gegensatz zum dezentralen, marktwirtschaftlichen Wettbewerb. In den Jahren 1970 und 1972 gingen die Nobelpreise an ausgewiesene Keynesianer wie Paul Samuelson und John Hicks. Und Simon Kuznets, der 1971 für seine Beiträge zur Wachstumstheorie geehrt wurde, war zwar kein Keynesianer im engeren Sinn, seine statistischen Arbeiten zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wurden aber hauptsächlich von Vertretern dieser Schule aufgegriffen. Die Vorliebe des schwedischen Auswahlkomitees für planwirtschaftliche Ansätze war in den Jahren 1973 und 1975 besonders auffällig: Wassily Leontief wurde für seine „Input-Output-Methode" geehrt, zwei Jahre darauf der sowjetische Statistiker Leonid Kantorovich für die Erfindung des linearen Programmierens sowie Tjalling C. Koopmans, der ebenfalls zur optimalen bürokratischen Ressourcenallokation forschte. In die Reihe der bisherigen Preisträger trat mit Hayek nun erstmals ein vehementer Verfechter des Markts. Die Verleihung des Nobelpreises an ihn wurde so als Durchbruch der neoliberalen Bewegung wahrgenommen (vgl. Ebenstein, 2001, S. 261-262). Seiner Dankesrede in Stockholm im Dezember 1974 gab Hayek den Titel „The Pretense of Knowledge". In äußerst konzentrierter Form formulierte er darin seine über Jahrzehnte gereifte Uberzeugung, daß die aktivistisch-interventionistische Wirtschaftspolitik auf einer Anmaßung von Wissen basiere, einer oberflächlichen Übertragung naturwissenschaftlicher Verfahren auf soziale Prozesse. Eindringlich warnte er vor einer fortschreitenden Inflation durch eine verfehlte Vollbeschäftigungspolitik. Dieser Irrweg sei auf Empfehlungen der meisten Wirtschaftswissenschaftler begangen worden. Die Zunft habe „im Augenblick wahrlich wenig Grund, stolz zu sein: Als Fachleute haben wir Schlimmes angerichtet" (Hayek, 1975a, S. 12). Seine grundsätzliche Kritik richtete sich auf den „szientistischen" Irrglauben vieler Sozialwissenschaftler und auch Ökonomen. Sie hielten das komplexe System der Wirtschaft mittels mathematischer Gleichungssysteme für abbildbar und trachteten danach, es von übergeordneter Warte zu steuern und zu regulieren. Hayeks Rede gipfelte in dem Aufruf: „Die Erkenntnis der unüberschreitbaren Grenzen seines Wissens sollte den Forscher auf dem Gebiet der Gesellschaft eine Demut lehren, die ihn davor bewahrt, ein Mitschuldiger in des Menschen unglückseligem Streben nach Beherrschung der Gesellschaft zu werden [und damit] zum Zerstörer einer Zivilisation ..., die kein Verstand entworfen hat, sondern die erwachsen ist aus den freien Bemühungen von Millionen von Individuen" (ebd., S. 21).

Anders als die tatsächlich von Alfred Nobel ab 1901 ausgelobten Nobelpreise für Chemie, Physik und Medizin sowie für Literatur und Frieden existierte die Auszeichnung für Wirtschaftswissenschaften erst seit 1969. Der neue Preis ging auf eine Initiative der schwedischen Reichsbank zurück, wurde aber allgemein als Nobelpreis bezeichnet. Besonders die Vergabepolitik des norwegischen Preiskomitees für den Friedensnobelpreis neigte generell stark nach links. 1973 hatte es ernsthaft erwogen, den Friedensnobelpreis dem jugoslawischen Diktator General Tito zu verleihen, wogegen MPS-Mitglied Ljubo Sirc, selbst gebürtiger Jugoslawe und nun Wirtschaftsprofessor in Glasgow, in einem Offenen Brief heftig protestierte (vgl. MPS-Newsktter, Oktober 1973). 70

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 363

Die Verleihung des Nobelpreises verschaffte Hayek über Nacht hohe Popularität sowohl in der Wissenschaft als auch in einer breiteren Öffentlichkeit. Zuletzt war sein Name im Zuge der Kontroversen um „The Road to Serfdom" weltweit so geläufig gewesen. Der Problematik eines solchen international beachteten Ritterschlags für einen Ökonomen war Hayek sich wohl bewußt: Wäre er vor der Einrichtung des Preises gefragt worden, so betonte er in einer kurzen Tischrede vor dem schwedischen Königspaar und den Gästen der Reichsbank, hätte er sich entschieden dagegen ausgesprochen (Hayek, 1974/1977). E r zeigte sich verwundert, daß jemand mit „derart unmodischen Ansichten wie den meinen" ausgewählt worden sei. Allgemein sah er die Gefahr, daß der Preis nur die jeweiligen Moden der ökonomischen Wissenschaft nachzeichne und verstärke. Der Nobelpreis verleihe einem Individuum eine zu große Autorität, die in der Wirtschaftswissenschaft niemandem zukomme. Vielleicht sollte den Preisträgern, regte Hayek an, ein Demutsgelübde abverlangt werden, „eine Art hippokratischer Eid", niemals die Grenzen ihrer fachlichen Kompetenz zu überschreiten. Ökonomen müßten sich davor hüten, auf den Applaus der Mehrheit zu schielen. Alfred Marshall zitierend, erklärte er dazu abschließend: „Der Teufel ist mit ihnen, wenn alle Leute gut von ihnen sprechen" (ebd., S. 11). In der MPS wurde die Auszeichnung Hayeks mit Jubel aufgenommen: „Wir alle", schrieb Jean-Pierre Hamilius im Newsletter der Gesellschaft, „haben guten Grund, stolz zu sein wegen der Ehre, die Sie über die Mont-Pèlerin-Society gebracht haben" (Newsletter Nr. 6, in: LA, MPS-Slg.). Ganz im Zeichen des Nobelpreises an einen der ihren stand im August 1975 ein Regionaltreffen der MPS am Hillsdale College in Michigan. Hayek, der selbst nicht anwesend war, wurde in Reden mit Freundlichkeiten überschüttet. Neben Fritz Machlup, der die Vorträge anschließend gesammelt herausgab, ließen dort George C. Roche III, der Präsident des Hillsdale Colleges, sowie Arthur Shenfield, Ronald Max Hartwell, William Buckley, Gottfried Dietze und Shirley Robin Letwin den Gründer der Gesellschaft hochleben (vgl. Machlup, 1976). Nachdem Hayek auch in der MPS zeitweilig von Friedman in den Schatten gestellt worden war, erfüllte ihn die Auszeichnung mit Genugtuung. Auch seine Sicht der Zukunft, lange Jahre arg verdunkelt, hellte sich nun auf; die öffentliche Anerkennung gab ihm nach Jahren depressiver Stimmung neuen Lebensmut (vgl. Ebenstein, 2001, S. 264). Zwei Jahre nach Hayek wurde auch Friedman von den Schweden mit dem Nobelpreis bedacht.71 Hamilius formulierte im Newsletter neue Elogen und bemerkte, wie sehr auch Friedmans Ruhm auf die ganze Gesellschaft ausstrahle: „Die Ankündigung Ihres Erfolges von solch einem internationalen Niveau hat einmal mehr die Aufmerksamkeit auf die Mont Pèlerin Society gezogen" (Newsletter Nr. 11, in: LA, MPS-Slg.). Gleichwohl gab es auch Stimmen, die eine zu starke Konzentration auf einzelne herausragende Persönlichkeiten kritisch sahen. So beobachtete der Berichterstatter der NZZ während der Amsterdamer Tagung der MPS zwei Jahre später einen zunehmenden „Personenkult ..., der bei allem Verständnis für die Bedeutung von Einzelleistungen nur noch schwer goutierbar ist", und empfahl „etwas mehr Zurückhaltung" (Linder, 1977).

71 In seiner Rede in Stockholm verschärfte Friedman seine bisherige anti-keynesianische Argumentation. Angesichts der zunehmenden Stagflation warnte er davor, daß die Phillips-Kurve nicht nur senkrecht verlaufen, sondern im schlimmsten Fall sich sogar nach rechts neigen könne, also kurzfristig steigende Inflation mit steigender Arbeitslosigkeit einhergehen würde, bis sich die Erwartungen und Institutionen angepaßt hätten (vgl. Friedman, 1976/1992, S. 274-275).

364 • Wandlungen des Neoliberalismus

9. Die MPS zwischen „Monetarismus" und „Strukturalismus" Mitte der siebziger Jahre stieg Hayek also wieder zum geistigen Mittelpunkt der MPS auf, Friedman nahm die zweite Stelle ein. Zwischen beiden bestanden trotz ihrer prinzipiell übereinstimmenden Plädoyers für die Marktwirtschaft recht gravierende Unterschiede, etwa in ihrer Analyse der Fehler des Keynesianismus und der Wirkung von Inflation. Die Erfahrung der Stagflation der siebziger Jahre führte sie wieder auf ihre unvereinbaren Interpretationen der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre zurück. Den Meinungsverschiedenheiten lagen auch divergierende methodologische Auffassungen zugrunde. Hayek war hier von Mises und den Wiener Erfahrungen geprägt und hatte eine tiefsitzende Aversion gegen den methodologischen „Positivismus", den er auch bei Friedman zu erkennen meinte. 72 Alles Denken in makroökonomischen Größen war ihm nach wie vor suspekt. Die von den Monetaristen als Allheilmittel gegen die Stagflation gepriesene Geldmengenregel berührte daher seiner Meinung nach nicht das eigentliche Problem, nämlich die verzerrte Preisstruktur und mangelnde Flexibilität sowohl auf dem Gütermarkt wie auf dem Arbeitsmarkt. Der Graben zwischen diesen beiden Denkrichtungen — auf der einen Seite die Monetaristen, auf der anderen Seite die Strukturalisten — zeigte sich auch bei den konjunkturtheoretischen Debatten beim MPS-Treffen in Hillsdale (vgl. Schmölders, 1975). Der akademische Disput zwischen Anhängern von Hayek und Friedman über die Ursachen der Weltwirtschaftskrise erhielt im Rezessionsjahr 1975 unmittelbaren Gegenwartsbezug. Während Friedmans Lager die Einführung strengerer Regeln des Geldmengenwachstums als ausreichend zur Überwindung der Stagflation ansah, glaubte Hayeks Lager, eine bloße Verbesserung des monetären Rahmens genüge nicht. Einer wirklichen Gesundung müßten weit schmerzhaftere Korrekturen vorausgehen. Die Anhänger Hayeks warnten, es werde äußerst schwierig sein, von dem Zug der Inflation, den die keynesianische Politik bestiegen habe, wieder abzusteigen. Wolle man die inflationsverstärkenden Dosen der Nachfragestimulierung absetzen, so sei ein kurzfristiger Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 15 oder gar 20 Prozent in Kauf zu nehmen, bis die notwendige Anpassung der Wirtschaftsstruktur vollzogen sei, war Hayek überzeugt (vgl. Hennecke, 2000, S. 313). Bei der Pariser Tagung der MPS im Januar 1976 war erneut die Spannweite der Meinungen zwischen reinem Monetarismus und Strukturalismus zu erahnen. Zentral ging es dabei um die Bekämpfung der Inflation und die Notwendigkeit einer Reform der Gewerkschaften sowie des Arbeitsmarkts. Einig waren sich die Teilnehmer, daß die Ära des Keynesianismus mit der von Stagnation und Inflation geprägten Wirtschaftskrise ihr Ende finden werde.

Zwar hatte sich Hayek in einem langsamen Prozeß ab den dreißiger Jahren von Mises' „Apriorismus" abgenabelt (vgl. Caldwell, 2004, S. 220-223), doch blieb ihm der „Positivismus" lebenslang ein Greuel. Zwischen Friedmans Verständnis einer „positiven Ökonomie" und dem „logischen Positivismus" des Wiener Kreises lagen allerdings Welten, was Hayek aber nicht sehen wollte (vgl. dazu Ebenstein, 2000, S. 270-274). In einem Interview bedauerte Hayek später, es sei ein Fehler gewesen, Friedmans Aufsatz zur „Methodology of Positive Economies" nicht scharf genug zurückgewiesen zu haben. Dieses Werk hielt er für ein „tatsächlich genauso gefährliches Buch" wie Keynes' „General Theory" (Hayek, 1994, S. 145). Die methodologischen Differenzen mit Friedman öffentlich auszutragen scheute sich Hayek. Es bestehe die dauernde Gefahr, so meinte er, „daß die ,Mont Pèlerin Society' in einen Friedmanschen und einen Hayekianischen Flügel gespalten werden könnte" (Hayek an Seidon, 13.5.1985, in: HIA, NL Hayek 27-6). 72

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 365 Veteranen der ökonomischen Debatten wie Jacques Rueff fühlten sich in ihrem vernichtenden Urteil über den Keynesianismus bestätigt: „Indem sie den Regierungen ein unangebrachtes Vertrauen ... gegeben hat, die erwünschte Expansion herbeizuführen und unerwünschte Arbeitslosigkeit loszuwerden, hat die Doktrin der Vollbeschäftigung die Schleusen für Inflation und Arbeitslosigkeit weit geöffnet. Sie zerstört vor unseren Augen, was von der westlichen Zivilisation noch übrig ist", klagte er (Rueff, 1976, S. 20). Andere Redner zweifelten, ob die parlamentarische Demokratie gegen den Widerstand von Interessengruppen, vor allem den Druck der Gewerkschaften, noch die nötige Kraft aufbringen könne, die Inflation zu stoppen (vgl. Schmölders, 1976). Dagegen sahen Friedman und seine Anhänger die Machtstellung der Gewerkschaften ausdrücklich nicht als einen Faktor, der die Inflation beschleunige: Nach ihrer Meinung spielte die Stellung und Politik der Gewerkschaften wohl eine entscheidende Rolle bei der Höhe der „natürlichen Arbeitslosenquote". In zahllosen Vorträgen hatte Friedman erklärt, daß Gewerkschaften zwar soziale Konflikte schaffen und die Arbeitslosigkeit hochtreiben könnten. E r beharrte jedoch darauf, daß bei einer einmal erreichten Stärke der Gewerkschaften die Höhe der kollektiven Lohnabschlüsse keinen Einfluß auf die Inflationsrate ausübe. Nur in Übergangsphasen, wenn das Maß an Gewerkschaftsmacht sich verändere, könne sie zeitweilig höhere Inflationsraten bewirken. Doch nahm er die Gewerkschaften entschieden in Schutz gegen Vorwürfe, sie seien für anhaltende Inflationsschübe verantwortlich. In dieser Beziehung hielt er sie für den falschen „Sündenbock" (vgl. Friedman, 1975, S. 30-33). Nicht wenige MPS-Mitglieder waren aber überzeugt, daß im Falle der Stagflation jenseits der monetären Erklärung die Rolle der Gewerkschaften stärker zu betonen sei. Haberler erklärte in Paris, daß einer Inflation zwar immer eine Erhöhung der Geldmenge vorausgehe. Dahinter erkannte er aber noch andere Ursachen, welche die reinen Monetaristen nicht sehen wollten: „Gewerkschaften und Einflußgruppen, organisiert und geschützt von der Regierung, drängen auf Lohn- und Preissteigerungen, die Einkommensverbesserungen für ihre Mitglieder bedeuten, die sich aber zu einem größeren nationalen Ganzen aufaddieren, als die Volkswirtschaft zu produzieren imstande ist" (Haberler, 1976, S. 4). Soweit die Ansprüche über die Möglichkeiten hinausgingen, suche die Regierung einen bequemen Ausweg in einer Politik der Inflation, argumentierte er unter Berufung auf Arbeiten von Hayek, Lutz und Tobin. 7 3 Richtig sei zwar, daß ohne eine vorausgehende Geldmengenausweitung keine Inflation möglich sei. Die Monetaristen unterschätzten in diesem Zusammenhang aber die dynamischen Folgeeffekte von Gewerkschaftsforderungen. Ein Lohnschub sei kein einmaliger Übergang von einem Walrasianischen Gleichgewicht zum anderen: „In Wirklichkeit aber wird aus dem Lohnschub ein fortdauernder, selbstangetriebener, dynamischer Prozeß, der am Laufen gehalten wird durch gewerkschaftliche Rivalitäten und sprunghaftes Vorwärtskommen" (ebd., S. 8a). Aus dieser Analyse leitete Haberler ein wesentlich komplexeres Programm zur Bekämpfung der Stagflation ab. Eine Bremsung des Geldmengenwachstums, wie die Monetaristen forderten, könne, falls sie zu drastisch ausfalle und nicht durch andere Maßnahmen ergänzt

In keynesianischer Tradition hielt Tobin das Aufkommen von Inflation für nicht so tragisch. Für ihn gab es „schlechtere Methoden, um Gruppenrivalitäten und soziale Konflikte zu lösen" (Tobin, 1972, S. 1).

73

366 • Wandlungen des Neoliberalismus

werde, in eine Abwärtsspirale münden und sei daher politisch gefährlich, warnte er. Zeitgleich zur monetären Bremsung müsse es daher wachstumsfördernde Steuersenkungen geben. Die Mischung aus monetärer Kontraktion und fiskalischer Expansion sei durch weitere Maßnahmen zu flankieren, um den lange unterdrückten Wettbewerb auf allen Märkten zu intensivieren. Deregulierung der Industrie, Abschaffung von Mindestlöhnen und Aufhebung von Importbeschränkungen zählte er dazu. Um eine größere Flexibilität angesichts des kommenden Anpassungsdrucks zu bekommen, müßten überall monopolistische Strukturen aufgebrochen werden. Der schwierigste und doch wichtigste Schritt werde dabei sein, die Macht der Gewerkschaften zu brechen (vgl. ebd., S. 12). Monetaristen und Strukturalisten sollten in den kommenden Jahren immer wieder auf Treffen der MPS heftig debattieren, welche Therapie besser zur Bekämpfung der Stagflation angemessen sei. Die einen predigten die überragende Bedeutung der Geldpolitik für eine Rückkehr zu inflationsfreiem Wachstum, die anderen unterstrichen die Notwendigkeit von begleitenden strukturpolitischen Reformen, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Ein weiterer Streitpunkt wurde die Forderung nach massiven Steuersenkungen, die „Supply Side"Ökonomen wie Arthur Laffer erhoben, den auch Haberler schon 1976 in seinem Vortrag als Gewährsmann erwähnte. Trotz unterschiedlicher Akzente schlössen sich all diese reformpolitischen Positionen aber nicht aus, sondern ergänzten sich. Wichtige Mitglieder der MPS waren denn auch um eine Versöhnung der Standpunkte bemüht (vgl. Harris, 1976).

10. Währungssystem und Geldstabilität Mit dem Anstieg der Inflationsraten rückte auch die Frage der internationalen Währungsordnung wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Hier ergab sich in der MPS in den sechziger Jahren ein deutlicher Meinungswandel, der vor allem dem Einfluß von Friedman zuzuschreiben war, der seit langem für freie Wechselkurse plädierte. Noch beim Turiner MPS-Treffen 1961 hatte er damit eine Außenseiterposition vertreten: „Was bemerkenswert war, war die beinahe einstimmige Folgerung, daß die einzige Alternative zu Inflation und weiterem monetärem Chaos die Wiederherstellung des internationalen Goldstandards wäre", hatte Henry Hazlitt in seiner Newsiveek-Kolumne von dem Treffen berichtet (Hazlitt, 1961).

10.1. Das Ende des Bretton-Woods-Systems Gegenüber einem echten Goldstandard band das Währungssystem von Bretton Woods, wie beschrieben, die verschiedenen Wechselkurse fest aneinander, das Volumen der umlaufenden Zahlungsmittel war aber nicht durch reale Reserven gedeckt. Das Bretton-WoodsSystem hinderte damit einzelne Notenbanken nicht an nationaler Geldschöpfung. Die Notwendigkeit einer abgestimmten Straffung der Geldpolitiken, die ein System fixer Wechsel-

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 367 kurse eigentlich implizierte, wurde zudem durch immer größere IWF-Quoten untergraben. 74 Die Vereinigten Staaten und Großbritannien konnten ohnehin Defizite aufhäufen, da beide als Reservewährungsländer nicht unmittelbar gezwungen waren, dem Anpassungsdruck nachzugeben. Ungleichgewichte und Schieflagen wurden so nicht korrigiert, sondern über Jahre verschleppt. Vereinzelte Wechselkursanpassungen trugen den tieferliegenden Verschiebungen der Leistungsbilanzen nur unvollständig Rechnung. So akkumulierten besonders die Vereinigten Staaten fortwährend Defizite, bis Ende der sechziger Jahre die Dollarguthaben ausländischer Notenbanken die Goldreserven der Vereinigten Staaten übertrafen. Die Fundamente des IWF-Systems konnten somit jederzeit gesprengt werden. Eine Folge war die stetige Verschlechterung des Vertrauens in den US-Dollar. Der zweite Hauptakteur im währungspolitischen Drama war die Bundesrepublik Deutschland mit ihren großen Leistungsbilanzüberschüssen. Die permanenten Ungleichgewichte des Weltwährungssystems und die daraus resultierenden, immer hektischeren Devisenbewegungen trafen Deutschland ebenso wie die Vereinigten Staaten, wenn auch in spiegelverkehrter Weise. Es hatte daher besonderes Gewicht, was die deutschen oder deutschstämmigen MPS-Mitglieder zur Frage der Wechselkurse sagten. Mehrheitlich waren sie für eine Freigabe der Kurse, wie es Herbert Giersch, Friedrich Lutz, Albert Hahn und der junge Egon Sohmen von der Universität des Saarlandes entschieden forderten, wogegen der ebenfalls dort lehrende Wolfgang Stützel das Banner der festen Wechselkurse hochhielt.75 Auf Initiative Friedmans gingen Giersch, Lutz, Hahn, Machlup, Sohmen und andere 1966 mit einem Aufruf für größere Flexibilität der Wechselkurse an die Öffentlichkeit, der in der Zeitschrift ORDO veröffentlicht wurde (ORDO, 1966). Die deutsche Regierung war gespalten in dieser Frage, die ab 1969 immer stärker auch die Öffentlichkeit bewegte. 76 Die Bundesbank trat öffentlich für eine Aufwertung der D-Mark ein. Sie erhielt darin Unterstützung von Giersch und der Mehrheit im Sachverständigenrat, die grundsätzlich für flexible Wechselkurse plädierten, damit Deutschland nicht Gefahr laufe, über die Wechselkursparität inflationäre Impulse aus den Vereinigten Staaten zu importieren. 77

Im Herbst 1969 wurden „Sonderziehungsrechte" eingeführt, die angeblich Liquiditätsengpässe im internationalen Handel vermeiden sollten, effektiv aber den geldpolitischen Spielraum expansionsfreudiger Regie-rungen noch weiter lockerten. Giersch war anfangs auch Befürworter fester Wechselkurse, hatte seine Meinung jedoch unter dem Einfluß von Friedman, Lutz und Sohmen etwa 1965 korrigiert; auch Fritz W. Meyer, ebenfalls in den fünfziger Jahren Gegner flexibler Wechselkurse, bestärkte ihn in diesem Schwenk. Nach Stützeis Überzeugung hatte der Staat als Geldemittent gegenüber den Bürgern die Verpflichtung, den Wert ihres Geldes nach innen wie auch nach außen zu sichern, was mit einer differenzierten Zinspolitik und Indexklauseln zu bewerkstelligen sei. Sein Motto lautete „freie Preise und feste Versprechen" (vgl. Seuß, 1987). 76 Trotz aller Rufe ausländischer Politiker, besonders aus Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten, wehrte sie sich gegen eine Aufwertung der D-Mark, die deutsche Exporte in der Welt verteuert hätte. Kanzler Kiesinger schloß dies 1 9 6 8 kategorisch aus und erntete dafür den Beifall der exportabhängigen Indus-trie. Dagegen kam Wirtschaftsminister Schüler, der lange zögerte, im Wahlkampf 1969 auf die Notwendigkeit einer Wechselkursanpassung zu sprechen. 77 Die von Giersch beklagte „Dollarschwemme" hatten die anderen Notenbanken nach den Vorgaben des Systems von Bretton Woods aufzukaufen. Besonders die Deutsche Bundesbank ächzte unter dieser Ver-pflichtung. Ihre ständigen Dollarkäufe erhöhten die umlaufende DM-Geldmenge und drohten damit die Infla-tion in Deutschland zu erhöhen. Zwischen Giersch und Stützel kam es im Sachverständigenrat in der Frage der Wechselkurse zu heftigem Streit, der hohe Wellen schlug. Der Sachverständigenrat geriet auch ins Kreuzfeuer konservativer Politiker, die ihm Parteilichkeit vorwarfen. Darauf organisierten Giersch und Sohmen im Mai 1969 ein von mehr als 100 74

368 • Wandlungen des Neoliberalismus Wie die Gegner fester Wechselkurse in der MPS gewarnt hatten, führten die anhaltenden Ungleichgewichte Ende der sechziger Jahre tatsächlich zur Einführung von Beschränkungen des Handels und Geldverkehrs. 78 Haberler erklärte bei der MPS-Tagung in Aviemore, „es steht sehr zu befürchten, daß das bedauerliche Beispiel der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs das Muster der Politik vorgeben wird, wie in Zukunft mit Zahlungsbilanzschwierigkeiten anderer entwickelter Länder umgegangen wird" (Haberler, 1968, S. 3). Aus seiner Sicht lag das Hauptproblem der fixen Wechselkursparitäten darin, daß der Anpassungsdruck bei den Staaten mit Leistungsbilanzüberschüssen lag, wenn die Defizidänder auf keynesianischer „Vollbeschäftigungspolitik" beharrten und zu einer restriktiven monetären Politik nicht willens waren. Die internationalen Geldpolitiken würden so effektiv auf dem expansiven Niveau „harmonisiert". „Das gegenwärtige System hat somit eine starke inflationäre Tendenz", warnte Haberler (ebd., S. 4). Die weitere Entwicklung bestätigte jene Neoliberalen, die eine Zunahme staatlicher Kontrollen als Folge des Festhaltens an unrealistischen Wechselkursparitäten fürchteten. Die Vereinigten Staaten, deren Leistungsbüanzdefizit auch aufgrund des Vietnam-Kriegs weiter wuchs, ersannen immer mehr bürokratische und protektionistische Hürden, um den Verlust von amerikanischem Kapital zu bremsen. Doch die Schieflage des Währungssystems von Bretton Woods wurde immer offensichtlicher und insbesondere die Position des US-Dollars als Leitwährung unhaltbar. Friedman drängte Richard Nixon zu einer Aufgabe des festen Wechselkurses. In seinem Memorandum „A Proposal for Resolving the U.S. Balance of Payments Problem", das er dem gerade gewählten Präsidenten im Oktober 1968 vorlegte, hieß es, „die ersten Wochen der neuen Regierung ... werden eine einmalige Gelegenheit bieten, den Dollar freizugeben und damit auf Jahre hinaus die Beschränkungen der Leistungsbilanz auf die US-Wirtschaftspolitik zu eliminieren" (zit. n. Friedman/Friedman, 1998, S. 376). Allerdings scheute Nixon diesen als riskant geltenden Schritt damals noch, darin unterstützt von Arthur Bums, der Friedmans Argumenten für freie Wechselkurse skeptisch gegenüberstand. Drei Jahre später machten Inflation und wachsende amerikanische Leistungsbilanzdefizite ein Festhalten an den geltenden Währungsparitäten unmöglich. Im August 1971 gab Nixon bekannt, daß die Vereinigten Staaten ihre Verpflichtungs zur Goldkonvertibilität des Dollars gegenüber ausländischen Zentralbanken mit sofortiger Wirkung suspendierten. Die Fassade des Gold-Devisen-Standards war gefallen. Zwar unternahmen die westlichen Regierungen noch einen letzten Versuch, das Währungssystem von Bretton Woods zu retten. Im „Smithsonian Agreement" einigte man sich auf größere Schwankungsbreiten, machte Zugeständnisse an protektionistische Wünsche Nixons und verfügte eine massive Aufwertung der Währungskurse von wichtigen Expordändern, allen voran Japan und Deutschland. 1973 erzwang aber eine neue Devisenkrise, erneut ausgelöst durch eine Flucht aus dem Dollar, die endgültige Freigabe der Wechselkurse.

Professoren unterzeichnetes Manifest für eine Aufwertung der D-Mark, um ihre Position gegen diese Angriffe zu verteidigen (vgl. Nützenadel, 2005, S. 166-170). 7 8 Die Maßnahmen etwa der amerikanischen Regierung umfaßten Einschränkungen des zollfreien Wareneinkaufs von Touristen, weniger staatliche Auslandskredite, die Maßgabe „buy-American" für öffentliche Ausschreibungen und zunehmende steuerliche Restriktionen gegen Kapitalausfuhr. Das den Neoliberalen heilige Ideal des freien Handels und ungehinderten Kapitalverkehrs schien akut gefährdet.

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 369

10.2. Hayeks Vorschlag: Entnationalisierung des Geldes Während Friedman und andere die neue Wechselkurs flexibilität begrüßten, hielt sich die Begeisterung vieler MPS-Mitglieder in Grenzen. Noch Jahre später flammten die Meinungsverschiedenheiten gelegentlich wieder auf. Anhänger des Goldstandards verwiesen darauf, daß auch Hayek Zweifel bezüglich des von Friedman propagierten regelgebundenen Papiergelds habe (vgl. Kemp, 1978, S. 16). In den MPS-Diskussionen zur Währungsordnung hatte sich Hayek stets zurückgehalten. Mit dem endgültigen Zusammenbruch von Bretton Woods und der folgenden internationalen Debatte um regionale Währungsverbünde kehrte er zu den monetären Fragen zurück. Er bedauerte das Ende des Gold-Devisen-Standards, um dessen Fehler er wohl wußte, von dem er jedoch glaubte, mit seinen festen Wechselkursen habe er zumindest eine gewisse monetäre Disziplin erzwungen. Man dürfe nicht übersehen, daß feste Wechselkurse „der praktisch unersetzbare Zügel" seien, „den wir brauchen, um die Politiker sowie die ihnen verantwortlichen monetären Autoritäten zu sjvingen, eine stabile Währung zu erhalten", so argumentierte er im Februar 1975 bei einem Vortrag in Rom anläßlich des hundertsten Geburtstages von Luigi Einaudi (Hayek, 1975b, S. 20-21, kursiv im Orig.). Mit dem Ende von Bretton Woods schien also manchem die letzte Barriere gegen eine hemmungslose Inflationspolitik demokratischer Regierungen gefallen. Und tatsächlich sah es Mitte der siebziger Jahre düster aus: Als Folge der keynesianisch-expansiven Reaktionen auf den Olpreisschock hatten die Inflationsraten weltweit Höchststände erreicht. An der Spitze der Industrieländer lag Großbritannien, wo die Geldentwertung im Jahr 1975 mit mehr als 25 Prozent einen Rekordwert erreichte. Bei einigen Neoliberalen wurden schlimme Erinnerungen wach. Wachsende Unzufriedenheit angesichts des staatlich manipulierten und inflationierten Geldes ließ Hayek nach radikalen Alternativen suchen. Da eine Rückkehr zum Goldstandard, für die er durchaus Sympathie hegte, nicht möglich schien, reifte in ihm der Gedanke eines völlig neuen Weges: „Choice in Currency", also freie Wahl des Geldes durch die Bürger, lautete seine Lösung nun, wie er in einem Vortrag in Lausanne erklärte (Hayek, 1976/1978). 79 Die Währung sei ein zu sensibles Gut, argumentierte er dort, um sie exklusiv dem Staat, also Politikern, anzuvertrauen. Beim staatlichen Geldmonopol sei die Gefahr des Machtmißbrauchs inhärent, wie zahlreiche historische Beispiele von Inflationen durch opportunistische Aufblähung der Geldmenge bewiesen. Staatliche Geldemittenten könnten dem Druck organisierter Interessengruppen nicht widerstehen; zudem seien sie von keynesianischen Vorstellungen durchdrungen und bedächten folglich nur die kurzfristigen Folgen ihres Handelns. „Unsere einzige Hoffnung auf ein stabiles Geld ist heute tatsächlich, einen Weg zu finden, das Geld vor der Politik zu schützen" (ebd., S. 224). Konkret forderte er zunächst, zwischen den Staaten der atlantischen Gemeinschaft alle gesetzlichen Barrieren für den freien, wettbewerblichen Gebrauch von Währungen abzu79 Dieser Gedanke fand sich bereits 1960 in einer Fußnote zur „Constitution of Liberty": „Eine der wirksamsten Maßnahmen zum Schutz der persönlichen Freiheit könnte tatsächlich in Verfassungen bestehen, die in Friedenszeiten alle Einschränkungen von Transaktionen mit jeglichen Geldsorten oder kostbaren Metallen verbieten" (Hayek, 1960/1991, S. 410).

370 • Wandlungen des Neoliberalismus schaffen. Ein halbes Jahr später wagte er in einer Schrift für das IEA den nächsten gedanklichen Schritt und plädierte nun für eine „Entstaatlichung", also Privatisierung des Geldes (vgl. Hayek, 1976). Er wollte einen totalen Neuanfang machen und schlug dazu vor, das staatliche Geldmonopol ganz aufzuheben und private Banken als Geldemittenten zuzulassen. Indem diese um das Vertrauen der Kunden konkurrierten, könne sich die härteste Währung im Wettbewerb herausstellen.80 Wenn die Wahl des Zahlungsmittels dem Publikum freigestellt werde und die Wechselkurse frei seien, müsse auf Dauer das gute, stabile Geld das schlechte, wertunbeständige Geld verdrängen.81 Scheinbar hatte Hayek nun einen radikalen Positionswechsel vollzogen: vom Wunsch nach real gedeckten Währungen zur Idee einer völligen Freigabe der privatisierten Geldschöpfung. Sein grundsätzliches Ziel eines inflationsgesicherten, neutralen Geldes blieb trotz unterschiedlicher Ansätze über die Jahrzehnte das gleiche (vgl. dazu Klausinger, 1997, S. 207). 82 Schon auf der MPS-Tagung in St. Andrews sorgte Hayeks geldtheoretischer Vorstoß für Aufsehen und Unruhe, besonders unter den Monetaristen (vgl. Seuß, 1976a). Beim Amsterdamer MPS-Treffen im April 1977 wurde die Idee des entnationalisierten Geldes erneut ausführlich und kontrovers diskutiert. Wie zu erwarten, äußerte sich Friedman skeptisch. Er fand Hayeks Vision zwar interessant und anregend, warnte aber vor allzu großen Hoffnungen, weil die privaten Emittenten keine geeigneten Mittel zur Deckung ihrer Währungen aufbieten könnten.83 Auch bei einer Lockerung der staatlichen Vorschriften bezüglich der gesetzlichen Zahlungsmittel sei unwahrscheinlich, daß sich private Konkurrenz etablieren werde. Seine Zweifel liefen auf die Frage hinaus, wie stabil die etablierte Währungsordnung mit staatlichem Exklusivgeld trotz aller Mängel sei. Die potentielle Alternative mit konkurrierenden Währungen war mit viel Unsicherheit verbunden. Der Sprung von einer Ordnung zur anderen, von einem Gleichgewicht zum anderen, würde

„Greshams Gesetz" („schlechtes Geld verdrängt gutes Geld") stellte er damit auf den Kopf. Die dort beschriebene Gefahr „adverser Selektion" von (äußerlich ununterscheidbaren) Münzen unterschiedlichen Feingehalts war ausgeschlossen, wenn die verschiedenen Währungsangebote klar unterscheidbar waren und zu flexiblen Wechselkursen gehandelt wurden. 81 In vielem griff diese Logik auf Gedanken der fast vergessenen Free Banking School zurück, der auch Mises zuneigte. Die Anhänger der Free Banking School bevorzugten einen freien Wettbewerb zwischen privaten Notenemittenten, wie er in Schottland noch erlaubt war. Ihre Lehren konkurrierten in den zwanziger und dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts mit den Vertretern der pragmatischen Banking School sowie der letztlich siegreichen Currency School. Deren Forderung nach Errichtung eines weitgehenden Emissions-monopols der quasi-hoheitlichen Bank of England wurde mit Peels Bank Act 1844 Gesetz (vgl. Schwartz, 1987). Zu Mises' geldpolitischem Masterplan, dessen letzte Stufe einer Abschaffung aller Zentralbanken er bereits in „Human Action" darlegte, vgl. Ebeling (2003, S. 151). 80

Allerdings hat Vaubel (1997, S. 217-218) zu Recht darauf hingewiesen, daß Hayeks Abkehr von früheren „konstruktivistischen" Vorschlägen hin zum offenen, „evolutionären" Konzept des Währungswettbewerbs als Entdeckungsprozeß einen gewissen Bruch in der Entwicklung seiner geldpolitischen Überzeugungen darstellte. 83 Wie sein Lehrer Simons vertrat Friedman lange Zeit die „klassische" These, daß die private, wettbewerbliche Produktion von ungedecktem Buchgeld („fiat money") aufgrund fallender Grenzkosten ein „natürliches Monopol" darstelle und deshalb ohne staatliche Regulierung in eine ungebremste Ausdehnung der Geldmenge, letztlich also Währungsverfall münden müsse (vgl. Friedman, 1950/1953b, S. 216-218). Demgegenüber beton-ten andere, daß Geldemittenten laufend neue, kostspielige Anstrengungen zu unternehmen hätten, um gegen-über potentiellen Kunden das nötige Vertrauen in die Bonität ihrer Verbindlichkeiten zu erzeugen (vgl. Dreyhaupt/Siepmann, 1978, S. 143-144). Später argumentierte Friedman etwas weniger apodiktisch in der Frage des staatlichen „fiat money" und setzte sich mit den Ansichten der Kritiker wohlwollender auseinander (vgl. Friedman/Schwarz, 1986/1987). 82

Der Kampf gegen den keyriesiariischen Konsens • 371 daher zu hohe Transaktionskosten involvieren, als daß die Wirtschafts Subjekte ihn spontan wagen könnten (vgl. Friedman, 1984, S. 44-45).84 Auch andere MPS-Diskutanten in Amsterdam meldeten Zweifel an den Resultaten eines privaten Währungswettbewerbs an. Wie stabil und dauerhaft diese seien, fragte etwa der junge Ökonom Roland Vaubel vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. Prinzipiell konnte er Hayeks Vorschlag konkurrierender privater Währungen einiges abgewinnen (vgl. Vaubel, 1976). Er warnte aber vor einem Verdrängungswettbewerb, an dessen Ende nur noch ein einziger Geldemittent stehe, der dann wieder als monopolistischer Anbieter von der Kontrolle des Wettbewerbs befreit sei. Eine mögliche Selbstzerstörung des Währungswettbewerbs, so Vaubel vor der MPS in Amsterdam, begrabe die von Hayek erhofften Stabilitätsvorteile des privaten Parallelgeldes (vgl. Linder, 1977). Im Kern ging es erneut um das neoliberale Dilemma der Stabilität eines unregulierten Wettbewerbs. Gab es eine Tendenz zur Selbstaufhebung? Oder war bei offenem Marktzutritt damit zu rechnen, daß kartellistische oder monopolistische Entwicklungen neue Wettbewerber anlocken würden und so der Wettbewerb gesichert sei?85 Da die Währungsfrage an den zentralen Nerv des marktwirtschaftlichen Systems dezentraler Koordinierung ökonomischer Akdvitäten ging, erforderte sie größte Vorsicht. War bei einem freien, spontanen Währungswettbewerb ohne staatlichen Rahmen gesichert, daß Kunden privater Geldemittenten genügend Informationen erhielten, um die Bonität der konkurrierenden Emittenten laufend beurteilen und somit eine „positive Selektion" durchführen zu können? Nach ordoliberalem Verständnis bedurfte es hier zumindest eines staatlichen Wettbewerbsrahmens. Obwohl viele Details noch unklar waren, bewirkte Hayeks Vision vom Währungswettbewerb auch bei jenen Neoliberalen ein Umdenken, die insgeheim dem Goldstandard nachtrauerten. Sie freundeten sich mit dem Gedanken an, daß die Existenz konkurrierender Währungen eine gewisse Sicherheit biete, um einzelnen Regierungen den manipulativen Mißbrauch ihrer Geldschöpfungsmacht zu erschweren. Solange die Zulassung privater Geldemittenten noch außer Reichweite lag, erschien wenigstens ein konkurrierender Gebrauch verschiedener nationaler Währungen in Europa und Nordamerika erstrebenswert, wie Hayek angeregt hatte. So war nicht verwunderlich, daß MPS-Mitgüeder auf Seiten der Kritiker standen, als in EG-Gremien die Diskussion um eine engere geldpolitische Koordination bis hin zur Vereinigung der europäischen Notenbanken und Währungen konkreter wurde. Bestrebungen zu mehr zwischenstaatlicher Kooperation in monetären Fragen verfolgten sie mißtrauisch und interpretierten sie als Versuch einer Kartellbildung zur Ausschaltung des Währungswettbewerbs (vgl. Salin, 1984, S. 23).

84 Tatsächlich hat sich diese Vermutung bestätigt. Obwohl die gesetzlichen und technischen Hürden zur Ausgabe von privatem Pseudo-Geld (etwa mit Kredit- oder Kundenkarten) heute minimal sind, konnten staat-liche Währungen ihre Monopolstellung bewahren. Zu vermuten ist, daß private Parallelwährungen erst bei sehr hohem Leidensdruck mit offener oder zurückgestauter Inflation aufkommen, wie das Beispiel des „Zigaretten-gelds" in Deutschland von 1945 bis 1 9 4 8 zeigt. 85 Später neigte Vaubel dieser Annahme zu (vgl. Vaubel, 1997, S. 219).

372 • Wandlungen des Neoliberalismus

11. Die Wandlung des Neoliberalismus: Revision der Wettbewerbspolitik Wie das Problem der monetären Ordnung ließ auch die Frage der Wettbewerbspolitik die MPS-Ökonomen nicht ruhen. Hier war in den späten sechziger und in den siebziger Jahren eine Wandlung zu beobachten, die den Kern der neoliberalen Theorie berührte: Wieviel Staat und welchen Staat brauchte der Markt, um zu funktionieren? Seit dem Colloque Walter Lippmann hatte der Neoliberalismus entschieden Abschied von der früheren Haltung des Laissez-faire genommen. Zur Stützung der Marktwirtschaft war eine aküve Politik gegen wirtschaftliche Konzentration, Kartelle und Monopole gefordert worden. Hayek hatte 1947 am Mont Pèlerin diese Position in Abgrenzung zum alten Liberalismus scheinbar bekräftigt. In einer bezeichnenden Passage seines Eröffnungsreferats formulierte er als „erste allgemeine These", die zu prüfen sei, „daß der Wettbewerb durch bestimmte staatliche Maßnahmen wirksamer und erfolgreicher gemacht werden kann, als er ohne sie wäre" (Hayek, 1947a/1952, S. 145). 86

11.1. Die jüngere Chicagoer Schule Unmittelbar nach dem Krieg gab es einen weitgehenden Konsens unter den Neoliberalen, daß der Staat zum Wohle des Wettbewerbs den Rahmen setzen und so bis zu einem gewissen Grad und nach rechtsstaatlichen Kriterien eingreifen dürfe und sogar müsse. Doch schon zu Beginn der sechziger Jahre deutete sich hier eine Revision der neoliberalen Grundsätze an: Bedenkt man den großen Ernst, mit dem die frühen Neoliberalen das Thema diskutiert hatten, so erstaunte die neue Leichtigkeit, mit der beispielsweise Friedman seine Argumente dazu vorbrachte. In seinem populären Buch „Capitalisai and Freedom" erklärte er, das Problem monopolistischer Marktstrukturen aufgrund technischer Gegebenheiten bestehe zwar, werde aber stark übertrieben. Als Belege für diese These nannte Friedman zum einen Nutters Dissertation „The Extent of Enterprise Monopoly in the United States" sowie Stiglers „Five Lectures on Economic Problems". Beide hatten verneint, daß es eine kontinuierliche Tendenz zu mehr Monopolstellungen gebe. Habe man die Wahl zwischen drei Übeln - dem privaten, unkontrollierten Monopol, dem staatlich regulierten Monopol und der Verstaatlichung eines Monopolbetriebs - , so sei das private Monopol, frei von staatlicher Einmischung, noch „das kleinste Übel", meinte Friedman (1962/2002, S. 169). Es war eine gravierende Änderung des geistigen Standorts des Neoliberalismus, die Friedman hier unternahm. Er begründete seine Position mit der Erwartung dynamischen Fortschritts der Produktionstechnologien und dem Aufkommen von Substitutions-

Diese Aussage entsprach ganz den Vorstellungen der deutschen Neo- bzw. Ordoliberalen. Allerdings betonte Hayek, wie dargestellt, schon in den frühen fünfziger Jahren stärker als andere die Bedeutung der „rule of law" und ging auf Distanz zu behördlichen Eingriffen zum Aufbrechen wettbewerbshinderlicher Marktstrukturen. Damit unterschied er sich v o m Ansatz anderer Neoliberaler, die diskretionäre staatliche Interventionen zum Schutz des Wettbewerbs und einer mittelständischen Marktstruktur bejahten. Wie die Freiburger Schule waren auch die frühen Vertreter der Chicagoer Schule, namentlich Simons, wenig zimperlich mit Forderungen nach einer strikten Antitrust-Polidk. 86

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 373 Produkten. Alles sei ständig in Bewegung, so daß sich private Monopolstellungen nicht lange halten ließen. Dem Wettbewerb, so die Folgerung, wohne keine selbstzerstörerische Tendenz inne, er könne sich selbst überlassen werden. Bildlich gesprochen machte die jüngere Generation der Chicagoer Schule eine „Rolle rückwärts": Sie plädierte für eine Rückkehr zur älteren liberalen Haltung des Laissez-faire. Damit verbunden war eine Abgrenzung von der älteren Generation, besonders von Simons. 87 Der Meinungswandel hatte wohl verschiedene Ursachen. Ein wichtiger Grund war das wachsende Unbehagen über staatliche Wettbewerbsregulierung seit Roosevelts New Deal. In den frühen fünfziger Jahren gab es zudem eine Reihe von Skandalen um die Besetzung von Regulierungskommissionen. Diese Entwicklungen und Ereignisse weckten das Mißtrauen der jüngeren Ökonomen der Chicagoer Schule und bestärkten ihren Willen zu einer Revision der neoliberalen Haltung zur Wettbewerbspolitik (vgl. Trebing, 1976, S. 314). Die führenden Teilnehmer dieser Diskussion, besonders Friedman und Stigler, weiter Yale Brozen, Harold Demsetz, Sam Peltzman und die Juristen Richard A. Posner und Robert Bork, waren oder wurden alle Mitglieder der MPS. 88 Ab den sechziger Jahren legte diese Gruppe zahlreiche Studien vor, die in erster Linie darauf abzielten, das gängige industrieökonomische Argument zu erschüttern, daß eine höhere Konzentration in bestimmten Branchen, also die Existenz nur weniger Anbieter, sich volkswirtschaftlich zwingend nachteilig auswirke und einer staatlichen Korrektur bedürfe. Die Arbeiten, häufig in dem von Ronald Coase betreuten Journal of Law and Economic.s veröffentlicht, kreisten besonders um folgende komplexen Probleme: Zum einen fragten sie, ob eine hohe industrielle Konzentration nicht eher als Resultat von technisch bedingten Größenvorteilen und damit als Ausweis guter Leistung und Produkte der betreffenden Firmen zu deuten sei. Zum anderen untersuchten sie, ob industrielle Konzentration tatsächlich mit einer — durch zu geringe Anzahl von Wettbewerbern bedingten — geringeren Innovationskraft der Branche einhergehe. Im Kern ging es um das Wechselspiel zwischen unternehmerischem Verhalten im Markt und der Struktur dieses Markts. Die Frage der Kausalität war entscheidend: Bedingte ein großer Marktanteil eines Produzenten dessen hohe Gewinnmargen zulasten der Konsumenten und stellte daher ein Problem dar? So hatten die früheren Neoliberalen argumentiert und so dachte auch die Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler. Oder war die Ertragsstärke des betreffenden Produzenten ein Zeichen seiner Leistungsstärke, seiner Effizienz und Innovationskraft, also nicht Folge, sondern Ursache seines Aufstiegs zum marktbeherrschenden Anbieter für ein bestimmtes Produkt? In diesem Fall diente die Konzentration der allgemeinen Wohlfahrt, und es gab keine ökonomische Rechtfertigung für ein Eingreifen. Zu dieser Position neigten immer stärker die genannten jüngeren Ökonomen aus dem Umfeld der Chicagoer Schule. Sie vertraten mehr und mehr die Ansicht, daß Konzentrations-

Dessen aktivistischer Ansatz zur Monopol- und Wettbewerbspolitik wurde als Verirrung gesehen, seine liberale Grundhaltung in Frage gestellt. So schrieb etwa Stigler (1988, S. 148) über seinen Lehrer: „Simons drängte auf eine extrem egalitäre Politik der Einkommensbesteuerung und detaillierte Regulierung von Geschäftspraktiken wie etwa der Werbung. Vieles an seinem Programm paßte fast genauso gut zum Sozialismus wie zum privatwirtschaftlichen Kapitalismus". Vgl. auch weitere abwertende Zitate zu Simons bei De Long (1990, S. 601). 88 Sie alle lehrten in Chicago oder hatten dort zumindest, wie Demsetz, Posner und Bork, ihre wissenschaftliche Karriere begonnen. Für Posner und Bork war besonders die Begegnung mit Aaron Director an der Law School prägend. 87

374 • Wandlungen des Neoliberalismus tendenzen letztlich kein Grund zu übertriebener Sorge seien. Ihre empirischen Untersuchungen und Fallstudien wiesen tendenziell in die Richtung, daß erstens eine geringe Anzahl von Produzenten in einem Markt einen effizienten Wettbewerb unter ihnen nicht ausschließe, daß zweitens die Betriebsgrößen in der Industrie generell nicht höher seien, als es das durch Größenvorteile beschriebene soziale Optimum erfordere, und daß drittens keinerlei Belege für die These existierten, wonach industrielle Konzentration dem technologischen Fortschritt hinderlich sei (vgl. Martin, 1976, S. 304). Gab es in einem bestimmten Markt nur sehr wenige Anbieter, sahen die Befürworter einer strengeren staatlichen Antitrust-Politik darin die Gefahr von Kartellverhalten, was durch gesetzliche Regulierung und Überwachung bis hin zur Zerschlagung der betreffenden Großunternehmen bekämpft werden müsse. 89 Dagegen wandte sich Posner, der den bestehenden Sherman Act für ausreichend hielt. Nach seiner Analyse der wettbewerblichen Interaktion waren einer kartellistischen Preissetzung auch auf oligopolistischen Märkten durch zahlreiche Unwägbarkeiten enge Grenzen gesetzt. Die oft beschworene Gefahr stillschweigender Zusammenarbeit („tacit collusion") sei aufgrund von Koordinations-, Kontroll- und Durchsetzungsproblemen erschwert. Jeder der potentiellen Kartellteilnehmer habe einen Anreiz, von der zuvor festgelegten Preisstrategie heimlich abzuweichen und dadurch seinen Anteil am Kartellkuchen zu vergrößern, womit aber gleichzeitig die Übereinkunft durchlöchert und zerstört würde (vgl. Posner, 1969, S. 1569-1575). Während er also das Ausmaß oligopolistischer Wettbewerbsbeschränkung eher herunterspielte, plädierte er für eine strikte Ahndung, falls „kartell-ähnliches Verhalten" nachzuweisen sei (ebd., S. 1583).90 Auch Stigler, der in seinen frühen Schriften einen strengen wettbewerbspolitischen Kurs verfochten hatte, betrachtete oligopolistische Märkte zunehmend gelassen und wies auf die Schwierigkeiten tatsächlicher wettbewerbswidriger Koordinierung von Preisen und Mengen hin (vgl. dazu Brozen, 1982, S. 390-392; Becker, 1991). Neue Wege beschritt die jüngere Chicagoer Schule auch in der Frage des Umgangs mit „natürlichen Monopolen", also etwa Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerken, Eisenbahnen und Telefonnetzen. Hatte Simons noch die Verstaatlichung all dieser „public Utilities" gefordert, so verurteilten die jüngeren Ökonomen aus Chicago staatliche Betriebe als ineffizient und wenig innovativ. Unter ihnen wuchs die Akzeptanz von privater Trägerschaft solcher Unternehmen. Falls diese übermäßige Gewinne erzielten, könnten sie beispielsweise durch gestaffelte Steuern abgeschöpft werden, so ein Vorschlag der jüngeren Chicagoer. Eine innovative und auch provozierende Arbeit zu diesem Thema veröffentlichte Demsetz Ende der sechziger Jahre, mit der er die negativen Vorhersagen der gängigen Theorie der

89 Der bekannte Jurist Donald Turner beispielsweise, ehemaliger Chef der Antitrust Division im amerikanischen Justizministerium, sowie der Ökonom Carl Kaysen, als Autoren des Buchs „Antitrust Policy" einschlägig bekannt, forcierten in den sechziger Jahren die Diskussion durch wiederholte Vorschläge für neue Gesetze, bei einer stark konzentrierten Marktstruktur größere Anbieter per Verwaltungsakt zu zerschlagen und so die Konzentradon aufzulösen. Daß ein Nachweis der vermuteten „tacit collusion", der für ein rechtsstaatliches Verfahren nötig wäre, äußerst schwierig zu erbringen sei, war Posner klar: Als Indizien wertete er „systematische Preisdiskriminierung", nur geringe Preisvolatilität, „abnormale Profite" sowie eine länger andauernde „Preisführerschaft" eines Unternehmens, dessen Preisänderungen andere Wettbewerber folgten (vgl. Posner, 1969, S. 1578-1583). Allerdings mahnte er die Gerichte zu „extremer Vorsicht wenn sie aus Marktverhalten Schlüsse auf still-schweigende Zusammenarbeit ziehen" (ebd., S. 1584).

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 375 „natürlichen Monopole" fundamental in Zweifel zog (vgl. Demsetz, 1968). Er bestritt, daß diese ohne Regulierung einen Monopolpreis erheben könnten, wenn über den Betrieb der „public Utilities" in einem kompetitiven Bieterverfahren entschieden werde. Dann, so argumentierte Demsetz, müsse sich der beste und billigste Konkurrent durchsetzen. Die tatsächliche Existenz von zwei oder mehr Produzenten sei dann nicht unbedingt notwendig, es reiche ein regelmäßig wiederholter Bieterwettbewerb um den einen Betrieb. Der Staat könne sich weitgehend aus der Sache heraushalten, meinte Demsetz (ebd., S. 57-58).91

11.2. Der Staat als Wettbewerbshüter? Allgemein wurde besonders unter den amerikanischen Neoliberalen die Rolle des Staates als Schiedsrichter in Wettbewerbsfragen immer kritischer gesehen. Wegweisend war hier Stiglers Anwendung der „Public Choice"-Theorie auf den Bereich der ökonomischen Regulierung. Er hinterfragte systematisch die Arbeitsweise von Regulierungsbehörden und kontrastierte die verbreitete idealistische Sichtweise mit den tatsächlichen Folgen ihrer Tätigkeit. Die zentrale These seines bahnbrechenden Aufsatzes „The theory of economic regulation" lautete, „daß Regulierung in der Regel von der Industrie angefordert wird und primär zu ihrem Vorteil ausgestaltet oder gehandhabt wird" (Stigler, 1971, S. 3). Der Aufsatz untersuchte, wie unter bestimmten Umständen private Interessengruppen staatliche Regulierung zu ihrem Vorteil instrumentalisieren. Mit Hilfe des Staates versuchten sie, effektiven Wettbewerb zu verhindern. Gegen den Marktzutritt neuer Anbieter würden so Hürden aufgebaut, welche die Position der Etablierten zu sichern halfen, so Stigler. Was vordergründig als staatliche Maßnahme zum Wohle der Öffentlichkeit und der Kunden erscheine, stelle sich bei näherer Betrachtung oft als raffinierte Strategie der regulierten Unternehmen oder Berufszweige dar. Regulierungsgesetze würden von der Politik wie auf einem Markt an Interessengruppen verkauft, die mit Stimmen und Spenden bezahlten. Während die Gewinne aus Regulierungsprivilegien konzentriert an eine kleine Gruppe gingen, seien die Verluste breit über die Allgemeinheit gestreut. Für die geschädigten Konsumenten und Wähler verringerten zudem hohe Informationskosten den Anreiz, die Folgen der Regulierung zu durchschauen und sich dagegen politisch zu organisieren (ebd., S. 10-12).92 Die Tendenz der jüngeren Vertreter der Chicagoer Schule war eindeutig: Sie gaben zu, daß in vielen Branchen der Wettbewerb alles andere als perfekt sei, doch werde das Ergebnis für den Konsumenten durch mehr staatliche Regulierung im Zweifel eher schlechter. Ihre

Einzig in Pattsituationen müsse eine staatliche Autorität oder eine Verbraucherorganisation in das Bieterverfahren eingreifen, glaubte er. Allerdings war nicht klar, wie verhindert werden könne, daß der Anbieter sein anfangs niedriges Preisgebot langfristig deutlich erhöhe. Eine realistischere Variante von Demsetz' Idee war daher die staatliche Versteigerung von Lizenzen zum Betrieb der „public Utility". Auf diese Weise würde der effiziente Anbieter zum Zuge kommen, der die größten Erträge zu erzielen erwartete, die jedoch als Folge der Auktion an die Allgemeinheit abgeführt würden. 91

92 Schon 1962 hatte Stigler mit Ciaire Friedland in einer empirischen Studie zum Erfolg staatlicher Regulierung der Tarife von Elektrizitätswerken keinerlei positive Auswirkung auf die Strompreise gefunden. Spätere Untersuchungen der Arbeit des Civil Aeronautics Boards führten dazu, daß die Politik der Luftfahrtbehörde sehr viel kritischer gesehen wurde und unter Präsident Carter entscheidende Schritte zu einer Liberalisierung unternommen wurden.

376 • Wandlungen des Neoliberalismus

pessimistische Sicht des Staates ließ kaum Hoffnungen auf eine aktive Politik eines idealen „starken Staates" zur Abwehr von Gruppeninteressen, zur Förderung des Wettbewerbs und zur wirksamen Bekämpfung von Kartellen und Monopolen, wie sie die ältere Generation der Neoliberalen noch hegten. Im Unterschied zu diesen untersuchten die jüngeren Wissenschaftler aus Chicago die Größe von Unternehmen sowie den Grad des Wettbewerbs vornehmlich unter dem Aspekt der volkswirtschaftlichen Effizienz. Die politischen oder soziologischen Konsequenzen privater oligo- oder monopolistischer Marktstrukturen, die Simons, Eucken oder Röpke befürchtet hatten, tauchten nur noch am Rande auf. Hatten die frühen Neoliberalen das Entstehen großer Konzerne als Machtballung kritisiert, die in einer echten Wettbewerbsordnung zu verhindern seien, betrachteten die neueren Studien aus Chicago die Entwicklung von Großunternehmen viel gelassener. Nicht mehr privater, sondern staatlicher Macht galt in dieser Perspektive das Hauptaugenmerk. Hintergrund dieser Verschiebung war das schnelle Wachstum des Staatsanteils, demgegenüber das Problem privater Macht verblaßte. „Der allgemeine Positionswandel der Chicagoer Schule zum Monopolproblem kann ... als eine neoliberale Reaktion auf das Wachstum von ,big government' gesehen werden" (Trebing, 1976, S. 319). Bei der Abwägung verschiedener Monopolgefahren erkannte die jüngere Chicagoer Schule als die größere Bedrohung den Staat, seine Regulierungs- und Planungsbehörden. Dieser neue Ton war auch in den Diskussionen der MPS zu hören. Bei der Brüsseler Tagung der Gesellschaft 1974 feuerte Peltzman eine Breitseite gegen den staatlichen Regulierungsapparat. Sein Vortrag „Learning to Live with Economic Regulation" basierte auf einer „Public Choice"-Analyse der Anreize, die auf Regulierungsbehörden wirkten. Diese kümmerten sich „wie andere Institutionen ... vornehmlich um ihr eigenes Überleben". Dazu müßten sie die relative politische Stärke von verschiedenen Gruppen abwägen und „daher jene Interessen eher beachten, die sich leicht organisieren lassen, um politischen Druck auszuüben, auf Kosten jener, die das nicht können" (Peltzman, 1974, S. 1). Verbraucher seien damit unweigerlich im Nachteil gegenüber mächtigen industriellen Verbänden. „Es ist daher nicht erstaunlich, daß Regulierung häufig zu Preisen über dem Wettbewerbsniveau und zur Stärkung von etablierten Produzentengruppen gegen potentielle Neuzutritte fuhrt", warnte Peltzman (ebd.). 93 Dieses negative Urteil bezog er auf sämtliche bundesstaatlichen Behörden, deren Arbeit das wirtschaftliche Geschehen tangierte, also die Environmental Protection Agency, die Securities and Exchange Commission, die Interstate Commerce Commission, die Fédéral Trade Commission, die Food and Drug Administration, das Civil Aeronautics Board, die Fédéral Communications Commission, die Fédéral Power Commission und das National Labor Relations Board. Aber auch die Antitrust Division des Justizministeriums nannte er gleichrangig als Regulierungsbehörde, deren Wirken nicht den Wettbewerb fördere, sondern ihn behindere. In der Frage der „public utilities" plädierte James Ramsey auf der Brüsseler MPS-Tagung gegen einen staatlichen Betrieb oder staatliche Regulierung und für kompetitive

9 3 Als Gegenstrategie gegen kartellierende Tendenzen empfahl Peltzman eine dezentralere Struktur der Behörden, um regionalen Wettbewerb zwischen verschiedenen Regulierungsordnungen zuzulassen, sowie eine Veränderung der Anreizstruktur der Behörden, so daß ihre Finanzierung proportional zum Ausstoß der ihnen unterstellten Firmen gewährt würde.

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 377 Bieterverfahren um die Lizenzen. Eine Alternative sei eine variable Steuer, um Gewinne von monopolistischen Anbietern abzuschöpfen und sie zu Innovationen zu treiben (vgl. Ramsey, 1974). Die radikalste Stellungnahme bei der Podiumsdiskussion zu „Monopol oder Wettbewerb spolitik" gab Benjamin A. Rogge ab. Er erklärte: „Fragen zur Größe von Firmen, ob absolut oder relativ zur Größe des Marktes, Fragen zur Anzahl der Firmen, Fragen zu Konzentrationsraten, Fragen zur Höhe oder zur Dauer der Profite - sie sind alle total irrelevant." Es sei „per se falsch, wenn Regierungen die Ergebnisse von freiwilligen Tauschakten am Markt zu modifizieren trachten". Antitrust-Gesetze verdammte er als Verletzung der Freiheit sowie als „ökonomische Absurdität". Die ganze bürokratische „Superstruktur", durch welche der Staat in den Markt eingreife, gehöre abgeschafft. „Nur so kann ein echter Wettbewerb wiederhergestellt werden" (Rogge, 1974, S. 1). All dies hatte der 1973 verstorbene Mises immer gepredigt, zu dessen Ehren die MPS in Brüssel eine Gedenkfeier hielt. 94 Der liberale Altmeister, der die Wandlung des Neoliberalismus in den dreißiger Jahren zu einer staatsbejahenden Doktrin mit höchstem Mißtrauen verfolgt hatte, war zeitlebens davon ausgegangen, daß Wettbewerbspolitik überflüssig sei, solange nur der Staat alle Eingriffe in den Markt und freien Handel unterlasse. Gleichgesinnte hatte Mises nach dem Krieg vor allem in den Vereinigten Staaten gewonnen 95 , während in Deutschland die Schule der Ordoliberalen eine aktive Wettbewerbsüberwachung gefordert hatte. Einer der wenigen, die dort konsequent Mises' Positionen vertreten hatte, war Muthesius. 1976 erklärte der Frankfurter Wirtschaftspublizist beim Treffen der MPS in Paris mit einer gewissen Befriedigung, ein echter Liberaler zeichne sich dadurch aus, daß er den unter deutschen Ökonomen kursierenden Begriff der „Marktmacht" verlache. Dies sei ein bloßer „Papiertiger", meinte Muthesius: „Es gibt ursprünglich keine Wirtschaftsmacht; im Wirtschaftsleben entsteht keine Machtposition, es sei denn, der Staat delegiert seine tatsächliche Macht an wirtschaftliche Agenten." Das „naive Vertrauen der Neoliberalen in eine staatliche Pädagogik zugunsten des Wettbewerbs", so erklärte er, sei eine fatale „Illusion" gewesen (Muthesius, 1976, S. 2-3). Dabei hatte sich auch die Position der deutschen Ordoliberalen im Laufe der Jahre gewandelt und war differenzierter geworden. Die meisten lehnten die zunehmende Konzentration zwar weiterhin als gefährlich ab und hielten die Hoffnung auf Produktivitätsfortschritte in „Mammutunternehmen" für überzogen (vgl. etwa Lenel, 1971, S. 35-36). Einige plädierten aber für mehr Zurückhaltung bei der Beurteilung dieser Sachverhalte, vor allem von Seiten des Staates. Diesen Standpunkt vertrat der in Freiburg lehrende Ökonomen Erich Hoppmann bei der Brüsseler MPS-Tagung 1974. Er unterschied zwei Konzepte der Wettbewerbspolitik, einen „reduktionistischen" und einen „systemischen" Ansatz: Unter „Reduktionismus" verstand er die eher statisch orientierte Auffassung von „vollkommener", atomistischer Konkurrenz, wie sie in neoklassischen Lehrbüchern zu finden sei. Komplexe Marktprozesse würden dabei auf industrieökonomische Modelle reduziert, deren Ergebnisse mittels simpler „Gesetze" vorherbestimmt werden könnten. Dagegen favorisierte Hopp-

94 Dabei erzählten Hayek, Machlup, der japanische Ökonom Yujiro Iwai und der mexikanische Jurist Gustaio Velasco von persönlichen Erinnerungen an Mises und lobten dessen wissenschaftliches Werk in den höchsten Tönen (vgl. Gy. B., 1974). 95 Sein Schüler Rothbard unternahm sogar eine offensive Verteidigung von „freiwilligen Kartellen" (vgl. etwa Rothbard, 1962/2004, S. 636-703)

378 • Wandlungen des Neoliberalismus mann den „systemischen" Ansatz, den er in Hayeks dynamischer Sicht des Wettbewerbs als „Entdeckungsverfahren" angelegt sah. Die Ergebnisse dieses offenen Prozesses könnten niemals in Modellrechnungen vorausgesagt werden (vgl. Hoppmann, 1974, S. 1). Während aus dem ersten Ansatz eine „teleokratische" Konzeption der optimalen sozialen Wohlfahrt und damit auch der staatlichen Wettbewerbspolitik resultiere, die genaue Zielvorgaben, etwa den „perfekten Wettbewerb" oder eine bestimmte Marktstruktur, zu erreichen versuche, impliziere der zweite Ansatz eine „nomokratische" Haltung des Staates, der sich auf die Durchsetzung allgemeiner Regeln beschränken solle. 96 Wohl unter dem Einfluß von Hayek, der seit 1962 in Freiburg lehrte, rückten einige der jüngeren Vertreter des Ordoliberalismus behutsam von der Vorstellung eines „perfekten Wettbewerbs" ab. Hoppmann etwa, der nun Euckens Lehrstuhl innehatte, erklärte: „Wenn Wettbewerbspolitik staatliche Interventionen nach administrativem Ermessen meint, dann kommt sie in Konflikt mit den Prinzipien einer freien Gesellschaft, und wir könnten sogar argumentieren, daß Monopole das geringere Übel darstellen." Eine staatliche Wettbewerbspolitik müsse sich darauf beschränken, adäquate abstrakte Regeln durchzusetzen, ohne auf das Endergebnis des Wettbewerbsprozesses zu schauen. Die Frage sei nun, wie diese Regeln zu finden, zu installieren und durchzusetzen seien. Auch hier gebe es keine letztgültige Antwort: „Die Politik der Wettbewerbserhaltung selbst ist ein evolutorischer Prozeß, das heißt, sie ist ein Prozeß der Entdeckung von adäquaten Regeln" (Hoppmann, 1974, S. 2). Wie war demnach die Bilanz der deutschen Wettbewerbspolitik zu beurteilen? Hoppmann schien ziemlich ernüchtert: Das GWB habe in seiner Anfangszeit trotz der Freistellung gewisser Kartellformen „die ihm ursprünglich zugedachte Aufgabe, den Wettbewerb gegen Beschränkungen zu sichern ... recht angemessen erfüllt". Das Gesetz habe die alte deutsche Kartellmentalität gebrochen. Allerdings seien im Zuge des „markanten politischen Richtungswandels (1968)" zunehmend Fehlentwicklungen zu beobachten, die sich in den Novellen des GWB von 1973, 1976 und 1980 niederschlugen. Die „Reformeuphorie" der siebziger Jahre habe zu einem Verfall des ordnungspolitischen Wissens geführt, bis schließlich zur „Vorstellung, Wettbewerbspolitik sei eine Unterabteilung staatlicher Wirtschaftslenkung'. Bedenklich sei die Praxis der selektiven und oftmals politisch gefärbten Fusionskontrolle: „Untersagungsverfügungen, die an Strukturkriterien anknüpfen, schützen aber nicht notwendigerweise den Wettbewerb, sondern unterbinden möglicherweise statt dessen einen Weg zur Bildung von effizienteren Unternehmen oder Unternehmensstrukturen ... Die deutsche Fusionskontrolle dient deshalb kaum dem Schutz des Wettbewerbs gegen Beschränkungen, sie ist erklärtermaßen ein: strukturpolitisches Element." Das GWB werde auf diese Weise seines Inhalts entleert und „in ein wirtschaftspolitisches Maßnahmegeset£ transformiert", kritisierte Hoppmann (1981, kursiv im Orig.). Das MPS-Treffen im schottischen St. Andrews anläßlich zum 200. Erscheinungsjahr von Adam Smiths „Inquriy into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" 1976 bot

Unleugbar hatte einem Teil der allzu ambitionierten wettbewerbspolitischen Ideen der frühen Freiburger Schule, die Monopole und Kartelle aufbrechen und in eine mittelständische Wirtschaft überfuhren wollte, bis in die fünfziger Jahre eine „teleokratische" Vorstellung zugrunde gelegen. Sprachen die Gründerväter der Freiburger Schule von „Ordo", so lag darin auch die Sehnsucht nach einem überzeitlich gültigen Ideal einer guten Wirtschaftsund Gesellschaftsstruktur (vgl. Wegman, S. 204-210). 96

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 379 erneut Gelegenheit, die unterschiedlichen Standpunkte zur Wettbewerbspolitik zu diskutieren. Smith galt den einen als Advokat des Laissez-faire, also als kartellpolitischer Nihilist, die anderen verwiesen auf seine Kritik an Kaufmannsverschwörungen. Ein launiger Artikel in der FAZ referierte die ganze „Bandbreite liberaler Gesellschaftstheorie" zwischen „Laissez-faire-Kapitalismus" und „Sozialer Marktwirtschaft". Die deutsche Unterscheidung zwischen einer „Ablaufpolitik", also Eingriffen in den Marktwettbewerb, und der „Ordnungspolitik", also der Herstellung eines Rahmens für den Wettbewerb, wie sie ErnstJoachim Mestmäcker verteidigte, war vielen amerikanischen Teilnehmern nur schwer verständlich zu machen. Friedman nannte eine Politik zur Herstellung und Erhaltung des Wettbewerbs einen „intellektuellen Trugschluß". Man lege an den Markt und die politischen Maßnahmen unterschiedliche Maßstäbe an. „Ein Versagen des Marktes werde unmittelbar als Rechtfertigung für Staatsinterventionen angesehen", erklärte Friedman, „der politische Mechanismus habe aber auch Mängel", so zitierte ihn die FAZ (Seuß, 1976b). Die Meinungsvielfalt in der MPS in dieser Frage wies ein klares Gefälle zwischen amerikanischen und europäischen Positionen auf.97 Wenn auch unterschiedlich vehement, so gab es doch auf beiden Seiten des Atlantiks namhafte Neoliberale, die zunehmende Unzufriedenheit mit der restriktiven Praxis der Wettbewerbsbehörden äußerten. Teilweise wurde diese Entwicklung als Fehlinterpretation oder Perversion eines ursprünglich richtigen Ansatzes der Wettbewerbsordnung wahrgenommen, so Hoppmanns Sicht. Teilweise ging der Unmut darüber hinaus und stellte das Prinzip einer staatlich zu sichernden, kleinteiligen Wettbewerbsstruktur generell in Frage. Die Position der Chicagoer Schule entwickelte sich in diese Richtung, wie etwa das provokante Buch „The Antitrust Paradox" von MPS-Mitglied Robert Bork zeigt. Der Autor, der ab 1973 als Solicitor General der Vereinigten Staaten ein herausgehobenes öffentliches Amt innehatte, machte die verbreitete Abneigung gegen Großkonzerne und Fusionen dafür mitverantwortlich, daß es weniger Wettbewerb und weniger Wirtschaftswachstum gebe (Bork, 1978, S. 3-5). Großunternehmen existierten beziehungsweise entstünden, weil sie Größenvorteile nutzen und von Synergien profitieren könnten. Damit seien Fusionen im Interesse der Verbraucher und sollten nicht durch Antitrust-Interventionen verhindert werden. Ähnliche Argumente las man in dem Buch „Concentration, Mergers, and Public Policy" von Brozen (1982, S. 11): „Konzentrierte Industrien wurden konzentriert (und manche Firmen werden oder bleiben .beherrschend') weil dies der Weg zu größerer Effizienz und geringeren Kosten in diesen Industrien ist". Immer vehementer vertraten die Chicagoer Neoliberalen ihre Ansicht, daß eine geringe Anzahl von Marktteilnehmern nicht das Ende des Wettbewerbs bedeute. Sofern nicht staatliche Marktzutrittsbarrieren vorlägen, sei das Aufkommen marktbeherrschender Anbie-

Besonders auf Seiten der Europäer waren noch häufig Stimmen zu hören, die strikte kartellbehördliche Maßnahmen gegen Großkonzerne begrüßten. Der französische Ökonom Jacques Garello von der Universität Aixen-Provence kritisierte auf dem Salzburger Regionaltreffen laut TVZZ-Bericht, gerade in Europa sei „die Neigung %um Gigantismus unübersehbar und die Konkurrenz erheblich gefährdet. In der EG fehlten wirksame Mittel der Wettbewerbspolitik, die das Aufkommen von Monopolen verhindern könnten", wobei diese über ihren Markanteil zu definieren seien. Garello forderte „möglichst bald eine s t r a f f e europäische Antitrustgesetzgebung'. Andere Redner erklärten hierzu, es gelte „der Entstehung von marktmächtigen Konzernen entgegenzutreten; eine nachträgliche Korrektur der Marktstruktur ist weit weniger erfolgversprechend" (Gy. B., 15.6.1973, kursiv im Orig.). Bei den deutschen Ordoliberalen blieben Stimmen hörbar zugunsten einer aktiveren Politik der Wettbewerbsbehörden und auch diskretionärem Vorgehen gegen „die Inhaber privater wirtschaftlicher Machtpositionen" (Lenel, 1975, S. 337).

97

380 • Wandlungen des Neoliberalismus

ter ein Beleg für deren Behauptung im Wettbewerb, also Folge überlegener Effizienz und besserer Dienste für die Kunden. „Es ist Ausweis eines kompetitiven Verhaltens, das die Preise auf ein Niveau drückt, wo neuer Marktzutritt oder die Weiterführung von vielen kleineren Betrieben nicht mehr attraktiv sind" (ebd., S. 12). Diese Position unterschied sich deutlich von der Mehrheitsmeinung der amerikanischen Ökonomen, die nach wie vor ein enges Netz staatlicher Kontrollen gegen die Bildung von Unternehmen mit hohen Marktanteilen befürworteten. Dagegen war die Chicagoer Schule immer mehr überzeugt, daß diese Politik auf falschen oder simplifizierenden wettbewerbstheoretischen Prämissen beruhe und volkswirtschaftlich schädlich sei.98 „Die Restriktionen gegen die Zunahme von Firmengrößen müssen gelockert werden", forderte daher Brozen. Mit der gegenwärtigen, zu restriktiven Wettbewerbspolitik würden die Behörden „selbst die Produktionsmenge und das Produktivitätswachstum mindern" und trügen Mitschuld an der „Verschlechterung der Wettbewerbssituation der Vereinigten Staaten auf internationalen Märkten" (ebd., S. 14). Angesichts der behaupteten Fehlentwicklungen war die Frage naheliegend, ob die AntitrustGesetzgebung in ihrem Ursprung das gesamtgesellschaftliche Wohl verfolgt hatte oder vielmehr den Interessen einflußreicher Gruppen entsprungen war. Folgte man der Logik der „Public Choice"-Theorie, war Mißtrauen angebracht. Eine revisionistische Studie des Ökonomen Thomas DiLorenzo, auf die sich der radikalliberale Flügel in der MPS später häufig bezog, stellte die herkömmliche Geschichtsschreibung auf den Kopf. Er behauptete, die gesamte Antitrust-Gesetzgebung habe von Anfang an den Wünschen ineffizienter Produzenten entsprochen, aufkommende überlegene Großunternehmen zu behindern. Es gebe „Belege, daß der Sherman Antitrust Act vielleicht niemals die Absicht hatte, den Wettbewerb zu fördern" (DiLorenzo, 1985, S. 74). Auffällig waren wiederkehrende Klagen über zu niedrige, schneller als das allgemeine Niveau fallende Preise der Trusts im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts. In der Parlamentsdebatte von 1890 waren maßgebliche Stimmen zu hören, die ihnen vorwarfen, durch zu niedrige Preise „legitimen Wettbewerb" zerstört und „ehrliche Männer aus legitimen wirtschaftlichen Unternehmen" verdrängt zu haben (zit. n. ebd., S. 81)." Die Gleichsetzung aller Antitrust-Gesetze mit protektionistischen Maßnahmen zugunsten ökonomisch inferiorer, aber politisch mächtiger Produzenten lag auf der Linie des radikaleren amerikanischen Flügels der MPS, der sich am strikt antietatistischen Denken Ludwig von Mises' orientierte. Im Unterschied zu diesen beurteilten Bork und Stigler die historische Genese des Sherman Act wesentlich positiver (vgl. Bork, 1978, S. 34; Stigler, 1985). Doch auch die grundsätzlichen Befürworter des wettbewerbspolitischen Gedankens sahen mit wachsendem Ärger den Mißbrauch der Idee. Sie beklagten, daß die Antitrust-Behörde

Darin drückte sich auch die Sorge über Probleme amerikanischer Unternehmen im verschärften internationalen Wettbewerb aus. US-Firmen, besonders in Branchen der Hochtechnologie, verloren an Boden gegenüber den kleineren japanischen und deutschen Konkurrenzunternehmen, ihre Marktanteile schrumpften. Nach Ansicht der Chicagoer Schule war dies auch eine Folge der zu restriktiven Antitrust-Politik gegen Unternehmenszusammenschlüsse, welche schnelleres Produktivitätswachstum hätten bringen können. 9 9 Nach Shermans eigener Definition zeichneten sich echte Monopole durch eine vorsätzliche Verknappung des Ausstoßes mit dem Ziel einer künstlichen Erhöhung des Preises auf Kosten der Verbraucher aus. DiLorenzo argumentierte, daß die Produktionsmengen der damaligen Trusts weit schneller als das aligemeine amerika-nische Produktionsniveau gestiegen seien und sich diese damit keineswegs anukompetitiv verhalten hätten.

98

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 381 erfolgreiche Unternehmen verfolgte, weil diese mittels niedriger Preise — oft als „Dumping" oder „Predatory Pricing" diffamiert — angeblich den Wettbewerb auszuhebein bestrebt seien. Hayek äußerte sich zunehmend ablehnend gegenüber einer speziellen Antikartellgesetzgebung. Wie er im dritten Band von „Law, Legislation and Liberty" dargelegt hatte, lehnte er eine mit Ermessensspielräumen ausgestattete, das Wettbewerbsgeschehen beobachtende und kontrollierende Behörde ab. Ein generelles gesetzliches Kartellverbot war dem vorzuziehen, doch auch eine einfache Nichtigkeitserklärung aller privaten Marktabsprachen schien ihm ausreichend (vgl. Hayek, 1979/1981, S. 120-121).100 In den folgenden Jahren schlug sein Urteil über die staatliche Kartellpolitik noch deutlicher ins Negative: „Ein Großteil der Kartellgesetzgebung besteht heute in der Festlegung der Bedingungen, unter denen Kartelle angeblich nützlich sind und die also gegen Konkurrenz geschützt werden." Das Aufkommen sehr großer Unternehmenszusammenschlüsse machte ihm dagegen weniger Sorge. „Ich würde sagen: Je mehr Multis, um so mehr Konkurrenz haben wir" (Hayek, 1983b, S. 37-38). Wenn auch nur eine Minderheit in der MPS für eine vollständige Abschaffung der Antitrustoder Kartellbehörden plädierte, erreichte die Unzufriedenheit vieler neoliberaler Ökonomen und Juristen mit der staatlichen Antitrust-Praxis in den späten siebziger Jahren einen Punkt, wo eine Mehrheit eine generelle Lockerung der Wettbewerbsregulierung forderte. Allgemein zeichnete sich in den Diskussionen die Tendenz ab, die dynamischen Selbstbehauptungskräfte des Wettbewerbs auch auf oligopolistischen Märkten als deutlich robuster einzuschätzen, als dies die frühen Neoliberalen getan hatten. Deren idealisierte Vorstellung vom Staat als neutralem Hüter und Schiedsrichter des Wettbewerbs schien immer zweifelhafter, je mehr die Erkenntnisse der „Public Choice"-Theorie Gemeingut wurden. Obrigkeitliche Interventionen standen demnach immer in Gefahr, von Interessengruppen für ihre Ziele mißbraucht zu werden. Mehr Vertrauen in selbstregulierte Märkte und mehr Mißtrauen gegenüber den wettbewerbspolitischen Bemühungen des Staates waren damit Zeichen der Wandlung des Neoliberalismus ab Mitte der sechziger und verstärkt in den siebziger Jahren. Die Gewichte in der MPS hatten sich seit ihrer Gründung nun stark verschoben. Die anfangs tonangebende Fraktion derer, die eine starke wettbewerbspolitische Kontrolle für den Staat forderte, rückte langsam in den Hintergrund. An Bedeutung gewann jene Fraktion, die eine grundsätzlich selbsterhaltende Kraft der Konkurrenz annahm, die keiner oder wenig staatlicher Aufsicht bedürfe. Diese Revision der einstigen Abgrenzung vom älteren liberalen Laissez-faire bedeutete den Wandel des Neoliberalismus von einer defensiven zu einer offensiven Strategie der Verteidigung des Marktes. Im Spiegel der Wissenschaftstheorie von Lakatos (1968), die am Ende des 1. Teils dieser Arbeit zur Erklärung der „Geburt des Neoliberalismus aus der Krise" herangezogen wurde, ist die Revision als eine Neujustierung

100 Zugleich hatte Hayek die Tendenz der öffentlichen Diskussion bedauert, monopolistische Bestrebungen von Unternehmen anzuprangern, nicht aber die Wettbewerbsbeschränkungen der Gewerkschaften. In einem Seiten-hieb auf „antimonopolistische" Ansichten unter Neoliberalen schrieb er: „Daß das, was moralisch falsch ist, nicht das Monopol, sondern nur die Verhinderung von Wettbewerb ist sollten sich besonders jene ,Neo-liberale' vor Augen halten, die glauben, sie müßten ihre Unparteilichkeit dadurch beweisen, daß sie gegen alle Unternehmensmonopole genauso wettern wie gegen alle Gewerkschaftsmonopole, wobei sie vergessen, daß Unternehmensmonopole häufig das Resultat besserer Leistung sind, während alle Gewerkschaftsmonopole auf der zwangsweisen Unterdrückung des Wettbewerbs beruhen" (Hayek, 1 9 7 9 / 1 9 8 1 , S. 118).

382 • Wandlungen des Neoliberalismus des „Schutzgürtels" (protective belt) des neoliberalen „Forschungsprogramms" zu verstehen. Die in den dreißiger Jahren entwickelte Hilfshypothese vom selbstzerstörerischen Wettbewerb wurde nun wieder fallengelassen. Die einstigen Selbstzweifel, die in der Krise die Liberalen befallen hatten, verblaßten. Angesichts des greifbaren Versagens des interventionistischen Staates gab man die einstige Hoffnung der frühen Neoliberalen auf einen überparteilich agierenden öffentlichen Schiedsrichter eines fairen Wettbewerbs auf. Die in der frühen Zeit des Neoliberalismus intensiv diskutierten Konzepte „liberale Intervention" und „Dritter Weg" wurden still begraben. In der MPS dominierten nun jene, die den Markt nicht mehr mit dem Staat, sondern gegen den Staat und die Politik zu verteidigen suchten. Die Parole „roll back the State" wurde ihr Schlachtruf.

12. Ausbau des weltweiten neoliberalen Netzes Während sich die neoliberale Bewegung inhaltlich wandelte und vorwärtsschritt, begann auch eine organisatorische Verbreiterung. Die MPS war nach dem Krieg als loses Netzwerk von bedrängten Intellektuellen gegründet worden. Hayeks langfristige Strategie des „Kampfs der Ideen", also einer rein geistigen Anstrengung, reichte vielen neoliberalen Mitstreitern aber bald nicht mehr aus. Sie dachten über neue und ergänzende Formen der Organisation nach. Die MPS behielt ihre Funktion als wissenschaftliches Diskussionsforum im Hintergrund, aus ihren Reihen kam es in den siebziger Jahren aber verstärkt zur Gründung von Instituten und Denkfabriken, die näher an den politischen und publizistischen Zentren der Macht agierten. Vorbild war das IEA unter der Leitung von Harris und Seidon. Aus dessen Umfeld kamen mehrere neue Institutionen hinzu, so das von Keith Joseph und Margaret Thatcher 1975 aus der Taufe gehobene Centre for Policy Studies (CPS) unter der Leitung von Alfred Sherman, in dessen Beirat Hayek saß, und das von Madsen Pirie sowie den Brüdern Eamonn und Stuart Butler 1976/1977 gegründete Adam Smith Institute (ASI). Beide taten sich durch stärker auf die konkrete wirtschaftspolitische Praxis bezogene Arbeiten hervor. Obwohl sie nur eine kleine Zahl von Mitarbeitern hatten und ihre Budgets unterhalb der Millionengrenze blieben, knüpften sie ein dichtes Beziehungsnetz zu Politikern und Publizisten (vgl. Denham/Garnett, 1998, S. 117-150 u. 151-174). 101 In den Vereinigten Staaten entwickelte sich ein anderer Typus von politischwissenschaftlichen Think Tanks, der den europäischen Rahmen personell und finanziell weit überstieg. Stiftungen mit einem Vermögen von mehreren Milliarden Dollar, gegründet von wohlhabenden Geschäftsleuten und Philanthropen, standen hier als Finanziers zur Verfügung. Allerdings waren einige der wichtigsten Stiftungen, etwa die Rockefeller oder die Ford Foundation, in der Zeit nach dem New Deal von marktliberalen Ansichten abgerückt. Ihrer Ausrichtung am „liberalen", also sozialdemokratischen Zeitgeist gemäß, vergaben sie immer mehr Forschungsgelder für solche sozialwissenschaftlichen Unternehmungen, die eine technokratische Planbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft annahmen. 102 In den

101 Überhaupt bleibt anzumerken, dass die „Thatcher-Revolution" weitgehend das Werk einer recht kleinen Gruppe von Intellektuellen und Politikern war, wie Cowling (1990) betont hat. 102 Besonders die Ford Foundation stand der Kennedy-Johnson Administration nahe und engagierte sich unter ihrem Direktor McGeorge Bundy als Vorkämpfer einer linksgerichteten „advocacy philanthropy", also einer

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 383 siebziger Jahren stand die Politik eines von Experten geleiteten „social engineering" hoch im Kurs, wenn auch langsam Zweifel wuchsen (vgl. Smith, 1991, S. 98-166). Die Anfänge der Think Tanks auf der Rechten erschienen dagegen eher bescheiden. Bereits vorgestellt wurde die Foundation for Economic Education (FEE) von Leonard Read. Weiter war in den fünfziger Jahren die studentisch geprägte Intercollegiate Society of Individualists (ISI) tätig. Finanziell unterstützt wurden solche Unternehmen vom Volker Fund sowie der Earhart und der Reim Foundation, die auch die MPS mit Spenden bedachten. Kurz vor der Auflösung des Volker Fund zu Anfang der sechziger Jahre wurde das restliche Vermögen dem 1961 gegründeten Institute for Humane Studies (IHS) übertragen. Diese an Mises ausgerichtete kalifornische Denkfabrik stand unter der Leitung von F. A. Harper, dem alten Gefährten Reads. Nach Harpers Tod im Jahr 1973 übernahm zunächst Charles Koch, später Leonard Liggio die Leitung. E r versuchte, eine dezidiert „österreichische" Wirtschaftswissenschaft zu fördern und an den führenden Universitäten kleine Inseln unorthodoxer Forschung zu etablieren. Obwohl die F E E , die ISI und das IHS nur eine begrenzte Ausstrahlung hatten, bereiteten sie doch mit kontinuierlicher Bildungsarbeit den späteren Durchbruch marktwirtschaftlich orientierter Think Tanks von nationaler Bedeutung vor (vgl. Kelley, 1997, S. 62-69 u. 83-84). Hier wären Organisationen wie das American Enterprise Institute (AEI), später die Heritage Foundation oder das Cato Institute zu nennen, die in den siebziger und achtziger Jahren mit Dutzenden von Mitarbeitern und Millionenbudgets erheblichen Einfluß auf die politische Szene in Washington ausübten. Das A E I , eng mit der republikanischen Partei verbunden, existierte schon seit 1943, war aber im ersten Jahrzehnt seines Bestehens nur wenig aktiv. Erst in den späteren fünfziger Jahren verfolgte es unter William Baroody und W. Glenn Campbell, letzterer MPS-Mitglied und später Chef der Hoover Institution, einen dezidiert marktwirtschaftlichen Kurs und etablierte sich als Gegengewicht zur linksgerichteten Brookings Institution, die ihre Unterstützung von der Rockefeiler, der Carnegie und der Ford Foundation erhielt. Im Beirat des A E I saßen ab den späten fünfziger Jahren zahlreiche MPS-Okonomen wie Friedman, Haberler, McCracken oder Nutter, ab den siebziger Jahren förderte es verstärkt auch neokonservative Intellektuelle wie Irving Kristol (vgl. Smith, 1991, S. 174-180). Die Hoover Institution, schon 1919 vom späteren Präsidenten Herbert Hoover als Bibliothek und Archiv auf dem Gelände der Stanford Universität gegründet, begann später, besonders nachdem Campbell Anfang der sechziger Jahre die Leitung übernommen hatte, eine eigene liberal-konservativ orientierte Forschergemeinde zu sammeln. Unter den Wissenschafdern, die sich hier in den späten siebziger Jahren niederließen, waren auch herausragende Neoliberale aus den Reihen der MPS, namentlich Friedman, Stigler oder Thomas Sowell. Zu ihren Honorary Fellows zählten neben Hayek auch Ronald Reagan sowie der sowjetische Dissident Alexander Solschenizyn. Dank des Talents Campbeils als Spendensammler sowie enger Beziehungen zu Politikern und anderen Think Tanks entwickelte sich die Hoover Institution zur bestfinanzierten und stärksten rechtsgerichteten Forschungs-

millionenschweren Förderung der Themen der politischen Linken, wie Wohlfahrtsstaat, Feminismus, Quotenpolitik im Sinne der „affirmative acüon" oder einer auf einseitige Abrüstung ausgelegten Friedenspolitik.

384 • Wandlungen des Neoliberalismus einrichtung, mißtrauisch beäugt von der linksgerichteten Professorenschaft der Universität Stanford, die anfangs heftig gegen die explizit antikommunistische Stoßrichtung des HooverBildungsauftrags protestierte (vgl. ebd., S. 184-189). In mancher Hinsicht gaben die Niederlage von Barry Goldwater 1964 und das Aufkommen der Neuen Linken den Intellektuellen auf der rechten Seite des politischen Spektrums einen Anstoß, sich besser zu organisieren. 1965 trat die vom späteren MPS-Mitglied Don Lipsett, einem führenden jungen Aktivisten der ISI, initiierte Philadelphia Society zusammen, um eine geistige Gegenbewegung zum „progressiven" Zeitgeist in Gang zu setzen. Sie vereinte dezidierte Neoliberale wie Friedman und dezidierte Konservative wie Kirk sowie zahlreiche Wissenschafder und Publizisten, etwa Buckley, den Chefredakteur der National Review, mit Ansichten zwischen diesen Polen. In seinen Memoiren hat Friedman die Philadelphia Society „so etwas wie den heimischen Ableger der Mont Pèlerin Society" genannt (Friedman/Friedman, 1998, S. 335). Die Nähe vieler ihrer führenden Mitglieder zur MPS war auffällig. 103 An der Gründung der Philadelphia Society war auch der damals frisch graduierte konservative Aktivist Ed Feulner beteiligt. Er hatte bei P. T. Bauer an der LSE studiert und dann auf einer Teilzeitstelle beim IEA gearbeitet. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die republikanische Fraktion im Kongreß beobachteten Feulner und sein Mitstreiter Paul Weyrich in den Jahren um 1970 den Mangel an intellektueller Orientierung und Führung in der Partei. Daß eine echte Wende unter Nixon ausblieb, führten Feulner und Weyrich auf das intellektuelle Vakuum der Rechten zurück. Anfang der siebziger Jahre arbeiteten die beiden daran, einen eigenen Think Tank ins Leben zu rufen. 1973 eröffnete die Heritage Foundation ihre Büros in Washington. Das Startkapital von einer viertel Million Dollar gab der Bierbrauer Joseph Coors, später erhielt sie laufende Unterstützung der sehr vermögenden Scaife Foundation und Olin Foundation. Doch es waren nicht in erster Linie finanzielle Mittel, sondern die personellen und intellektuellen Ressourcen, die Feulners Unternehmen stärkten, nicht zuletzt seine Beziehungen über die MPS und das britische Adam Smith Institut, dessen Mitgründer Stuart Butler eine führende Position bei Heritage übernahm. Die Stiftung entwickelte sich rasch zu einer der führenden politischen Einrichtungen in Washington. Ihr Meisterstück legte sie 1980 mit dem mehr als tausend Seiten starken Manifest „Mandate for Leadership" vor, das eine detaillierte politische Agenda für den Präsidentschaftskandidaten Reagan ausbreitete (vgl. Smith, 1991, S. 190-202).104 Die späten siebziger und frühen achtziger Jahre erwiesen sich als günstige Zeit für politischen Aktivismus auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Während die 103 Gut ein Drittel der Präsidenten der Philadelphia Society gehörten der MPS an, darunter Glenn Campbell (196567), Arthur Kemp (1967-68), Stephen J. Tonsor (1969-1971), Henry Regnery (1971-73 u. 1975-77), Ernest van den Haag (1978-79), Ed Feulner (1982-83) und Leonard Liggio (1992-93 und 1994-95). 104 Allerdings ist schwer zu sagen, ob die zunehmende Aktivität neoliberal-konservativer Think Tanks und bekannter Wissenschaftler am Anfang der Wende der öffentlichen Meinung stand oder ob sie von der ansteigenden Welle der Unzufriedenheit mit wirtschaftlicher Stagnation, Inflation und gesellschaftlichem Verfall profitierten: „Die Bewegung konservativer Ideen wurde stärker", schreibt Smith (1991, S. 203), „nicht wegen der Kraft institutionalisierter Propagandakampagnen oder der öffentlichen Predigten der ,Think Tanks' - dem harten Geschäft der Vermarktung von Ideen - , sondern als Folge des Wandels der Ansichten der Öffent-lichkeit über Programme und Politiken." Vermutlich wirkten Kräfte in beide Richtungen und schaukelten sich gegenseitig hoch.

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 385

Heritage Foundation in gesellschaftspolitischen Fragen eher konservativ-traditionelle Positionen vertrat, etablierte sich mit dem Cato Institute eine neoliberale Denkfabrik, die in allen Belangen auf Laissez-faire setzte. Die 1977 von Ed Crane sowie anderen Aktivisten aus dem Umfeld der Libertarian Party gegründete, zunächst in San Francisco, dann in Washington residierende Einrichtung erhielt ihr Startkapital und spätere Unterstützung von den finanzstarken Brüdern Charles und David Koch, die sich über Jahrzehnte als verläßliche Mäzene radikal-liberaler Anliegen betätigten (vgl. Kelley, 1997, S. 142-143). Anders als die Heritage Foundation entsprang das Cato Institute nicht dem republikanischen „Establishment", sondern dem libertären „Antiestablishment". Wie auch die 1978 gegründete Reason Foundation predigte Cato einen radikalen Individualismus und Antiinterventionismus, der sich auf die ökonomischen Ansätze von Mises und Rothbard wie auf die „objektivistische" Philosophie von Ayn Rand berief. Eine ähnliche Ausrichtung hatte das Ludwig von Mises Institute, das 1982 von Llewelyn Rockwell und Mises' Schülern, allen voran Rothbard, in Auburn, Alabama, gegründet wurde. Diese und andere Einrichtungen, etwa Kirzners Seminar in New York, trugen zu einem moderaten Aufschwung der jüngeren „Austrian Economics" in den achtziger Jahren bei (vgl. ebd., S. 179). Wohl die wichtigste Person bei der weltweiten Vernetzung all dieser marktwirtschaftlichen Organisationen war der IEA-Gründer Antony Fisher. Nachdem er sich Anfang der siebziger Jahre aus geschäftlichen Unternehmungen zurückgezogen hatte, widmete er sich ganz dem Aufbau und der Finanzierung weiterer Think Tanks, angefangen 1974 mit dem Fräser Institute im kanadischen Vancouver, dem das MPS-Mitglied Michael Walker vorstand. „Ich neige mehr denn je zu der Ansicht, daß es Zeit ist, jetzt mit größtem Nachdruck so viele IEA-artige Organisationen auf den Weg zu bringen wie möglich", schrieb Fisher an Hayek (zit. n. ebd., S. 61). Im Jahr 1978 hob er das Pacific Institute of Public Policy Research in San Francisco aus der Taufe, wo sich das Ehepaar Fisher niederließ und später im selben noblen Apartmenthaus wie das Ehepaar Friedman lebte. Ebenfalls 1978 folgte das International Center für Economic Policy Studies, drei Jahre später in Manhattan Institute umbenannt, das in den achtziger Jahren mit Publikationen von George Gilder und Charles Murray wichtige Kontroversen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik auslöste. Hayek beglückwünschte Fisher 1981 zu seinem Engagement und meinte: „Wenn die Politiker die Welt nicht in den nächsten zwanzig Jahren zerstören, dann, bin ich sicher, wird eine neue und weniger irregeleitete Generation die Verantwortung übernehmen" (zit n. ebd.). Bei der Gründung neuer Institute und Denkfabriken bot die Basis der MPS eine unschätzbare Hilfe. Das dort geknüpfte Netzwerk ermöglichte es, akademisch herausgehobene Persönlichkeiten als Berater, Redner und Autoren für die neuen Think Tanks zu mobilisieren und diesen so in kurzer Zeit wissenschaftliches Renommee zu verschaffen. Dies bestätigte etwa das Schreiben Fishers, es hätten nur „die Freundschaften und Verbindungen, die ich durch die Gesellschaft habe, ... beispielsweise das Fräser Institute möglich gemacht" (Fisher an Harris, 14.6.1978, in: HIA, IEA-Slg. 291-3). Als Dachorganisation der so rasch wachsenden Zahl neoliberaler Denkfabriken und Einrichtungen gründete Fisher 1981 die Atlas Economic Research Foundation in Fairfax, Virginia. Als Ziel all seiner Bemühungen beschrieb er in einem MPS-Vortrag das „Marketing of the Free Market" (vgl. Fisher, 1986). Im Jahr 1987 fusionierte die Atlas Economic Research Foundation mit dem nun an der George Mason University angesiedelten IHS. Direktor wurde der Brite John Blundell, ein

386 • Wandlungen des Neoliberalismus erfahrener Organisator, der schon in diversen neoliberalen Einrichtungen, dem CPS, dem IEA und dem ASI, gearbeitet hatte. Sein Auftrag, so erklärte Blundell, sei es, „die Welt mit marktwirtschaftlichen Think Tanks zu übersähen" (zit. n. Cockett, 1994, S. 307). Zehn Jahre nach ihrer Gründung konnte die Adas Foundation vermelden, sie habe beim Aufbau von nicht weniger als 87 Instituten, davon 31 in Lateinamerika, beratend und finanziell geholfen (vgl. ebd.).

13. Zwischen Hoffen und Bangen: „Is the Tide Turning?" In den späten siebziger Jahren zeichnete sich also ein Aufschwung neoliberaler Konzepte und Institutionen ab. In der MPS gab man sich zunehmend optimistisch, daß es gelingen würde, tatsächlich Einfluß auf die Regierungspolitik zu nehmen, zumal die kritisierte interventionistische Wirtschaftspolitik, die den Anspruch erhoben hatte, durch eine zentrale Steuerung die Konjunktur beherrschen und das Wachstum befehlen zu können, für alle sichtbar an ihre Grenzen stieß. Mit der keynesianischen Standardantwort, die effektive Gesamtnachfrage durch kreditfinanzierte Ausgabenprogramme zu stützen, war dieser Krise nicht mehr beizukommen, da die Wirtschaftssubjekte ihre Inflationserwartungen immer schneller anpaßten. Staatliche Belebungsversuche liefen somit ins Leere und brachten nur steigende Preise, jedoch kein reales Wachstum, wie Friedman in seiner AEA-Rede 1967 vorausgesagt hatte. Angesichts der Stagflation, der ökonomischen Geißel der siebziger Jahre, war das keynesianische Paradigma fundamental in Frage gestellt. Alle herkömmlichen Instrumente hatten sich als wirkungslos erwiesen. Damit schien die Bühne frei für neoliberale Konzepte. Eine Vortragsreihe der MPS-Tagung 1976 in Paris hatte das Motto „The End of the Keynesian Era". Hier erklärte die Gesellschaft den endgültigen Bankrott des keynesianischwohlfahrtsstaatlichen Paradigmas. Im September 1978 lautete das Motto in Hongkong noch drängender: „Is the Tide Turning?" Einiges sprach dafür: In den Vereinigten Staaten entlud sich der Ärger über zu hohe Steuern und Abgaben in einer „Tax Revolt" der bürgerlichen Mittelschicht, die im Juni 1978 in der Annahme der berühmten Proposition 13 in Kalifornien gipfelte. In Frankreich war schon 1976 überraschend die bürgerliche Opposition an die Macht gekommen. Zeitgleich hatte sich in Schweden, dem sozialistisch-wohlfahrtsstaatlichen Musterland Skandinaviens, erstmals seit mehr als vier Jahrzehnten ein Regierungswechsel ereignet. Und in Großbritannien, wo sich die wirtschaftliche Krise weiter zuspitzte, stand eine Alternative in Gestalt Margaret Thatchers bereit, die mit zunehmender Schärfe neoliberale Therapien empfahl. Einige MPS-Redner beantworteten die Frage nach der politischen Gezeitenwende affirmativ: „Ja, ich denke, daß eine echte .Revolution' gegenwärtig in Frankreich stattfindet", erklärte Henri Lepage vom Pariser Institut de l'entreprise. Er sei optimistisch, daß die neue Regierung von Raymond Barre und Präsident Giscard d'Estaing „unsere lange Tradition des schleichenden Sozialismus und industriellen Colbertismus" beenden werde (Lepage, 1978, S. 1). Andere Redner waren skeptisch: Aus Schweden berichtete Sven Rydenfelt weniger beschwingt, die „Krankheit der Siebziger" sei keineswegs kuriert. Die schwedischen nichtsozialistischen Kräfte hätten nach ihrer Regierungsübernahme „mit wenigen Ausnahmen

Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens • 387 denselben Kurs wie ihre Vorgänger verfolgt" (Rydenfelt, 1978, S. 1). Was den künftigen Weg der Vereinigten Staaten anging, so zeigte sich Harold Demsetz skeptisch. Trotz einiger hoffnungsvoller Anzeichen, besonders der Proposition 13, sei er „nicht überzeugt, daß die Steuerrebellion entweder dauerhaft oder prinzipiell ist". Es gebe „keine fundamentalen Änderungen der Umstände, die anzeigen, daß eine signifikante Wende in den politischen Dingen ansteht" (Demsetz, 1978, S. 2). Die langfristige Perspektive, die er einnahm, war in der Tat wenig ermutigend, denn alle Statistiken belegten ein kontinuierliches und dramatisches Wachstum des Staates auf Kosten des privaten Sektors: „Es ist unleugbar, daß die westlichen Demokratien seit der Jahrhundertwende ständig den Grad der obrigkeitlichen Kontrolle über das Leben der Bürger ausgeweitet haben. ... Das ist eine Entwicklung, die nur erklärbar ist durch das Zusammenspiel der demokratischen Institutionen und der maximierenden Kalkulation von Individuen, die in und mit diesen Institutionen arbeiten" (ebd., S. 2-3). In dieselbe Richtung ging die Rede, die Stigler als MPS-Präsident zu Beginn des Treffens hielt: „Why have the Socialists Been Winning?" Die gewaltige Zunahme einer ökonomisch schädlichen Umverteilung sei nicht auf Irrtum oder Täuschung der Wähler zurückzuführen, sondern entspräche der systematischen Verzerrung des politischen Prozesses durch Partikularinteressen und Lobbies sowie den Ergebnissen des rationalen Handeln von Bürokraten und Politikern zum eigenen Vorteil und zum Vorteil ihrer Klientel. Falls die Erkenntnisse der „rationalen Theorie" stimmten, daß „die große und wachsende Rolle des Staates das war, was die Öffentlichkeit insgesamt wollte ... Stehen wir dann nicht vor der harten Wahl, entweder Kollektivisten zu werden oder nicht-demokratische politische Institutionen anzustreben?" (Stigler, 1979, S. 66).105 Auf einen echten Umschwung in der öffentlichen Meinung zu hoffen, sei jedoch vergeblich, meinte er: „Sicherlich sind Änderungen der politischen Vorlieben leichter vorgestellt als wahrscheinlich, und ich bezweifle, daß sie uns Anhängern einer dezentralisierten Wirtschaft und Politik erlauben werden, der bitteren Frage auszuweichen: Sind wir eine ewige Minderheit?" (ebd., S. 67). Trotz solcher pessimistischer Töne war die Stimmung beim MPS-Treffen in Hongkong eher beschwingt. Die Neoliberalen spürten einen politischen Aufwind, sie fühlten, daß sich der Zeitgeist in ihre Richtung zu drehen begann. Dies wollten sie durch eine noch schärfere, direkte Konfrontation mit dem intellektuellen Gegner unterstützen. So trug Hayek in Hongkong die Idee vor, eine große öffentliche Debatte von zwölf neoliberalen Denkern mit zwölf linksgerichteten Denkern zur Frage „Was socialism a mistake?" abzuhalten. Auf neoliberaler Seite sollten an dieser Diskussion nach Hayeks Vorstellung einige MPSMitglieder auftreten, etwa P.T. Bauer, James Buchanan, Ronald Coase, Milton Friedman, Armin Gutowski, Ralph Harris, Emil Küng, Gaston Leduc, Warren Nutter, Joaquin Reig, Ben Rogge, Arthur Shenfield und Christian Watrin. Auf der gegnerischen Seite dachte er an bekannte Namen wie James Meade, Noam Chomsky, Leszek Kolakowski, Arthur Lewis und

,os Eine Möglichkeit, dem Wuchern des Staates Grenzen zu setzen, sei die Abwanderungsdrohung der Leistungsträger. Die zweite Möglichkeit wäre, das Wahlrecht gleich auf die Leistungsträger zu beschränken. Weiter könne man darauf hoffen, durch konstitutionelle Änderungen ein höheres demokratisches Quorum für wirtschaftspolitische Eingriffe zu schaffen oder ein Zweikammernsystem einzurichten, um den Einfluß straff organisierter Minderheiten zu reduzieren.

388 • Wandlungen des Neoliberalismus Gunnar Myrdal, vielleicht auch noch Sartre. Als Moderator der Debatte hatte er Raymond Aron vorgesehen (vgl. Ebenstein, 2001, S. 310). Obwohl Hayek sich von einer direkten Konfrontation vor laufenden Kameras viel versprach, gab es beim MPS-Treffen viele Einwände. Zum einen war die Finanzierung unklar, zum anderen war auch ungeklärt, wie das gegnerische Team zusammengestellt werden sollte. Ergebnis der Beratung in der MPS war, daß Hayek die sozialistischen Intellektuellen besser mit einer kleinen Streitschrift herausfordern sollte. Schließlich machte sich Hayek daran, eine endgültige Abrechnung mit dem Sozialismus zu verfassen. Aus diesem Vorhaben, nur unter großer Mühe und mit Hilfe des Philosophen W. W. Bartley verwirklicht, entstand in den achtziger Jahren das Spätwerk „The Fatal Conceit", worin Hayek stärker als je zuvor seine Uberzeugung eines spontanen Entstehens menschlicher Ordnungen und gesellschaftlichen Fortschritts durch kulturelle Evolution betonte und allen Versuchen einer durch politisch-zentrale Intervention geschaffenen Ordnung eine Absage erteilte (vgl. Hayek, 1988/1996).

IX. Der Neoliberalismus an der Macht? Ab den späten siebziger Jahren zeichnete sich in Teilen der westlichen Welt ein bemerkenswerter politischer Umschwung ab. Die Verschlechterung des ökonomischen Umfelds verschaffte der neoliberalen Kritik immer mehr Auftrieb. Reihenweise bewahrheiteten sich ihre negativen Prophezeiungen bezüglich der expansiven „Vollbeschäftigungspolitik". Je tiefer das keynesianisch-wohlfahrtsstaatliche Modell in die Krise geriet, desto eher wurden marktwirtschaftliche Alternativen erwogen. Die ideologische Gezeitenwende der siebziger Jahre schlug sich in den angelsächsischen Ländern in politischen Führungswechseln nieder. In Großbritannien hatte das IEA den Boden für die Veränderungen bereitet und dabei eng mit der MPS kooperiert. Als erster Spitzenpolitiker machte sich Keith Joseph die Analyse der IEA-Ökonomen zu eigen, der zu einer Schlüsselfigur der britischen Wende wurde. Ihm gelang es, Thatcher von der Notwendigkeit eines Bruchs mit der Vergangenheit zu überzeugen. Trotz grundsätzlich großer Sympathie für Thatchers Kurs kam aus den Reihen der MPS nach dem Regierungswechsel 1979 auch scharfe Kritik. Hayek beklagte Zaghaftigkeit in der Gewerkschaftsfrage, die IEAVordenker bemängelten ein zu geringes Tempo der Privatisierungen. Zudem erwies sich die Kontrolle der Geldmenge in der Praxis als schwierig. Unter den MPS-Mitgliedern gab es Bedenken, eine zu kräftige und abrupte monetäre Kontraktion ohne steuerliche Endastung könne in eine unnötig schwere Rezession führen. Auch in den Vereinigten Staaten gab es eine enge Verflechtung von neoliberalen Beratern mit der Regierung Reagan. Im Wahlkampf 1980 umgab sich der ehemalige kalifornische Gouverneur mit einer großen Zahl von MPS-Beratern; einige von ihnen stiegen in den achtziger Jahren in hohe Regierungsämter auf. Die vier zentralen wirtschaftspolitischen Ziele, die Reagan verkündete — geringeres Wachstum der Staatsausgaben, Senkung der Einkommensteuer, Deregulierung der Wirtschaft sowie antiinflationäre Geldpolitik entsprachen den Vorstellungen der amerikanischen Neoliberalen. Allerdings gab es rivalisierende Strömungen, die auch auf MPS-Treffen auftraten. Die einen räumten der geldpolitischen Bremsung absolute Priorität ein, wogegen die anderen vor allem eine steuerliche Entlastung der Bürger als Vorbedingung zur Überwindung der Stagnation ansahen und einen allzu rigiden monetären Kurs ablehnten. MPS-Mitglieder sparten nicht mit Kritik an der Fed. Der Disput über die richtige Abstimmung von geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen setzte das neoliberale Lager schweren Spannungen aus. Eine Beurteilung der Regierungen Thatcher und Reagan aus neoliberaler Sicht fällt damit zwiespältig aus. In die Begeisterung über Strukturreformen, die den Boden für eine langfristige wirtschaftliche Erholung legten, mischte sich auch Enttäuschung über verpaßte Chancen: Trotz aller Liberalisierung von Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkten gelang es weder Thatcher noch Reagan, die Staatsquote substantiell zu senken. Somit sind überzogene Behauptungen einer neoliberalen „Revolution" zu relativieren. Auf Treffen der MPS sprachen Redner von einer nur „halben Revolution", da der Wohlfahrtsstaat im Kern nicht angetastet wurde. Immerhin war eine grundsätzlich marktfreundlichere Rhetorik im politischen Diskurs der angelsächsischen Länder zu verzeichnen. Die kontinentaleuropäischen Staaten blieben dahinter zurück. In Frankreich hatten Verfechter marktwirtschaftlicher Reformen in

390 • Wandlungen des Neoliberalismus den achtziger Jahren einen besonders schweren Stand. Entgegen dem internationalen Trend schwenkte das Land politisch nach links. In Deutschland kam mit dem Regierungswechsel 1982 unter den dortigen MPS-Mitgliedern die Hoffnung auf eine weitreichende Wende auf. Zwar bemühte sich die liberal-konservative Koalition unter Kohl um eine Rückkehr zu fiskalischer Stabilität, weitergehende ordnungspolitische Reformen blieben aber aus. Aus Sicht neoliberaler Kritiker wurden eher Symptome als die wahren Strukturprobleme behandelt. Die geringe Bereitschaft zu mehr Markt, die neoliberale Intellektuelle auf dem Kontinent beklagten, sahen sie auch auf der Ebene der europäischen Institutionen. Grundsätzlich mißtrauten sie den Brüsseler Behörden und unterstellten ihnen protektionistische Absichten. Im Gegensatz zu der von vielen Politikern verfolgten Vision eines administrativ vereinheitlichten und harmonisierten Europas plädierten führende MPS-Mitglieder für institutionellen Wettbewerb und Vielfalt. Aus dieser Perspektive lehnten sie mehrheitlich die Schritte zu einer europäischen Einheitswährung ab und sahen weitere Schritte zu einer Staatswerdung Europas skeptisch. Besondere Beachtung verdient, wie prominente MPSMitglieder den Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks beurteilten. Hier überraschten die nach kurzzeitiger Euphorie eher verhaltenen Reaktionen. Angesichts der weiterhin hohen Regulierungsdichte sowie hoher Staatsquoten weltweit prägte Buchanan die Formel: „Socialism is dead, but Leviathan lives on". Pessimistisch klang auch die Einschätzung des libertären MPS-Präsidenten Pascal Salin, daß nach dem Ende des Kommunismus nicht der Liberalismus, sondern eine globalisierte Form der Sozialdemokratie gesiegt habe. Es bleibt die Frage, ob der Neoliberalismus in den achtziger Jahren tatsächlich in Teilen der westlichen Welt an die Macht gelangte. Die folgende detaillierte Darstellung soll eine differenzierte Antwort darauf liefern.

1. Großbritannien: Josephs „Konversion" und der Aufstieg Thatchers Die durch den Olpreis-Schock verschärfte Stagflation machte allen westlichen Ländern zu schaffen. Ernest van den Haag warnte beim MPS-Treffen 1974 in Brüssel vor dem Untergang der Marktwirtschaft. W o sie noch existiere, stünde sie „unter heftigen und ständigen Angriffen der großen Mehrheit der Intellektuellen, und ihr Mechanismus ist verzerrt durch Inflation, Kontrollen und Wohlfahrtsmaßnahmen" (Haag, 1974, S. 5). Besonders gefährdet schien Großbritannien. Viele der dortigen Neoliberalen waren der Verzweiflung nahe, wie Shenfields dramatische Rede in Brüssel zeigte. Auch in der internationalen Presse setzte sich die Ansicht durch, das Land sei der „kranke Mann Europas". Die Regierung Heath, auf die Harris und Seidon, die Vordenker des IEA, anfangs Hoffnungen gesetzt hatten, enttäuschte die Erwartungen. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiter marktwirtschaftliche Konzepte in die Diskussion einzubringen und mit Publikationen die öffentliche Meinung zu bearbeiten. Zudem pflegten sie wieder die Kontakte zu prominenten konservativen Politikern, darunter Keith Joseph, Geoffrey Howe und Margaret Thatcher. Schließlich gelang es dem IEA-nahen Journalisten Alfred Sherman, der mit Joseph befreundet war, diesen mit mehreren scharfen Kommentaren im Daily Telegraph wachzurütteln. Sherman war es, der ihm für seinen Verrat an früheren Grundsätzen die Augen

Der Neoliberalismus an der Macht? • 391

öffnete. 1 Mit drei aufsehenerregenden Reden in Upminster, Leith und Preston, die Sherman konzipierte, durchbrach Joseph im Sommer 1974 die Kabinettsdisziplin und das Schweigen des politischen Establishments und versuchte, die Öffentlichkeit wachzurütteln. Erstmals stellte er den keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens grundsätzlich in Frage. Damit markierten Josephs Reden den Beginn einer offenen Auseinandersetzung um den wirtschaftspolitischen Kurs der Tories. Den Hintergrund lieferte die sich verschärfende ökonomische Krise des Landes: „Vergleichen Sie unsere Position mit der unserer Nachbarn in Nordwest-Europa", rief Joseph in Upminster: „Wir haben die höchsten Steuern und die geringsten Investitionen. Wir haben den geringsten Wohlstand, die niedrigsten Pensionen. Wir haben den größten verstaatlichten Sektor und die schlimmsten Probleme mit den Gewerkschaften." In einer vielzitierten Passage erklärte er: „Dies ist nicht der richtige Augenblick, um feine Zurückhaltung zu üben. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben wir insgesamt viel zu viel Sozialismus gehabt" (Joseph, 1975a, S. 6). Aufmerken ließ, daß Joseph die eigene Partei und sich selbst von dem Vorwurf nicht ausnahm, für den schleichenden Sozialismus und die Mißwirtschaft in Großbritannien mitverantwortlich zu sein. „Während der Hälfte dieser dreißig Jahre haben es konservative Regierungen aus verständlichen Gründen als nicht praktikabel erachtet, die große Masse dieses aufgehäuften Schutts des Sozialismus wegzuräumen ... Wir haben statt dessen versucht, auf dieser unsicheren Grundlage zu bauen" (ebd.). Dem Auftritt in Upminster folgte die Ansprache in Leith, wo er der gesamten politischen Klasse die Verantwortung für die beschleunigte Geldentwertung und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Probleme zuwies (vgl. Joseph, 1975b). Seine harte Kritik alarmierte die Parteispitze um Heath. Wenige Wochen vor der zweiten, entscheidenden Parlamentswahl des Jahres 1974 feuerte Joseph in Preston eine weitere Breitseite gegen zu zaghafte oder fehlgeleitete Ansätze zur Inflationsbekämpfung ab: Der Ansatz interventionistischer Preis- und Lohnregulierung, den Heath gewählt hatte, sei falsch. Statt dessen forderte er eine Reduktion des Geldmengenwachstums. „Inflation ist von den Regierungen gemacht", so der im Titel der Rede formulierte Kerngedanke, der in hochkonzentrierter Form das monetaristische Credo transportierte (vgl. Joseph, 1975c). Die drei Reden des noch amtierenden Ministers stellten eine Generalabrechnung mit dem keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dar. Joseph erging sich in Selbstkritik, was ihn glaubwürdig erscheinen ließ. Er bekannte, erst jetzt ein „echter", weil wirtschaftsliberal und antikollektivistisch orientierter Konservativer geworden zu sein.2 Wollte Großbritannien der Inflation, der Arbeitslosigkeit und dem

1 Sherman hatte bereits eine lange ideologische Wanderung hinter sich: Aus einer Arbeiterfamilie stammend, hatte er in den frühen dreißiger Jahren mit einem Stipendium an der LSE Wirtschaft studieren können. Seit seiner Jugend als Kommunist politisch aktiv, meldete er sich als Freiwilliger für den spanischen Bürgerkrieg, wo er als Maschinengewehrschütze kämpfte. Nach Reisen durch Titos Jugoslawien löste er sich nach dem Zweiten Weltkrieg von seinen marxistischen Überzeugungen und wechselte die Seite. Mit ähnlicher Energie, wie er einst für den Kommunismus eingetreten war, stritt Sherman nun gegen alles Sozialistische. Er machte Karriere beim bürgerlichen Daily Telegraph und begegnete Joseph erstmals zu dessen Zeit als Wohnungsbauminister. In den sechziger Jahren half Sherman ihm einige Male bei Redeentwürfen, brach dann aber 1971 wie auch Harris den Kontakt zu Joseph ab. 2 Im Vorwort zu einer 1975 veröffentlichten Sammlung verschiedener Reden, darunter die Ansprachen von Upminster, Leith und Preston, erklärte Joseph, „es war erst im April 1974, daß ich zum Konservatismus bekehrt wurde". Zuvor habe er geglaubt, ein Konservativer zu sein, „aber ich sehe jetzt, daß ich überhaupt keiner war"

392 • Wandlungen des Neoliberalismus

Niedergang entkommen, so seine Botschaft, dann sei eine beherzte Wende zu marktwirtschaftlichen Konzepten notwendig. Während die Auftritte Josephs die Parteispitze zutiefst verärgerte, machten sie einen starken positiven Eindruck auf Thatcher. Sie teilte seine Analyse der Ursachen der britischen Krise. Joseph, der bereits früher ihre Karriere als politischer Mentor gefördert hatte, nahm sie nun erneut unter seine Fittiche. Indem er ihr neoliberale Literatur von Hayek bis Friedman empfahl, lenkte er Thatchers Denken in radikalere Bahnen. Seine Bedeutung als geistiger Wegbereiter kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Thatcher selbst erklärte rückblickend: „Wenn Keith nicht all diese Arbeit mit den Intellektuellen gemacht hätte, wäre der Rest unserer Arbeit wahrscheinlich im Ergebnis nicht erfolgreich gewesen. ... Es war Keith, der wirklich die intellektuelle Gezeitenwende gegen den Sozialismus einleitete" (zit. n. Halcrow, 1989, S. 97). Schon als Studentin in Oxford, im Jahr 1944, gehörte Thatcher zu den begeisterten Lesern von Hayeks „Road to Serfdom". Sie habe aber damals, erklärte sie später, bei weitem nicht „die ganze Tragweite von Hayeks kleinem Meisterwerk begriffen" (Thatcher, 1995a, S. 68). Anders als Joseph lagen ihr abstrakte wirtschaftsphilosophische Diskussionen weniger. Argumente ökonomisch-logischer Art überzeugten sie eher, wenn sie dem intuitiven Verständnis, ihrer Lebenserfahrung sowie den Werten entsprachen, die Thatcher in der Kindheit verinnerlicht hatte. 3 Zu Thatchers Wertekanon zählten die typisch „viktorianischen" Tugenden: Selbstdisziplin und puritanische Arbeitsethik, Stolz auf die individuelle Leistung und Selbständigkeit sowie das haushälterische Sparsamkeitsgebot, nicht mehr Geld auszugeben, als die laufenden Einnahmen erlaubten. Dieser Kompaß führte Thatcher geradewegs zu wirtschaftspolitischen Ansichten, die denen der Neoliberalen entsprachen: Die Verantwortung und Freiheit des Individuums sollten gegenüber dem kollektivistischen Prinzip des Wohlfahrtsstaates gestärkt werden, um brachliegende Kräfte freizusetzen. Über einen methodologischen Individualismus hinaus gingen Thatchers eher national-konservative Vorstellungen zur Wiederherstellung der britischen Nation. Beide Ansätze, der neoliberale und der nationale, standen in einem theoretischen Spannungsverhältnis. Doch in der Praxis ergänzten sich beide Gedankenstränge: Als Vorbedingung, die Nation wieder zu alter Größe zu führen, sah Thatcher eine wiederbelebte Marktwirtschaft, die auf individueller Handlungsfreiheit beruht (vgl. Geppert, 2002, S. 95-144). An die Öffentlichkeit war Thatcher mit diesen wirtschaftsliberalen Uberzeugungen bislang nicht getreten. Auch bei den Sitzungen des Kabinetts hatte sie sich mit Beiträgen zur ideologischen Kursbestimmung nicht hervorgetan. Ihr politischer Standort war also kaum bekannt, und die wenigen, die ihre Absichten genauer kannten, warnten vor ihrer ungestümen Art. 4

(Joseph, 1975, S. 1). Auf viele seiner Parteifreunde, die weiter den keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens vertraten, wirkte dieses Bekenntnis irritierend und provozierend, da es ja unterstellte, sie selbst segelten unter falscher politischer Flagge. Linke Tories wie Ian Gilmour drehten diesen Vorwurf bald um (vgl. Denham/Garnett, 2001, S. 251). 3 Es war maßgeblich Thatchers methodistischer Vater Alfred Roberts, ein Kolonialwarenhändler, der sich aus bescheidenen Verhältnissen zu einem gewissen Wohlstand hocharbeiten konnte, der seine Kinder durch sein Vorbild prägte und ihnen eine von bodenständig-konservativen Idealen getragene Lebenseinstellung vermittelte. 4 „Ich bin überhaupt nicht sicher bei Margaret", hatte Howe in einem Brief an Seidon gewarnt, noch bevor sie in Heaths Kabinett eintrat. „Viele ihrer ökonomischen Ansichten sind bestimmt vernünftig", doch erscheine sie oft „zu dogmatisch", etwa in Bildungsfragen, und könne so viel Schaden anrichten, meinte Howe (zit. n. Cockett, 1994, S. 171).

Der Neoliberalismus an der Macht? • 393

Anfang 1975 stieg Thatcher überraschend gegen den abgewählten Heath ins Rennen um den Parteivorsitz ein. Bei vielen Abgeordneten der zweiten und dritten Reihe hatte sich eine Menge Unzufriedenheit aufgestaut. Heath, durch die Wahlniederlage geschwächt, wähnte sich dennoch sicher, da ein starker Herausforderer nicht in Sicht schien. Thatcher galt vielen als zu unerfahren; manche belächelten sie als „Quotenfrau". Joseph, der einigen in der Partei als Hoffnungsträger galt, war aber über umstrittene Äußerungen zur Geburtenkontrolle gestolpert. 5 So profitierte Thatcher von einer Reihe von Zufällen und taktischen Fehlern des Heath-Lagers, erwarb sich zudem als schlagfertige Rednerin bei zwei Unterhausdebatten weithin Respekt. Obwohl sie über keine Hausmacht verfügte, konnte sie bei der geheimen Abstimmung der Abgeordneten im ersten Wahlgang zur allgemeinen Überraschung mehr Stimmen als Heath verbuchen. Die Sensation war perfekt, als sie im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit erhielt.

1.1. Die Rolle des IEA und der neoliberalen Intellektuellen Damit stand nun eine Frau an der Spitze der Konservativen, die seit Jahren die Nähe zum IEA gesucht hatte. Sie teilte dessen Überzeugung, daß nur ein Bruch mit der keynesianischwohlfahrtsstaatlichen Politik der Nachkriegszeit, also eine grundlegende Wende den Niedergang Großbritanniens aufhalten könne. In diesem Sinne verkörperte sie die neue Hoffnung der Neoliberalen. 1975 half sie Joseph und Sherman bei der Gründung des Centre for Policy Studies (CPS), einem Think Tank mit ähnlicher Ausrichtung wie das IEA. Da es jedoch keine formale parteipolitische Neutralität zu wahren hatte, sondern lose mit den Konservativen verbunden war, konnte es — in Konkurrenz zur offiziellen, noch moderat keynesianischen Forschungsabteilung der Tories — direkteren politischen Einfluß nehmen. Der äußerst energische Sherman wirkte als Spiritus rector des CPS und bemühte sich erfolgreich, radikal marktwirtschaftliche Ideen innerhalb der Konservativen Partei zu verbreiten. Seine Aufgabe sah Sherman darin, das „Unmögliche" zu denken und bewußt politisch unkorrekt zu sein (vgl. Cockett, 1994, S. 234 u. 238). Bald nach Thatchers Aufstieg zur Oppositionsführerin vermittelte das IEA ein kurzes Treffen mit Hayek, der die politische Entwicklung genau verfolgte. Mit Joseph pflegte Hayek seit 1974 eine gelegentliche Korrespondenz; nun war er gespannt, die neue Führerin der Tories kennenzulernen. Hayek schien nach der halbstündigen Begegnung mit Thatcher seltsam bewegt von ihrer eleganten Erscheinung (vgl. ebd., S. 174-176). Auch weltanschaulich fühlte Hayek eine Verbundenheit mit Thatcher. Mehrfach schrieb er an sie oder kommentierte in Leserbriefen an die Times die wirtschaftliche wie politische Lage des Landes. Dabei drängte er Thatcher und die Konservativen zu einer härteren Gangart gegenüber den Gewerkschaften, deren Privilegien er allesamt abgeschafft sehen wollte. Obwohl der unmittelbare Einfluß Hayeks auf Thatchers tagespolitisches Handeln als Oppositionsführerin schwer meßbar wäre, hatte er doch offensichtlich mit seinen sozialphilosophischen Werken ihr grundlegendes Verständnis einer freiheitlichen Ordnung geprägt. Einem AugenzeugenSpäter erklärte Joseph dazu: „Wäre ich Führer der Partei geworden, wäre es ein Desaster gewesen für die Partei, das Land und für mich. ... Ich kenne meine Fähigkeiten. Adäquat für manche Jobs, aber nicht für andere" (zit. n. Halcrow, 1989, S. 77). 5

394 • Wandlungen des Neoliberalismus bericht zufolge unterbrach Thatcher einmal einen Redner bei einer Strategiedebatte der Konservativen, der in bekannter Manier die Vorzüge eines moderaten, konsensorientierten „Mittelwegs" pries. Thatcher fischte aus ihrer Handtasche Hayeks Buch „The Constitution of Liberty" heraus, donnerte es auf den Tisch und rief: „Das ist es, woran wir glauben!" (vgl. Hennecke, 2000, S. 330). Hayeks Ansicht nach war die Oppositionsführerin, der oft Konfliktfreudigkeit nachgesagt wurde, noch zu zaghaft und vorsichtig. Ihre Vorstöße gegen die allgemeine Konsenssucht der Tories erschienen ihm nicht scharf genug, schließlich sah er wie viele britische Neoliberale das Land nahe dem Abgrund. Die Teuerungsrate näherte sich 1975 kurzzeitig dem Bereich von 25 Prozent, und die Arbeitslosigkeit stieg auf neue Rekordhöhen; zugleich erstarkte in der Regierung die extreme Linke um Tony Benn. Die politische Landschaft wurde zunehmend polarisiert. Boulevardzeitungen stellten Hayek bald in reißerischen Artikeln als obskuren Einflüsterer der Konservativen dar, als „Mrs Thatcher's Godfather" (vgl. Ebenstein, 2000, S. 292). Und Michael Foot, einer der lautesten Trommler des linken Flügels von Labour, griff ihn als den „verrückten Professor" an, der Thatcher in seinen Klauen halte (zit. n. ebd., 293). Seit Churchill mehr als dreißig Jahre zuvor im Wahlkampf gegen Attlee antisozialistische Gedanken Hayeks aufgegriffen hatte, war dessen Name nicht mehr so häufig genannt und seine Thesen so kontrovers diskutiert worden. Unterdessen arbeitete das IEA weiter daran, Hayeks Ideen in den britischen politischen Diskurs einzuschleusen. So veröffentlichte das Institut eine Reihe von Aufsätzen unter dem Titel „A Tiger by the Tail" (vgl. Hayek, 1972). 6 Bis Anfang der siebziger Jahre konnte das IEA schon insgesamt rund 250 Studien von unterschiedlichem Umfang auflegen. Viele dieser Analysen zu wirtschaftspolitischen Fragen stammten aus der Feder von MPS-Mitgliedern. Neben Hayek förderte das IEA besonders Friedman. Der Chicagoer Ökonom reiste mehrfach für Vorträge nach London, welche in gedruckter Form sowie über Multiplikatoren in den Medien ein breiteres Publikum erreichten. International beachtet wurde seine programmatische Rede beim IEA „The Counter-Revolution in Monetary Theory", worin er mit einfachen Worten den Zusammenhang zwischen Geldpolitik und Inflation erklärte (vgl. Friedman, 1970). In einem anderen Vortrag zur Phillips-Kurve attackierte er die im Lager der Keynesianer lange wie ein Dogma verteidigte Behauptung, Arbeitslosigkeit ließe sich durch Inflation bekämpfen. Angesichts der neueren Erkenntnisse über rationale Erwartungen sei diese These völlig unhaltbar geworden (vgl. Friedman, 1975). Spezifischer auf den britischen Kontext zugeschnitten waren die Arbeiten anderer Monetaristen wie David Laidler von der Universität Manchester, der ebenso im Hausverlag des IEA publizierte (vgl. Laidler, 1975). In immer neuen Variationen verkündete Friedman seine zentrale Botschaft, daß allein eine Reduzierung des Geldmengenwachstums, ein Zudrehen des Liquiditätshahns, nicht aber die bürokratische Preis- und Einkommenspolitik die Inflation bremsen könne. Letztlich, so Friedman, wirke die Geldentwertung wie eine versteckte staatliche Sondersteuer: Erstens

6 Den Titel des schmalen Bands übernahm Herausgeber S. R. Shenoy von einem Vortrag Hayeks bei der MPSTagung in Caracas 1969. Die keynesianische Vollbeschäftigungspolitik, führte er dort aus, sei nur unter Inkaufnahme stetig höherer Inflation möglich. Man habe also einen Tiger beim Schwanz gepackt, den man schließlich kaum noch bändigen könne.

Der Neoliberalismus an der Macht? • 395 blähe die Inflation die nominellen Einkommen der Bürger auf, schiebe sie also in höhere Steuerklassen und erhöhe so die Grenz- und Durchschnittsbelastung. Zweitens werde durch die Inflation der Schuldenberg der öffentlichen Hand abgeschmolzen, so daß all jene, die dem Staat einst Geld geliehen hatten, um ihre Anlage betrogen würden. Und drittens drucke die Regierung neues Geld, das den Bürgern untergejubelt werde, doch immer weniger realen Gegenwert verspreche. Jeder frische Geldschein sei in Wirklichkeit also eine Steuererhöhung, die aber niemals vom Parlament beschlossen, sondern heimlich durchgeführt werde, so Friedman in einem Vortrag beim IEA (vgl. Frazer, 1988b, S. 584-585). Nach Ansicht des Chicagoer Ökonomen befand sich die britische Wirtschaft in einer Abwärtsspirale aus staatlicher Inflation und Intervention. Wie viele MPS-Mitglieder fragte er mit Sorge, ob der ökonomische Verfall auch die politischen Institutionen beschädigen werde. Im November 1976 sah er Großbritannien „auf der Kippe". Obwohl ihm die Demokratie noch nicht so akut gefährdet wie in Chile erschien, bestehe nur noch eine Chance von 50 Prozent, den ökonomischen und politischen Zusammenbruch abzuwenden (vgl. ebd.). Wie die Diskussionen in der MPS zwischen Monetaristen und Strukturalisten zeigten, war unter den Neoliberalen heftig umstritten, ob die von Friedmans Schule geforderte geldpolitische Wende ausreichen werde, das wirtschaftliche Ruder herumzureißen. Als Joseph 1974 im Economist zu den „Anhängern" Friedmans gezählt wurde, dementierte er dies in einem Leserbrief: „Obwohl ich die höchste Achtung für Professor Friedman habe und jetzt weitgehend mit seinen Ansichten übereinstimme, so ist doch die Entwicklung meiner Ansichten ihm nur wenig geschuldet." Es seien vielmehr die bitteren Erfahrungen der frühen siebziger Jahre, die ihn die expansive Nachfragepolitik kritisch sehen lasse, die auch der Economist noch heute vertrete (zit. n. Cockett, 1994, S. 244). In einer vielbeachteten, von Shermans CPS entworfenen Vorlesung in Stockton mit dem Titel „Monetarism Is Not Enough" erklärte Joseph, die anzustrebende Preisstabilität liefere nur den Rahmen, innerhalb dessen die Individuen ihren wirtschaftlichen Plänen nachgehen könnten. Zu einer guten Politik gehöre aber mehr: „Eine monetäre Kontraktion in einer gemischten Wirtschaft stranguliert den privaten Sektor, wenn nicht der Staat zeitgleich kontrahiert und den Anteil reduziert, den er vom nationalen Einkommen nimmt" (Joseph, 1976, S. 17). Der Monetarismus sei „nicht genug, wenn nicht dazu auch die wesentliche Verringerung des Staatssektors und die wesentliche Ermutigung des Unternehmertums kommen. Wir haben einen übermäßigen Staat, übermäßige Ausgaben, übermäßige Schulden und übermäßig viel Personal. ... Daher ist die strikte und entschlossene Kontrolle des Geldangebots, obwohl wesentlich, allein nicht ausreichend." Zusätzlich, so Joseph, brauche man eine substantielle Senkung der Steuern und Ausgaben und neue Anreize für Leistungsträger und Wirtschaft (ebd., S. 19). Mit seiner Mahnung, eine einseitige monetäre Bremsung nicht ohne begleitende Reformen des Arbeitsmarktes und des Gewerkschaftsrechts sowie massive steuerliche Endastungen zu versuchen, schlug sich Joseph in der neoliberalen Diskussion auf die Seite der Strukturalisten. Er befürwortete die umfassende Strategie, wie sie bei MPS-Treffen die Anhänger Hayeks vertraten. An das breitere Publikum richtete Joseph den Appell, nicht auf staatlichdirigistische Hilfe zu hoffen, um der Misere zu entkommen. Seine Stocktoner Rede war erneut ein Frontalangriff auf die „keynesianischen" Thesen zur Fähigkeit des Staates, soziale

396 • Wandlungen des Neoliberalismus und wirtschaftliche Probleme zu lösen. 7 Ein so freimütiges Bekenntnis zum Markt als dem überlegenen wirtschaftlichen Ordnungsprinzip hatte die britische Öffentlichkeit aus dem Munde eines Spitzenpolitikers lange nicht gehört. Um dem Vorwurf zu entgehen, die Rückkehr zu einem rauhen, herzlosen Kapitalismus zu predigen, von dem viele Engländer aus Dickens Romanen eine schauerliche Vorstellung hatten, mäßigte Joseph in einigen seiner Reden Mitte der siebziger Jahre seine Wortwahl. So forderte er in Anlehnung an den in Westdeutschland eingeführten Terminus eine „Social Market Economy". 8 Zudem distanzierte sich Joseph vom Laissez-faire. In einer Ansprache vor Parteifreunden in Oxford erklärte er 1975: „Eine marktwirtschaftliche Regierung muß eine aktive sein." Ihre Haupttätigkeit sei dabei die Schaffung eines „humanen Rahmens von Gesetzen und Leistungen". Als legitime Staatsaufgaben zählte er auf: „Die Regierung wird dafür zu sorgen haben, daß es echten Wettbewerb gibt: es wird eine effektive Politik geben müssen, um Monopole ausfindig zu machen und aufzubrechen, um ein vernünftiges Unternehmensrecht durchzusetzen, um die Interessen von Kleinbetrieben zu wahren, um gegen Eventualitäten wie Umweltverschmutzung, Lärm etc. Gesetze zu erlassen. Die Regierung wird aktiv sein müssen, um Chancengleichheit für alle zu sichern und danach zu streben, Machtkonzentrationen zu begrenzen . . . Ich bin also sicherlich sehr weit vom Laissez-faire entfernt" (zit. n. Cockett, 1994, S. 252-253). Ohne Zweifel diente der Begriff „Social Market Economy" der Beruhigung eines Publikums, dessen Denken über Jahrzehnte sozialdemokratisch geformt war. Zwei Vertraute Josephs, die LSE-Dozenten und MPS-Mitglieder Shirley und Oliver Letwin, rieten ihm jedoch aus strategischen Gründen davon ab. Die Argumentation zugunsten der Marktwirtschaft sollte nicht durch abschwächende Adjektive verwässert werden. 9 Joseph folgte dem Rat und benannte als sein Ziel künftig eindeutig eine Rückkehr zur „Marktwirtschaft" ohne Adjektiv. Auch lobte er unverblümt die Wohlstandsmaschine „Kapitalismus", wobei er die Wettbewerbswirtschaft weiterhin vom Laissezfaire abgrenzte. Wenn auch viele in Josephs Partei und in der Öffentlichkeit seinen Thesen mit großer Skepsis gegenüberstanden, erzeugte doch der Druck der ökonomischen Krise in Teilen der

Er vergaß dabei nicht einen kurzen Hinweis auf frühe Kritiker Keynes'. Namentlich nannte er in einer Fußnote die Ökonomen Hütt, Hayek, Robhins, Plant und Gregory, allesamt Mitglieder der MPS und einst stark beachtete Wirtschaftswissenschaftler an der LSE (Joseph, 1976, S. 8-9). So war klar, daß Josephs Programm an eine Tradition anknüpfte, die jedoch lange verschüttet war. Zugleich stellte er klar, daß sich seine Kritik am „Keynesianismus" nicht gegen Keynes richte, sondern gegen die „Pseudo-Keynesianer", also Ökonomen und Politiker, die dessen Lehre mißbraucht hätten (vgl. ebd., S. 5-6). 8 Das Beispiel der Bundesrepublik, deren wirtschaftlicher Aufschwung nicht zu einer Teilung des Landes in Reiche und Arme geführt hatte, wurde in der britischen Presse und Politik immer wieder als vorbildhaft zitiert. Um der mißtrauischen Parteiführung um Heath die Genehmigung zur Gründung des CPS abzuringen, hatte man in dessen Forschungsauftrag auch Studien zur „Social Market Economy" aufgenommen. Eine der ersten CPS-Publikationen von Martin Wassall und Nigel Vinson war sogar betitelt „Why Britain Needs a Social Market Economy". 9 Bei einem späteren Treffen der MPS gab Lord Grimond zu Protokoll: „Ich wünschte, der Begriff .Sozialer Markt' wäre nie erfunden worden" (vgl. Grimond, 1984, S. 1). Der ehemalige Vorsitzende der britischen Liberalen Partei, einst eine Stütze des keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsenses, hatte sich unter dem Einfluß des IEA zu einem Anwalt von mehr wirtschaftlicher Freiheit gewandelt. Marktwirtschaft und Wettbewerb seien dann „sozial", so Grimond, wenn die maximale Anzahl von Leuten daran teilnehmen und davon profitieren könne und niemand aufgrund von Protektionismus und Privilegien eine Monopolrente erziele. Für diejenigen, die kein ausreichendes Auskommen am Markt fanden, forderte er ein „soziales Minimum", jedoch anreizkompatibel in Form einer „negativen Einkommensteuer" (vgl. ebd.). 7

Der Neoliberalismus an der Macht? • 397 politischen und gesellschaftlichen Elite einen Meinungswandel, den das IEA nach Kräften unterstützte. Dieser erfaßte schließlich auch Kreise des Mittelstands, aus dem heraus Protestgruppen und Basisinitiativen hervortraten.10 Angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise verschärften auch führende Zeitungen ihre Kritik. Bislang hatte vor allem der Daily Telegraph unter seinem Chefredakteur Maurice Green regelmäßig Meinungsbeiträge gedruckt, die gegen die „britische Krankheit" eine neoliberale Medizin empfahlen. Leitende Redakteure, etwa T. E. Utley und John O'Sullivan, pflegten ab Mitte der sechziger Jahre enge Kontakte mit dem I E A und wurden später MPS-Mitglieder. IEA-Vordenker Seidon konnte im Daily Telegraph zahlreiche Gastkommentare veröffentlichen; auch Howe, Joseph und Thatcher griffen für die auflagenstarke konservative Zeitung zur Feder. Bald änderten auch die Times und die Financial Times ihre Kommentierung, als der wirtschaftspolitische Schiffbruch der Regierung Heath sich 1971/1972 abzeichnete. Bei der Times erkannte Chefredakteur William Rees-Mogg schließlich, daß eine wirksame Bekämpfung der Inflation nicht durch Preis- und Lohnkontrollen, sondern einzig durch eine geldpolitische Bremsung möglich sei. Er entwickelte sich zu einem engagierten Wirtschaftsliberalen und wurde Ende der siebziger Jahre Mitglied der MPS. Radikaler und früher noch als Rees-Mogg hatte sich der Wirtschaftsredakteur Peter Jay als Gegner des „Butskellismus" profiliert. In Kommentaren kritisierte er die keynesianischen Instrumente der Nachfragestimulierung durch ständiges „deficit spending" als wirkungslos und kontraproduktiv. Er gehörte zu den ersten namhaften britischen Journalisten, die marktwirtschaftliche und monetaristische Positionen in der Art von Friedman übernahmen und kontinuierlich in die Debatte einbrachten. Bei der Finanäal Times war die treibende Kraft der monetaristischen Neupositionierung der bekannte Wirtschaftspublizist Samuel Brittan. Wie die meisten seiner Zunft war er lange Zeit überzeugter Keynesianer gewesen, änderte aber unter dem Eindruck der Lektüre von Hayeks und Friedmans Schriften seine Ansichten. Sowohl Jay als auch Brittan arbeiteten regelmäßig mit dem IEA zusammen. In wirtschaftspolitischen Fragen vertraten sie sehr ähnliche Ansichten, gesellschaftspolitisch aber blieben sie einem permissiveren Lebensgefühl verhaftet und auf Distanz zu den Konservativen. Jay galt trotz seiner marktwirtschaftlichen Überzeugungen als Labour-Mann. Als Sohn des Labour-Politikers Douglas Jay und Schwiegersohn des Finanzministers und späteren Premierministers James Callaghan war er fest in der Partei verwurzelt und fand auch bei Teilen des dortigen Establishments Gehör.

1.2. Die „gemütliche Welt" am Ende Die seit 1974 wieder mit Harold Wilson regierende Labour-Partei war verunsichert, mit welcher Strategie der ökonomischen Krise zu begegnen sei. Zunächst reagierte sie mit einer expansionistischen Wirtschaftspolitik: Sie gewährte den Gewerkschaften großzügige Lohnsteigerungen, erhöhte Sozialleistungen, Staatsausgaben und Steuern. Dieser Ausbruch an

10 So etwa die National Association for Freedom (NAFF) des kurz vor ihrer Gründung 1975 von der IRA ermordeten Guiness-Buch-Herausgebers Ross McWhirter. Die Mittelschichten trieb eine zunehmende Furcht vor wirtschaftlichem Abstieg. So radikalisierten sich Gruppen wie die N A F F und entwickelten einen für das traditionell passive Bürgertum ungewohnten Aktivismus und Kampfgeist (vgl. Geppert, 2002, S. 261-266).

398 • Wandlungen d e s Neoliberalismus

Spendabilität fand bald ein Ende. Allgemein wurde die Bilanz des ersten Jahres unter Wilson als katastrophal eingeschätzt, da die Konjunktur trotz der staatlichen Ausgabenpolitik nicht ansprang und nur die Inflation auf Rekordhöhe stieg. Das Phänomen der Stagflation war in den keynesianischen Lehrbüchern nicht vorgesehen. Es stellte die Regierung Wilson vor ein Dilemma, dem sie durch dirigistische Maßnahmen zu entkommen hoffte: Im Sommer verordnete sie eine Begrenzung von Lohnsteigerungen auf maximal 10 Prozent, ebenso die Kontrolle von Preisen und Dividenden. Diese Einkommenspolitik verärgerte Gewerkschaften und Parteilinke, die Inflation konnte sie doch nicht bändigen. Schließlich zog die Regierung die Notbremse und versuchte ab Mitte 1975, den Haushalt durch Kürzungen zu konsolidieren, wovon man sich auch eine Reduzierung des Inflationsdrucks erhoffte. Finanzminister Denis Healey war sich bewußt, daß sein in der Rezession aufgelegtes Sparpaket gegen die Empfehlungen der keynesianischen Orthodoxie verstieß, an deren Gültigkeit er wohl schon zweifelte. Die Haushaltslage war dramatisch: Defizite von mehr als 10 Prozent des BIP weckten Zweifel, wie lange der Staat noch zahlungsfähig bleibe. Folglich geriet das Pfund stark unter Druck, das Land wurde erneut von einer Zahlungsbilanzkrise heimgesucht. Healey blieb nur ein demütigender Bittgang zum IWF, der gemeinsam mit acht ausländischen Notenbanken 1976 einen Kredit über 8 Milliarden Pfund zur Stützung der britischen Währung einräumte. Im Herbst 1976 wurde der Bankrott der keynesianischen Rezepte zur Konjunkturankurbelung augenfällig. James Callaghan, der Wilson ein halbes Jahr zuvor abgelöst hatte, zeigte auf dem Labour-Parteitag bemerkenswerte Einsicht. 11 Viel zu lange, seit dem Krieg, habe man es versäumt, so Callaghan, den fundamentalen Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft ins Auge zu sehen. Man habe über die Verhältnisse und von „geborgter Zeit" gelebt, sich auf ausländische Kredite verlassen, „anstatt die fundamentalen Probleme der britischen Industrie anzupacken". Es folgte ein Abgesang auf den keynesianischwohlfahrtsstaatlichen Konsens: „Die gemütliche Welt, die, wie man uns sagte, immer so weitergehen werde, wo Vollbeschäftigung durch einen Federstrich des Finanzministers, durch Steuersenkungen, ,deficit spending' garantiert werden würde — diese gemütliche Welt ist vergangen. ... Wir dachten damals, daß man sich aus einer Rezession einfach durch höhere Ausgaben herausretten könne ...." Diese Option, so erklärte der Premierminister, existiere nicht mehr, „und sofern sie je existierte, hat sie dadurch funktioniert, daß Inflation in die Wirtschaft hineingespritzt wurde, gefolgt von einem höherem Stand der Arbeitslosigkeit als dem nächsten Schritt" (zit. n. Callaghan, 1987, S. 425-427). Nun hatte der Premierminister den Offenbarungseid des seit über dreißig Jahren praktizierten Keynesianismus geleistet. In wenigen schlichten Sätzen bestätigte Callaghan alle Vorbehalte, die Hayek und seine MPS-Neoliberalen seit dem Krieg gegen die Methode der interventionistischen Konjunkturlenkung vorgebracht hatten. In der Theorie mochte Callaghan die Unmöglichkeit erkannt haben, eine staatliche Steuerung der Wirtschaft noch länger durchzuhalten. Den Schritt zur Praxis, den Interventionsstaat zurückzudrängen und Allokation und Koordination durch freie Preisfindung am Markt zuzulassen, wagte er nicht. Am

" Die entscheidenden Passagen seiner Rede stammten v o n Callaghans Schwiegersohn, dem IEA-nahen Finanzjournalisten Peter Jay.

Der Neoliberalismus an der Macht? • 399 schwersten wäre dies am hochgradig regulierten Arbeitsmarkt gewesen. Hier versuchte die Regierung schon seit mehreren Jahren, über Lohnrichtlinien in Absprache mit den Gewerkschaften und Unternehmen den Pfad der Arbeitskostenentwicklung zu bestimmen. Mitte der siebziger Jahre sah Labour ein, daß niedrigere Lohnziele notwendig seien, um einen weiteren Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft zu vermeiden. Diese Versuche brachten Labour in Konflikt mit dem Gewerkschaften. Hatte Wilson gleich nach seinem Wahlsieg den Schulterschluß mit der organisierten Arbeitnehmerschaft gesucht, den Industrial Relations Act wieder aufgehoben und durch weitere Zugeständnisse beim Streikrecht die Macht der Gewerkschaften gestärkt, so kämpfte Callaghan nun einen verzweifelten Kampf, um die zunehmend selbstherrlich auftretenden Arbeiterführer in die Schranken zu weisen. 12 Für die britischen Neoliberalen stellten die übermächtigen Gewerkschaften ein fundamentales Problem dar. Trotz aller wirtschaftlichen Probleme war deren Stellung so gefestigt wie nie. Etwa ein Viertel aller Betriebe waren nun „closed shops" (vgl. Richardson, 1991, S. 424). Die Beschäftigten unterlagen dem Zwang zur Gewerkschaftsmitgliedschaft, ein Teil ihres Lohns wurde ungefragt an die Gewerkschaftskassen abgeführt, die wiederum zu den wichtigsten Finanziers der Labour-Partei gehörten und damit politisch doppelt Macht ausübten. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg in den siebziger Jahren nochmals um rund 25 Prozent. Besonders in wichtigen Branchen wie der Kohle- und Stahlindustrie, dem Post-, Telekommunikations- und Transportwesen sowie im Druckereigewerbe waren sie stark vertreten (vgl. Richardson, 1991, S. 417-420). 13 Nach Ansicht wichtiger britischer MPSMitglieder wie Shenfield kam den Gewerkschaften eine Hauptverantwortung für die „britische Krankheit" zu (vgl. Shenfield, 1974). Das IEA publizierte dazu mehrere Studien, etwa „The Theory of Collective Bargaining" des aus Kapstadt zurückgekehrten William Hütt und später Hayeks Beitrag ,,1980's Unemployment and the Unions". Beide argumentierten, daß die starre Tarifpolitik der Gewerkschaften die Wettbewerbs- und Anpassungsfähigkeit der britischen Industrie verschlechtere und so ihren Mitgliedern längerfristig schade (vgl. Hütt, 1976; Hayek, 1980). Die Tories rangen noch mit sich, wie mit dem Problem umzugehen sei. Eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Howe entwarf eine programmatische Schrift, die im Herbst 1977 als „The Right Approach to the Economy" präsentiert wurde. Im wesentlichen verfolgte das Papier einen maßvoll monetaristischen Ansatz. 14 Auffällig war aber, wie es jede klare Festlegung umging, welche Kürzungen und Opfer die ökonomische Sanierung des Landes verlangen würde. Zur Frage der Gewerkschaften fanden sich eher diplomatische Formulierungen in dem Dokument, das nicht als offizielles Programm der Partei, sondern unter dem Namen

12 In der Bevölkerung wurden die relativen Machtverhältnisse richtig eingeschätzt. So ergab eine Meinungsumfrage Anfang 1977, daß eine absolute Mehrheit der Briten den Gewerkschaftsführer Jack Jones als den mächtigsten Mann des Landes ansah. Der Regierungschef rangierte weit dahinter (vgl. Geppert, 2002, S. 364-365). 13 Über die zunehmende Militanz der Gewerkschaften gab die steigende Zahl der durch Streiks verlorenen Arbeitstage Auskunft: Waren dies in den frühen sechziger Jahren meist weniger als 3 Millionen Arbeitstage pro Jahr, so wurde 1971 mit 13 Millionen ein erster Höhepunkt erreicht, 1977 waren es erneut mehr als 10 Millionen und 1979 gar 29 Millionen verlorene Arbeitstage (vgl. Richardson, 1991, 433). 14 Um die Inflation zu bekämpfen, waren darin schrittweise zu verschärfende Geldmengenziele vorgesehen, zudem warb Howe für haushälterische Disziplin, insbesondere eine Reduzierung der staatlichen Ausgaben und für Steuersenkungen.

400 • Wandlungen des Neoliberalismus

seiner Autoren erschien. Darunter waren mit Howe, Joseph, David Howell und Angus Maude vier ausgewiesene Wirtschaftsliberale. Der fünfte Mitarbeiter, der für Gewerkschaftsfragen zuständige Schattenminister Jim Prior, suchte eine direkte Herausforderung zu verhindern. So enthielt „The Right Approach to the Economy" unverbindliche Appelle zu lohnpolitischer Zurückhaltung, aber keine konkreten Forderungen zur Gewerkschafts- und Tarifrechtsreform. Dies mochte taktisch klug sein, eine strategische Perspektive eröffnete es nicht. Thatcher war denn auch überzeugt, daß vornehme Zurückhaltung gegenüber den Gewerkschaften auf Dauer nicht gutgehe. „The Right Approach to the Economy" erschien ihr nicht ausreichend (vgl. Geppert, 2002, S. 375-376). Im Umkreis von Josephs CPS wurden insgeheim bereits weitergehende Konzepte entwickelt. Das legendäre Strategiedokument „Stepping Stones", entworfen Ende 1977 von John Hoskins und Norman Strauss vom CPS, analysierte die Chancen einer konservativen Reformregierung. Diese seien nur gering, wenn die Gewerkschaften sich querlegten, wie bereits Heath hatte erfahren müssen. Hoskins und Strauss räumten daher einem harten Durchgreifen gegen die Gewerkschaften höchste Priorität ein. Damit eine umfassende Modernisierung der britischen Wirtschaftspolitik möglich sei, müsse zunächst deren Blockademacht gebrochen werden. Konkret war gemeint, die rechtliche Asymmetrie bei Arbeitskämpfen sowie den Gewerkschaftszwang in „closed shops" zu beseitigen, um das Erpressungspotential einzelner Arbeiterführer zu reduzieren (vgl. Cockett, 1994, S. 272-274). Führende Neoliberale hatten dies seit Jahren gefordert: Es gebe „keine Rettung für Britannien, bis nicht die speziellen Privilegien zurückgenommen werden, die den Gewerkschaften durch den Trade Disputes Act von 1906 gewährt wurden" warnte etwa Hayek im Juli 1977 in einem seiner Leserbriefe an die Times (zit. n. Geppert, 2002, S. 373). Thatcher und Joseph leuchtete die Strategie von „Stepping Stones" ein, anderen erschien der konfrontative Ansatz aber als zu gefährlich. Die Ereignisse, die als „winter of discontent" in die Annalen eingingen, wendeten das Blatt. In einer Art Kettenreaktion riefen verschiedene kleinere Gewerkschaftsverbände nach deutlich höheren Löhnen, obwohl die Inflation mit nun 8 Prozent wieder geringer ausfiel als in den Jahren zuvor. 15 Die staatliche Lohnpolitik, auf die Callaghan lange Zeit gesetzt hatte, stand vor dem Ende, als immer weitere Berufsgruppen die Lohnrückstände der vergangenen Jahre aufzuholen sich anschickten. Eine Welle von Streiks legte zum Jahreswechsel 1978/ 1979 das Land über Wochen lahm, die Bürger reagierten mit Hamsterkäufen. In verschiedenen Regionen des Landes legten Transportarbeiter, Drucker, Fernsehtechniker, Teile des öffentlichen Dienstes und andere die Arbeit nieder. Schulen mußten schließen, auf den Straßen blieb der Müll liegen, Patienten warteten auf ärztliche Versorgung und selbst Leichen blieben unbeerdigt, da in einigen Orten die Totengräber den Dienst verweigerten. Diesmal hatten die Gewerkschaften den Bogen überspannt. Meinungsumfragen ergaben, daß die Zustimmung zu ihrer Politik rapide sank. Die Arbeiterfront geriet unter starken Druck und zeigte bereits erste innere Risse.

15 Es begann schon im Sommer 1978 mit den Bergarbeitern, die 40 Prozent Zuschlag verlangten, dann die Beschäftigten der Firma Ford, die 25 Prozent forderten. Dagegen lag die offizielle Lohnrichtlinie der Regierung noch bei 5 Prozent, was die Gewerkschaftsführer, angetrieben von einer rebellierenden Basis, aber ignorierten.

Der Neoliberalismus an der Macht? • 401 Angesichts des dramatischen Umschlagens der öffentlichen Meinung zum Jahresende 1978 bestand nun, so Thatchers Hoffnung, die realistische Chance, eine Mehrheit der Bürger für eine tiefgreifende Reform der Gewerkschaften und der britischen Wirtschaftspolitik insgesamt gewinnen zu können. Beim IEA verfolgte man die Entwicklung mit höchster Spannung. In einem Vortrag beim MPS-Treffen in Hongkong 1978 gab Harris einen dramatischen Bericht über die Lage in Großbritannien. Das Land sei, fast hundert Jahre, nachdem die Fabianer begonnen hatten, die Ausweitung der staatlichen Aktivitäten in immer weitere Bereiche des wirtschaftlichen und zivilen Lebens zu fordern, in einem katastrophalen Zustand. Immerhin drehe sich nun aber die öffentliche Meinung, Umfragen zeigten wachsende Unzufriedenheit mit den staatlichen Diensten, der Bürokratie und den Gewerkschaften. Trotz einiger Bedenken, etwa hinsichtlich der strukturellen Reformfähigkeit einer Demokratie, sah der IEA-Direktor das Land an einer wichtigen Wegkreuzung stehen. Die intellektuelle Welle von IEA und MPS könne nun den Kurs ändern, hoffte er (vgl. Harris, 1978). Auch Callaghan spürte, daß eine bedeutende Wende anstand. Gegenüber seinem Vertrauten Bernard Donoghue äußerte er, es gebe Momente, „vielleicht einmal alle dreißig Jahre, wo ein Gezeitenwechsel in der Politik auftritt. ... Ich vermute, jetzt ist so ein Gezeitenwechsel — und er begünstigt Mrs. Thatcher" (zit. n. Donoghue, 1987, S. 190). Der Regierungschef behielt recht: Labour wurde bei den Wahlen am 3. Mai 1979 regelrecht weggespült.

1.3. Intellektuelle Konterrevolution und Praxistest Rückblickend erscheint Thatchers Wahlsieg als eine historische Zäsur für Großbritannien wie auch als Triumph des Neoliberalismus: In den Worten Richard Cocketts (1994, S. 286) war er „die Kulmination von fast vierzig Jahren intellektueller und politischer Arbeit, seit das ,Colloque Walter Lippmann' 1938 in Paris und das erste Treffen der Mont Pèlerin Society 1947 zusammengetreten war". Auch Thatcher wußte, was sie dieser Vorarbeit verdankte. Kurz nach ihrer Ernennung zur Premierministerin schickte sie einen überschwenglichen Dankesbrief an Hayek: „Ich bin sehr stolz, von Ihnen über die letzten Jahre so viel gelernt zu haben. Ich hoffe, daß einige dieser Ideen von meiner Regierung in die Praxis umgesetzt werden. Als einer Ihrer eifrigsten Anhänger bin ich entschlossen, Erfolg zu haben. Falls wir Erfolg haben, dann wird Ihr Beitrag zu unserem letztendlichen Sieg immens gewesen sein" (zit. n. Ebenstein, 2000, S. 295). Ralph Harris, der IEA-Direktor und langjährige MPS-Sekretär, wurde im Juli 1979 als Lord Harris of High Cross geadelt, später zog ein weiterer neoliberaler Ökonom, P. T. Bauer, ins Oberhaus ein. 16 Immer wieder betonte Thatcher in den kommenden Jahren, daß ihre weltanschaulichen Wegbereiter beim IEA und beim CPS säßen. In der Terminologie Hayeks saßen dort die „second-hand dealers in ideas". Was diese produzierten, waren abgeleitete, einfachere Versionen der Gedanken, die von den wirklich originellen Wissenschaftlern aus dem Kreis der MPS entwickelt worden waren. Dort durfte man sich selbst gratulieren: „Mit Blick auf den jüngsten konservativen Wahlsieg in England rechnet Mrs. Thatcher einen

16 Obwohl Harris ursprünglich Mitglied der Konservativen war, zog er es vor, im Oberhaus als Unabhängiger, sogenannter „Cross bencher", zu sitzen.

402 • Wandlungen des Neoliberalismus großen Teil des Verdienstes den englischen Mitgliedern der Mont Pèlerin Society an, deren erzieherische Anstrengungen (über das Institute of Economic Affairs) der vergangenen zwanzig Jahre jetzt angefangen haben, Früchte zu tragen", notierte Henry F. Langenberg in einem Rundschreiben an die MPS-Mitgüeder zum Madrider Treffen im Herbst 1979. „Die These ist, daß Ideen, einmal angenommen, die Basis von allen wichtigen Bewegungen der Geschichte werden — ob gut oder schlecht" (Rundbrief Langenbergs, September 1979, in: HIA, NL Hayek, 88-1). In die freudigen Reden mischten sich aber sorgenvolle Töne wegen der zu erwartenden großen Widerstände. Eingedenk des Fiaskos von Heaths Regierung überwogen bei der MPSTagung in Madrid die nüchternen Einschätzungen, wie eine Diskussionsrunde zum Thema „Can Margaret Thatcher Make It?" zeigte. Seidon umriß das Ziel, die langfristigen kollektivistischen Trends umzudrehen. Thatcher habe gegen hundert Jahre Einfluß der sozialistischen Fabianer, fünfzig Jahre der Keynesianer und dreißig Jahre Gewöhnung an den von Beveridge geschaffenen Wohlfahrtsstaat zu kämpfen, müsse den Staatsanteil massiv reduzieren und die Wirtschaft durch neue Investitionen in Schwung bringen. „Das wird mindestens zehn Jahre dauern, um zu wissen, ob sie damit durchkommt (wenn sie dann überhaupt noch im Amt ist)", so Seidon (zit. n. Protokoll Langenbergs, in: HIA, NL Hayek, 88-4). Vorsichtig klang auch die Prognose, die Shenfield abgab: Thatchers Chancen stünden im besten Fall 50 zu 50, realistisch aber eher bei 40 zu 60, meinte er und fügte warnend hinzu: „Die Gewerkschaften sind ein fundamentales Problem." Allerdings glaube er, daß Thatcher nicht die Fehler der Regierung Heath wiederholen werde, der schlecht vorbereitet gewesen sei. Auch Lionel Robbins, der wieder einmal ein Treffen der MPS besuchte und dort seiner Bewunderung für Thatcher Ausdruck verlieh, äußerte sich skeptisch, was die Erfolgschancen ihrer Regierung anging. Das Haupthindernis, darin herrschte Einigkeit, sei die Vetomacht der Gewerkschaften, die schon einmal eine reformbereite Regierung in die Knie gezwungen hatten. Hayek sprach in diesem Zusammenhang von einem „Test der Demokratie" in Großbritannien und empfahl, ein nationales Referendum könne im Konfliktfall Klarheit bringen, wie die Bevölkerung über einzelne Maßnahmen der Gewerkschaften denke (ebd.). Obwohl Thatcher 1979 eine Reihe von Vertrauten mit klar neoliberalen Ansichten in Schlüsselpositionen ihrer Regierung holte, darunter Joseph als Industrieminister sowie die MPS-Mitglieder Howe als Finanzminister und Biffen als sein Staatssekretär, gab es in ihrem ersten Kabinett auch starke Kräfte, die keineswegs eine radikale marktwirtschaftliche Wende und einen konfrontativen Kurs gegen die Gewerkschaften befürworteten. Als Wortführer dieser von der Presse bald „wets", also „Weichlinge", getauften Gruppe taten sich Arbeitsminister Jim Prior und Lordsiegelbewahrer Ian Gilmour hervor. Zeitweilig schienen sie sogar die Debatten oder zumindest das öffentliche Erscheinungsbild der Regierung zu dominieren. 17 Gegen den zähen Widerstand Priors, der seine Hand über die Gewerkschaften

17 Prior und Gilmour empfanden sich als Hüter des moderaten und pragmatischen Anspruchs der Tories. Ihr politisches Idol war Disraeli, dessen kollektivistisches und paternalistisches Verständnis des Konservatismus sie bewahren wollten. So versuchten sie, die vom IEA mit allzu radikalen Ideen aufgeladenen Heißsporne um Joseph zu zähmen. Schon in den Oppositionsjahren hatten sie den von Thatcher und Joseph vertretenen Ansatz der programmatischen Erneuerung der Partei sowie deren aggressiv antisozialistische, gewerkschaftskritische Rhetorik offen kritisiert (vgl. Geppert, 2002, S. 327-336 u. 368-384).

Der Neoliberalismus an der Macht? • 403 hielt, hatten die Antreiber des Reformkurses in den ersten zwei Jahren keinen leichten Stand. Gilmour erklärte in einer Rede: „Wirtschaftsliberalismus ä la Professor Hayek ist aufgrund seiner Starrheit und seines Versagens, einen Gemeinschaftssinn zu schaffen, kein Schutz von politischer Freiheit, sondern eine Gefahr für sie" (zit. n. Halcrow, 1989, S. 141). Erst im Herbst 1981 konnte Thatcher mit einer Kabinettsumbildung ihre wichtigsten innerparteilichen Gegner kaltstellen: Prior wurde ins Nordirlandressort abgeschoben, Gilmour einfach entlassen. Darauf verschob sich die Machtbalance in der Regierung zugunsten der marktwirtschaftlichen Kräfte, deren ökonomisches Credo die Regierungschefin später in folgende Worte faßte: „Wir glaubten, da Arbeitsplätze (in einer freien Gesellschaft) nicht vom Staat, sondern von zufriedenen Kunden abhingen, sei es völlig sinnlos, sich ,Voll'beschäftigungsziele zu setzen. Vielmehr mußte die Regierung mit solidem Geld, niedrigen Steuern, geringer Regulierung und flexiblen Märkten (einschließlich der Arbeitsmärkte) die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, damit Wohlstand und Beschäftigung gedeihen konnten" (Thatcher, 1995a, S. 659). In diesen Sätzen fand sich in konzentrierter Form die Philosophie des Neoliberalismus wieder, wie er in den sechziger und siebziger Jahren auf den Tagungen der MPS entwickelt worden war. Praktisch stand Thatcher zunächst vor der Aufgabe, die chronische Inflation in den Griff zu bekommen. Im Wahlkampf hatte sie dazu eine monetaristische Therapie empfohlen. Weiter hatte sie Hoffnung auf einen Rückzug des Staates durch Kürzungen der Ausgaben, Senkung der Steuern und Abbau der Verschuldung geweckt. Mit einer breiten Strategie der „Privatisierung", so der 1970 erstmals von David Howell in einer IEA-Schrift geprägte Begriff für den Verkauf einst verstaatlichter Unternehmen, sollte der Spielraum für unternehmerische Entfaltung und Dynamik vergrößert werden. Thatchers Antrittsrede als Premierministerin, die „Queen's Speech", setzte zwei Schwerpunkte: Das Versprechen zur Beendigung von Preiskontrollen, die für die Inflationsbekämpfung wirkungslos und für die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft hochgradig schädlich seien, sowie die Ankündigung einer Gewerkschaftsreform. Hier erklärte Thatcher ihre Entschlossenheit, die Praxis der Streikverschärfung durch Hinzuziehung fremder Arbeiterposten (secondary picketing) einzudämmen und das bisher geltende Recht der „closed shops", der zwangsweisen gewerkschaftlichen Organisation aller Arbeiter eines Betriebes, zu ändern. Mit ihren Ankündigungen bezog Thatcher zu zwei wirtschaftspolitischen Themen, dem Kampf gegen die Inflation und das überbordende Gewerkschaftswesen, in eindeutiger Weise Stellung, wie dies kein britischer Premierminister seit dem Krieg getan hatte. Zu den frühesten Taten der neuen Regierung gehörte die Abschaffung der Preis- und der Devisenkontrollen — ein entscheidendes Signal, daß sie bereit war, ihre Geld- und Fiskalpolitik der Prüfung der internationalen Märkte zu unterwerfen und einen Rückfall in expansive Praktiken auszuschließen. Der erste von Schatzamtsminister Howe vorgelegte Haushalt 1979 brachte eine starke Reduktion der direkten Steuern. Besonders die Senkung des Spitzensteuersatzes von 83 Prozent auf 60 Prozent und die Reduzierung der konfiskatorischen Steuer auf Investitionseinkommen von 98 Prozent auf 75 Prozent drückten die Überzeugung der neuen Regierung aus, daß Leistung sich wieder lohnen müsse und niedrigere Grenzsteuern mehr Anreize für Wachstum brächten. Um die Einnahmeausfälle

404 • Wandlungen des Neoliberalismus auszugleichen, wurde die VAT, die indirekte Steuer auf den Konsum, von 8 Prozent auf 15 Prozent angehoben, was allerdings einen kurzfristigen Preisschub brachte. Als schwere Hypothek für die neue Regierung erwiesen sich die Beschlüsse der noch von Labour eingesetzten Lohn-Kommission unter dem Vorsitz des sozialistischen Ökonomen Hugh Clegg, die für den öffentlichen Dienst einen Anstieg der Gehälter um 20 Prozent bewilligte. Dies belastete zum einen den öffentlichen Haushalt und provozierte weitere Gewerkschaftsforderungen in der Privatwirtschaft. Angesichts dieses Lohnschubs mußte der Versuch, die Inflation durch restriktive Geldpolitik zu ersticken, schwere Arbeitsplatzverluste bringen. Nach dem Strategiepapier „Stepping Stones" war die gewerkschaftliche Blockademacht das entscheidende Hindernis auf dem Weg zu Reformen. Stramm sozialistische Arbeiterführer hatten bewiesen, daß sie das öffentliche Leben lahmlegen und jeglichen Ansatz einer marktwirtschaftlichen Öffnung ersticken konnten. Aus dem Scheitern ihrer Vorgänger hatte Thatcher gelernt, daß eine Änderung des Gewerkschaftsrechts der Schlüssel zu allen weiteren Wirtschaftsreformen sei. Angefeuert von prominenten Neoliberalen wie Hayek zeigte sie sich entschlossen, das Problem frontal anzugehen. Ihr erster Arbeitsminister Prior wollte dagegen keine Konfrontation riskieren. Der von nationalen Protesten überschattete Employment Act von 1980 schränkte die Rechte von Streikposten zwar ein und erschwerte es, neue „closed shops" zu bilden, die Immunität von Gewerkschaftsfunktionären blieb aber ausgeklammert. 18 Erst mit der Ablösung Priors durch Norman Tebitt, mit dem Hayek in freundschaftlichem Kontakt stand, erhielt die Gewerkschaftspolitik mehr Schärfe. Ziel des von Tebitt 1982 vorgelegten zweiten Employment Act war es, die Immunität nun deutlich einzuschränken sowie die Strukturen der organisierten Arbeiterbewegung transparenter und demokratischer zu machen. Die Feuerprobe für Thatchers Gewerkschaftspolitik kam zwei Jahre später, als unter der Führung des marxistischen Arbeiterführers Arthur Scargill mehrere zehntausend Bergarbeiter gegen die Schließung unrentabler Gruben mobil machten. 19 Die Regierung blieb aber hart und ging schließlich aus der fast ein Jahr dauernden Konfrontation siegreich hervor. „Was die Streikniederlage klarstellte war, daß Britannien nicht unregierbar gemacht werden könne durch eine faschistische Linke", notierte die Regierungschefin in ihren Erinnerungen (Thatcher, 1995b, S. 378).

1.4. Zweifel und Kritik aus den Reihen der MPS Die Mitglieder der MPS verfolgten das Ringen der britischen Regierung um Reformen mit nervöser Spannung. Grundsätzlich stimmten sie der Marschrichtung zu, doch vielen erschien in den ersten Jahren das Tempo nicht schnell genug. Hayek mahnte in Interviews zur Eile: Ein kurzfristiger Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 20 Prozent bei gleichzeitiger gründlicher

18 Selbst bei gewalttätigen Aktionen oder klarer Nötigung von nicht-streikwilligen Arbeitern blieben die Gewerkschaftsfunktionäre nach dem Trade Disputes Act rechtlich unantastbar. 19 Es kam zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei, die arbeitswilligen Bergleuten durch Spaliere randalierender Streikposten hindurch freies Geleit zu sichern versuchte. Trotz einer prekären Energieversorgung widerstanden Thatcher und Tebitt den Erpressungsversuchen Scargills. Anders als Heath gaben sie gegenüber den Forderungen der zunehmend isolierten linksradikalen Gewerkschafter nicht nach.

Der Neoliberalismus an der Macht? • 405

Bereinigung der Strukturprobleme sei politisch viel eher zu verkraften, meinte er, als eine über drei Jahre anhaltende Arbeitslosigkeit von 10 Prozent, wenn nur ein schleppender, gradueller Abbau der Inflation versucht werde (vgl. Bradley, 1980).20 Auch die Vordenker des IEA warteten ungeduldig auf einen Durchbruch. Entscheidend war für sie der rasche Rückbau des Staates auf breiter Front. Aber kurzfristig stieg die Staatsquote in der Rezession ab 1979 sogar an. In den Augen des IEA fehlte ein großer, radikaler Befreiungsschlag zur Entfesselung der Marktkräfte. Als Industrieminister Joseph bei dem MPS-Treffen 1980 im kalifornischen Palo Alto zum Thema „Entnationalisierung" einen Vortrag hielt21, hatte er keinen leichten Stand. Er wies auf die vielfältigen politischen Widerstände gegen Privatisierungen hin. Zwar sei es verlockend zu sagen, „warum privatisieren wir nicht einfach alle unsere nationalisierten Branchen - Kohle, Elektrizität, Gas, Stahl, Telefone, Luftfahrt, Raumfahrt, Schiffsbau, Eisenbahnen, Docks, Kanäle, Fracht und Öl?" Diese Frage klang im Kreise der MPS-Neoliberalen selbstverständlich und folgte logisch aus ihrer Überzeugung, daß verstaatlichte Industrien ineffizient und unproduktiv seien. „Aber wir können, selbst wenn wir es noch so wünschen, nicht alles auf einmal tun", verteidigte sich der Industrieminister. Die Frage, wer all die hochdefizitären Staatsbetriebe kaufen solle, müsse bedacht werden. Eine kluge Privatisierungspolitik, meinte Joseph, müsse dort beginnen, wo es internationalen Wettbewerb gebe. Ein teilweiser Verkauf von British Airways, British Aerospace und der National Freight Corporation sei schon in Vorbereitung. Die größten Sorgen bereitete ihm aber die extrem unrentable staatliche Stahlindustrie. Bevor hier an einen Verkauf gedacht werde, müsse man diese erst modernisieren, personell verschlanken und ihre Kapazitäten insgesamt reduzieren. „Ich wünschte, ich hätte Ihnen einen dramatischeren Bericht geben können", schloß der Minister seine Rede vor der MPS. „Es ist viel einfacher zu verstaatlichen als zu entstaatlichen. Wir machen einige Fortschritte und sollten noch mehr machen" (Joseph, 1980, S. 15). Vielfach schlug dem Minister ob seines Berichts Enttäuschung entgegen. Seine nüchterne Bilanz des ersten Jahres der Regierung Thatcher und der vielen praktischen Schwierigkeiten mit einer umfassenden Entstaatlichung brachten ihm gar Buh-Rufe ein, wie der Journalist H. Joachim Maitre, selbst Mitglied der Gesellschaft, berichtete. Den „Reingläubigen um Lord Harris" sei „das Schneckentempo suspekt, mit dem die Eiserne Lady auf Erfolgskurs liegt. Sie verlangen die umgehende Privatisierung der staatlichen und hochdefizitären Eisen- und Stahlindustrie, den raschen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft überhaupt, also den radikalen Abbau der Staatsausgaben und damit auch der Staatsbürokratie" (Maitre, 1980). Weiter kritisierte Harris, daß die Senkung der direkten Steuern durch Anhebung der indirekten Steuern beinahe aufgehoben werde - „Robber Governments" war der Artikel über das MPS-Treffen in der National Review betitelt (Chamberlain, 1980). In der Schlüsselfrage der monetären Strategie ging Hayek auf Distanz zu Friedman, dem er einen gradualistischen Ansatz unterstellte (vgl. Wallace, 1980). Obwohl Friedman heute oft das Konzept der „Schocktherapie" zugeschrieben wird, sahen ihn einige britische Ökonomen wie Patrick Minford eher als Vertreter eines schonenden, gradualistischen Vorgehens. Mit einer schrittweisen monetären Bremsung werde das Ausmaß des konjunkturellen Einbruchs gemildert, wenn die Wirtschaftssubjekte langsam ihre Erwartungen anpassen könnten, meinte Minford unter Berufung auf Friedman (vgl. Frazer, 1988b, S. 586). 21 Denham und Garnett (2001, S. 383) erwähnen einen Vortrag Josephs vor der MPS 1982 in den Vereinigten Staaten mit dem Titel „The British Experiment in Monetary Policy". Hier liegt offenbar ein Irrtum vor; 1982 gab es gar kein MPS-Treffen in Amerika. 20

406 • Wandlungen des Neoliberalismus Neben dem Vorwurf mangelnden Tempos gab es auch unter den Neoliberalen teilweise auch Zweifel, ob Thatchers ökonomische Strategie die richtigen Prioritäten setze. Ein gängiger Vorwurf zu Anfang der achtziger Jahre lautete, daß die Regierung Thatcher zwar die Inflationsbekämpfung sehr ernsthaft betreibe, ihren schmerzhaften monetären Kontraktionskurs aber nicht in ausreichendem Maß durch eine Endastung der Privatwirtschaft begleite. Sie habe bislang bloß „eine halbe Revolution" bewerkstelligt, kritisierte Harris beim MPS-Treffen 1982 in Berlin. Die „monetäre Hälfte der Konterrevolution" sei geschafft, meinte er, aber bei der Wiederherstellung von Leistungs- und Produktionsanreizen habe es nur ein „extensives Herumbasteln" gegeben. Der Staatsanteil steige, kritisierte er, zudem seien die Steuerlasten weiterhin hoch und Einschnitte beim Wohlfahrtsstaat ausgeblieben (vgl. Harris, 1982, S. 8-18). Auch die Ökonomin Victoria Curzon-Price, die später als erste Frau die MPS-Präsidentschaft übernehmen sollte, hielt sich mit Kritik nicht zurück. Die Regierung Thatcher habe die britische Wirtschaft einer geldpolitischen Schockbehandlung unterworfen und ihr eine schwere Rezession und viele Insolvenzen zugemutet. Aber gleichzeitig scheue sie die notwendige Bereinigung des Staatssektors, was Voraussetzung für eine echte Endastung und Belebung des Privatsektors sei. Damit habe man das Pferd von hinten aufgezäumt (vgl. Curzon-Price, 1982). Die Sorge, mit einer monetären Bremsung ohne ausgleichende Steuerpolitik die angeschlagene Konjunktur in der internationalen Rezession vollends abzuwürgen, teilten einige der MPS-Ökonomen. Joseph hatte davon in seinem Vortrag „Monetarism Is Not Enough" gesprochen und den theoretischen Königswegs beschrieben. Nur gestaltete sich der Praxistest ungleich schwieriger als angenommen. Aus Sicht orthodoxer Monetaristen war die geldpolitische Bremsung grundsätzlich die richtige und einzig mögliche Strategie, um die über Jahre verfestigten inflationären Erwartungen zu bekämpfen. Doch auch ausgemachte Anhänger von Friedmans Geldtheorie empfanden die britische Zinspolitik Anfang der achtziger Jahre als zu rigide. Streit gab es um die korrekte Messung des Geldmengenwachstums, ob die weiter gefaßte Definition von M3 oder die engere Definition von M l relevante Zielgröße sei.22 Daraus resultierte die Sorge, ob die Abstimmung der Geld- und Fiskalpolitik aus dem Ruder gelaufen sei. Offenkundig stimmte sie nicht mehr mit den Ankündigungen der Regierung überein: So hatte diese bei ihrem Amtsantritt eine Reduktion des Wachstums der Geldmenge M3 von 16 Prozent auf rund 6 Prozent und eine parallele Reduktion der Budgetdefizite von 6 Prozent auf 2 Prozent innerhalb von fünf Jahren geplant. Das Staatsdefizit konnte jedoch aufgrund der Rezession nur minimal abgebaut werden. Die Inflation blieb 1980 im Jahresdurchschnitt mit 16 Prozent auf einem hohen Niveau, das die Gewerkschaften mit Lohnzuwächsen von rund 20 Prozent noch übertreffen konnten. Anfang 1981 herrschte einige Unsicherheit, ob nun die geldpolitische Bremsung zu hart oder zu weich sei. In dieser Situation gewann eine Gruppe unorthodoxer monetaristischer Ökonomen von der London Business School und der Universität Liverpool Gehör, die schon in den siebziger Jahren die Bedeutung der Fiskalpolitik für die Bildung rationaler Erwartungen Die Geldmenge M3 nahm zu, da die Bank of England zuließ, daß in großem Stil Kredite an Unternehmen in Liquiditätsnöten vergeben wurden. Der Öffentlichkeit konnte es somit erscheinen, daß die Geldpolitik die Zügel eher locker ließe. Dagegen zeigten die enger gefaßten Definitionen wie M l oder MO seit 1979 eine Kontraktion an. 22

Der Neoliberalismus an der Macht? • 407

betont hatten. Sie waren überzeugt, nur mit einer glaubhaften Beendung der Schuldenpolitik könne die Regierung die Inflation wirksam bekämpfen (vgl. Minford, 2005, S. 51-53). Hinter diese Argumente stellte sich MPS-Mitglied Walters, der ab Anfang 1981 als persönlicher wirtschaftspolitischer Berater für Thatcher arbeitete und ihr besonderes Vertrauen genoß. Anders als viele Beobachter hielt er die Leitzinspolitik der Regierung während der Jahre 1979 und 1980 für ziemlich straff, was auch der Aufwärtstrend des Pfundes nahelegte. Er gehört zu den Fachleuten, die die Veränderung von M3 als falschen Indikator des effektiven Geldangebots ansahen (vgl. Walters, 1986, S. 118-120 u. 137-145). So drängte er die Premierministerin, die Zinsschraube etwas zu lockern, gleichzeitig aber die jährliche Neuverschuldung stärker als bislang geplant zu reduzieren und den Unternehmen durch Steuersenkungen mehr Freiraum zu geben. Walters Behauptung einer zu rigiden Geldpolitik wurde auch durch ein Gutachten des Schweizer Ökonomen Jürg Niehans gestützt. Seine Argumente stärkten jene Kräfte im Schatzamt, die eine Verlagerung der inflationsbremsenden Maßnahmen von der Geld- auf die Fiskalpolitik forderten. Im März 1981 stellte Finanzminister Howe ein epochemachendes Budget vor, das einen radikalen, aller keynesianischen Theorie widersprechenden Abbau des Haushaltsdefizits vorsah.23 Dieser Schritt fand einhelliges Lob im Kreise der neoliberalen Wirtschaftsfachleute. Schon im März 1980 hatte etwa Hayek bei einem IEA-Treffen Howe zur Haushaltskonsolidierung ermutigt. In einem Leserbrief an die Times spornte er ihn öffentlich an: „Wenn ich Schatzkanzler wäre, würde ich vor allem darauf zielen, das Budget auszugleichen, nicht über die nächsten fünf Jahre, sondern hier und jetzt" (zit. n. Hennecke, 2000, S. 332). Keynesianische Ökonomen vertraten dazu einen diametral entgegengesetzten Standpunkt. In einer schweren Rezession die jährliche Neuverschuldung abzubauen, um den Staatshaushalt zu konsolidieren, schien ihnen selbstmörderisch. Ein von 364 britischen Wirtschaftswissenschaftlern unterzeichneter Brief an die Times protestierte gegen den Haushaltsentwurf. Sie warnten, daß die Regierungspolitik „die Rezession vertiefen wird, die industrielle Basis unserer Wirtschaft erodieren und die soziale und politische Stabilität gefährden wird. ... Der Zeitpunkt ist gekommen, die monetaristische Politik zurückzuweisen und dringend zu überlegen, welche Alternative die beste Hoffnung auf nachhaltige wirtschaftliche Erholung bietet" (zit. n. Howe, 1994, S. 209). Der Einspruch einer so beeindruckenden Zahl von Ökonomen konnte die Regierung nicht mehr umstimmen. Wie die Statistiken zeigten, sprang Mitte 1981, also kurz nach der Budgetdiskussion, das Produktionswachstum wieder an. Die Konjunktur hatte ihren Tiefpunkt durchschritten und gewann den düsteren Prognosen zum Trotz an Schwung. Weiterhin bedrückend hoch blieb die Zahl von über 3 Millionen Arbeitslosen, also mehr als 11 Prozent der Erwerbspersonen. Im europäischen Vergleich stand Großbritannien damit immerhin noch im Mittelfeld, denn viele westliche Industrieländer waren von der weltweiten Rezession weit schwerer getroffen. Die Bürger machten daher weniger die Regierung, denn äußere Umstände und das schwierige Erbe der Stagflation verantwortlich. Zudem begrüßten

23 In seinen Memoiren hat sich Howe gegen die verbreitete Interpretation gestellt, der Anstoß für die haushaltspolitische Wende sei vor allem aus Downing Street No. 10, also aus Thatchers Umkreis, und gegen anfanglichen Widerstand des Schatzamts gekommen. Einige Medien hatten besonders Walters zum eigentlichen „Vater" des Budgets von 1981 erklärt. Dies sei ein „Mythos" (vgl. Howe, 1994, S. 201-204).

408 • Wandlungen des Neoliberalismus sie, daß als Ergebnis der schmerzhaften monetären Bremsung erstmals seit Jahrzehnten die Inflation im Frühjahr 1983 unter 4 Prozent gedrückt werden konnte. Bei den Parlamentswahlen im Juni 1983 hatten die Konservativen erhebliches Glück. Sie konnten, obwohl ihr Stimmenanteil leicht sank, aufgrund des Mehrheitswahlrechts einen regelrechten Erdrutschsieg erzielen und besaßen im Parlament nun eine erdrückende Mehrheit der Sitze. Ein Grund dafür war die Spaltung der Opposition. 24 Zudem profitierten die regierenden Tories von der patriotischen Welle im Zuge des argentinischen Angriffs auf die Falkland Inseln. Thatchers unnachgiebige Haltung in diesem Krieg imponierte vielen Neoliberalen, so auch Hayek.25

1.5. Zeit der Ernte und Bilanz Thatchers triumphale Wiederwahl 1983 gab ihr die Möglichkeit, die innerparteiliche Schlacht zwischen „wets" und „drys" endgültig zu ihren Gunsten zu entscheiden und linke Kritiker an den Rand zu drängen. Damit wurde, wie Cockett (1994, S. 289) urteilt, die „intellektuelle Konterrevolution" in Großbritannien vollendet. Das als Thatcherismus bezeichnete Konglomerat neoliberaler und konservativer Ideen hatte den keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens aufgebrochen. Auch in die über Jahrzehnte überwiegend von der Linken dominierten Intellektuellenkreise sickerte nun die marktwirtschaftliche Botschaft ein. Zwar blieb noch eine große Zahl der älteren Ökonomen an den Universitäten, vielleicht sogar die Mehrheit, den früheren keynesianischen Denkmustern verhaftet, wie der Brief der 364 Wirtschaftswissenschaftler zeigte. Aber langsam trat eine neue Generation von Ökonomen auf die Bühne, deren Ansichten nicht mehr durch die Erfahrung von der Massenarbeitslosigkeit der dreißiger Jahre, sondern vom Versagen dirigistischer und interventionistischer Maßnahmen zur Bekämpfung der Stagflation in den siebziger Jahren geprägt war. Daraus resultierte bei vielen ein Mißtrauen gegenüber den Versprechungen des Staates und mehr Bereitschaft, auf Markt und Wettbewerb zu setzen. Als die MPS 1984 ein General Meeting in Cambridge abhielt, wo Keynes rund fünfzig Jahre zuvor Hayek so klar in den Schatten gestellt hatte, erwies sich, daß die intellektuelle Dominanz der Linken gebrochen war. John Chamberlain berichtete in der National Review, „die am meisten ermutigende Tatsache der Mont Pèlerin Society Konferenz in Cambridge war, daß sie in einer akademischen Umwelt stattfand, die nicht länger modisch links ist." In den dreißiger Jahren, hätten dort die Kommunisten noch zahlreiche Anhängerschaft gefunden. „Das Cambridge von 1984 war bereit, die Heimkehr Hayeks als populäre Persönlichkeit zu akzeptieren" (Chamberlain, 1985). Mit Thatchers zweiter Amtsperiode begann auch die Zeit der Ernte. Mitte der achtziger Jahre schien die Inflationsrate mit weniger als 5 Prozent unter Kontrolle zu sein, zugleich war die Rezession überwunden und die Arbeitslosenquote auf 6 Prozent gesunken. Nach einer Zeit der schmerzhaften Anpassung hatten sich die Inflationserwartungen auf niedriAufgrund des Mehrheitswahlrechts verlor Labour durch die neue Konkurrenz der gemäßigten Social Democratic Party eine erhebliche Zahl von Sitzen. 25 In einem Leserbrief rief er sogar zu noch robusterem militärischem Handeln auf, nämlich einem britischen Gegenangriff auf argentinisches Festland, ein Vorschlag, der beiderseits des Atlantiks hohe Wellen schlug (vgl. Hennecke, 2000, S. 347-348). 24

Der Neoliberalismus an der Macht? • 409

gerem Niveau stabilisiert. Zudem begannen die angebotsorientierten Reformen zu wirken und sorgten für eine im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Belebung der britischen Konjunktur. Dies unterstützte die Bemühungen um staatliche Haushaltskonsolidierung. Der Wille zu Sparsamkeit brachte Erfolge: Lag das Defizit Ende der siebziger Jahre noch bei 10 Prozent, so konnte der Schatzamtsminister Mitte der achtziger Jahre erstmalig ausgeglichene Haushalte und 1987 bis 1990 sogar Überschüsse vorweisen. All dies waren Spätfolgen der von Howe eingeleiteten fiskalischen Wende. Auch die Privatisierung einiger der wichtigsten verstaatlichten Unternehmen kam nun voran. Obwohl Joseph bis zu seinem Wechsel ins Erziehungsministerium im Herbst 1981 lediglich die National Freight Corporation, British Aerospace, die Firma Cable and Wireless sowie Anteile von British Petroleum veräußern konnte, hatte er aber mit wichtigen Vorarbeiten die Weichen für seine Nachfolger gestellt. Die von ihm betriebene Ausgliederung von British Telecom aus der staatlichen Post bereitete die Liberalisierung und Privatisierung der Telekommunikation vor. Darüber hinaus verordnete Joseph den großen staatlichen Verlustunternehmen einen harten Sanierungskurs. Der Widerstand der Gewerkschaften gegen eine technische Modernisierung und den Abbau nicht produktiven Personals wurde gebrochen, einige der größten Staatsbetriebe konnten folglich privatisiert werden. 26 All dies habe die mikroökonomische Effizienz der Wirtschaft enorm gesteigert, erklärte Madsen Pirie vom Adam Smith Institut, der in den achtziger Jahren zeitweilig in den britischen Medien als eine Art Privatisierungs-Guru gehandelt wurde. Der Erfolg der Kampagne läge „jenseits der wildesten Träume konventioneller Politik", jubelte er beim MPS-Treffen in San Vincenzo (Pirie, 1986, S. 12). „Der Trend zum Sozialismus", urteilte auch Seidon beim MPS-Treffen 1988 in Tokio, „ist aufgehalten worden, obwohl fraglich bleibt, wie weit der Staat,zurückgerollt' worden ist. Der Markt ist nun in Mode, und alle politischen Parteien, auch die Labour-Partei, reden jetzt über seine Vorzüge" (Seidon, 1988, S. 14). Der Begriff „populär capitalism" sei ein richtiger Wahlkampfschlager geworden. Das meiste sei der starken Persönlichkeit und Uberzeugungskraft von Thatcher zu verdanken. So sehr der IEA-Ökonom die erfolgreiche Bekämpfung der Inflation, die Konsolidierung des Staatshaushalts, Fortschritte bei der Privatisierung sowie die Arbeitsmarkt- und Strukturreformen der Regierung lobte, so gab es auch Kritikpunkte. Thatcher habe aus taktischen Gründen manchem Kompromiß zugestimmt, der weit von der besten Lösung entfernt sei. Mangelnde Fortschritte sah Seidon beim Rückbau des Wohlfahrtsstaats, insbesondere das ungelöste Problem des NHS beklagte er (vgl. ebd., S. 22). Tatsächlich wurden während der achtziger Jahre zwar Korrekturen am kollektivistischen Wohlfahrtssystem vorgenommen und einzelne marktwirtschaftliche Elemente eingebaut, ein radikaler Um- und Abbau war aber nicht festzustellen. Einige britische MPS-Mitglieder hatten auch hier auf eine große Wende gehofft, wie Seidon beim Treffen der MPS in Stockholm darlegte (vgl. Seidon, 1981). Im vergangenen Jahrhundert habe der Wohlfahrtsstaat ein „buchstäbliches Monopol" über viele Aspekte des

So konnte der Automobükonzern British Leyland schließlich in mehrere Teile zergliedert und die Firmen Jaguar und Rover verkauft werden. Auch v o n British Airways trennte sich der Staat. Selbst die politisch umkämpften Werke von British Steel, seit vierzig Jahren Symbol sozialistischer Verstaatlichungswünsche, wurden nach und nach an private Investoren abgegeben (vgl. Dunkerley/Hare, 1991, S. 409-415). 26

4 1 0 • Wandlungen des Neoliberalismus sozialen Lebens errichtet, so bei der Bildung in Staatsschulen, der medizinischen Versorgung durch den NHS, auf dem Immobilienmarkt durch subventionierten Sozialwohnungsbau und eine Altersversorgung durch die staatliche Rentenversicherung. Die individuellen Wünsche der Bürger hätten sich jedoch im Laufe der Zeit und mit steigendem Wohlstand stark geändert. Ihre Bedürfnisse seien mit standardisierten Leistungen immer schlechter zu befriedigen. Der britische Wohlfahrtsstaat sei hier ein extremes Beispiel: Er beruhe auf einer starren Zwangsversorgung mit „öffentlichen Gütern", die viele Menschen in dieser Form nie gewollt hätten, so Seidon. Die Palette der sozialen Leistungen entspreche den Vorstellungen der Wohlfahrtsbürokratie und gut organisierter Gruppen von Nutznießern, nicht aber den individuellen Präferenzen aller zur Teilnahme genötigten Bürger. Allerdings käme das Staatsmonopol ins Wanken, glaubte er. Mit der Öffnung der nationalen Märkte erhalte es mächtige Konkurrenz. Seidon begrüßte es, daß eine steigende Zahl von Bürgern der standardisierten Zwangsversorgung zu entfliehen suchte. Um diesen Prozeß der Auflösung des Wohlfahrtsstaats zu beschleunigen, schlug Seidon eine dreifache Strategie vor: Aufgabe neoliberaler Politiker sei es, Koalitionen von Gruppen zu schmieden, die von einem Abbau der wohlfahrtsstaatlichen Monopole profitieren würden, angefangen bei privaten Konkurrenzunternehmen über betroffene Berufsgruppen, etwa Mediziner und Lehrer, bis hin zu den Konsumenten, die eine breitere und bessere Auswahl sozialer Diensdeistungen wünschten. Aufgabe der neoliberalen Intellektuellen müsse sein, den Nimbus des Wohlfahrtsstaates als einer segensreichen Einrichtung zu zerstören. Er sei als entmündigende und amoralische Macht zu entlarven, die vielfach schlechter als der Markt arbeite und enorme negative externe Effekte mit sich bringe. Zuletzt läge es an den Bürgern, dem Wohlfahrtsstaat die materielle Basis zu entziehen. Als ultimative Notwehr sei eine Einstellung der Steuerzahlungen zu erwägen. 27 Es sei der übermäßige Staatsdruck, so Seidon, der die Bürger zum Widerspruch, also Betrug, treibe. Sein Vortrag endete mit der Hoffnung: „Wenn 1881 bis 1981 das Jahrhundert des Wohlfahrtsstaats war, angefangen in Deutschland, so könnte 1981 bis 1991 das erste Jahrzehnt seiner Auflösung sein, angefangen in Britannien" (ebd., S. 9). Die Mitglieder der MPS mochten Seidons Analysen zwar überzeugen, in vielem überzeichnete er aber die tatsächliche Unzufriedenheit der Bürger mit dem britischen Wohlfahrtsstaat. 28 Auch Thatchers Regierung war sich bewußt, daß dieser zwar in eine Krise geraten, für einen radikalen Abbau aber kaum eine Wählermehrheit zu begeistern war. Gegen jede einzelne Maßnahme und jeden Einschnitt, so die Erkenntnis der „Public Choice"-Theorie, würde sich härtester Widerstand der direkt Betroffenen erheben, während die Unterstützung der allgemeinen Öffentlichkeit nur schwer zu mobilisieren war. Eine reformorientierte „Koalition von Gewinnern", wie sie Seidon empfahl, schien nur in Für die Mischung aus Steuervermeidung (avoidance) und -umgehung (evasion) prägte Seidon den Begriff „avoision". 28 Das IEA hatte von 1963 bis 1978 mehrere empirische Studien zur Haltung der Briten zum staatlichen Gesundheits- und Bildungssystem in Auftrag gegeben. Der Anteil der Befragten, die eine Möglichkeit zum Ausstieg („opt out") aus dem NHS bzw. die Möglichkeit zum Wechsel auf alternative Schulen wünschten, stieg dabei von 33 Prozent auf 54 Prozent bzw. von 27 Prozent auf 60 Prozent (vgl. Bosanquet, 1983, S. 76). Diese Zahlen implizierten, daß eine Mehrheit der Bürger die Linie des IEA unterstützten, mehr Wahlfreiheit zuzulassen. Allerdings, wie Fürsprecher des NHS bezweifelten, war daraus im Umkehrschluß nicht zu folgern, daß sie bereit seien, einen nicht-egalitären Zugang etwa zu medizinischen Dienstleistungen zu akzeptieren (vgl. ebd., S. 163). 27

Der Neoliberalismus an der Macht? • 411 wenigen Fällen möglich. Bei der Privatisierung von gemeindeeigenen Sozialwohnungen, die ab den frühen achtziger Jahren begann, hatte Thatcher erheblichen Erfolg.29 Die populäre Kampagne zum Verkauf der Sozialwohnungen entsprach der von Thatcher vertretenen Vision einer Gesellschaft von Eigentümern und Selbständigen, nicht von Wohlfahrtsabhängigen. Im Fall der Gemeindewohnungen ging es aber um die vergünstigte Abgabe an Privatleute, nicht um die Streichung staatlicher Sozialzuschüsse. Schon Thatchers Wahlprogramm von 1979 hatte tendenziell gezeigt, daß sie hier radikale Einschnitte scheute. Tatsächlich war sogar eine Anhebung der staatlichen Renten versprochen worden. Als Alternative zu dem durch die Vielzahl von Sozialleistungen sehr komplexen und undurchschaubaren Umverteilungssystem wurde zwar ein Steuergutschriftensystem erwähnt, das an Friedmans Vorschlag einer „negativen Einkommensteuer" erinnerte. Doch dessen mögliche Einführung liege noch in ferner Zukunft, hieß es im Wahlprogramm. Die britischen Konservativen hatten also weder 1979 noch später einen radikalen Anschlag auf den Wohlfahrtsstaat geplant, wie oft unterstellt wurde. Besonders enttäuschen mußte die Neoliberalen, daß auch Thatchers Sozialminister nicht wagten, am grundsätzlichen Prinzip der medizinischen Versorgung durch ein staatliches Monopol zu rütteln. Die beiden hauptsächlichen Einwände gegen den NHS waren die mangelnde Effizienz des bürokratischen Apparats und die zu geringe Ressourcenausstattung eines kollektivistischen Gesundheitssystems. Friedman wies auf eine sinkende Zahl von Krankenhausbetten und immer längere Wartelisten für Patienten trotz steigender Kosten hin (Friedman/Friedman, 1980, S. 114). Selbst im wirtschaftsliberaleren Klima der achtziger Jahren erschien es undenkbar, den ganzen Gesundheitsbereich marktlich zu organisieren und statt einer Steuerfinanzierung auf mehr Eigeninitiative und private Krankenversicherungen zu setzen. Erst sehr spät, gegen Ende der achtziger Jahre, wurde eine Verbesserung des NHS durch mehr internen Wettbewerb und betriebswirtschaftliche Eigenständigkeit der Krankenhäuser erwogen. Die Vordenker des IEA zeigten sich darüber enttäuscht. Beim MPS-Treffen 1988 beklagte Seidon, die Regierung hinke hinter der öffentlichen Meinung her, die zu mehr Reformen bereit sei (Seidon, 1988, S. 22). In einer Studie des IEA von 1990 hieß es, trotz zaghafter Ansätze der Regierung habe sich am „Paternalismus einer Versorgung mit Sachleistungen, finanziert durch Steuern" kaum etwas geändert (zit. n. Denham/Garnett, 1998, S. 106).30 Wie beim Sozialstaat blieb auch in der Bildungspolitik die von manchen Neoliberalen erhoffte Wende aus: Die Mehrheit der Mitglieder der MPS war überzeugt, daß auch in Fragen des Schulwesens mehr Wettbewerb wünschenswert sei und zu qualitativen Verbesserungen führen würde. Die im späten neunzehnten Jahrhundert begonnene Verstaatlichung des

Millionen von Mietern sahen die Chance, zu einem geringen Preis ihre eigenen vier Wände zu erwerben. Waren 1 9 8 0 noch 31,1 Prozent aller Wohnungen in staatlichem Besitz, so sank dieser Anteil bis 1 9 9 0 auf 21,9 Prozent. Die Eigenheimquote konnte um gut zehn Punkte auf 65,8 Prozent gesteigert werden (vgl. Ricketts, 2005, S. 72). Zudem wurde die seit dem Ersten Weltkrieg bestehende staatliche Regulierung der Mieten langsam gelockert und damit der Immobilienmarkt belebt. Der Housing Act von 1 9 8 8 gewährte schließlich weitgehend Vertragsfreiheit für Neuvermietungen. 29

30 Ein positiveres Urteil fällt Marsland: Er hält den unter Thatcher verabschiedeten Reformen eine spürbare Verbesserung der Qualität des britischen Gesundheitssystems zugute. „Im Kontext der ersten dreißig Jahre des Stillstands und Niedergangs des NHS waren diese Reformen recht radikal", wenn auch „kaum revolutionär" (Marsland, 2005, S. 170).

412 • Wandlungen des Neoliberalismus Bildungssystems beurteilten viele Neoliberale sehr ambivalent. Daß damit neben Bildungsmöglichkeiten für alle sozialen Schichten und somit einer größeren Chancengleichheit auch geringere Freiräume für Eltern und nicht-staatliche Initiativen verbunden waren, wurde kritisch gesehen. Hinzu kam die explizit gleichmacherische Schulpolitik ab den späten sechziger Jahren: Unter dem Primat größtmöglicher Egalität wurden ungeachtet unterschiedlicher Talente der Schüler flächendeckend Gesamtschulen aufgebaut, allgemein Leistungsanforderungen gesenkt, um eine höhere Quote von Universitätseinschreibungen zu ermöglichen, und die „harten" Lernfächer durch „weiche" Kurse mit sozialwissenschaftlichen Inhalten verdrängt. Wenn auch nur wenige Neoliberale aus dem Umfeld der MPS konsequent eine totale Privatisierung und private Finanzierung von Schulen und Universitäten (oder sogar die Abschaffung der Schulpflicht) erwogen, so gab es seit den sechziger Jahren Überlegungen, marktwirtschaftliche Elemente zur Stärkung der Position der Eltern und Schüler einzuführen. Die negativen Entwicklungen, so eine gängige neoliberale Kritik, seien allein auf ideologische Präferenzen der „Anbieter", also der Bildungsbürokratie und der Lehrergewerkschaften, zurückzuführen. Nur aufgrund der weitgehenden Monopolstellung des staatlichen Schulwesens konnten diese abweichende Vorstellungen der „Nachfrager", also der Eltern und Schüler, ignorieren. Die wahren Kosten und das schlechte Preis-/ Leistungsverhältnis des staatlichen Schulsystems würden durch die untransparente Steuerfinanzierung verschleiert. Schon Mitte der fünfziger Jahre hatte Friedman die Idee von „vouchers", also Bildungsgutscheinen, in die Diskussion eingebracht. In seinen Büchern „Capitalism and Freedom" sowie „Free to Choose" widmete er der Frage je ein Kapitel. 31 Bei Friedmans Vorschlag blieb die staatliche Finanzierung des Bildungssystems und somit der Schulbesuch für Kinder aller Schichten erhalten, allerdings sollten Eltern zwischen verschiedenen Bildungseinrichtungen wählen können. Unterschiedliche Schulen und Schulkonzepte würden damit im Wettbewerb um „Kunden" stehen, die mit ihren Gutscheinen bezahlen und so für nachfragegerechte Ressourcenallokation sorgen. Ein früher Anhänger des Konzepts der „vouchers" war der Unterhausabgeordnete Rhodes Boyson, ein früherer Kommunalpolitiker von Labour, der zu den Tories wechselte. Er hatte in fast zwei Jahrzehnten als Direktor verschiedener höherer Schulen tiefe Einblicke ins staatliche Bildungssystem gewonnen. Sein Urteil war vernichtend: „Es gibt nun jede Menge Beweise für sinkende Alphabetisierungsstandards trotz kleinerer Klassen, gewaltiger Ausgaben für neue Schulen, der Anschaffung von mehr Büchern und Einrichtung und einer Anhebung des Mindestalters für Schulabgänger", erklärte er in einem Vortrag vor der MPS (Boyson, 1974, S. 1). Lange Wartelisten für Privatschulen, die aber nur einen Anteil von knapp 5 Prozent der Schüler aufnehmen könnten, zeugten von der Unzufriedenheit der Eltern angesichts des Niveauverlusts der staatlichen Schulen, so Boyson. Neben dem System der „vouchers" für die Schulbildung befürwortete er eine darlehensfinanzierte Beteiligung von Studenten an den Kosten der Hochschulbildung (vgl. ebd., S. 1-2). 31 Interessanterweise änderten die Friedmans ihre Meinung zur staatlichen Schulpflicht. Während sie diese 1962 noch aus demokratietheoretischen Erwägungen guthießen, überwogen später ihre Zweifel (vgl. Friedman/ Friedman, 1980, S. 162-163).

Der Neoliberalismus an der Macht? • 413 Beide Ideen ließen sich in den Jahren der Regierung Thatcher nicht durchsetzen. Boyson war 1979 Unterstaatssekretär im Bildungsministerium geworden. Ein starker Flügel innerhalb der konservativen Partei begrüßte eine Reform des Schulsystems mit mehr elterlicher Wahlfreiheit. In ihrem Wahlmanifest von 1983 versprachen die Tories genau dies, ohne sich jedoch bezüglich der Bildungsgutscheine festzulegen. Große Hoffnung setzten die Neoliberalen in dieser Hinsicht auf Joseph, der vom Industrieministerium an die Spitze des Bildungsministeriums gewechselt war. Die Befürworter des Systemwechsels wie Boyson oder der ministerielle Berater Oliver Letwin, dessen Eltern beide MPS-Mitglieder waren, brachten die Einführung von Bildungsgutscheinen immer wieder auf die Tagesordnung. Unterstützung gab das IEA mit eigenen Untersuchungen zum Thema (vgl. Seidon, 1986). Zur Überraschung und Enttäuschung seiner Anhänger entschied sich Joseph trotz prinzipieller Sympathien nach längerem Zögern gegen die Idee der Bildungsgutscheine (vgl. Halcrow, 1989, S. 168-177). Er erachtete die praktischen Schwierigkeiten einer so weitreichenden Reform sowie die politischen Widerstände als zu groß. Angesichts seines ohnehin angespannten Verhältnisses zu den Lehrergewerkschaften wollte er die Eröffnung einer weiteren Front vermeiden. Auch bei den Tories gab es erbitterten Widerstand; Heath hatte schon angekündigt, sich an die Spitze der Proteste gegen „vouchers" zu stellen. Welch emotionale Stürme marktwirtschaftliche Reformvorschläge im Bildungsbereich entfachen konnten, erlebte Joseph auch bei dem Versuch, einen Teil der staatlichen Gelder an Studenten künftig nur noch als Darlehen zu geben, wie etwa in Deutschland üblich. Eine Welle der Entrüstung, nicht nur von Seiten der Linken, sondern auch von Seiten der konservativen Mittelschicht, des Hauptprofiteurs der staatlichen Studiensubventionen, spülte diese Pläne vom Tisch. In den Augen vieler Neoliberaler bedauerlich war der Zentralisierungsschub im Bildungswesen mit der Möglichkeit von Schulen zum „opt out", sich also nicht mehr kommunalen Regierung, sondern direkt der nationalen Regierung in Westminster zu unterstellen, sowie der Einführung des national verbindlichen Lehrplans 1988 unter Josephs Nachfolger Kenneth Baker. Was als Maßnahme zur Anhebung schulischer Standards gedacht war, die unter sozialistischen Schulräten nicht gewahrt würden, ging zugleich gegen das von Neoliberalen hochgehaltene Subsidaritätsprinzip. Insgesamt ließ die Bildungspolitik in der Ära Thatcher in den Augen neoliberaler und konservativer Beobachter zu wünschen übrig (vgl. O'Keeffee, 2005, S. 126-127). Die Bilanz der Ära Thatcher fällt somit aus neoliberaler Perspektive gemischt aus, wobei das Positive klar überwog: Als die Premierministerin nach zwölf Jahren abtrat, war das Land grundlegend reformiert. Das große Übel der siebziger Jahre, die rapide Geldentwertung, war gestoppt und der einst chronisch defizitäre Staatshaushalt saniert. Als zweiten Erfolg konnten die britischen MPS-Mitglieder verbuchen, daß die Gewerkschaftsmacht in den achtziger Jahren in die Schranken gewiesen wurde. Dem zuvor überregulierten Unternehmertum hatte Thatcher zu mehr Freiraum verholfen und den Staat mit dem Privatisierungsprogramm wieder auf ein engeres Feld beschränkt. Gemessen an seinem Anteil am BIP konnte der staatliche Wirtschaftssektor von mehr als 11 Prozent auf weniger als 3 Prozent reduziert werden (vgl. Ricketts, 2005, S. 70-71). Die Rückführung des Staatsanteils insgesamt fiel aber geringer aus, als mancher Neoliberale sich erhofft hatte. Gegenüber dem rezessionsbedingten Höchststand von fast 45 Prozent des BIP im Jahr 1982 wurden die Staatsausgaben immerhin auf rund 39 Prozent im Jahr 1990 gedrückt. Als Folge der konsequenten Liberali-

414 • Wandlungen des Neoliberalismus sierung und angebotsorientierten Reformen unter Thatcher konnte der historische Trend des langen relativen Abstiegs und der industriellen Produktivitätsschwäche aufgehalten und sogar umgekehrt werden (vgl. Crafts, 1991). Der Anfang für einen nachhaltigen Abbau der Arbeitslosenquote wurde gemacht, die vom Rekordwert von 12 Prozent auf unter 6 Prozent in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gedrückt wurde. Freilich leistete sich die Regierung noch einen schweren Fehler, der ihre Bilanz zeitweilig verschlechterte. 1987 entschloß sich Finanzminister Nigel Lawson gegen den Rat Walters, die monetaristische Geldmengenpolitik zugunsten einer Anbindung des Wechselkurses an die wichtigste europäische Währung, die D M , aufzugeben. E r verzichtete darauf, einer Expansion des Geldangebots gegenzusteuern, wie es die monetaristische Theorie gefordert hätte. Als Konsequenz schoß die Inflation kurzzeitig wieder in die Höhe, was bis 1990 erneut harte Zinsschritte nötig machte. Dies stürzte die Wirtschaft in eine Rezession, begleitet von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 10 Prozent. Nachdem das Pfund 1992 aus dem E W S ausgeschieden war, kehrte die britische Geldpolitik zu einer modifizierten Ausrichtung an der Inflationsrate zurück (vgl. Minford, 2005, S. 55). Erst danach entspannte sich auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Anfang der neunziger Jahre war die schmerzhafte Phase eines über lange Zeit verschleppten Strukturwandels aber endgültig überwunden. Der langfristige Ertrag der angebotsorientierten Weichenstellung unter Thatcher wurde in den neunziger Jahren offenkundig: Im Jahrzehnt nach 1992 wuchs das britische B I P im Schnitt um knapp 3 Prozent jährlich, wogegen etwa Deutschland mit einem Wachstum von knapp 1 Prozent, Italien mit 1,2 Prozent und Frankreich mit 1,8 Prozent sich deutlich schwächer entwickelten. Die britische Arbeitslosenquote fiel bis zur Jahrtausendwende auf 3 Prozent. Damit war erstmals seit Jahrzehnten inflationsfreie Vollbeschäftigung erreicht (vgl. ebd., S. 56-57). Angesichts dieses Erbes wirkt die politische Zäsur der Jahre nach 1979 rückblickend noch einschneidender, als sie den Zeitgenossen erschien. Die Frage nach der Bedeutung neoliberaler, ideeller Vorarbeiten ist dabei nicht einfach zu klären. Der langjährige IEA-Mitstreiter Seidon äußerte sich dazu eher vorsichtig: „Es ist schwierig, den Einfluß von Ideen auf die Regierung Thatcher, selbst auf die ,Whigs' unter ihren Verbündeten im Kabinett, abzuschätzen. Es stimmt, daß sie eine große oder die führende Rolle dem Institute o f Economic Affairs zuschreibt, aber es ist schwierig zu sagen, was die Konservativen gemacht hätten, wenn das I E A nicht gegründet worden wäre, um den Wirtschaftsliberalismus zu propagieren, der die Mont Pèlerin Society beseelt. Es ist kaum glaubhaft, daß die Konservativen zum Korporatismus von Macmillan und Heath zurückgekehrt wären" (Seidon, 1988, S. 18-19). Von gleichrangiger Bedeutung wie die Macht der Ideen war am Ende also der Druck der Umstände. In Anlehnung an Mills bekannten Satz, daß eine zündende Idee erst in einem günstigen Umfeld („conspiring circumstances") wirken könne 32 , nannte Seidon die Krise des Jahres 1979, den „accident of history", der die Wende möglich gemacht habe. Das entscheidende Moment dieser geschichtlichen Situation sei jedoch der „menschliche Faktor",

„Ideen haben im Allgemeinen, wenn sich nicht äußere Umstände mit ihnen vereinen, keine sehr schnelle oder unmittelbare Wirkung auf die Angelegenheiten der Menschen", so das komplette Zitat von Mill (1845, S. 503). 32

Der Neoliberalismus an der Macht? • 415

die Person Thatcher, gewesen: Sie habe die Themen der Wirtschaftsliberalen popularisiert und einer breiteren Öffentlichkeit „verkauft" (ebd., S. 20-21 u. 23).

2. Vereinigte Staaten: Der Aufstieg Ronald Reagans Wie in Großbritannien trafen auch in den Vereinigten Staaten in den späten siebziger Jahren Ideen und Zeitumstände zusammen, die eine radikale Wende möglich machten: Die Ideen entstammten einer konservativ-neoliberalen, stark von MPS-Mitgliedern beeinflußten Geistesströmung. Die Zeitumstände waren in dieser marktliberalen Bewegung günstig, je mehr sich das ökonomische Klima unter der keynesianischen Wirtschaftspolitik verschlechterte. Zwar erschien die Lage in den Vereinigten Staaten, gemessen in Inflation und Arbeitslosigkeit, nicht ganz so dramatisch wie in Großbritannien, doch schlecht genug, um die amerikanischen Wähler zu alarmieren. Ende der siebziger Jahre herrschte eine allgemeine Wechselstimmung. War Goldwater mit seinem konservativ-neoliberalen Programm noch gescheitert, hatte Ronald Reagan mit einem ähnlichen Ansatz nun Erfolg. Wie im Falle Thatchers spielte auch hier der „human factor" eine entscheidende Rolle. In gewisser Hinsicht war Reagan in der Politik ein Spätberufener, dessen weltanschauliche Position sich erst in reiferem Alter festigte. Der 1911 in Illinois geborene Sohn eines Verkäufers hatte den New Deal zunächst begrüßt. Auch als erfolgreicher Filmschauspieler und Gewerkschaftsführer in Hollywood in den vierziger Jahren blieb Reagan ein Anhänger von Roosevelts Demokraten und stand politisch links von der Mitte. Allmählich verschob sich aber sein politischer Standpunkt.33 Die Demokraten, einst die Partei Jeffersons und Verfechter einer beschränkten Regierungsgewalt, hätten ihre Wurzeln verraten. Rückblickend beschrieb er seine wachsende Sorge: „Unsere Bundesregierung dehnte sich in den Nachkriegsjahren unerbittlich aus und begann, fast immer mit den besten Absichten, Amerika in eine verkappte Form des Sozialismus zu führen", (Reagan, 1990, S. 117). In den fünfziger Jahren reiste Reagan im Auftrag der Firma General Electric durch das Land und hielt Reden vor Betriebsversammlungen. Immer klarer vertrat er dabei marktwirtschaftliche und antietatistische Ansichten. Um das Jahr 1960 war seine Abwendung von den Demokraten abgeschlossen (vgl. ebd., S. 130). Bezeichnenderweise wurde Reagan einem breiten amerikanischen Publikum erstmals während des Wahlkampfs von 1964 bekannt. Er ergriff Partei für Goldwater, der erstmals den keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens fundamental herausforderte und dafür als Rechtsextremist gebrandmarkt wurde. Reagans Fernsehauftritt begeisterte einflußreiche Kreise der Republikaner, die ihn 1966 drängten, für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien zu kandidieren. Reagan gewann die Wahl mit überraschender Leichtigkeit. Während seiner Amtszeit in Sacramento von 1967 bis 1975 profilierte er sich mit Vorstößen zu den Themen, die der konservativen Bewegung besonders wichtig waren: E r vertrat eine harte

Eigenen Angaben zufolge hatte dies zwei Gründe: Zum einen ängstigten ihn Tendenzen einer sowjetfreundlichen Infiltration der Filmindustrie in Hollywood und die wohlwollende Gleichgültigkeit linksliberaler Intellektueller demgegenüber. Zum anderen begann Reagan nun, die weitere Zunahme bürokratischer Interventionen und das Wachsen des zentralstaatlichen Apparates kritischer zu sehen (vgl. Reagan, 1990, S. 116-118). 33

416 • Wandlungen des Neoliberalismus Linie in der Innenpolitik, bei der Bekämpfung der Kriminalität und in der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung. In der Wirtschaftspolitik stand er für marktliberale Positionen, versprach Steuersenkungen und weniger Bürokratie sowie ein schärferes Vorgehen gegen den Mißbrauch von Sozialleistungen. Wie auch bei Thatcher verbanden sich also bei ihm eher repressive, konservative Elemente in der Innenpolitik mit neoliberalen Ansichten in Fragen der Wirtschaftsordnung. Reagan teilte die traditionellen Bedenken der amerikanischen konservativen Intellektuellen gegen eine übermäßige Machtballung in Washington auf Kosten der subsidiären Einheiten. 34 Ausdruck von Reagans Bemühungen, dem Überborden des Staates fiskalische Grenzen zu setzen, war die kalifornische Proposition 1 des Jahres 1973. Seine Kampagne für einen Verfassungszusatz, um das Ausgabenwachstum zu reduzieren, stieß auf begeisterte Zustimmung führender MPS-Mitglieder. Sie begrüßten den Versuch des Gouverneurs, sich selbst und nachfolgende Politiker konstitutionell zu binden und opportunistisches Ausgabenverhalten unmöglich zu machen. Friedman begleitete Reagan auf einer Werbetour und pries ihn öffentlich als Kandidaten für das Präsidentenamt. Wenn auch die Proposition 1 letztlich nicht die erforderliche Mehrheit erhielt, ermutigte Reagans Vorstoß zahlreiche Gruppen, sich gegen den Steuerstaat aufzulehnen. 35 Einen Durchbruch erzielte die Bewegung schließlich mit der Annahme der kalifornischen Proposition 13 im Jahr 1978, mit der die Bürger eine drastische Senkung der Grundsteuer erzwangen. Neben anderen Faktoren war es der Schwung dieser bürgerlichen Revolte, der Reagan zwei Jahre später den Weg ins Weiße Haus ebnete. Zwar genossen die Amerikaner noch immer den weltweit höchsten Wohlstand, doch erschien ihre wirtschaftliche Position in den späten siebziger Jahre gefährdet: Die Inflationsrate sprang über die Marke von 10 Prozent, die offizielle Arbeitslosenquote näherte sich 7 Prozent und das Wirtschaftswachstum war seit mehreren Jahren sehr schwach. Diese Entwicklung bereitete den Wählern große Sorgen. Sie spürten, daß sich die amerikanische Wirtschaftsverfassung durch Jahrzehnte von Staatseingriffen grundlegend verändert hatte. Warnungen vor einer schleichenden Degeneration der Marktwirtschaft in einen milden Sozialismus, etwa von Milton und Rose Friedman in ihrem Bestseller „Free to Choose", der 1980 fürs Fernsehen verfilmt wurde, erreichten viele Millionen von Zuschauern. Die Friedmans provozierten mit der Behauptung, von allen sei die Sozialistische Partei im vergangenen halben Jahrhundert die erfolgreichste gewesen. Obwohl bei Wahlen eine marginale Größe, hätten die großen Parteien nach und nach die wichtigsten wirtschaftlichen Forderungen des Wahlmanifests der Sozialisten von 1928 aufgegriffen. 36 Um die schleichende

34 Diese Sorge ging zurück bis auf Madison, den Vater der Verfassung. Sie war der wichtigste verfassungsrechtliche Topos der im zwanzigsten Jahrhundert „konservativ" genannten amerikanischen Neoliberalen und ideologische Klammer zu vielen Traditionalisten wie Kirk, die ebenfalls für einen Aufbau des Staates von unten, für Machtbegrenzung und Machtverdünnung durch Gewaltenteilung und konstitutionelle und plebiszitäre Schranken gegen obrigkeitlichen Absolutismus eintraten. 35 Die Parolen der antietatistischen Steuerrebellion verbreiteten sich rasch in der Mittelschicht des ganzen Landes. Tennessee und Michigan beschlossen Anfang 1978 allgemeine Obergrenzen für staatliche Steuern und Abgaben. 36 Dazu gehörten die Verstaatlichung großer Bauprojekte wie des Hoover-Damms oder der TVA, staatliche Arbeitsbeschaffung, Arbeitslosenversicherung und Arbeitsbehörden mit ihren Millionenbudgets, die staatliche Kranken- und Unfallversicherung und eine Einkommensteuer, die 1928 noch bei maximal 25 Prozent lag, aber Ende der siebziger Jahre in der Spitze 70 Prozent betrug (vgl. Friedman/Friedman, 1980, S. 311-312).

Der Neoliberalismus an der Macht? • 417 Verstaatlichung zu stoppen, schlugen die Friedmans eine ökonomische „Bill of Rights", eine konstitutionelle Schranke gegen weitere staatliche Ausgaben- und Steuererhöhungen vor (vgl. Friedman/Friedman, 1980, S. 283-312). Reagan galt als Kandidat des ökonomisch radikaleren Flügels der Republikaner, der solchen Ideen nahestand und einen neuen Anfang in der Wirtschaftspolitik wagen wollte. Den ersten Anlauf auf das Amt des Präsidenten unternahm er 1976, als er gegen den regierenden Gerald Ford bei den republikanischen Vorwahlen antrat und nur überraschend knapp unterlag. Dies ermutigte Reagan zu einem zweiten Versuch 1980, wo er sich in der parteiinternen Nominierung dann durchsetzen konnte. Einige Kommentatoren in den Medien suchten ihn als unbedarften „Cowboy" aus dem Sonnenstaat darzustellen, dessen extreme Ansichten zu ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen ihn disqualifizierten. Anders als Goldwater schadeten Reagan diese Angriffe nicht. Dank seiner persönlich einnehmenden Art und dem geschickten Auftreten des ehemaligen Schauspielers in den Medien perlten die Vorwürfe an ihm ab.

2.1. Zwischen MPS-Beratern und der „New Right" Im Wahlkampf umgab sich Reagan mit zahlreichen prominenten Wirtschaftwissenschaftlern aus dem neoliberalen Spektrum. Er selbst galt nicht gerade als Intellektueller. Hayek urteilte über ihn: „Während Frau Thatcher aber eine Menge versteht, was ihre Mitarbeiter nicht verstehen, hat Reagan nur einen gesunden Menschenverstand und ist völlig von seinen Mitarbeitern abhängig." Reagan sei „kein origineller Denker", habe aber bei seiner Personalpolitik eine glückliche Hand bewiesen. „Er hat dieselben Leute genommen, die ich auch genommen hätte", lobte er (Hayek, 1985). Im Hintergrund arbeitete MPS-Mitglied Martin Anderson, ein ehemaliger Ökonomieprofessor von der Universität Columbia, Mitarbeiter Nixons im Weißen Haus und ab Mitte der siebziger Jahre enger Vertrauter und Organisator Reagans. Bis Herbst 1980 brachte Anderson eine größere Zahl intellektueller Unterstützer zusammen, die den Kandidaten zu wirtschaftlichen Fragen mit wissenschaftlichen Expertisen versorgen sollten. Dabei nutzte er die Verbindungen der MPS, um Kontakte zu Gleichgesinnten zu knüpfen und diese für eine ehrenamtliche Mitarbeit zu gewinnen. Von den insgesamt 74 wirtschaftspolitischen Beratern, die Reagan im Wahlkampf zur Seite standen, stammten 22, also knapp ein Drittel, aus den Reihen der MPS (vgl. Anderson, 1987, S.3). Im Economic Policy Coordinating Committee saßen neben George Shultz, der den Vorsitz innehatte, fünf weitere MPS-Mitglieder: Arthur Burns, Milton Friedman, Alan Greenspan, Paul McCracken und William E. Simon. Auch die Inflation Policy Task Force war stark mit MPS-Okonomen besetzt. McCracken hatte den Vorsitz; die Chicagoer Karl Brunner, Yale Brozen und Sam Peltzman sowie W. Glenn Campbell, der Direktor der Hoover Institution, und Alan Reynolds von der First National Bank of Chicago sorgten für eine Dominanz monetaristischer Ansichten. In die Arbeitsgruppe zur internationalen monetären Ordnung war Hayeks alter Freund Gottfried Haberler berufen worden, während in der Arbeitsgruppe zur Regulierungspolitik James Buchanan und William Niskanen, zwei Vertreter der „Public Choice"-Schule, sowie Thomas Gale Moore, ein Mitarbeiter der Hoover Institution, bürokratiekritische Ansätze festlegten. Das einzige MPS-Mitglied in der

418 • Wandlungen des Neoliberalismus

von Charles E. Walker geleiteten Arbeitsgruppe zur Steuerpolitik war Paul Craig Roberts (vgl. ebd., S. 15-22). Dieser, Ökonom von der Georgetown Universität sowie Journalist beim Wall Street Journal.\ gehörte zu den treibenden Kräften des Steuersenkungsprogramms, das bald im Zentrum der politischen Diskussionen stehen sollte. Laut Anderson gelang es den marktwirtschaftlichen MPS-Intellektuellen schon lange vor Antritt der Regierung Reagan, den Kurs festzulegen, „ein dramatisches Beispiel für die Macht der Ideen und die Macht einer relativ kleinen Anzahl von Leuten in der intellektuellen Welt, eine politische Agenda zu entwerfen, der die Politiker dann treu folgen" (ebd., S. 5). Allerdings stellte die Gruppe der MPS-Mitgüeder in Reagans Mannschaft keinen homogenen Block dar. Trotz grundsätzlicher Übereinstimmung bezüglich der Weichenstellung für mehr Markt und weniger Staat vertraten sie in manchen Fragen durchaus konträre Meinungen und setzten unterschiedliche, teils widersprüchliche Akzente bei der Bekämpfung der Stagflation. Den Ton gaben die Monetaristen um Friedman an, die eine kräftige monetäre Bremsung forderten. Anderson selbst gehörte zu jenen, die der Theorie „rationaler Erwartungen" vertrauten und auf eine schnelle Anpassung der Inflationserwartungen hofften. So schrieb er im August 1979 für Reagan ein „Economic Policy Memorandum" mit der optimistischen Prognose, es sei „möglich, die Inflation zu reduzieren und das Wirtschaftswachstum zu stimulieren, ohne ökonomische Bauchschmerzen, Rezession oder Depression zu bekommen" (ebd., S. 8-9). Im Wahlkampf 1980 konzentrierte sich Reagan auf zwei Bereiche: Wirtschaft und Sicherheit. Einerseits setzte er auf Steuersenkungen, Deregulierung und Rückführung des Staates, andererseits plante er eine drastische Erhöhung der Rüstungsausgaben.37 Zwischen beiden Zielen bestand von Anfang an eine gewisse Spannung, da nicht sicher war, ob die höheren Aufwendungen für das Militär durch Einsparungen bei anderen staatlichen Programmen auszugleichen wären. Obwohl das von Reagan vorgeschlagene Verteidigungsprogramm eine höhere steuerliche Belastung bedeuten konnte, unterstützten es die meisten amerikanischen MPS-Mitglieder. Mit Friedman, der zwar Ineffizienz und Verschwendung beim Militär bemängelte, sahen sie doch in der Gewährleistung der äußeren Sicherheit eine der legitimen Aufgabe des Staates, für die angesichts der sowjetischen Bedrohung auch Opfer nötig seien (vgl. Friedman/Friedman, 1983/1985, S. 117-1124). Voll überzeugt von der Richtigkeit verstärkter Rüstungsanstrengungen zeigte sich Hayek (1983c, S. 54). Andere MPS-Neoliberale, Buchanan etwa, wandten aber kritisch ein, man stehe offenbar „an der Schwelle zu einer Periode, in der militärische Prioritäten einen dauerhaften Schub bei der Größe des Staatssektors erzeugen" (Buchanan, 1980, S. 19). Einzig die radikaleren Libertären um Rothbard, die Moskaus Bedrohung als relativ entfernt empfanden, lehnten Reagans Rüstungspläne rundweg ab. Neben wirtschaftlichen und außenpolitischen Streitfragen, bei denen sich Reagans Republikaner gegen Carters Demokraten abzusetzen suchten, bewegten Ende der siebziger Jahre verstärkt auch moralische Themen die amerikanische Öffentlichkeit. Hatten die frühen siebziger Jahre im Gefolge der Studenten- und Hippy-Bewegung ein permissives und hedoDer Anteil der Verteidigung am Staatshaushalt war seit Ende der sechziger Jahre um rund ein Drittel gesunken. Reagan warb für eine Aufstockung und verwies auf einen militärischen Rückstand gegenüber den Sowjets, die soeben in Afghanistan einmarschiert waren. 37

Der Neoliberalismus an der Macht? • 419 nistisches Klima gebracht, so formierte sich dagegen bald eine bürgerliche oder rechte Gegenbewegung, die sich in Gruppen wie der Moral Majority von Jerry Falwell organisierte. 38 Die Haltung der amerikanischen Neoliberalen gegenüber deren kulturkonservativen Forderungen war gespalten: Einige MPS-Mitglieder hingen einer strikt individualistischen Philosophie an und verbanden ökonomische Freiheit mit moralischem Relativismus. Diesen Standpunkt vertrat beispielsweise Friedman, der für eine Freigabe des Drogenkonsums plädierte, um den kriminellen Schwarzmarkt auszutrocknen, aber auch, weil es die Entscheidung jedes einzelnen sei. Einzelne Libertäre hingen einem radikal individualistischen, anti-autoritären Ideal an. Der überwiegende Teil der amerikanischen MPS-Mitglieder tendierte eher zur konservativen Position: Eine bürgerliche Kultur mit traditionellem Wertefundament, besonders aber stabile Familien und soziale Bindungen, hielten sie für das Funktionieren einer freiheitlichen Ordnung für unerläßlich. Die „Counterculture" lehnten die meisten, so auch Hayek, leidenschaftlich ab. Allerdings vermied es die MPS, gesellschaftspolitische Fragen zu diskutieren, wohl wissend, daß hier große Meinungsunterschiede unter ihren Mitgliedern existierten. 39 Der Sieg Ronald Reagans über Jimmy Carter im November 1980 bedeutete eine ebenso tiefe Zäsur in der politischen Geschichte der Vereinigten Staaten, wie es Thatchers Regierungsübernahme in Großbritannien 1979 war. Beide Politiker vereinten marktliberale mit konservativen Ansichten. Ihre wirtschaftspolitische Stoßrichtung deckte sich mit der neoliberalen Auffassung, daß die Ausweitung der staatlichen Eingriffe die Hauptursache der ökonomischen Schwierigkeiten sei. In den meisten Fällen sei der Staat - die Regierung - nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Aus der Perspektive der Linken, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg daran gewöhnt hatte, an der Spitze des Zeitgeists zu stehen, war Reagans Aufstieg eine Katastrophe. „Die schlimmsten Albträume der amerikanischen Linken scheinen wahr geworden zu sein", begann die New Lieft Review eine Analyse des Erfolgs der „New Right" (Davis, 1981, S. 28). Mit großer Irritation sahen Beobachter des linken Spektrums den politisch-kulturellen Klimawandel der siebziger Jahre, der es einem Kandidaten wie Reagan erlaubt hatte, das Weiße Haus zu erobern: „Ronald Reagan ist der erste amerikanische Präsident des zwanzigsten Jahrhunderts, dessen politische Ursprünge nicht im breiten konsensualen Zentrum der amerikanischen Politik liegen", urteilte Alan Wolfe. Das „Faktum, dass ein Mann, der noch vor kurzem als ,Extremist' definiert wurde, die

Themen wie Drogenmißbrauch, Kriminalität, Zerfall der Familien und Abtreibung mobilisierten eine wachsende Zahl von Wählern. Diese christlich-konservativ orientierte Protestbewegung schaffte es, sich durch neue Formen der politischen Kommunikation zunehmend Gehör zu verschaffen. Reagan, dessen Freunde aus der Filmbranche eher einer freizügigen Moral anhingen, nutzte die konservativen Hilfstruppen, ohne sich zu eng mit ihnen einzulassen (vgl. Evans/Novak, 1981, S. 204-225). 35 Eher wagte sich die Philadelphia Society, teilweise mit der amerikanischen MPS-Mitgliederschaft identisch, auf das Feld konservativer Gesellschaftskritik. Das von George Gilder geleitete Manhattan Institute wie auch die Heritage Foundation fuhren ebenfalls zweigleisig: Marktwirtschaft und Moralfragen standen auf dem Forschungsprogramm. Im Allgemeinen blieb es aber bei einer Arbeitsteilung: Reagans Wirtschaftprogramm blieb Domäne der Neoliberalen; das Gesellschaftsprogramm berücksichtigte die Anliegen der Konservativen. Die Devise „getrennt marschieren — vereint schlagen" funktionierte recht gut, wenn auch zwischen beiden Strömungen latent stets eine Spannung spürbar blieb und diese teilweise auch zunahm (vgl. Nisbet, 1980/2004). 38

420 • Wandlungen des Neoliberalismus

Präsidentschaft gewinnen konnte", zwinge zu einer neuen Untersuchung dessen, was bislang als „radikale Rechte" abgestempelt wurde (Wolfe, 1981, S. 3).40 Unter den amerikanischen Neoliberalen herrschte nach Reagans Regierungsübernahme eine triumphale Stimmung. Eine Reihe von MPS-Mitgliedern stieg in wichtige Ämter auf. Der kalifornische Jurist Edwin Meese, passives MPS-Mitglied seit den späten siebziger Jahren, war während des Wahlkampfs Stabschef von Reagan, von 1981 bis 1985 dessen Rechtsberater und danach bis 1988 amerikanischer Justizminister. Beryl Sprinkel und Paul Craig Roberts wurden 1980 zu Unterstaatssekretären im Finanzministerium ernannt, William Niskanen und später Thomas Gale Moore in den CEA berufen, dessen Vorsitz zum Jahreswechsel 1984/1985 Sprinkel übernahm. Das neu geschaffene zwölfköpfige President's Economic Policy Advisory Board (PEPAB) war dank Andersons Bemühungen überwiegend mit MPS-Ökonomen besetzt, darunter Friedman, Bums, McCracken, Stein, Greenspan, Simon und Sowell. Erster Vorsitzender des PEPAB war Shultz, Friedmans Freund und Kollege aus Chicago. Nach dessen Ernennung zum amerikanischen Außenminister 1982 übernahm der Finanzfachmann und Citybank-Chef Walter Wriston den Vorsitz des Gremiums, das alle zwei Monate in Washington zusammenkam und mit dem Präsidenten ökonomische Probleme diskutierte. 1987 wurde Alan Greenspan an die Spitze der Fed berufen.41 Auch die mittleren Ränge des Weißen Hauses wurden Anfang der achtziger Jahre mit Experten aus dem Umfeld der MPS besetzt. Die Personalpolitik entdeckte besonders Ed Feulner, der Chef der Heritage Foundation, als wichtiges Feld. Nach Angaben von Lee Edwards gelang es der Stiftung, in den ersten Jahren über zweihundert ihr politisch nahestehende Personen in Ämter zu bringen. Dies bezeichnete er als Voraussetzung für den Vollzug der Wende, die in der weithin beachteten Schrift „Mandate for Leadership" inhaltlich vorgezeichnet wurde (vgl. Edwards, 1997, S. 50-51).

2.2. Wirtschaftspolitik nach Art der „Supply Siders" Am 18. Februar 1981, vier Wochen nach Amtsantritt, legte Reagan sein „Program for Economic Recovery" mit vier Eckpunkten vor: Er versprach a) eine Reduzierung der jährlichen Zunahme der Ausgaben der Bundesregierung (keine absolute Senkung, wie oft behauptet), b) eine Senkung der Einkommensteuer um 30 Prozent in drei Jahren, c) eine weitreichende Deregulierung der Wirtschaft und schließlich d) Unterstützung des monetären Kurses der Federal Reserve, um die Währung zu stabilisieren und die Inflation in Griff zu bekommen.

Der bekannte Politologe W o l f e gestand ein Versäumnis der Linken ein, die marktwirtschaftlich-konservative Reaktion als ideologischen Gegner ernstzunehmen. Im akademischen Diskurs habe die „New Right" eher als psychopathologisches Phänomen gegolten, als Ausdruck von paranoider und irrationaler Ablehnung der Errungenschaften des „liberalen" Wohlfahrtsstaates. Die Widersprüche zwischen marktwirtschaftlicher und konservativer Programmatik seien nun deutlicher herauszuarbeiten, forderte Wolfe (1981, S. 7-27). 41 Der Chef der New Yorker Finanzberatung Townsend-Greenspan, einst Mitglied des inneren Kreises um die Schriftstellerin Ayn Rand, war für libertären Ansichten bekannt und einige Jahre passives Mitglied der MPS. Friedman hatte den Kontakt hergestellt und ihn 1980 zum Treffen in Stanford eingeladen. In den Mitgliederverzeichnissen nach 1989 taucht sein Name nicht mehr auf. 40

Der Neoliberalismus an der Macht? • 421 Die vier Punkte des „Program for Economic Recovery" enthielten in konzentrierter Form die wirtschaftspolitischen Kernforderungen, die im Kreise der MPS seit Jahren diskutiert wurden. Im Wahlkampf hatte Reagan mit einer radikalen Steuerreform geworben. Dieser Plan beherrschte die Debatten, wogegen das Bekenntnis zu einer restriktiven Geldpolitik eher in den Hintergrund rückte. Unter den neoliberalen Beratern und Mitarbeitern war umstritten, in welchem Verhältnis diese beiden Ziele zueinanderstanden. Bei den MPS-Treffen Anfang der achtziger Jahre zeigte sich ein Dissens zwischen Anhängern der monetaristischen Geldpolitik und den fiskalischen Ansichten der Steuerreformer, die als „Supply Siders" bekannt waren. 42 Während erstere darauf beharrten, der Bekämpfung der Inflation durch eine rigide Geldpolitik den Vorrang zu geben, sahen letztere dies weniger dringlich. Sie glaubten, die geplante Senkung der Steuersätze werde einen solchen Wachstumsschub auslösen, daß eine kräftig steigende Produktion die Disparität zwischen Geld- und Gütermenge teilweise ausgleiche. Ihre Steuerreform sahen die radikaleren „Supply Siders" also als Beitrag zur Stabilisierung des Geldwertes, was wiederum die Anhänger der monetaristischen Geldtheorie nicht überzeugen konnte. Als einer der energischsten Vorkämpfer für die von Reagan versprochene massive Steuersenkung profilierte sich MPS-Mitglied Paul Craig Roberts. Noch während der Amtszeit Carters hatte es erste Initiativen einzelner Republikaner wie auch Demokraten für eine breite Senkung aller Einkommensteuersätze gegeben. Aufsehen erregte 1977 der Gesetzentwurf des jungen republikanischen Abgeordneten Jack Kemp und seines Senatskollegen William Roth, die eine über drei Jahre gestreckte Senkung aller Einkommensteuersätze um 30 Prozent forderten und damit auch bei Abgeordneten der Demokraten auf viel Zustimmung stießen. Besonders Kemp fühlte sich der neoliberalen Bewegung und vor allem Hayek intellektuell verbunden. 43 Sein Vorstoß war Teil der bürgerlichen „tax revolt". Allgemein wurde beklagt, daß die effektive Belastung der progressiven Einkommensteuer über die Jahre erheblich zugenommen hatte, indem die Inflation die nominalen Einkünfte der Bürger aufblähte und sie so in immer höhere Steuerbereiche schob. In der amerikanischen Öffentlichkeit wurde dieses Phänomen der schleichenden („kalten") Progression als „bracket creep" diskutiert 44 Befürworter einer massiven Steuersenkung wie Kemp und Roth betonten die Anreizwirkung. Niedrigere Grenzsteuersätze bedeuteten eine höhere Arbeits-, Spar- und Investitionsneigung und damit ein höheres Wachstumspotential. Die gegenwärtige Belastung sei verantwortlich für die erlahmte wirtschaftliche Dynamik der Vereinigten Staaten. Auch zahlreiche Demokraten unterstützten die Forderung nach einer kräftigen Steuersenkung, wie sie schon Kennedy und Johnson Anfang der sechziger Jahre durchgeführt hatten. Sie stimmten teilweise dem angebotsseitigen Argument zu, hatten aber die nachfragebelebende Der amerikanische Ausdruck „Supply Siders" soll hier nicht übersetzt werden, um den Unterschied zwischen den radikal auf Steuersenkungen konzentrierten Absichten der amerikanischen Gruppe der „supply side"-Ökonomen und dem, was allgemein unter angebotsseitiger Wirtschaftstheorie bezeichnet wird, zu markieren. 43 Nachdem Hayek 1974 den Nobelpreis erhalten hatte, schrieb ihm Kemp: „Ihre Bücher, vor allem ,The Constitution of Liberty' haben mich veranlaßt, mich für den Kongreß zu bewerben" (zit. n. Ebenstein, 2000, S. 208). 44 Der Grenzsteuersatz für die amerikanische Familie mit dem Medianeinkommen stieg so zwischen 1965 und 1981 um mehr als 40 Prozent. Bürger, die das Doppelte des Medianeinkommens verdienten, hatten im gleichen Zeitraum eine Zunahme ihrer Grenzsteuerbelastung um fast das Doppelte zu verkraften, erklärten Kritiker (vgl. Roberts, 1984, S. 71).

42

422 • Wandlungen des Neoliberalismus Wirkung niedriger Steuern im Sinn. Trotz unterschiedlicher Begründung zielten die Absichten beider Gruppen also in dieselbe Richtung. Zu einem ideologisch heftig umkämpften Streitthema wurde die Forderung nach Steuersenkungen, nachdem 1976 durch Herbert Stein das Reizwort „supply-side economics" in Umlauf gekommen war. Die Theorie schien untrennbar mit dem Namen von Arthur Laffer verbunden, der damals wie ein Missionar für radikale Steuersenkungen warb. 45 Obwohl in Fachkreisen eher ein Außenseiter, erlangte Laffer in der Öffentlichkeit mit einer einfachen graphischen Darstellung des Zusammenhangs zwischen Steuersätzen und Steueraufkommen, der „Laffer-Kurve", große Bekanntheit. Diese illustrierte den Zusammenhang von Steuerquote und Staatseinnahmen. Die Vertreter der „supply-side economics" gingen davon aus, daß die amerikanischen Steuern in einem überhöhten Bereich lägen. Durch Senkung der überhöhten Steuersätze könne also wirtschaftliche Energie freigesetzt werden, so daß die Bemessungsgrundlage wachse und das Steueraufkommen des Staates letztlich zunehme. Theoretisch war diese Aussage plausibel und schon lange bekannt, denn im Grunde sagten die „Supply Siders" wenig Neues. 46 Problematisch bei Laffer und seinen Anhängern war jedoch die missionarische Gewißheit und Einseitigkeit, mit der sie ihre These vortrugen. In der medialen Zuspitzung des Arguments, die besonders Jude Wanniski, ein leitender Redakteur vom Wall Street Journal, betrieb, wurde teilweise der Eindruck erweckt, eine Senkung der Steuersätze würde unweigerlich und in kürzester Zeit Mehreinnahmen zur Folge haben. 47 Die These provozierte Debatten, worauf es Wanniski vor allem ankam. Dank seines Talents, komplexe ökonomische Sachverhalte in einer eingängigen, bildlichen Sprache zu erklären, erreichte der wirtschaftswissenschaftliche Autodidakt ein breites Publikum. 48 In zahlreichen Leitartikeln warb Wanniski, darin unterstützt von MPS-Mitglied Robert L. Bradey, dem Chefredakteur des Wall Street Journal, für eine drastische und breite Steuersenkung. Sein Hang zur Vereinfachung und Übertreibung schreckte aber nicht wenige akademische Ökonomen ab, auch solche mit neoliberalen Ansichten.

Laffer war ein umtriebiger, wohl auch geltungsbewußter Ökonomieprofessor, der in Stanford promoviert wurde und dann auf Vermitdung Robert Mundells an die Universität Chicago gelangte. Mundell, eigentlich ein Experte für Außenhandelstheorie, der bald darauf an die Columbia Universität wechselte, trat schon Mitte der siebziger Jahre als Befürworter einer restriktiven monetären Politik bei gleichzeitig radikaler steuerlicher Entlastung auf. 46 Schon die Väter der modernen Wirtschaftstheorie hatten darauf hingewiesen, daß exzessiv hohe Steuersätze am Ende für den Staat geringere Einnahmen bedeuten könnten. Klassisch liberale Ökonomen wie Smith hatten dies mit zwei Argumenten begründet: Zum einen sah er eine Ausweichreaktion der Bürger vor übermäßigen Abgaben, zum anderen erkannte er, wie die Arbeits- und Investitionsanreize so empfindlich gestört werden könnten, daß der volkswirtschaftliche Verlust an Produktion und Arbeitsplätzen den Gewinn der Steuerbehörden bei weitem übersteige. Die Warnung vor der Ausweichreaktion bezog sich bei Smiths in erster Linie auf Verbrauchsabgaben. 47 Eine differenzierte Betrachtung erforderte eine Diskussion der Angebotselastizitäten der Produktionsfaktoren, also die Frage, wie stark (und wie schnell) höhere Nettogrenzerträge zu mehr Arbeitseinsatz und mehr Investitionen führen würden. Nur bei einem Wert von mehr als 1 befand man sich im oberen, fallenden Teil der „Laffer-Kurve". Schätzungen dieser Elastizitäten waren spekulativ. Zu bedenken war, wie stark neben dem positiven Substitutionseffekt (zwischen Arbeit und Freizeit bzw. zwischen Investieren und Konsumieren) der gegenläufige Einkommenseffekt (wegen höherer Nettoerträge) ins Gewicht fiel. 48 Eine nationale Berühmtheit wurde Wanniski 1978 durch ein Buch mit dem unbescheidenen Titel „The Way the World Works", das eine hohe Auflage erreichte. Recht eloquent vertrat er darin den marktwirtschaftlichen Standpunkt, wobei der Schwerpunkt erneut auf einer Senkung der Steuern und Abgaben lag. Seine hauptsächlichen fachlichen Gewährsmänner waren Mundell und Laffer, die ihn über Jahre privat geschult und beraten hatten. 45

Der Neoliberalismus an der Macht? • 423 Obwohl sie die politische Dynamik der „Supply Siders" bewunderten, störte viele MPSMitglieder, daß die Gruppe um Laffer und Wanniski den Eindruck erweckte, ihr Vorschlag sei ein Allheilmittel und werde sämtliche ökonomischen Probleme schmerzfrei lösen. Nicht nur könne damit die wirtschaftliche Dynamik und das schwache Produktivitätswachstum belebt, sondern auch die Inflation bekämpft werden, so das Versprechen. Spätestens hier erhoben die Monetaristen in der MPS Einspruch, die auf dem Primat einer strikten Geldpolitik beharrten, um die Inflationserwartungen zu bekämpfen: Friedman bezeichnete die Behauptung einer vollständigen Selbstfinanzierung der Steuersenkung als „Versprechen eines ,free lunch for all'" (vgl. Frazer, 1988b, S. 640). Dennoch unterstützte er Kemps Steueridee, der eine gute Sache mit fragwürdigen Argumenten begründe. Im Gegensatz zu Wanniski vermied Kemp allerdings allzu optimistische Festlegungen, daß die Steuersenkung sich vollständig selbst finanzieren würde. Sein Mitarbeiter Roberts erkannte, daß die von Laffer und Wanniski überspitzte Argumentation zu hohe Erwartung weckte und die „Supply Side"Bewegung durch Übertreibung angreifbar machte (vgl. Roberts, 1984, S. 28-29). Auf ihrem großen Treffen im Herbst 1980 an der Universität Stanford hatte die MPS die Perspektiven der amerikanischen Steuerpolitik diskutiert. Angesichts der kurz bevorstehenden Präsidentschaftswahlen gewann das Thema besondere Brisanz. Reagan hatte Kemps Entwurf übernommen und sich im Gegenzug dessen Unterstützung für die republikanischen Vorwahlen gesichert (vgl. Anderson, 1988, S. 161-162). Daß neben Buchanan auch Roberts auf der Sitzung „The Limits of Taxation" sprach und als Gastredner weitere Exponenten der „Supply Siders" wie Wanniski geladen waren, konnte als Signal gewertet werden. Buchanan erinnerte an die Gründung der Vereinigten Staaten aus dem Geist einer Revolte gegen ungerechtfertigte Steuern. Grundsätzlich kritisierte er die Entwicklung der Washingtoner Bundesregierung zu einer monopolistischen Macht, deren Tendenz zu übermäßigem Steuerzugriff nur durch konstitutionelle Schranken gestoppt werden könne. Er warb für einen Verfassungszusatz für ein ausgeglichenes Budget. Weiter sei eine Festschreibung von Höchstsätzen für die allgemeine Steuerquote oder für bestimmte Steuern zu erwägen (vgl. Buchanan, 1980, S. 16-17). Roberts stützte sich in seinem Vortrag „Taxation and the induced demand for Leviathan" ebenso auf Denkfiguren der „Public Choice"-Theorie. Politiker und Bürokraten, die ihre Macht maximieren wollten, hätten kein Interesse an einem einfachen Steuersystem mit geringer Belastung, das die Wohlfahrt der Bürger maximiere. Ein solches Steuersystem verringere die Spielräume und Möglichkeiten der Politiker, durch Umverteilung und Subventionen ihre Klientel zu bedienen und Wählerstimmen zu kaufen. Ein Großteil der Politiker und Bürokraten würde nicht mehr gebraucht, wenn die Privatwirtschaft prosperiere. Dies sei der Hintergrund der zahlreichen Widerstände und Einwände gegen die von ihnen vorgelegten Pläne für eine radikale Steuersenkung (vgl. Roberts, 1980, S. 12). Ein Journalist notierte, daß Wanniski und Roberts auf dem Treffen einen eher resignierten Eindruck gemacht hätten. Sie seien „von den ,Realisten' im Reagan-Team überrollt worden" (Maitre, 1980). Ganz im Abseits standen sie aber nicht, vielmehr konnte Roberts als Unterstaatssekretär im Finanzministerium einen Posten übernehmen, der ihn zu einem Schlüsselakteur der amerikanischen Steuerpolitik der Jahre 1980 und 1981 machte. Ob Reagan selbst von der

424 • Wandlungen des Neoliberalismus Theorie der „Supply Siders" beeindruckt war, wie oft behauptet wurde, ist unklar. In seinen Memoiren hat er später versucht, diesem Eindruck entgegenzuwirken. Im Zusammenhang mit der Steuerreform erwähnte er überhaupt keine modernen Ökonomen als Gewährsleute, sondern überraschenderweise den arabischen Philosophen Ibn Chaldun. Seine Abneigung gegen konfiskatorische Einkommensteuern erklärte Reagan mit eigener Erfahrung als hochbezahlter Filmschauspieler in den vierziger Jahren, der einem Grenzsteuersatz von 94 Prozent unterlag. Daß exzessive Steuern die Motivation für Leistung und Investitionen senkten und damit eine Hauptursache für das schwache Wachstum seien, hielt er für vollkommen klar. Ebenso glaubte er, daß Steuersenkungen „mehr Wohlstand für alle und mehr Einkünfte für die Regierung" bedeuteten: „Einige Ökonomen nennen dieses Prinzip Angebotswirtschaft. Ich nenne es einfach gesunden Menschenverstand" (Reagan, 1995, S. 230-231). 4 9 Die Zeit drängte, wollte der neu gewählte Präsident eine Endastung der Bürger erreichen, die durch Inflation in immer höhere Bereiche des Steuertarifs geschoben wurden. Mit großem persönlichem Einsatz gelang es Reagan in den ersten Monaten nach Amtsantritt, sein Versprechen zur Senkung der persönlichen Einkommensteuer von 30 Prozent in drei Jahren in beiden Häusern des Kongresses, also auch im demokratisch dominierten Repräsentantenhaus, durchzusetzen. Um aufkommende Kritik wegen der zu erwartenden Einnahmeausfälle zu beruhigen, wurde eine nachträgliche Änderung vorgenommen, wonach der erste Schritt der Steuersenkung 1981 auf 5 Prozent reduziert und zudem erst im Oktober wirksam wurde - sehr zum Kummer jener überzeugten Angebotsökonomen wie Roberts oder Norman Türe, die im Finanzministerium die Fahne der „Supply Siders" hochhielten. Trotz dieser Modifikation bedeutete der „Economic Recovery Tax Act" (ERTA) einen einschneidenden Sieg des Präsidenten und der Befürworter einer drastischen Steuerreform. Der E R T A sah die Senkung der Höchstsätze der Einkommensteuer von 70 auf 50 Prozent vor. Auf Betreiben eines demokratischen Senators wurde zeitgleich die Steuer auf Investitionseinkommen ebenso stark gesenkt. Mit dem Einstieg in eine Steuersatzreduktion auf breiter Front und eine flachere Progression war das Kernstück der „Reagonomics" vorläufig gesichert. Nach Berechnungen ergab die auf drei Stufen verteilte Reduzierung der Einkommensteuersätze bis 1984 eine nominelle Senkung um 23 Prozent. Berücksichtigte man aber die schleichende Steuererhöhung durch die Inflation, so schmolz die Entlastung auf wenige Prozent zusammen (vgl. Niskanen, 1988, S. 75). Zeitlich fiel die erste Stufe der Steuersenkung mit den ersten großen Haushaltslöchern zusammen, so daß Steuerausfälle als Ursache für die Defizite wahrgenommen wurden. Innerhalb der Regierung begann nun ein heftiges Ringen um den Steuerkurs. Reagan und den „Supply Siders", deren Stellung das Finanzministerium war, standen traditionelle Republikaner wie Robert Dole entgegen, die auf höhere Steuern drängten, um das Defizit zu verringern. Zur treibenden Kraft dieser Bemühungen wurde Budgetdirektor David Stockman. Anfangs begeisterter Anhänger von Reagans ökonomischem Programm, verlor er bald den Mut und unterstützte dann die Fürsprecher von ausgleichenden Einnahmenerhöhungen.

Schon in seiner Fernsehansprache 1964 zur Unterstützung von Goldwaters Wahlkampf hatte er grundsätzliche Fragen zum Steuersystem gestellt und insbesondere die steile Steuerprogression kritisiert: „Haben wir den Mut, der Immoralität der Diskriminierung durch den progressiven Steuerzuschlag entgegenzutreten und zur traditionellen proportionalen Besteuerung zurückzukehren?" (zit. n. Niskanen, 1988, S. 86). 49

Der Neoliberalismus an der Macht? • 425

Schließlich setzten sich diese durch: Ab Anfang 1982 wich Reagan zurück, bis er im August einer vom Kongreß auf Betreiben Doles beschlossenen Steuererhöhung zustimmte. Teilweise nahm er damit die vorherige Endastung des ERTA wieder zurück, wenngleich er eine Kehrtwende leugnete. Für die glühenden Verfechter der „supply-side economics" brach eine Welt zusammen. Türe und Roberts hatten ihre Niederlage kommen gesehen und waren bereits vorher von ihren Ämtern zurückgetreten. Mit ihnen grollten zahlreiche libertäre MPS-Mitglieder. So bekundete Edward Crane, der Präsident des Cato Institute, die Idee der „Reagonomics" sei eine reine Fiktion. Hinter der durch wohlklingende Rhetorik errichteten Fassade läge ein Mangel an Prinzipien (vgl. Roberts, 1988, S. 247). 50 Ein großer Teil der amerikanischen Medien erklärte die „Supply Siders" für gescheitert. Der auf Steuersenkungen verengte Begriff war nun negativ belegt. Dies gefährdete aber auch die Erfolgsperspektive jener Neoliberalen, die unter einer angebotstheoretischen Position eine breiter angelegte Politik verstanden, die allgemein die Rahmenbedingungen der Volkswirtschaft verbessern sollte, um mehr Investitionen, Wachstum und Beschäftigung zu erreichen. Einigkeit herrschte in der MPS über das Ziel, die Ressourcenallokation effizienter zu machen, indem staatliche Behinderung von Märkten zurückgenommen und verzerrende Steuern abgebaut wurden. Dieses neoliberale Kemanliegen würde aber durch die Diskreditierung des Begriffs „supply-side economics" beschädigt, fürchteten viele MPS-Mitglieder. So war auch die Tagung der Gesellschaft im September 1982 in Berlin überschattet von einer Auseinandersetzung zwischen Vertretern des breiteren angebotsseitigen Ansatzes und solchen der fiskalpolitisch verengten „Supply Side"-Theorie. Als Wortführer der „Supply Siders" sollte Roberts auftreten, der verhindert war, aber in einer schriftlich vorliegenden Rede um Vertrauen für die Strategie der Steuersenkungen warb (vgl. Roberts, 1982). Unterstützt wurde er darin von Richard Rahn, dem Chefökonomen der amerikanischen Handelskammer. Auch dieser sah den durch Steuern gebildeten Keil zwischen Brutto- und Nettoeinkünften als Hauptgrund für mangelhaftes Wachstum in den siebziger Jahren. Der fiskalpolitische Aufbruch sei allerdings verzögert worden und in eine schlechte Zeit gefallen, beklagte Rahn. Zudem habe die Fed zwar einen strikteren, doch zugleich sehr variablen monetären Kurs verfolgt und damit die amerikanische Wirtschaft in eine Rezession gestürzt. Kritik an den „Supply Siders" gehe daher fehl, denn diese hätten keine faire Chance bekommen, ihr Programm tatsächlich zu testen (vgl. Rahn, 1982). Die Monetaristen in der MPS hatten den rasanten Aufstieg der um Laffer, Wanniski und Roberts gescharten „Supply Siders" stets mit gemischten Gefühlen verfolgt. Als diese im Zuge der Rezession in Ungnade fielen, hielten sich auch die neoliberalen Kritiker nicht mehr zurück. Etwa der an der Universität Rochester, New York, sowie in Bern lehrende Schweizer Karl Brunner ritt nun eine harte Attacke gegen die Gruppe der „Supply Siders". Deren

50 Roberts nachträgliche Rechtfertigungsschrift „The Supply-Side Revolution" durchzog eine lange Klage über den von Stockman hinterhältig eingefädelten Verrat an der guten Sache. Die Hauptschuld, weshalb der Impuls des ERTA nicht voll wirken konnte, sah er in der Verzögerung der (abgeschwächten) ersten Stufe der Steuersenkung, die damit in die beginnende Rezession fiel, für die er einen anfangs zu rigiden, dann hektisch umsteuernden Kurs der Fed verantwortlich machte (vgl. Roberts, 1984, S. 98, 224-225 u. 294-295). Ähnlich kritisch beschreibt Bartely die Rolle der Fed-Geldpolitik und die Wendung Stockmans (vgl. Bardey, 1992, S. 110-115 u. 120-123). 1987 wurde Roberts zum Mitglied der französischen Ehrenlegion ernannt und erhielt darauf einen Glückwunsch von Reagan (vgl. MPS-Newsletter, Mai 1987, in: LA, MPS-Slg.).

426 • Wandlungen des Neoliberalismus Argumente zum wohlfahrtsmindernden Effekt von verzerrenden Steuern seien zwar richtig, doch keineswegs neu. In der medial aufgebauten Gruppe um Laffer seien keine ernstzunehmenden Ökonomen. Sie hätten der Öffentlichkeit „eine zugleich wild übertriebene als auch sehr unvollständige Antwort" auf die aus den siebziger Jahren ererbten Probleme der Stagflation gegeben (Brunner, 1982, S. 846). Ihre Analyse beschränke sich allein auf das Steuersystem. Sie ignoriere die Vielzahl anderer Fehlanreize durch staatliche Ausgabenprogramme. Um die Stagnation, das Erbe der siebziger Jahre, zu überwinden, sei eine umfassende Revision und Uberprüfung der ganzen Steuer- und Ausgabenprogramme des Staates notwendig. Die gesamte Anreizstruktur müsse wieder in Richtung effektiver und zukunftsgerichteter Verwendung aller verfügbaren Ressourcen umgestaltet werden. Von Budgetkürzungen sprächen die „Supply Siders" aber kaum, kritisierte Brunner, sie vertrauten auf ein relatives Schrumpfen des Staatsanteils, wenn die Wirtschaft wieder Fahrt aufnähme (vgl. ebd.). Auch der Ökonom Morgan O. Reynolds von der Texas A&M Universität kritisierte die Vertreter der „Supply Side"-Thesen beim MPS-Treffen in Berlin als zu einseitig. Ihre Versprechen seien oftmals überzogen gewesen. Zudem fehle ihnen eine kohärente Geldtheorie, weshalb sie die gebotenen monetären Maßnahmen zur Bremsung der Inflation nicht verstünden. Die steuerliche Entlastung sei zwar wichtig, um langfristig ein dynamischeres Wachstum zu fördern. Kurzfristig überwiege jedoch die Notwendigkeit der Inflationsbekämpfung, welche die „Supply Side"-Theorie vernachlässige (vgl. Reynolds, 1982). Besonders verübelten die Monetaristen den „Supply Siders" deren Behauptung, die Inflation könne ohne größere soziale Kosten allein durch die auf die Produktion stimulierend wirkende Steuersenkung gesenkt werden, ohne daß eine Kontrolle des Geldmengenwachstums nötig wäre. Fatal fanden sie, daß Kemp gelegentlich gar einer monetären Expansion das Wort rede (vgl. Brunner, 1982, S. 846). Damit sahen die Monetaristen wie Brunner und Friedman die mühsam aufgebaute Front einer antiinflationistischen Geldpolitik in Gefahr, sollten in Washington verlockende expansionistische Töne wieder Gehör finden.51 Diese Sorge blieb aber unbegründet.

2.3. Die Fed-Geldpolitik und die Rezession In der Frage der Geldpolitik war die Entscheidung bereits 1980/1981 gefallen. Paul Volcker, dessen Berufung an die Spitze der Fed noch Carter arrangiert hatte, zeichnete hier für eine weitreichende Weichenstellung verantwortlich. Wenngleich kein Anhänger der strikt monetaristischen Geldmengenregel, wie sie Friedman forderte, sondern diskretionären Spielräumen für die Fed-Führung nicht abgeneigt, war sich Volcker doch bewußt, daß die

Die „Supply Siders" als Verächter einer stabilen Währung darzustellen, wäre nicht gerechtfertigt. Tatsächlich plädierten einige der bekanntesten Vertreter dieser Richtung, darunter Kemp, für eine Rückkehr zum Goldstandard. Die Anfang der achtziger Jahre von Reagan eingesetzte Goldkommission des Kongresses verwarf jedoch die Überlegung in ihrem Abschlußbericht 1982. Lediglich der republikanische Abgeordnete Ron Paul, ein strikter Marktwirtschaftler mit Sympathien für Mises' „Austrian Economics", sprach sich für eine neue Goldwährung aus (vgl. Paul, 1985). Nachdem er 1984 sein Mandat verloren hatte, lief er zur Libertarian Party über, als deren Präsidentschaftskandidat er 1986 antrat (vgl. Kelley, 1997, S. 191-192). Später kehrte er zur republikanischen Partei zurück, kam erneut in den Kongress und bewarb sich 2007/2008 um die Präsidentschaftskandidatur. 51

Der Neoliberalismus an der Macht? • 427

Zügelung der Geldmenge das entscheidende Instrument im Kampf gegen die Inflation war.52 Dazu setzte Volcker auf einen Paukenschlag: Es gelang ihm, wenige Monate nach seiner Ernennung, den Vorstand des Fed-Systems geschlossen hinter seinen Plan zu bringen, das Geldmengenwachstum durch einen scharfen Anstieg der Leitzinsen und höhere Mindestreserven für die Geschäftsbanken unter Kontrolle zu bringen. Auch in den Jahren zuvor hatte die Fed Geldmengenziele ausgerufen, diese jedoch regelmäßig verfehlt. Frühere Anläufe zu einer konsistenten Geldpolitik waren auch an mangelnder politischer Rückendeckung gescheitert, wie die Fed-Chefs Burns und sein Nachfolger Miller erleben mußten.53 Entscheidend war daher Volckers feierliche Ankündigung im Oktober 1979, das Geldmengenziel nunmehr rigoros zu verfolgen. Aus Sicht der Monetaristen war Glaubwürdigkeit das entscheidende Kriterium einer erfolgreichen monetären Strategie. Sollten die Inflationserwartungen tatsächlich gestoppt werden, mußte die Fed mit offenen Karten spielen und ihren Kurs eisern halten. Jede Korrektur oder Abweichung würde die Märkte verwirren, die wußten, wie oft die Politik in der Vergangenheit mittels überraschender expansiver Schritte einen kurzfristigen Aufschwung herbeizuführen versucht hatte. Diesmal sollte es anders sein, versprach Volcker. Nach der Theorie der „rationalen" Erwartungen bestand auch die Hoffnung, die realökonomischen Effekte der monetären Bremsung gering zu halten. Indem die geldmengenpolitischen Ziele offiziell festgelegt wurden, sollte die Erwartungshaltung der Wirtschaft beeinflußt werden. Die Öffentlichkeit sollte das reduzierte Geldmengenwachstum antizipieren und das Tempo der Preisanhebungen umstellen. Dadurch würden die typischerweise verzögerten Reaktionen auf geldpolitische Impulse beschleunigt und die schmerzliche Phase ökonomischer Fehlkoordination verkürzt. Die Anhänger dieser optimistischen Theorie, vertreten besonders von Robert Lucas, glaubten, die Anpassung an den neuen, flacheren Geldmengenpfad könne somit reibungslos vonstatten gehen. Diese Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Wie Friedman vorhergesagt hatte, tauchte die Wirtschaft in eine Rezession, als ein halbes Jahr nach Volckers Amtsübernahme das Geldmengenwachstum erstmals scharf zurückging. Frühere Anläufe einer geldpolitischen Wende waren auf politischen Druck hin stets abgebrochen worden, sobald Anzeichen eines konjunkturellen Einbruchs bemerkbar wurden. Als nun 1980 die Zinsen stark stiegen, was wohl der monetären Bremsung, aber auch zunehmender Marktunsicherheit geschuldet war, reagierte die Regierung Carter mit der Forderung nach Kreditkontrollen, der die Fed widerstrebend nachkam. Als Folge wurden die Kapitalmarktzinsen kurzzeitig gedrückt: die Glaubwürdigkeit des restriktiven Fed-Kurses stand auf der Kippe, und die Marktunsicherheit nahm noch mehr zu. Um so größer war die Überraschung, als Reagan von interventionistischen Maßnahmen Abstand hielt und Volckers zinspolitische Straffung unterstützte. Er sah zu, wie das Geldmengenwachstum in der ersten Jahreshälfte 1981 fast zum

52 Vgl. dazu Volcker (1989). Die Chefetage der Fed hatte noch in den siebziger Jahren allzu „orthodoxe" Ansichten zu einer wünschenswerten Geldpolitik abgelehnt. Lediglich einige kleinere Zweigstellen wie die Federal Reserve Bank of St. Louis, später auch die in Minneapolis und Richmond, profilierten sich mit Forschungsarbeiten und Empfehlungen nach Friedmans monetaristischer Hypothese. 53 Die heiße Phase von Volckers geldpolitischem K a m p f gegen die Inflation konnte Burns nur noch aus der Ferne verfolgen: Anfang 1981 wurde der bereits betagte Ökonom als amerikanischer Botschaft nach Bonn entsandt, w o er bis 1985, nunmehr fast 80jährig amtierte.

428 • Wandlungen des Neoliberalismus Stillstand kam, die Zinsen immer neue Höhen erklommen und die Rezession mit ganzer Härte einsetzte. Trotz Turbulenzen auf den Finanzmärkten behielt Reagan die Nerven. Seine wichtigsten Ratgeber in geldpolitischen Fragen, die MPS-Mitglieder Friedman und dessen Schüler Beryl Sprinkel, nun Unterstaatssekretär für monetäre Angelegenheiten im Finanzministerium, bestärkten ihn darin. Auch Reagans ökonomischer Beraterstab im PEPAB unterstützte die großen Linien von Volckers Geldpolitik, wenn auch Details umstritten waren. Ungeachtet der zeitweilig sehr heftigen Kritik der Opposition und der Medien stellte sich die Regierung Reagan hinter die Fed und verzichtete auf kurzfristige, populistisch motivierte Interventionen, auch als die Konjunktur bis 1982 tiefer einbrach und die Arbeitslosenzahl weiter stieg. Wie Friedman, der geistige Urheber der neuen Geldpolitik seit Ende 1979, hielten auch Reagan und seine Berater die bittere Medizin für angemessen, um die Inflationserwartungen endgültig zu besiegen: „Jedesmal, wenn sie den schnellen Eingriff angewandt haben", erklärte Reagan in einer Ansprache an die Nation im Oktober 1982 unter Anspielung auf die glücklosen interventionistischen Versuche seiner Vorgänger, „ging die Arbeitslosigkeit für eine kurze Zeit runter, nur um dann wieder anzusteigen. . . . Die Inflation und die hohen Zinsen, zu der sie führt, sind die wahren Schuldigen. Sie schaffen ein ökonomisches Klima, das Arbeitslosigkeit bringt" (zit. n. Frazer, 1988b, S. 652). Äußerst kritisch sahen Mitglieder des PEPAB jedoch, daß Volcker keinen glatten Geldmengenpfad zu verfolgen schien. Die Geldmenge entwickelte sich „exzessiv volatil". Wie viele kritisierte Friedman, daß dies die Anleger verunsicherte und die kurzfristigen Zinsen eher hochtrieb (vgl. Brimelow, 1982). Tatsächlich fuhr die FED, entgegen ihrer Absichten eines berechenbaren, konstanten Kurses, zeitweilig mit der Geldmenge eher Achterbahn. Die Ursachen für die Abweichung vom optimalen Pfad waren teils hausgemachte Fehler, teils lagen sie auch außerhalb von Volckers Verantwortung. Die Steuerung des effektiven Geldangebots stellte sich nämlich als weit schwieriger heraus als erwartet, da sich die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes in unvorhergesehener Weise änderte. 54 Schließlich ging Volcker im Herbst 1982 von der Geldmengensteuerung im strikten Sinne ab und verfolgte eine neue monetäre Strategie, die in eher eklektischer Weise auf verschiedene Zielgrößen abgestimmt war. Die eigentliche „monetaristische" Phase war damit nach nur drei Jahren bereits vorbei, so daß von einem wirklichen Langzeittest der Theorie nur bedingt gesprochen werden kann (vgl. Niskanen, 1988, S. 168). Aus der Perspektive von Friedman war dies bedauerlich. Sein Name wurde mit einer Geldpolitik in Verbindung gebracht, die er nicht im Einklang mit seiner Theorie sah. Beim MPSTreffen in Vancouver im September 1983 verwahrte er sich gegen die Behauptung, es habe jemals eine „monetaristische" Wende gegeben. Das Motto der mit David Laidler, Robert

54 Hatte sie in den vier Jahrzehnten nach dem Krieg recht steüg zugenommen, so verlangsamte sie sich plötzlich ab Sommer 1981. Die vorgesehene Bremsung des Geldmengenwachstums fiel dadurch härter aus, als von der Fed gewünscht. Verschiedene Erklärungen wurden für die Trendwende der Umlaufgeschwindigkeit vorgebracht. Einige verwiesen auf geringere Opportunitätskosten der Geldhaltung aufgrund fallender realer Zinsen (vgl. Niskanen, 1988, S. 184-186). Andere glaubten, Volckers entschlossene Ankündigung habe die Inflationserwartungen der Bürger bereits so weit gedämpft, daß sie bereit waren, Liquidität länger zu halten (vgl. Kelley, 1997, S. 151). Die Verantwortlichen der Fed betonten, daß der sich rasch wandelnde und weniger stark regulierte Bankensektor sowie neuartige und flexible Finanzinstrumente die Kontrolle der enger definierten Zielgröße M l schwierig machten (vgl. Seger, 1991, S. 181).

Der Neoliberalismus an der Macht? • 429 Mundeil und ihm besetzten Podiumsdiskussion „What could reasonably have been expected from monetarism" hielt er für falsch, denn „es erweckt den Eindruck, daß der Monetarismus ausprobiert worden ist". Das sei aber in den Vereinigten Staaten nicht der Fall. Die Fed hätte zwar 1979 in ihrer Verzweiflung „monetaristische Rhetorik übernommen, sie hat aber weder dann noch später eine monetaristische Politik angenommen", beklagte Friedman vor der MPS (zit. n. Brodin, 1984, S. 54). Als Volcker gegen Ende 1982 die Geldzügel wieder lockerte, schien das schwerste Stück antiinflationärer Bremsung bereits erledigt und eine Trendwende der Inflation auf den Weg gebracht. Im Jahresdurchschnitt 1983 lag die Teuerungsrate unter 4 Prozent - so niedrig wie seit Mitte der sechziger Jahre nicht mehr. Zugleich sprang der Konjunkturmotor wieder an. Der wirtschaftlichen Erholung, die 1983 begann, trauten manche Neoliberale aber anfangs nicht. Friedman war besorgt, daß sich Fehler in der Geldpolitik, eine „Explosion" des Geldangebots wie Mitte 1982, wiederholen könnten, nachdem die Fed die strikte Geldmengenregel aufgegeben hatte. Im günstigeren Fall prophezeite er einen moderaten Anstieg der Inflation, begleitet von einer Rezession. Im schlechteren Fall, wenn es zu einem politischen Umschwung kommen sollte, hielt er einen Rückfall in interventionistische Lohn- und Preiskontrollen für möglich (vgl. Friedman/Friedman, 1983/1985, S. 141-143). Tatsächlich traten diese Befürchtungen nicht ein. Die Fed konnte die Inflation auf erträglichem Niveau stabilisieren, der wirtschaftliche Aufschwung gewann weiter an Schwung und wurde einer der längsten der Geschichte der Vereinigten Staaten.

2.4. Haushaltsdefizite und Ausgabenwachstum Schon 1982 setzte wieder ein kräftiges Wachstum ein, 1984 wurden mehr als 6 Prozent erreicht und die Arbeitslosigkeit fiel um zwei Prozentpunkte. Die höhere Preisstabilität sowie der freundliche Konjunkturhimmel ließen die Erinnerungen an die erlittene Rezession verblassen. All dies verhalf der Regierung Reagan im Herbst 1984 zu einer triumphalen Wiederwahl. Ab Mitte der achtziger Jahre brummte die Konjunktur und Millionen neuer Arbeitsplätze konnten geschaffen werden. Mehr als bloße Schönheitsfehler von Reagans wirtschaftspolitischer Bilanz blieben die trotz robusten Wirtschaftswachstums weiter sehr hohen Haushaltsdefizite von rund 5 Prozent des BIP. 55 Neoliberale, die eine substantielle Begrenzung des Staates erhofft hatten, konnten angesichts dieser Zahlen nicht zufrieden sein. Beim MPS-Treffen im Herbst 1981 hatte Friedman noch die Hoffnung geäußert, daß in den kommenden zwei Jahren ein Verfassungszusatz verabschiedet werde, womit der bundesstaatlichen Neuverschuldung ein Riegel vorgeschoben und gleichzeitig Druck aufgebaut werde, um die Ausgaben im Rahmen zu halten (vgl. Friedman, 1981, S. 11-12). Öffentlich verkündete er zur Frage möglicher Defizite als Folge von Steuerausfällen, diese hätten auch ihre guten Seiten: „Der effektivste — tatsächlich würde ich sogar sagen, der einzige — Weg, um die Staatsausgaben niedrig zu halten, ist der, die Staatseinnahmen gering zu halten" (zit. n. Frazer, 1988b, S. 674).

55 Die Staatsverschuldung stieg entsprechend an, von knapp 27 Prozent des BIP im Jahr 1980 auf 36 Prozent im Jahr 1984, ebenso nahmen die Zinslasten zu.

430 • Wandlungen des Neoliberalismus

Später versuchte Friedman, in der Kontroverse um Steuern, Defizite und Schulden eine differenziertere Position einzunehmen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Neuverschuldung betrachtete er als eine in die Zukunft verlagerte steuerliche Belastung. Er warnte vor den Gefahren, die vom wachsenden Schuldenberg ausgingen, besonders wenn man die implizite staatliche Verschuldung durch nicht gedeckte Verpflichtungen der Sozialsysteme bedachte. Andererseits fand er die Reaktion vieler linker Medien und Politiker heuchlerisch, die lauthals die Haushaltsdefizite in den ersten Jahren von Reagans Amtszeit anprangerten. „Das wahre Problem ist nicht das Defizit, wie es in den Büchern erscheint, sondern das stetige Wachstum der Ausgaben und der Steuern", hielt er dagegen (Friedman/ Friedman, 1983/1985, S. 44). Die Unfähigkeit der Politik, die explodierenden Kosten auf Bundesebene in den Griff zu bekommen, müsse weit mehr beunruhigen als die Art, wie diese Kosten auf die Bürger abgewälzt würden, ob offen über Steuern und Abgaben oder verschleiert über ein teilweises Verschieben der Rechnung in die Zukunft, meinte Friedman. Wenn allgemein über Defizite geklagt würde, sollten die Bürger endlich bereit sein, auf kostenträchtige Programme zur Subventionierung spezieller Interessengruppen zu verzichten. Gegen die Abschaffung solcher Haushaltsposten gäbe es aber stets größten Widerstand der Betroffenen. Eine „Tyrannei des Status quo" sah Friedman hier. Der Staat ließe sich nicht so einfach „zurückrollen", wie manche gehofft hatten: „Auch unter den besten Umständen kann eine starke Administration nicht über Nacht umgekrempelt und reduziert werden. Der Aufbau einer Administration hat Jahrzehnte gedauert, und so etwas läßt sich nicht in einem oder zwei Jahren rückgängig machen." Wie bei einem „Supertanker" sei eine Wende nicht rasch zu erwarten (ebd., S. 66). Während Friedman also eine langfristige und abgeklärte Perspektive einnahm, zeigten sich andere MPS-Prominente, Hayek etwa, doch alarmiert über die amerikanischen Haushaltszahlen. Hatte er im Oktober 1984 in einem Interview noch Verständnis für Reagan gezeigt, der zwar „Riesendefizite" angehäuft, aber auf einem „komischen Umweg" erreicht habe, daß die Staatsausgaben erstmals nicht weiter gestiegen seien, so schlug sein Urteil vier Monate später um. In einem kurzen, dramatischen Leserbrief an die Times bat er, die Zeitung solle in Großbuchstaben verkünden, daß die amerikanische Regierung durch ihre laufende Kreditaufnahme das für private Investitionen verfügbare Kapital verknappe und verteuere (vgl. Hayek, 1984b; Hayek, 1985a). Offenbar teilte also auch Hayek die von vielen Ökonomen geäußerte Sorge, die hohen Defizite der Regierung Reagan würden die Zinsen hochtreiben.56 Kurze Zeit später aber beruhigte sich Hayek wieder. Er bescheinigte Reagan zwar ein gewagtes Spiel, äußerte aber Vertrauen auf den Instinkt des Präsidenten (vgl. Hayek, 1985b). Andere prominente MPS-Mitgüeder blieben besorgt wegen der anhaltend hohen Defizite. Vertreter der „Public Choice"-Schule wie der 1986 mit dem Nobelpreis geehrte James Buchanan forderten wieder und wieder eine verfassungsmäßige Schranke gegen Verschuldung zulasten kommender Generationen. Er sei „enttäuscht" von der Regierung Reagan, die er einst unterstützt habe (vgl. Schoch, 1987). Auf dem MPS-Treffen

Weithin äußerten sowohl linke wie auch rechte Ökonomen die Sorge, anhaltend hohe Budgetdefizite könnten sich inflationär und zinssteigemd auswirken, was aber durch die Entwicklung der achtziger Jahre nicht bestätigt wurde (vgl. dazu Niskanen, 1988, S. 109-112). 56

Der Neoliberalismus an der Macht? • 431 in Indianapolis 1987 war vielfach zu hören, daß die großen Defizite zumindest den Appetit des Kongresses auf neue, teure Ausgabenprogramme gezügelt hätten (vgl. Clark, 1987). Falsch war es, die Budgetdefizite der achtziger Jahre allein auf Einnahmeausfälle infolge des 1981 beschlossenen Steuerpakets zurückzuführen. Diese von damaligen und auch heutigen Kritikern Reagans oft gehörte These wird von den Haushaltszahlen nicht gedeckt. Zwar gingen die Steuereinnahmen der Bundesregierung von 1981 bis 1983 stark zurück, doch war dies hauptsächlich der Rezession geschuldet. Danach stiegen die Steuereinnahmen wieder an, erst langsam, dann kräftig, was auch der These einer massiven und dauerhaften steuerlichen Endastung unter Reagan widerspricht. Als er die Präsidentschaft Anfang 1981 übernahm, lag die bundesstaatliche Steuerquote aufgrund des inflationsgetriebenen „bracket creep" bei einem langfristigen Hoch von mehr als 20 Prozent des BIP, fiel dann unter 18 Prozent, um bis Ende der achtziger Jahre wieder auf rund 19 Prozent zu steigen. Auch in den Reihen der MPS machte sich einige Ernüchterung breit, als das tatsächlich eher geringe Ausmaß der Endastung der Bürger deutlich wurde. „Die Steuersenkungen wurden allerdings zum größten Teil durch den schon vorher beschlossenen Anstieg der Sozialabgaben sowie durch die inflationsbedingte Steuerprogression ausgeglichen", merkten die Friedmans an. Ohne die von Reagan betriebenen Senkungen der Steuersätze hätte sich das „jedoch noch weit schlimmer ausgewirkt" (Friedman/Friedman, 1983/1985, S. 48). Neben der schweren Rezession zu Beginn der achtziger Jahre war es das erheblich aufgestockte Rüstungsprogramm, das die Defizite verursachte. Der Anteil des Verteidigungshaushalts stieg von 5,3 Prozent des BIP im Jahr 1981 auf 6,5 Prozent im Jahr 1986. In absoluten Zahlen verdoppelten sich die Rüstungsausgaben in diesem Zeitraum annähernd von 134 Milliarden auf 253 Milliarden US-Dollar. Die Haushaltslücke entwickelte sich fast parallel: Sie betrug anfangs 79 Milliarden und stieg bis 1986 auf 221 Milliarden US-Dollar. Den größten Teil der staatlichen Neuverschuldung investierte Reagan also in seine Strategie, die Sowjetunion in einem Rüstungswetdauf in den Bankrott zu treiben (vgl. ebd., S. 109-112; vgl. auch Niskanen/Moore, 1986, S. 12-15).

2.5. Debatten über den Wohlfahrtsstaat Wollte Reagan sein Ziel erreichen, trotz der höheren Rüstungsaufwendungen das Wachstum der Staatsausgaben zu bremsen, so mußte er den größten Budgetposten angehen: Sozialleistungen und Wohlfahrtsbürokratie. Mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts bestand aus Transfer- und Sozialzahlungen, deren Gesamtvolumen besonders ab Mitte der sechziger Jahre stark gestiegen war. Die Friedmans trafen die allgemeine Stimmung der amerikanischen MPS-Mitglieder, daß die Zunahme des Wohlfahrtsstaates und der Wohlfahrtsabhängigkeit eine schwere Fehlentwicklung sei. Bemerkenswert war die rasch wachsende Zahl der Empfänger von Sozialleistungen trotz des stark gestiegenen Wohlstands seit dem Krieg: „1950 erhielten schon mehr als 10 Millionen Menschen solche Leistungen. Bis 1980 war diese Anzahl auf mehr als 50 Millionen angewachsen", führten die Friedmans aus. Das Umverteilungsvolumen war im gleichen Zeitraum von ungefähr 2 Prozent des Volkseinkommens auf mehr als 13 Prozent gestiegen (Friedman/Friedman, 1983/1985, S. 40).

432 • Wandlungen des Neoliberalismus Bei seiner Amtsübernahme hatte Reagan erklärt, daß die seit Johnsons Great-SocietyReformen von 1965 aufgelegten Sozialprogramme nicht die erhoffte Wirkung erzielt hätten, das Los der untersten Bevölkerungsschichten substantiell zu verbessern. Trotz des immer dichteren Netzes an staatlicher Fürsorge habe sich deren Situation eher verschlechtert; der zuvor beobachtbare Trend zu einer höheren Partizipation aller Schichten am amerikanischen Wohlstand habe sich nicht fortgesetzt. Indem Reagan zwischen dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der prekären sozialen Lage von Randgruppen eine direkte Verbindung zog, nahm er Argumente neoliberaler und konservativer Kritiker auf, die eine entmündigende und antriebshemmende Wirkung des Wohlfahrtsstaates annahmen. Zu den in den frühen achtziger Jahren bekanntesten Intellektuellen, die diese These offensiv vertraten, gehörten George Gilder, der Programmdirektor des Manhattan Institute und Autor des Buchs „Wealth and Poverty", sowie der Politologe Charles Murray, dessen Studie „Losing Ground" zur amerikanischen Sozialpolitik viel Aufsehen erregte. 57 Beide bestärkten die Regierung Reagan in ihrer Überzeugung, daß die bisherigen Armutsprogramme versagt hätten. Man habe damit lediglich die Symptome, nicht aber die Ursachen des sozialen Abstiegs bekämpft. Indem man die materiellen Umstände randständiger Gruppen durch staatliche Fürsorge erleichtere, werde zugleich deren Wille zur Selbsthilfe gelähmt. Die Empfänger von Sozialleistungen würden zu unselbständigem Verhalten erzogen. Ihnen werde das Gefühl gegeben, ein sozialer Aufstieg aus eigenem Antrieb sei nicht zu bewerkstelligen. So blieben sie im sozialen Netz gefangen, würden gar Opfer der in guter Absicht handelnden Sozialbürokratie. Der Wohlfahrtsstaat, argumentierten Gilder und Murray auf empirischer Basis, zerstöre Eigeninitiative und schaffe Abhängigkeiten, während er zugleich familiäre und subsidiäre Netzwerke der Solidarität schwäche. Indem der Wohlfahrtsstaat alle nicht-staatlichen, zuvor stabilisierenden Strukturen auflöse, verschärfe er letztlich die Probleme der unteren Schichten (vgl. Gilder, 1981, bes. S. 105-139; Murray, 1984, bes. S. 56134 u. 154-177). 58 Neoliberale aus den Reihen der MPS hatten solche sozial-ethisch motivierten Einwände bereits seit Jahrzehnten formuliert, waren damit aber kaum durchgedrungen. Den auch in den Vereinigten Staaten mehrheitlich linksgerichteten Intellektuellen galt Armut lange Zeit als von der Gesellschaft und vom kapitalistischen System verschuldet. Unter Johnson war demnach der Kampf gegen Diskriminierung in Programme für „positive Diskriminierung", etwa Affirmative Action, umgeschlagen. Ab den späten siebziger Jahren begann sich die Einschätzung staatlicher Egalisierungsprogramme aber langsam zu ändern. Nicht allein die materiellen Kosten, auch die moralische Fragwürdigkeit des Wohlfahrtsstaates wurden kri-

Das Manhattan Institute, 1978 als International Center for Economic Policy Studies begründet, hatte enge Verbindungen zu Michael Walkers kanadischem Fräser Institute und zählte zu seinen akademischen Mitarbeitern bekannte MPS-Mitglieder wie Thomas Sowell und Walter E. Williams. Auch Murray hatte enge Kontakte zu liberalkonservativen Einrichtungen wie der Heritage Foundation, die seine Arbeit in wichtigen Medien bekanntmachte. Murrays spätere, gemeinsam mit Richard Herrnstein, einem Psychologen von der Universität Harvard, verfaßte Untersuchung „The Bell Curve" zu erblich bedingten, nicht nur durch das soziale Umfeld beeinflußten Unterschieden der durchschnittlichen Intelligenz verschiedener ethnischer Gruppen rührte an ein zentrales Forschungstabu, wurde an den Universitäten entsprechend bekämpft und auch von Teilen der konservativen Bewegung als peinlich empfunden. 58 Beide Bücher wurden von der New York Times als „Bibeln" der Regierung Reagan bezeichnet, wie Antony Fisher beim MPS-Treffen in San Vicenze berichtete (vgl. Fisher, 1986, S. 3). 57

Der Neoliberalismus an der Macht? • 433 tischer betrachtet. Es war daher die erklärte Absicht der Regierung Reagan, die Sozialgesetzgebung neu auszurichten. Schon im Haushaltsplan für das Jahr 1982 waren einige Kürzungen vorgesehen, die Great-Society-Programme betrafen. Während bei eher peripheren Bereichen des Sozialsektors größere proportionale Abstriche gemacht wurden, tastete die Regierung die wichtigsten Säulen des Wohlfahrtsstaats, die von Roosevelt begründete Social Security Administration der kollektiven Rentenversicherung sowie das von Johnson geschaffene kollektive Gesundheitssystem mit Medicare und Medicaid nur zaghaft an. Hier waren massive finanzielle Interessen der breiten Mittelschicht berührt, weshalb Kürzungen politisch höchst gefährlich werden konnten. Die Mitglieder der MPS waren darüber nicht glücklich. Ihrer Ansicht nach befand sich das gesamte System an einem kritischen Punkt, der ein bloßes „weiter so" nicht rechtfertigte. Das MPS-Treffen im September 1981 in Stockholm widmeten sie daher dem Thema „The Collapse of the Weifare State". Redner aus Skandinavien gaben Einblicke in den Zustand der am weitesten von kollektiver Ideologie geprägten Gesellschaften. So erklärte der Ökonom Ingemar Stahl von der Universität Lund, wie der Versuch stetig ausgeweiteter staatlicher Versorgung und Intervention in Schweden zunächst die wirtschaftliche Dynamik geschwächt, dann die Staatsfinanzen in Schieflage und nun mit jährlichen Defiziten von rund 10 Prozent des BIP an den Rand des Bankrotts geführt habe. Der bürgerliche Regierungswechsel von 1976 habe keine Entlastung gebracht, so daß der halb-sozialistische Mittelweg nun kurz vor dem Abgrund stünde (vgl. Stähl, 1981). Ähnlich pessimistisch äußerte sich Curt Nicolin, der Vorsitzende des schwedischen Arbeitgeberverbandes. Falls die Entwicklung weitergehe, münde sie in eine vollständig sozialisierte Gesellschaftsordnung, in der Politiker und Bürokraten über das gesamte Einkommen verfügen, obwohl nominell noch Privateigentum bestehe (vgl. Janssen, 1981). In den Vereinigten Staaten, so gab Gordon Tullock in seinem Referat in Stockholm zu bedenken, sei der Wohlfahrtsstaat weit geringer ausgeprägt als in Schweden und daher nicht unmittelbar vom Zusammenbruch bedroht. Die langfristige Überlebenschance des Systems der kollektiven „social security" sah er aber als unsicher an. Wie bei allen Umlage finanzierten Transfersystemen gebe es dort Gewinner und Verlierer. Bei Einführung des Rentensystems habe eine ganze Generation zu den Gewinnern gehört. Sie habe positive Rendite erzielt, indem Lasten in die Zukunft verschoben wurden. Nun aber müßten immer mehr Beteiligte des Rentensystems erkennen, daß ihre Rendite negativ sein werde. Wegen der sich abzeichnenden demographischen Verschiebung wie auch wegen der in den siebziger Jahren verschärften Umverteilung gebe es absehbar eine immer größere Zahl von Verlierern. Deren Anteil schätzte Tullock auf bis zu 60 Prozent der arbeitenden Amerikaner. Er sah die Möglichkeit, daß diese den impliziten Generationenvertrag der „social security" brechen und eine Fortsetzung ihrer Beitragszahlungen einfach verweigern könnten. Bislang habe es noch kein Beispiel einer Revolte der Lastenträger gegen die Profiteure gegeben, sie sei aber nicht grundsätzlich auszuschließen. Die weitere Teilnahme an der Rentenversicherung werde da-

434 • Wandlungen des Neoliberalismus

mit zu einem Glücksspiel mit potentiellem Totalverlust, was die langfristige Renditeperspektive und Attraktivität des kollektivistischen Systems weiter eintrübe (vgl. Tullock, 1981).59 Einen Ausweg aus der Sackgasse aufzuzeigen, bemühte sich Buchanan bei dem MPSTreffen. Auch er hielt Art und Umfang der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung für exzessiv und ungerecht, da sie eine ungefragte Ausbeutung eines Teils der Bevölkerung bedeute. Eine Zerschlagung des Umlageverfahrens lehnte er aber ab, wenn dabei einzelne Bürger um ihre verbrieften Rentenansprüche gebracht würden. Ein Systemwechsel sei ethisch nur zu rechtfertigen, wenn eine Alternative gefunden werde, die alle Beteiligten besserstelle. 60 Die Ausgangslage hielt Buchanan für desolat: Mittlerweile habe der Staat über die „social security" Verpflichtungen in Höhe von 5 bis 6 Billionen US-Dollar aufgehäuft. Diese impliziten Schulden müßten offengelegt werden und dann ein abrupter Systemwechsel eingeleitet werden, forderte Buchanan. Dabei werde zu einem Stichtag der Barwert aller Rentenansprüche berechnet und direkt ausbezahlt. Um die gewaltige finanzielle Ausgabe zu meistern, sollte der Staat am Kapitalmarkt einmalig neue Schuldtitel ausgeben. Damit würden die Umstellungskosten über die gegenwärtigen und kommenden Generationen verteilt. Der moderne Wohlfahrtsstaat habe über Jahrzehnte hinweg Wechsel auf die Zukunft gezogen. Dafür dürfe man nicht allein eine einzige „Ausstiegsgeneration" büßen lassen. Lohnend sei der Ausstieg, weil daraus künftig niedrigere Steuern und Sozialabgaben und damit höheres Wachstum resultierten. Zu erwartende Produktivitätsgewinne würden es ermöglichen, die Zinslast zu tragen und zudem mit dem Aufbau einer individuellen, kapitalgedeckten Rentenversicherung zu beginnen (vgl. Buchanan, 1981). Eine derart fundamentale Reform schien jedoch selbst im marktwirtschaftlich ausgerichteten Klima der achtziger Jahre jenseits des Denkbaren. Trotz ihres teilweise revolutionären Anspruchs hatte die Regierung den Wählern versprochen, das System der „social security" im Kern nicht anzurühren. In internen Besprechungen zeigte sich Reagan wohl interessiert an Modellen zur „Privatisierung" der staatlichen Sozialversicherungen. Es kursierten im Jahr 1981 im Finanzministerium von Paul Craig Roberts verfaßte Positionspapiere, die eine teilweise Umstellung auf kapitalgedeckte Vorsorge vorsahen, indem ein freiwilliges Ausscheiden aus dem staatlichen Rentensystem erlaubt würde (vgl. Schild, 1998, S. 609). Prominente Keynesianer beklagten lautstark Reagans Sozialpolitik. Paul Samuelson etwa erklärte: „Seit vierzig Jahren, seit Roosevelts ,New Deal', haben die Amerikaner eine humane Gesellschaft angestrebt — einen Wohlfahrtsstaat. Die Konservativen haben das gehaßt. Jetzt versucht Ronald Reagan, diesen Trend zu beenden. Ja, Reagans Programm bemüht sich um einen

59 Es gebe keine Möglichkeit, so Tullock, künftige Generationen an das „social security"-Gesetz zu binden. Die älteren Menschen könnten eines Tages von der Masse der jüngeren Wähler überstimmt werden. Sollten sich die Rentner dann entschließen, „zur ultimativen Verteidigung ihrer ,Rechte', also zur Revolution, zu schreiten, werden sie natürlich geschlagen werden" (Tullock, 1981, S. 17). Seine Überlegung erinnerte an Hayeks noch düsterere Warnung, letztlich werde „nicht die Moral, sondern die Tatsache entscheiden, daß die Jungen die Polizei und das Militär stellen". Wenn das System an seine Grenzen stoße, drohten Lager für die Älteren (Hayek, 1960/1991, S. 377). ® Gemäß diesem von Wickseil und Pareto abgeleiteten Grundsatz für echte ökonomische Verbesserungen suchte Buchanan einen Reformprozeß zu skizzieren, der alle zufriedenstellen könnte. Die „Verlierer" müßten also eine Entschädigung erhalten, um ihre Zustimmung zu der Reform zu erkaufen.

Der Neoliberalismus an der Macht? • 435 radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Ein radikal rechter Kreuzzug wird als Lösung für eine Wirtschaft, die sich angeblich in der Krise befindet, ausgegeben" (zit. n. ebd., S. 610).61 Tatsächlich aber blieb eine radikale Wende, der Bruch mit Roosevelts Erbe im Bereich der „social security", aus. Eine von MPS-Mitglied Greenspan geleitete Kommission empfahl 1983 eine Reform, die sogar zu einer Ausweitung des Teilnehmerkreises des kollektiven Systems führte, während sie die Beitragsbelastung durch eine langfristige Erhöhung des Renteneintrittsalters zu reduzieren suchte. Im Gegensatz zu den keynesianischen Kritikern haben neoliberale Kritiker der Regierung Reagan daher ein Versagen vorgeworfen, die Strukturen des kollektivistischen Sozialstaats aufzubrechen (vgl. Niskanen, 1988, S. 40).

2.6. Eine neoliberale Revolution? Nach seiner Wiederwahl 1984 ging Reagan politisch gestärkt in eine zweite Amtszeit. Wie auch Thatcher konnte er nun die Ernte seiner frühen Reformen einfahren und diese im konjunkturell günstigen Klima weiterführen. Von dem 1981 verkündeten „Program for Economic Recovery" hatte Reagan die zwei wichtigsten Versprechen erfüllt: Die Inflationsraten waren unter Kontrolle gebracht und die Steuersätze erstmals gesenkt worden. Nun bereitete er eine zweite Steuerreform vor, die er in seiner Regierungsansprache als „A Second American Revolution" (in Anspielung auf die Steuerrevolte von 1776) ankündigte. Die von vielen Neoliberalen bevorzugte proportionale „flat rate" kam nicht, dafür brachte das Steuerpaket von 1986 eine erhebliche Nettoentlastung aller Einkommensgruppen. Als Konsequenz der verbesserten Anreize und der angebotsseitigen Reformen entfaltete die amerikanische Wirtschaft in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre eine ungeahnte Dynamik. Insgesamt 92 Monate dauerte der wirtschaftliche Aufschwung, was der MPS-Journalist Bill Bratley als „The Seven Fat Years" feierte, die neuen Wohlstand und rasanten technologischen und kulturellen Wandel brachten. Hohe ausländische Investitionen erlaubten es, die amerikanischen Leistungsbilanzdefizite auszugleichen und zugleich die Produktionsbasis rapide zu verbreitern. Rund 17 Millionen Arbeitsplätze wurden bis Ende der achtziger Jahre neu geschaffen, die Erwerbslosenquote fiel unter die Marke von 5,5 Prozent (vgl. Bratley, 1992). Die Frage, ob die Regierungszeit von Reagan über diese Erfolge hinaus eine fundamentale Zäsur, eine neue „Revolution" in der Geschichte der Vereinigten Staaten brachte, wurde unterschiedlich beantwortet. Die konservativen Journalisten Roland Evans und Robert Novak begannen die Debatte mit ihrem Buch „The Reagan Revolution", worin sie die ersten hundert Tage von Reagans Amtszeit und besonders seine Steuerreform als neoliberales Gegenstück zu Roosevelts „Revolution" beschrieben (Evans/Novak, 1981, S. 245-246). Nach Meinung des sozialdemokratischen Autors Larry Schwab dagegen war die „Revolution" der achtziger Jahre eine Illusion. Ihm zufolge ist es dem Präsidenten und seinen neoliberalen Beratern keineswegs gelungen, die Tatsachen einer gemischten, regulierten Wirtschaft und eines extensiven Wohlfahrtsstaates zu überwinden, die Sphäre der

Einen Aufschrei gab es in einigen Medien, als Peter Ferrara, ein Mitarbeiter E d Clarks v o m Cato Institute, 1982 für Anderson im Weißen Haus zu arbeiten begann und Journalisten darin ein Anzeichen für kommende scharfe Einschnitte ins Netz des Sozialstaats sehen wollten (vgl. Kelley, 1997, S. 155).

61

436 • Wandlungen des Neoliberalismus

Staatsgewalt allgemein und speziell die dominante Position der Washingtoner Bundesregierung zurückzudrängen (vgl. Schwab, 1991). Tatsächlich liegt die Wahrheit zwischen beiden Darstellungen. In der Wirtschaftspolitik bemühte sich Reagan um eine angebotsökonomische und antiinflationäre Wende, wie sie neoliberale Ökonomen aus den Reihen der MPS eingefordert hatten. Kerngedanke dieser Wende war, der Wirtschaft durch steuerliche und bürokratische Endastung mehr Freiraum zu geben und so die Kräfte des Marktes zu entfesseln. Diese Ziele wurden erreicht. 62 Der von manchen erhoffte, von manchen befürchtete „rollback", das Zurückdrängen des Staates auf breiter Front, mißlang jedoch. Am Ende von Reagans Amtszeit war die Staatsquote nur geringfügig gesunken: Die Ausgaben der Bundesregierung machten im Jahr 1989 rund 19 Prozent des BIP aus, gegenüber rezessionsbedingten 21,5 Prozent im Jahr 1983 und knapp über 20 Prozent im Jahr 1981, zu Beginn von Reagans Amtszeit. Friedman und andere führende amerikanische Neoliberale sahen die Schuld für den nur in geringem Maße geglückten Rückbau des Staates beim Kongreß, der die meiste Zeit demokratisch kontrolliert war und Ausgabenkürzungen im Bereich des Sozialstaats verhindert habe (vgl. Friedman/ Friedman, 1998, S. S. 396). Einige der radikaleren neoliberalen Beobachter bezweifelten aber, ob Reagan die Architektur des staatlich-kollektiven Sozialapparates tatsächlich habe einreißen wollen. Niskanen etwa beklagte, nachdem er Präsident des Cato Institutes geworden war, Reagan sei doch zu sehr dem Konsens der Nachkriegszeit verhaftet gewesen. So habe es „noch keinen fundamentalen Wandel" im Verständnis der Grenzen der Staatstätigkeit gegeben (vgl. Niskanen, 1988, S. 332-333). Dieses Urteil erscheint voreilig. Mit zunehmendem Abstand zu den Ereignissen hat sich gezeigt, daß in den achtziger Jahren die Koordinaten des politisch „Möglichen" verschoben wurden. Wie Thatcher in Großbritannien war Reagan in den Vereinigten Staaten der erste Politiker seit Jahrzehnten, der mit dem Versprechen radikaler marktwirtschaftlicher Reformen antrat und dieses Programm auch umzusetzen versuchte. Vor ihnen galten diejenigen, die eine radikale Beschränkung des Staates und mehr private Initiative und Marktwirtschaft predigten, oft als Träumer, wenn nicht — wie Goldwater oder Powell — als gefährliche Extremisten oder Reaktionäre. Die Siege von Thatcher und Reagan waren keine elektoralen Unfälle, sondern Ausdruck einer neuen Bereitschaft der britischen und amerikanischen Wähler, eine wirtschaftspolitische Wende zu wagen. Die seit der Zwischenkriegszeit vorherrschenden Tendenzen zu mehr staatlicher Intervention, Regulierung und Steuerung wurden gestoppt. So charakterisierte auch Antony Fisher 1986 in einem Vortrag „Marketing the Free Market" vor der MPS die neue Situation als eine Umkehrung älterer politischer Verhältnisse: Die

A m schwächsten war wohl die Bilanz in Sachen Deregulierung, wie Christopher De Muth beim MPSRegionaltreffen 1987 in Indianapolis bemängelte. Der ehemalige leitende Mitarbeiter des Office of Management and Budget, nach seinem Ausscheiden Mitte der achtziger Jahre Chef des American Enterprise Institute, beklagte, daß es kaum Fortschritte gegeben habe. Und Niskanen sagte bei demselben Treffen, daß unter Reagan tatsächlich weniger Deregulierung auf den Weg gebracht wurde, als unter der Regierung Carter: „Der internationale Handel ist heute stärker reguliert als er es vor zehn Jahren war" (Clark, 1987). Zum eher mäßigen Erfolg der Deregulierungsbemühungen vgl. auch Boettcke (1991). Als schlimmen Verstoß gegen marktwirtschaftliche Prinzipien beurteilten amerikanische Neoliberale die von Reagan aufgelegten „freiwilligen" Quoten für die ¡apanischen Autoexporteure (vgl. dazu Friedman/Friedman, 1998, S: 394-395). 62

Der Neoliberalismus an der Macht? • 437

Neoliberalen seien aus der Defensive in die Offensive gegangen, sie seien nicht mehr als Pessimisten, sondern als Optimisten bekannt. Die Welt, obzwar immer noch „ökonomisch krank", sähe nun besser aus, da sie die marktwirtschaftlichen Rezepte der Heilung nun kenne (vgl. Fisher, 1986, S. 9). Andere angelsächsische Länder nahmen sich an Reagans und Thatchers Reformen ein Beispiel: In Neuseeland etwa begann die Labour-Regierung von Premierminister David Lange und Finanzminister Roger Douglas ab Mitte der achtziger Jahre ein durchgreifendes Programm aus Steuersenkungen, Privatisierungen, Abbau von Subventionen und Liberalisierung des Arbeitsmarktes („Rogernomics"), das dem Land ein starkes Wachstum und Vollbeschäftigung bescherte.63

3. Frankreich: Ein schwieriges Pflaster für die Neoliberalen Nach Kontinentaleuropa strahlte die neoliberal ausgerichtete Wirtschaftspolitik der angelsächsischen Länder nur schwächer. Am schwierigsten war das Umfeld für Neoliberale in Frankreich, obwohl das Land in den siebziger Jahren mit ähnlichen Problemen wie die angelsächsischen Staaten zu kämpfen hatte. Die Stagflation erreichte auch hier bedrohliche Ausmaße. Dennoch scheuten die französischen politischen Eliten eine marktwirtschaftliche Roßkur. Die Neoliberalen blieben hier eine marginale Strömung - trotz loser Verbindungen zu Präsident Giscard d'Estaing, dessen Vater ein frühes Mitglied der MPS gewesen war, oder zu Raymond Barre, von 1976 bis 1981 Premierminister, der als Übersetzer wichtige Werke Hayeks seinen Landsleuten nahezubringen versucht hatte. Barre galt nach französischen Maßstäben als außergewöhnlich wirtschaftsliberaler Politiker. Er konnte zwar einige Preiskontrollen für industrielle Güter aufheben, die Devisenkontrollen lockern und die Subventionen an nicht wettbewerbsfähige Unternehmen etwas zurückschrauben. Trotz seines Versprechens, keine Steuern zu erhöhen, mußte er genau dies tun. Auch scheiterte er bei dem Versuch, die bei etwa 10 Prozent liegende Inflationsrate durch eine Abkehr von der bisherigen expansionistischen Politik zu bekämpfen. Der Wirtschaftsprofessor Pascal Salin von der Universität Paris-Dauphine, eines der aktivsten französischen MPS-Mitglieder, wollte die Anstrengungen Barres durchaus anerkennen. Dennoch, klagte Salin 1980 bei einem Treffen der Gesellschaft, sei eine Abwendung vom traditionellen Interventionismus nicht abzusehen: Die französische politische Klasse sei - gemäß der Erziehung an den Eliteuniversitäten - zu homogen und generell zu staatsfixiert, als daß von einer „konservativen" Regierung eine echte Veränderung zu erwarten sei (vgl. Salin, 1980). Entgegen dem internationalen Trend, der Ende der siebziger Jahre neoliberale und konservative Kräfte stärkte, triumphierte in Frankreich bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 1981 der Sozialist François Mitterand. Die Parlamentswahlen kurz darauf bestätigten den Linksruck und brachten eine sozialistisch-kommunistische Koalition an die Macht. Auf einer 63 Die Nähe des Reformministers zu den Vorstellungen der MPS zeigte sich bei dem von Demonstrationen begleiteten Regionaltreffen der Gesellschaft im November 1989 in Christchurch, wo Douglas eine Rede hielt und aktiv an verschiedenen Diskussionen teilnahm. Weiter traten als Redner die konservative Schattenfinanzministerin Ruth Richardson, die Douglas durchweg lobte, sowie der Abgeordnete Simon Upton auf (MPS-Newsktter, 1/1990, in: LA, MPS-Slg.).

438 • Wandlungen des Neoliberalismus

Welle der Popularität reitend, begann Mitterand mit der Verstaatlichung zentraler Wirtschaftssektoren, etwa der Banken- und Versicherungsbranche, und einer kräftigen Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, begleitet von einer expansionistischen Fiskal- und Geldpolitik. Französische MPS-Mitglieder wie Henri Lepage fürchteten das Schlimmste: Inflationäre Tendenzen und Turbulenzen beim Wechselkurs seien programmiert, die dann mit protektionistischen Maßnahmen beantwortet würden, warnte er vor den Mitgliedern der Gesellschaft (vgl. Lepage, 1981, S. 6). Tatsächlich verunsicherten Mitterands Reformen die Wirtschaft, die Investitionen gingen zurück und eine Kapitalflucht ins Ausland setzte ein. Der Versuch der Regierung, die Rezession mit klassisch-keynesianischen Instrumenten zu überwinden, führte zu einem wieteren Anstieg der Inflation und zu noch schnelleren Kapitalabflüssen, bis schließlich der Absturz des Franc an den Devisenmärkten einen als demütigend empfundenen Kurswechsel Mitterands erzwang. Folglich fuhr die Regierung einen restriktiveren geld- und fiskalpolitischen Kurs und bemühte sich, das Vertrauen der Investoren wiederzuerlangen. Hatte Lepage den ökonomischen Schiffbruch der anfänglichen Strategie Mitterands richtig vorausgesagt, so lag er falsch mit seiner Prognose, auf das Scheitern der sozialistischen Programme werde eine allgemeine politische Radikalisierung und der Durchbruch liberaler Gegenkräfte folgen. Trotz aller Probleme erfreute sich Mitterand weiterhin großer Popularität; die Gründe der wirtschaftlichen Misere schrieb die Mehrheit der Bevölkerung finsteren internationalen Kräften zu. Es war mithin kein leichtes politisches Umfeld, als die MPS im März 1984 ein regionales Treffen in Paris abhielt. Um so mehr überraschte das Interesse der Medien, die besonders den in Frankreich bislang wenig bekannten Hayek hofierten. Die Zeitungen überschlugen sich förmlich mit Beiträgen. Als „Guru des Ultraliberalismus" und „Solschenizyn der politischen Ökonomie" wie auch als „Reaktionär" apostrophierte ihn be Monde, gleichzeitig bekundete das Blatt auch Respekt für Hayeks intellektuelle Herausforderung des sozialistischen Frankreichs (vgl. Deschamps, 1984). Das bürgerliche Figaro Magazine widmete ein ganzes Heft der „Großen Rückkehr des Liberalismus", so Chefredakteur Louis Pauwels, und druckte Interviews mit Hayek und Friedman sowie Hayeks MPS-Ansprache im vollen Wortlaut (vgl. Hayek, 1984a). Doch insgesamt empfanden die Franzosen die neoliberalen Vorschläge als Zumutung. Überzeugte „Kapitalisten" wirkten wie gefährliche Sonderlinge. 64 Die MPS mußte es schon als Erfolg werten, daß trotz aller Schwierigkeiten eine Gruppe von Mitgliedern um das Institut économique de Paris, darunter Florin Aftalion und Pascal Salin, eine große Tagung auf die Beine gestellt hatten. 65 Allgemein interpretierte man diese als ausländische geistige Hilfe für die darniederliegende französische Opposition, die sich revanchierte, indem Jacques Chirac, zu dieser Zeit der Bürgermeister von Paris, die Ehrenmedaille der Stadt an Hayek verlieh. In einer recht

Über Antony Fisher, dessen IEA die intellektuelle Munition der britischen marktwirtschaftlichen Revolution geliefert hatte, veröffentlichte das Magazine Hebdo anläßlich des MPS-Treffens einen Artikel mit der Uberschrift: „Dieser Teufel von einem Engländer gibt uns eine harte liberale Lekuon" (vgl. Hartemann, 1984). 65 Weitere Organisatoren waren Emil Ciaassen, Jacques Garello, Henri Lepage und Guy Plunier. Auf dem Programm des MPS-Treffens stand auch ein Wiedersehen Hayeks mit seinem alten Bekannten Bertrand de Jouvenel, der freilich zur Linken gewechselt war und nun öffentlich Mitterand und die Sozialisten unterstützte. 64

Der Neoliberalismus an der Macht? • 439 tiefgründigen Rede zu Ehren des bereits 85jährigen Ökonomen ging der gaullistische Politiker auf Hayeks Gedanken zum Begriff der „sozialen Gerechtigkeit" ein. Der Begriff sei ein „trojanisches Pferd", das tatsächlich zur Ungerechtigkeit führe, wenn die Umverteilung des Staates übermäßig werde. Sozialismus sei unvereinbar mit individueller Freiheit, da er eine totale Zentralisierung der Entscheidungsfindung bedinge; ebenso zerstöre die unbegrenzte Demokratie die Freiheit, da sie in Willkür und Opportunismus ende, warnte der Pariser Bürgermeister, dabei geschickt Zitate Hayeks einflechtend (Chirac, 1985). Wie er so sprach, konnte er den MPS-Mitgliedern gar als überzeugter Neoliberaler erscheinen. Zwei Jahre später gewann das bürgerliche Lager die Parlamentsmehrheit zurück, es folgte eine sozialistisch-gaullistische „Cohabitation". Chirac wurde, wie in den siebziger Jahren, erneut Premierminister. Zwar gab es 1986/1987 unter Industrieminister Alain Madelin einen Privatisierungsschub, eine entschiedene liberale Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik vermied Chirac aber in seiner kurzen Amtszeit in den achtziger Jahren. Als er im dritten Anlauf 1995 den ElyseePalast erobern konnte, sahen einige französische MPS-Neoliberale in ihm einen marktwirtschaftlichen Hoffnungsträger. „Manchmal hörte er sich an wie ein klassischer Liberaler", erklärte Salin (1996, S. 4). Er führte dies aber darauf zurück, daß Chirac seine Reden von Madelin, einem engen Freund Salins, schreiben ließ, der später als Gastredner vor der MPS auftrat. 66 Madelin kam Mitte der neunziger Jahre nochmals als Finanz- und Wirtschaftsminister ins Kabinett, konnte jedoch seine Vorstellungen einer radikalen Steuerreform nicht durchsetzen und trat nach nur einem Jahr zurück. Auch nach dem Ende der sozialistischen Ära von Mitterand blieb Frankreich also für Neoliberale ein schwieriges Pflaster. 67 So bezeichnete Salin, einer der wenigen französischen Anhänger der „Austrian economics", das intellektuelle Milieu des Landes „so geschlossen und homogen, wie es in der alten Sowjetunion gewesen sein muß. Die Medien, die Universitäten und die Politik kommen alle zusammen, um das gleiche etatistische System zu verteidigen" (ebd.).68

4. Deutschland: Abschied von der Globalsteuerung Bessere Hoffnungen konnten sich die MPS-Neoliberalen in Deutschland machen, der größten Volkswirtschaft des Kontinents. Auch das einstige Wirtschaftswunderland quälte 1994 hielt Madelin in Cannes eine Rede vor der MPS, worin er das Versagen der Wohlfahrtsdemokratie sowohl in materieller wie auch moralischer Hinsicht beklagte. Ökonomisch sah er die Versorgungsmaschinerie gescheitert, da sie trotz immer höherer Verschuldung und steigender Steuerquoten nicht mehr zu finanzieren sei, als ethische Konsequenz des Wohlfahrtsstaats beklagte er eine wachsende Unfreiheit und zunehmenden Mißbrauch von Leistungen (vgl. Madelin, 1994). 67 Maurice Allais, der 1988 für seine mathematischen Arbeiten zur Gleichgewichtstheorie den Nobelpreis erhalten hatte, zeigte sich pragmatisch. Der Ökonom, der 1947 das „Statement of Aims" der MPS nicht unterzeichnen wollte, weil er das Privateigentum am Boden ablehnte, war stets zu Kompromissen mit interventionistischen und sozialdemokratischen Positionen bereit, wie radikalere französische Neoliberale beklagten (vgl. Salin, 2000, S. 53-60). 68 Als Salin 2004 unerwartet zum Vorsitzenden der staatlichen Berufungskommission für Wirtschaftsprofessoren ernannt wurde und noch drei weitere MPS-Bekannte, Gérard Bramouillé von der Universität Aix-Marseille, Enrico Colombatto von der Universität Turin sowie Bertrand Lemennicier von der Universität Paris in das Gremium holte, brach ein Sturm des Protests gegen diese „Ultraliberalen" los. Der Nationale Rat der Universitäten sprach Salin mit knapper Mehrheit sein Mißtrauen aus; im Internet kursierte eine von mehreren Professoren verfaßte Petition, die Salins Absetzung verlangte (vgl. Braunberger, 2004). 66

440 • Wandlungen des Neoliberalismus sich seit den frühen siebziger Jahren mit einer Stagflation, die im Gefolge des Ölpreisschocks von 1973 voll zutage getreten war. Aufgrund der beherzten geldpolitischen Interventionen der Bundesbank blieb die Inflation zwar auf knapp 7 Prozent begrenzt und konnte bis 1977 unter 4 Prozent gedrückt werden. 69 Die Zahl der Arbeitslosen vervierfachte sich aber bis 1975 auf über eine Million. Es bildete sich ein Sockel von etwa 4 Prozent Arbeitslosigkeit, der entgegen den Erwartungen im konjunkturellen Aufschwung der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nicht abgebaut wurde. Obwohl das Land den Ölschock und die Rezession im internationalen Vergleich recht gut gemeistert zu haben schien, traf der zeitgleiche Anstieg von Teuerungs- und Arbeitslosenrate die stabilitäts- und wohlstandsverwöhnten Deutschen schwer. Erstmals nach fast drei Jahrzehnten beinahe ununterbrochenen Wachstums bereitete die Wirtschaft massive Sorgen. Die sozialliberale Koalition reagierte auf die Herausforderung zunächst in klassisch keynesianischer Weise: Der SPD-Politiker Helmut Schmidt, der 1974 kurz nach dem Höhepunkt der Rezession die Regierungsgeschäfte übernahm, versuchte die rückläufige Konjunktur mit einer kräftigen Erhöhung der Staatsausgaben zu kräftigen. Das Budgetdefizit erreichte 1975 ein Rekordhoch von 5,4 Prozent des BSP, doch der Erfolg blieb aus. Trotz gewaltiger Ausgabenprogramme blieb die Konjunktur schwach und die Arbeitslosigkeit sank kaum. 70 Die herkömmlichen Instrumente keynesianischer Nachfragebelebung erwiesen sich in der zweiten Ölkrise ab 1979 erneut als stumpf. Wieder legte die Bundesregierung in hektischer Eile kreditfinanzierte Konjunkturprogramme auf, was aber nicht verhindern konnte, daß sich die Arbeitslosenrate zwischen 1980 und 1982 auf rund 8 Prozent verdoppelte. Die expansive Fiskalpolitik löste in der Rezession Anfang der achtziger Jahre allenfalls Strohfeuer aus, wogegen die Bundesbank bemüht war, durch eine restriktive Geldpolitik die Teuerungsrate unter Kontrolle zu halten. Alle Versuche einer nachfrageseitigen Konjunkturbelebung verpufften also, und die Vision der „Globalsteuerung" erwies sich als Illusion. Unter den früheren Wortführern keynesianischer Maßnahmen machte sich zunehmend Ratlosigkeit breit. Ihr in früheren Jahren überschäumender Glaube an die Steuer- und Planbarkeit des Wachstums war angeschlagen. 71 Wie weit sich Karl Schiller von einstigen Ansichten entfernt hatte, bewies sein Auftritt vor der MPS 1979 in Madrid. Dort warnte der frühere SPD-Minister vor der Gefahr einer Destabilisierung, wenn die deutsche Staatsquote von bereits 48 Prozent weiter steige. Auch fürchtete er Spannungen im Europäischen Währungs-

" Etwa zur selben Zeit modifizierte die Bundesbank ihre geldpolitische Strategie. Anders als nach der Währungsreform 1948 betrachtete sie nicht mehr die Inflationsrate oder, wie in späteren Jahren, ein bestimmtes Zinsniveau als Richtwert ihrer Politik, sondern begann ab Ende 1974 — wohl unter dem Einfluß von Friedmans „Monetarismus" — sich Geldmengenziele zu setzen, in den ersten vier Jahren überschritt das Geldmengenwachstum die Obergrenzen, erst ab 1979 schaffte es die Bundesbank, innerhalb ihres selbstgewählten monetären Korridors zu bleiben. 70 Das fortwährende „deficit spending" trug allein zur Erhöhung des staatlichen Schuldenbergs bei. Allein von Ende 1973 bis Ende 1977 verdoppelte sich dieser auf rund 320 Milliarden DM. In nur vier Jahren stieg die absolute Verschuldung der öffentlichen Hand damit um fast so viel wie in den zweieinhalb Jahrzehnten zuvor (vgl. Weimer, 1998, S. 271). 71 „Während noch 1966 Walter Heller in seinem Buch ,Das Zeitalter des Ökonomen' in fast triumphaler Stimmung resümieren kann: ,Die Maßnahmen, die wir ergreifen, ... sind Bestandteile einer umfassenden Konzeption, die unsere Herrschaft über die ökonomische Umwelt auch zur Beherrschung unserer materiellen und sozialen Umweltbedingungen einsetzen will', sind seither — vor allem unter den Keynesianern — immer stärkere Selbstzweifel am Platze", konnte man in einer Festschrift für Karl Schiller lesen (Körner, 1986, S. 7).

Der Neoliberalismus an der Macht? • 441 system (EWS), sollten die Inflationsraten weiter auseinanderklaffen und Interventionen zur Verteidigung der Wechselkurse nötig werden (vgl. Hamm, 1979). In den Augen der Neoliberalen war die ökonomische Krise der siebziger Jahre nicht durch konjunkturelle, sondern durch strukturelle Probleme verursacht. Tatsächlich erwiesen sich die deutsche Volkswirtschaft und die Gewerkschaften als zu wenig flexibel zur Anpassung an die durch die Ölkrisen veränderte Situation: In den beiden Rezessionen nach 1973 und nach 1979 gingen nahezu 2 Millionen Arbeitsplätze in klassischen Industriebranchen verloren, doch dieser Verlust konnte nicht durch neue Arbeitsplätze in anderen Bereichen, etwa im Dienstleistungssektor, kompensiert werden. Die Gründe dafür waren nach Meinung der Neoliberalen übermäßige Rigiditäten des Arbeitsmarktes, der überbordende Sozialstaat und die damit korrespondierende Abgaben- und Steuerlast. Unter den gegebenen Umständen lag die Arbeitslosigkeit nahe der „natürlichen Rate", wie sie Friedman definierte, und konnte ohne tiefgreifende Strukturreformen nicht abgebaut werden. Wie diese auszusehen hatten, exerzierten die angelsächsischen Länder unter Thatcher und Reagan vor. MPS-Mitglied Giersch, seit 1969 Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) und einst Anhänger einer gemäßigt keynesianischen Konjunkturpolitik, gehörte nun zu den Ökonomen in Deutschland, die energisch daran arbeiteten, eine angebotspolitische Wende nach dem angelsächsischen Beispiel anzustoßen. Seine früheren Hoffnungen bezüglich einer nachfrageorientierten Strategie hatte er nach und nach abgelegt und stellte nun die strukturellen Probleme der westlichen Volkswirtschaften in den Vordergrund. Schon Ende der siebziger Jahre prägte Giersch dazu das Schlagwort „Eurosklerose": Wachstumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit wertete er als Ergebnis korporatistischer und kartellistischer Erstarrungen insbesondere der Arbeitsmärkte sowie als Folge eines Überbordens der europäischen Wohlfahrtsapparate. Allgemein verschärfte sich, wie in Großbritannien und anderen westlichen Staaten, auch in Deutschland in den späten siebziger Jahren der Ton der politischen Auseinandersetzung. So zogen die Unionsparteien 1976 mit der unverkennbar von Hayek inspirierten Parole „Freiheit statt Sozialismus" in den Wahlkampf. 72 Direkt auf Hayek bezog sich auch mehrfach der CSU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat des Jahres 1980, Franz Josef Strauß, der den seit 1977 in Freiburg lebenden Nobelpreisträger in seinen Reden als intellektuelle Autorität einbaute. Im Gegenzug bedachte Hayek den knorrigen Bayern, der durchaus immer wieder interventionistische Vorstöße gemacht hatte, mit dem ungewöhnlichen Lob, daß er Strauß in einem Atemzug mit FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff nannte und ihm „vernünftige wirtschaftspolitische Ansichten" attestierte (Hayek, 1983c, S. 56). Auch innerhalb der regierenden sozialliberalen Koalition nahmen die Konflikte zu, als im Verlauf des Jahres 1982 die Medien eine vernichtende Bilanz der Ära Schmidt zu ziehen

Obwohl damals vom linken Lager als üble Kampfansage gegen einen integren Bundeskanzler heftig kritisiert, markierte der Spruch doch die großen geistigen Kampflinien zwischen Ost und West, die sich im geteilten Deutschland kreuzten. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks konnte der sozialdemokratische Wirtschaftsjournalist Nikolaus Piper die Auseinandersetzung in diesen Kontext einordnen: „Gemünzt auf Helmut Schmidt war die Parole eine Frechheit, im ursprünglichen Sinne jedoch bestimmte sie und ihr Urheber spätestens 1989 das Schicksal Deutschlands ... Vermutlich wäre die Mauer nicht so leicht gefallen, hätte Hayek nicht zuvor schon die geistigen Grundlagen des Sozialismus zertrümmert" (Piper, 1999). 72

442 • Wandlungen des Neoliberalismus

begannen. Zentraler Vorwurf war die Arbeitslosigkeit von nun mehr als zwei Millionen Menschen. Daneben fielen weitere ökonomische Kennziffern negativ ins Auge: Die deutsche Staatsquote hatte sich seit Antritt der sozialliberalen Koalition von rund 38 Prozent auf über 48 Prozent erhöht. Im gleichen Zeitraum war die Steuer- und Abgabenquote von knapp 34 Prozent auf über 38 Prozent gestiegen, während die Investitionsquote langsam sank. Die F D P , der kleinere Koalitionspartner, in dessen Reihen wirtschaftsliberale mit linksliberalen Kräften rangen, wurde zunehmend nervös. Lambsdorff, auch er ein Bewunderer Hayeks, drängte schließlich auf eine grundlegende Kursänderung. 73 Anfang September 1982 hielt die MPS in Berlin ein Jahrestreffen ab. Christian Watrin, der Vorsitzende des Organisationskomitees, begründete die Wahl des Tagungsortes: „Es gibt in der Welt keine Berlin vergleichbare Stadt. Hier stehen das sozialistisch-kommunistische System und das System der freien Welt einander Antlitz zu Antlitz gegenüber" (zit. n. ws., 1982). Die Nähe zum Ostblock verlieh dem Treffen eine besondere Note und ließ noch einmal das 1947 am Mont Pèlerin so intensive Gefühl der Bedrohung aufleben. 74 Auf dem Programm des fünftägigen Treffens stand auch ein Besuch beim Zeitungsverleger Axel Springer in dessen Büroturm, nur wenige Meter von der Mauer entfernt. Springer hieß die neoliberalen Wissenschaftler um MPS-Präsident Chiaki Nishiyama und Ehrenpräsident Hayek „Willkommen in Berlin hier an der Trennungslinie zwischen Freiheit und Sklaverei, einer Trennungslinie, die auch die sozial orientierte freie Wirtschaft von einer Zwangswirtschaft scheidet, die den Menschen rigoros unterdrückt". E r erinnerte an den fünf Jahre zuvor verstorbenen Ludwig Erhard („ein Heiliger des Wirtschaftslebens") und erklärte mit einem Zitat von Röpke: „Sozialismus ist der Weg zur Armut und wirtschaftlichen Unordnung, und die Marktwirtschaft ist die Straße zu allgemeinem Wohlstand und wirtschaftlicher Balance." Mit Hinweis auf die polnischen Unruhen im Vorjahr verurteilte Springer den Sozialismus als „Weg zu Mangel und wirtschaftlicher Anarchie" (zit. n. BM, 1982). Kurz nach Ende des MPS-Treffens eskalierte der Streit in der sozialliberalen Koalition. Lambsdorff forderte, die Regierung müsse durch rigoroses Sparen die Haushaltsdefizite abbauen und zugleich die Steuern senken. Mit seinem Strategiepapier war der Bruch mit der S P D eingeleitet. Mitte September 1982 traten die FDP-Minister aus der Koalition aus, Kanzler Schmidt wurde Anfang Oktober durch ein konstruktives Mißtrauensvotum von Helmut Kohl abgelöst, der eine bürgerliche Regierung mit der F D P bildete.

4.1. Die halbherzige „Wende" Besonders auf Lambsdorff, den Wirtschaftsminister, richteten sich die Augen der Neoliberalen. Hayek hielt große Stücke auf ihn (vgl. Hayek, 1983c, S. 56). Angesichts der allgemeinen Ankündigung einer „Wende" glaubten jetzt führende deutsche Neoliberale die Chance für durchgreifende Reformen gekommen. „Wie es zu schaffen ist" lautete der Titel Aktiv war in der F D P auch MPS-Mitglied Wolfgang Stützel, der sich auf Seiten des marktwirtschaftlichen Flügels und später beim Kronberger Kreis engagierte (vgl. Seuß, 1987). 74 Die Mitglieder der Gesellschaft wagten einen Abstecher in den Ostteil der Stadt, wobei Hayek über die Ahnungslosigkeit der sozialistischen Grenzwächter witzelte: „Wenn die wüßten, daß alle Liberalen der Welt in diesem Bus sitzen", so die Anekdote nach Hennecke (2000, S. 381). 73

Der Neoliberalismus an der Macht? • 443 eines vom IfW-Präsidenten Giersch herausgegebenen Sammelbandes, in dem namhafte Ökonomen, darunter die MPS-Mitglieder Roland Vaubel, Wolfram Engels und Walter Hamm, eine „Agenda für die deutsche Wirtschaftspolitik" vorlegten. In der Einleitung formulierte Giersch die zentrale Frage: „Wie kommt es, woran liegt es, daß unsere Wirtschaft, die einst das Wunder des schnellen Wiederaufbaus vollbrachte, seit Anfang der siebziger Jahre nur noch im Schneckentempo vorankommt?" (Giersch, 1983, S. 7). Steigende Arbeitslosigkeit sei kein unabänderliches Schicksal, verantwortlich dafür sei die mangelnde Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarkts und das Kartell aus Arbeitgebern und Gewerkschaften, das über tarifliche Mindestlöhne ausgrenzende Barrieren gegen geringqualifizierte Arbeitsuchende setze. In vielen Bereichen sei der Markt durch politisch diktierte Preise und bürokratische Regulierung in seiner Funktionsweise gestört. Als Therapie empfahl Giersch einen Rückzug des Staates und neuen Mut, „die Selbstheilungskräfte [zu] befreien, die wir gefesselt haben", so der IfW-Präsident (ebd., S. 20). Große Sorge bereitete den Neoliberalen auch die starke Zunahme der Staatsquote. Vaubels Aufsatz in dem Sammelband entwarf eine Strategie zur Kürzung der Ausgaben der öffentlichen Hand: Mittel- bis längerfristig müsse die Staatsquote auf das Niveau vor der großen Koalition oder auf den OECD-Durchschnitt von rund 38 Prozent, wenn nicht gar auf den Wert der Schweiz von knapp 30 Prozent zurückgefahren werden, forderte er (vgl. Vaubel, 1983, S. 104). 75 Solche Plädoyers für eine radikale marktwirtschaftliche Erneuerung erregten kaum Aufmerksamkeit. Der tatsächliche Reformeifer der bürgerlichen Koalition blieb - trotz einiger Vorstöße Lambsdorffs — weit hinter den Erwartungen der deutschen MPS-Mitglieder zurück, wie sich bald zeigte. Nach ihren Vorstellungen mußte es eine umfassende Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung geben. Eine radikale Wende nach dem Muster der angelsächsischen Staaten blieb aus, statt dessen gab es ein begrenztes fiskalpolitisches Umsteuern und einige Ansätze zur Liberalisierung. Ein Grund dafür war die mangelnde Entschlossenheit und Einigkeit der Koalition und auch der Politik- und Führungsstil Kohls. Neben wirtschaftsliberalen Kräften gab es in seinem Kabinett einen starken sozialpolitischen Flügel um Arbeitsminister Norbert Blüm, der einen weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaats wünschte und sich Reformen bei den Umlage finanzierten, kollektiven Sozialversicherungssystemen widersetzte, wie sie neoliberale Ökonomen forderten. 76 Ein weiterer Grund, daß radikale Reformen ausblieben, lag im Regierungsstil des Kanzlers. Das stark personalisierte und auf Machterhalt ausgerichtete „System Kohl" war geprägt durch Konsens- und Kom-

Um dieses Ziel zu erreichen, empfahl er weitgehend „lineare" Kürzungen wie mit dem Rasenmäher, wobei nur für wenige Ressorts, besonders bei investiven Ausgaben, Ausnahmen gemacht werden sollten. Ein grundsätzlicher Schutz gegen fiskalische Verschwendung zugunsten von Interessengruppen und gegen das Überborden des Steuerstaates sei jedoch, so Vaubel mit Hinweis auf „Public Choice"-Theorien, nur bei einer Reform der parlamentarischen Demokratie möglich. Nötig sei ein Verfassungszusatz, der bei Erhöhungen der konjunkturbereinigten Staatsquote eine gesetzgeberische Zweidrittelmehrheit vorschreibe (vgl. Vaubel, 1983, S. 123). 75

Auffällig war, daß die deutschen MPS-Mitglieder im Vergleich zu amerikanischen Libertären viel moderatere Vorschläge zum Umbau des Sozialsystems machten. A u f der MPS-Tagung 1982 in Berlin hatte etwa Wolfgang Stützel für einen Wechsel zu einem steuerfinanzierten Umverteilungssystem plädiert, das im Vergleich zu staatlichen Subventionen und Einschränkungen der Vertragsfreiheit die geringsten allokationsverzerrenden Effekte habe; das Ausmaß der Sozialleistungen wollte er jedoch beibehalten (vgl. Stützel, 1982, S. 13-14). Über den scharfen Widerspruch, der ihm von amerikanischen Rednern entgegenkam, die solche Ansichten eher Sozialdemokraten zuschrieben, zeigt er sich überrascht (vgl. Stützel, 1983, S. 150).

76

444 • Wandlungen des Neoliberalismus promißsuche, statt es auf konfrontative Auseinandersetzungen mit Interessengruppen ankommen zu lassen, wie sie etwa Thatcher wagte. Erfolge konnte die Regierung bei der raschen Konsolidierung des Haushalts erzielen. Dank des Sparkurses des CDU-Finanzministers Gerhard Stoltenberg und unterstützt durch die weltweit stärkere Konjunktur wurde die Neuverschuldung ab Mitte der achtziger Jahre signifikant gesenkt. Der Marsch in den Schuldenstaat erschien damit gebremst. Weiter versuchte Stoltenberg mittels einer dreistufigen Steuerreform ab 1986, die Investitionsanreize für Unternehmen und den Mittelstand zu verbessern. Gewinne und Arbeitseinkommen sollten endastet werden, um Innovationen und höheres Wachstum zu erzielen. 77 Der Grundtenor der „Wende-Regierung" lautete wohl, mehr Marktwirtschaft zu wagen, doch verfolgte sie das Ziel nicht konsequent, zumal Lambsdorff schon 1984 wegen einer Spendenaffäre zurücktreten mußte. Eine Reihe staatlicher Unternehmen, darunter die Stromkonzerne Veba und Viag sowie ein zwanzigprozentiger Anteil der VW-Werke, wurden privatisiert. Insgesamt gelang es der Regierung aber nicht, die Staatsquote merklich zu senken, die in sieben Jahren von rund 50 Prozent lediglich auf knapp 46 Prozent gedrückt wurde. Die größten Posten des deutschen Haushalts, die hohen Personal- und Sozialausgaben, die Zinslast und die Kosten der Arbeitslosenversicherung, konnten nicht wesentlich gesenkt werden. Trotz höherer Wachstumsraten verharrte die offizielle Arbeitslosenquote bis 1988 um die 8 Prozent und sank bis 1990 langsam auf 6,2 Prozent. Wo lagen die Hindernisse für eine Wiederbelebung der Marktwirtschaft und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit? Diese Frage behandelte Armin Gutowski, der Präsident des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs (HWWA) auf der MPS-Tagung im Herbst 1984 in Cambridge. Seine Antwort entsprach der von Giersch entwickelten „Sklerose"-Theorie: Überzogene Sozialleistungen setzten das marktwirtschaftliche Anreizsystem außer Kraft, zudem verhinderten staatliche Subventionen an niedergehende Industrien und an die Landwirtschaft den Strukturwandel. Die deutsche Marktwirtschaft habe mit der falschen Interpretation des Beiworts „sozial" zu kämpfen, befand Gutowski. Einer durchgreifenden Erneuerung stünden zum einen die Beharrungskräfte des Umverteilungsstaates im Wege. Zum anderen fehle es an Führungspersönlichkeiten, die politischen Machtwillen und Geschick mit marktwirtschaftlicher Prinzipientreue verbinden könnten, beklagte er (vgl. Gutowski, 1984). Auch Vaubel, der sich 1984 erneut mit der hohen Staatsquote auseinandersetzte, war enttäuscht. Er kritisierte insbesondere die Scheu der Regierung vor einer Kürzung der Sozialausgaben. Seine Analyse schloß mit den Sätzen: „Den bisher unaufhaltsamen Anstieg der Staatsquote zu stoppen und rückgängig zu machen ist für jeden freiheitlich gesinnten Bürger eine Aufgabe von der allerhöchsten Priorität. Ob dabei — wie zur Zeit in den USA — die Haushaltsdefizite vorübergehend erheblich ansteigen, ist im Vergleich dazu von zweitrangiger Bedeutung." 78 Der anhaltende Anstieg der Staatsquote habe nicht nur das Wirtschaftswachstum verringert. „Wenn der finanzielle Zugriff des Staates auch in Zukunft zunähme, geriete aber schließlich auch unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung in

Anders als die amerikanischen „Supply Siders" rechnete Stoltenberg nur mit einem geringen Selbstfinanzierungseffekt seiner Steuerreform und setzte auf eine kompensierende Erhöhung der Mehrwertsteuer. 78 Durch Steuersenkungen verursachte Defizite könnten sich sogar als nützlich herausstellen, wenn sie die Regierung als W a f f e einsetze, ein ausgabenfreudiges Parlament zu Kürzungen zu zwingen. 11

Der Neoliberalismus an der Macht? • 445

Gefahr." Es bliebe eine umverteilende Demokratie mit „sozialem" Anspruch, die jedoch auf Freiheit und Würde der einzelnen Bürger wenig Rücksicht nähme und sich selbst ad absurdum führe (Vaubel, 1984, S. 16-17). Hatte Kohl in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1982 als ein Ziel genannt, den Staat auf seine „ursprünglichen und wirklichen Aufgaben" zurückzuführen, blieb eine substantielle Reduktion des Staatsanteils aus. Der Regierungswechsel beendete zwar die Versuche einer nachfrageseitigen Konjunkturpolitik und brachte eine neue Betonung fiskalischer und monetärer Stabilität, wie sie die Bundesbank und der Sachverständigenrat gefordert hatten. Die Anregungen der „Wirtschaftsweisen" zu einer angebotspolitischen Wende nahm die Regierung Kohl jedoch nur sehr begrenzt auf. Zwar bemühte sie sich mit der Steuerreform um eine Verbesserung der Arbeits- und Investitionsanreize, darüber hinaus kam es aber nicht zu einer grundlegenden Reform des in den siebziger Jahren ausgebauten korporatistischen Wohlfahrtssystems. Blüm stand hier ungeachtet einiger Korrekturen für Kontinuität mit der Politik seiner sozialdemokratischen Vorgänger. Um die hohe und sich verfestigende Arbeitslosigkeit zu reduzieren, entwarf die Regierung ein Beschäftigungsförderungsgesetz, das aber die Funktionsfähigkeit des überregulierten und kartellierten Arbeitsmarkts nur geringfügig tangierte und eher Symptome denn Ursachen behandelte. Anders als in den angelsächsischen Ländern, wo der wirtschaftliche Aufschwung ab Mitte der achtziger Jahre auch den Arbeitsmarkt erfaßte, bewegte sich hier in Deutschland kaum etwas. Insgesamt widerlegten die zaghaften Reformen der Regierung Kohl ihr Versprechen einer echten „Wende". So blieb Giersch, der von 1986 bis 1988 die Präsidentschaft der MPS übernahm, die Rolle des Mahners. Gebetsmühlenartig wiederholte er, was die Europäer in bezug auf wirtschaftliche Offenheit und Wettbewerb von den Amerikanern lernen könnten. „Das Heilmittel für Europas Krankheit ist meiner Meinung nach eine umfassende Strategie zur Öffnung mit der dreifachen Betonung auf Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung", erklärte er in seiner Eröffnungsansprache beim MPS-Treffen in Indianapolis (Giersch, 1987a, S. 9). Seine Analyse der deutschen Volkswirtschaft und der Reformen fiel ernüchternd aus: Sowohl beim Wachstum als auch bei der Beschäftigung bleibe Deutschland weit unter seinem Potential. Die offizielle Arbeitslosenquote von 8 Prozent unterschätze das Ausmaß der Probleme. Aussagekräftiger sei die Erwerbstätigenquote, die seit Jahrzehnten kontinuierlich zurückgehe. Giersch betonte vor allem die Nachteile der kollektiven Lohnverhandlungen zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften: Die starren Flächentarife ließen zu wenig Raum für eine nach Betrieben und Regionen differenzierte Lohnfindung, zudem verteuerten die hohen Steuern und Sozialabgaben sowie die versteckten Kosten des Kündigungsschutzes den Faktor Arbeit. Wachsende Steuern und Abgaben hätten einen Keil zwischen die Bruttokosten für den Arbeitgeber und den Nettoverdienst des Arbeitsnehmers getrieben und damit Arbeitsplätze vernichtet, kritisierte Giersch.79 Die sozialen Sicherungssysteme minderten die Anreize für Arbeitslose, eine reguläre Beschäftigung aufzunehmen. Effektiv wirkten sie wie

Statt der erhofften Entlastung sei es seit dem Regierungswechsel zu einer weiteren Belastung gekommen, gab Giersch an. Die Durchschnitts- und die Grenzsteuerbelastung lägen mit 4 8 bzw. 64,3 Prozent deutlich zu hoch. 79

446 • Wandlungen des Neoliberalismus Lohnuntergrenzen, die geringqualifizierte Arbeitsuchende ausschlössen. Doch die Regulierung des Arbeitsmarkts sei „ein politisches Tabu", klagte Giersch. „Kritikern wird oft gesagt, daß dieses System der Garant des sozialen Friedens ist." Verbitterung klang im Resümee des Kieler Ökonomen an: Einem falschen Verständnis von Gleichheit und Gerechtigkeit folgend, habe die Politik dem marktwirtschaftlichen Anreizsystem immer engere Fesseln angelegt. „Die liberal-konservative Regierung hat sehr wenig getan, um dieser Situation abzuhelfen; im Gegenteil, es stellt sich heraus, daß sie mehrheitlich näher bei denen steht, die den Korporatismus erhalten wollen, als bei den Befürwortern einer liberalen Wirtschaftspolitik", so Gierschs Fazit (ebd., S. 10).80 Die kräftigere Konjunktur in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre überdeckte die strukturellen Probleme der bundesdeutschen Wirtschaft. Zwar schwelte weiterhin eine Debatte um die mangelnde Attraktivität des Standorts sowie die hohe Arbeitslosigkeit, doch blieb sie folgenlos. In Anbetracht des wieder anziehenden Wachstums glaubte die Regierung Kohl, auf tiefgreifende Strukturreformen verzichten zu können und propagierte ein „Weiter so!". Die Regierung wog die Kosten einer radikalen Reform gegen den zu erwartenden Nutzen ab. Kurzfristig schienen die negativen Konsequenzen, die Gefahr des Machtverlustes, die mögliche politische Dividende zu überwiegen. Anders als etwa in Großbritannien gegen Ende der siebziger Jahre war der Leidensdruck noch nicht stark genug. Deutschland stand in vielen Bereichen - trotz der anhaltenden Arbeitslosigkeit - international vergleichsweise gut da, noch plagten die Mittelschicht keine Abstiegsängste. So fehlte die nötige bürgerliche Radikalisierung als Katalysator eines radikalen Umschwungs. Ebenso fehlte eine charismatische Führungspersönlichkeit, die wie einst Erhard die Deutschen für einen Aufbruch zu mehr Marktwirtschaft und mehr Wettbewerb hätte begeistern können. Anders als Thatcher und Reagan, deren politische Philosophie stark von der Verknüpfung wirtschaftlicher mit politischer Freiheit geprägt war, hatte Kohl wenig Interesse an ökonomischen Fragen. Zum einen mangelte es dem Kanzler und wichtigen Ministern an der Fähigkeit, ordnungspolitische Fehlentwicklungen zu erkennen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Zum anderen vollzog sich der Abstieg des einstigen Wirtschaftswunderlands ja eher schleichend, so daß Defizite lange unter Wohlstandspolstern verborgen blieben. Daher drangen die prominenteren deutschen MPS-Ökonomen wie Giersch, Gutowski oder Watrin mit Mahnungen und Appellen nicht durch.81 Ohnehin waren diese weit weniger radikal als die der amerikanischen MPS-Mitglieder; eine grundsätzlich anti-etatistische Stoßrichtung war beim Ordoliberalismus nicht zu sehen (vgl. Willgerodt, 1989, S. 48). Der Befund einer institutionellen „Sklerose" blieb weiter aktuell, trotz einiger oberflächlicher Reformen verschärften sich die strukturellen Rigiditäten eher noch in den achtziger Jahren.

Eine düstere Sicht der deutschen Perspektiven entwickelte auch Hayek. Noch im „Wende"-Jahr hatte er die Befürchtung geäußert, die „Englische Krankheit", also die Lähmung durch die Gewerkschaften, könne nun Deutschland erfassen (1983c, S. 56). 81 Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten hatte sich in Deutschland im vorpolitischen Raum keine angriffslustige liberal-konservative Allianz gebildet. Eine Zeitschrift wie die National die als ideologischer Kristallisationspunkt der amerikanischen Rechten diente, fehlte hier. Entsprechende Projekte wie die 1970 gegründete Münchner Zeitschrift Criticón, an der neben rechtskonservativen Autoren auch entschieden libertäre Intellektuelle aus den Reihen der MPS wie Joachim Maitre und Gerard Radnitzky sowie der ehemalige MPS-Präsident Günter Schmölders mitwirkten, entfalteten nur begrenzte Wirkung. 80

Der Neoliberalismus an der Macht? • 447 Wie Mancur Olson in seiner Studie „The Rise and Decline of Nations" (1982, S. 76) vorausgesagt hatte, nahm das Ausmaß redistributiver Koalitionen weiter zu. Verhängnisvoll wirkte besonders die Kartellierung des Arbeitsmarkts. Die deutsche Politik konnte sich aus dem Klammergriff von Gewerkschaften, Interessengruppen und Verbänden nicht befreien und zeigte auch nur geringe Neigung zu einer direkten Konfrontation mit den Beharrungskräften des Status quo.

4.2. Reformstau und Fehler der Wiedervereinigung Mit dem Zusammenbruch der DDR und der damit möglichen Wiedervereinigung im Jahr 1990 ergaben sich plötzlich ganz neue Herausforderungen. Aus Sicht der Neoliberalen war das Scheitern des Sozialismus wenig verwunderlich, für viele eher linksgerichtete Intellektuelle aber eine ihr Weltbild erschütternde Erfahrung. Viele im Westen hatten den Niedergang der DDR nicht sehen wollen, der sich für aufmerksame Beobachter schon lange abzeichnete. 82 Trotz forcierter Investitionen im Bereich der Schwerindustrie stagnierte deren Produktivität. Die staatlichen Betriebe waren wenig innovativ, gingen unökonomisch mit Ressourcen um und machten laufend Verluste. Um zu den festgesetzten niedrigen Preisen verkaufen zu können, waren sie auf Subventionen angewiesen. Zugleich herrschte bei der Konsumgüterversorgung überall Mangel, entgegen den offiziellen Verlautbarungen sank der Lebensstandard der Bevölkerung real seit Mitte der siebziger Jahre. Um die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu überbrücken, griff die DDR auf Importe und Kredite zurück. Folglich wuchsen sich ihre Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizite zu einer gefährlichen Bedrohung der Staatsfinanzen aus. Nur dank der Milliardenkredite aus dem Westen konnte der Konkurs hinausgezögert werden. Steigende Sozialtransfers und zunehmende verdeckte Arbeitslosigkeit belasteten die DDR aber immer mehr, bis sie gegen Ende der achtziger Jahre faktisch dem Staatsbankrott zusteuerte. Die ostdeutsche Wirtschaft stellte sich 1989 auch flüchtigen Betrachtern als völlig marode dar. Auf dem MPS-Treffen im September 1990 in München suchte Hans Willgerodt die Sorgen zu zerstreuen, das wiedervereinigte Deutschland könne eine für seine europäischen Nachbarn gefahrliche Supermacht mit aggressivem Potential werden. Solange ein wettbewerbliches System konstitutionell gesichert sei, bestehe kein Grund zur Beunruhigung. Das Ende der Zentralverwaltungswirtschaft mindere die Gefahr von wirtschaftlichen und politischen Machtballungen. Wie sein Onkel Wilhelm Röpke fünfzig Jahre zuvor betonte Willgerodt die Bedeutung stabilen Geldes und voller Konvertibilität für den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft (vgl. Willgerodt, 1990). Ein bedeutender Schritt dafür war bereits im Juli 1990 vollzogen worden: die Währungsunion mit der Umstellung von der Ostzur West-Mark zum Wechselkurs von 1 zu l. 8 3 Obwohl prominente deutsche Neoliberale

82 Die Wettbewerbsfähigkeit der zuletzt vollständig sozialisierten Planwirtschaft im Osten war weit hinter der Marktwirtschaft im Westen zurückgeblieben. In allen Sektoren (Landwirtschaft, verarbeitendes Gewerbe und Diensdeistungssektor) erreichte die DDR nach vierzig Jahren Sozialismus nur einen Bruchteil der Leistungsfähigkeit der B R D (Tuchtfeld!, 1989, S. 289-299). 83 Dieser Kurs galt für Löhne, Renten und begrenzte private Ersparnisse, für die restlichen Guthaben und für Schulden galt ein Kurs von 2 zu 1.

448 • Wandlungen des Neoliberalismus diesen Umtauschkurs kritisch sahen und auch Willgerodt anfangs gewarnt hatte, stellte er nun seine Bedenken zurück. Er lobte die Einführung der konvertiblen D-Mark als Hebel, um das System der DDR aufzubrechen und auf den Markt umzustellen. „Die Übernahme des westdeutschen Preissystems gibt den ostdeutschen Firmen eine verläßliche Basis für ihre Wirtschaftsrechnung, die schwieriger gewesen wäre unter flexiblen Wechselkursen", meinte er (ebd., S. 14). Die Umwälzung des Jahres 1990 ebnete den W e g für eine schnelle politische Einigung, die wirtschaftliche Integration vollzog sich jedoch keineswegs glatt. Zunächst schien aus der Perspektive der deutschen Neoliberalen alles recht glücklich zu verlaufen: Im Einigungsvertrag wurden die wesentlichen „konstituierenden Prinzipien" einer Wettbewerbsordnung festgelegt, wie sie einst Eucken aufgestellt und Erhard angestrebt hatte. 84 Eine freie Allokation von Ressourcen und Faktoren über den Mechanismus freier Preise hatte Erhard 1948 mit dem Leitsätzegesetz begonnen. Nach 1990 wurden allerdings in entscheidenden Bereichen die Preise nicht durch freie Interaktion individueller Marktteilnehmer, sondern durch politisch-administrative und korporatistische Entscheidungen bestimmt, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Plickert, 2008, S. 37). Der erste Schock für die ehemalige DDR-Wirtschaft kam mit dem „Geschenk" des „günstigen" Umtauschkurses. Auf dem Schwarzmarkt waren Ost- und West-Mark kurz zuvor noch im Verhältnis 4 zu 1 gehandelt worden. Die Währungsunion vom Juli 1990 bedeutete also eine radikale Aufwertung aller DDR-Preise und einen dramatischen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Betriebe. Die Übertragung der westdeutschen Regulierung und des Flächentarifkartells auf den Osten tat ein übriges: Die Löhne schnellten in die Höhe, zunächst mit der Währungsunion, dann durch Tarifverhandlungen, die von westdeutschen Arbeitgebern und Gewerkschaftern dominiert wurden, denen an einer raschen Angleichung der Löhne gelegen war, um innerdeutsche Konkurrenz zu mildern. Fünf Jahre nach dem Mauerfall hatten sich die Reallöhne in der Ex-DDR annähernd verdoppelt, während sie in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks eher stagnierten oder gar sanken. Der Lohnschub lag deutlich über dem Produktivitätsfortschritt. Aufgrund der steigenden Arbeitskosten kamen somit viele ehemalige DDR-Betriebe in finanzielle Schieflage; einige retteten sich durch Massenentlassungen, andere mußten Konkurs anmelden (vgl. Starbatty, 1996, S. 182-185). Die Folgen der politisch bedingten Aufwertung von Preisen und Löhnen waren dramatisch: Ganze Industrieregionen im Osten wurden stillgelegt. Innerhalb von zwei Jahren nach dem Mauerfall brach die Produktion der DDR-Wirtschaft um rund 35 Prozent ein, deutlich mehr als in anderen ehemaligen Ostblock-Staaten wie Ungarn, Polen oder Tschechien. Gab es schon vor 1989 eine beträchtliche verdeckte Arbeitslosigkeit, so wurde das Problem durch die tarifpolitischen Entscheidungen verschärft und verfestigt. Die registrierte Erwerbslosigkeit in den neuen Ländern schnellte Anfang der neunziger Jahre kurzzeitig auf rund 40 Prozent, sank bis 1995 auf knapp 30 Prozent und verharrte fünfzehn Jahre nach der Einheit bei

Der Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion enthielt ein Bekenntnis zu einer freiheitlichen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung und nannte Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen als Grundlagen der Wirtschaftsverfassung. 84

Der Neoliberalismus an der Macht? • 449 über 20 Prozent. Den Anpassungsschock und die Massenarbeitslosigkeit versuchte die Politik durch massive Subventionen und Sozialtransfers erträglich zu machen. Ein Großteil davon floß in den Konsum und nicht in Investitionen. W o durch Sonderabschreibungsmöglichkeiten im Osten Investitionen staatlich gefördert wurden, bewirkte dies eine teils perverse Verzerrung, indem selbst Projekte, die betriebswirtschaftlich unrentabel waren, nach Steuern einen positiven Ertrag erbrachten. Die Folge war eine erhebliche Fehlallokation von Ressourcen und Überkapazitäten, besonders im Bausektor. Der künstlich geschürte Boom mündete Mitte der neunziger Jahre in eine Krise der Bauwirtschaft, später wurde damit begonnen, ungenutzte Immobilien mit staatlicher Förderung wieder abzureißen. Ein Verstoß gegen die Prinzipien der Marktwirtschaft bedingte so den nächsten. Aus wahltakrischen Gründen war es Ziel der Politik, den Lebensstandard im Osten so rasch wie möglich auf das Niveau des Westens zu heben, obwohl die Produktivität weit darunter blieb. Die Wiedervereinigung fiel in eine Zeit guter Konjunktur bis 1993, so daß es der Politik anfangs schien oder sie glauben machen wollte, die Kosten könnten aus den laufenden Einnahmen (der „Portokasse") bestritten werden. Dies erwies sich als Illusion. In den ersten fünfzehn Jahren nach der Einheit wurden geschätzte zwei Billionen D-Mark in die ehemalige DDR geschoben, finanziert zum größten Teil mit Staatsverschuldung. Etwa jede dritte Mark, die der Osten ausgab, stammte aus dem Westen. Trotz dieser gewaltigen Summen bewirkte die staatlich gestützte Nachfrage keinen selbsttragenden Aufschwung und keinen Abbau der Arbeitslosigkeit — erneut eine Widerlegung der keynesianischen Theorie. „Die schnellstmögliche Angleichung der Lebensbedingungen durch gigantische sozialstaatliche Programme ist — wie von den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft, besonders Röpke und Hayek, prognostiziert — in eine Endlosspirale interventionistischen Handelns geraten" (Prollius, 2006, S. 259-260). Die Schwäche des Ostens verstärkte die Probleme des Westens, der schon zu Wendezeiten eine Arbeitslosigkeit von rund 8 Prozent aufwies. Nun hatte er jährlich etwa 5 Prozent seines BIP an Transfers zu überweisen, steigende Steuern und Abgaben belasteten die Wirtschaft. Durch die Fehler der Einheit wurde die einst von Erhard begründete marktwirtschaftliche Ordnung weiter deformiert. Doch je stärker der innerdeutsche Reformstau wurde, desto mehr wich die Regierung Kohl auf die Vollendung der europäischen Einigung aus.

5. Europa: Festung oder offener Markt? Während die wirtschaftliche Liberalisierung auf dem europäischen Fesdand in den achtziger und neunziger Jahren bestenfalls Teilerfolge zu verzeichnen hatte, kam Bewegung in den Prozeß der europäischen Integration. Die Neoliberalen der MPS hatten diese von Anfang an mit wachem Interesse und auch scharfer Kritik begleitet. 85 Vielfach wurden die europäischen

85 So sehr sie eine Überwindung nationalistischer Abgrenzungen und die Aussöhnung des Kontinents begrüßten, verfolgten sie doch die konkreten Schritte zur Integration der europäischen Wirtschaften seit den fünfziger Jahren mit Skepsis. Ihre Sorge war, daß im Windschatten der allgemeinen Einigungseuphorie neue dirigistische Tendenzen auf supranationaler Ebene aufkommen könnten. Auch die in den Römischen Verträgen festgeschriebenen vier Grundfreiheiten konnten dieses grundsätzliche Mißtrauen nicht ersticken. Denn der innereuropäischen Handels-

450 • Wandlungen des Neoliberalismus Institutionen als Bausteine einer neuen zentralistischen Bürokratie gesehen, die statt eines produktiven Wettbewerbs eher Regulierung und Kartellierung bringen werde. Gegenüber dieser Integration „von oben", durch politische Institutionen und Interventionen, bevorzugten sie die alternative Vision einer Integration „von unten", durch die Kräfte des Marktes. Die entstehende supranationale Administration in Brüssel betrachteten sie mit Argwohn, als Bedrohung für subsidiäre Strukturen sowie als Tummelplatz für subventionshungrige Interessengruppen. 86 Ansätzen zu einer Öffnung und Liberalisierung bestimmter Märkte für Güter und Dienstleistungen, die in den ersten Jahrzehnten vor allem von Deutschland ausgingen, standen im sich vereinigenden Europa auch wiederkehrende Vorstöße für mehr Protektion, Regulierung und „indikative Planung" gegenüber, für die sich Frankreich stark machte (vgl. Molsberger, 1996). Die Frage war, welche der beiden Tendenzen überwog. War die Europäische Gemeinschaft „Freund oder Feind der Marktwirtschaft?", so der Titel zweier Vorträge von Milton Friedman und Victoria Curzon-Price beim MPS-Treffen 1982 in Berlin. Beide Referenten kamen zu einem negativen Urteil. Friedman, der schon dreißig Jahre früher für die amerikanische Regierung ein Memorandum zum Schuman-Plan verfaßt hatte, gründete seine Analyse auf Jacob Viners klassischer Theorie zu den handelsverzerrenden Effekten einer regionalen Zollunion. Der Außenzoll der EWG habe die Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung behindert, meinte Friedman. Die Befürchtung Viners, daß der Schaden für den multilateralen Handel und die verminderte Wohlfahrt nicht durch die innereuropäischen Handelsgewinne ausgeglichen werde, sei bestätigt worden. Friedmans Ansicht nach war der Beitrag der europäischen Zollunion zur Handelsausweitung eher gering oder insgesamt sogar negativ. Alles in allem sei die EG eher als Feind denn als Freund einer wirklich freien Marktwirtschaft anzusehen (vgl. Friedman, 1982, S. 11). Auch Curzon-Price teilte diese Einschätzung. Ihr Vortrag geriet zur Generalabrechnung mit interventionistischen und marktfeindlichen Tendenzen der Brüsseler Kommission, die sich daran beteilige, industrielle Kartelle zu bilden und gegen äußeren Wettbewerb zu schützen. Während in der frühen Phase der Europäischen Gemeinschaft die marktfreundlichen Aspekte der Römischen Verträge überwogen hätten, so sei spätestens ab den siebziger Jahren ein deutlich interventionistischer und wettbewerbsfeindlicher Zug zutage getreten. Die Kommission toleriere immer mehr Wettbewerbsbeschränkungen und erlaube nationale Subventionen für Industrien und Unternehmen, solange diese als Umstrukturierungshilfen getarnt würden. Darüber hinaus arbeite sie an einer europäischen Industriepolitik, welche durch versteckte Protektion und Förderung von „Kooperation" zwischen Firmen letztlich Kartellbildung und Preisabsprachen zum Schaden der Konsumenten erleichtere (vgl. Curzon-Price, 1982, S. 7).87 Namentlich würdigte die in Genf lehrende Ökonomin den

freiheit stand nach Ansicht vieler MPS-Mitglieder die Gefahr einer protektionistischen Abschottung gegenüber außereuropäischen Anbietern gegenüber. 86 Ein Beispiel waren die gut organisierten Landwirte, die seit den sechziger Jahren mittels europäischer „Agrarmarktordnungen" den Wettbewerb effektiv unterbinden konnten. Insgesamt war die EG-Agrarpolitik stark planwirtschaftlich und protektionistisch. 87 Als Beispiele nannte Curzon-Price die Automobilbranche, die gegen japanische Konkurrenz abgeschirmt werde solle. Aber auch im Falle der Textilindustrie, des Schiffsbaus oder der Stahlproduktion empfehle die Kommission immer häufiger protektionistische Maßnahmen. Damit riskiere sie, ihr politisches Ziel der europäischen Einigung

Der Neoliberalismus an der Macht? • 451 verstorbenen Wilhelm Röpke und erinnerte an dessen Warnung vor einer europäischen „Harmonisierung". Der fundamentale Irrtum vieler Europapolitiker sei, eine Angleichung der wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse als Vorbedingung für einen funktionierenden Wettbewerb zu sehen (vgl. ebd., S. 1; Curzon-Price, 1983, S. 87). Eine freundlichere Beurteilung der Europäischen Gemeinschaft durch die Neoliberalen zeichnete sich Ende der achtziger Jahre ab, nachdem das 1985 vorgelegte „White Paper" der Kommission die freiheitlichen Elemente der Römischen Verträge betonte und bis 1992 die Vollendung des Binnenmarktes, basierend auf dem Prinzip des schon 1979 verkündeten „Cassis-de-Dijon"-Urteils, versprach. Führende Neoliberale glaubten nun an eine Wende in der europäischen Wirtschaftspolitik zu mehr innerem Wettbewerb. Auf dem MPS-Treffen in Tokio lobte Giersch das vom britischen Kommissar Lord Cockfield entworfene Dokument als „echten Durchbruch". Die Hoffnung bestand, daß die EG sich der vier Grundfreiheiten der Römischen Verträge besinnen und damit primär als supranationaler Markt verstehen, also weniger auf nationale Regulierung setzen würde (Giersch, 1988, S. 23). Obwohl auch Curzon-Price die Möglichkeit einer „Metamorphose" der EG in eine „marktfreundliche Institution" sah, blieb sie doch skeptisch, was den angeblichen Brüsseler Gesinnungswandel vom Zentralisierungsstreben zum Subsidiaritätsdenken betraf. Die Kommission habe allenfalls eine halbe Wende vollzogen, und sozialistische Kräfte seien dabei, dem Begriff „Subsidiarität" eine protektionistische Bedeutung unterzuschieben. Mit größter Sorge sah sie die Bestrebungen der Kommission, eine europaweite Angleichung des Arbeitsrechts zu erzielen, um sogenanntem „Sozialdumping" vorzubeugen. Sollte etwa der Kündigungsschutz nach nordeuropäischem Muster vereinheitlicht und verschärft werden, müsse als Folge eine Zunahme der Arbeitslosigkeit in südeuropäischen Ländern hingenommen werden, warnte Curzon-Price. Dann werde auch wieder der Ruf nach neuem Protektionismus lauter. Eine schwere Belastung des Gemeinsamen Markts wäre es, ihn um eine „soziale Dimension" zu ergänzen, wie sie der Single European Act vorsehe. Schon jetzt pumpten die EG-Strukturfonds Milliarden von Ecus quer durch den Kontinent. Widerstand gegen die „Sozialcharta" käme nur von der Regierung Thatcher, doch sei unklar, wie lange deren Veto standhalten könne. Curzon-Price warnte die MPS-Mitglieder: „Wir sind Zeuge einer erstaunlichen Rückkehr der überholten, diskreditierten, langweiligen Philosophie des umverteilenden Wohlfahrtsstaats, gekleidet in ,europäische' Tücher: vielleicht kann man es ,Euro-Sozialismus' nennen." Wer daran Kritik übe, werde als „anti-europäisch" diffamiert, klagte Curzon-Price (1990, S. 9). So schwankten die Wortführer der MPS in bezug auf Europa zwischen Hoffen und Bangen. Das System der Gemeinschaft ließ sich im neoliberalen Raster nicht eindeutig zwischen Markt und Plan einordnen. Sowohl Formen dezentraler, wettbewerblicher als auch zentraler, politischer Koordination waren zu finden.88 Während einige Regierungen den Systemdurch fehlgeleitete ökonomische Strategien zu diskreditieren. Eine etwas entschärfte und überarbeitete Fassung des Berliner MPS-Vortrags wurde später im Jahrbuch Ordo veröffentlicht (Curzon-Price, 1983). 88 Zwischen Brüsseler Kommission und nationalen Regierungen bestanden komplexe wechselseitige Beziehungen. Der Ursprung europäischer Gesetzesinitiativen ließ sich damit nicht immer einwandfrei bestimmen. Tendenziell mißtrauten die Neoliberalen den Ambitionen der Brüsseler Bürokratie und unterstellten ihr einen Drang zur Reglementierung, Normierung und Vereinheitlichung. Gerade aber in der Vielfalt liege Europas Stärke, so die historisch gut belegte neoliberale Auffassung (vgl. Raico, 1994).

452 • Wandlungen des Neoliberalismus

Wettbewerb durch „Harmonisierung" ausschalten wollten, war dieser nach neoliberaler Auffassung unbedingt zu erhalten. Dafür präsentierten Mitglieder der MPS schon früh originelle Ansätze zu einer Integration der unterschiedlichen Rechtssysteme nicht über politischadministrative Beschlüsse, sondern über freie Konkurrenz. So plädierte etwa Michael van Notten, Leiter des privaten European Institute in Brüssel, 1984 vor der MPS für die Einrichtung einer Reihe von „Freizonen". Die Bürger sollten dort frei wählen dürfen, welches Recht eines Mitgliedlandes dort gelte. Diese Testgebiete sollten einen institutionellen Wettbewerb ermöglichen, aus dem sich die effizientesten Lösungen in einem evolutorischen Entdeckungsprozeß und ohne staatlichen Zwang herauskristallisieren würden, so van Notten (vgl. Seuß, 1984). Nichts deutete aber daraufhin, daß die Brüsseler Kommission oder die nationalen Regierungen zu einem solchen Wettbewerb bereit wären. Der an der Universität Trier lehrende Philosoph Gerard Radnitzky kritisierte auf dem MPS-Treffen 1990, der E G Politik liege tendenziell ein anmaßendes, „konstruktivistisches" Denken zugrunde. In seiner extremen Variante impliziere dieses einen „schleichenden Sozialismus", daß nämlich eine zentrale politische oder wissenschaftliche Autorität besser in der Lage sei, die richtige Lösung zu finden, als es das dezentrale Zusammenspiel von Millionen von Individuen vermöge (vgl. Radnitzky, 1990/1991). Strikte Anhänger der evolutorischen Weltsicht in der MPS vertrauten darauf, daß Europa von unten wachse und damit ein eher loser Zusammenschluß von Staaten bleiben werde. E s fanden sich in der MPS aber auch Fürsprecher eines gemäßigt „konstruktivistischen" Vorgehens zur Bildung eines föderalen Bundesstaats. Diese Position vertrat etwa James Buchanan, der 1990 die Zeit reif für eine europäische Verfassung sah, die ähnlich der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 gestaltet sein sollte. Benötigt würde ein klares Vertragswerk, das der Souveränität der einzelnen europäischen Nationalstaaten und ihrer Macht über die Bürger Schranken setze. Wichtig sei dabei ein verbrieftes Sezessionsrecht, so Buchanan, wie es vor dem Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten galt. Ein solches erlaube einzelnen Staaten im Notfall den Austritt aus der Union, sollten sie deren Politik als diskriminierend empfinden. Es bestehe die Chance, in Europa die nationalstaatlichen Marktzutrittsbarrieren über eine supranationale Institution niederzureißen und mehr Wettbewerb zu erzwingen (vgl. Buchanan, 1990/1991). Ähnliche Argumente für die Schaffung eines europäischen Bundesstaats mit beschränkten Zuständigkeiten führte Peter Bernholz von der Universität Basel an, der von einer supranationalen Autorität vor allem die Sicherung offener Grenzen und die Verhinderung kriegerischer Auseinandersetzungen erhoffte. Auch er betonte aber die Notwendigkeit eines Austrittsrechts, das auch einzelnen Regionen und Kommunen zustehen sollte, notierte die NZZ (Schwarz, 1990). Entschiedenen Einspruch gegen diese — wenn auch vorsichtigen und bedingten - Plädoyers für eine Staatswerdung Europas erhob Ralph Harris. Sein I E A veröffentlichte seit jeher eurokritische Studien. Anfang 1989 hatte er nach Margaret Thatchers bekannter Brüsseler Rede die Bruges Group gegründet, die bald rege Aktivitäten entfaltete. 89 Die Ablehnung

In den frühen neunziger Jahren organisierte die Bruges Group sehr effektiven Widerstand in der Unterhausfraktion der britischen Konservativen gegen den Maastricht-Vertrag. Nach ihrem Ausscheiden als Premierministerin übernahm Thatcher die Ehrenpräsidentschaft der Gruppe, in der neben Harris noch andere MPS-Mitglieder führend aktiv waren, etwa der LSE-Politologe Kenneth Minogue. Im Jahr 1993 half Harris bei der 89

Der Neoliberalismus an der Macht? • 453

eines europäischen Bundesstaats durch viele britische und auch kontinentale Neoliberale beruhte auf ihrer Beobachtung, daß auch noch so föderalistisch aufgebaute Staatswesen im Laufe der Geschichte stets starke zentralistische Tendenzen entwickelt hatten.90 Viele Neoliberale hatten Sympathien für den Standpunkt der britischen Regierung, die skeptisch auf die von französischer und deutscher Seite vorgetragenen Pläne zur Bildung einer Währungsunion reagierte. Eine treibende Kraft dieser Bestrebungen war der sozialistische Kommissionspräsident Jacques Delors, der das EWS als Vorstufe zu einem einheitlichen Geld für die Gemeinschaft sah, das durch politischen Beschluß eingeführt werden sollte. Dem stellte der britische Schatzkanzler Nigel Lawson in Absprache mit Thatcher im Oktober 1989 den Vorschlag entgegen, statt einer administrativen Fesdegung und Durchsetzung einen anderen Weg zu gehen, nämlich über die freie Wahl des Geldes und der Währung durch die Bürger Europas. Die europäischen Finanzminister reagierten äußerst kühl auf diese Idee. Thatcher beklagte rückblickend, daß Lawsons „kluger Ansatz, der auf Friedrich Hayeks Idee der konkurrierenden Währungen basierte, bei welchem der Markt anstatt von Regierungen das Moment für eine Währungsunion liefert", wenig Anklang fand, „nicht zuletzt weil er überhaupt nicht zum etatistischen, zentralistischen Modell paßte, das unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft bevorzugten" (Thatcher, 1995b, S. 715-716). Um so mehr fand die britische Haltung in der MPS Zustimmung. Die in Brüssel, Paris und Bonn entwickelten Ansätze zur bürokratischen Schaffung einer Einheitswährung für Europa erschienen führenden MPS-Mitgliedern als Ausweis einer gefährlichen und auch absurden „konstruktivistischen" Gesinnung. Dazu hatte Giersch bereits in seiner Präsidentenansprache 1988 erklärt: „Was viele Politiker wollen ist die Bildung eines monetären Monopols mittels eines Zentralbankkartells. Falls der Bedarf an solch einer europäischen Währung real wäre, dann gäbe es auch, um eine Parallele zu ziehen, einen noch größeren Bedarf an einer gemeinsamen europäischen Sprache, die ebenso zu konstruieren wäre." Es sei eine offene Frage, ob ein „Kunstgeld" angenommen werde (Giersch, 1988, S. 24-25). Zwar traten beim Münchener MPS-Treffen zwei Gastredner auf, die einer monopolistischen, doch unabhängigen Zentralbank für Europa gute Chancen einräumen wollten, eine solide Währung zu liefern (vgl. Fratianni/Hagen, 1990). Bundesbankpräsident Karl Otto Pohl, der ebenfalls als Gast sprach, wiederholte dagegen seine „Sympathie für das britische Konzept eines Wettbewerbs der Währungen". Die Auffassung, mit der Einführung einer Gemeinschaftswährung seien große Kostenersparnisse zu erzielen, hielt Pohl „für nicht im geringsten überzeugend", so zitierte ihn die FAZ (Braunberger, 1990).

Gründung des Centre for the New Europe (CNE), eines marktliberalen Think Tanks in Brüssel, den sieben Jahre lang das flämische MPS-Mitglied Paul Belien leitete. 90 Dies hatte auch Buchanan zugegeben und beklagt. Die von Madison 1787 entworfene Verfassung habe zwar ihr Ziel erreicht, einen offenen internen Markt zu errichten und damit enorme wirtschaftliche Gewinne gebracht; sie sei jedoch darin gescheitert, das Ausmaß der politischen Autorität über die Bürger dauerhaft zu begrenzen. Vielmehr habe sich in Washington ein „Leviathan" entwickelt, dessen Machtkonzentration sich Madison nicht hätte träumen lassen. Wer wollte garantieren, daß im Falle Europas die konstitutionellen Dämme nicht auch mit der Zeit aufgeweicht würden? Buchanan selbst gestand ein, seine optimistische Vorhersage könne sich als falsch erweisen. Möglich seien auch „albtraumhafte Versionen einer Regulierung durch Brüssel, die vollkommen unakzeptabel sind für jene Länder, die jede Teilung nationaler Souveränität nur widerwillig zugestehen". Zudem sah er „die starken Anreize, die ein künftiges bürokratisiertes Europa künftigen Rent-seekers bietet" (Buchanan, 1990/1991, S. 135).

454 • Wandlungen des Neoliberalismus Tatsächlich schien das von Europapolitikern in den späten achtziger Jahren nachgeschobene Argument, die Einheitswährung würde Transaktionskosten für den grenzüberschreitenden Handel senken, nicht der entscheidende Grund für das Projekt zu sein. Die meisten Neoliberalen erkannten als eigentliches Motiv den Wunsch verschiedener europäischer Regierungen, besonders der französischen, die Dominanz der deutschen Geldpolitik zu brechen, wie Alan Walters, der währungspolitische Berater Thatchers, beim MPS-Treffen in München ausführte (vgl. Walters, 1990, S. 4). So beruhte die Idee einer europäischen Einheitswährung weniger auf ökonomischen als auf politischen Erwägungen. 91 Daß sich eine einheitliche Währung aus dem bestehenden E W S entwickeln könnte, wie Delors und andere Europapolitiker meinten, bezweifelten viele in der MPS. Zu oft war das E W S von Krisen geschüttelt und an den Rand des Zusammenbruchs gebracht worden. Allein zwischen 1979 und 1989 hatten elf Anpassungen der Wechselkursparitäten stattgefunden, weitere konnten nur unter größten Mühen vermieden werden. 92 Die Kosten habe weitgehend die Bundesbank zu tragen, die immer wieder zugunsten der angeschlagenen Partnerwährungen interveniere und dafür ihre Reserven opfere. Zudem müsse sie ihre restriktive Politik mit Rücksicht auf schwächere EWS-Währungen modifizieren und büße damit einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit ein, so Walters (vgl. ebd., S. 7-8). 93 Von solch grundsätzlicher Kritik zeigten sich die treibenden Kräfte in Europa unbeeindruckt, lediglich die britische Regierung griff sie teilweise auf. Die Vorbereitungen innerhalb der Gemeinschaft für eine einheitliche Währung gingen weiter voran und wurden immer konkreter. Im Dezember 1991 handelten die europäischen Staats- und Regierungschefs den Vertrag von Maastricht aus. Das Echo der Neoliberalen fiel äußerst kritisch aus. 94 Beim MPS-Treffen in Vancouver im September 1992 enüud sich ihr Ärger: Als „Sackgasse" verurteilte Holger Schmieding den Vertrag. E r übertrage „neue und weitreichende interventionistische Kompetenzen" an die Gemeinschaft, besonders in den Bereichen der Sozial-, der Industrie- und der Technologiepolitik, und enthalte nur eine wolkige Definition von

In den achtziger Jahren waren inflationäre Alleingänge Frankreichs und Italiens mehrfach durch starke Kapitalflucht in die D-Mark durchkreuzt worden. Da Paris und Rom die ökonomisch gebotene Abwertung von Franc und Lira aus politischen Gründen zu vermeiden suchten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich effektiv der auf Währungsstabilität bedachten Geldpolitik der deutschen Zentralbank anzuschließen. Sie sahen dies als demütigende Unterwerfung, entsprechen unbeliebt war die Bundesbank bei vielen europäischen Konkurrenten. 92 Nach Walters Analyse litt das EWS unter einem fundamentalen Konstruktionsfehler. Die Festsetzung der Wechselkurse sende geradezu perverse Signale aus, indem weiche Währungen stärker nachgefragt würden als harte, was zur Instabilität der Devisenmärkte beitrage. Innerhalb des EWS, so Walters Argumentation, würden gleiche nominelle Zinsen gelten. Länder mit höherer Inflationsrate, etwa Italien, hätten daher real niedrigere Kapitalkosten. Die Nachfrage nach auf diese Währung lautenden Krediten müsse also stark steigen, was faktisch zu einer weiteren scharfen Expansion der Geldmenge der Länder mit höherer Inflationsrate führe und die EWS-Paritäten belaste. Die Antizipierung der Abwertung einzelner Wechselkurse verstärke die Instabilität. Nicht Konvergenz, sondern Divergenz der Inflationsraten würde so im E W S gefördert, meinte Walters. 91

93 Um den Druck der destabilisierenden Kapitalströme innerhalb des EWS zu mildern, hätten viele Länder offene und verdeckte Formen von Devisenkontrollen eingeführt, erklärte Walters. Als Beispiele nannte er den staatlichen Einfluß auf den stark kartellierten Finanzsektor in Frankreich und in Italien sowie die gesetzliche Bestimmung in Deutschland, daß Versicherungen ihre Rücklagen nicht in Fremdwährungen anlegen dürften. 94 Eine Gruppe von neun neoliberalen Professoren, angeführt von Bernholz, sprach sich in einem Manifest gegen den Vertrag aus (vgl. Bernholz u.a., 1992). Nicht nur Ökonomen und Juristen aus den Reihen der MPS zeigten sich skeptisch. Auch Karl Popper lehnte den Vertrag von Maastricht kategorisch ab, den er in Interviews als „ein schreckliches Dokument" verurteilte (vgl. Radnitzky, 1995, S. 58).

Der Neoliberalismus an der Macht? • 455 „Subsidiarität", der „selbst ein sowjetischer Kommunist hätte zustimmen können", erklärte er polemisch (Schmieding, 1992, S. 11). Wenn auch der Entwurf für die Statuten der europäischen Zentralbank auf dem Papier nicht allzu schlecht aussehe, sei doch zu befürchten, daß eine „Währungsunion nach der Art von Maastricht einen schweren Rückschlag für die Preisstabilität in Europa" bringen werde, meinte Schmieding (ebd., S. 12). In Maastricht habe Europa eine „großartige Chance verpaßt, eine liberale monetäre Verfassung anzunehmen, das heißt, die Bürger über Währungswettbewerb entscheiden zu lassen, ob ein gemeinsames Geld gebraucht wird oder nicht" (ebd., S. 13). Mit der Auswahl ihrer Redner positionierte sich die MPS auf Seiten der entschiedenen Kritiker der Brüsseler Vision von Europa: „Für Maastricht, weder für die Währungsunion noch — erst recht nicht - für die politische Union erhob sich dabei keine Stimme", vermerkte die NZZ zu der Diskussion in Vancouver (Schwarz, kursiv im Orig. 1992a). Und der Berichterstatter der FAZ erklärte apodiktisch: „Die interventionistische Grundstruktur des Vertrages von Maastricht ist an sich schon für Liberale nicht akzeptabel" (Seuß, 1992). Die Alternativen, die aus der MPS heraus formuliert wurden, muteten angesichts der rasch fortschreitenden und immer konkreteren politischen Planung der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union utopisch an. Walters hatte 1990 noch die Einführung eines europäischen Parallelgeldes in Form einer Warenkorbwährung angeregt, deren Vorzüge in der MPS einst diskutiert worden waren. Dieser Vorschlag machte in der politischen Debatte überhaupt keinen Eindruck. Eine rein akademische Übung blieb auch die Überlegung des Ökonomen Bruno Frey von der Universität Zürich, der beim MPS-Treffen in Vancouver vorschlug, Europa in einen Flickenteppich von 75 kleinen und kleinsten Staaten zu verwandeln, die in einem maximalen Wettbewerb die besten institutionellen Lösungen finden könnten. Diese Vision, für die damals auch der dänische Brauereibesitzer Heineken warb, sah Frey als Übertragung des Wettbewerbmodells der Schweizer Kantone auf Europa. Es wurde also klar, daß die in der MPS versammelten Eurokritiker die mögliche Staatswerdung Europas nicht ablehnten, weil sie an den bestehenden Nationalstaaten mit ihren zentralen Regierungen hingen, sondern weil sie eine noch größere Zentralisierung auf supranationaler Ebene mit noch größerer Gefahr von Staatsversagen befürchteten. Statt des Aufbaus eines Superstaats forderten sie den Abbau aller staatlichen Hindernisse für wirtschaftliche Transaktionen sowie die Rückverlagerung von Kompetenzen auf die unteren Ebenen, die Regionen und Gemeinden (vgl. Schwarz, 1992a). Ein weiterer Punkt, den die MPS-Neoliberalen kritisch sahen, war die mit Maastricht beschleunigte Einschränkung des Einstimmigkeitsprinzips in der EG. Begründet wurde dies von Seiten der Gemeinschaft mit der Notwendigkeit, bei wachsender Mitgliederzahl noch politische Handlungsfähigkeit zu bewahren und mögliche Blockaden zu vermeiden. Gemäß der „Public Choice"-Theorie stieg aber die Wahrscheinlichkeit von redistributiven Entscheidungen zum Nachteil von Minderheiten, je niedriger das notwendige politische Quorum dafür lag. Daß in der EU künftig auf wichtigen Feldern auch qualifizierte Abstimmungsmehrheiten im Ministerrat ausreichen sollten, eröffnete eine Perspektive, die viele in der MPS mit Sorge erfüllte. So widmete sich der Kölner Ökonom Christian Watrin beim Treffen der Gesellschaft 1996 in Wien der Frage, ob die Europäische Union eine neue Quel-

456 • Wandlungen des Neoliberalismus

le von Konflikten werde, statt zur Kooperation auf dem Kontinent beizutragen. Jede vom strikten Einstimmigkeitsprinzip abweichende Entscheidung müsse als potentieller Wohlfahrtsverlust für die Uberstimmten angesehen werden. Werde das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen fahrlässig gehandhabt oder sollten sich Umverteilungskartelle bilden, so seien schwere Konflikte innerhalb der Union programmiert. Watrin sah Europa an einem Scheideweg angelangt: Maastricht öffne „ein fast unbegrenztes Spielfeld für alle Arten von Interessengruppenpolitik und Umverteilungsstreben (,rent-seeking') mit niemals endendem Streit um Beihilfen, Schutzmaßnahmen und andere Privilegien, welche die Kommission oder die Mitgliedsstaaten aushändigen" (Watrin, 1996, S. 10). Um zentralisierenden und wettbewerbsfeindlichen Tendenzen vorzubeugen, plädierten viele Neoliberale für eine rasche Erweiterung der E U . Die von Brüssel betriebene „Vertiefung", womit in erster Linie eine immer engere Abstimmung und „Harmonisierung" von zentralen Feldern der Gesetzgebung sowie Übertragung von Kernkompetenzen der mittlerweile fünfzehn Mitgliedstaaten auf die supranationale Ebene gemeint war, drohte aus ihrer Sicht der erwünschten Öffnung für die osteuropäischen Länder im Wege zu stehen. Von einem erweiterten Markt würden die Bürger profitieren, nicht aber von einer Zunahme von supranationaler Regulierung und Umverteilung, so der Tenor von MPS-Rednern wie Bernholz. J e größer die E U aber werde, desto weniger könne das bisherige Transfersystem fortgesetzt werden, so hofften viele in der Gesellschaft (vgl. Schwarz, 1997). Ab 1992 bildete sich die European Constitutional Group, der zahlreiche MPS-Mitgüeder angehörten, darunter Bernholz, Curzon-Price, Vaubel und Salin. Nach ihrer Vorstellung sollte die E U ein schlanker Uberbau bleiben, der für grenzüberschreitende Transaktionen einen Rechtsrahmen schaffe, dabei mögliche externe Effekte etwa beim Umweltschutz im Auge behalte, den Wettbewerb sichere und die Märkte offenhalte, ansonsten aber keine eigenen interventionistischen Aktivitäten entfalten dürfe. In diesem Sinne suchte die Gruppe mit konsequent minimalistischen Entwürfen für einen alternativen europäischen Verfassungsvertrag die Diskussion in der E U zu beeinflussen (vgl. Bernholz u.a., 1993; 2004). 9 5 Solche Einwürfe fanden kein Echo in Brüssel. Die langjährigen Bemühungen der neoliberalen Kritiker verliefen folgenlos im Sande. Pascal Salin konstatierte in seiner Ansprache als Präsident der Gesellschaft im Jahr 1996: „Wenn wir einen Blick auf Europa werfen, ist es klar, daß wir auf die Bildung eines Super-Nationalstaats zumarschieren, trotz einiger Bemühungen, mehr Wettbewerb hineinzubringen" (Salin, 1996, S. 9). Einige der übermäßig pessimistischen Prognosen, die MPS-Mitglieder bezüglich des Vertrags von Maastricht geäußert hatten, trafen letztlich nicht ein. Der neu geschaffene Euro blieb in den ersten Jahren nach seiner Einführung 1999 knapp an der Obergrenze von 2 Prozent Inflation. Trotz einiger Ansätze zu mehr Wettbewerb, die später der EU-Kommissar Frits Bolkestein einbrachte, offenbarten doch das Treiben der Brüsseler Institutionen eine Vielzahl von protektio-

In einer von mehr als hundert liberalen Wissenschaftlern, darunter sehr viele MPS-Mitglieder, unterzeichneten öffentlichen Erklärung „Die EU-Verfassung schwächt Europa" ging die European Constitutional Group mehrfach an die breitere Öffentlichkeit: „Die vorgeschlagene Verfassung hätte zur Folge, daß die politischen Entscheidungen immer häufiger fernab von den Bürgern getroffen werden", lautete ihr erster Kritikpunkt. Zudem warnten sie vor weiterer staatlicher Regulierung und Zentralisierung, falls der sogenannte Verfassungsvertrag in Kraft treten sollte (vgl. FAZ, 21.3.2005). 95

Der Neoliberalismus an der Macht? • 457

nistischen und interventionistischen Praktiken, die Rentenstreben von Interessengruppen zulasten der Konsumenten und Steuerzahler ermöglichten (vgl. Vaubel, 2001, bes. S. 135-147). Aus neoliberaler Sicht enthielt der 2004 von der EU vorgeschlagene „Vertrag über eine Verfassung für Europa" neue Einfallstore für eine Politik der weiteren Regulierung, der Umverteilung und der Zentralisierung, war also insgesamt „zu sozialistisch". Dagegen lehnten die linken Gruppen, die den Verfassungsvertrag bei der französischen Volksabstimmung zu Fall brachten, diesen ironischerweise ab, weil sie ihn für „neoliberal" hielten.

6. „Socialism is dead, but Leviathan lives on" In der Beurteilung der politischen Lage neigten viele der in der MPS versammelten Neoliberalen seit jeher eher zu pessimistischen Einschätzungen. An ihrer skeptischen Grundhaltung änderte auch der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks in den Jahren 1989/1990 wenig: „Sind wir dabei zu siegen? Nein — aber die anderen sind dabei zu verlieren", erklärte MPS-Präsident Antonio Martino bei einem MPS-Regionaltreffen in Christchurch im Herbst des Wendejahres (zit. n. MPS-News/etter, 1/1990, in: LA, MPS-Slg.). Das Scheitern des kollektivistischen Systems kam theoretisch nicht unerwartet für die Neoliberalen. Der Bankrott der Planwirtschaften bestätigte die Warnungen von Mises und Hayek vor der systemimmanenten Ineffizienz des Sozialismus. Einzelne Redner wie Arthur Seidon hatten bei MPS-Treffen immer wieder ihre Gewißheit betont, daß der Zerfall des Kommunismus nur eine Frage der Zeit sei. Dagegen hatte ein Großteil der westlichen Intellektuellen und Experten den geschönten Statistiken der sozialistischen Staaten über Jahrzehnte geglaubt. Im Lehrbuch „Economics" von Nobelpreisträger Paul Samuelson war noch in der dreizehnten Auflage von 1989 zu lesen, „die Sowjetökonomie ist der Beweis, daß im Gegensatz zu dem, was viele Skeptiker früher geglaubt hatten, eine sozialistische Kommandowirtschaft funktionieren und sogar blühen kann" (Samuelson/Nordhaus, 1948/ 1989, S. 837). Als Präsident Reagan Anfang der achtziger Jahre in einer Rede an der Universität von Notre Dame den Kommunismus „ein trauriges, bizarres Kapitel der Geschichte der Menschheit" nannte, dessen „letzte Seiten gerade jetzt geschrieben werden", erntete er heftigen Widerspruch. Viele westliche Wissenschafder hielten die Sowjetunion für stabil.96 Nach 1989/1990 war daher das Staunen groß, als die Kulisse zusammenfiel. Nun zeigte sich, wie schlecht es tatsächlich um Produktivität und Lebensstandard der sozialistischen „Arbeiterparadiese" bestellt war. Teile der sowjetischen Führung um Parteichef Michael Gorbatschow hatten Mitte der achtziger Jahre noch versucht, mit einer kontrollierten Öffnung und einem vorsichtigen Umbau das kommunistische System zu retten. Die Dynamik

96 „Die Sowjetunion ist weder jetzt noch wird sie im nächsten Jahrzehnt in den Fängen einer echten systemischen Krise sein, da sie sich enormer unbenutzter Reserven politischer und sozialer Stabilität rühmen kann, die ausreichen, um die größten Schwierigkeiten auszuhalten", erklärte Seweryn Bialer, ein bekannter Professor der Universität Columbia, in der Zeitschrift Foreign Affairs. Noch 1989 sagte Lester Thurow, Dekan der Business School am MIT, über die Sowjetunion: „Sie ist heute ein Land, dessen wirtschaftliche Leistungen einen Vergleich mit denen der Vereinigten Staaten aushalten" (Bialer/Afferica, S. 266). Zum allgemeinen Versagen der meisten amerikanischen Sowjetunionsforscher vgl. Wilhelm (2003), zu den westdeutschen Schönfärbern der DDR-Verhältnisse vgl. Hacker (1994).

458 • Wandlungen des Neoliberalismus

von „Glasnost" und „Perestroika" war aber bald nicht mehr steuerbar. 97 Besonders an der Peripherie des Sowjetimperiums entwickelten sich starke Fliehkräfte. Die Ostberliner Regierung, die sich der Einsicht Moskaus verweigerte, daß Reformen notwendig seien, wurde im Spätherbst 1989 vom Druck der Straße hinweggefegt. Der fast drei Jahrzehnte mit Mauer, Stacheldraht und Schießanlagen befestigte Eiserne Vorhang bekam an mehreren Stellen Löcher. 98 Nachdem Ungarn im September die Grenze offiziell für DDR-Bürger geöffnet hatte, flohen Tausende in den Westen. Diese massenhafte Abstimmung mit den Füßen bedeutete das faktische Todesurteil des Sozialismus. Seinen ökonomischen Verheißungen, die einst scharenweise westliche Intellektuelle begeistert hatten, schenkten die eigenen Bürger keinen Glauben mehr. Für Hayek, den lebenslangen Kämpfer, war dies eine späte Genugtuung. Die in den zwanziger und dreißiger Jahren geführte Debatte um die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus schien definitiv entschieden. Hatte im Zuge dieser Kontroverse 1938 Oscar Lange, später Minister im sozialistischen Polen, behauptet, einst werde in der Halle des Zentralen Planungsbüros in Moskau eine Büste Mises' zur ironischen Ehrung oder Anerkennung seiner Theorie aufgestellt, so übergab nun Ed Crane vom Cato Institute fünfzig Jahre später, im Oktober 1989, in Moskau eine Büste Hayeks an Jewgeny Primakow, den späteren Außenminister Rußlands; eine Büste Mises' wurde der Universität Warschau überreicht, wo sie neben dem „Oscar-Lange-Saal" aufgestellt werden sollte (vgl. Newsletter, 3/1990, in: LA, MPS-Slg.). Hayek schrieb in einem Dankesbrief an Crane: „Ich bin natürlich ganz entzückt über diese Nachricht. ... Ich könnte mir kein eindrucksvolleres Symbol für den ultimativen Sieg unserer Seite vorstellen" (zit. n. Ebenstein, 2000, S. 316). Im November 1991 folgte eine hochoffizielle politische Anerkennung, als Hayek vom amerikanischen Präsidenten George H. W. Bush die Freiheitsmedaille erhielt: „Professor von Hayek hat das intellektuelle und politische Leben der Welt revolutioniert", lautete die Begründung (MPS-Newsletter, März 1991, in: LA, MPS-Slg.). Auch die Mitglieder der Gesellschaft, die Hayek mehr als vierzig Jahre zuvor am Mont Pèlerin gegründet hatte, konnten zufrieden sein. Ihre 1947 im „Statement of Aims" formulierte Warnung, wonach „die zentralen Werte der Zivilisation" in Gefahr seien, hatte an Dringlichkeit verloren. Der Kollektivismus, den sie gefürchtet hatten, war im Ostblock zugrunde gegangen. Der weltweite „Marsch in den Sozialismus", den viele erwartet hatten, war abgebrochen worden. Nun bestand die Hoffnung, jene Teile der Erde, wo „die wesentlichen Bedingungen von menschlicher Würde und Freiheit" über Jahrzehnte unterdrückt worden waren, so das „Statement of Aims" der MPS, für die menschliche Würde und Freiheit zurückzugewinnen. „Die Mission der Mont Pèlerin Society", schrieb Präsident Gary S. Becker 1990 an die Mitglieder, „mag nun weitgehend erfüllt sein mit dem Kollaps des

Bereits Mitte der siebziger Jahre hatte Warren Nutter, einer der klarsten Analytiker der ökonomischen Probleme des Ostblocks, in einer Rede vor der Philadelphia Society festgestellt: „Die sowjetischen Führer von heute sind mit dem Dilemma der Zaren konfrontiert. Wie die Zaren wissen sie, daß die Wirtschaft krank ist, aber sie fürchten, ebenso wie die Zaren, daß eine Heilung des Patienten den Doktor töten wird" (Nutter, 1 9 7 4 / 1 9 8 3 , S. 213). 98 Bei der Öffnung tat sich MPS-Mitglied Otto von Habsburg mit einer spektakulären Aktion hervor. Gemeinsam mit Mitgliedern der von ihm geleiteten Paneuropa-Union war der Kaiserenkel am 19. August zu einem „Picknick" an die österreichisch-ungarische Grenze gefahren, w o sie eigenmächtig den Grenzzaun mit einem Bolzenschneider durchtrennten. 97

Der Neoliberalismus an der Macht? • 459 Kommunismus in fast ganz Osteuropa. ... Aber leider bleibt noch viel zu tun. Die große Mehrheit der Weltbevölkerung lebt immer noch in Ländern, die wirtschaftliche und politische Freiheit scharf beschneiden. Und selbst in Westeuropa, den Vereinigten Staaten und anderswo nimmt die staatliche Kontrolle und Regulierung von wirtschaftlichen Tätigkeiten zu, nicht ab" (MPS-Nem/etter, 4/1990, in: LA, MPS-Slg.). Von Triumphgeschrei wollten die Neoliberalen der MPS also nichts hören. „Sociaüsm is dead, but Leviathan lives on" — so lautete die Formel, auf die Buchanan schon im Frühjahr 1990 die Entwicklung brachte. Zwar sei die Ideologie, die explizit die Verstaatlichung der Produktionsmittel und eine zentrale politische Planung des gesamten wirtschaftlichen Lebens verlange, nunmehr diskreditiert. Der Alternative einer freien, entpolitisierten Marktwirtschaft, die sich innerhalb eines rechtlichen Rahmens selbst regle, werde aber weiterhin mit Reserve begegnet. Der Verlust des Glaubens an den Sozialismus sei mit keiner Konversion zum Glauben an die Märkte verbunden. Immer noch hingen viele einer romantischen Vorstellung von der Politik an, die selbstlos für das Wohl der Allgemeinheit wirke, klagte Buchanan. Diese von der „Public Choice"-Theorie als Illusion entlarvte Vorstellung sei der Grund, daß viele Bürger auch in der post-sozialistischen Ära willkürliche Eingriffe in das Marktgeschehen guthießen. Damit bleibe das Spielfeld für Interessengruppen offen. Die der unbegrenzten Demokratie inhärente Logik zur Ausweitung der staatlichen Sphäre, zur Stärkung des Leviathans, könne nur gebrochen werden, wenn dem System der Mehrheitsentscheidung konstitutionelle Grenzen gesetzt würden: „Der Todeskampf des Sozialismus sollte nicht die Aufmerksamkeit von der andauernden Notwendigkeit ablenken, das Überborden des Leviathanstaats zu verhindern" forderte Buchanan (1990, S. 8). Im Ostblock kamen die Verhältnisse nach 1989 in revolutionärer Weise ins Rutschen. Dort ereigneten sich Umwälzungen, die das Fundament des ehemals kommunistischen Leviathan zerbrachen. Der Kontrollverlust der alten Eliten eröffnete ein Vakuum, in das Anfang der neunziger Jahre unterschiedliche Reformkräfte stießen. In der MPS beobachtete man die Entwicklung mit Spannung. Vaclav Klaus wurde schon 1990 erstes osteuropäisches Mitglied und bald engagierter Redner der Gesellschaft. Der knapp fünfzigjährige Wirtschaftswissenschaftler hatte noch während der Zeit des Sozialismus die Schriften Hayeks und Friedmans zu studieren begonnen und war zu einem der konsequentesten Verfechter einer „adjektivlosen" Marktwirtschaft in seiner Heimat aufgestiegen. Beim MPS-Treffen im Herbst 1990 in München erklärte Klaus, seit kurzem tschechoslowakischer Finanzminister, die vielfältigen Schwierigkeiten der ökonomischen Transformation in Osteuropa. Es fehle an echten Unterstützern für marktwirtschaftliche Reformen. Etwa die bekannten Intellektuellen des „Prager Frühlings", die nach 1989 als Ratgeber gefragt waren, stünden eher für einen „Dritten Weg", verstanden als aufgelockerter Sozialismus. Sie hätten die inhärenten, fatalen Defekte des sozialistischen Systems nicht begriffen (vgl. Klaus, 1990, S. 4)." Weiter schilderte er die praktischen Probleme der Auflösung der Staatswirtschaft. Nach Ansicht von Klaus war eine nur partielle Reform des Sozialismus nicht möglich. Die Trans-

Klaus korrigierte auch einige schematisierte Vorstellungen westlicher Ökonomen vom realen Sozialismus. In der Praxis sei dieser nie eine zentrale Planwirtschaft, sondern stets ein chaotisches System mit vielfältigen, sich überkreuzenden Befehlswegen und rivalisierenden Planungszentren gewesen. Teilweise hätten sich große Staatsunternehmen faktisch abgekoppelt von den politischen Vorgaben und eigene Ziele verfolgt.

99

460 • Wandlungen des Neoliberalismus formation müsse gut vorbereitet, dann aber radikal und umfassend sein. Offen gab er Unsicherheit bezüglich der Reihenfolge der Reformschritte zu: Sollte es zuerst eine Verbesserung und Bereinigung der Marktstruktur geben, oder sollten zuerst die Preise freigegeben werden? Er neige dazu, der Preisfreigabe den Vorzug zu geben (vgl. Klaus, 1990, S. 8-13). Auch andere osteuropäische Redner wie der Ökonom Jan Wienicki von der Universität Lublin beschrieben auf dem MPS-Treffen die gewaltigen Herausforderungen der Transformation. Hatten sich westliche Regierungen in den achtziger Jahren schon beim Verkauf einzelner Staatsunternehmen schwergetan, so stand man in Mittel- und Osteuropa vor der Aufgabe, eine zu rund 90 Prozent in Staatshand befindliche Wirtschaft in Privateigentum zu überführen. Jede Woche standen damit, etwa bei der „Treuhand" in der ExDDR, mehrere Unternehmensverkäufe an. Ein polnischer Redner formulierte als Grundproblem: Es müsse etwas verkauft werden, dessen Wert man nicht kenne, und zwar an Bürger, welche gar kein Geld hätten (Schwarz, 1990). Die Tschechoslowakei entwickelte sich zu einem Labor der radikalsten marktwirtschaftlichen Transformation, wo MPS-Mitglieder wie Klaus oder Vladimir Dlouhy, später Wirtschaftsund Industrieminister, politische Schlüsselpositionen innehatten. Klaus hatte vor der MPS in München sein Modell einer schnellen Privatisierung ehemals staatlicher Betriebe mittels Coupon-Ausgabe vorgestellt, das ab 1991 schrittweise verwirklicht wurde. Die erste Phase der Transformation sah stürmische ordnungspolitische Reformen, von der Preisliberalisierung und Außenhandelsöffnung bis hin zur Privatisierung großer Teile der Industrie und des Handels. Nach der Spaltung des Landes 1992 war Klaus für fünf Jahre tschechischer Ministerpräsident und danach Staatspräsident. Er vertrat selbstbewußt eine neoliberale Position, die von Hayeks Skepsis bezüglich der Fähigkeit zu umfassendem Wissen geprägt war. Auf einer kleineren Tagung der MPS in Prag 1991 zum Thema „Suche nach dem Übergang zu einer freien Gesellschaft" bekannte er, es gäbe dafür keine exakten Baupläne: Die Transformation sei ein „evolutorischer Prozeß", bei dem Abfolge und Tempo der Reformschritte nicht exakt vorherzubestimmen seien (vgl. Schwarz, 1991). Sein Ansatz stand damit in scharfem Kontrast zum Vorgehen anderer osteuropäischer Regierungen. „Die alte Nomenklatura oder auch eine neue haben rasch gelernt, mit den Slogans von Marktwirtschaft, Privatisierung und Demokratie umzugehen. Sie verstehen das aber so, daß sie die Entwicklung in der Hand behalten müssen, damit alles richtig abläuft, womit sie ihre Position stärken", faßte die FAZ die Klagen in der MPS über den Transformationsprozeß im ehemaligen Ostblock zusammen. Dabei würden „spontane Prozesse ... abgewürgt" (Seuß, 1992). Die Unschlüssigkeit, die Klaus 1990 in München zugegeben hatte, ob erst ein vollständiger Rahmen der Marktwirtschaft etabliert oder zuerst die staatliche Bewirtschaftung beendet werden müsse, berührte die zentrale Frage der neoliberalen Konzeption. In vielen ehemaligen Ländern des Ostblocks war die Transformation nicht durch ausreichende institutionelle Reformen vorbereitet und abgesichert, sondern vollzog sich in einem teilweise rechtsfreien Raum, so daß sich nicht freie Marktwirtschaften, sondern mit der Politik verflochtene oligopolistische und mafiose Strukturen etablierten, wie etwa in Rußland. Dieses Versäumnis, einen soliden Rahmen für eine Wettbewerbsordnung zu

Der Neoliberalismus an der Macht? • 461 schaffen, beklagten viele der eher ordoliberal orientierten MPS-Mitglieder. Andere bemängelten, die Privatisierung sei nicht konsequent und umfassend genug gewesen. 100 Während sich der Ostblock rasant wandelte, vielerorts totalitäre Strukturen aufgebrochen und tatsächlich neue wirtschaftliche und politische Freiräume eröffnet wurden, war im Westen nach 1989 weit weniger Bewegung zu spüren. „Obwohl die Unterschiede zwischen der Welt von 1947 und heute nicht zu leugnen sind, ist doch überhaupt nicht klar, daß unsere Mission beendet ist", hatte der scheidende MPS-Präsident Martino beim MPSTreffen in München im September 1990 festgestellt. Zwar habe man sich gegenwärtig von der Gefahr des totalen Sozialismus befreit, doch die stückweise Erosion von Freiheit im Westen gehe weiter voran (Martino, 1990, S. 1). Unterdessen wuchs die Mitgliederzahl der MPS stetig an und überschritt die Marke von 500. Auffällig war die trotzig pessimistische Grundhaltung vieler Redner auf den jährlichen Treffen: „Von Aufbruchstimmung und vom Glauben an die kurzfristige Überlegenheit und Durchsetzbarkeit der liberalen Idee war nur fünf Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wenig zu spüren", berichtete die NZZ über die Tagung in Cannes (Schwarz, 1994). Der Behauptung vom „Ende der Geschichte", wie sie der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1989 aufstellte, standen die Mitglieder der MPS äußerst skeptisch gegenüber. 101 Zu sehr ähnelte dies anderen teleologischen oder historizistischen Denkfiguren, wie sie einst Popper kritisiert hatte. Geschichte war nach neoliberalem Verständnis kein zielgerichteter Prozeß, der einmal an einen Schlußpunkt gelangen könne. Einige Neoliberale griffen Fukuyamas These von der „liberalen Demokratie" noch grundsätzlicher an. So geißelte Salin in seiner Ansprache als MPS-Präsident beim Treffen in Wien 1996 die ideengeschichtliche Konfusion von freiheitswahrendem Liberalismus und politischer Demokratie. Der Zusammenbruch des Marxismus 1989 habe keine Rückkehr zum klassischen Liberalismus gebracht, lediglich die Verbreitung der demokratischen Regierungsform. Die strikt individualistische Auffassung sei dabei überlagert von einer neuen kollektivistischen Vision. „Der Glaube an ,liberale Demokratie' als Brennpunkt der gesellschaftlichen Organisation ist eine gefährliche Zweideutigkeit, denn er vermengt den Liberalismus mit einem spezifischen Prozeß kollektiver Entscheidungsfindung" (Salin, 1996, S. 6).

,0 ° So erklärte Dlouhy bei einer regionalen MPS-Tagung in Potsdam 1999 in einem Rückblick auf die tschechische Erfahrung, die erste stürmische Phase der Liberalisierung sei richtig gewesen, dann aber die Privatisierung zu früh abgebrochen worden. Noch immer befänden sich zu viele marode Industriebetliebe und ebenso der Bankensektor mehrheitlich in Staatsbesitz. Ferner seien Fehler bei der makroökonomischen Steuerung gemacht worden. Nicht die Märkte, sondern die Politik habe vielfach versagt, meinte Dlouhy rückblickend (vgl. Schwarz, 1999). 101 Fukuyama erklärte in seinem vieldiskurierten Aufsatz, mit dem sich abzeichnenden Ende der Systemkonfrontation bliebe der „demokratische Liberalismus" als siegreiche Ideologie zurück und werde sich global durchsetzen. Trotz seiner Botschaft, daß ideologisch getriebene kriegerische Großkonflikte nun der Vergangenheit angehören würden, schloß Fukuyama seine Analyse mit einer pessimistischen Note. Das „Ende der Geschichte" bedeute auch das Ende von Literatur und Philosophie und des heroischen Strebens nach einer besseren Welt, meinte er. Alles menschliche Handeln werde sich in technisch-ökonomischem Problemlösen und Konsumismus erschöpfen. Die Aussicht auf „Jahrhunderte der Langeweile" könnte daher eine starke Sehnsucht nach einem Wiederbeginn der Geschichte auslösen (vgl. Fukuyama, 1989, S. 18). In seinem folgenden Buch „The End of History and The Last Man" führte er diesen Gedanken fort. Die Nietzsches „Zarathustra" endehnte Figur des „letzten Menschen" erschien keineswegs als selbstbestimmter Herr seines Schicksals, sondern kann als Typus des lauen, alle Emotionen und Herausforderungen meidenden Endprodukts wohlfahrtsstaatlicher Umsorgung durchaus kritisch gesehen werden (vgl. dazu Habermann, 1997a, S. 257-259).

462 • Wandlungen des Neoliberalismus Tatsächlich, so die Erklärung des zum libertären Flügel der Gesellschaft zählenden MPSPräsidenten, sei nicht der Liberalismus, wie ihn die MPS verstehe, sondern die Sozialdemokratie dabei, sich global zu etablieren. Triumphieren würde weltweit „die Kombination einer allmächtigen gewählten Regierung mit einer gemischten Wirtschaft", gekennzeichnet durch massive öffentliche Aktivitäten, hohe Besteuerung und umfassende Regulierung. Es bleibe also viel zu tun, meinte Salin: „Wir sind nicht am Ende der Geschichte der Mont Pèlerin Society" (ebd.). Oft gehört wurden in der MPS Warnungen vor einem unmerklich voranschleichenden Sozialismus. Weniger pessimistisch äußerte sich Friedman: Der Zusammenbruch des Sozialismus, also des ehemaligen Feindes im Kalten Krieg, habe zwar viele westliche Länder zu einer gewissen Selbstgefälligkeit verführt, meinte er beim Treffen der MPS in Vancouver zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. Wichtige Reformen seien dadurch aufgeschoben worden, doch nun war er wieder zuversichtlicher. Der Staat befinde sich nun fast überall auf dem Rückzug, die Bevormundung der Bürger nehme allmählich ab. „Der Sozialismus bröckelt", meinte er. Friedman beobachtete einen sich beschleunigenden Systemwettbewerb, verschärft durch neue Informations- und Kommunikationssysteme wie das Internet, aus dem freiheitlichere Systeme als natürliche Sieger hervorgehen müßten (vgl. Horn, 1999). Mitte der neunziger Jahre, wohl nachdem Salin in der MPS in wichtige Positionen gerückt war, machte sich verstärkt die libertäre Fraktion in der Gesellschaft bemerkbar. So beobachtete die NZZ eine „bemerkenswerte Öffnung der Mont Pèlerin Society gegenüber einer radikalen Staatskritik, die den Rahmen etwa des ordo-liberalen (und damit letztlich staatsbejahenden) Denkens sprengte" (Doering, 1993). Vertreten war dieses libertäre, anarchokapitalistische Spektrum zahlreich und mit bekannten Namen wie Murray Rothbard oder David Friedman. Die Realisierbarkeit etwa des freimütigen Vorschlags von Rothbard, den Staat gänzlich aufzulösen und alle seine Institutionen vollständig in Privateigentum zu überführen, wurde zwar angezweifelt, tendenziell stieß sie jedoch „auf Sympathie" (ebd.). Beim Treffen in Cannes im Herbst 1994 war als Gastredner auch Hans-Hermann Hoppe geladen, der mit radikal antiegalitären und demokratieskeptischen Äußerungen provozierte (vgl. Hoppe, 1994). Der Auftrieb der anarcho-kapitalistischen Fraktion in der MPS war jedoch begrenzt; die Anhänger Rothbards blieben eine kleine, wenn auch hörbare Minderheit. 102

7. Die MPS nähert sich dem Laissez-faire In den fünfzig Jahren des Bestehens der Gesellschaft hatte sich der Neoliberalismus unverkennbar weiterentwickelt und tendierte nun insgesamt wieder stärker zum Laissez-faire. Von 102 N a c h Rothbards T o d ü b e r n a h m H o p p e dessen Lehrstuhl an der Universität von N e v a d a in L a s V e g a s u n d etablierte sich als Leitfigur des kulturell konservativen Flügels der anarcho-kapitalistischen Libertären. In seinem B u c h „ D e m o c r a c y — T h e G o d T h a t Failed" hat er deren Staats- und Politikskepsis auf die Spitze getrieben u n d die D e m o kratie w e g e n des kurzen Zeithorizonts demokratisch gewählter Regierungen als ein eigentumsfeindliches u n d sozialkleptokratisches System dargestellt (vgl. H o p p e , 2001). A u s seinem U m f e l d gründete sich jüngst die Property and F r e e d o m Society. Sie steht in K o n k u r r e n z zur M P S , die m a n ablehnt, da sie „inzwischen v o n ,Neoliberalen' beherrscht [ist]; eine R i c h t u n g des Liberalismus, die mit d e m Sozialismus K o m p r o m i s s e einzugehen bereit ist" (Grözinger, 2006). Z u m Verhältnis v o n Liberalen u n d „Libertarians" vgl. H a b e r m a n n (1996).

Der Neoliberalismus an der Macht? • 463 den einstigen Zweifeln bezüglich der Stabilität eines nicht durch den Staat gesicherten Wettbewerbs war nur noch wenig zu spüren. Auch Hayek hatte seine Position hierzu geändert. Die MPS-Tagung in Cannes, das erste große Treffen seit Hayeks Tod im März 1992, stand ganz im Zeichen einer großen Rückschau auf sein philosophisches und wirtschaftswissenschaftliches Werk.103 Grundlegend war der Vortrag des Freiburger Institutionenökonomen Victor Vanberg, der eine „fundamentale Spannung" zwischen dem „rationalen Liberalismus" und „evolutionären Agnostizismus" in Hayeks Schriften diskutierte (Vanberg, 1994, S. 1). Hier wurden in einer großen Rückschau die verschiedenen Phasen in Hayeks liberalem Denken nachgezeichnet, die eine deutliche Wandlung erkennen ließen. Immer stärker hatte Hayek in seinen siebziger Jahren das Ordnungsprinzip des „Kosmos", der durch allgemeine Regeln garantierten offenen Handelnsordnung, betont; immer stärker und grundsätzlicher hatte er sich gegen das Prinzip der „Taxis", der auf bestimmte Ziele und Ergebnisse gerichteten Befehlsordnung, gewandt (vgl. Hayek, 1973/1980, S. 59). In seinem Spätwerk schien Hayek zu der Auffassung zu neigen, jeglicher Eingriff in das allgemeine Recht, auch wettbewerbspolitische Maßnahmen, zerstörten den freiheitlichen „Kosmos" (vgl. ebd., S. 75). Der Hayek der vierziger Jahre, der die MPS gegründet hatte, stand noch der ordoüberalen Sicht nahe, daß der Staat die Aufgabe habe, nach rationalen Erwägungen eine Wirtschaftsordnung zu etablieren, die einen freien Wettbewerb zur optimalen Befriedigung der Interessen aller Bürger ermögliche. Auch in der „Constitution of Liberty" betonte er noch, der „Nachdruck liegt auf der positiven Aufgabe der Verbesserung unserer Einrichtungen" (Hayek, 1960/1991, S. 5). Ab den späten sechziger Jahren sah er die Aussichten einer politischen Reform, einer rational und bewußt vorgenommenen Verbesserung von Institutionen, immer skeptischer.104 Mit sinkender Hoffnung auf die Fähigkeit des Staates, den Wettbewerb garantieren zu können und dies überhaupt zu wollen, kehrte er zurück zum älteren liberalen Vertrauen in die Selbsterhaltungskräfte des Wettbewerbs und näherte sich damit der Position an, die Mises stets vertreten hatte. In seinen späteren Schriften beschrieb Hayek den Marktprozeß als ein Spiel, in dessen Verlauf wohlstandssteigernde Lösungen entdeckt würden. Allerdings funktioniere das Spiel nur, wenn man nicht am Ende die Regeln des „Kosmos" willkürlich ändere oder aufhebe, indem die Ergebnisse des freien Tauschs entsprechend einer egalitären Auffassung von Gerechtigkeit korrigiert würden. Für Hayek stellte der Markt gerade deshalb eine Wohlstandsmaschine dar, da er verstreutes Wissen koordinieren und nutzbar machen konnte. Den Versuch einer genauen Zielvorgabe, einer „Taxis", bezüglich eines bestimmten Ergebnisses des Marktes betrachtete er damit als „Anmaßung von Wissen", die das wohlstandsschaffende Potential vernichte. Der evolu-

Dabei wurde ausführlich und teils auch kontrovers seine Theorie der spontanen Ordnung, der sozialen Evolution und der oft mißbrauchten Ethik der Umverteilung in der komplexen menschlichen Großgesellschaft erörtert (vgl. Barry, 1994; Radnitzky, 1994; Flex, 1994). Unterschiedliche Meinungen prallten aufeinander, als es um die Beurteilung von Hayeks Konjunkturtheorie und seine Erklärung der Ursachen der Großen Depression ging. Der Finanzanalyst Mark Skousen, später Präsident der FEE, erklärte seine Sympathie für die monetäre Überinvesdtionstheorie (vgl. Skousen, 1994). Darauf folgte aber scharfer Widerspruch prominenter Vertreter des Monetarismus wie Allan Meitzer, die Hayeks monetäres Konjunkturmodell, besonders sein strukturtheoretisches Buch „Prices and Production", für unbrauchbar hielten (vgl. dazu Skousen, 2005, S. 161). 104 Dabei spielte sicher eine Rolle, daß er erleben mußte, wie auch gutgemeinte Ordnungsentwürfe, etwa die westdeutsche Marktwirtschaft, zu einer regulierten und sozialistisch verformten Wirtschaft degenerierten. 103

464 • Wandlungen des Neoliberalismus torische Ansatz, den Hayek in seinen letzten Jahren immer radikaler verfolgte, schon in „Law, Legislation and Liberty" und besonders prononciert in „The Fatal Conceit", erschien in seiner extremen Variante aber problematisch, wenn der bedingungslose Glaube auf die Ergebnisse der institutionellen Entwicklung des Sozialwesens in ordnungspolitischen Agnostizismus mündet. Wie Vertreter des Ordoliberalismus kritisierte auch Buchanan einen überzogenen Glauben an das sozial-evolutorische Uberleben effizienter Institutionen: „Hayek mißtraut so sehr den bewußten Versuchen des Menschen, die Institutionen zu reformieren, daß er unkritisch die evolutorische Alternative akzeptiert" (Buchanan, 1975, S. 194). 105 Zudem läßt sich die ketzerische Frage stellen, ob denn das Zurückdrängen des „Kosmos" durch „Taxis" — etwa das ausgeprägte kollektive Sozialsystem, das praktisch alle westlichen Demokratien in den vergangenen fünfzig Jahren eingerichtet haben und nun zu verteidigen suchen — nicht auch eine Hervorbringung des evolutorischen Prozesses und somit zu akzeptieren sei (vgl. Böhm, 1996, S. 110-111). Angesichts des Problems, den Leviathan zu zügeln, haben sich in der MPS zwei Lager gebildet: Die einen sprechen in radikaler Weise dem Staat und der Politik (auch ihren demokratisch-kollektiven Entscheidungsmechanismen) jede Legitimität ab, Eingriffe in persönliche Entscheidungen vorzunehmen, und erwarteten nur Schlechtes und Wohlfahrtsminderndes von staatlicher Regulierung. Vertreter radikal-libertärer Ideen unterschieden nicht mehr zwischen ordnungs- und prozeßpolitischen Regelungen, die sie allesamt ablehnten. Die anderen suchen den Staat wieder in den Bereich der Legitimität zurückzuholen, indem sie Reformen der kollektiven Entscheidungsmechanismen entwerfen, etwa durch höhere Quoren für politische Beschlüsse oder die Maßgabe, daß alle Eingriffe nichtdiskriminierend wirken müssen, und somit Reformen der „rule o f law" nur vorgenommen werden, wenn sie die Wohlfahrt aller mehren. Die Vertreter des ersten Ansatzes neigen zur Verklärung einer anarcho-kapitalistischen Utopie; die Vertreter des zweiten Ansatzes streben danach, die ordoliberale Utopie durch Präzisierung zu retten. Beim „Golden Anniversary Meeting" der MPS 1998 in Washington versuchte Vanberg den Brückenschlag von der radikal-libertären zur ordoliberalen Position. Gab es überhaupt noch eine Hoffnung auf eine „rationale Regulierung", also auf Schaffung eines Ordnungsrahmens zur Sicherung des wettbewerblichen Marktes, lautete seine Frage. Eingangs erinnerte er an die denkwürdige Kontroverse zwischen Mises und Eucken, zwischen der radikal-liberalen und ordo-liberalen Ansicht zum Monopolproblem, beim MPS-Treffen in Seelisberg rund ein halbes Jahrhundert zuvor, die Röpke damals als typisch für die Spannung im Neoliberalismus bezeichnet hatte. Obwohl die Illusionen einiger früher Neoliberaler widerlegt worden seien, daß staatliche Wettbewerbspolitik tatsächlich mehr Wettbewerb bedeute, dürfe man nun nicht ins andere Extrem verfallen, den Markt als ein Spiel völlig ohne Regeln zu preisen, warnte Vanberg. Zwar seien bei der Etablierung von Regeln stets Informationsund Anreizprobleme in der Politik zu berücksichtigen. Der Gefahr, daß Interessengruppen den legislativen Prozeß zu ihrem Vorteil lenkten, müsse durch geeignete konstitutionelle

105 Solchen Vorwürfen entgegnete Hayek (1988/1996, S. 25): „Ich habe nicht die Absicht, dem genetischen oder naturalistischen Trugschluß - wie das oft genannt wird - zu erliegen. Ich behaupte nicht, daß die Ergebnisse der Gruppenselektion von Traditionen notwendigerweise ,gut' sind — so wenig, wie ich behaupte, daß andere Dinge, die im Laufe der Evolution lange überlebt haben, wie etwa Küchenschaben, einen moralischen Wert hätten."

Der Neoliberalismus an der Macht? • 465 Reformen entgegengewirkt werden. Trotz aller Schwierigkeiten bleibe damit die Suche nach einer wettbewerblichen Wirtschafts- und Sozialordnung, wie sie einst die Freiburger Schule entworfen habe und an der nun die „Constitutional Economics" von Buchanan arbeitete, die zentrale Frage eines Liberalismus, der die freie Entscheidung von Individuen respektiere (ebd., S. 6-24). Auch Hayek, darauf bestand Yanberg, hätte trotz seiner im Alter immer stärker hervorgetretenen Neigung, allein einer ungelenkten, spontanen Ordnung die Kraft zu institutionellen Höherentwicklungen zuzugestehen, stets einen Rahmen für die sozialen Evolutionsund Selektionsprozesse mitgedacht. Diese Metaregeln entstünden aus „rationalen Inputs", die sich im Entdeckungsverfahren des Wettbewerbs bewährt hätten. Sie seien auch grundsätzlich einer rationalen Erörterung nicht entzogen, etwa die Bestimmung, daß inakzeptable Strategien des Systemwettbewerbs, wie physische Gewalt, ausgeschlossen bleiben müßten (vgl. Vanberg, 1994, S. 22-25). Solche sehr grundsätzlichen Erörterungen im Kreise der MPS berührten die Fundamente neoliberalen Denkens. Die anspruchsvolle Argumentation, mit der eine staatliche Rahmensetzung nur mehr ganz abstrakt auf einer Metaebene befürwortet wurde, zeigte zugleich, wie stark der Neoliberalismus sich in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts gegenüber seinen Ursprüngen in der Krise der dreißiger und vierziger Jahre gewandelt hatte.

X. Resümee und Ausblick Sechzig Jahre nach Gründung der MPS kann Bilanz gezogen werden. Ihre Entwicklung kannte Höhen und Tiefen, ihre Ausstrahlung hat zweifelsohne zugenommen. Dominiert heute die neoliberale Wirtschaftsphilosophie? Bestimmt sie die Politik, wie auf der Linken beklagt wird? Oder orientiert sich die Politik in den westlichen, industrialisierten Staaten doch immer noch am sozialdemokratischen Modell, wie MPS-Mitglieder behauptet haben? Diese Fragen lassen sich nur annähernd beantworten, wenn die langfristige historische Perspektive beachtet wird. Nicht allein der Vergleich mit der Situation von 1947, dem Gründungsdatum der MPS, sondern der Blick weiter zurück in die vergangene liberale Ära ist dabei instruktiv. Gemessen an den politischen Programmen und philosophischen Idealen der Jahre vor 1914 scheinen die heutigen Wirtschafts- und Sozialordnungen in den westlichen, industrialisierten Staaten doch eher den Vorstellungen der Sozialdemokraten als denen der Liberalen zu entsprechen. Die Blütezeit des historischen Liberalismus mit seiner weitgehend unregulierten Wirtschaft endete mit dem Ersten Weltkrieg. 1914 brach die alte liberale Ordnung zusammen, und kollektivistische Ideologien fanden in der Folge immer größere Anhängerschaft. Während der Großen Depression erreichte das Mißtrauen gegen den Markt einen Höhepunkt. Allgemein wurde der „Kapitalismus", also die auf Privateigentum und wettbewerblicher Selbstregulierung ökonomischer Aktivitäten beruhende Wirtschaftsordnung, mit Chaos, Arbeitslosigkeit und Verelendung gleichgesetzt. Die öffentliche Meinung und auch die Mehrheit der Ökonomen zogen aus dem behaupteten Scheitern der Marktwirtschaft ihre Schlüsse: Anstelle der dezentralen Koordination ökonomischer Aktivitäten über den freien Preismechanismus setzten sie nun auf staatliche Lenkung, die eine rationalere Allokation von Ressourcen garantieren sollte. Alle westlichen Regierungen, demokratische wie diktatorische, begannen eine weitgehend staatliche Lenkung des Faktoreinsatzes schon vor und besonders im Krieg, als es um die Konzentration aller Kräfte auf ein militärisch definiertes Ziel ging. Angesichts der weit fortgeschrittenen Bürokratisierung großer Teile der industriellen Wirtschaft prophezeiten auch bürgerliche Ökonomen wie Schumpeter einen unvermeidlichen „Marsch in den Sozialismus". Die dreißiger und vierziger Jahre markierten damit die kritischste Phase der Entwicklung des Liberalismus, der nunmehr ums Überleben zu kämpfen hatte. Auch unter den verbliebenen liberalen Ökonomen wuchsen die Zweifel; das einstige Vertrauen auf das Wirken der „unsichtbaren Hand" war dahin. Die Geburt des Neoliberalismus vollzog sich mithin aus dem Geist der Krise. Der beim Colloque Walter Lippmann begonnene und in der Mont Pèlerin Society weiterentwickelte neoliberale Ansatz stellte den wissenschaftsstrategischen Versuch dar, Konsequenzen aus dem Niedergang des historischen Liberalismus zu ziehen und von dessen Substanz zu retten, was zu retten war. Die Zahl der Ökonomen, die nach Depression und Weltkrieg noch von der Überlegenheit des Marktes als wirtschaftlichem Ordnungsprinzip überzeugt waren, erschien 1947 verschwindend klein. Hayeks für die MPS vorgesehene Strategie betonte den Primat der intellektuellen Arbeit vor der direkten politischen Auseinandersetzung. Als „war of ideas" haben führende Neoliberale ihre Arbeit rückblickend bezeichnet (vgl. Blundell, 2001). Nach einer im Kreise der MPS oft zitierten Formulierung von Warren Nutter war „saving the books" die dringlichste Aufgabe in den

468 • Wandlungen des Neoliberalismus fünfziger Jahren. Im Kreis von Gleichgesinnten hoffte man, die Grundlagen der eigenen marginalisierten Denkrichtung konstruktiv-kritisch diskutieren zu können. Die MPS erfüllte diese Funktion als Notgemeinschaft. Hier sammelten sich die wichtigsten Intellektuellen, die durch Forschung und Publikationen die Fundamente eines erneuerten Liberalismus zu erarbeiten begannen. Gegen den Trend der westlichen Welt, wo sich allgemein ein keynesianisch-wohlfahrtsstaatlicher Konsens bildete, entwickelten sie neoliberale Positionen. Vereinzelt gelang es politisch engagierten MPS-Mitgliedern, marktwirtschaftliche Reformen durchzusetzen. Insbesondere die von Erhard 1948 begonnene Rückkehr zur Marktwirtschaft in Westdeutschland war ein wichtiges Signal gegen den Zeitgeist. Die Vernetzung der deutschen Vordenker dieses Experiments mit gleichgesinnten Intellektuellen in der MPS, die Erhard durch wissenschaftliche und publizistische Arbeiten den Rücken stärkten, trug dazu bei, daß der anfangs heftig umstrittene Wirtschaftsminister seinen Kurs halten konnte. Allerdings sollten die Bedeutung der MPS als Organisation und ihre Ausstrahlung in den politischen Raum während der fünfziger und sechziger Jahre nicht überbewertet werden. So bemerkte auch Hayek, daß Erhard und seine Mitstreiter zwar einige Kraft aus dem Gefühl gezogen haben, Teil einer internationalen Bewegung zu sein. „Aber ich wage nicht zu sagen, daß die Dinge sich sehr anders entwickelt hätten, falls die Mont Pèlerin Society niemals existiert hätte. Ich weiß es nicht" (Hayek, 1972/1973, S. 6). Bedeutend wurde die transnationale Kooperation neoliberaler Ökonomen in der MPS erst in den späten sechziger und siebziger Jahren, als der keynesianisch-wohlfahrtsstaatliche Konsens in der westlichen Welt angesichts der Probleme der Stagflation in eine Krise geriet. Nun konnten die Neoliberalen in die Offensive gehen. Die Vernetzung über die MPS und weitere Institutionen wie das Londoner IEA, ermöglichte ihnen, ihre Wirkung durch geschickte Bündelung der Kräfte zu erhöhen. Wäre die MPS nie gegründet worden, so ist anzunehmen, daß die neoliberale Bewegung die Gunst dieser Umbruchzeit nicht derart hätte nutzen können. Langjährige persönliche Bekanntschaften und Freundschaften, die auf Treffen der MPS geschlossen wurden, halfen dabei, den wissenschaftlichen Gegenangriff auf den keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Konsens zu koordinieren; zu diesem Zweck wurden theoretische und methodische Differenzen, die innerhalb der MPS durchaus existierten, hintangestellt. Die in den siebziger Jahren neu gegründeten neoliberalen Think Tanks konnten dank ihrer Einbindung in das MPS-Netzwerk sofort auf renommierte akademische Beiräte und Mitarbeiter zurückgreifen. Damit fungierte die MPS zunehmend als wissenschaftliche Dachorganisation mit zahlreichen politiknahen „Filialen". Besonders in den angelsächsischen Ländern gelang so in den achtziger Jahren ein bemerkenswerter politischer Durchbruch. Was vielfach als „neoliberale Revolution" bezeichnet wurde, muß in einer längeren historischen Perspektive relativiert werden: Die Regierungen Thatcher und Reagan, an denen MPS-Mitglieder in beratender oder politischer Funktion erheblichen Anteil hatten, konnten auf einigen wichtigen Gebieten spektakuläre Reformen durchsetzen. Eine große historische Umkehr, das vielbeschworene „roll back the State", gelang aber nicht. Zwar hatten neoliberale Intellektuelle im krisenhaften Kontext der siebziger und achtziger Jahre durch intellektuelle Uberzeugungsarbeit einen Teil der Eliten auf ihre Seite ziehen können. Geschickte Kommunikatoren wie Thatcher und Reagan popularisierten die neoliberale

Resümee und Ausblick • 469 Vision einer von privater Initiative getragenen Gesellschaft, deren teilweise politische Umsetzung auch eindrucksvolle wirtschaftliche Erfolge zeitigte. Trotz dieses Aufschwungs in den achtziger Jahren konnte der Neoliberalismus aber keine politische Massenbasis aufbauen, die etwa der des Sozialismus ab dem späten neunzehnten Jahrhundert vergleichbar gewesen wäre. Die starke Stellung der MPS-Intellektuellen erwies sich somit als temporär und an die personalen Konstellationen der Thatcher- und Reagan-Regierungen geknüpft. Als diese Uberzeugungspolitiker abtraten und eher pragmatische Konservative wie George H. Bush oder John Major an die Spitze kamen, verlor die von der MPS intellektuell geführte neoliberale Bewegung wieder an Schwung. Trotz dieser Einschränkungen ist festzustellen, daß der von MPS-Mitgliedern im akademisch-publizistischen Raum vorbereitete und in die Politik getragene Klimawandel deutliche Spuren in der ideologischen Landschaft hinterließ. Die Regierungswechsel in den angelsächsischen Ländern sowie der Zusammenbruch des Sozialismus im Ostblock markierten insgesamt eine Trendwende zu mehr Markt und weniger Staat. Um einen möglichst objektiven Maßstab zur Beurteilung der Entwicklung der wirtschaftlichen Freiheit zu erhalten, hat das Fräser Institute ab Mitte der achtziger Jahre das Projekt „Economic Freedom of the World" entwickelt.1 Ungeachtet aller methodischen Probleme, die der Versuch einer Quantifizierung der freiheitlichen Qualitäten von rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen mit sich bringt, zeigt der EF-Index tendenziell höhere oder niedrigere Grade wirtschaftlicher Freiheit an und erlaubt damit vergleichende Aussagen. So verbesserten sich die Werte für die Vereinigten Staaten, für Großbritannien und Neuseeland ab den achtziger Jahren erheblich, während Deutschland stagnierte. Im weltweiten Durchschnitt waren bis Mitte der achtziger Jahre kaum Veränderungen festzustellen, im Jahrzehnt danach nahm der Grad der wirtschaftlichen Freiheit zu. Bedingt war dies vor allem durch den globalen Rückgang der Inflation, eine Liberalisierung von Geld- und Kapitalmärkten sowie Senkungen von Spitzensteuersätzen und Aufhebung von Zollbarrieren (vgl. Gwartney/Lawson/Block, 1996, S. 80-84). Relative Fortschritte machten ab Mitte der achtziger Jahre einige asiatische sowie südamerikanische Staaten, nach dem Fall der Mauer kam die umwälzende Transformation des ehemaligen Ostblocks hinzu. Angesichts des dortigen Untergangs des Sozialismus und des Aufschwungs, den einige eher marktwirtschaftlich orientierte Länder genommen haben, häufen sich schrille Warnungen vor einem entfesselten Kapitalismus. Die „Globalisierung", also die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung und grenzüberschreitende Arbeitsteilung, wird links wie rechts als Gefahr dargestellt. Obwohl die Globalisierung vornehmlich auf technische Ursachen zurückgeht (neue elektronische Informations- und Kommunikationsmittel sowie verbilligte Transport-

1 Ausgangspunkt war eine Bemerkung von Friedman auf dem MPS-Treffen 1984 in Cambridge zum wechselseitigen positiven Verhältnis von politischer und ökonomischer Freiheit. In der Folge begann das Fräser Institute mit fachlicher Beratung von Friedman und anderen MPS-Mitgliedern einen aus anfangs 17, später 38 Komponenten bestehenden Index zu erstellen, der „Economic Freedom", also den Grad der wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten der Bürger, die Sicherheit der Eigentumsrechte und die Offenheit der Märkte in verschiedenen Staaten nicht subjektiv einschätzen, sondern empirisch messen soll (vgl. Walker, 1996). Die zur Berechnung des Index verwendeten Variablen stammen aus vier Hauptkategorien, den Bereichen Geld und Inflation, Staatstätigkeit und Regulierung, Besteuerung und Transfer sowie der grenzüberschreitenden Handlungsfreiheit (vgl. dazu Gwartney/Lawson/Block, 1996, S. 14-41). Im weitesten Sinn versucht der Index damit, die vielen Facetten des Konzepts der „property rights" abzubilden.

470 • Wandlungen des Neoliberalismus möglichkeiten, also stark sinkende Transaktionskosten) und gerade auch die Entwicklungsländer in der W T O den Abbau von Zollschranken fordern, wird sie als perfider, politisch in Gang gesetzter Prozeß zur Ausbeutung der Entwicklungsländer und Arbeitnehmer bekämpft (vgl. etwa Chomsky, 1999). Zumeist greifen die Kritiker auf ältere sozialistische Konzepte zurück, oft auf die Theorie eines „Imperialismus" durch global tätige Konzerne, die als Feindbild mit dem „Neoliberalismus" verschmelzen. 2 Die Tatsache, daß durch die Teilhabe am Welthandel einige Entwicklungsländer einen großen Aufschwung genommen haben und ihre Pro-Kopf-Einkommen hohe Wachstumsraten verzeichnen, wird meist ignoriert (vgl. dazu Wohlgemuth, 2004, S. 31). 3 Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die Weltbank, die weithin als Treiber der Globalisierung gelten, werden aber auch von manchen Neoliberalen kritisch gesehen. Wie linke Globalisierungsgegner, jedoch mit anderer Begründung, haben MPSMitglieder besonders dem IWF eine Mitschuld an den Währungskrisen und Börsenkrächen in Rußland und Asien in den späten neunziger Jahren gegeben: Die Kreditvergabe und Stützungspolitik des IWF setze falsche Anreize zu verantwortungslosem, übermäßig riskantem Verhalten („moral hazard"), so der Vorwurf. Einige MPS-Okonomen erhoben daher die Forderung nach Abschaffung des IWF (vgl. Horn, 1998; Schwarz, 1998b). Der von liberalen Ökonomen seit David Hume und Adam Smith verteidigte Satz, daß Handel kein wirtschaftliches Nullsummenspiel ist und vertiefte internationale Arbeitsteilung zu Produktivitätszuwächsen führt, also allen Gewinn bringt, stößt heute teilweise wieder auf taube Ohren. Auf Seiten der gewerkschaftlichen Globalisierungskritiker der westlichen Länder wird dagegen eine doppelzüngige Argumentation gepflegt: Vorgeblich werden „menschenunwürdige" niedrige Löhne in den neu in den Wettbewerb tretenden Entwicklungsländern beklagt, tatsächlich geht es um Besitzstandswahrung gut organisierter Interessengruppen in den alten Industrieländern. 4 Zudem scheint vielen westlichen Kritikern der Globalisierung nicht klar zu sein, daß sie selbst den Prozeß als Konsumenten unterstützen und durch ihre Kaufentscheidungen vorwärtstreiben. Die Verlagerung von arbeitsintensiven Produktionen in kostengünstigere Standorte geschieht letztlich auf Druck der Verbraucher, die preiswerte Produkte, etwa billige Textilien oder Elektrogeräte, nachfragen. Freihandel und wirtschaftliche Integration bieten nach Uberzeugung der in der MPS vertretenen Neoliberalen langfristig Chancen für jene, die sich der Herausforderung des globalen Marktes stellen, sowie Risiken für jene, die sich dem Wandel verschließen. In einem Aufsatz über die klassisch-liberale Bewegung in den Vereinigten Staaten des letzten halben Jahrhunderts hat Buchanan es als deren Versäumnis bezeichnet, keine die Massen in-

Nur wenige Außenseiter der Diskussion wie Walter Oswalt, der Enkel Walter Euckens, beziehen eine kritische Position zu global starken Unternehmen unter Rückgriff auf frühe ordoliberale Argumente. Das Aufkommen großer muldnationaler Konzerne wertet er als in wirtschaftlicher wie auch demokratiepolitischer Hinsicht gefahrliche Machtballung in privater Hand, deren Entstehung durch Änderungen des Patent-, Steuer- und Markenrechts sowie durch Eingriffe des Kartellamtes zu verhindern sei (vgl. Oswalt, 1999, S. 79-85). 3 Ebenso werden die statistischen Tests nicht zur Kenntnis genommen, die eine starke und stabile Korrelation zwischen dem Maß der institudonell garantierten und politisch respektierten wirtschaftlichen Freiheit einerseits und dem wirtschaftlichen Wohlstand eines Landes anderseits belegen (vgl. Gwartney/Lawson, 2004, S. 220-231). 4 Würde der Welthandel durch protektionistische Maßnahmen stranguliert, so fielen viele Beschäftigungsmöglichkeiten in den Entwicklungsländern wieder weg. 2

Resümee und Ausblick • 471

spirierende Vision einer freiheitlichen Gesellschaft entwickelt zu haben. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts etwa begeisterte die Freihandelsidee die britische Arbeiterschaft. Die von Cobden und Bright in Manchester begründete, bald national ausgeweitete Bewegung zur Aufhebung der protektionistischen „Corn Laws" sprach gerade die Arbeiter und ihre Familien unmittelbar an, da sie eine Hebung des realen Lebensstandards durch günstigeren Import von Nahrungsmitteln versprach. Eine solche Massenbewegung für wirtschaftsliberale Ziele gibt es heute nicht, eher das Gegenteil. Befriedigt über den Wahlsieg Reagans, so klagte Buchanan, seien die Liberalen in den achtziger Jahren „buchstäblich ,schlafen gegangen' ... und haben nach dem Tod des Sozialismus weiter geschlafen. Das Ergebnis ist, daß die öffentliche Meinung heute mehr durch den Versorgungsstaat oder durch paternalistische, rentensuchende, merkantilistische Regime geprägt ist als durch liberale Ideale" (Buchanan, 2002).5 Der Weg der marktwirtschaftlichen Reformen der achtziger Jahre, die den Kern der kollektiv umlagefinanzierten staatlichen Wohlfahrtssysteme nicht angetastet hatten, wurde in den neunziger Jahren kaum weiter beschritten. Thatchers und Reagans Wirtschaftspolitik legte noch das Fundament des Aufschwungs der neunziger Jahre, die Wähler wandten sich aber wieder Politikern zu, die mehr „sozialen Ausgleich" versprachen. Obwohl der von Bill Clinton und Tony Blair propagierte „Dritte Weg" von linksstehenden Intellektuellen zuweilen als „neoliberal" tituliert wird, stellte er den Versuch dar, den Wohlfahrtsstaat effizienter zu machen und damit zu erhalten, indem zwar ökonomische Anreize stärker beachtet wurden, man jedoch grundsätzlich dem Prinzip der kollektiven staatlichen Hilfe verhaftet blieb. Tendenziell wuchs in den angelsächsischen Ländern zwar der Rechtferdgungsdruck für die Befürworter staatlicher Aktivität. Eine substantielle Rückverlagerung von Verantwortung an die Individuen war aber nicht vorgesehen. Der marktliberale Aufbruch, den der von Newt Gingrich geführte republikanische Kongreß zur Mitte der neunziger Jahre versprach, blieb Episode, wenn er auch Clintons Entscheidung für eine Reform des Sozialsystems, die Ablösung des Prinzips „welfare" durch das Prinzip „workfare", also stärkere Anreize und mehr Druck zur Arbeitsaufnahme, beeinflußt haben mag. Inzwischen hat unter George W. Bush der wirtschaftsliberale Flügel der republikanischen Partei dramatisch an Einfluß verloren. Im Gegensatz zu der im Wahlkampf angeklungenen Möglichkeit einer Teilprivatisierung des Sozialsystems hat der Präsident das staatliche Gesundheitssystem erheblich aufgestockt; bei beiden Parteien im Kongreß gab es Bestrebungen für eine nationale Mindestlohngesetzgebung und Zölle gegen billige chinesische Importe. In der Presse gab es daher Kommentare, die das Ende der „Libertären" als nennenswerter politischer Kraft verkünden (vgl. etwa Lind, 2006). Kritischer noch stellt sich die Situation in Deutschland dar, wo die große Koalition unter Angela Merkel tiefgreifende Reformen zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes scheut und

5 Zu fragen wäre etwa, weshalb in der EU nicht eine ähnlich breite Bewegung wie vor 150 Jahren zur Beendung der teuren protektionistischen Agrarpolitik entsteht. Ist die Hürde, eine auf das allgemeine Interesse gerichtete private „kollektive Aktion" zu mobilisieren, wie sie Olson (1982, S. 17-35) beschrieben hat, tatsächlich unüberwindlich? Bislang verharren die europäischen Verbraucher und Steuerzahler in „rationaler Ignoranz" und scheinen sich nicht dafür zu interessieren, daß die gegenwärtigen Preise für Lebensmittel bei einer Angleichung an die Weltmarktpreise um ein Drittel oder die Hälfte sinken könnten.

472 • Wandlungen des Neoliberalismus den sich abzeichnenden Kollaps der umlagefinanzierten Sozialsysteme mit einer Anhebung von Steuern und Beiträgen abzuwenden hofft. Statt mehr individuelle Verantwortung und Vorsorge einzufordern und die Vielzahl an Subventionen und Transfers nach Sparpotenualen zu durchforsten, hat die mit dem Versprechen „Mehr Freiheit wagen" angetretene Kanzlerin die größte Steuererhöhung seit 1949 verfügt und geht den Weg weiter steigender Staatsausgaben und Staatsschulden. Deutschland war in der Dekade um die Jahrtausendwende das europäische Schlußlicht beim Wachstum und lag bei der jährlichen Neuverschuldung mit an der Spitze. Eine bedrückend hohe Arbeitslosigkeit von Anfang 2006 mehr als 5 Millionen bedeutet hohe menschliche und ökonomische Kosten. Zwar hat die gute Konjunktur der Jahre 2006 und 2007 die Zahl der Erwerbslosen auf gut 3,5 Millionen gesenkt, doch zugleich ist die diffuse Krisenstimmung, die radikale Reformen eher begünstigte, im Aufschwung wieder dem Ruf nach mehr Umverteilung gewichen. Die Deutschen schrecken vor Stukturreformen zurück; eine Umkehr zur Marktwirtschaft von Ludwig Erhard wird als unsozial abgelehnt. Nach demoskopischen Erhebungen des Allensbacher Instituts hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten ein erheblicher Wertewandel vollzogen: Das Ideal der persönlichen Freiheit, verstanden als wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, hat dramatisch nachgelassen gegenüber dem Wunsch nach kollektiver, staatlich garantierter Sicherheit und Gleichheit. Entschieden sich die Westdeutschen, vor die Alternative von Freiheit oder Gleichheit gestellt, 1976 noch zu fast zwei Dritteln „im Zweifel für die Freiheit" und weniger als ein Drittel „im Zweifel für die Gleichheit", so holte das Lager der Gleichheit erst langsam, ab den neunziger Jahren deutlich auf. Zur Jahrtausendwende betrug der Abstand der Befürworter der Freiheit vor der Gleichheit nur noch wenige Prozent. 6 Insgesamt erscheint die Bereitschaft der Deutschen, mehr Freiheit zu wagen, nach diesen demoskopischen Befunden sehr gering, wenn auch in jüngster Zeit die Wertschätzung der individuellen Freiheit wieder etwas an Boden gewonnen hat (vgl. Petersen/Mayer, 2005, S. 59-67). Sechzig Jahre nachdem Erhard, unterstützt von MPS-Okonomen, eine wirtschaftsliberale Wende einleitete und diese als „Soziale Marktwirtschaft" bezeichnete, überwiegt in der Bevölkerung der Wunsch nach einer weitgehend sozialstaatlich überformten Wirtschaft. Nach Meinung von 56 Prozent der Bürger herrscht in jenem Staat „mehr Gerechtigkeit", der sich um die Bürger „kümmert" und in die Wirtschaft „eingreift", während nur 21 Prozent dies von einem Staat erwarten, der nur eine soziale Grundsicherung bietet und sich ansonsten aus der Wirtschaft heraushält. Noch mehr gibt zu denken, daß eine Mehrheit von 44 gegen 31 Prozent der Deutschen heute der Ansicht ist, in dem Staat, der sich „kümmert" und „eingreift", sei auch der Wohlstand am größten. Den paternaüstischen Staat hält die übergroße Mehrheit von 65 Prozent für „menschlicher" (vgl. ebd., S. 76-77). Offensichtlich haben die volkspädagogischen Bemühungen wirtschaftsliberaler Persönlichkeiten wie Erhard, Röpke, Rüstow und Müller-Armack, die in den fünfziger und frühen sechziger Jahren die öffentliche Meinung noch in hohem Maße prägen konnten, keine dauerhaften Erfol-

6 In den mittel- und ostdeutschen Bundesländern, der ehemaligen DDR, wirkt die lange sozialistische Prägung fort: A u f eine kurze Freiheitseuphorie nach dem Fall der Mauer folgte die große Ernüchterung ob des ausgebliebenen Aufschwungs. A b Anfang der neunziger Jahre dominierte dann der Wert der Gleichheit mit großem Abstand vor dem Wunsch nach Freiheit.

Resümee und Ausblick • 473

ge erzielt. Der Unterschied zwischen Ordnungspolitik, die den Rahmen für wirtschaftliches Handeln schafft, und Prozeßpolitik, die punktuell und oft widersprüchlich interveniert, wird weithin nicht verstanden. Der Begriff „neoliberal", den diese Männer als Selbstbezeichnung wählten, ist heute bei vielen zu einem Schimpfwort verkommen. Eine „neoliberale Politik" steht als Synonym für „soziale Kälte", während der Wohlfahrtsstaat trotz aller Probleme noch als wärmendes Nest geschätzt wird. Allerdings ist es eine trügerische Sicherheit, deren Kosten geschickt verschleiert werden.7 Bedenkt man die prekäre finanzielle Lage des Wohlfahrtsstaats, so erscheint er nicht mehr als Absicherung vor künftigen, unabwägbaren Risiken, sondern als Falle für kommende Generationen. Der Schuldenberg liegt mit offiziell mehr als 1,5 Billionen Euro knapp unter der Marke von 70 Prozent des BIP. Hinzu kommen die impliziten Schulden, also die ungedeckten Verbindlichkeiten der staatlichen Renten- und Sozialversicherungssysteme, die der Sachverständigenrat auf bis zu 270 Prozent des BIP geschätzt hat. Man lebt von der Substanz und auf Kosten der Zukunft. Mit der Verlagerung von Lasten auf kommende Generationen hat der umverteilende Staat diejenigen als Opfer gewählt, die sich am wenigsten wehren können, denn Kinder und Ungeborene haben bei Wahlen keine Stimme.8 Mangels einer Bündelung der zahlreichen Steuern, Transfers, Beihilfen und Subventionen in den westlichen Wohlfahrtsstaaten ist kaum durchschaubar, welche Kosten die Bürger für den vermeintlichen Nutzen der „sozialen Sicherheit" zu tragen haben. Wie frühe Kritiker des Wohlfahrtsstaats, etwa Röpke, warnten, schaufelt eine unübersehbare Sozialbürokratie jährlich Beträge von Hunderten von Milliarden Euro zwischen verschiedenen Bevölkerungsund Interessengruppen hin und her, wobei gewaltige Reibungsverluste entstehen und der Kreis der Begünstigten sich immer weniger mit dem Kreis der Bedürftigen deckt. Von Seiten der Profiteure dieses Systems wird überhaupt nicht gewünscht, die große Umverteilungsmaschine transparenter zu gestalten. Schuld am Wuchern dieses Umverteilungsapparates ist, wie die „Public Choice"-Theorie betont, die fatale Asymmetrie im politischen Spiel der Demokratie zugunsten von Gruppen, die sich gut organisieren lassen und erfolgreich um Privilegien werben, während die breitere Öffentlichkeit nur geringere Anreize hat, sich zu informieren, wie ihre Steuergelder letztlich verwendet werden. Sie verharrt in „rationaler Ignoranz" und überläßt das Feld konkurrierenden Partikularinteressen. So tendieren demokratische Systeme dazu, immer mehr Energie in den politischen Kampf um die Verteilung des Kuchens zu stecken, statt das Wachstum des Kuchens durch moderate Besteuerung zu fördern. Um dieser fatalen Logik von Umverteilung und Verschuldung zu entkommen, wären Verfassungsänderungen notwendig. Nur konstitutionelle Schranken könnten den redistributiven Impulsen der Demokratie dauerhaft Grenzen setzen. Mitte der achtziger Jahre gab es in den Vereinigten Staaten Statt über Steuern und Abgaben finanziert sich der Wohlfahrtsstaat zu einem erheblichen Teil diskreter über Staatsverschuldung; Seit 1970 hatte der deutsche Staat in keinem einzigen Jahr einen ausgeglichenen Haushalt. 8 Zudem gibt es in der umlagefinanzierten Rentenversicherung eine intragenerationale Umverteilung zulasten kinderreicher Familien: Während die Eltern die Kosten der Erziehung weitgehend selbst tragen, werden die späteren Beiträge des Nachwuchses über die Rentenkasse sozialisiert. So ist äußerst fragwürdig, worin die „Gerechtigkeit" des gegenwärtigen Systems bestehen soll, das zudem einen negativen demographischen Anreiz setzt und sich damit selbst die Grundlage entzieht (vgl. Plickert, 2004). 1

474 • Wandlungen des Neoliberalismus

emstzunehmende politische Bestrebungen, einen Zusatz in die Bundesverfassung aufzunehmen, der eine Pflicht zu ausgeglichenen Staatshaushalten und damit ein Verbot der Neuverschuldung vorsah. Ihr Scheitern war wohl die strategisch schwerwiegendste Niederlage der amerikanischen MPS-Mitglieder. Ohne konstitutionelle Schranken, eine Selbstbindung der Politik gegen opportunistisches Ausgabenverhalten, fällt es auch bemühten Politikern äußerst schwer, das Wachstum der Staatsausgaben zu kontrollieren. Bereits im Herbst 1980, also kurz vor dem Machtwechsel zu Reagan, hatte Buchanan seine Verbündeten in der MPS gewarnt: „Die Wahl .besserer' Politiker und ,besserer' politischer Parteien mag wenig an den Resultaten ändern, bedenkt man die strukturellen Gegebenheiten des fiskalischen Prozesses und die inhärente Monopolmacht moderner Regierungen" (Buchanan, 1980, S. 17). Es wäre eine Selbsttäuschung anzunehmen, das gegenwärtige Umverteilungs- und Regulierungsregime schränke lediglich die finanziellen und wirtschaftlichen Handlungsspielräume der Bürger ein, beachte im übrigen aber liberale Prinzipien und lasse die bürgerliche Privatsphäre und Zivilgesellschaft unberührt. Zunehmend sind auch Aspekte der persönlichen Moral, der Meinungsfreiheit und des Sozialverhaltens betroffen. In seiner Untersuchung zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates seit den Anfangen im achtzehnten Jahrhundert hat Gerd Habermann als Unterschied zwischen dem älteren und dem gegenwärtigen Wohlfahrtsstaat festgestellt, daß ersterer den Lebenswandel der Untertanen reglementierte, um sie zum Gebrauch der Freiheit zu erziehen, wogegen letzterer eine moralische Erziehung der Sozialleistungsempfanger unterlasse und von dauerhafter sozialer Unmündigkeit ausgehe (vgl. Habermann, 1997a, S. 356-357). Diese Feststellung ist zwar richtig, sie muß aber ergänzt werden. Seit den sechziger Jahren ist der Trend offenkundig, daß mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats in westlichen Ländern nicht mehr nur das Ziel einer materiellen Absicherung und Egalisierung verfolgt wird, sondern auch progressives „social engineering" verbunden ist. Indem der Staat bestimmte Bevölkerungsgruppen als „Opfer der Gesellschaft" definiert und durch Zuwendungen begünstigt, greift er in die Gesellschaftsstruktur ein und verändert soziale Muster und Normen.9 In den vergangenen Jahrzehnten hat der Begriff der „Bürgerrechte" oder „Menschenrechte" eine weitgehende Umwertung erfahren: Waren sie im alten liberalen Sprachgebrauch als Abwehrrechte gegen den Staat definiert, werden sie zunehmend als soziale Anspruchsrechte verstanden, die den regulierenden Eingriff der öffentlichen Hand verlangen. Auch der Begriff „Gleichheit" wurde in einer Weise entgrenzt, daß nicht mehr Gleichheit vor dem Gesetz des Staates, sondern ein absoluter Gleichbehandlungsanspruch auch durch Privatleute als Ziel gesehen wird. Mit „Antidiskriminierungsgesetzen", die seit den sechziger Jahren

Thomas Sowell hat in zahlreichen Aufsätzen und Büchern die Bevorzugungspolitik der „Affirmative Action" kritisiert und deren kontraproduktive Ergebnisse analysiert. So zeigen seine empirischen, vergleichenden Studien zu den Vereinigten Staaten wie auch zu Indien, Malaysia, Sri Lanka und Nigeria, daß nach ethnischen Kriterien gestaltete kollektive Förderprogramme die Arbeits- und Bildungsanreize der bevorzugten Gruppen mindern, innerhalb dieser Gruppen meist nur einer Minderheit zugute kommen und diese übermäßig begünstigen, allgemein Animosität in der Gesellschaft gegen die bevorzugte Gruppe erzeugen, welche traditionelle Vorurteile verstärkt und letztlich den Aufstieg der „benachteiligten" Gruppen behindert (vgl. Sowell, 2004). A m problematischsten scheint aber, daß Programme wie „Affirmative Action" kollektive Opfermythen perpetuieren, die individuelle Verantwortlichkeit negieren. 9

Resümee und Ausblick • 475

unter der Flagge des „civil rights movement" zunächst in den Vereinigten Staaten und jüngst auch in Europa durchgesetzt wurden, machen die modernen Wohlfahrtsstaaten einen entscheidenden Schritt zur Einschränkung der Privatautonomie, der als Einstieg in eine umfassende Kontrolle von Handeln und Denken der Bürger gesehen werden kann. Faktisch geht es dahin, unternehmerisch tätige Bürger zu Geschäftsbeziehungen mit Personen zu zwingen, die sie aus freiem Willen nicht eingehen würden. Hier wird an einem wesentlichen Punkt die private Vertragsfreiheit ausgehebelt, was Konsequenzen weit über das Wirtschaftliche hinaus hat. Nicht nur wird die ökonomische Handlungsfreiheit zunehmend dem Ideal einer forcierten Gleichbehandlung untergeordnet, auch die Grundrechte der Meinungs-, Presse-, Religions- und künsderischen Freiheit sind in Gefahr (vgl. dazu Bernstein, 2003). Diese problematische Entwicklung verdeutlicht, wie sich die Bedrohung der Freiheit seit Gründung der MPS gewandelt hat. In den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren standen eindeutig ökonomische Streitfragen im Mittelpunkt: Der Neoliberalismus kämpfte gegen nationalsozialistische, sozialistische und keynesianische Wirtschaftstheorien. Seit den sechziger Jahren jedoch wandelte sich der Gegner. Anders als die traditionelle Linke interessierte sich die um 1968 angetretene Neue Linke, hierin geleitet von Adorno und der Frankfurter Schule, nur noch sekundär für ökonomische Theorien. Zwar blieb die Aversion gegen die Marktwirtschaft ein dominierendes Motiv, jedoch verfeinerte sie ihre Strategie zur Überwindung des Kapitalismus: Nicht mehr die Abschaffung des privaten Eigentums, also des materiellen „Unterbaus", sondern die Abschaffung der Werte und Normen der bürgerlichen Gesellschaft, also des „Uberbaus", wurde nun vorrangig betrieben. Angesichts des zunehmenden materiellen Wohlstands der Nachkriegszeit, der allen marxistischen Voraussagen einer allgemeinen Verelendung widersprach, verlegte sich die Neue Linke auf eine kulturelle Strategie. Mit ihrer langfristig angelegten „Kulturrevolution" setzte sie den Hebel zur Zerstörung der bürgerlich-liberalen Gesellschaft an. Die Mitglieder der MPS erkannten zwar die neue Herausforderung, jedoch fehlte ihnen der argumentative Zugang zu den Diskursen der Neuen Linken. Mit ökonomischen Sätzen war der postmodernen Kritik an den Fundamenten der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere dem Angriff auf ihre Keimzelle, die Familie, kaum beizukommen. Dies führt uns zu einem Dilemma vieler neoliberaler Theoretiker: Indem sie die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung als höchsten und einzigen Wert propagieren, laufen sie Gefahr, die kulturellen Grundlagen derselben zu ignorieren. In den vierziger und fünfziger Jahren widmeten sich neoliberale Intellektuelle noch voll Eifer der Problematik der sozialen Integration jenseits des Marktes. Was hält eine Gesellschaft im Innersten zusammen? Worauf beruht die Freiheit des einzelnen? Worin besteht die Verantwortung gegenüber anderen? Die beunruhigende These, die etwa Röpke vertrat, daß eine reine Marktwirtschaft noch keine ausreichende Grundlage für ein gedeihliches Zusammenleben bietet, sondern auf moralischen und sozialen Voraussetzungen beruht, die sie nicht selbst hervorbringt, teils sogar aufzehrt, wird in neoliberalen Kreisen heute nur ungern gehört (vgl. Zöller, 1999, S. 35-36). Ebenso geht man mehrheitlich Fragen aus dem Weg, welche Konsequenzen eine totale Ökonomisierung des Lebens hätte. Ist es tatsächlich ein humaner Fortschritt, wenn soziale Diensdeistungen, etwa die Erziehung der Kinder, die Pflege der Kranken und Alten, die einst unentgeltlich in der Familie oder der Nachbarschaft geleistet wurden, nun von spezialisierten, kommerziellen Einrichtungen übernommen werden? Einige der frühen Neo-

476 • Wandlungen des Neoliberalismus liberalen, Bertrand de Jouvenel etwa, äußerten hier Zweifel am Sinn einer Berechnung des Wohlstands und des Sozialprodukts, welche nur entgeltliche Tauschakte berücksichtigt (vgl. Habermann, 1995, S. 67). Teilweise herrscht eine Interpretation des (Neo-)Liberalismus vor, die, gestützt auf die Kunstfigur des „homo oeconomicus", die Aktionen der einzelnen Wirtschaftssubjekte auf Märkten ganz abstrakt behandelt, losgelöst von real existierenden Gesellschaften und Kulturen. Ein atomistisch reduziertes Menschenbild verkennt jedoch die Doppelnatur des Menschen: er ist ein sowohl nach Freiheit und Unabhängigkeit strebendes Individuum als auch Mitglied von Gruppen und Gemeinschaften, etwa seiner Familie, Nachbarschaft, Kirche oder seines Vereins. Erst in diesem Rahmen ist die volle Reifung und Entfaltung der Persönlichkeit möglich, wie einige der frühen Neoliberalen betonten. 10 Rüstows und Röpkes Gedanken zur „Vitalsituation", zur Verwurzelung der Individuen in lebendigen Gemeinschaften und einer spezifischen Kultur, mögen angesichts der fortschreitenden Globalisierung und enormen Mobilität, die Begriffe wie Heimat und Herkunft relativieren, vielen als anachronistisch erscheinen. Sie deuten jedoch auf das bleibende Paradox, daß Freiheit der freiwilligen Bindung bedarf, um sich nicht selbst aufzuheben. Auch Adam Smith wußte um die Doppelnatur des Menschen: Seine beiden Hauptwerke, „The Theory of Moral Sentiments" und „The Wealth of Nations", beschreiben den Menschen als ein soziales Wesen, das Empathie für die Menschen seiner Umgebung empfindet, aber auch als tauschendes Wesen, das auf arbeitsteiligen Märkten seinen Vorteil sucht — und damit ungewollt die Produktivität der Wirtschaft und den Wohlstand insgesamt steigert. Für den Moralphilosophen Smith war klar, daß im Nahbereich durchaus Bindung, im Fernbereich aber Freiheit herrschen müsse (vgl. Meyer, 2000, S. 150). Die zunehmend vereinzelte Lebensweise in den Großstädten der westlichen Industriestaaten entspricht nicht der Vision einer „Civitas humana", von der die soziologisch ausgerichteten Neoliberalen wie Röpke träumten. Mit der Auflösung herkömmlicher sozialer Strukturen wird die Frage dringlich, auf welche Ressourcen die Individuen in Nodagen zurückgreifen können. In vielen Fällen haben sich familiäre und subsidiäre Netzwerke so stark gelockert, daß staatliche kollektive Sozialsysteme die überwiegende oder einzige Form der Absicherung darstellen. Zwischen extremem, bindungsfeindlichem Individualismus und zunehmendem sozialstaatlichem Paternalismus besteht somit eine Wechselwirkung. „Vater Staat" ermöglicht und fördert die Endedigung von herkömmlichen Pflichten zur familiären und nachbarschaftlichen Solidarität. Zugleich wird damit jedoch die Klientel, die seiner Hilfe bedarf, immer größer, bis schließlich die kollektiven Sozialsysteme überlastet sind.11

Ihre Ansichten decken sich teilweise mit Überlegungen der heutigen Kommunitaristen. In wieweit diese mit der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialphilosophie in Einklang zu bringen sind, haben verschiedene deutsche Autoren in dem Buch „Freiheit und Gemeinsinn" kontrovers diskutiert. Während Habermann zwar irritiert ist von antikapitalistischen Ausfällen einiger kommunitaristischen Vordenker, jedoch ihre Betonung der dezentralen, subsidiären sozialen Institutionen und der republikanischen Tugenden als kompatibel mit dem neoliberalen Anliegen einer freiheitlichen, selbstverantwortlichen Gesellschaft ohne überbordenden kollektiven Einfluß sieht (vgl. Habermann, 1997b), warnt Doering davor, sich von „oberflächlichen Gemeinsamkeiten" blenden zu lassen. Der Kommunitarismus sei letztlich „sozialdemokratischer Wein" in neuen Schläuchen (vgl. Doering, 1997, S. 34). 11 V o r einer atomistischen Interpretation des Individualismus warnte etwa George C. Roche, der Präsident des Hillsdale College und Freund Hayeks, beim MPS-Treffen 1976: „Der methodologische Individualismus - wie Mises 10

Resümee und Ausblick • 477 Die Wiederentdeckung der Werte „Jenseits von Angebot und Nachfrage", wie sie Röpke nannte, ist bei Teilen der MPS durchaus im Gange. Auch Hayek betonte in seinen späten Vorträgen, wie essentiell die Weitergabe kultureller Traditionen in der Familie für das Bestehen der modernen Großgesellschaft ist (vgl. Hennecke, 2000, S. 372-373). Die neuere institutionenökonomische Forschung, besonders von Gary Becker, betont die unverzichtbare Rolle der Familie bei der Bildung und Weitergabe von Humankapital. Mit seiner bisherigen Sozialpolitik habe der Staat, so Becker beim MPS-Treffen 1996 in Wien, die Fundamente dieser grundlegenden sozialen Institution geschwächt (vgl. Becker, 1996).12 Dem wiedererwachten Interesse an Formen der freiwilligen Bindung sowie familiären Werten steht der agnostische Individualismus entgegen, dem einige der radikalen Neoliberalen anhängen. Wer aber eine postmoderne völlige Beliebigkeit der individuellen Werte predige, mache die „Offene Gesellschaft" verletzlich, wurde daher auf dem MPSTreffen in Wien kritisiert (vgl. Schwarz, 1996). Die alte Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit und Bindung erhält im Zuge der Globalisierung, der Auflösung von Grenzen und zunehmenden Migration neue Brisanz. Sicher gehört die Möglichkeit zur Lösung von Bindungen sowie zum Austritt aus bestehenden Gemeinschaften und Staaten zu den Voraussetzungen menschlicher Freiheit. Erst diese „exit"-Option schafft Wettbewerb zwischen sozialen Systemen und verhindert, daß Gemeinschaften zu Gefängnissen werden. Der Wettbewerbsdruck zwischen Staaten im Zuge der Globalisierung zwingt nationale Regierungen, darauf zu achten, daß ihre wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen dem Vergleich mit konkurrierenden Staaten standhalten, da sonst die Investoren und Leistungsfähigen dorthin abwandern. Nach neoliberaler Uberzeugung ist es dieser institutionelle Systemwettbewerb, der schlechte politische Ordnungen aussondert und dafür sorgen wird, daß sich freiheitliche Ordnungen langfristig weltweit durchsetzen. Hier schimmert in einer neuen, evolutorischen Variante der alte Optimismus der englischen Whigs durch, die von einem steten Aufwärts der Menschheitsgeschichte zu größerer Freiheit ausgingen. Die Voraussetzung, daß der Systemwettbewerb funktionieren kann, ist die Möglichkeit des Austauschs von Informationen und Faktoren. Neben dem freien internationalen Kapitalverkehr verstärkt also auch die globale Migration den Systemwettbewerb. In einer idealen ökonomischen Betrachtung gilt freie Migration, also die Möglichkeit zur globalen Allokation von Arbeitskräften nach dem Prinzip des höchsten Grenzertrages, als Möglichkeit der Wohlfahrtssteigerung - sofern nicht Sozialleistungen als zusätzliche Wanderungsprämie wirken und die optimale Allokation verzerren. Innerhalb der MPS gehen die Meinungen bei der Beurteilung der real ablaufenden Massenmigration auseinander. Einige Redner wie Julian

es genannt hat - ist ein unschätzbares Werkzeug der Beweisführung und ökonomischen Analyse. Aber für manche Leute besagte das Konzept schließlich, daß das Individuum alles ist und daß Familie und Gemeinschaft nichts mehr gelten. Der atomistische Individualismus hat sich als jämmerlich unfähig erwiesen, eine gesunde Grundlage für die Gesellschaft zu formen. Indem er das soziale Gewebe von innen zerrissen hat, hat er die Grundlage für den Aufstieg des kollektivistischen Staats gelegt und damit den Weg für eben jene Form der zwanghaften sozialen Organisation geebnet, welche der klassische Liberalismus am meisten verabscheute" (Roche III, 1976, S. 9). 12 Schon früher hatte Becker zu dieser Frage vor der MPS referriert (vgl. Becker, 1978).

478 • Wandlungen des Neoliberalismus

L. Simon halten diese Zuwanderung in die westliche Welt durchweg für einen Gewinn.13 Andere sind skeptischer und fordern eine Begrenzung. Stigler etwa wies darauf hin, daß das „Postulat freier Mobilität ... um so weniger gelten könne, je größer die Staatsquote ist", zitierte ihn die NZZ (Schwarz, 1992a; ähnlich argumentierte Garello, 1996).14 Die westlichen Wohlfahrtsstaaten wirken wie ein Magnet auf die Armen der Welt und induzieren Wanderungsströme, die nicht durch höhere Grenzarbeitsproduktivität erklärt werden. Mit der anschwellenden globalen Migration sind zudem noch außerökonomische Konsequenzen verbunden, die nicht übersehen werden dürfen. Die Einwanderung aus der Dritten Welt, aus Afrika, dem Nahen Osten und Südamerika, beschleunigt die Dynamik des sozialen und kulturellen Wandels in einer Weise, die zu ernsten Spannungen führt. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen kann im günstigsten Fall in einen friedlichen Wettbewerb, im ungünstigen Fall in gewalttätige Auseinandersetzung fuhren. Hier neigen viele Neoliberale zu einer allzu optimistischen Sicht. Ihr normativer Individualismus läßt sie die ethnischen Gruppenloyalitäten und kulturellen Konfliktpotentiale unterschätzen. Die Bedeutung der importierten Kultur und Religion wurde in der neoliberalen Diskussion lange vernachlässigt. Erst auf ihren jüngsten Treffen hat die MPS begonnen, etwa mit Vorträgen des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten José Aznar oder des peruanischen Publizisten Alvaro Vargas Llosa, die Herausforderung des radikalen Islam ernstzunehmen (vgl. Horn, 2006). Das Erbe der freiheitlichen westlichen Kultur, das die MPS-Gründer durch den Vormarsch kollektivistischer Ideologien bedroht sahen, ist zum einen durch neue Fundamentalismen bedroht, zum anderen durch die Gleichgültigkeit vieler gegenüber den Wurzeln der liberalen Werte. Der Liberalismus, der sich seit seinen Anfängen in der Aufklärung oft als kritische Kraft gegenüber den traditionellen Anschauungen verstand, durchlief einen langen Lernprozeß, um den Wert überkommener, nicht unmittelbar rational begründbarer Normen und Institutionen anzuerkennen. Hayek differenzierte hier zwischen der französischen Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, welche die Möglichkeiten einer Neukonstruktion der Gesellschaft nach rationalen Plänen überschätzte, und der schottischen Aufklärung, die das langsame Entstehen sozialer Strukturen erkannte und nur optimale Bedingungen für Wachstum und Weiterentwicklung schaffen wollte. Die schottische Aufklärung weist den Weg in die Zukunft, die in hohem Maße auch durch Traditionen bestimmt ist: In seinem Klassiker „The Constitution of Liberty" hat Hayek die Wechselbeziehung von Fortschritt, Freiheit und Tradition in den prägnanten Satz gefaßt: „So paradox es klingen mag, eine erfolgreiche freie Gesellschaft wird immer in einem hohen Maß eine traditionsgebundene Gesellschaft sein" (Hayek, 1960/1991, S. 78). Als die unverzichtbaren Institutionen der freien westlichen Gesellschaften erkannte Hayek das Privateigentum und die Familie. Beide Säulen sind heute schwer beschädigt, was zu

Der an der Universität Maryland lehrende Ökonom Simon trat auf dem MPS-Treffen 1992 in Vancouver als Fürsprecher höherer Migrationskontingente auf, wobei Einwanderungsrechte versteigert werden sollten, um so die produktivsten Einwanderer zu ermitteln; der Erlös der Auktion sollte an die Herkunftsländer gehen (vgl. Simon, 1992). 14 Selbst innerhalb des anarcho-kapitalistischen Lagers gibt es neben konsequenten Befürwortern einer freien Einwanderung (vgl. Block, 1998) auch strikte Gegner von nicht eingeladener und nicht privat finanzierter Immigration (vgl. Hoppe, 1998). 13

Resümee und Ausblick • 479

sozialen Verwerfungen führt, die nun staatlich besoldeten Sozialarbeitern ein weites Betätigungsfeld garantieren. Die Frage ist, wie schnell oder langsam sich einmal zerstörte Normen und Institutionen einer freiheitlichen Ordnung regenerieren. Daß es auch bei der sozialen Evolution eine Pfadabhängigkeit gibt, die rasche Wenden zum Besseren erschwert, war nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks zu beobachten: Uber Jahrzehnte wurden bürgerlich-liberale Werte systematisch abgebaut, nun leiden Staat, Wirtschaft und Gesellschaft an den Folgen, etwa an der verbreiteten Korruption und dem mangelnden Respekt für das Recht. Auch in den westlichen Wohlfahrtsstaaten wurden bürgerlich-liberale Werte verdrängt. In seiner Ansprache als MPS-Präsident 1992 in Vancouver betonte Becker die Schwierigkeiten bei der Umwandlung kommunistischer Regime in eine marktwirtschaftliche Ordnung (vgl. Becker, 1993, S. 7). Der Prozeß, in dem sich soziale Verhaltensweisen nach einer längeren Phase der kollektivistischen Verformung ändern, wird sehr lange dauern.15 Vom „Marsch in den Sozialismus", den der Osten durchmachte, blieb die westliche Welt verschont. Die Mitglieder der MPS haben in den sechzig Jahren seit ihrer Gründung dazu entscheidend beigetragen. Verglichen mit der Zeit um 1947 — als Verstaatlichungen, Preiskontrollen und Rationierungen üblich waren - ist das Maß an wirtschaftlichen Restriktionen heute deutlich geringer. Seit den siebziger Jahren ist das Vertrauen auf die wohlstandsschaffende Dynamik des Spiels der Marktkräfte gewachsen. Gemessen an der liberalen Ordnung, welche die MPS-Gründer in ihrer Jugend noch erlebt hatten, erscheint der gegenwärtige Zustand jedoch durch ein ungeheures Maß an staatlicher Beschränkung und Regulierung geprägt. Friedman, der letzte Überlebende des Gründungstreffens der MPS, nannte die Systeme in Europa und auch den Vereinigten Staaten „halb-sozialistisch". In einem seiner letzten Interviews hat er auf die Frage, ob die neoliberale Bewegung den Gang der Geschichte beeinflußt habe, eher zurückhaltend geantwortet: „Das ist schwer zu beurteilen. Wir haben sicher zum Wandel in der öffentlichen Meinung beigetragen, aber unsere wichtigste Rolle war, Alternativen anzubieten für die Zeit, als Alternativen möglich wurden" (Friedman, 2006, S. 22).

15 Im Falle Rußlands befürchteten pessimistische MPS-Redner mit Hinweis auf Aussagen von Douglass C. North, daß es lange dauern werde, etwa fünfzig Jahre, bis die notwendigen Institutionen und Konventionen das sozialistische Erbe überwinden (vgl. Horn, 1998a). Vereinzelt plädierten MPS-Redner wie Jan Pavlik v o m Liberalen Institut in Prag für eine „moralische und religiöse Erziehung der Jugend in den Transformationsländern", um die Wiederbelebung des durch die kommunistische Herrschaft beschädigten Wertesystems zu beschleunigen (Schwarz, 1998b).

Anhang: „Statement of Aims" „A group of economists, historians, philosophers and other students of public affairs from Europe and the United States met at Mont Pelerin, Switzerland, from April 1st to 10th [1947] to discuss the crisis of our times. This group, being desirous of perpetuating its existence for promoting further intercourse and for inviting the collaboration of other like minded persons, has agreed upon the following statement of aims. The central values of civilization are in danger. Over large stretches of the earth's surface the essential conditions of human dignity and freedom have already disappeared. In others they are under constant menace from the development of current tendencies of policy. The position of the individual and the voluntary group are progressively undermined by extensions of arbitrary power. Even that most precious possession of Western Man, freedom of thought and expression, is threatened by the spread of creeds which, claiming the privilege of tolerance when in the position of a minority, seek only to establish a position of power in which they can suppress and obliterate all views but their own. This group holds that these developments have been fostered by the growth of a view of history which denies all absolute moral standards and by the growth of theories which question the desirability of the rule of law. It holds further that they have been fostered by a decline of belief in private property and the competitive market; for without the diffused power and initiative associated with these institutions it is difficult to imagine a society in which freedom may be effectively preserved. Believing that what is essentially an ideological movement must be met by intellectual argument and the reassertion of valid ideals, the group, having made a preliminary exploration of the ground, is of the opinion that further study is desirable inter alia in regard to the following matters: 1) The analysis and explanation of the nature of the present crisis so as to bring home to others its essential moral and economic origins. 2) The redefinition of the functions of the state so as to distinguish more clearly between the totalitarian and the liberal order. 3) Methods of re-establishing the rule of law and of assuring its development in such manner that individuals and groups are not in a position to encroach upon the freedom of others and private rights are not allowed to become a basis of predatory power. 4) The possibility of establishing minimum standards by means not inimical to initiative and the functioning of the market. 5) Methods of combating the misuse of history for the furtherance of creeds hostile to liberty. 6) The problem of the creation of an international order conducive to the safeguarding of peace and liberty and permitting the establishment of harmonious international economic relations. The group does not aspire to conduct propaganda. It seeks to establish no meticulous and hampering orthodoxy. It aligns itself with no particular party. Its object is solely, by facilitating the exchange of views among minds inspir ed by certain ideals and broad conceptions hold in common, to contribute to the preservation and improvement of the free society."

Literaturverzeichnis Abelshauser, Werner (1999): „Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder. Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit", in: Vierteljahresheftefür Zeitgeschichte 47, S. 503-538. Addison, Paul (1975): The Road to 1945. british Politics and the Second World War, London. — (1993): „Churchill and Social Reform", in: Robert Blake u. William Roger Louis (Hrsg.): Churchill, Oxford, S. 57-78. Alchian, Armen (1976) : On Corporations: A Visit With Smith, ¡MPS-Vortrag, St. Andrews 1976], in: LA, MPS-Slg. Allais, Maurice (1965): Un plan pour une reforme du système monétaire international, [MPS-Vortrag, Stresa 1965], in: LA, MPS-Slg. Altenbockum, Jasper von (1997): „'Nazismus mit umgekehrtem Gedankengang' in Schweden. Die Zwangssterilisierungen", in: FAZ, 2.9.1997. Ambrosius, Gerold (1977): Die Durchsetzung der Sozialen Markwirtschaft in Westdeutschland 1945-1949, Stuttgart. Anderson, Martin (1987): The Power of Ideas in the Making of Economic Polig, Stanford. — (1988): Revolution, San Diego/New York/London. Antoni, Carlo (1957): „Die unteilbare Freiheit", in: Albert Hunold (Hrsg.): Diefreie Welt im kalten Krieg, Erlenbach-Zürich/Stuttgart, S. 11-29. Apel, Hans-Eberhard (1961): Edwin Cannan und seine Schüler. Die Neuliberalen an der Eondon School of Economics, Tübingen. Ashton, T. S. (1949/1954): „The Standard of Life of the Workers in England, 1790-1830", in: Friedrich A. von Hayek (Hrsg.) (1954): Capitalism and the Historians, London/Chicago, S. 123-155. — (1951/1954): „The Treatment of Capitalism by Historians", [MPS-Vortrag, Beauvallon 1951], in: Friedrich A. von Hayek (Hrsg.) (1954): Capitalism and the Historians, London/Chicago, S. 31-61 Attarian, John (1996): „Russell Kirk's Economics of the Permanent Things", in: The Freeman-. Ideas on Liberty, April 1996, S. 232-236. Baader, Roland (1999): „Zum Gedenken an den 100. Geburtstag von Wilhelm Röpke: Denker der Civitas humana", in: Schwei^ergit, 8.10.1999. Banfield, E. C. (1976): The Contradictions of Commercial Soäety: Adam Smith as Political Sociologist, [MPSVortrag, St. Andrews 1976], in: LA, MPS-Slg. Barone, Enrico (1908/1935): „The Ministry of Production in the Collectivist State", in: Friedrich August von Hayek (Hrsg.) (1935): Collectivist Economic Planning: Critical Studies on the Possibilities of Sodalism, London, S. 245-290. Barry, Norman P. (1979): Hayek's Social and Economic Philosophy, London. — (1989): „Political and Economic Thought of German Neo-Liberals", in: Alan Peacock u. Hans Willgerodt (Hrsg.): German Neo-Liberals and the Sodai Market Economy, New York, S. 105-124. Barry, Norman P. (1994): Making Sense of Hayek: The Theoiy of Spontaneous Order, [MPS-Vortrag, Cannes 1994], in: LA, MPS-Slg. Bardey, Robert L. (1992): The Seven Fat Years. And How to Do It Again, New York u.a.. Baudhuin, Fernand (1953): „Belgien in den Jahren 1945-1952. Ein Experiment der Marktwirtschaft", in: Albert Hunold (Hrsg.): Wirtschaft ohne Wunder, Erlenbach/Stuttgart, S. 111-127. Baudin, Louis (1953): E'aube d'un nouveau liberalisme, Paris. Bauer, P. T. (1971): Dissent on Development. Studies and Debates in Development Economics, London. — (1984): Why Foreign Aid Matters, [MPS-Vortrag, Cambridge 1984], in: HIA, MPS-Slg. 45. 1/1998, S. 1-10. — (1998): „B. R. Shenoy: Stature and Impact", in: CatoJournals, Beaud, Michel u. Dostaler, Gilles (1995): Economic Thought Since Keynes: History and Dictionary of Major Economists, Aldershot/Hants.

482 • Wandlungen des Neoliberalismus Becker, Gary S. (1978): The Effect of the State on the Family, [MPS-Vortrag, Hongkong 1978], in: LA, MPS-Slg. — (1993): „Presidential Address: Government, Human Capital, and Economic Growth" [MPSVortrag, Vancouver 1992], in: MPS-Newsletter, Februar 1993, S. 2-11, in: LA, MPS-Slg. — (1996): Human Capital, the Family and the State, [MPS-Vortrag, Wien 1996], in: LA, MPS-Slg. Becker, Helmut Paul (1965): Die soziale Frage im Neoliberalismus. Analyse und Kritik, Heidelberg/Löwen. Belien, Paul (2006): „Lord Harris of High Cross, a Great European" [Nachruf], in: The New York Sun, 20.10.2006. Bell, Daniel (1976): The Cultural Contradictions of Capitalism, New York. Bellamy, Edward (1895): „Introduction", in: G. B. Shaw u.a. (Hrsg.): Socialism: The Fabian Essays, Boston. Bellinger, William K. u. Bergsten, Gordon S. (1990): „The market for economic thought: an Austrian view of neoclassical dominance", in: Histoiy of Political Economy 22, S. 697-720. Benz, Wolfgang (1983): „Währungsreform und soziale Marktwirtschaft" in: Theodor Eschenburg: Jahre der Besatzung 1945-1949, [Die Geschichte der Bundesrepublik, Bd. 1, hrsg. v. Karl Dietrich Bracher], Tübingen, S. 421-446. Berg, Maxine u. Hudson Pat (1992): „Rehabilitating the industrial revolution", in: Economic History Journal 45, 1/1992, S. 24-47. Berghahn, Volker (1984): „Ideas into Politics: The Case of Ludwig Erhard", in: R.J. Bullen, H. Pogge von Strandmann u. A. B. Polonsky (Hrsg.): Ideas into Politics, London, S. 178-192. Berlin, Isaiah (1959/1969): „Two Concepts of Liberty", in: Ders. (1969): Four Essays on Liberty, Oxford, S. 118-172. Berndt, Arnold u. Goldschmidt, Nils (2000): „Wettbewerb als Aufgabe' - Leonhard Mikschs Beitrag zur Ordnungstheorie und -politik", in: ORDO 51, S. 33-74. Bernholz, Peter (1989): „Ordo-Liberals and the Control of the Money Supply", in: Alan Peacock u. Hans Willgerodt (Hrsg.): German Neo-Liberals and the SodalMarket Economy, New York, S. 191-215. — u.a. (1992): „Dieser Vertrag von Maastricht sollte nicht ratifiziert werden", in: Handelsblatt, 26.6.1992. — u.a. (1993): A European Constitutional Settlement. Draft Report by the European Constitutional Group, o. O. — u.a. (2004): „An alternative constitutional treaty for the European Union", in: Public Choice 118, S. 451-468. Bernstein, David E. (2003): You can't say that! The growing threat to civil libertiesfrom antidiscrimination laws, Washington. Beveridge, William H. (1920) : The Public Service in War