Rhetorik und Geschichte: Eine Studie zu den Krigsreden Im Ersten Buch des Thukydides 3110206919, 9783110206913

Die Untersuchung fragt nach der Funktion der Reden im thukydideischen Geschichtswerk und deren Verhäauml;ltnis zur Darst

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Rhetorik und Geschichte: Eine Studie zu den Krigsreden Im Ersten Buch des Thukydides
 3110206919, 9783110206913

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung in die Problematik und Übersicht über den Forschungsstand
2. Die Tagsatzung in Sparta (67-88)
3. Die Versammlung des peloponnesischen Bundes (119-125,1)
4. Die Volksversammlung in Athen (139,3-145)
5. Zusammenfassung
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Martin Hagmaier Rhetorik und Geschichte



Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Heinz-Günther Nesselrath, Peter Scholz und Otto Zwierlein

Band 94

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Rhetorik und Geschichte Eine Studie zu den Kriegsreden im ersten Buch des Thukydides

von

Martin Hagmaier

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Veröffentlichung als Regensburger Dissertation

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1862-1112 ISBN 978-3-11-020691-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

PARENTIBVS

Vorwort Die vorliegende Schrift ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2007 von der Philosophischen Fakultät IV (Sprach- und Literaturwissenschaften) der Universität Regensburg angenommen wurde. Seither erschienene Literatur konnte nicht mehr Berücksichtigung finden. Herrn Prof. Dr. Georg Rechenauer, der als Thukydides-Kenner die Arbeit angeregt und ihr Entstehen stets mit wachem Interesse verfolgt hat, gilt mein besonderer Dank. Ebenso möchte ich Herrn Prof. Dr. Jan-Wilhelm Beck für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens danken. Den Herausgebern der „Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte“ bin ich für die Aufnahme in die Reihe zu Dank verpflichtet, vor allem Herrn Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath, der das Manuskript gründlich durchgesehen hat. Zudem möchte ich Frau Dr. Sabine Vogt vom Verlag de Gruyter für die gute Zusammenarbeit und Betreuung bei der Drucklegung herzlich danken.

Regensburg, im August 2008

Martin Hagmaier

Inhaltsverzeichnis 1. Einführung in die Problematik und Übersicht über den Forschungsstand.................................................................

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2. Die Tagsatzung in Sparta (67-88) ...................................... 40 2.1 Einordnung in den Kontext .................................................... 40 2.2 Die zweite Korintherrede (68-71) .......................................... 41 2.2.1 Übersicht...................................................................... 41 2.2.2 Interpretation ............................................................... 43 2.3 Die Athenerrede (73-78) ........................................................ 77 2.3.1 Übersicht...................................................................... 77 2.3.2 Interpretation ............................................................... 78 2.4 Die erste Archidamosrede (80-85,2) ...................................... 119 2.4.1 Übersicht...................................................................... 119 2.4.2 Interpretation ............................................................... 120 2.5 Die Sthenelaidasrede (86) ...................................................... 144 2.5.1 Übersicht...................................................................... 144 2.5.2 Interpretation ............................................................... 145 2.6 Bewertung und Ergebnis ........................................................ 154

3. Die Versammlung des peloponnesischen Bundes (119-125,1)......................................................................... 162 3.1 Einordnung in den Kontext .................................................... 162 3.2 Die dritte Korintherrede (120-124) ........................................ 163 3.2.1 Übersicht...................................................................... 163 3.2.2 Interpretation ............................................................... 164 3.3 Bewertung und Ergebnis ........................................................ 193

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Inhaltsverzeichnis

4. Die Volksversammlung in Athen (139,3-145)................... 195 4.1 Einordnung in den Kontext .................................................... 195 4.2 Die erste Periklesrede (140-144) ............................................ 198 4.2.1 Übersicht...................................................................... 198 4.2.2 Interpretation ............................................................... 199 4.3 Bewertung und Ergebnis ........................................................ 234

5. Zusammenfassung.............................................................. 237 Literaturverzeichnis .................................................................. 254

1. Einführung in die Problematik und Übersicht über den Forschungsstand „Velut inter ignes luna minores ita inter antiquos rerum scriptores micat Thucydides. Mirum igitur non est, de eius genere vita scriptis tot libros libellosque esse compositos, ut omnes perlegere atque inter se conferre paene difficilius sit quam pro hominis viribus, praesertim cum virorum doctorum sententiae mirum quantum in his rebus differant.“1

Mag diese Feststellung von C. Cammerer in der Einleitung seines Beitrags zum Programm der Königlichen Studienanstalt Burghausen für das Schuljahr 1880/81 mit dem Titel ‚De orationibus directis operi Thucydideo insertis’ aus heutiger Sicht zumindest, was den Umfang der damaligen Thukydidesliteratur betrifft, doch eher übertrieben erscheinen, könnte sie, übertragen auf die Forschungslage unserer Zeit, uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen. Mit den in den seither vergangenen 125 Jahren erschienenen Publikationen ist die Thukydidesforschung fast unüberschaubar geworden,2 ohne dass freilich auch nur in den zentralen Fragestellungen der schon von Cammerer vermisste Konsens erreicht wäre. Dies trifft insbesondere auf zwei Themenkomplexe zu, die die vorliegende Studie zu den Kriegsreden im ersten Buch des Thukydides im Kern berühren: die Komposition des ersten Buches und die Funktion der Reden im thukydideischen Geschichtswerk. Bevor Thukydides nach dem Proömium (1)3, der Archäologie (2-19), den Ausführungen über Ziel und Methode seiner Arbeit (20-22) und der sog. pajhßmata-Liste (23,1-3) mit der Darstellung der Vorgeschichte des peloponnesischen Krieges beginnt, formuliert er programmatisch seine Auffassung von der Entstehung des Krieges (23,4-6):

1 Cammerer, C., Quaestiones Thucydideae. De orationibus directis operi Thucydideo insertis, Programm der Königlichen Studienanstalt Burghausen für das Schuljahr 1880/81, Burghausen 1881, 3. 2 Laut Schneider, C., Information und Absicht bei Thukydides. Untersuchung zur Motivation des Handelns, Hypomnemata 41, Göttingen 1974, 7 bedarf es – Mitte der siebziger Jahre – deshalb „mittlerweile fast einer Entschuldigung, noch ein Buch über Thukydides zu veröffentlichen ...“ 3 Kapitelzahlen ohne Buchangabe sind auf das erste Buch zu beziehen.

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Einführung und Übersicht über den Forschungsstand

härcanto de? auötouq (sc. touq poleßmou) §Ajhnaiqoi kai? Peloponnhßsioi lußsantew ta?w triakontoußteiw sponda?w aiÜ auötoiqw eögeßnonto meta? Euöboißaw aÄlvsin. dioßti d ö eälusan, ta?w aiötißaw proußgraya prvqton kai? ta?w diaforaßw, touq mhß tina zhthqsaiß pote eöc oÄtou tosouqtow poßlemow toiqw /Ellhsi kateßsth. th?n me?n ga?r aölhjestaßthn proßfasin, aöfanestaßthn de? loßgv#, tou?w §Ajhnaißouw hÖgouqmai megaßlouw gignomeßnouw kai? foßbon pareßxontaw toiqw Lakedaimonißoiw aönagkaßsai eöw to? polemeiqn: aiÖ d ö eöw to? fanero?n legoßmenai aiötißai aiÄd ö hQsan eÖkateßrvn, aöf ö vWn lußsantew ta?w sponda?w eöw to?n poßlemon kateßsthsan.

Nach einem einleitenden Hinweis auf den Beginn des Krieges4, der durch die Auflösung des 446 auf dreißig Jahre geschlossenen Friedensvertrages deutlich markiert ist, teilt Thukydides seinen Lesern mit, vor der eigentlichen Darstellung des Krieges (proußgraya) zunächst die aiötißai kai? diaforaiß zu untersuchen, die zum Ausbruch des Krieges führten. Mit einer allein auf den aiötißai kai? diaforaiß basierenden Erklärung gibt sich Thukydides allerdings bei seiner Analyse der Kriegsverursachung nicht zufrieden, vielmehr sieht er hinter ihnen als aölhjestaßth proßfasiw eine innere Notwendigkeit, die durch zwei Faktoren bestimmt wird, nämlich das Wachstum der athenischen Macht und die dadurch bei den Spartanern ausgelöste Furcht.5 Diese aölhjestaßth proßfasiw stellt Thukydides als Ergebnis seiner persönlichen Interpretation der Vorgänge (hÖgouqmai) durch meßn – deß und die kontrastiven Bestimmungen aöfanestaßth de? loßgv# – eöw to? fanero?n legoßmenai ausdrücklich den aiötißai gegenüber, mit deren Wiederaufnahme er schließlich auf den Ausgangspunkt des Gedankens, die mit der Lösung des Vertrages eingetretene aörxhß des Krieges, zurückkommt und zugleich die unmittelbar folgende Darstellung der Vorgeschichte des Krieges ankündigt (aiÄde, vgl. proußgraya). Somit ist der Passus insgesamt durch ein kunstvolles Strukturschema gekennzeichnet, indem gleichsam zwei konzentrische Kreise (härcanto de? auötouq [sc. touq poleßmou] ... – ... eöw to?n poßlemon kateßsthsan, dioßti d ö eälusan, ta?w aiötißaw ... – aiÖ ... aiötißai aiÄd ö hQsan eÖkateßrvn, aöf ö vWn lußsantew ta?w sponda?w ...) um die aölhjestaßth proßfasiw angeordnet sind, die den Mittelpunkt des ganzen Komplexes bildet.6 Thukydides geht 4 Zu Beginn der fortlaufenden Darstellung der Kriegsereignisse nimmt Thukydides wörtlich darauf Bezug (2,1): $Arxetai de? oÖ poßlemow eönjeßnde hädh §Ajhnaißvn kai? Peloponnhsißvn ... 5 Freilich bildet tou?w §Ajhnaißouw grammatikalisch den Subjektsakkusativ innerhalb der Infinitivkonstruktion, während als Objekt gegen Ostwald, M., ANAGKH in Thucydides, American Classical Studies 18, Atlanta 1988, 3, der einen absoluten Gebrauch von aönagkaßsai postuliert, auötoußw (sc. tou?w Lakedaimonißouw) zu ergänzen ist. 6 Vgl. Katičić, R., Die Ringkomposition im ersten Buche des Thukydideischen Geschichtswerkes, WS 70, 1957, 179-196, dort 184.

Einführung und Übersicht über den Forschungsstand

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mit der Frage nach dem Grund für die Auflösung des Vertrages (dioßti d ö eälusan) chronologisch zurück, zugleich wendet er den Blick auf die aitiologisch tiefer liegenden Zusammenhänge und dringt bis zum Zentrum der Verursachung vor, um in chronologisch wie gedanklich entgegengesetzter Richtung wieder auf die Ebene der aiötißai kai? diaforaiß und schließlich zum Ausbruch des Krieges zurückzukehren.7 Das präzise inhaltliche Verständnis der Schlüsselbegriffe aiötißai und proßfasiw sowie ihr Verhältnis zueinander ist in der Forschung ein viel behandeltes Problem.8 Für den Begriff aiötißai ist aufgrund der engen Verbindung (kaiß) mit diaforaiß und der näheren Bestimmung als eöw to? fanero?n legoßmenai ein subjektives Moment festzumachen. Diese Interpretation wird bestätigt durch die Rückverweise auf unsere Stelle nach der Schilderung der Ereignisse um Kerkyra (55,2)9 und Poteidaia (66)10 und

7 Vgl. die Würdigung bei Heubeck, A., Proßfasiw und kein Ende (zu Thuk. I 23), Glotta 58, 1980, 222-236, jetzt in: Kleine Schriften zur griechischen Sprache und Literatur, Erlangen 1984, 209-223, dort 217: „Die Aussage über die aölhjestaßth proßfasiw wird von einem inneren Ring, der den aiötißai gilt, und einem äußeren Ring, der die aörxhß des Krieges zum Inhalt hat, umschlossen. Die Abfolge aörxhß – aiötißai – aölhjestaßth proßfasiw bildet in gleicher Weise sowohl ein chronologisches Rückwärts wie einen argumentatorischen Fortschritt: auf die aölhjestaßth proßfasiw kommt es an.“ Den Aspekt des allmählichen Tieferdringens in aitiologische Bereiche arbeitet Rechenauer, G., Thukydides und die hippokratische Medizin. Naturwissenschaftliche Methodik als Modell für Geschichtsdeutung, Spudasmata 47, Hildesheim 1991, 80 heraus: „Mit der Nennung und Explizierung der aölhjestaßth proßfasiw ist das Zentrum, zugleich aber auch der Wendepunkt von Thukydides’ Gedankengang erreicht: Während sein Blick zunächst von den aiötißai kai? diaforaiß her in die Tiefe des aitiologischen Komplexes zu der aölhjestaßth proßfasiw vordringt, kehrt er in der anschließenden, mit deß gegen die meßnAussage, die die aölhjestaßth proßfasiw enthält, abgegrenzten Formulierung wieder auf die Ebene der aiötißai zurück ...“ 8 Richardson, J., Thucydides I. 23. 6 and the Debate about the Peloponnesian War, in: E.M. Craik (Hrsg.), ‚Owls to Athens’. Essays on Classical Subjects Presented to Sir K. Dover, Oxford 1990, 155-161, dort 155 rechnet unseren Passus gar zu den „most discussed of all the sentences in Greek literature“. Das Folgende in engem Anschluss an die ausführliche Untersuchung bei Rechenauer, a.a.O., 74-108, der die Problematik schlüssig geklärt hat, vgl. Patzer, H. in seiner Besprechung der Arbeit Rechenauers Gnomon 66, 1994, 577-581, dort 577: „Das leidige Problem, was proßfasiw Th. 1,23,6 und an anderen ähnlichen Stellen genau bedeutet, scheint mir ein für allemal gelöst ...“ 9 aiötißa de? auÄth prvßth eögeßneto touq poleßmou toiqw Korinjißoiw eöw tou?w §Ajhnaißouw, oÄti sfißsin eön spondaiqw meta? Kerkuraißvn eönaumaßxoun. 10 Toiqw d ö §Ajhnaißoiw kai? Peloponnhsißoiw aiötißai me?n auWtai prougegeßnhnto eöw aöllhßlouw ... ouö meßntoi oÄ ge poßlemoßw pv cunerrvßgei, aöll ö eäti aönokvxh? hQn: iödißa# ga?r tauqta oiÖ Korißnjioi eäpracan.

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Einführung und Übersicht über den Forschungsstand

am Ende des ersten Buches (146)11, aus denen der subjektive Aspekt ähnlich wie in der Formulierung aiÄd ö hQsan eÖkateßrvn (23,6) durch die Bezugnahme auf die beiden Parteien deutlich ersichtlich wird. Somit sind unter den aiötißai nicht etwa objektive Ursachen zu verstehen,12 sondern die Veranlassungen, die die beiden gegnerischen Parteien gegenseitig für die Lösung des Vertrages geltend machen. Für das Verhältnis der Begriffe aiötißai und proßfasiw zueinander ist neben dem eben zitierten Passus am Ende des ersten Buches (146) besonders eine Stelle am Ende der Pentekontaetie (118,1) aufschlussreich: Meta? tauqta de? hädh gißgnetai ouö polloiqw eätesin uÄsteron ta? proeirhmeßna, taß te Kerkurai_ka? kai? ta? Poteideatika? kai? oÄsa proßfasiw touqde touq poleßmou kateßsth.

Dass proßfasiw in beiden Passagen nicht in seiner subjektiven, von fhmiß abgeleiteten Verwendungsweise („Vorwand“, „Ausrede“) gebraucht ist,13 sondern das von faißnv gebildete Lexem („zum Vorschein kommende Ursache“)14 vorliegt, geht aus der Gleichsetzung der proßfasiw (touqde 11 Hier sind die Berührungen noch enger: aiötißai de? auWtai kai? diaforai? eögeßnonto aömfoteßroiw pro? touq poleßmou ... spondvqn ga?r cußgxusiw ta? gignoßmena hQn kai? proßfasiw touq polemeiqn. 12 So etwa Heubeck, a.a.O., 218. 13 Diese Meinung vertreten – teilweise nur mit unmittelbarem Bezug auf 23,6 – Cornford, F., Thucydides Mythistoricus, London 1907, 59; Taeger, F., Thukydides, Stuttgart 1925, 21, Anm. 1; Hammond, N.G.L., The Arrangement of Thought in the Proem and in other Parts of Thucydides I, CQ N.S. 2, 1952, 127-141; Kirkwood, G.M., Thucydides’ words for „cause“, AJPh 73, 1952, 37-61; Pearson, L., Prophasis and Aitia, TAPhA 83, 1952, 205-223; ders., Prophasis. A Clarification, TAPhA 103, 1972, 381-394; Gomme, A.W., A Historical Commentary on Thucydides I, Oxford 1956, 153; Schuller, S., About Thucydides’ Use of aiötißa and proßfasiw, RBPh 34, 1956, 971-984; Andrewes, A., Thucydides on the Causes of the War, CQ N.S. 9, 1959, 223-239; Schäublin, C., Wieder einmal proßfasiw, MH 28, 1971, 133-144; Sainte Croix, G.E.M. de, The Origins of the Peloponnesian War, London 1972, 53f.; Dover, K.J., Thucydides, G&R – New Surveys in the Classics 7, Oxford 1973, 16; Wilson, L.S., PROFASIS and AITIA and its Cognates in Pre-Platonic Greek, Diss. Toronto 1979, 144, 165 u.a.; Proctor, D., The Experience of Thucydides, Warminster 1980, 109f., 131-133, 173; Heath, M., Thucydides, 1.23.5-6, LCM 11.7, 1986, 104f.; Rhodes, P.J., Thucydides on the Causes of the Peloponnesian War, Hermes 115, 1987, 154-165; Richardson, a.a.O.; Orwin, C., The Humanity of Thucydides, Princeton (N.J.) 1994, 32-37 und 213f. Keine klare Entscheidung trifft Hornblower, S., A Commentary on Thucydides I, Oxford 1991, 64f. 14 Diesen Gebrauch von proßfasiw hat Thukydides aus der hippokratischen Medizin übernommen, wie Rechenauer, a.a.O., 38-111 nachgewiesen hat. Als Ergebnis seiner Auswertung der Belege von proßfasiw im Corpus Hippocraticum formuliert Rechenauer folgende Deutung (66): „Proßfasiw ist ... nicht spezifisch auf die Bedeutung ‚Ursache’ festgelegt, sondern deckt sachlich ein breiteres Spektrum ab.

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touq poleßmou bzw. touq polemeiqn) mit den Ereignissen um Kerkyra und Poteidaia hervor, die Thukydides nicht etwa als vorgebrachte Behauptungen, sondern als objektiv feststehende Tatsachen versteht, wie ihre Einführung mit gißgnetai bzw. ihre Umschreibung mit ta? gignoßmena eindeutig beweist.15 Umgekehrt lässt sich die unterschiedliche Benennung der Kerkurai_kaß und Poteideatikaß als aiötißai kai? diaforaiß (146) bzw. als proßfasiw (118,1) hinreichend mit einem Wechsel in der Betrachterperspektive erklären: Aus der Sicht der beiden gegnerischen Parteien sind die Ereignisse um Kerkyra und Poteidaia als Angabe des subjektiven Grundes für das eigene Handeln zu verstehen (aiötißai), vom Standpunkt des Historikers, d.h. aus objektiver Warte betrachtet lassen sie sich als Voraussetzung für die Auflösung des Vertrages mit dem Terminus proßfasiw bezeichnen.16 Für das Verständnis unserer Stelle 23,4-6 ergibt sich daraus, dass sich hinter der Unterscheidung zwischen den aiötißai kai? diaforaiß und der aölhjestaßth proßfasiw17 „im Grunde genommen eine Unterscheidung Jeder Faktor, der irgendwie zur Entstehung einer Krankheit beiträgt, kann als proßfasiw bezeichnet werden. Das wesentliche Kriterium ... ist der Aspekt des ‚ZumVorschein-Kommens’, die Phänomenalität eines Faktors.“ 15 So Rechenauer, a.a.O., 90: „Die (subjektiven) aiötißai kai? diaforaiß (I 146) bzw. ta? Kerkurai_ka? kai? ta? Poteideatikaß (I 118,1) sind der Sache nach für Thukydides objektiv feststehende Tatsachen.“ 16 Damit wird die Formulierung dioßti d ö eälusan, ta?w aiötißaw proußgraya ... kai? ta?w diaforaßw (23,5) verständlich, wonach die aiötißai „nicht die Bedeutung eines dia? tiß in sich tragen“ (= di ö aÜw aiötißaw eälusan), wohl aber „als ein dia? tiß fungieren“ (Rechenauer, a.a.O., 83). 17 Aufgrund eines subjektiven Verständnisses des Begriffs proßfasiw (siehe oben Anm. 13) hat man häufig einen Unterschied zwischen den Begriffen aiötißa und proßfasiw bestritten, so etwa Cornford, a.a.O., 59 („Thucydides, in fact, throughout his first book uses the words aiötißa and proßfasiw interchangeable“), Hammond, a.a.O., 134f., Anm. 2 („I translate both aiötißa and proßfasiw synonymous and interchangeable in Thucydides ...“), Gomme, a.a.O., 153 („There is thus no ... reason ... against taking aiötißa and proßfasiw as of equivalent meaning in this passage, and the use of both as a simple example of metabolhß ...“), de Ste. Croix, a.a.O., 53 („We can ignore from the outset the many analyses which assume, wrongly, that there is some inherent opposition between the expressions prophasis and aitia“), Dover, a.a.O., 16 („In i. 23. 6 it is probably Thucydides’ liking for stylistic variation ... which determined his choice of proßfasiw in preference to a repetition of aiötißa“) und im Anhang bei Gomme, A.W./Andrewes, A./Dover, K.J., A Historical Commentary on Thucydides V, Oxford 1981, 415 („That he did not mean his readers to draw any significant distinction between aiötißa and proßfasiw ... is obvious from i. 118. 1 ...“), Wilson, a.a.O., 160 („... the Peloponnesians brought forward profaßseiw ... to accompany aiÖ ... eöw to? fanero?n legoßmenai aiötißai“), Rhodes, a.a.O., 159 („However it is dangerously easy to identify two distinct meanings, in terms of English words, and to suppose that Thucydides’ intention was to make a contrast based on those two meanings. Gom-

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zwischen der proßfasiw touq poleßmou – dies sind nämlich die aiötißai kai? diaforaiß – und der aölhjestaßth proßfasiw“18 verbirgt. Damit wird bei der Differenzierung der verschiedenen zum Krieg führenden Faktoren der jeweilige Grad an aölhßjeia zum ausschlaggebenden Maßstab:19 Thukydides sieht in den aiötißai kai? diaforaiß die offen zutage liegenden (eöw to? fanero?n legoßmenai) Anlässe, die in der Kriegsverursachung als sekundär20 notwendiger Faktor fungieren, indem sie als letztlich auslösendes Moment den tiefer liegenden Konflikt wirksam werden lassen. Demgegenüber diagnostiziert er (hÖgouqmai)21 als im eigentlichen Sinn

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me and de Ste. Croix were right to protest against that“). Der umgekehrte Fall (Objektivierung der aiötißai) findet sich bei Steup, J., Thukydideische Studien, Zweites Heft, Freiburg 1886, 2f. („In sprachlicher Hinsicht brauchen wir nicht das geringste Bedenken zu tragen, I 23, 5 und 6 die Ausdrücke aiötißa und proßfasiw als gleichwerthig anzusehen“) und Classen-Steup, Thukydides. Erklärt von J. Classen, bearbeitet von J. Steup. Bibliographischer Nachtrag von R. Stark, I, Berlin 51919 (ND 1963), 84 („Zu den aiötißai und den diaforaiß müssen wir hier ... ebensogut die aölhjestaßth proßfasiw ... rechnen“) und Tsakmakis, A., Thukydides über die Vergangenheit, Classica Monacensia 11, Tübingen 1995, 64f. („Die Bedeutung der Unterscheidung liegt nicht etwa in einer einleuchtenden semantischen Verschiedenheit der verwendeten Begriffe, sondern vor allem in der Tatsache, daß durch die Variation und die Einführung eines neuen Terminus aus dem Begriffsfeld ‚Ursache’ der Eindruck entsteht, daß es sich um wesentlich verschiedene Dinge handelt“), der sich für seine Auffassung merkwürdigerweise zugleich auf die so unterschiedlichen Arbeiten von Deichgräber, Pearson, Kirkwood, Weidauer, Sealey, Rawlings und Rechenauer beruft. Rechenauer, a.a.O., 91. Somit scheidet auch die Deutung von proßfasiw als „Ursache schlechthin“ bzw. „wahrer Ursache“ aus, wie sie etwa von Deichgräber, K., PROFASIS. Eine terminologische Studie, Quellen und Studien zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin III 4, Berlin 1933, 4 („Ursache schlechthin“), Jaeger, W., Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Band I, Berlin 21936 (ND 1973), 491 („wahre Ursache“) und Heubeck, a.a.O., 219 („Sie stellt die Kriegsursache schlechthin dar“) vorgeschlagen wird. Vgl. Rechenauer, a.a.O., 96: „proßfasiw bezeichnet all das, was im Bereich der kausalen Zusammenhänge für den Betrachter als Grund zum Vorschein kommt, ohne es näher als einen bestimmten Kausalfaktor zu spezifizieren.“ 66: „In dem medizinischen Prophasisbegriff ist demnach eine Tiefendimension des Erkennens angelegt, deren Skala von den ganz an der Oberfläche liegenden sichtbaren Faktoren mit bloß auslösender oder mitwirkender Funktion bis in die Substrukturen der Krankheitsaitiologie zu den eigentlichen Ursachen reicht ...“ Durch den jeweiligen Grad an aölhßjeia werden die verschiedenen profaßseiw touq poleßmou in ihrer aitiologischen Funktion unterschieden. Dass die aiötißai kai? diaforaiß im aitiologischen Sinn gewissermaßen austauschbar wären, macht besonders die Formulierung ... kai? oÄsa proßfasiw touqde touq poleßmou kateßsth (118,1) deutlich. Ebenso wie in der Medizin die proßfasiw erst dann als proßfasiw existent wird, wenn sie vom Arzt diagnostiziert wird (vgl. Rechenauer, a.a.O., 67: „Die medizinische Prophasis bildet stets das subjektiv wahrgenommene Korrelat zu einem objek-

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verantwortlichen Faktor22 (aölhjestaßth proßfasiw) unter der sichtbaren Oberfläche das Zusammenwirken zweier Faktoren, des Wachsens der athenischen Macht und der dadurch bei den Spartanern ausgelösten Furcht. Da hinter diesen beiden Komponenten die in der aönjrvpeißa fußsiw23 verankerten Triebkräfte stehen, trägt dieser Prozess eine unausweichliche Notwendigkeit (aönagkaßsai) in sich. Ebenso wie sich der Abschnitt 23,4-6 als kunstvoller, um die aölhjestaßth proßfasiw als Symmetrieachse gruppierter Komplex ausnimmt, dessen Gedankenführung einen im aitiologischen Sinn von außen nach innen und von innen wieder nach außen dringenden Erkenntnisprozess zum Ausdruck bringt, manifestiert sich in der Struktur des gesamten ersten Buches eine an der Differenzierung der Kriegsursachen in aiötißai kai? diaforaiß und aölhjestaßth proßfasiw orientierte Aufarbeitung der Entstehung des peloponnesischen Krieges: So geht Thukydides mit der Darstellung der Konflikte um Kerkyra (24-55,2) und Poteidaia (56-66) zunächst von einer Untersuchung der aiötißai kai? diaforaiß, d.h. der offen zutage liegenden proßfasiw touq poleßmou aus,24 um nach der sog. Tagsatzung in Sparta (67-88), die mit dem Kriegsbeschluss Spartas endet, eine systematische Analyse der aölhjestaßth proßfasiw folgen zu lassen (89-118,2). In dieser eökbolh? touq loßgou (97,2) erbringt Thukydides gleichsam den Beweis für die 23,6 aufgestellte These,25 indem er die Machtexpansion Athens und die Phasen ihrer Auswirkung auf Sparta während der Pentekontaetie untersucht. In genauer Parallele zur Gedankenführung 23,4-6 lenkt er sodann wieder zu den Geschehnissen unmittelbar vor Kriegsbeginn zurück und schildert den Kriegsbeschluss des peloponnesischen Bundes (118,3-125)

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tiv im Krankheitsbild vorhandenen Faktum“), ist auch im Bereich der Geschichtsdeutung die Verbindung von proßfasiw zum Erkenntnisblick des Betrachters (hÖgouqmai) wesenhaft. Diesen Aspekt übersieht Huxley, G.L., Thucydides on the growth of Athenian power, PRIA 83 C 6, 1983, 191-204 völlig. Huxley leitet aölhjestaßth korrekt von lanjaßnv her, versteht allerdings unter der aölhjestaßth proßfasiw in einer eklatanten Fehldeutung „the least hidden reason“ (196): „The reason they fought, he is saying, was staring everyone in the face, but it was the least talked about.“ Zu wenig kausale Kraft besitzt demgegenüber die von Fritz, K. von, Die griechische Geschichtsschreibung I, Von den Anfängen bis Thukydides, Berlin 1967, 629 und Rawlings, H.R., A Semantic Study of Prophasis to 400 B.C., Hermes Einzelschriften 33, Wiesbaden 1975, 81 vorgeschlagene Deutung von proßfasiw als „Vorzustand“ bzw. „antecedent condition“. Zur thukydideischen Vorstellung der aönjrvpeißa fußsiw siehe Rechenauer, a.a.O., 139-167. Vgl. die oben ausgeschriebenen Rückverweise 55,2 und 66. Vgl. Walker, P.K., The Purpose and Method of ‚The Pentekontaetia’ in Thucydides, Book I, CQ N.S. 7, 1957, 27-38, dort 31.

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und die Verhandlungen zwischen Athen und Sparta, die in der Volksversammlung der Athener kulminieren (126-146). Somit erweist sich die 23,46 getroffene Unterscheidung zwischen den aiötißai kai? diaforaiß und der aölhjestaßth proßfasiw als bestimmend für den Aufbau des gesamten ersten Buches.26 Aufgrund einer inadäquaten Interpretation des eben untersuchten Abschnitts 23,4-6 ist dieser Zusammenhang freilich oft übersehen worden. Vielmehr wird die Zweckmäßigkeit der Disposition des ersten Buches, dessen Strukur anders als die der Bücher 2-8 nicht durch eine an den Ereignissen orientierte, fortlaufende Darstellung bestimmt ist, seit der Antike in Zweifel gezogen. So äußert sich schon Dionysios von Halikarnass in seiner an Aelius Tubero adressierten Schrift Peri? Joukudißdou kritisch über die Anordnung des Stoffs (10): Aiötivqntai de? kai? th?n taßcin auötouq tinew, vÖw ouäte aörxh?n thqw iÖstorißaw eiölhfoßtow hÜn eöxrhqn ouäte teßlow eöfhrmokoßtow auöthq# to? preßpon, ouök eölaßxiston meßrow eiQnai leßgontew oiökonomißaw aögajhqw aörxhßn te labeiqn, hWw ouök aün eiäh ti proßteron, kai? teßlei perilabeiqn th?n pragmateißan, vW# doßcei mhde?n eöndeiqn: vWn ouödeteßrou proßnoian auöto?n pepoihqsjai th?n proshßkousan. th?n de? aöformh?n auötoiqw thqw kathgorißaw taußthw oÖ suggrafeu?w pareßsxhtai: proeipv?n gaßr, vÖw meßgistow eögeßneto tvqn pro? auötouq poleßmvn oÖ Peloponnhsiako?w xroßnou te mhßkei kai? pajhmaßtvn pollvqn suntuxißaiw, teleutvqn touq prooimißou ta?w aiötißaw boußletai prvqton eiöpeiqn, aöf ö vWn th?n aörxh?n eälabe. ditta?w de? taußtaw uÖpojeßmenow, thßn te aölhjhq meßn, ouök eiöw aÄpantaw de? legomeßnhn, th?n auächsin thqw §Ajhnaißvn poßlevw, kai? th?n ouök aölhjhq meßn, uÖpo? de? Lakedaimonißvn plattomeßnhn, th?n §Ajhßnhjen aöpostaleiqsan Kerkuraißoiw kata? Korinjißvn summaxißan, ouök aöpo? thqw aölhjouqw kai? auötvq# dokoußshw th?n aörxh?n pepoißhtai thqw dihghßsevw, aöll ö aöpo? thqw eÖteßraw ...

Der Kritik des Dionysios liegt eine Fehldeutung der thukydideischen Analyse der Kriegsverursachung zugrunde: So fasst er die als aiötißai kai? diaforaiß bezeichneten Konflikte um Kerkyra und Poteidaia als von spartanischer Seite fingierten Vorwand (th?n ouök aölhjhq meßn, uÖpo? de? Lakedaimonißvn plattomeßnhn) auf und sieht die thukydideische Interpretation der Genese des Krieges ausschließlich auf die aölhjestaßth

26 Vgl. die Würdigung von Rechenauer, a.a.O., 108: „Der Prophasisbegriff illustriert das stufenweise Nachvollziehen der Entstehung des peloponnesischen Krieges, beginnend unmittelbar auf dem Vordergrund der aktuellen Geschehnisse, der proßfasiw touq poleßmou, um im allmählichen Tieferdringen in substrukturelle Bereiche auf die aölhjestaßth proßfasiw durchzustoßen und von dort über die Synthese der aölhjestaßth proßfasiw und der aiötißai kai? diaforaiß aufwärtssteigend wiederum an die Oberfläche der unmittelbaren Vorkriegsereignisse zurückzuführen.“

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proßfasiw27 beschränkt, die er allerdings fälschlich auf das Wachstum der athenischen Macht (th?n auächsin thqw §Ajhnaißvn poßlevw) reduziert; er verkennt also völlig, dass sich für Thukydides erst in der Synthese aus der aölhjestaßth proßfasiw und den aiötißai kai? diaforaiß28 der Ausbruch des Krieges vollständig erklärt. Deshalb kann er den sich 23,4-6 wie in der Struktur des ersten Buches manifestierenden Erkenntnisprozess unmöglich nachvollziehen; stattdessen plädiert er in der Frage der richtigen taßciw des Stoffs für eine chronologische Darstellung der Vorkriegsgeschichte (11): eöxrhqn de? auöto?n aörcaßmenon ta?w aiötißaw touq poleßmou zhteiqn prvqton aöpodouqnai th?n aölhjhq kai? eÖautvq# dokouqsan. hÄ te ga?r fußsiw aöphß#tei ta? proßtera tvqn uÖsteßrvn aärxein kai? taölhjhq pro? tvqn yeudvqn leßgesjai, hÄ te thqw dihghßsevw eiösbolh? kreißttvn aün eögißneto makrvq#, toiaußthw oiökonomißaw tuxouqsa.

Weniger maßvoll drückt sich U. von Wilamowitz-Moellendorff aus, der Thukydides, dem meisterhaften Erzähler des Archidamischen Krieges und der Sizilischen Expedition, „am wenigsten ... das Ungeheuer von Komposition zutrauen“ kann, „welches unser jetziges erstes Buch bildet, ein Konglomerat von ungefügten Stücken ...“29, und auch 23 Jahre später im ersten Buch „noch eben ein solches Chaos wie früher“30 sieht. Anders als Dionysios von Halikarnass zieht Wilamowitz aus seiner Beurteilung der Komposition des ersten Buches freilich Schlüsse, die unmittelbar ins Zentrum der analytischen Thukydidesinterpretation führen. Besonders weit verbreitet ist unter den Vertretern der Thukydidesanalyse31 die aus einem mangelnden Verständnis für die kunstvolle Struktur 27 Deshalb spricht er auch nur von der aölhjh?w aiötißa. Auf die begriffliche Unterscheidung zwischen proßfasiw und aiötißa achtet Dionysios auch Peri? tvqn Joukudißdou iödivmaßtvn 6 nicht, wo er unsere Stelle mit den Worten th?n me?n ouQn aölhjestaßthn aiötißan, loßgv# de? aöfanestaßthn ... zitiert. 28 Vgl. etwa Rawlings, a.a.O., 91: „The two causal factors are not mutually exclusive; they are dependent on each other for their effect, for neither could provoke war without the other ... There is no ‚opposition’ between the aiötißai and the prophasis; they are two interdependent elements in the same causal theory.“ 29 Wilamowitz-Moellendorff, U. von, Thukydideische Daten, Hermes 20, 1885, 477490, jetzt in: Kleine Schriften III. Griechische Prosa, Berlin 1969, 85-100, dort 95. Vgl. auch 96 zur Stellung der Pentekontaetie: „Dann wird (was man nach 23 nicht erwarten kann) die aölhjestaßth proßfasiw nachgeholt und wieder mit täuschend verknüpften Einlagen die Geschichte vom Wachsen Athens erzählt 89-117.“ 30 Ders., Thukydides VIII, Hermes 43, 1908, 578-618, jetzt in: Kleine Schriften III. Griechische Prosa, Berlin 1969, 307-345, dort 309. 31 In der Frage der Entstehungsgeschichte des thukydideischen Geschichtswerks folgen wir dem besonnenen Urteil von Lesky, A., Geschichte der griechischen Literatur, Bern/München 31971 (ND 1993), 531f.: „Was wir aber heute lesen, ist nicht die durch Nachträge und Einschübe notdürftig überdeckte Zusammenfügung von Entwürfen, die nach Zeit und geistiger Haltung weit getrennt sind, sondern ein

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der untersuchten Passage resultierende Auffassung, dass die Rückführung der Kriegsentstehung auf die aölhjestaßth proßfasiw 23,6 und damit auch die Pentekontaetie einer späteren Retraktation des Werkes entstammten, während die Kerkurai_kaß und die Poteideatikaß einem früheren Entwurf angehörten.32 So werden etwa für Ed. Schwartz, mit dessen wirkungsmächtigem Buch die Zwei-Schichten-Hypothese ihren Höhepunkt erreicht, „die aiötißai kai? diaforaiß der älteren Ankündigung“ durch die angeblich spätere Einfügung von 23,6 geradezu „gewaltsam umgedeutet“33. Insgesamt stelle das uns heute vorliegende erste Buch ein nicht mehr in Einklang gebrachtes34 Nebeneinander eines älteren Entwurfs, bei dem im wesentlichen einheitliches, von ganz bestimmten Gesichtspunkten aus gestaltetes Werk. Die zahlreichen Spätindizien sprechen dafür, daß dieses seine Form in den Jahren nach dem Zusammenbruche Athens erhalten hat. Natürlich ist in ihr eine Fülle von Notizen und Ausarbeitungen aus der früheren Schaffenszeit des Autors verwertet und aufgehoben. Er hat seine Arbeit nicht zu Ende gebracht, davon sprechen ebenso der Schluß wie nach unserer Auffassung der Zustand des fünften und achten Buches, aber er konnte sie so weit führen, daß er eine Geschlossenheit seines Werkes erzielte, die uns seine Zerlegung in Teile und Teilchen nicht mehr ohne weiteres gestattet.“ 32 Bei aller Unterschiedlichkeit in Methodik und Zielrichtung ihres analytischen Ansatzes stimmen darin grundsätzlich überein: Steup, J., Quaestiones Thucydideae, Diss. Bonn 1868; ders., Thukydideische Studien II. Vgl. auch Classen-Steup, a.a.O., XXXI, 84, 243 und Steup im Anhang, 437; Schwartz, E., Das Geschichtswerk des Thukydides, Bonn 21929 (ND Hildesheim 1969); Aly, W., Form und Stoff bei Thukydides, RhM 77, 1928, 361-383; Schadewaldt W., Die Geschichtsschreibung des Thukydides. Ein Versuch. Mit dem Nachwort der 2. Auflage 1971, Berlin 21971 (ND Hildesheim 2003); Pohlenz, M., Thukydidesstudien I-III, NGG 1919, 95-138 und 1920, 56-82, jetzt in: Kleine Schriften II, herausgegeben von H. Dörrie, Hildesheim 1965, 210-280; Schmid, Walter, Zur Entstehungsgeschichte und Tektonik des I. Buches des Thukydides, Diss. Tübingen 1947; Weidauer, K., Thukydides und die Hippokratischen Schriften. Der Einfluß der Medizin auf Zielsetzung und Darstellungsweise des Geschichtswerks, Heidelberg 1954, 8-20; Sealey, R., Thucydides, Herodotos, and the Causes of War, CQ N.S. 7, 1957, 1-12; ders., The Causes of the Peloponnesian War, CPh 70, 1975, 89-109; Andrewes, a.a.O.; Dover, a.a.O. Eine Ausnahme innerhalb der analytischen Thukydidesinterpretation stellt Romilly, J. de, Thucydide et l’impérialisme athénien. La pensée de l’historien et la genèse de l’œuvre, Paris 21951. Zitiert nach der englischen Übersetzung: Thucydides and Athenian Imperialism, translated by P. Tody, New York 1963, 19f. dar, die eine späte Abfassung der Pentekontaetie annimmt, gleichwohl aber die Rückführung der Kriegsentstehung auf die aölhjestaßth proßfasiw für ursprünglich hält. 33 A.a.O., 250. Vgl. auch Andrewes, der in 23,5 ein „emphatic full close“ sieht, worauf sich die mit c.24 beginnende Darstellung der aiötißai kai? diaforaiß natürlich anschließe. Demgegenüber bewirke die aölhjestaßth proßfasiw eine „positive interruption“ (a.a.O., 225). 34 Vgl. etwa a.a.O., 250 zu 23,4-6: „Wäre der Geschichtsschreiber dazu gelangt, die Retraktation abzuschliessen, so würde diese Inkonzinnität ... ausgeglichen sein ...“

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Sparta wider Willen von seinen Bundesgenossen in den Krieg getrieben worden sei, und einer unter dem Eindruck der Katastrophe von 404 entstandenen jüngeren Fassung dar, in der Sparta selbst aus Furcht vor Athens zunehmender Macht zum Krieg dränge.35 Derartige Theorien müssen freilich angesichts der durchdachten Strukur der untersuchten Passage36 und der aufgezeigten engen Beziehung zum Aufbau des ersten Buches als völlig abwegig erscheinen, vielmehr bildet das erste Buch eine geschlossene Einheit,37 die kaum das Resultat nachträglicher Erweiterungen, Einschübe oder Zusätze sein kann.

116: „Der Herausgeber arbeitete dann so gut es ging, alles zusammen.“ Vgl. auch ders., Ueber das erste Buch des Thukydides, RhM 41, 1886, 203-222, dort 222: „Die unitarische Auffassung ist in der thukydideischen Frage ebenso hoffnungslos verloren wie in der homerischen.“ 35 Nach Schwartz ist die postulierte Umgestaltung der älteren Partien durch das Bestreben motiviert, Perikles und Athen gegen die Angriffe nach 404 zu verteidigen und die Berechtigung der perikleischen Politik zu erweisen. Schadewaldt, a.a.O., 96 glaubt dagegen eine geistige Entwicklung bei Thukydides ausmachen zu können: „Der späte Thukydides sah tiefer, forschte nach der ‚wirklichen Ursache’, der aölhjestaßth proßfasiw ...“ Für Sealey, The Causes manifestiert sich in der späteren Überarbeitung ein Fortschritt von einer eher herodoteischen Analyse der Kriegsverursachung zu einem tiefer gehenden Erklärungsmodell. Mit ähnlichen Tendenzen Cawkwell, G., Thucydides and the Peloponnesian War, London/New York 1997, 22. 36 Vgl. Heubeck, a.a.O., 216: „Solche Formulierungen sind aus einem Guß; wenn irgendwo analytisches Sezieren fehl am Platz ist, dann hier.“ 37 Vgl. Patzer, H., Das Problem der Geschichtsschreibung des Thukydides und die thukydideische Frage, Berlin 1937, 109 („planvolle Aufbau des ersten Buches“), de Romilly, a.a.O., 25 („The different elements which make up Book I are interrelated rather than contradictory, and fit together like the pieces of a jigsaw puzzle“), Katičić, a.a.O., 196 („ein sorgsam geformtes Ganzes ... nach den Prinzipien der altertümlichen Ringkomposition“; sein Gliederungsprinzip nach größeren und kleineren „Schleifen“ wirkt freilich etwas konstruiert), Adcock, F.E., Thucydides in Book I, JHS 71, 1951, 2-12, dort 12 („... in the First Book we have a view of the antecedents of the war which is all of a piece, and which does not need to be explained by the importation into it of Thucydidean deußterai frontißdew ...“), ders., Thucydides and his History, Cambridge 1963, 21 mit Bezugnahme auf Katičić („But this reproach fails to take account of a form of composition known at the time, which has been described as an arrangement in loops [Ringkomposition]“), Rhodes, a.a.O., 159 („This is a perfectly coherent way of organizing the material, and gives us no reason to suppose that Thucydides grafted a later view on to an earlier“), Ellis, J.R., The Structure and Argument of Thucydides’ Archaeology, ClAnt 10, 1991, 344-375, dort 345 („In fact the first book is painstakingly ordered, its components from largest to smallest arranged and interrelated to an awesome degree ...“), Polacco, L., Commento al libro primo di Tucidide, AIV 159, 2001, 1551, dort 48 („... sapienza ed esercitata perizia nella distribuzione della materia e nell’accostamento, mi si permetta ancora di dire, musicale, delle diverse tonalità“).

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Die bisherigen Ausführungen haben sich ausschließlich auf die auf der Ebene der eärga liegende Schilderung der Vorkriegsgeschichte beschränkt und den Bereich der loßgoi, die Thukydides im Methodenkapitel den eärga gleichberechtigt gegenüberstellt, noch gänzlich ausgeklammert. Gerade im ersten Buch begegnet indes eine besonders dichte Häufung direkter Reden: Auffälligerweise finden sich dort von den über das gesamte Werk verteilten mehr als vierzig wörtlichen Reden allein acht. Somit zeigt sich schon rein äußerlich, welche Bedeutung Thukydides bei der Aufarbeitung des Kriegsausbruchs der Einlage von Reden beimisst.38 Die genaue Funktion dieser Reden für die thukydideische Analyse der Kriegsverursachung ist in der Forschung freilich ungeklärt. So gehen die Meinungen schon in der Frage nach dem Zusammenhang der Reden mit der 23,4-6 getroffenen Differenzierung der Kriegsursachen in aiötißai kai? diaforaiß und aölhjestaßth proßfasiw ebenso unter Vertretern einer analytischen wie einer unitarischen Betrachtungsweise weit auseinander. Während etwa N.G.L. Hammond39, P.K. Walker40, A. Tsakmakis41 und H. Sonnabend42 die Entfaltung der aölhjestaßth proßfasiw weitgehend auf 38 Zusammengerechnet nehmen die Reden im ersten Buch mehr als ein Drittel des gesamten Umfangs ein, klammert man 1-23 aus, sogar fast die Hälfte. 39 Hammond, a.a.O., 134f. weist 24-87 unterschiedslos der Darstellung der „openly avowed causes“ zu und sieht in 118,3-146 eine Behandlung der „causes and disputes leading to the dissolution of the treaty“ (Die unterschiedliche Bezeichnung der aiötißai kai? diaforaiß als „the causes and disputes leading to the dissolution of the treaty“ bzw. „the causes openly avowed by each side“ rührt dabei von seiner Interpretation der Zentralstelle 23,4-6 her: Er glaubt einen Unterschied zwischen den aiötißai § 5 und § 6 zu erkennen und versucht, von dieser falschen Prämisse ausgehend, den Passus in vier verschiedene Behauptungen zu gliedern, die dann in umgekehrter Reihenfolge abgehandelt würden). Zur Verdeutlichung der Unzulänglichkeit seines Aufbauschemas sei exemplarisch darauf hingewiesen, dass er auf der Tagsatzung „eögklhßmata made by the Peloponnesians and answered by the Athenian envoys“ sieht, während doch die athenischen Gesandten gerade eine Auseinandersetzung mit den vonseiten der spartanischen Bundesgenossen gegen sie gerichteten eögklhßmata am Beginn ihrer Rede (73,1) ablehnen. 40 A.a.O., 28: „The rest of the book, except for 88-118 and the explanatory digressions on Pausanias and Themistocles between 128 and 138, is an account of that open representation and decisive discussion of these and other grievances which is implied in the phrases eöw to? fanero?n legoßmenai, aöf ö vWn lußsantew ...“ 41 Tsakmakis, a.a.O., 64f. sieht den Gedanken der aölhjestaßth proßfasiw abgesehen von der Pentekontaetie nur in der Rede des Sthenelaidas (86,5) und in dem die Tagsatzung abschließenden Kommentar (88) wieder aufgenommen. Wie er 65, Anm. 5 mit Verweis auf de Romilly, a.a.O., 17-36 und Rawlings, a.a.O., 82-93 gleichzeitig behaupten kann, dass die „aölhjestaßth proßfasiw im gesamten ersten Buch präsent“ sei, bleibt unklar. 42 Sonnabend, H., Thukydides, Olms Studienbücher Antike 13, Hildesheim/Zürich/New York 2004, 31: „Diese letzteren (sc. die bloßen Anlässe) behandelt er

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die Pentekontaetie beschränkt sehen und damit die Reden dem Bereich der aiötißai kai? diaforaiß zuordnen, sind für F. Taeger43, J. de Romilly44, A. Andrewes45, G.E.M. de Ste. Croix46, H.R. Rawlings47 und A.H. Rasmussen48 gerade umgekehrt die aiötißai kai? diaforaiß besonders in den Reden auf der Tagsatzung völlig in den Hintergrund gedrängt. Für Andrewes fungiert die von ihm in den Reden des ersten Buches ausgemachte Fokussierung auf die aölhjestaßth proßfasiw sogar als zentrales Argument seiner analytischen Position in der Nachfolge der Zwei-Schichten-Theorie von Schwartz. So konstatiert er einen Widerspruch zwischen der Bestimmung der aölhjestaßth proßfasiw als aöfanestaßth loßgv# und ihrer Prä-

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zunächst separat, wobei er den Affären um Kerkyra und Poteidaia besonderes Gewicht beimisst (1,24-88) ...“ A.a.O., 151: „Sie [sc. die Reden der Tagsatzung] stehen am Schluss des Abschnittes über die aiötißai kai? diaforaiß. Getragen von ganz anderen Ideen, bringen sie diese kaum noch zum Ausdruck.“ 167: „Die zweite Gruppe (65-[68-86]-88), welche den Abschluss des zweiten Unterabschnittes darstellt, ist dagegen ganz von den Ideen der aölhjestaßth proßfasiw getragen ...“ A.a.O., 22: „The description of the assembly certainly belongs to the aölhjestaßth proßfasiw, and the four speeches which it contains deal with the problem of Athenian imperialism as a whole rather than with the conflicts arising from any recent disputes. The Corinthians, indeed, denounce Athenian imperialism without referring to any of these disputes ... and in their reply the Athenians also try to justify their empire in very general terms ... After them, the two Spartans, Archidamus and Sthenelaidas, pay no more attention than the previous speakers had done to contemporary affairs.“ A.a.O., 225: „In the first debate at Sparta the Corinthians allow one sentence (68. 4) to Corcyra and Poteidaia, and devote almost all their speech to the danger caused by Athens’ expansion. The Athenian envoys (72-78) and Archidamos refer very briefly to the aiötißai and discuss them not at all. Sthenelaidas (86) refers to them when he says that Sparta must stand by her allies, but he echoes the proßfasiw at the close ...“ A.a.O., 56: „The Corinthians, in their two speeches at Sparta, can talk of little else but the danger of Athenian imperialism; they make only passing references to the aitiai ... The Athenians pointedly dismiss the aitiai as matters capable of being satisfactorily settled by arbitration ... Archidamus alludes to Potidaea and the other grievances of the allies only to propose the sending of an embassy to Athens to negotiate for a settlement ... Sthenelaidas says nothing directly about the aitiai ...“ A.a.O., 85, Anm. 164: „... the speeches of the Corinthians, of Archidamus, and of Sthenelaidas all neglect the eögklhßmata and discuss exclusively the aölhjestaßth proßfasiw. The eögklhßmata are only mentioned in passing in 67, 4 and 79, 1, but these are not the subject of Thucydides’ treatment of the conference. The shift from precipitants (aiötißai) to precondition (aölhjestaßth proßfasiw) occurs at 67, not 88.“ Rasmussen, A.H., Thucydides’ conception of the Peloponnesian War I, C&M 42, 2001, 57-94, dort 77: „Actually, however, the real issue of the debate was hÖ aölhjestaßth proßfasiw.“

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senz in den Reden des ersten Buches: Während man aufgrund von 23,6 erwarten müsse, „that the ensuing discussion will be about these particular quarrels and not about the underlying cause“49, zeigten die Reden ein ganz anderes Bild: Schon in der Debatte um Kerkyra sei die aölhjestaßth proßfasiw gegenwärtig,50 auf der Tagsatzung in Sparta stehe sie vollends im Mittelpunkt.51 Da die aölhjestaßth proßfasiw im ersten Buch also in keiner Weise aöfanestaßth loßgv# sei, kommt er zu dem Schluss: „When Thucydides wrote these words, his mind was not on the debate at Sparta, or not on the form which it now takes in his text.“52 Weitere Bestätigung für seine Position glaubt Andrewes in der Bemerkung zu finden, mit der Thukydides seinen Bericht von der Tagsatzung abschließt (88): eöyhfißsanto de? oiÖ Lakedaimoßnioi ta?w sponda?w lelußsjai kai? polemhteßa eiQnai ouö tosouqton tvqn cummaßxvn peisjeßntew toiqw loßgoiw oÄson foboußmenoi tou?w §Ajhnaißouw mh? eöpi? meiqzon dunhjvqsin ...

Da der Inhalt der einzigen Bundesgenossenrede, die mitgeteilt werde, nämlich der zweiten Korintherrede, eben um das Machtstreben der Athener kreise, könne Thukydides diese Worte nicht gleichzeitig mit der Korintherrede verfasst haben.53 Obwohl schon O. Luschnat Andrewes’ Argumentation mit Verweis auf die methodische Unzulänglichkeit des Verfahrens, die Bestimmung der aölhjestaßth proßfasiw als aöfanestaßth loßgv# auf die thukydideischen Reden des ersten Buches zu beziehen, widerlegt und im Gegenzug den scheinbaren Widerspruch mit der Intention des Thukydides erklärt, sich – ähnlich wie etwa Hekataios im Hinblick auf mythologische Fragen54 – von der vorherrschenden Ansicht seiner Zeitgenossen über die Entstehung des 49 A.a.O., 225. 50 33,3: to?n de? poßlemon, di ö oÄnper xrhßsimoi aün eiQmen, eiä tiw uÖmvqn mh? oiäetai eäsesjai, gnvßmhw aÖmartaßnei kai? ouök aiösjaßnetai tou?w Lakedaimonißouw foßbv# tvq# uÖmeteßrv# polemhseißontaw ... 51 Vgl. oben Anm. 45. 52 A.a.O., 225. Da die aölhjestaßth proßfasiw hingegen in der ersten Periklesrede keine Erwähnung finde, sei der Ausdruck aöfanestaßth loßgv# laut Andrewes möglicherweise mit Bezug auf Athen zu verstehen (238): „It therefore seems possible that Thucydides had Athens in mind when he wrote these somewhat unexpected words.“ Freilich muss Andrewes angesichts dieser unbefriedigenden Deutung zu der Erklärung Zuflucht nehmen, dass „further revision might perhaps have altered this phrase ...“ (ebd.). 53 A.a.O., 226 mit Verweis auf Kapp in dessen Besprechung der Arbeit Schadewaldts Gnomon 6, 1930, 67-100, dort 100: „... schon das schließt m.E. aus, daß diese Korintherrede gleichzeitig mit I 88 entstanden wäre.“ 54 Vgl. etwa den Eingangssatz aus seinem genealogischen Werk (Jacoby FGrH 1 F 1): taßde graßfv, vÄw moi dokeiq aölhjeßa eiQnai: oiÖ ga?r &Ellhßnvn loßgoi polloiß te kai? geloiqoi, vÖw eömoi? faißnontai, eiösißn.

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peloponnesischen Krieges zu distanzieren, weshalb die aölhjestaßth proßfasiw eben gerade in seinen loßgoi Erwähnung finden müsse,55 ist Andrewes’ Ansatz, die Formulierung aöfanestaßth loßgv# mit den thukydideischen Reden in Zusammenhang bringen zu wollen, doch bis heute – freilich ohne analytische Hintergründe – weit verbreitet und steht einem korrekten Verständnis der Funktion der Reden für die thukydideische Analyse der Kriegsverursachung oftmals im Wege. So gesteht etwa G.M.E. de Ste. Croix Andrewes durchaus zu, dass die Formulierung aöfanestaßth loßgv# – verstanden als nähere Bestimmung der aölhjestaßth proßfasiw als Ursache, die bei den Verhandlungen vor Kriegsausbruch nicht zur Sprache kam – angesichts der Präsenz der aölhjestaßth proßfasiw in den Reden des ersten Buches56 zu einem Widerspruch führe: „If, then, we ... take Thucydides to mean that the ‚truest explanation’ was very little in evidence in all discussion or propaganda, we are led into absurdity, for we make Thucydides contradict himself, quite uncharacteristically, in the most flagrant manner.“57 Um die Schwierigkeit zu lösen, plädiert de Ste. Croix für eine alternative Interpretation des Ausdrucks aöfanestaßth loßgv#: Da seiner Meinung nach im Passus 23,5f. nur zwischen verschiedenen Erklärungen für den Ausbruch des Krieges aus Sicht der Spartaner differenziert werde,58 besagten auch die Worte aöfanestaßth loßgv# nur, dass die aölhjestaßth proßfasiw vonseiten der Spartaner in der öffentlichen Propaganda niemals geäußert worden sei.59 Dieses 55 Luschnat, O., Thukydides der Historiker, in: RE Suppl. Bd. XII, 1970, Sp. 10851354, dort Sp. 1217: „Was berechtigt uns, den Ausdruck aöfanestaßthn loßgv# auf die Reden im I. Buch des Geschichtswerkes zu beziehen? Es liegt doch viel näher, daß der Geschichtsschreiber zu Beginn sagt: Was damals öffentlich geredet wurde, bezog sich nur auf die aktuellen Streitigkeiten, während man die tieferen Gründe entweder nicht sah oder nicht richtig, nach ihrer vollen Wahrheit durchschaute ... Man kann sogar entgegengesetzt argumentieren: Gerade weil die aöl. pr. in der communis opinio der Zeit so wenig zur Sprache kam, hält der Historiker es für seine Pflicht, in s e i n e n Reden sie zu Wort kommen zu lassen.“ Vgl. auch Lendle, O., Einführung in die griechische Geschichtsschreibung, Darmstadt 1992, 102. 56 A.a.O., 56: „In the Peloponnesian councils, if the speeches in the History have any historical value at all, it was discussed freely.“ 57 A.a.O., 57. 58 A.a.O., 58: „... the prophasis in 23.6 is the explanation of the Peloponnesian decision to go to war, the aitiai are ‚the grounds of complaint openly expressed’ by the Peloponnesians in their official decisions and propaganda ...“ 59 Ebd.: „The Spartans could never afford to admit publicly that their ‚grounds of complaint’ were bogus and that their real reason for declaring war was the fear of Athens’ growing power ... The reality did lie ‚below the diplomatic surface’ and the fear of the growth of Athenian power as a reason for breaking the Peace was ‚an idea which could be freely expressed at Sparta but not by a Spartan at Athens’ – because it gave Sparta no valid pretext for her war.“

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Verständnis ergebe eine „perfectly natural interpretation“60, die mit dem Inhalt der Reden des ersten Buches völlig in Einklang stehe. Gegen die Interpretation, dass die aiötißai und die aölhjestaßth proßfasiw einseitig aus der Sicht der Spartaner zu verstehen seien, erhebt zu Recht R. Sealey Einspruch, indem er auf die Formulierung aiötißai aiÄd ö hQsan eÖkateßrvn (23,6) und die deutlich darauf Bezug nehmenden Worte Toiqw d ö §Ajhnaißoiw kai? Peloponnhsißoiw aiötißai me?n auWtai prougegeßnhnto eöw aöllhßlouw (66) verweist.61 Sealey glaubt seinerseits zeigen zu können, dass das von Andrewes aufgeworfene Problem nur aufgrund einer falschen Interpretation der Worte tou?w §Ajhnaißouw hÖgouqmai megaßlouw gignomeßnouw kai? foßbon pareßxontaw toiqw Lakedaimonißoiw aönagkaßsai eöw to? polemeiqn (23,6) existiere. Entgegen der traditionellen Deutung, wonach in den Augen des Thukydides die zum Kriegsausbruch führende aönaßgkh im Zusammenwirken zweier Faktoren bestehe, nämlich der athenischen Machtexpansion und der dadurch bei den Spartanern ausgelösten Furcht,62 werden aus seiner Sicht in der zentralen Stelle 23,4-6 hauptsächlich die Athener für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gemacht, da der Ton der Aussage eindeutig auf tou?w §Ajhnaißouw als dem Subjektsakkusativ zu aönagkaßsai liege.63 Für Sealey wendet sich Thukydides mit seiner Bestimmung der aölhjestaßth proßfasiw gegen die landläufige Ansicht, dass vor allem die Spartaner die Schuld am Ausbruch des Krieges trügen, wie sie etwa 7,18,264 zum Ausdruck gebracht werde.65 Da somit Andrewes von einer falschen Auffassung der aölhjestaßth proßfasiw ausgehe, glaubt Sealey durch deren Korrektur auch das von Andrewes 60 Ebd. 61 Sealey, The Causes, 91 mit Anm. 7. 62 A.a.O., 93: „One should therefore diverge from the many readers who have claimed to find the chief content of the clause in its participial phrases; A. W. Gomme, for example, wrote ‚... the main cause of the war was Athenian imperialism and Spartan fear of her rival.’“ 63 A.a.O., 92: „Thus in the sentence about ‚the most genuine cause’ Thucydides tries first and foremost to say something about the Athenians ... Second, the statement of ‚the most genuine cause’ singles out the Athenians as the center of attention; therefore, insofar as Thucydides attributes responsibility in stating that cause, he attributes responsibility to the Athenians.“ Mit ähnlichen Tendenzen Rasmussen, a.a.O., 67: „That it was the Athenian Empire which created the conflict was Thucydides’ personal contribution to the discussion of the causes of the Peloponnesian War.“ 64 Dort berichtet Thukydides, dass sich die Spartaner später für den Ausbruch des Krieges verantwortlich fühlten: eön ga?r tvq# proteßrv# poleßmv# sfeßteron to? paranoßmhma maqllon geneßsjai ... 65 A.a.O., 93: „Evidently he could take for granted among his readers the belief that the Spartans were the greater aggressors. His statement of ‚the most genuine cause’ answers this belief ...“

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aufgeworfene Problem als gegenstandslos erwiesen zu haben: „... he finds that references to the alethestate prophasis pervade Book 1, and so he has to seek an explanation for Thucydides’ statement that it was least spoken of. It is easier to suppose that the alethestate prophasis does not pervade Book I.“66 Ohne Sealeys eigenwilliges Verständnis der aölhjestaßth proßfasiw und seine Argumentation („It is easier“) näher zu kommentieren, bleibt für unsere Frage festzuhalten, dass auch er damit Andrewes’ Ansatz, die Formulierung aöfanestaßth loßgv# mit dem Inhalt der thukydideischen Reden in Deckung bringen zu wollen, prinzipiell für zulässig erachtet. Versucht Sealey den von Andrewes ausgemachten Widerspruch zwischen dem Ausdruck aöfanestaßth loßgv# und der Gestalt der thukydideischen Reden durch eine neue Deutung der aölhjestaßth proßfasiw aufzulösen, liegt für K.J. Dover und S. Hornblower der Schlüssel zu einer Harmonisierung in einer Relativierung der Bestimmung aöfanestaßth loßgv#. Wie Andrewes missachten beide methodisch unzulässig die Eigenheit der thukydideischen Reden gegenüber den realen loßgoi vor Kriegsausbruch: So sieht Dover die Bestimmung der aölhjestaßth proßfasiw als aöfanestaßth loßgv# im Sinne von „never put into words“ ebenso wie Andrewes „contradicted by the Corinthian speech at the first meeting at Sparta“67, Hornblower hält es in Anbetracht der Debatte um Kerkyra gar für „nonsense for Th. to suggest that there was total silence on the ‚true cause’“68. Mit einem elativen Verständnis des Superlativs aöfanestaßth ist für beide dagegen die Schwierigkeit beseitigt, da sie im Unterschied zu Andrewes weniger Anspielungen auf die aölhjestaßth proßfasiw in den thukydideischen Reden zu erkennen scheinen: „But given the common Greek idiom in which (e.g.) ‚uglier than ...’ means ‚not as beautiful as ...’ ... aöfanestaßth means ‚less faneraß than any other’, and the apparent contradiction is removed.“69 Ebenso wenig kann der Beitrag von M. Heath einer kritischen Überprüfung standhalten, der sich weitgehend in ähnlichen Bahnen bewegt. Mit Recht weist Heath zwar die Ausführungen von Andrewes zurück, geht dabei aber seinerseits von der unzulässigen Prämisse aus, dass die Worte aöfanestaßth loßgv# auf die thukydideischen Reden zu beziehen seien. Anstatt nämlich Andrewes’ methodische Unzulänglichkeit aufzudecken, versucht er – bei einem ähnlichen Verständnis der Worte aöfanestaßth 66 67 68 69

Ebd., Anm. 12. Dover im Anhang bei Gomme/Andrewes/Dover, a.a.O., 420. Hornblower, a.a.O., 66 mit Verweis auf 33,3. Dover im Anhang bei Gomme/Andrewes/Dover, a.a.O., 420, vgl. Hornblower, a.a.O., 66: „The superlative has, in fact, the force of a comparative: it was relatively little mentioned, by comparison with the particular grievances.“

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loßgv# wie Dover –70 den von Andrewes konstatierten Widerspruch dadurch aufzulösen, dass er in einer „re-examination“71 des Textes die Präsenz der aölhjestaßth proßfasiw in den Reden relativiert.72 Wie de Ste. Croix, Dover und Hornblower versuchen P.J. Rhodes und J. Richardson dem von Andrewes aufgeworfenen Problem über eine alternative Deutung des Ausdrucks aöfanestaßth loßgv# beizukommen. Auch wenn beide richtig erkennen, dass es Thukydides bei der Bestimmung der von ihm diagnostizierten aölhjestaßth proßfasiw als aöfanestaßth loßgv# darum geht, sich von der communis opinio seiner Zeit zu distanzieren,73 stellen sie doch Andrewes’ methodischen Fehler nicht nur nicht klar, sondern unterliegen ihrerseits dem gleichen Missverständnis. So lässt sich Rhodes sogar auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Andrewes’ Argumentation ein, indem er dessen analytische Schlussfolgerung, Thukydides könne 23,6 nicht gleichzeitig mit den Reden auf der Tagsatzung verfasst haben, vielmehr sei der Ausdruck aöfanestaßth loßgv# im Hinblick auf die erste Periklesrede zu verstehen, mit dem Hinweis zu entkräften sucht, dass die aölhjestaßth proßfasiw auch dort zumindest latent vorhanden sei.74 Rhodes und Richardson plädieren für eine Auffassung von aöfanestaßth loßgv#, wonach hiermit nicht zum Ausdruck gebracht werde, dass die aölhjestaßth proßfasiw bei den Verhandlungen vor Kriegsausbruch nicht zur Sprache gekommen sei, sondern ausschließlich auf die zeitgenössische Diskussion über die Entstehung des Krieges Bezug genommen werde: Thukydides stelle 23,5f. die von ihm diagnostizierte aölhjestaßth proßfasiw mit der Formulierung aöfanestaßth loßgv# nicht den von den Kriegsparteien gegenseitig geltend gemachten Veranlassungen gegenüber, sondern schalte sich – in der Überzeugung „that he knows bet70 Heath, a.a.O., 104: „... aöfanestaßth presumably implies that it was also the least apparent among many – but still ... itself in some measure apparent.“ 71 Ebd. 72 Ebd.: „Indeed, many interpreters have felt that, by comparison with the aiötißai kai? diaforaiß, the aölhjestaßth proßfasiw is too much in evidence in Thucydides’ account to be called aöfanestaßth loßgv# ... This is a mistake, as a re-examination of the text will show.“ Orwin, a.a.O., 213, Anm. 2 stimmt Heath zu. 73 Vgl. Rhodes, a.a.O., 161: „The one place where the truest reason cannot be concealed is book I of Thucydides, since his main theme is that other people have not given this reason the weight which it deserves.“ 74 Ebd.: „The claim that the truest reason was ‚most concealed’ has caused difficulty, because ... it occurs again and again throughout book I. Andrewes suggested that Thucydides was thinking specifically of Pericles’ speech at the end of book I, but that is a strained interpretation, and although no passage in the speech spells out the truest reason 140.ii-141.i rejects the aitiai as mere excuses.“ Richardson, a.a.O., 158: „As Dover ... has pointed out, this cannot mean that it was ‚never put into words’, since it occurs in the first speech of the Corinthians at Sparta ...“

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ter than popular opinion“75 – in die „discussion ... of historians, politicians, and ordinary people down to the time of his writing this passage“76 ein, um davon seine eigene Anschauung abzugrenzen.77 Zweifellos wird schon durch das Prädikat hÖgouqmai 23,6 das persönliche Urteil des Thukydides gegenüber der communis opinio seiner Zeitgenossen hervorgehoben, doch wird die insbesondere von Richardson favorisierte Verengung des Bedeutungsspektrums von aöfanestaßth loßgv#, die eine Bezugnahme auf die Äußerungen der Kriegsparteien völlig ausschließt, dem Kontext in keiner Weise gerecht.78 Vielmehr steht die von Thukydides erkannte aölhjestaßth proßfasiw 23,5f. den von den beiden Krieg führenden Parteien angegebenen aiötißai79 gegenüber, was freilich zugleich eine Korrektur der öffentlichen Meinung beinhaltet, da diese von der propagandistischen Interpretation vonseiten der Kriegsparteien bestimmt wird.80 Wie hartnäckig sich die von Andrewes ererbte methodische Unzulänglichkeit in der Forschung festgesetzt hat, zeigt sich daran, dass sich auch in 75 Rhodes, a.a.O., 161. 76 Richardson, a.a.O., 158. 77 Richardson, a.a.O., 159: „... the context in which a variety of ‚explanations’ of the cause of the war was available, and in which they were put forward as matters of fact, was the discussion of why the war had broken out which followed the declaration of the war itself. What Thucydides would then be doing would not be selecting between the competing claims of the participants in the negotiations in Sparta and Athens in 432, but commenting on the state of the subsequent debate. Of the various ‚explanations’ or ‚pretexts’ which had been touted, that which Thucydides himself believed to be truest was that the fear of the growth of Athens had forced the Spartans to war, but this was not the ‚explanation’ which had found most favour among those who discussed the matter (hence aöfanestaßth de? loßgv#); they preferred to talk about (eöw to? fanero?n legoßmenai) the charges which the two sides had levelled against one another.“ 78 Vgl. etwa die Wiedergabe von aöfanestaßth loßgv# bei Rechenauer, a.a.O., 80 („... daß sie öffentlich, d.h. wohl insbesondere bei den Verhandlungen vor Kriegsausbruch nicht zur Sprache kam ...“) und die Paraphrase bei Heubeck, a.a.O., 218 („Nun kann kein Zweifel sein, daß Thukydides das, was er ... als seine ureigenste Auffassung vorträgt, in deutlichen Gegensatz stellen will zu dem, wie in der Öffentlichkeit der beiden Kriegslager die Vorgänge interpretiert und propagandistisch ausgewertet werden ...“). 79 Richardson bezieht auch die Formulierung eöw to? fanero?n legoßmenai nicht auf die Kriegsparteien, sondern auf „those who discussed the matter“; vgl. oben Anm. 77. 80 Vgl. die oben S. 15, Anm. 55 ausgeschriebene Bemerkung Luschnats. Ähnlich Dover im Anhang bei Gomme/Andrewes/Dover, a.a.O., 421: „Since Thucydides in i. 23. 5 f. is concerned with any and all of those who had discussed, were discussing and might in the future discuss the question ‚What caused the war?’, and not simply with what was or was not said by representatives of the belligerent states when it began, I take loßgv# to include such discussion as he had heard down to the time of writing, among ordinary people as well as historians and politicians.“

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der überzeugenden Untersuchung des Prophasisbegriffs bei G. Rechenauer die Tendenz, einen Zusammenhang zwischen der Formulierung aöfanestaßth loßgv# und dem Inhalt der thukydideischen Reden herstellen zu wollen, zumindest implizit greifen lässt. Hat es zunächst den Eindruck, dass er es nur versäumt, die Problematik eindeutig zu umreißen,81 stellt sich schließlich heraus, dass auch er den Ausdruck aöfanestaßth loßgv# im Hinblick auf die thukydideischen Reden zu verstehen scheint, wenn er bei seinem Vergleich des zentralen Passus 23,4-6 mit der Analyse der Anlässe und Ursachen für die Expedition der Athener nach Sizilien 6,6,182 die dort ebenfalls als aölhjestaßth proßfasiw bezeichnete tiefere Verursachung folgendermaßen charakterisiert: „Lediglich ein kleiner Unterschied zu der Formulierung in I 23,6 liegt darin, daß die aölhjestaßth proßfasiw in VI 6,1 nicht aöfanestaßth loßgv# ist. Auf sie wird mehrfach in Reden und bei Verhandlungen Bezug genommen, so in VI 33,2; 76,2; 79,2; 86,2, 5; 87,1; 90,2, 3; VII 66,2; 68,2 und 75,7.“83 Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Arbeiten unterliegt A. Tsakmakis bezüglich der Reden des ersten Buches nicht nur dem aufgezeigten Missverständnis, sondern entwickelt für die Formulierung aöfanestaßth loßgv# gar eine über den unmittelbaren Zusammenhang hinausgehende Interpretation, die für die Bewertung der Funktion der Reden eklatante Auswirkungen nach sich zieht. Zunächst leitet Tsakmakis wie Andrewes aus dem Ausdruck aöfanestaßth loßgv# und der die Tagsatzung abschließenden Bemerkung c.88 die Folgerung ab, dass die aölhjestaßth proßfasiw in den Reden des Thukydides nicht präsent sein dürfe: „Dies impliziert zunächst, daß die festgestellten Merkmale der aölhjestaßth proßfasiw sich in den Reden, die der Entscheidung vorangehen, nicht finden.“84 Da er dies in den loßgoi des Geschichtswerks bestätigt sieht,85 ergibt sich freilich daraus für ihn im Unterschied zu Andrewes kein Widerspruch. Darüber hinaus glaubt Tsakmakis hinter der Formulierung aöfanestaßth loßgv# gar eine weiterreichende „Theorie“86 des Thukydides erkennen zu können: So deutet „der Ausdruck aöfanestaßth loßgv#“ in seinen Augen geradezu „auf 81 Vgl. seine Bemerkung a.a.O., 97, Anm. 135: „Die aölhjestaßth proßfasiw ist aber – zumindest im Geschichtswerk des Thukydides – doch nicht ganz aöfanestaßth loßgv#.“ 82 ... kai? eöpi? toshßnde ouQsan auöth?n oiÖ §Ajhnaiqoi strateußein vÄrmhnto, eöfießmenoi me?n thq# aölhjestaßth# profaßsei thqw paßshw (sc. Sikelißaw) aärcai, bohjeiqn de? aÄma euöprepvqw bouloßmenoi toiqw eÖautvqn cuggeneßsi kai? toiqw prosgegenhmeßnoiw cummaßxoiw. 83 A.a.O., 100. 84 A.a.O., 67. 85 Vgl. oben S. 12, Anm. 41. 86 A.a.O., 68.

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eine allgemeine Insuffizienz des loßgow (als gesprochenen Wortes), die aölhjestaßth proßfasiw in angemessener Weise an den Tag zu legen, hin“87. Nach Tsakmakis habe Thukydides bezüglich der Kriegsentscheidung jede Wirkung des loßgow ausgeschlossen und damit ein „Interpretationsmodell“88 entworfen, das als Gegenprogramm zur Logos-Lehre des Gorgias zu verstehen sei, in der die aönaßgkh89 einen festen Platz einnehme.90 Eine derartige Auffassung wird freilich der Rolle der loßgoi im Geschichtswerk des Thukydides, die nach traditionellem Verständnis, wie es etwa W. Roscher und Ed. Meyer gültig formulieren, nicht nur als „die vornehmsten Mittel“91 der Geschichtsdeutung gelten, sondern gar „den eigentlichen Lebensnerv seines Werks und zugleich den Gipfelpunkt seiner und überhaupt ... aller historischen Kunst“92 darstellen, in keiner Weise gerecht. Vielmehr sinken die Reden damit zu vergleichsweise bedeutungslosen Einlagen herab. In der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, die Funktion der loßgoi für die thukydideische Analyse der Kriegsverursachung möglichst präzise zu bestimmen. Dabei soll deutlich gemacht werden, wie Thukydides die beiden Erklärungsmodelle (aiötißai kai? diaforaiß und aölhjestaßth proßfasiw) für die Entstehung des peloponnesischen Krieges in seinen Reden entgegen der historischen Faktizität93 (vgl. die Be87 A.a.O., 67. 88 A.a.O., 70. 89 Vgl. Hel. 12: loßgow ga?r yuxh?n oÖ peißsaw, hÜn eäpeisen, hönaßgkase kai? pijeßsjai toiqw legomeßnoiw kai? sunaineßsai toiqw poioumeßnoiw. oÖ me?n ouQn peißsaw vÖw aönagkaßsaw aödikeiq, hÖ de? peisjeiqsa vÖw aönagkasjeiqsa tvq# loßgv# maßthn aökoußei kakvqw. 90 A.a.O., 68: „Es ist wahrscheinlich, daß Thukydides seine Theorie über die aönaßgkh als Zwang zum Krieg mit Hinblick auf diese Lehre entwickelt hat.“ 91 Roscher, W., Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides. Mit einer Einleitung zur Aesthetik der historischen Kunst überhaupt, Göttingen 1842 (ND Hildesheim/Zürich/New York 2003), 154. 92 Meyer, Eduard, Forschungen zur Alten Geschichte II. Zur Geschichte des 5. Jahrhunderts v. Chr., Halle 1899 (ND Hildesheim 1966), 380. 93 Im Verständnis des von der Forschung in einer kaum überschaubaren Diskussion erörterten loßgoi-Satzes (22,1: Kai? oÄsa me?n loßgv# eiQpon eÄkastoi hü meßllontew polemhßsein hü eön auötvq# hädh oäntew, xalepo?n th?n aökrißbeian auöth?n tvqn lexjeßntvn diamnhmoneuqsai hQn eömoiß te vWn auöto?w häkousa kai? toiqw aällojeßn pojen eömoi? aöpaggeßllousin: vÖw d ö aün eödoßkoun eömoi? eÄkastoi peri? tvqn aiöei? paroßntvn ta? deßonta maßlist ö eiöpeiqn, eöxomeßnv# oÄti eöggußtata thqw cumpaßshw gnvßmhw tvqn aölhjvqw lexjeßntvn, ouÄtvw eiärhtai) folgen wir den Ausführungen von Egermann, F., Thukydides über die Art seiner Reden und über seine Darstellung der Kriegsgeschehnisse, Historia 21, 1972, 575-602 (vgl. auch seinen 35 Jahre älteren Beitrag Neue Forschungen zu Thukydides, DLZ 58, 1937,

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zeichnung der aölhjestaßth proßfasiw als aöfanestaßth loßgv#) kombiniert, um in der Synthese der Faktoren den Ausbruch des Krieges vollständig zu erklären. Dazu werden die vier Reden auf der Tagsatzung in Sparta, die Rede der Korinther bei der Abstimmung des peloponnesischen Bundes und die erste Periklesrede umfassend interpretiert. Nicht näher untersucht werden also die ersten beiden Reden des ersten Buches, die loßgoi der Kerkyraier und der Korinther in Athen, da hier erst die Voraussetzungen für die weitere Entwicklung geschaffen werden. Mit ihrer Einlage würdigt Thukydides den Punkt in der Vorkriegsgeschichte, an dem sich Athen entscheidet, in die Auseinandersetzung zwischen Kerkyra und Korinth einzugreifen, womit sich der Konflikt auf die politische Bühne Griechenlands ausweitet. Dass die Perspektive erst, als die Ereignisse um Poteidaia die Korinther 1470-1480 und die zustimmende Darstellung von Erbse, H., Thukydides-Interpretationen, Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 33, Berlin/New York 1989, 131-134). So beziehen wir die Formulierung th?n aökrißbeian auöth?n tvqn lexjeßntvn nicht etwa auf den genauen Wortlaut – dass diesen niemand auf einmaliges flüchtiges Hören hin hätte behalten können, hätte Thukydides dem Leser gegenüber nicht eigens begründen müssen –, sondern auf den genauen „Inhalt und Gedankengang des Gesprochenen“ (577). Den Ausdruck ta? deßonta erklärt Egermann als „das rein Sachliche, das, was das vorliegende Problem der betreffenden geschichtlichen Situation verlangte“ (576). Thukydides verzichtet also von vornherein auf eine Rekonstruktion des genauen Gedankenganges der wirklich gehaltenen Rede. Entgegen der weit verbreiteten Deutung des Ausdrucks cußmpasa gnvßmh als ‚Gesamttendenz’ einer einzigen wirklich gehaltenen und von Thukydides nachgebildeten Rede ist nach Egermanns überzeugender Darlegung (579f. mit Belegen) darunter die „politische Gesamteinstellung, Gesamthaltung, Gesamtintention des betreffenden Redners und Staatsmannes“ zu verstehen, „die sich nicht nur im gerade vorliegenden Einzelfall, sondern in allen seinen Reden, Meinungsäußerungen, Voten und Anträgen bekundet und hinter ihnen steht und ihnen zugrunde liegt“ (580): „Nicht Sinn und Hauptinhalt einer – dem Thukydides vermeintlich als Original dienenden – bestimmten einzelnen Rede werden mit dieser griechischen Wendung bezeichnet, nicht das in dieser speziellen Rede ‚wirklich Gesprochene’ (die Rede ist vielleicht in Wirklichkeit gar nicht gesprochen worden), sondern die ‚Gesamt’-Intention und ‚Gesamt’-Tendenz des allgemein und überhaupt von den Betreffenden fallweise ‚wirklich Gesprochenen’. Der Ausdruck ta? aölhjvqw lexjeßnta gibt also nicht die inhaltliche Quelle für die jeweilige thukydideische Rede an, sondern die Quelle des Thukydides für die Kenntnis der cußmpasa gnvßmh der betreffenden Sprecher“ (584). Die überlieferten Reden sind demnach Schöpfungen des Autors, die in ihrer Freiheit durch die Versicherung des Thukydides beschränkt sind, er habe sich ganz eng an die politische Gesamteinstellung des betreffenden Redners gehalten. Dadurch dass die thukydideischen loßgoi drei ausschlaggebende Faktoren berücksichtigen, die jeweilige geschichtliche Situation (ta? aiöei? paroßnta), die von ihr an den Redner gestellten Forderungen (ta? deßonta) und die politische Gesamthaltung des Sprechers (hÖ cußmpasa gnvßmh), sind sie „in tieferem Sinn historisch getreu“ (580). Sie gehören letztlich einer „idealen Wirklichkeit“ (Erbse, a.a.O., 133) an. Vgl. dazu unten S. 242-244.

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dazu treiben, ihre Bündner zu aktivieren und sie für eine Kriegserklärung gegen Athen zu bewegen, endgültig auf die tiefer liegenden Zusammenhänge, die Rivalität der Führungsmächte Athen und Sparta, gelenkt wird, hebt Thukydides nach Abschluss der Poteideatikaß unmissverständlich hervor (66): ouö meßntoi oÄ ge poßlemoßw pv cunerrvßgei, aöll ö eäti aönokvxh? hQn: iödißa# ga?r tauqta oiÖ Korißnjioi eäpracan.

Durch diese Zäsur ist die Tagsatzung deutlich als entscheidende Station auf dem Weg zum Krieg markiert. Sie endet mit dem Kriegsbeschluss Spartas (88): eöyhfißsanto de? oiÖ Lakedaimoßnioi ta?w sponda?w lelußsjai kai? polemhteßa eiQnai ... Neben der Tagsatzung enthält die Vorgeschichte des Krieges zwei weitere für die zukünftige Entwicklung kritische Punkte, den Kriegsbeschluss des peloponnesischen Bundes94, dem die dritte Korintherrede vorausgeht, und – auf Seiten der Athener – die Volksversammlung in Athen95, in der als letzter Redner Perikles auftritt.96 Somit hat Thukydides im ersten Buch die Entstehung des Krieges unmittelbar mit der Einlage von loßgoi verzahnt. Die Forschung widmete der inhaltlichen Interpretation unserer Reden stets besondere Aufmerksamkeit. So sind sie fast in jeder einschlägigen Arbeit zum Geschichtswerk des Thukydides mehr oder weniger ausführlich berücksichtigt. Freilich handelt es sich dabei oftmals um eher summarische Inhaltszusammenfassungen97 bzw. um Darstellungen im Dienste übergreifender Studien. Besonders viele Beiträge liegen zur Athenerrede aufgrund ihrer Bedeutung für die viel behandelte Frage des athenischen ‚Machtden-

94 125,1: OiÖ de? Lakedaimoßnioi eöpeidh? aöf ö aÖpaßntvn häkousan gnvßmhn, yhqfon eöphßgagon toiqw cummaßxoiw aÄpasin oÄsoi parhqsan eÖchqw, kai? meißzoni kai? eölaßssoni poßlei: kai? to? plhqjow eöyhfißsanto polemeiqn. 95 145: &O me?n Periklhqw toiauqta eiQpen, oiÖ de? §Ajhnaiqoi nomißsantew aärista sfißsi paraineiqn auöto?n eöyhfißsanto aÜ eökeßleue, kai? toiqw Lakedaimonißoiw aöpekrißnanto thq# eökeißnou gnvßmh#, kaj ö eÄkastaß te vÖw eäfrase kai? to? cußmpan ... 96 Insgesamt betrachtet werden also im ersten Buch zwei peloponnesische Versammlungen durch die beiden athenischen Ekklesien umrahmt. 97 Dies gilt insbesondere auch für die Behandlung unserer Reden in den Gesamtdarstellungen der thukydideischen Reden von Harding, H.F., The Speeches of Thucydides. With a General Introduction and Introductions for the Main Speeches and the Military Harangues, Lawrence 1973, Wimmer, H., Die thukydideischen Reden in der Beleuchtung durch den loßgoi-Satz, Diss. München 1973 und Cogan, M., The Human Thing. The Speeches and Principles of Thucydides’ History, Chicago 1981.

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kens’98 und zur ersten Periklesrede vor. Der folgende Überblick ist der Übersicht wegen knapp gehalten99 und beschränkt sich auf die wichtigsten und ausführlichsten Beiträge. In der älteren Forschung, die fast ausschließlich vom Problem der Entstehungsgeschichte des Werkes beherrscht wird, werden auch die Reden vornehmlich unter dem Blickwinkel der thukydideischen Frage behandelt. So glaubt Ed. Schwartz den Beweis für seine Zwei-Schichten-Theorie, wonach die Rückführung der Kriegsverursachung auf die aölhjestaßth proßfasiw einer späteren Retraktation des Werkes entstamme, während die Kerkurai_kaß und die Poteideatikaß einem früheren Entwurf angehörten, vor allem durch eine Interpretation der Redentetras auf der Tagsatzung in Sparta und der dritten Korintherrede erbringen zu können. Da seiner Ansicht nach von den vier Reden in Sparta nur jeweils die Korinther- und die Archidamosrede bzw. die Athener- und die Sthenelaidasrede miteinander in Beziehung stehen, zerlegt er die Redentetras in zwei Redenpaare: „Das Resultat der Analyse ist also, dass die beiden Doppelreden einander ausschliessen; nach der Absicht des Schriftstellers sollte die eine an die Stelle der anderen treten, und er selbst kann es nicht gewesen sein, der sie ungeschickt und äußerlich mit einander verband und dadurch die rhetorischen und historiographischen Zwecke aufhob, die jedem Paar Aufbau und Richtung gewiesen hatten.“100

Darüber hinaus erweist sich für ihn aus einem Vergleich der Korintherrede vor dem peloponnesischen Bund mit der Korintherrede auf der Tagsatzung, deren Nebeneinander er aufgrund ihrer Verschiedenheit für unmöglich erachtet,101 und aus den deutlichen Berührungspunkten der Korintherrede vor dem peloponnesischen Bund mit der ersten Periklesrede „das Paar der ersten [d.h. zweiten] Korintherrede und der des Archidamos als ein Fremdkörper“ gegenüber der einheitlichen Konzeption zweier Redenpaare „am Anfang und am Schluss“102, nämlich Athener-/Sthenelaidasrede und Korinther-/Periklesrede.103 Die zweite Korinther- und die Archidamosrede ord98 Zur Problematik dieses Begriffs siehe Erbse, Thukydides-Interpretationen, 126, Anm. 35. 99 Eine konkrete Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen erfolgt im Zuge der Interpretation. 100 A.a.O., 108. 101 A.a.O., 114: „... der Schluss ist zwingend, dass die beiden Korintherreden von ihm in verschiedener Zeit konzipiert sind. Er verrät das selbst, indem er mit merkwürdiger Deutlichkeit in der zweiten Rede die erste für überflüssig erklärt und zurücknimmt.“ 102 A.a.O., 113. 103 A.a.O., 115: „Es stellt sich also zum mindesten als wahrscheinlich heraus, dass die erste Korinther- und die Königsrede einem älteren, von Thukydides später aufgegebenen Entwurf angehören; wenn er sein Werk zum Abschluss gebracht hätte, würden sie überhaupt nicht auf die Nachwelt gekommen sein.“

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net Schwartz wie die Darstellung der aiötißai kai? diaforaiß dem älteren Entwurf zu, bei dem Sparta wider Willen von seinen Bundesgenossen in den Krieg getrieben worden sei, während in der unter dem Eindruck der Katastrophe von 404 entstandenen jüngeren Fassung Sparta selbst aus Furcht vor Athens zunehmender Macht zum Krieg dränge. Im Gegensatz zu Schwartz „spinnen sich“ für M. Pohlenz104 „mannigfache Fäden“105 zwischen den vier Reden auf der Tagsatzung in Sparta, weshalb für ihn zumindest die Redentetras einen geschlossenen Komplex darstellt.106 Ausgangspunkt seiner Analyse ist der Anstoß daran, dass die Erfolgsaussichten der beiden Kriegsparteien zusätzlich zu den Ausführungen der dritten Korintherrede und der Periklesrede, die mit ihren engen Berührungspunkten nach dem Schema der Dissoi? loßgoi komponiert seien, auch in der Archidamosrede erörtert werden, die dieses Schema regelrecht durchbreche. So ist es für Pohlenz „vom künstlerischen Gesichtspunkt aus ganz unverständlich, dass Archidamos hier mehrfach schon eine Widerlegung der Ansichten gibt, die später von den Korinthern positiv vorgebracht werden“107. Dementsprechend weist Pohlenz bei seiner Scheidung der Redenschichten die Redentetras und die letzten beiden Reden des ersten Buches zwei verschiedenen Entwürfen zu: „Alles das nötigt zu dem Schlusse, daß die Archidamosrede nicht zusammen mit der zweiten [d.h. dritten] Korintherrede und der Periklesrede konzipiert sein kann, sondern erst später entstanden ist. Das Gleiche muß dann aber nicht nur für die eng verbundene erste [d.h. zweite] Korintherrede gelten, sondern nach dem, was wir sahen, auch für die Reden der Athener und des Sthenelaidas. Wir haben tatsächlich im ersten Buche zwei Schichten von Reden zu unterscheiden, müssen aber den Schnitt anders machen wie Schwartz. Das große Redeturnier gehört einer späteren Epoche an als die Rede der zweiten Versammlung in Sparta und die des Perikles.“108

Anders als Schwartz macht Pohlenz dafür nicht einen „völligen Bruch“ in der Geschichtsauffassung des Thukydides als vielmehr eine „allmähliche

104 Pohlenz, M., Thukydidesstudien I-III, NGG 1919, 95-138 und 1920, 56-82, jetzt in: Kleine Schriften II, herausgegeben von H. Dörrie, Hildesheim 1965, 210-280. 105 A.a.O., 220. 106 Vgl. etwa a.a.O., 215 zur angeblichen Unvereinbarkeit von Archidamos- und Sthenelaidasrede: „Wahrlich, der Herausgeber müßte eine glückliche Hand gehabt haben, hätte er durch mechanische Zusammensetzung zweier widersprechender Entwürfe dieses künstlerisch wie historisch gleich befriedigende Vollbild des politischen Lebens von Sparta geschaffen. Vortrefflich hätte er auch den echt thukydideischen Ton getroffen, wenn er Alt und Jung nebeneinander in der Versammlung zu Worte kommen ließ.“ 107 A.a.O., 224. 108 A.a.O., 225.

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Entwicklung“ verantwortlich, „die zu einer Verschiebung in der subjektiven Wertung gegebener Fakta“109 geführt habe.110 Es ist das Verdienst von R. Zahn111, im zweiten Teil ihrer von F. Jacoby angeregten und von ihm durch zahlreiche Zusätze bereicherten Dissertation zur ersten Periklesrede, die nicht nur durch eine solide philologische Texterschließung zu gefallen weiß, sondern durch in den Anmerkungen versteckte Einzeluntersuchungen zu zentralen Begriffen wie gnvßmh oder oörghß noch an Wert gewinnt, in Auseinandersetzung mit der Argumentation von Pohlenz112 die sechs Reden als zusammengehörigen Komplex113 erwiesen zu haben.114 Freilich geht auch Zahn von einer analytischen Fra109 A.a.O., 229. 110 Ausgehend von seiner Schichtenscheidung stellt Pohlenz eine Verbindung zum Methodensatz her. Seiner Ansicht nach passen die (späten) Reden der Tagsatzung anders als die übrigen vier Reden des ersten Buches nicht „zu dem I 22 entworfenen Programm“, das eine „mehr oder minder freie Wiedergabe historisch bedeutsamer Reden“ erwarten lasse, sondern spiegelten die Absicht des Thukydides wider, „seine eigensten Gedanken über die Ursache des Krieges durch das Sprachrohr der handelnden Personen dem Leser zu suggerieren“ (a.a.O., 234). Daraus schließt Pohlenz auf einen „Wechsel in seinen darstellerischen Prinzipien“ (ebd.): Demnach habe Thukydides ursprünglich – entsprechend den im Methodenkapitel formulierten Grundsätzen – „einen größeren Realismus in den Reden angestrebt als Herodot“ und sei „erst später dazu übergegangen die Reden zu benützen, um den handelnden Personen seine eigenen Gedanken in den Mund zu legen“ (234f.). Diese Vermutung sieht Pohlenz bei einer Untersuchung der Reden der übrigen Bücher bestätigt (250): „Der Geschichtsschreiber hat von einem bestimmten Zeitpunkt an das Bedürfnis empfunden seine eigenste Auffassung von den wirksamen Faktoren der geschichtlichen Entwicklung den Lesern eindringlicher zu suggerieren, als das durch die bloße Erzählung oder durch Reden geschehen konnte, die sich möglichst nahe an die Gesamttendenz wirklich gehaltener Reden hielten.“ 111 Zahn, R., Die erste Periklesrede (Thukydides I 140-144). Interpretation und Versuch einer Einordnung in den Zusammenhang des Werkes, (Diss. Kiel 1932) Leipzig 1934. 112 Pohlenz hält freilich in seiner Besprechung der Arbeit Zahns (Die thukydideische Frage im Lichte der neueren Forschung, GGA 198, 1936, 281-300, jetzt in: Kleine Schriften II, herausgegeben von H. Dörrie, Hildesheim 1965, 294-313 und Herter, H. [Hrsg.], Thukydides, Wege der Forschung 98, Darmstadt 1968, 59-81, dort 62) an seiner Meinung fest: „Gegen eine gleichzeitige Konzeption der Reden spricht aber vor allem die Gesamtkomposition, da die beiden letzten [d.h. die dritte Korinther- und die Periklesrede] offensichtlich nach dem Schema der dissoi? loßgoi aufeinander berechnet sind, aber nicht mit den Argumenten des Archidamos eine künstlerische Dreiheit bilden.“ 113 Vgl. a.a.O., 52. 114 Wie sich bei der Interpretation der Reden zeigen wird, ist der Argumentation, mit der Zahn Pohlenz zu widerlegen versucht, im Einzelnen freilich nicht zu folgen: So behauptet sie, dass die Korinther mit einem „wohlüberlegten Flottenplan“ (a.a.O., 43) und überhaupt mit einer Ausweitung der Diskussion „über Archidamos’ Argumentation“ (44) hinaus dessen Bedenken überwänden, ja sogar eigene „positive

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gestellung aus. So sieht sie es in der Nachfolge von Schwartz als feststehendes Faktum an, dass das erste Buch ursprünglich die Darlegung der aiötißai kai? diaforaiß enthalten habe115 und erst „die Retraktation ... die Darstellung nach der späteren Erkenntnis“ revidiert habe, „daß die aölhjestaßth proßfasiw ... in der wachsenden Macht Athens gelegen habe, die den Spartanern ‚Furcht’ einflößte und sie ‚zum Kriege zwang’“116. Da für sie allerdings im uns vorliegenden ersten Buch „ein klarer und überlegter ..., auch endgültiger Aufbau“117 erkennbar ist, spricht sie sich bezüglich der Reden gegen eine Einteilung in frühe und späte Reden nach Art von Schwartz und Pohlenz aus118 und nimmt stattdessen eine ursprüngliche Fassung an, „die bei der Retraktation nur im Einzelnen erweitert, ausgebaut, vielleicht auch umgestaltet wurde“119. Obwohl die analytische Thukydidesinterpretation, wie schon unser knapper Überblick120 über die Arbeiten von Schwartz, Pohlenz und Zahn zeigt, im Laufe der Zeit immer maßvollere Züge annimmt und die Haltbarkeit ihrer Ergebnisse durch die kritische Beleuchtung ihrer methodischen

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Vorschläge“ (ebd.) folgen ließen. Daraus folgert sie, „daß man von einer Vorauswiderlegung der korinthischen Argumente durch Archidamos nicht sprechen kann, sondern daß umgekehrt die Korinther die Argumente des Archidamos widerlegen“ (45). A.a.O., 36: „Das erste Buch enthielt ursprünglich, wie die umrahmenden Kapitel 23,5 und 146 beweisen, die aiötißai kai? diaforai?, aöf ö vWn lußsantew ta?w sponda?w eöw to?n poßlemon kateßsthsan. Bericht und Reden werden charakterisiert durch größere Tatsachennähe; besonders die Reden sind mehr pro?w kairoßn geschrieben ...“ A.a.O., 36f. A.a.O., 2. Vgl. auch 39: „... die Komposition des ersten Buches ... als ein von Thukydides so Gewolltes oder jedenfalls natürlich Gewachsenes ...“ A.a.O., 37: „Denn neben und fast vor den erzählenden Teilen, bei denen die Entscheidung einfacher und sicherer zu sein scheint, erhebt sich das Problem der Reden ... Darf man, wie es Schwartz und Pohlenz tun, ‚frühe’ und ‚späte’ Reden unterscheiden, wie man in der Erzählung frühe und späte Teile findet?“ A.a.O., 38. Vgl. Jacoby bei Zahn, a.a.O., 110, Anm. 103: „Der analytisch wichtigste Unterschied ist, daß man von dem neuen Standpunkt aus zunächst einmal voraussetzen kann, daß schon der erste Plan im 1. Buch die sämtlichen 6 (8) Reden hatte ...“ Zu den Ergebnissen ihres von dieser Prämisse ausgehenden Versuchs, einzelne Abschnitte der ersten Periklesrede verschiedenen ‚Plänen’ bzw. ‚Stadien’ zuzuordnen, siehe a.a.O., 67f. und Jacoby, 114-116, Anm. 123. Für einen nicht nur auf das erste Buch und insbesondere die darin enthaltenen Reden gerichteten Überblick über die thukydideische Frage seit ihrer ersten Formulierung bei Ullrich, F.W., Beiträge zur Erklärung des Thukydides I-II, Hamburg 1845/1846 siehe Luschnat, a.a.O., Sp. 1183-1229.

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Prinzipien in den Arbeiten von Großkinsky121, Patzer122 und Finley123 mehr und mehr in Frage gestellt wird, findet sie in der Folgezeit mit W. Schmid124 neuerlich einen Anhänger Schwartzscher Prägung, der mit seiner wenig bekannten Dissertation die bislang einzige Monographie zum ersten Buch insgesamt vorgelegt hat. Steht Schmid grundsätzlich in der Nachfolge der Zwei-Schichten-Hypothese von Schwartz125, greift er doch gerade in Bezug auf unsere Reden in der Radikalität seines analytischen Vorgehens sogar oftmals über dessen Ansatz hinaus, da er sowohl frühe und späte Reden voneinander zu scheiden sucht als auch innerhalb einzelner Reden ältere und jüngere Fassungen zu erkennen glaubt. So sieht er nicht nur wie Schwartz die engen Beziehungen zwischen Korinther- und Archidamosrede auf der Tagsatzung durch die dazwischengeschobene Athenerrede gestört,126 sondern seziert aus der Korintherrede selbst wiederum die Synkrisis heraus, da durch sie „der Rede die rhetorische Spitze abgebrochen“127 werde. Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung einzelner Redepartien liegt für Schmid in der Frage, inwieweit jeweils auf die aktuell zur Debatte stehenden Streitpunkte Bezug genommen wird. Ebenso wie bei der Athenerrede im Ganzen128 mache sich bei der Synkrisis der Korintherrede eine „Entaktualisierung“129 bemerkbar. Bestätigung für seine Abtrennung der Synkrisis glaubt Schmid in der Archidamosrede zu 121 Großkinsky, A., Das Programm des Thukydides, Neue dt. Forschungen Abt. Klass. Phil. 3, Berlin 1936. 122 Patzer, H., Das Problem der Geschichtsschreibung des Thukydides und die thukydideische Frage, Berlin 1937. 123 Finley, J.H., The Unity of Thucydides’ History, in: Athenian Studies presented to W.S. Ferguson, HSPh Suppl.vol. 1, Cambridge (Mass.) 1940 (ND New York 1969), 255-298, jetzt in: Three Essays on Thucydides, Cambridge (Mass.) 1967, 118-169. 124 Schmid, Walter, Zur Entstehungsgeschichte und Tektonik des I. Buches des Thukydides, Diss. Tübingen 1947. 125 Vgl. etwa a.a.O., 68: „Grundgedanke, Sinnmitte der Überarbeitung ist die Enthüllung der ‚eigentlichen Ursache des Krieges’.“ 121: „Schlüssel für die Umwertung ist der bekannte Satz 23,6 (dazu 88; 118,2).“ 122 (mit expliziter Bezugnahme auf Schwartz): „Nach der ursprünglichen Fassung treibt Korinth zum Krieg. Sparta wird getrieben ... In der ursprünglichen Fassung läßt Thukydides Athen ganz schweigen. Um so lauter läßt er es in der späten Fassung reden.“ 126 A.a.O., 7: „Sie stört vielmehr empfindlich das feine Spiel der Beziehungen und Entsprechungen zwischen der genannten Rede der Korinther und der an dritter Stelle folgenden des lakedaimonischen Königs Archidamos.“ 127 A.a.O., 46. 128 A.a.O., 45: „Die Athener-Rede war bewußt möglichst aus dem Zusammenhang der Vorgänge bei der Versammlung in Sparta herausgerückt. Im Gegensatz dazu ist die Korinther-Rede ... durchaus aktuell.“ 129 A.a.O., 46.

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finden, da sich der Schluss von 84,4, der einzigen Stelle, in der Archidamos auf die Synkrisis anspiele, seinerseits „als unorganisches Einschiebsel“130 ausnehme. Ferner hält Schmid den Abschnitt 80,4-81,6 aus der Archidamosrede, der im Gegensatz zu den übrigen Partien, die „aus der unmittelbaren Umgebung verständlich“ seien („aus der gegebenen Lage und der – ursprünglich unmittelbar vorausgehenden – Rede der Korinther“131), wie ein Fremdkörper wirke, für einen nachträglichen Einschub, der gleichzeitig mit der nach 404 verfassten dritten Korintherrede und der ersten Periklesrede entstanden sei.132 Gerade der Umstand, dass sich die von Pohlenz aufgezeigten Querverbindungen zwischen den drei Reden auf den Abschnitt 80,4-81,6 beschränkten, deute darauf hin. Zusammengehalten würden die „später in die Darstellung der Versammlung eingefügten Stücke: Athener-Rede und Erweiterungen der Korinther- und ArchidamosRede“133 durch die Sthenelaidasrede, die auf die Athenerrede antworte und auf die nachträglichen Überarbeitungen der Korinther- und Archidamosrede anspiele. Insgesamt glaubt Schmid im uns vorliegenden ersten Buch eine auf die Darstellung der aiötißai kai? diaforaiß beschränkte ältere Fassung nachweisen zu können, die aus den beiden Rededuellen Kerkyraier/Korinther in Athen und Korinther/Archidamos in Sparta – freilich ohne die als nachträgliche Zusätze erkannten Partien – bestanden habe.134 Im Gegensatz zu Schwartz erklärt Schmid das Nebeneinander der beiden Schichten nicht mit der Hilfshypothese eines Herausgebers, sondern mit der Haltung des Thukydides, seine ursprüngliche Darstellung, die er „zu

130 A.a.O., 47, Anm. 1. 131 A.a.O., 64. 132 Ebd.: „Die Auseinandersetzung des Archidamos mit seinen Vorrednern ist in einer tatsächlichen Situation denkbar und möglich. Dies führt zu dem Schluß, daß es sich bei dem strittigen Stück um einen Einschub handelt ... Denkt man sich den strittigen Abschnitt weg, so erscheint ein Archidamos, dem es fern liegt, Bedenken zu entwickeln, die über die Lage hinaus, die im Augenblick eine Entscheidung fordert, grundsätzliche und nicht nur vorübergehende Geltung hätten.“ 65: „Es kommt also in diesem Abschnitt – und nur hier – etwas Fremdes in die Archidamos-Rede hinein, etwas nicht aus der Situation zu Erklärendes, erst durch das – von Thukydides gewollte – Zusammensehen mit der später folgenden Korinther- und Perikles-Rede Verständliches.“ 66: „Hier ist die nachträgliche Einfügung mit Händen zu greifen.“ 133 A.a.O., 70. 134 Für Schmids Abgrenzung der frühen Fassung des ersten Buches im Einzelnen, insbesondere seine hier nicht berücksichtigten Überlegungen bezüglich der Darstellung der eärga siehe a.a.O., 118-134.

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einem so kunstvollen Gefüge geformt“135 habe, nicht aufgeben zu wollen.136 Einen deutlich maßvolleren Versuch auf analytischer Basis unternimmt gleichzeitig mit Schmid J. de Romilly137, die den Schlüssel für eine Erklärung der thukydideischen Geschichtsschreibung in der Untersuchung der Rolle des athenischen Imperialismus im Werk des Thukydides sieht, da dieses Thema in jeder Phase des Krieges von zentraler Bedeutung gewesen sei und daher Thukydides immer von neuem eine Stellungnahme abverlangt habe. Auch für de Romilly liegt der Ansatzpunkt im Aufbau des ersten Buches.138 Da ihrer Meinung nach die aölhjestaßth proßfasiw in allen Teilen des ersten Buches mehr oder weniger ausgeprägt präsent sei, ist für sie deren mechanische Hinzufügung als zweite Ursache nach 404 undenkbar, vielmehr nimmt sie ähnlich wie Zahn eine eher moderate Umgestaltung einer weitgehend ähnlichen früheren Fassung an.139 Bei dieser Umarbeitung habe Thukydides die Bedeutung der aölhjestaßth proßfa135 A.a.O., 133. 136 Um einen Eindruck von Schmids Argumentationsweise zu vermitteln, wollen wir die betreffenden Partien ganz ausschreiben. A.a.O., 122f.: „‚Die Athener’ in Sparta, Perikles in Athen, sie reden fast schon nicht mehr mit menschlichen Zungen. Selbst die Gegner werden dazu aufgeboten, Zeugnis abzulegen für Athen, für seine einstige Macht und Größe. Sie zeugen vor dem ewigen Gericht der Geschichte. Aber Thukydides hemmt den Adlerflug seines Geistes. Er zwingt seine hochfliegenden Gedanken zurück in den irdischen Bereich. ‚Die Athener’ müssen ihre Worte verschwenden an starre Lakedaimonier und aufgebrachte Bündner Spartas, Perikles muß sich mit der Nichtigkeit des megarischen Psephisma herumschlagen. Warum läßt Thukydides seinen Adler die Schwingen nicht breiten? Warum bleibt der große Wurf seines Gedankens stecken in den Kleinlichkeiten des politischen Augenblicks? Es gibt darauf wohl nur eine Antwort: Weil er in der ursprünglichen Fassung seiner Darstellung Werte sah, die er nicht verloren gehen lassen, die er nicht zertrümmern wollte.“ Ähnlich 133: „Und wenn er nun tatsächlich seine Darstellung zu einem so kunstvollen Gefüge geformt, ihr eine Gestalt gegeben hatte, so wäre es eine übermenschliche oder unmenschliche Zumutung für ihn – zumal als Hellenen – gewesen, dieses Gebilde selbstzerstörerisch zu zertrümmern. Es ist nur natürlich, daß er sich nicht zu einem Neubau von Grund auf entschloß, sondern zu Umbauten und Anbauten.“ 137 Romilly, J. de, Thucydide et l’impérialisme athénien. La pensée de l’historien et la genèse de l’œuvre, Paris 1947, 21951. Zitiert nach der englischen Übersetzung: Thucydides and Athenian Imperialism, translated by P. Tody, New York 1963. 138 A.a.O., 17-36. 139 Vgl. etwa a.a.O., 27 zur ersten Periklesrede: „... if there was an original version of Book I, or of the whole work, then Pericles’ first speech was included in it. It was perhaps not in the form in which we see it today, but it was at least a speech asking for war, analysing the forces brought into play, and describing the plan to be followed. In other words, it was essentially similar to the speech in the present version.“ Für Luschnat, a.a.O., Sp. 1211 „scheint sich die Analyse“ damit „selbst aufzulösen“.

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siw verstärkt. Als späte Zusätze betrachtet sie die Pentekontaetie und einen Teil der Athenerrede, da hier der athenische Imperialismus klarer herausgearbeitet werde.140 Diese Rede wird aufgrund ihrer zentralen Rolle für die Hauptthematik der Arbeit gesondert behandelt.141 Dabei glaubt de Romilly den zweiten Hauptteil der Rede, der die Entstehung und Festigung der attischen Herrschaft behandelt, als Resultat einer späteren Umarbeitung erweisen zu können, da in der Einführung der Rede und im Proömium nicht davon die Rede sei.142 Umgekehrt habe die ursprüngliche Fassung die dort angekündigte Machtdemonstration Athens enthalten, die in der uns vorliegenden Rede nach Ansicht de Romillys fehlt.143 Wenige Jahre nach de Romillys Arbeit widmet L. Reich144 der Athenerrede eine eigene Monographie. Neben der Dissertation von Zahn zur ersten Periklesrede stellt diese Untersuchung die bislang einzige Monographie zu einer unserer sechs Reden dar. Ihr Wert wird jedoch durch einen bisweilen historistisch anmutenden Zugriff145, durch nicht immer philolo140 A.a.O., 35: „The only important passages to remain independent in the construction of this part of the work are the speech made by the Athenians – at least in part – and the Pentekontaetia ... Now it happens that these two passages reveal a similar tendency: without in any way modifying the aölhjestaßth proßfasiw, they form a commentary on Athenian imperialism and throw it into greater relief.“ 141 A.a.O., 242-272. 142 A.a.O., 268: „The whole section which is concerned with the passage from authority to empire, and which tries to find excuses for Athenian conduct in the general behaviour of humanity, goes beyond the framework foreseen in the introduction and exordium, and implies a different aim.“ 143 A.a.O., 269: „It thus seems that the exordium, the argument based on the Persians wars, and the epilogos do coincide and fit into the function intended to be fulfilled by the earlier version of the speech, whereas the second part, dealing with Athenian rule in more detail, would seem to be wholly or partly the result of later revisions or additions.“ 144 Reich, L., Die Rede der Athener in Sparta (Interpretation von Thuk. I,73-78), Diss. Hamburg 1956. 145 Vgl. Reichs Bemerkung a.a.O., 14 zum ersten Satz der Rede (73,1: &H me?n preßsbeusiw hÖmvqn ouök eöw aöntilogißan toiqw uÖmeteßroiw cummaßxoiw eögeßneto, aölla? peri? vWn hÖ poßliw eäpemyen ...): „Damit ist gesagt, dass der Entschluss, sich zu Wort zu melden, erst in Sparta und nicht schon in Athen von den Gesandten gefasst worden ist. Das bedeutet gleichzeitig, dass sie nicht als in dieser Sache Beauftragte im Namen ihrer Regierung sprechen, sondern als zufällig anwesende Bürger Athens, die sich von dem Geschrei getroffen fühlen müssen.“ Ähnlich 20: „Obwohl die Rede der Athener, anders als die der Korinther, aus naheliegenden Gründen nicht lange vorbereitet sein kann, herrscht in ihr doch vollkommene Zucht in der Wahl und Anordnung der Gedanken.“ Im Gegensatz dazu sieht Reich freilich in der Einleitung seiner Arbeit „die Reden von Thukydides zu einer Kunstform eigenen Stils gestaltet ..., deren Interpretation nicht weniger Takt erfordert als die Werke der Poesie“ (5), und formuliert als Ergebnis seiner Untersuchung, dass „kein Zweifel mehr sein“ dürfte, „dass die Reden

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gisch korrekte Erläuterungen146 und eine zum Teil verschwommene Ausdrucksweise147 beeinträchtigt, die insbesondere bei stilistischen Fragen148 ihren Niederschlag findet. Eine Neubehandlung aller sechs im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehenden Reden findet sich erst wieder im Thukydidesbuch von H.-P. Stahl.149 Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine gesonderte Untersuchung der einzelnen Reden im Hinblick auf die thukydideische Erklärung der Kriegsentstehung, vielmehr steht ihre Interpretation im Dienste der These Stahls, dass Thukydides mit seinem Geschichtswerk vordringlich aufzeigen wolle, wie sehr der Mensch den im geschichtlichen Prozess wirkenden irrationalen Kräften ausgeliefert sei,150 was aus der Diskrepanz

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in Sparta so, wie wir sie lesen, in Wirklichkeit nie gehalten worden sind, sondern dass sie eine freie Schöpfung des Thukydides sind, der seine Leser mit der aölhjestaßth proßfasiw des Peloponnesischen Krieges vertraut machen wollte“ (104). So schlägt Reich beispielsweise a.a.O., 19 für aöcißa loßgou (73,1: ... dhlvqsai vÖw ... hÄ te poßliw hÖmvqn aöcißa loßgou eöstißn) die Übersetzung „einer Rede wert“ vor und gibt dazu folgende abwegige Erklärung (ebd., Anm. 2): „Mit anderen Worten: unsere Polis verdient es, dass man sie reden lässt, dass sie angehört wird. Mitten in den Tumult in Sparta, wo von allen Seiten ‚Nieder mit Athen!’ geschrien wird, treten die Athener und bitten um das Wort.“ Vgl. etwa seinen Kommentar a.a.O., 13 zu den einleitenden Sätzen 73,1: „Diese Teile reihen sich nicht beziehungslos aneinander. Sie sollen vielmehr durch eine abgewogene Unter-, Über- und Gegenordnung den Standort der Redner bestimmen, der ihnen allein im Kraftfeld der politischen Meinungen angemessen zu sein scheint.“ Vgl. a.a.O., 54 zu den berühmten Worten 76,2: „Obwohl sie (sc. die Periode) den grössten Umfang innerhalb der ganzen Rede hat und die verschiedensten, überraschendsten und anspruchsvollsten Gedanken zur Einheit zusammenschliesst, ist sie doch als Form der Aussage auffallend spannungslos. Hinter jedem Satzteil liesse sie sich beenden. Gedanke reiht sich an Gedanke, keine Wortgruppe setzt durch ihre syntaktische Unvollkommenheit den Hörer in Erwartung. Hinzu kommt ein Mangel an sinnfälliger Gliederung, die dem verschiedenen Gewicht der Aussage angemessen wäre. Die Bindewörter verbinden nur äusserlich und geben keinen Aufschluss über die logischen Beziehungen der Satzteile zueinander. In dieselbe Richtung einer herben Ausdrucksweise wirkt die Häufung der part.coni. und absol., die, obwohl eine Form der Unterordnung, allen bisherigen Ausführungen übergeordnete Gedanken zum Inhalt haben.“ Vgl. auch 63 zu dem in dieser Periode enthaltenen Vorwurf an die Spartaner (... meßxri ouW ta? cumfeßronta logizoßmenoi tvq# dikaißv# loßgv# nuqn xrhqsje ...): „Wie ein ruhiger Strom unversehens in die Tiefe stürzt, ergiesst sich die gleichmäßige Gedankenfolge plötzlich über die Spartaner.“ Stahl, H.-P., Thukydides. Die Stellung des Menschen im geschichtlichen Prozeß, Zetemata 40, München 1966, 41-64. Davon ausgehend spricht sich Stahl entschieden gegen die übliche Gleichsetzung des aönjrvßpinon (22,4) und der aönjrvpeißa fußsiw aus und stellt a.a.O., 33 die Frage, „ob die Kategorie des ‚Menschlichen’ ... sich auf die Natur des Menschen

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zwischen menschlichem Planen und der Realisierung dieses Planens deutlich hervorgehe.151 Im Sinne seiner Argumentation richtet Stahl, wie schon die Überschrift des betreffenden Kapitels („Entwürfe und Aussichten“) erkennen lässt, sein Augenmerk vornehmlich auf die Passagen, in denen die beteiligten Parteien (Archidamos, die Korinther und Perikles) ihre Erfolgsaussichten einschätzen, um dann „Plan und Wirklichkeit“152 gegeneinander aufzurechnen. Stahl konzentriert sich damit einseitig auf das „Verhältnis von vorstellender Erwartung und konkreter (korrigierender) Erfahrung“153 und sieht den Schlüssel zur Interpretation der Reden „viel eher in dem jeweiligen Geschehensablauf ..., in den der Historiker sie stellt und den er in eigenem Namen verfaßt, als daß man die Reden zur Norm für die Interpretation der Geschehensabläufe macht“154: „Daß Thukydides dabei weniger an der Frage der Kriegsschuld (bzw. der Unvermeidbarkeit des Krieges), sondern vielmehr daran, womit die Einzelnen ihre Vorstellungen vom Kriegsverlauf begründen, interessiert war, dürfte unsere Interpretation gezeigt haben: alle Redner, warnende wie zum Krieg treibende, suchten ihre Ratschläge mit einem Entwurf der Zukunft zu untermauern. Und gerade in diesen Entwürfen dürfte das Problem des Historikers liegen ...“155

Am ausführlichsten wird die Athenerrede interpretiert,156 die Stahl – insbesondere in Auseinandersetzung mit de Romilly – als „eine mit Arroganz

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beschränkt und nicht vielmehr ... die das menschliche Dasein bedingenden äußeren Umstände einschließt, so daß to? aönjrvßpinon mit ‚das, was den Menschen angeht’ oder mit ‚die Bedingungen menschlicher Existenz’ zu übersetzen ist“. Die Überbetonung der irrationalen Faktoren im geschichtlichen Prozess führt bei Stahl so weit, dass er die aönjrvpeißa fußsiw nicht nur nicht aufgrund ihrer überzeitlichen Konstanz als die das menschliche Handeln bestimmende innere Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Geschehens anerkennt, sondern gar „eine Konstanz der menschlichen Natur ... in der Inkonstanz ihres Verhaltens gegeben“ (101) sieht. Demzufolge spricht Stahl dem thukydideischen Werk eine praktische Zielsetzung ab (a.a.O., 15: „Mir liegt daran, die utilitäre Interpretation des thukydideischen Programmsatzes [I 22, 4: sein Werk sei ein Besitz für immer] an der Wurzel zu fassen“) und deutet das von Thukydides in Anspruch genommene vöfeßlimon als Belehrung über die Aussichtslosigkeit rationalen Planens (102): „Daß durch den unerwarteten Kriegsverlauf die Suche und der Erkenntnisdrang des Historikers sich geradezu zwangsläufig mehr und mehr auf die unberechenbaren Faktoren richten mußten, erscheint nur zu verständlich und erklärt zugleich, wieso das Geschichtswerk weit eher auf die in ihm angestrebte (bzw. vollzogene) Erkenntnis als auf künftige Anwendung auszulegen ist.“ So die Überschrift des fünften Kapitels. A.a.O., 55. A.a.O., 32. A.a.O., 60. A.a.O., 43-54.

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vorgetragene Darstellung athenischer Macht“157 zu erweisen sucht. Mit dieser Deutung greift Stahl in die Diskussion der viel behandelten Frage, ob sich im außenpolitischen Denken der Athener eine Entwicklung von einer maßvollen Form unter Perikles zu einer immer stärkeren Entartung unter seinen Nachfolgern erkennen lässt, auf der Seite von H. Strasburger ein,158 der – wie später besonders H. Flashar159 – eine Radikalisierung des athenischen Imperialismus nach dem Tod des Perikles bestreitet160 und Perikles als „Inkarnation der Machtidee“161 in eine Reihe mit Kleon und Euphemos stellt. Gegen eine derartige Auffassung wenden sich in der Folgezeit verschiedene Beiträge, die – zumeist über die Athenerrede hinausführend – der Rolle des athenischen Imperialismus im thukydideischen Geschichtswerk oder dem Verhältnis Thukydides-Perikles gewidmet sind. So spricht sich P.R. Pouncey162 in seiner Dissertation mit dem Titel ‚Thucydides and Pericles’, in der u.a. die Athenerrede163 und die erste Periklesrede164 näher behandelt werden, entschieden für die Annahme einer Wandlung in der athenischen Außenpolitik aus: „We may conclude that the only two speeches by anonymous Athenians in the work, the speech of the Athenian delegates at Sparta and the Melian Dialogue, may be intended at least in part to contrast two moral attitudes – one dating from the re-

157 A.a.O., 53. Vgl. auch 48 („... es ist eine Warnung aus der arroganten Position der Stärke heraus“), 49 („Im Folgenden schlägt der Tonfall der athenischen Rede in schneidenden Hohn um“), 50 („Dies ... ist der Höhepunkt der athenischen Arroganz ...“). 158 Stahl, a.a.O., 50: „Mit Recht hat Strasburger festgestellt, daß die Haltung der Gesandten des perikleischen Athen sich in nichts von der der Athener bei Melos unterscheide, und daß die Interpretation Schmids und anderer, die eine Entwicklung von maßvollem athenischem Imperialismus ... zur Maßlosigkeit feststellen zu können meint, nicht haltbar sei.“ 159 Flashar, H., Der Epitaphios des Perikles. Seine Funktion im Geschichtswerk des Thukydides, SHAW 1969,1, Heidelberg 1969. 160 Strasburger, H., Thukydides und die politische Selbstdarstellung der Athener, Hermes 86, 1958, 17-40, jetzt in: Herter, H. (Hrsg.), Thukydides, Wege der Forschung 98, Darmstadt 1968, 498-530, dort 515, Anm. 47: „Die beliebte Vorstellung einer Entwicklung des athenischen Imperialismus bei Thukydides von einer maßvollen Form unter Perikles, die zugleich Thukydides’ eigenes Ideal dargestellt habe, zu immer stärkerer Entartung unter seinen Nachfolgern ... halte ich ernstlicher Nachprüfung für bedürftig.“ 161 A.a.O., 516, Anm. 47. 162 Pouncey, P.R., Thucydides and Pericles, (Diss. Columbia 1969) Ann Arbor 1970. 163 A.a.O., 39-52. 164 A.a.O., 65-97.

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latively moderate age of Pericles’ domination and the other from the period of Athenian disintegration under his successors.“165

Pouncey sieht – darin offenbar in der Nachfolge von Schwartz – Thukydides von der Absicht geleitet, die perikleische Politik gegen Angriffe nach 404 zu verteidigen, weshalb er dessen Rolle bei der Machtentfaltung Athens sogar beschönige: „... the systematic omissions of imperialistic acts during the early part of Pericles’ career are not accidents to be attributed to the incompleteness of a first draft, but are calculated to protect this moderate image.“166 Gegen die Vorstellung einer prinzipiellen Gleichheit des machtpolitischen Denkens der Athener im Werk des Thukydides wendet sich auch A.E. Raubitschek167, der bei der Interpretation der Athenerrede in Sparta im Vergleich zur Euphemosrede in Kamarina „different stages in the development of the claim of the Athenians to be entitled to rule“168 auszumachen glaubt: „A comparison of the speech of the Athenians at Sparta with the speeches of the Athenian generals at Melos and of Euphemus at Camarina shows clearly the difference between the cynicism of an Alcibiades and the idealism of a Pericles.“169 Eine systematische Untersuchung der Rolle des athenischen Imperialismus im Geschichtswerk des Thukydides hat A. Rengakos170 vorgelegt. Dazu werden die Textstücke eingehend behandelt, in denen die geistigen Grundlagen der Außenpolitik Athens entwickelt werden, vornehmlich also die Athenerrede in Sparta, die dritte Periklesrede, die Debatte um Mytilene, die Rede der spartanischen Gesandtschaft in Athen, die Hermokratesrede in Gela, der Melierdialog, die Redetrias vor der Sizilischen Expedition und die Euphemosrede in Kamarina. Dabei kommt Rengakos zu dem Ergebnis, „daß Thukydides eine Entwicklung darstellen will und daß er aus realpolitischen Gründen eine bestimmte maßvolle Art von ‚Imperialismus’, nämlich die perikleische, durchaus akzeptiert hat. Nur seine Radikalisierung unter den Nachfolgern des Perikles hat er für die Niederlage von 404 165 A.a.O., 166. Vgl. auch 152: „In Thucydides’ account, there was a radical shift of policy after Pericles’ death.“ 164: „The crucial point is that Pericles, in Thucydides’ work, does not commit atrocities like the Melian massacre ... Pericles is cast throughout as a defender, and his leadership is characterized as meßtriow ...“ 166 A.a.O., 151. 167 Raubitschek, A.E., The speech of the Athenians at Sparta, in: Stadter, P.A. (Hrsg.), The Speeches in Thucydides. A Collection of Original Studies with a Bibliography, Chapel Hill 1973, 32-48. 168 A.a.O., 37. 169 A.a.O., 48. 170 Rengakos, A., Form und Wandel des Machtdenkens der Athener bei Thukydides, Hermes Einzelschriften 48, Stuttgart 1984.

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verantwortlich gemacht und deshalb auch verurteilt.“171 Aus der Interpretation der Athenerrede172 ergibt sich für ihn, „daß das athenische Machtdenken, wie es Thukydides in dieser Rede zeichnet, sowohl in seinem Inhalt als auch in der Art seiner Darstellung ... maßvoll genannt werden kann“173. Von einer zunehmenden Radikalisierung des athenischen Imperialismus geht auch J.T. Hogan174 aus, der die Athenerrede und die erste Periklesrede einer Phase der Mäßigung zuordnet.175 Hogan stellt seine knappe Behandlung dieser beiden Reden176 in den Dienst seiner übergreifenden These, wonach sich in den in Athen bzw. von Athenern gehaltenen politischen Reden „a progressive degeneration in the value of logos“177 bemerkbar mache, die mit der thukydideischen Beschreibung der staßsiw in Kerkyra, insbesondere deren Auswirkung auf die aöcißvsiw tvqn oönomaßtvn (3,82,4) korrespondiere.178 Neben den Arbeiten zur Athenerrede und zur ersten Periklesrede finden sich auch zur Sthenelaidasrede und ihrem Verhältnis zur Archidamosrede einige kleinere Beiträge, namentlich ein polemischer Disput zwischen J.W. Allison179 und E.F. Bloedow180. Während sich Bloedow vehement gegen eine Würdigung der Sthenelaidasrede als „masterpiece of subtle rhetoric“181 ausspricht und sich deshalb nicht erklären kann, warum Archidamos mit seiner glänzenden Rede nicht erfolgreich gewesen sei – zu diesem Urteil gelangt er, weil er nur die Rede des Archidamos ausführlich interpretiert und dabei den rhetorischen Charakter der Sthenelaidasrede einfach ignoriert –, legt Allison eine Einzeluntersuchung der Sthenelaidasrede vor, in der sie eine detaillierte Analyse von „structure and rhetorical devices in the speech with a view towards discussing its purpose“182 ankündigt. Dabei kommt sie aber oftmals nicht über die bloße Klassifizierung 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182

A.a.O., 124. A.a.O., 23-37. A.a.O., 37. Hogan, J.T., The decline of logos in Thucydides’ Athenian speeches, (Diss. Chapel Hill 1989) Ann Arbor 1991. A.a.O., 69: „The moderation of the speech and the emphasis on the moderation of Athens’ rule ... place this speech in the same line as the speeches of Pericles ...“ A.a.O., 51-53 und 65-77. A.a.O., 2. A.a.O., 8: „Thucydides’ analysis of the causes of decline in Athens corresponds to his general portrait of stasis in 3.82.“ Allison, J.W., Sthenelaidas’ Speech: Thucydides 1.86, Hermes 112, 1984, 9-16. Bloedow, E.F., The Speeches of Archidamus and Sthenelaidas at Sparta, Historia 30, 1981, 129-143; ders., Archidamus the ‚Intelligent’ Spartan, Klio 65, 1983, 2749; ders., Sthenelaidas the Persuasive Spartan, Hermes 115, 1987, 60-66. Bloedow, The Speeches, 137. A.a.O., 10.

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verschiedener formaler Gestaltungsmittel hinaus, weil sie ihr Augenmerk weniger auf den Gedankengang als auf die rhetorische Gestaltung richtet.183 Eine zusammenhängende Interpretation von wenigstens vier unserer sechs Reden unternimmt erst wieder P.E. Arnold184 mit ihrer Dissertation ‚Fallacies and persuasion in four political debates in Thucydides’, in der neben der Debatte um Mytilene, den Reden der Kerkyraier und der Korinther in Athen und dem Gericht über die Plataier die Redentetras auf der Tagsatzung in Sparta näher untersucht wird.185 Arbeitet Arnold einerseits gut heraus, wie der Leser durch die Eigenart der thukydideischen Reden veranlasst wird, die von den verschiedenen Parteien vorgetragenen Argumentationen zu prüfen und ihre Wirkung auf den tatsächlichen Geschehensablauf nachzuvollziehen, damit also den Entscheidungsprozess insgesamt theoretisch zu durchdenken,186 wird sie doch der Bedeutung der loßgoi nicht gerecht, wenn sie bei ihrer Interpretation der Reden ihre Aufmerksamkeit einseitig auf rhetorische Tricks (‚fallacies’187) richtet, deren Analyse sie in Zusammenhang mit dem von Thukydides 22,4 in Anspruch 183 So werden beispielsweise die Wechsel im Tempus im ersten Abschnitt der Rede richtig festgestellt (a.a.O., 10), ohne dass dabei aber die Verbindung zum Inhalt (Wandel der Athener – überzeitliche Konstanz im Verhalten der Spartaner) geleistet würde. Eine sprachliche Analyse kann sich aber erst dann für die Interpretation als fruchtbar erweisen, wenn die Funktion einer sprachlichen Besonderheit für den gedanklichen Gehalt erkannt wird. In seinem zweiten Beitrag zur Sthenelaidasrede weist Bloedow Allison sehr polemisch zurück, bringt daneben aber über die Ausführungen seines ersten Beitrags hinaus nichts Neues. Vielmehr hält er an seiner Fehldeutung weiter fest (Sthenelaidas, 64): „Indeed, if ever there was a Speech in Thucydides in which the form fails to match the circumstances and the speaker, it must be this Speech by Sthenelaidas.“ 184 Arnold [Debnar], P.E., Fallacies and persuasion in four political debates in Thucydides, (Diss. Yale 1989) Ann Arbor 1991. 185 A.a.O., 148-258. 186 A.a.O., 13: „If virtually verbatim reports of speeches or speeches composed in the style of contemporary orators had been included in the History, this limitation would not have applied to readers, who can carefully weigh and repeatedly examine a passage. In reshaping the style of direct speeches to make them difficult, condensed, and abstruse, Thucydides complicated their logic and disguised the defects in their arguments. In this way he created for the reader an intellectual challenge comparable to that faced by an audience listening to the orators in a debate.“ Vgl. dazu auch ihren Aufsatz The Persuasive Style of Debates in Direct Speech in Thucydides, Hermes 120, 1992, 44-57. 187 Arnold definiert ‚fallacies’ folgendermaßen (a.a.O., 7): „On a general level, then, fallacies can be described as the intentional use of misunderstanding generated through a failure to refer to the same thing in order to create the illusion of a logical argument.“

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genommenen vöfeßlimon zu bringen versucht: „The detection and understanding of rhetorical fallacies in the History ... should be especially useful for the readers to whom Thucydides directs his work ...“188 Von der gleichen Verfasserin – nun unter dem Namen Debnar189 – stammt eine weitere Monographie zu den Reden des Thukydides, in der sie ihren Blickwinkel ganz auf die Rolle des fingierten Publikums beschränkt: „... Thucydides’ assessment of historical audiences was a critical factor in determining what he thought was ‚most appropriate’ for speakers to say (1.22.1), ... in general speakers in the History accommodate their auditors, and ... when they do not, this failure is significant.“190 Debnar konzentriert sich dabei auf diejenigen Reden, bei denen Spartaner als Sprecher oder Zuhörer beteiligt sind – sie machen in der Summe mehr als ein Drittel der thukydideischen Reden aus191 –, behandelt also von unseren loßgoi alle fünf außer der ersten Periklesrede. Insgesamt kommt sie zu dem Ergebnis, „that as the History progresses the Spartans begin to sound more like the Athenians, and to respond more like them; that is, they become more apt to use and to be persuaded by arguments that are rhetorically better suited to Athenian speakers and audiences“192. Unser Überblick hat gezeigt, dass sich die Thukydidesforschung schon immer mit den hier untersuchten Reden befasst hat. Zumeist gilt das Interesse entweder nur einzelnen Reden oder mit ihrer Interpretation verbundenen übergeordneten Zusammenhängen wie etwa dem Problem der Entstehungsgeschichte des thukydideischen Geschichtswerkes oder der Rolle des athenischen Imperialismus. Eine eigene, gesonderte Untersuchung der sechs Kriegsreden insgesamt im Hinblick auf ihre Funktion für die Analyse der Kriegsverursachung liegt bislang nicht vor. Im Folgenden soll nun jede der sechs Reden für sich umfassend interpretiert werden. Vorrangig wird das Augenmerk auf die Frage gerichtet sein, welche Argumente und Gedanken der Sprecher193 jeweils entwickelt und welche rhetorischen Mittel bzw. Finessen er einsetzt, um sein Ziel zu erreichen. Besonderes Interesse gilt dabei der literarischen Technik des Thukydides, die einzelnen Reden durch vielfache Bezüge miteinander zu verflechten und so die vorgebrach188 189 190 191 192

A.a.O., 7. Debnar, P., Speaking the same language, Ann Arbor 2001. A.a.O., 2. Vgl. Debnars Aufstellung a.a.O., 221f. A.a.O., 10. Vgl. auch ebd., Anm. 43: „It could be said that Thucydides uses speeches as a vehicle to depict the effect of the war on the Spartan ethos.“ 193 Wenn hier wie bei der Interpretation so formuliert wird, als ob der Wortlaut von den betreffenden Rednern stammte, sollen umständliche Umschreibungen vermieden werden.

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ten Standpunkte implizit zu kommentieren. In einer zusammenfassenden Bewertung soll abschließend versucht werden, die Ergebnisse der Einzelinterpretationen für eine Beurteilung der Funktion dieser Kriegsreden für die Analyse der Kriegsentstehung fruchtbar zu machen, deren präzisem Verständnis in der Forschung häufig ein zu historistischer Blickwinkel194, eine Entwertung der Reden aufgrund einer übermäßigen Betonung ihrer perspektivischen Bedingtheit195 oder eine einseitige Ausrichtung auf ihre rhetorische Gestaltung im Weg steht. Eng damit verbunden wird die Frage sein, inwiefern die Reden im Sinne des 22,4196 in Anspruch genommenen vöfeßlimon, das Thukydides in einer überzeitlich gültigen Erkenntnis eines hinter der Oberfläche der Ereignisse liegenden safeßw sieht, modellhaft über die konkrete historische Situation hinausweisen und der Leser als ihr eigentlicher Adressat in die Diskussion über den Krieg miteinbezogen wird und abstrakt Einsicht gewinnt in die beim Ausbruch eines Krieges zur Wirkung kommenden Mechanismen und Kräfte. Den Kern der Arbeit bildet freilich eine gründliche Texterschließung, wie sie etwa Wilamowitz für die Beschäftigung mit Thukydides gültig postuliert: „Es kommt überall etwas heraus, wenn man nur die Augen nach allen Seiten auftut, aber die schärfste Interpretation der Textworte zugrunde legt. Dieser Schriftsteller fordert es und verträgt es.“197

194 Selbst der Verfasser des jüngsten Thukydideskommentars versucht in seiner Thukydidesmonographie bei der Darlegung seiner Auffassung vom loßgoi-Satz (22,1) und den thukydideischen Reden den Verweis auf thematische Bezüge zwischen der dritten Korinther- und der ersten Periklesrede als Einwand gegen die Authentizität der Reden zu entkräften, indem er sich auf die „bad security in ancient Greece“ beruft (Hornblower, S., Thucydides, London 1987, 59). 195 So Stahl, a.a.O., 32; vgl. auch ders., Speeches and Course of Events in Book Six and Seven of Thucydides, in: Stadter, P.A. (Hrsg.), The Speeches in Thucydides. A Collection of Original Studies with a Bibliography, Chapel Hill 1973, 60-77, dort 62 generell zu den thukydideischen Reden: „... not any more elucidation of events by speeches, but, to state it pointedly, elucidation of speeches by the narration of events seems the adequate method of reading Thucydides.“ 196 oÄsoi de? boulhßsontai tvqn te genomeßnvn to? safe?w skopeiqn kai? tvqn melloßntvn pote? auQjiw kata? to? aönjrvßpinon toioußtvn kai? paraplhsißvn eäsesjai, vöfeßlima krißnein auöta? aörkoußntvw eÄcei. 197 Wilamowitz-Moellendorff, U. von, Der Waffenstillstandsvertrag von 423 v. Chr., Sitzungsberichte der kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1915, 607-622, jetzt in: Kleine Schriften III. Griechische Prosa, Berlin 1969, 362-379, dort 362, Anm. 1.

2. Die Tagsatzung in Sparta (67-88) 2.1 Einordnung in den Kontext Unmittelbar nach der Darlegung seiner Auffassung von der Entstehung des peloponnesischen Krieges (23,4-6) setzt Thukydides mit der Schilderung der aiötißai kai? diaforaiß ein, namentlich mit der Konfrontation von Kerkyra und Korinth (24-55). Dieser Konflikt entzündet sich an den inneren Wirren in Epidamnos. Dort hat nach jahrelangen Parteikämpfen die demokratische Partei die Adligen aus der Stadt verjagt, worauf diese die Epidamnier von außen bedrohen. In ihrer Bedrängnis wenden sich die epidamnischen Demokraten an die demokratisch regierte Mutterstadt Kerkyra, die die Gesandten allerdings unverrichteter Dinge entlässt. Auf Geheiß des delphischen Orakels sucht man schließlich Zuflucht bei Kerkyras Mutterstadt Korinth, die zur Hilfeleistung bereit ist. Als die Kerkyraier daraufhin für die vertriebenen Oligarchen Partei ergreifen, kommt es zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Kerkyra und Korinth. Mit dieser Konfrontation gelangt eine schon länger latent andauernde Spannung an die Oberfläche, wie die thukydideische Analyse des korinthischen Verhaltens 25,3 durch ihre entlarvende Aufschlüsselung in äußeren Vorwand (kata? ... to? dißkaion1) und wahres Motiv (mißsei tvqn Kerkuraißvn2) zeigt. Freilich kommt dem Konflikt eine tiefere Dimension zu, da sich Athen durch ein Hilfegesuch der Kerkyraier nach dem Sieg von Leukimme zum Abschluss eines Bündnisses bewegen lässt: Mit der Involvierung Athens weitet sich nun die Auseinandersetzung zwischen Kerkyra und Korinth auf die politische Bühne Griechenlands aus. Diesem Umstand trägt Thukydides durch die Einlage eines Redenpaars3 Rechnung: Antilogisch lässt er Gesandtschaften aus Kerkyra und Korinth vor der athenischen Volksversammlung auftreten (32-43). Von der Unausweichlichkeit 1 ... nomißzontew ouöx hWsson eÖautvqn eiQnai th?n aöpoikißan hü Kerkuraißvn ... Der Gründer von Epidamnos stammte aus Korinth (24,2: taußthn aöpv#ßkisan me?n Kerkuraiqoi, oiökisth?w d ö eögeßneto Faßliow §Eratokleißdou Korißnjiow ...). 2 ... oÄti auötvqn parhmeßloun oäntew aäpoikoi ... Die Kerkyraier zeigten sich als xrhmaßtvn dunaßmei oäntew kat ö eökeiqnon to?n xroßnon oÖmoiqa toiqw &Ellhßnvn plousivtaßtoiw und im Gefühl ihrer überlegenen Kriegsrüstung (insbesondere wegen der Flotte) geringschätzig gegenüber der Mutterstadt Korinth (25,4). 3 Kaiser, M., Thukydides I 32-43 rhetorisch interpretiert, (Diss. Basel 1960) Basel 1971.

Die zweite Korintherrede

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des Krieges überzeugt,4 entscheidet sich Athen für ein Verteidigungsbündnis mit Kerkyra, in der Hoffnung, sich damit einen strategischen Vorteil für den künftigen Krieg zu sichern, ohne aber gleichzeitig den Kriegsausbruch zu beschleunigen. Diese Taktik entpuppt sich allerdings als Fehlkalkulation. Denn beim zweiten Gefecht zwischen Kerkyra und Korinth bei Sybota werden die athenischen Schiffe „nolens-volens in die Seeschlacht verwickelt“5, woraus die Korinther eine aiötißa ... prvßth ... touq poleßmou (55,2) ableiten. Aus diesem Vorfall ergibt sich bald ein zweiter Unruheherd (56-66): Aus Angst vor Korinth hatte Athen der Stadt Poteidaia, einer korinthischen Gründung, die dem attischen Seebund beitragspflichtig war, bestimmte Auflagen gemacht, mit denen Poteidaia nicht einverstanden war und schließlich sogar von Athen abfiel. Dies führt zu einem zweiten Zusammenstoß zwischen Korinth und Athen, die Athener siegen und belagern Poteidaia. Daraufhin aktivieren die Korinther ihre Bündner und versuchen sie für eine Kriegserklärung gegen Athen zu mobilisieren. Dass mit dem Auftreten der korinthischen Gesandten in Sparta die Vorgeschichte des Krieges an ihrem kritischen Punkt angelangt ist, hebt Thukydides ausdrücklich hervor (66): ouö meßntoi oÄ ge poßlemoßw pv cunerrvßgei, aöll ö eäti aönokvxh? hQn: iödißa# ga?r tauqta oiÖ Korißnjioi eäpracan.

In dieser Situation berufen die Spartaner eine Versammlung ein, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Diese sogenannte Tagsatzung hat Thukydides durch die in seinem Geschichtswerk singuläre Einlage von vier Reden deutlich als entscheidenden historischen Wendepunkt markiert. In einer Redentetras treten nacheinander die Korinther, die Athener, der spartanische König Archidamos und der Ephor Sthenelaidas auf.

2.2 Die zweite Korintherrede (68-71) 2.2.1 Übersicht Thukydides lässt von den spartanischen cußmmaxoi nur die Korinther sprechen und weist ihnen gerade durch ihre Schlussposition (67,5: pareljoßntew ... teleutaiqoi) innerhalb dieser Gruppe eine besondere Rolle zu. Nachdem die von ihnen mobilisierten Bundesgenossen die Spartaner be-

4 44,2: eödoßkei ga?r oÖ pro?w Peloponnhsißouw poßlemow kai? vÜw eäsesjai auötoiqw ... 5 Stahl, a.a.O., 40.

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Die Tagsatzung in Sparta

reits kräftig erhitzt haben (tou?w aällouw eöaßsantew prvqton parocuqnai), melden sich die Korinther selbst zu Wort. Wie schon die thukydideische Einleitung in Aussicht stellt, präsentieren die Korinther eine Hetzrede, die die Ausführungen der Vorredner überbietet. Bemerkenswerterweise steigern sie aber nicht, wie man vermuten könnte, die Beschwerden der aälloi gegen Athen, sondern richten ihre Vorwürfe in erster Linie gegen die verbündeten Spartaner selbst. Nach heftigen Ausfällen gegen Athens imperialistische Politik – auf die Frage, ob die Athener durch ihre Aktionen den Vertrag überhaupt verletzt haben, gehen sie erst gar nicht ein, sondern deklarieren die athenische aödikißa als offenkundiges Faktum – wenden sich die Korinther mit leidenschaftlichen Attacken gegen die Spartaner, deren Passivität sie nicht nur zu einer notwendigen Bedingung für den Machtzuwachs Athens machen, sondern sogar zum hauptverantwortlichen Faktor erklären. In einer Agitationsrede, „bei der alle Register sophistischer Rhetorik gezogen werden“6, prangern sie energisch die Zögerlichkeit7 der Spartaner an. Mit dem Ziel, die Emotionen der Zuhörer zu erregen und sie aus ihrer Lethargie zu wecken, schrecken die Korinther nicht davor zurück, die Spartaner in so drastischer Form zu beschuldigen, dass sie eigens betonen zu müssen glauben, ihre Ausführungen seien gutgemeinte Ratschläge für aändrew fißloi und nicht etwa Anklagen gegen eöxjroiß (69,6).8 Das Kernstück der Rede bildet eine Synkrisis des athenischen und spartanischen Wesens: Im Gegensatz zu den Ausführungen der athenischen Gesandten, die als Antwort auf die Korintherrede die imperialistische Politik Athens mit dem Hinweis auf die durch die aönjrvpeißa fußsiw gegebenen Gesetzmäßigkeiten verteidigen, argumentieren die Korinther nicht mit dem Physis-Begriff in generalisierender Bedeutung, sondern betonen gerade die Unterschiede im Wesen der Athener und Spartaner: Durch die Stilisierung Athens zu einer rastlos vorwärts drängenden, unaufhaltsam ausgreifenden poßliw versuchen sie die Schwerfälligkeit der Spartaner als widersinnig zu erweisen, da der Krieg aufgrund der athenischen fußsiw unweigerlich bevorstehe. Im dritten Teil ihrer Rede richten die Korinther ihren Blick wieder auf die aktuelle Lage und drängen mit eindringlichen Appellen energisch auf ein entschlossenes Vorgehen.

6 Schmid, Walter, a.a.O., 34. 7 Dies schlägt sich in der gehäuften Verwendung von perioraqn (69,1.3.5), hÖsuxaßzein/hÖsuxißa (69,4; 70,8.9; 71,1), meßllein/meßllhsiw (69,2.4; 70,4; 71,1) und ähnlicher Begriffe nieder. 8 Archidamos freilich beurteilt die Rede anders, wenn er 84,2 auf sie anspielt: ... kai? hän tiw aära cu?n kathgorißa# parocußnh# ... Vgl. dazu unten S. 137.

Die zweite Korintherrede

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2.2.2 Interpretation Gleich im Proömium ihrer Rede (68,1f.)9 beginnen die Korinther mit einer zwar noch zurückhaltenden, aber doch klar hervortretenden Kritik an den Spartanern, indem sie einen Widerspruch zwischen dem gegenseitigen Vertrauen der Spartaner untereinander und ihrem Misstrauen gegenüber den Bundesgenossen herausarbeiten (§ 1): To? pisto?n uÖmaqw, vQ Lakedaimoßnioi, thqw kaj ö uÖmaqw auötou?w politeißaw kai? oÖmilißaw aöpistoteßrouw eöw tou?w aällouw hän ti leßgvmen kajißsthsin ...

Durch die parallele Entsprechung von To? pisto?n ... thqw kaj ö uÖmaqw auötou?w politeißaw und aöpistoteßrouw eöw tou?w aällouw10 wird der Kontrast zwischen dem Auftreten der Spartaner im öffentlichen und privaten Leben der eigenen Stadt und ihrer Haltung anderen gegenüber deutlich hervorgehoben. Besonderer Ton kommt dabei dem Wort pistoßn durch die Stellung am Satzanfang, durch das weite Hyperbaton (To? pisto?n ... thqw kaj ö uÖmaqw auötou?w politeißaw) und durch das Wortspiel mit aöpistoteßrouw zu. Diese Paronomasie verstärkt den Eindruck einer Korrelation zwischen den konträren Positionen:11 Die nach innen gekehrte Hermetik des

9 Entsprechend der Absatztrennung in den Ausgaben von Jones-Powell, Luschnat, de Romilly, Alberti, Poppo-Stahl und Maddalena fassen wir 68,1f. als gedanklich geschlossene Einheit, mit der die Korinther die 68,3 beginnenden Ausfälle gegen Athens Übergriffe und Spartas zögerliche Haltung vorbereiten. Demgegenüber machen Krüger, Boehme-Widmann und Classen-Steup erst vor c.69 einen Absatz. 10 eöw tou?w aällouw ist gegen Poppo-Stahl, Thucydidis de bello Peloponnesiaco libri octo. Ad optimorum librorum fidem editos explanavit E.F. Poppo. Editio tertia, quam auxit et emendavit I.M. Stahl, vol. I., sect. I, Leipzig 1886, 198, ClassenSteup, a.a.O., 188 und Maddalena, Thucydidis Historiarum liber primus. Introduzione, testo critico e commento con traduzione e indici a cura di A. Maddalena, Bd. 2, Florenz 1952, 126f., die hinter aöpistoteßrouw interpungieren und eöw tou?w aällouw mit hän ti leßgvmen verbinden (Classen-Steup, a.a.O., 188: „wenn wir gegen andere ... Klagen vorbringen“), auf aöpistoteßrouw zu beziehen. Vgl. die Interpunktion in den Ausgaben von Luschnat, de Romilly und Alberti und die Erläuterungen bei Krüger, JOUKUDIDOU CUGGRAFH. Mit erklärenden Anmerkungen herausgegeben von K.W. Krüger, ersten Bandes erstes Heft, Berlin 31860, 75; Boehme-Widmann, Thukydides. Für den Schulgebrauch erklärt von G. Boehme. Von der fünften Auflage an besorgt von S. Widmann. Erstes Bändchen. Buch I, Leipzig 61894, 66; Gomme, A.W., A Historical Commentary on Thucydides I, Oxford 1956, 227; Hornblower, S., A Commentary on Thucydides I, Oxford 1991, 112 und Debnar, a.a.O., 35, Anm. 17. Anderenfalls scheint die Satzstruktur nicht ausgewogen. 11 Deshalb ist der Vorschlag von Classen-Steup, a.a.O., 188 (ähnlich schon Krüger, a.a.O., 75, Poppo-Stahl, a.a.O., 198, Boehme-Widmann, a.a.O., 66) abzulehnen, zwischen einer passiven Bedeutung von to? pistoßn („die Redlichkeit, der man

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Die Tagsatzung in Sparta

spartanischen Wesens bedingt gleichsam das Misstrauen gegen andere.12 Aus diesem Verhalten (aöp ö auötouq) resultiert in den Augen der Korinther einerseits die svfrosußnh13 der Spartaner, andererseits aber eine aömajißa in auswärtigen Angelegenheiten. Damit wird die Aufschlüsselung bei der Beurteilung der Spartaner hinsichtlich der Haltung untereinander und gegenüber den Bündnern fortgeführt. Dass das Hauptgewicht der zweigliedrigen Aussage (meßn – deß) freilich auf dem zweiten Teil liegt, zeigt nicht nur das Adjektiv pleßoni14 und die breitere Ausgestaltung des deß-Teils, sondern vor allem die Fortsetzung im nächsten Satz, die den meßn-Teil ausschließt und sich ganz auf den Vorwurf der aömajißa konzentriert. Somit ist im positiven Urteil über das pisto?n ... thqw kaj ö uÖmaqw auötou?w politeißaw kai? oÖmilißaw und im Zugeständnis an die Spartaner, sich durch svfrosußnh auszuzeichnen, nicht mehr als eine Art captatio benevolentiae zu sehen, die eigentlich ironisch15 gemeint ist und nur die Anklage mildernd vorbereiten soll. Gerade durch die enge Verbindung mit aömajißa setzen die Korinther die svfrosußnh herab und deuten somit einen im

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trauen kann“) und einer aktiven im Ausdruck aöpistoteßrouw („die Ungeneigtheit zu glauben“) zu unterscheiden, vgl. Hornblower, a.a.O., 112. An dieser Proportionalität hat Kamerbeek, J.C., Ad Thuc. I 68, 1 et 3, Mnemosyne 6, 1953, 64 Anstoß genommen („Quam sententiam cum natura hominum pugnare manifestum est“) und möchte deshalb die Worte to? pisto?n ... thqw ... politeißaw kai? oÖmilißaw lieber als „Fiducia qua vestra ipsorum vita civilis et consuetudo vos imbuit“ verstanden wissen (Begründung: „Nam civitas quanto magis confidentia morum suorum se extollit, eo minus aurem praebet monentibus ut pericula aliunde imminentia caveat“). Mit dieser Interpretation geht allerdings der Gegensatz zwischen der Haltung der Spartaner untereinander und der gegenüber fremden Leuten verloren, den die pointierte Gegenüberstellung nahelegt. Gerade die von Kamerbeek als unpassend kritisierte Paradoxie ist bewusst intendiert, um daraus einen Vorwurf gegen die Spartaner abzuleiten. Zur svfrosußnh der Spartaner und ihrer Verwurzelung in der alten, aristokratischen Maßethik siehe Großmann, G., Politische Schlagwörter aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges, (Diss. Basel 1945) Zürich 1950, 126-137 und North, H., SOPHROSYNE. Self-Knowledge and Self-Restraint in Greek Literature, Cornell Studies in Classical Philology 35, Ithaca/New York 1966. Gegen Krüger, a.a.O., 75 und Steup bedeutet der Komparativ pleßoni nicht etwa, dass die aömajißa „größer“ ist, „als es sonst der Fall wäre“ (Classen-Steup, a.a.O., 189), sondern stellt die svfrosußnh und die aömajißa einander gegenüber, vgl. Classen (Classen-Steup, a.a.O., 189: „größer als die svfrosußnh“) und Maddalena, Bd. 2, 127. Vgl. die Umschreibung des Gedankens bei Schmid, Walter, a.a.O., 34: „Ihr Lakedaimonier seid blind den Vorgängen draußen in der Welt gegenüber. Ihr habt ja dafür eure Sophrosyne.“

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Leben der Spartaner fest verankerten Wert16 letztlich zu einem negativ besetzten Begriff17 um. Wie der folgende Satz erläutert (gaßr), besteht die aömajißa für die Korinther darin, dass die Spartaner ihre oftmaligen Warnungen vor drohendem Unrecht vonseiten der Athener ignoriert, ja stattdessen vielmehr sie selbst argwöhnisch verdächtigt18 hätten, nur ihre eigenen Interessen im Auge zu haben (§ 2). Geschickt relativieren die Korinther ihr eigenes Auftreten, indem sie ihren Vorwurf als nähere Spezifizierung des § 1 allgemein formulierten Gedankens (aöpistoteßrouw eöw tou?w aällouw hän ti leßgvmen) gleichsam nur exemplarisch herausgreifen. Durch die Adverbien pollaßkiw und eÖkaßstote und die Umschreibung ihrer warnenden Worte mit vier Verben (proagoreuoßntvn, eödidaßskomen, legoßntvn, leßgousin) heben die Korinther die Intensität (vgl. die Imperfekta) ihrer Bemühungen hervor und beanspruchen für sich durch das Verbum didaßskein in Verbindung mit dem nahe gestellten maßjhsiw – die Periphrase ouö ... th?n maßjhsin eöpoieiqsje nimmt den zentralen Begriff aömajißa steigernd19 wieder auf – implizit eine intellektuelle Überlegenheit. Anstatt die uÖpoßnoia der Spartaner sachlich zu widerlegen, was freilich schwer fiele,20 stellen sie die Korinther durch die Anknüpfung mit aöllaß einfach als Konsequenz der aömajißa (ouö ... th?n maßjhsin eöpoieiqsje, aöllaß) hin21 und 16 Vgl. dazu die Ausführungen des Archidamos c.83f., siehe unten S. 133-142. 17 Vgl. Classen-Steup, a.a.O., 188: „... zwar mit dem positiven Ausdruck (Besonnenheit), doch mehr in dem indifferenten Sinne des ruhigen Geschehenlassens: ihr übereilt euch nicht.“ 18 Das hier anklingende Motiv, dass ein Redner Gefahr läuft, verdächtigt zu werden, nur seinen eigenen Nutzen im Auge zu haben, findet sich in besonders drastischer Form bei Diodotos 3,43,2f.: kajeßsthke de? taögaja? aöpo? touq euöjeßow legoßmena mhde?n aönupoptoßtera eiQnai tvqn kakvqn, vÄste deiqn oÖmoißvw toßn te ta? deinoßtata bouloßmenon peiqsai aöpaßth# prosaßgesjai to? plhqjow kai? to?n ta? aömeißnv leßgonta yeusaßmenon pisto?n geneßsjai. moßnhn te poßlin dia? ta?w perinoißaw euQ poihqsai eök touq profanouqw mh? eöcapathßsanta aödußnaton: oÖ ga?r didou?w fanervqw ti aögajo?n aönjupopteußetai aöfanvqw ph# pleßon eÄcein. 19 maßjhsiw bedeutet „Akt des Lernens“ (Meyer, Ernst, Erkennen und Wollen bei Thukydides, Untersuchung über den Sprachgebrauch [Diss. Göttingen 1937] Göttingen 1939, 33). Durch den substantivischen Ausdruck „soll ... der ganze Akt der maßjhsiw negiert werden“ (34). 20 Denn dass die Korinther im Moment hauptsächlich die Sorge um ihre in Poteidaia eingeschlossenen Verwandten bedrückt (was sehr wohl in den Bereich der ta? auÖtoiqw diaßfora gehörte), verrät die Schilderung ihrer Bemühungen 67,1: poliorkoumeßnhw de? thqw Poteidaißaw ouöx hÖsußxazon, aöndrvqn te sfißsin eönoßntvn kai? aÄma peri? tvq# xvrißv# dedioßtew: parekaßloun te euöju?w eöw th?n Lakedaißmona tou?w cummaßxouw kai? kateboßvn eöljoßntew tvqn §Ajhnaißvn oÄti spondaßw te lelukoßtew eiQen kai? aödikoiqen th?n Pelopoßnnhson. 21 Hier kommt es ihnen zugute, als letzte Redner aufzutreten, nachdem schon die anderen cußmmaxoi ihre Beschwerden über Athen vorgebracht haben. So können

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suggerieren deren Unbegründetheit durch eine Verbindung (di ö auötoß) mit den nunmehr eingetretenen Ereignissen (eöpeidh? eön tvq# eärgv# eösmeßn), die sie gleichsam als Bestätigung für die Richtigkeit ihrer Warnungen (proagoreuoßntvn hÖmvqn) anführen. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, heben die Korinther ihre zentrale Bedeutung innerhalb der cußmmaxoi22 hervor und begründen ihre Legitimation zu sprechen durch eine Korrelation (ouöx hÄkista ... oÄsv# kai? meßgista) mit dem erlittenen Unrecht: ... eön oiWw proshßkei hÖmaqw ouöx hÄkista eiöpeiqn, oÄsv# kai? meßgista eögklhßmata eäxomen uÖpo? me?n §Ajhnaißvn uÖbrizoßmenoi, uÖpo? de? uÖmvqn aömeloußmenoi.

Pointiert stilisieren die Korinther durch den betont ans Satzende gestellten, völlig parallel gebauten, durch meßn und deß gegliederten, isosyllabischen Partizipialausdruck (uÖbrizoßmenoi – aömeloußmenoi) ihre Lage als ausweglose Situation. Gleichzeitig ist in dieser Antithese das Thema für den weiteren Fortgang der Rede vorgegeben. So fassen die Korinther im ersten Hauptteil der Rede (68,3-69,6)23 zunächst (68,3f.) in einer knappen narratio die Übergriffe der Athener zusammen (vgl. uÖpo? me?n §Ajhnaißvn uÖbrizoßmenoi), bevor sie dann c.69 ihr Hauptthema in Angriff nehmen: die Anprangerung der spartanischen Passivität (vgl. uÖpo? de? uÖmvqn aömeloußmenoi). § 3f. wird die bisherige aödikißa der Athener rekapituliert. Besonders unterstrichen wird dabei der schon § 2 (ouö pri?n paßsxein, aöll ö eöpeidh? eön tvq# eärgv# eösmeßn) angesprochene Aspekt, dass es sich jetzt nicht mehr um in die Zukunft gerichtete loßgoi handle, sondern dass das Unrecht der Athener als eärgon aller Welt sichtbar vor Augen sei (§ 3): Kai? eiö me?n aöfaneiqw pou oäntew hödißkoun th?n &Ellaßda, didaskalißaw aün vÖw ouök eiödoßsi proseßdei: nuqn de? tiß deiq makrhgoreiqn ...

Durch die Verflechtung von aöfaneiqw, hödißkoun, eiödoßsi, oÖraqte (Bereich des eärgon) und didaskalißaw, makrhgoreiqn (Bereich des loßgow) wird die Logos-Ergon-Antithese deutlich zum Ausdruck gebracht. Gerade der sie leichter über den Eindruck hinwegtäuschen, dass es ihnen bei ihrem Plädoyer für den Krieg nicht so sehr um die Belange des gesamten Bundes als vielmehr um ihren eigenen Vorteil gehe. 22 eön oiWw ist nicht als apud quos (so Krüger, a.a.O., 75), sondern als inter quos zu verstehen, vgl. Poppo-Stahl, a.a.O., 198, Classen-Steup, a.a.O., 189. 23 Vgl. die Absatztrennung in den Ausgaben von Jones-Powell, Luschnat, Alberti, Poppo-Stahl und Maddalena. Krüger, Boehme-Widmann (entgegen ihrer Gliederung a.a.O., 66) und Classen-Steup lassen den ersten Hauptteil erst mit 69,1 (vgl. oben S. 43, Anm. 9) beginnen (Classen-Steup nehmen den ersten Teil von 70,1 [bis kajestvßtvn] noch hinzu), de Romilly macht schon vor 69,6 einen Absatz.

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nicht zutreffende hypothetische meßn-Teil verleiht der mit dem korrigierenden nuqn deß eingeleiteten rhetorischen Frage noch größeres Gewicht. Dabei wird die Wirkung einer praeteritio evoziert, insofern als die Korinther trotz der Ankündigung, es bedürfe keiner langen Erklärung mehr, zwar knapp, aber immerhin doch klar und bestimmt die Beschuldigungen gegen Athen zusammenfassen. Ein Teil der Griechen24 sei bereits von Athen unterworfen, andere – darunter Bundesgenossen – würden bedroht, und überhaupt seien die Athener für den Fall eines Krieges seit langem bestens vorbereitet. Mit doulouqsjai ist dabei ein Verbum gewählt, das die Spartaner, die sich als Befreier Griechenlands verstehen,25 affektiv besonders berührt. In dieselbe Richtung zielt der Begriff eöpibouleußein, mit dem stets ein Drang zur Unterwerfung anderer und zur Ausweitung der Herrschaft einhergeht.26 Verstärkend spricht die Erwähnung der cußmmaxoi27 die Emotionen der 24 vWn ist mit Conradt, K., Zu Thukydides, Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 133, 1886, 33-42, dort 38f., Classen-Steup, a.a.O.,190 und Gomme, a.a.O., 227f. auf th?n &Ellaßda (im Sinne von eöpei? auötvqn [tvqn &Ellhßnvn]) zu beziehen. Anders Krüger, a.a.O., 76, Poppo-Stahl, a.a.O., 199, Boehme-Widmann, a.a.O., 67, Maddalena, Bd. 2, 129 (auf ein aus dem Vorhergehenden zu ergänzendes hÖmaqw = tou?w cummaßxouw) und Kamerbeek, a.a.O., 64 (vWn bezeichne die Athener und stehe „per attractionem“ für ouÄw). Inhaltlich werden mit tou?w meßn die Untertanen Athens allgemein bezeichnet, nicht also etwa speziell die Aigineten, wie der Scholiast, Krüger, a.a.O., 76 und Poppo-Stahl, a.a.O., 199 meinen, während toiqw deß u.a. wohl besonders auf Megara und die durch Athens Bündnis mit Kerkyra bedrohten Staaten Nordwestgriechenlands zu beziehen ist, vgl. Gomme, a.a.O., 228. 25 Dieses Motiv zieht sich durch das gesamte Geschichtswerk (18,1f.; 69,1; 122,3; 2,8,4. 71,2; 3,13,7. 32,2. 59,4. 63,3; 4,85,1. 86,1. 108,2; 8,46,3). Inhaltlich lassen sich drei verschiedene Komponenten greifen: zum einen Befreiung von den Tyrannen, zum anderen von der Gefahr der Perser und schließlich Schutz gegen Athen. 26 Dies lässt sich aus anderen Reden belegen. So leitet Perikles den ersten Hauptteil seiner ersten Rede 140,2 mit den Worten Lakedaimoßnioi de? proßteroßn te dhqloi hQsan eöpibouleußontew hÖmiqn kai? nuqn ouöx hÄkista ein und spricht am Ende des Abschnitts explizit von einer doußlvsiw (141,1). Dazu siehe unten S. 204f. Ähnlich Hermokrates 6,80,3-5: ... eöpibouleuoßmeja me?n uÖpo? §Ivßnvn aiöei? polemißvn, prodidoßmeja de? uÖpo? uÖmvqn Dvrihqw Dvrivqn. kai? eiö katastreßyontai hÖmaqw §Ajhnaiqoi ... skopeiqte ouQn kai? aiÖreiqsje hädh hü th?n auötißka aökindußnvw douleißan hü kaün perigenoßmenoi mej ö hÖmvqn toußsde ... mh? aiösxrvqw despoßtaw labeiqn ... In die gleiche Richtung zielt die Verwendung von eöpibouleußein durch Alkibiades 6,18,3: kai? ouök eästin hÖmiqn tamieußesjai eöw oÄson bouloßmeja aärxein, aöll ö aönaßgkh, eöpeidhßper eön tv#qde kajeßstamen, toiqw me?n eöpibouleußein, tou?w de? mh? aönießnai, dia? to? aörxjhqnai aün uÖf ö eÖteßrvn auötoiqw kißndunon eiQnai, eiö mh? auötoi? aällvn aärxoimen. Weitere Stellen 3,39,1f. 40,1.5; 4,60,1. 103,4. 116,3, vgl. Zahn, a.a.O., 85f., Anm. 31. 27 Statt der mehrheitlich überlieferten Lesart hÖmeteßroiw die wohl ursprüngliche, später korrigierte Lesart des Parisinus uÖmeteßroiw (vgl. den Apparat von de Romilly), die in den Ausgaben von Classen-Steup und Maddalena aufgenommen ist, in den

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Zuhörer an. Durch den Zusatz kai? ... polemhßsontai wird ferner suggeriert, dass sich die Athener ihrer Vergehen bewusst seien und deshalb fest mit einer kriegerischen Reaktion der Spartaner rechneten.28 Mit dieser Argumentation legt Thukydides den Korinthern eine Deutung der politischen Lage in den Mund, die über den Bereich der aiötißai kai? diaforaiß hinausgeht. Auch wenn mit der Formulierung kai? eök pollouq propareskeuasmeßnouw, eiä pote aära polemhßsontai vornehmlich im Stile der den aiötißai kai? diaforaiß zugeordneten tatsächlichen Diskussion am Vorabend des Krieges die aödikißa der Athener herausgearbeitet und die Spartaner aus ihrer Lethargie geweckt werden sollen, werden doch in Anklang an die aölhjestaßth proßfasiw die aktuellen Geschehnisse zumindest ansatzweise als Stationen einer längeren Entwicklung verstanden, die in letzter Konsequenz in einen Krieg einmündet. Gerade die folgende Begründung (gaßr) macht deutlich, dass die Korinther das Eingreifen Athens in Kerkyra und Poteidaia als Zeichen eines bis hin zur Kriegsrüstung konsequent durchgeführten Machtstrebens der Athener (vgl. 23,6: ... tou?w §Ajhnaißouw ... megaßlouw gignomeßnouw ...) bewerten. So hätten sich die Athener nach Ansicht der Korinther bei Kerkyra und Poteidaia nicht so entschlossen und gewaltsam gezeigt, wenn sie nicht längst auf einen Krieg gefasst wären (§ 4). Freilich begnügen sich die Korinther nicht damit, einen einfachen Beleg für die aufgestellte Behauptung zu liefern, sondern beziehen dabei eine Spitze gegen Athen (uÖpolaboßntew29) mit ein und streichen die Bedeutung von Kerkyra und Poteidaia als Flottenlieferant bzw. Stützpunkt für Aktionen in Thrakien in Form eines Chiasmus betont heraus, um die Vorfälle vor den Spartanern als umso Text zu setzen, ist unnötig, da mit hÖmeteßroiw nicht speziell die korinthischen Bundesgenossen gemeint sein müssen, wie Conradt, a.a.O., 39 („wie könnten auch etwa Kerkyraier und Poteidaiaten, an welche die erklärer [sic!] denken, cußmmaxoi der Korinther heiszen [sic!]?“) und Classen-Steup, a.a.O., 190 („... die Erwähnung spezieller Bundesgenossen der Kor. wäre hier sehr wenig am Platze“) annehmen. Luschnat korrigiert in den Addenda et Corrigenda, 208 seine Entscheidung für uÖmeteßroiw mit Verweis auf die Rezension der ersten Auflage seiner Teubneriana von W.J. Verdenius, Mnemosyne, 11, 1958, 62f., dort 63, der die Beweiskraft der von Luschnat im Apparat als Parallele aufgeführten Stelle 69,1 zu Recht relativiert: „Lu. writes uÖmeteßroiw and refers to 69,1, where C wrongly has hÖmeteßrouw. But the two passages are not strictly parallel: 68,3-4 is an elaboration of the first part of the preceding sentence: ‚We are suffering most of all from the Athenian aggression’ ..., whereas 69,1 explains the second part: ‚It is all your fault’ ... Accordingly, the same people are first called ‚our allies’ and then ‚your allies’.“ 28 Vgl. das Scholion: vÖw suneidoßtaw ta?w eÖautvqn aÖmartißaw kai? gignvßskontaw vÖw paßntvw ouök aönecoßmeja, aölla? polemhßsomen. 29 Dazu Krüger, a.a.O., 76: „... es liegt wohl auch hier in uÖpoß der Begriff des Unvermerkten, bezogen auf das intriguante (sic!) Verfahren.“ Poppo-Stahl, a.a.O., 199 übersetzen mit „surripere, fraudulenta molitione partibus suis adiungere“.

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schlimmer und damit die Notwendigkeit zu reagieren als umso höher erscheinen zu lassen. Raffiniert weichen die Korinther einer sachlichen Erörterung des strittigen Punktes aus, ob die Athener durch ihre Aktionen den Vertrag überhaupt verletzt haben. Dies ist ja die Kernfrage auf der Tagsatzung, über die die Spartaner abstimmen.30 Stattdessen versuchen sie die athenische aödikißa als offenkundiges Faktum zu deklarieren.31 Indem sie überspielen, eigentlich selbst das Element der Unruhe in Griechenland zu sein,32 stilisieren sie sich gleichsam zu einem „Anwalt von Hellas“33, der weniger auf die eigenen Anliegen bedacht sei als vielmehr auf das Allgemeinwohl Griechenlands. Mit c.69 beginnt sich der Ton zu verschärfen, die Korinther wenden sich nun dem zweiten Punkt der 68,2 formulierten Vorgabe (uÖpo? me?n §Ajhnaißvn uÖbrizoßmenoi, uÖpo? de? uÖmvqn aömeloußmenoi) zu und prangern mit leidenschaftlichen Attacken die spartanische Zögerlichkeit an. In einer recht unvermittelten Wendung werden die Spartaner direkt angegriffen34 und für das Unrecht der Athener verantwortlich gemacht (§ 1): kai? tvqnde35 uÖmeiqw aiätioi, toß te prvqton eöaßsantew auötou?w th?n poßlin meta? ta? Mhdika? kratuqnai kai? uÄsteron ta? makra? sthqsai teißxh, eöw toßde 30 Vgl. 67,3: oiÖ de? Lakedaimoßnioi prosparakaleßsantew tvqn cummaßxvn te kai? eiä tißw ti aällo eäfh hödikhqsjai uÖpo? §Ajhnaißvn, cußllogon sfvqn auötvqn poihßsantew to?n eiövjoßta leßgein eökeßleuon. 79,2: kai? tvqn me?n pleoßnvn eöpi? to? auöto? aiÖ gnvqmai eäferon, aödikeiqn te tou?w §Ajhnaißouw hädh kai? polemhteßa eiQnai eön taßxei ... 87,2: ... oÄtv# me?n uÖmvqn, vQ Lakedaimoßnioi, dokouqsi lelußsjai aiÖ spondai? kai? oiÖ §Ajhnaiqoi aödikeiqn, aönasthßtv eöw eökeiqno to? xvrißon ... 3: ... kai? pollvq# pleißouw eögeßnonto oiWw eödoßkoun aiÖ spondai? lelußsjai. 4: proskaleßsanteßw te tou?w cummaßxouw eiQpon oÄti sfißsi me?n dokoiqen aödikeiqn oiÖ §Ajhnaiqoi, boußlesjai de? kai? tou?w paßntaw cummaßxouw parakaleßsantew yhqfon eöpagageiqn, oÄpvw koinhq# bouleusaßmenoi to?n poßlemon poivqntai, hün dokhq#. 31 Vgl. auch unten 69,2. 32 Nach der Einschätzung der Kerkyraier sind es die Korinther, die ihre Aktionen auf einen künftigen Krieg berechnen (33,3): to?n de? poßlemon, di ö oÄnper xrhßsimoi aün eiQmen, eiä tiw uÖmvqn mh? oiäetai eäsesjai, gnvßmhw aÖmartaßnei kai? ouök aiösjaßnetai tou?w Lakedaimonißouw foßbv# tvq# uÖmeteßrv# polemhseißontaw kai? tou?w Korinjißouw dunameßnouw par ö auötoiqw kai? uÖmiqn eöxjrou?w oäntaw kai? prokatalambaßnontaw hÖmaqw nuqn eöw th?n uÖmeteßran eöpixeißrhsin, iÄna mh? tvq# koinvq# eäxjei kat ö auötou?w met ö aöllhßlvn stvqmen mhde? duoiqn fjaßsai aÖmaßrtvsin, hü kakvqsai hÖmaqw hü sfaqw auötou?w bebaivßsasjai. 33 Schmid, Walter, a.a.O., 39. 34 Pseudo-Aristides führt unsere Stelle zusammen mit dem Anfang von § 4 (hÖsuxaßzete ga?r ...) TEXNVN &RHTORIKVN A 109 (E’ Peri? sfodroßthtow) als Beispiel für sfodroßthw an. 35 Für weitere Belege einer rückbezogenen Verwendung des Demonstrativpronomens bei Thukydides siehe Classen-Steup, a.a.O., 137.

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te aiöei? aöposterouqntew ouö moßnon tou?w uÖp ö eökeißnvn dedoulvmeßnouw eöleujerißaw, aölla? kai? tou?w uÖmeteßrouw hädh cummaßxouw ...

Mit dem ersten der beiden begründenden Partizipialausdrücke lässt Thukydides die Korinther erneut auf die aölhjestaßth proßfasiw Bezug nehmen: Wie Thukydides selbst in der Pentekontaetie die Entstehung des peloponnesischen Krieges als Folge einer kontinuierlichen Entwicklung seit dem Ende der Perserkriege versteht und dabei gerade die Befestigung der Stadt und die Errichtung der Langen Mauern als Grundlage für die weitere Expansion Athens herausgreift,36 führen auch die Korinther die aktuelle politische Situation in enger Verzahnung (toß te prvqton – eöw toßde te) auf das Anwachsen der athenischen Macht nach den Perserkriegen zurück. Bemerkenswert ist dabei, wie pointiert die Korinther die Formulierung eöaßsantew auötou?w ... kratuqnai kai? ... sthqsai, die schon auf die folgende Invektive gegen die Passivität der Spartaner vorausweist, in so enger, kausaler Verknüpfung mit kai? tvqnde uÖmeiqw aiätioi verwenden, denkt man doch beim Adjektiv aiätiow im Sinne von lat. auctor an einen aktiven, für etwas verantwortlichen Verursacher, beim Verbum eöaqn hingegen eher an ein unbeteiligtes, untätiges Geschehenlassen. In dieser etwas gewagten Verbindung37 lässt sich eine konsequente Fortsetzung der am Ende von 68,2 formulierten Antithese fassen, die durch die Gliederung in meßn und deß die uÄbriw der Athener und die aömeßleia der Spartaner gewissermaßen auf die gleiche Stufe stellt. Das zweite Partizip liegt vom sprachlichen Ausdruck her auf der Ebene des aiötißouw eiQnai, verkehrt allerdings sachlich die Relationen, wenn nun die Spartaner dafür angeprangert werden, die Untertanen Athens und die eigenen Bundesgenossen der Freiheit zu berauben. Die paradoxe Wirkung dieses Vorwurfs liegt darin, dass die Untergebenen Athens zwar durch den Partizipialausdruck tou?w uÖp ö eökeißnvn dedoulvmeßnouw charakterisiert werden, doch über das athenische doulouqsjai hinaus den Spartanern die Verantwortung für die Freiheitsberaubung (aöposterouqntew ... eöleujerißaw) zugesprochen wird. Steigernd bezeichnet dabei das Präsens in Verbindung mit aiöeiß nicht nur einen einmaligen Akt, sondern ein dauerhaftes Tun. Die Nennung der cußmmaxoi als zweite Gruppe neben den athenischen Untertanen wird durch ouö moß-

36 Vgl. 89,3-93; 107,1.4; 108,3. 37 Diese Umdeutung des Handlungsbegriffes, die den eigentlich Passiven zum Aktiven macht und umgekehrt, ist als sophistische Überspitzung im Sinne des Redeziels der Korinther zu bewerten; ein Zusammenhang mit dem implizit anklingenden thukydideischen Motiv, dass der Mächtige von seiner Macht immer weiter getrieben wird und somit auch gleichsam zu einem passiven Objekt herabsinkt, ist eher auszuschließen.

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non ... aölla? kaiß und hädh hervorgehoben. Gerade die Stellung am Ende des langen Satzgefüges zeigt, dass auf ihnen im Sinne des Redeziels der Korinther der Hauptton liegt. Damit appellieren sie an die Emotionen der Spartaner, bei denen – einem Volk, das im Ruf steht, für eöleujerißa einzutreten38 – jegliches Unrecht an den Bundesgenossen Empörung verursacht, zumal wenn ihnen noch selbst die Schuld daran gegeben wird. Der folgende gaßr-Satz versucht die Spannung, die sich durch die paradoxen Vorwürfe ergibt, in Form einer gnvßmh begründend aufzulösen: ouö ga?r oÖ doulvsaßmenow, aöll ö oÖ dunaßmenow me?n pauqsai periorvqn de? aölhjeßsteron auöto? dra#q, eiäper kai? th?n aöcißvsin thqw aörethqw vÖw eöleujervqn th?n &Ellaßda feßretai.

Mit gewagter Logik39 unterfüttern die Korinther ihre Argumentation durch den als allgemein gültige Aussage markierten Gedanken, dass nach dem Kriterium der Wahrheit (aölhjeßsteron40) bei einer doußlvsiw als eigentlicher Täter derjenige zu betrachten sei, der bei diesem Vorgang trotz seiner dußnamiw regungslos zusehe. Der mit eiäper angeschlossene Zusatz lenkt von der allgemeinen gnvßmh auf den speziellen Fall zurück und stellt dem durch die gnvßmh als doulouqsjai gebrandmarkten Verhalten der Spartaner ihren Ruf als Befreier Griechenlands geradezu „sarkastisch“41 gegenüber. Mit § 2 richtet sich der Blick wieder auf die konkrete, augenblickliche Lage. Auch jetzt sei man nur mit Mühe und nicht unter klaren Verhältnissen42 zusammengekommen. Durch das zweimalige nuqn, das jeweils durch 38 Vgl. oben S. 47, Anm. 25. 39 Zum Gedanken vgl. Sen. Tro. 291: qui non vetat peccare, cum possit, iubet. 40 Grammatikalisch betrachtet bedeutet der Komparativ so viel wie ‚in Wahrheit’; ähnlich werden bei Thukydides auch komparativische Verbindungen wie ouö maqllon ... hä, ouö to? pleßon ... hä oder hWsson ... hä häufig so gebraucht, dass das erste Glied völlig negiert ist. Im Sinne des Redeziels der Korinther verbirgt sich hinter der Verwendung des Komparativs der Versuch, den Spartanern gleichsam die – aus ihrer Sicht – eigentliche Wahrheit zu vermitteln, deren Erkenntnis auf einer jenseits der oberflächlichen Betrachtung des Geschehens liegenden, tiefer gehenden Deutung basiere. 41 Classen-Steup, a.a.O., 192. 42 Aufgrund der folgenden Begründung ist für das Verständnis der Worte ouöde? nuqn eöpi? faneroiqw gegen die Erläuterung von Poppo-Stahl, a.a.O., 200 („ad finem plane cognitum ac perspectum [zu einem klar bestimmten Zwecke]“) und die Übersetzungen von Horneffer („mit klaren Zielen“), Landmann („mit klarem Ziel“) und Vretska-Rinner („mit einer klar ausgesprochenen Absicht“) den Erklärungen von Krüger, a.a.O., 77 („in Bezug auf Entschiedenes, indem wir auch jetzt noch es nicht als ausgemacht annehmen, dass uns Unrecht gethan worden“), Boehme-Widmann, a.a.O., 67 („auf Grund, wegen klar erwiesener, anerkannter Dinge, insofern das uns gethane Unrecht noch immer nicht als unzweifelhaft gilt“) und ClassenSteup, a.a.O., 192 („unter klaren Verhältnissen“) und dem Übersetzungsvorschlag

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eine hervorhebende Partikel (ge43, ouödeß) pointiert wird, und den Rahmen von moßliw und ouöde? ... eöpi? faneroiqw, der die hemmende Unentschlossenheit verdeutlicht, wird die von den Korinthern gegeißelte Schwerfälligkeit der Spartaner betont zum Ausdruck gebracht. Der ausgesprochene Gedanke weist auf den Passus 68,2 zurück, in dem die Spartaner dafür kritisiert werden, zu spät – wo das Unrecht der Athener als eärgon schon greifbar sei44 – die Versammlung einberufen zu haben. Nach Maßgabe der Zweckmäßigkeit (xrhqn) hätte man, wie die Korinther erläutern (gaßr), anstatt zu überprüfen, ob ein Unrecht vonseiten der Athener vorliegt – eben darum geht es freilich den Spartanern auf der Tagsatzung45 –, gleich über Maßnahmen zur Verteidigung beraten sollen. Auch dieser Gedanke wird durch einen gaßr-Satz näher ausgeführt, womit der Eindruck logischer Stringenz erzeugt werden soll: oiÖ ga?r drvqntew bebouleumeßnoi pro?w ouö diegnvkoßtaw hädh kai? ouö meßllontew eöpeßrxontai.

Mit diesem Satz nähern wir uns schon dem Kern der Korintherrede, nämlich einer Synkrisis des athenischen und spartanischen Wesens, wie sie c.70 in brillanter Rhetorik bietet. Die Athener (oiÖ drvqntew46) werden als

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von Regenbogen („auf Grund klarer Verhältnisse“) zu folgen. Vgl. die Erläuterung in den Scholien: kai? nuqn ga?r ... aömfibaßlletai eiö aödikoußmeja. Unentschieden bleibt Gomme, a.a.O., 228. So zu Recht die Korrektur von Stephanus für das überlieferte te, an dem von den Herausgebern nur de Romilly festhält. Vgl. den Anklang (ouöde? nuqn eöpi? faneroiqw) an die hypothetischen Worte eiö me?n aöfaneiqw pou oäntew hödißkoun th?n &Ellaßda. Vgl. oben S. 49, Anm. 30. Die umstrittene Stelle – Steup im Anhang, a.a.O., 431f., Maddalena, Bd. 2, 132, Gomme, a.a.O., 228f. und Schwartz, a.a.O., 255 ziehen letztlich die Richtigkeit der Überlieferung in Zweifel – wird m.E. von Poppo-Stahl, a.a.O., 200f. überzeugend erklärt (zustimmend Alberti im Apparat): „... ii enim qui agunt (qui sunt Athenienses) consilio prompti ... in incertos sententiae statim ... nec cunctabundi invadunt.“ Vgl. auch Krüger, a.a.O., 77: „... denn die (gegen uns) Handelnden (die Athener) greifen, entschlossen gegen Unentschiedene, schon jetzt und nicht erst es beabsichtigend, uns an.“ Somit sind bebouleumeßnoi und ouö diegnvkoßtaw und hädh und ouö meßllontew jeweils einander gegenübergestellt. Gerade die Umschreibung der Athener mit oiÖ drvqntew – gegen diese nächstliegende Verbindung der Worte wird vor allem von Classen-Steup, a.a.O., 192 geltend gemacht, dass damit der Satz unpassend zu einer allgemeinen Sentenz werde – hebt den Gegensatz zu den zögerlichen Spartanern umso schärfer hervor, vgl. Poppo-Stahl, a.a.O., 201: „Nam Atheniensium agendi virtus opponitur Peloponnesiorum inertiae, qui deliberandi, non agendi causa convenerunt. Atque haec sententiae vis quodammodo augetur generali eius forma (nos: Leute, welche handeln).“ Zu weit geht Arnold [Debnar], a.a.O., 172 mit ihrer Gleichsetzung von oiÖ drvqntew mit „aggressors“. Gegen die Deutung von Classen-Steup, a.a.O., 192, oiÖ vor gaßr sei als Pronomen zu fassen und auf die Athener zu beziehen, spricht zum einen, dass die Athener im Vorhergehenden

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Leute mit festem Entschluss (Perfekt!) den Spartanern, die keine klare Linie verfolgen,47 pointiert gegenübergestellt. Der zweite Terminus zur Charakterisierung der Athener (ouö meßllontew) findet keine direkte Entsprechung auf spartanischer Seite. Doch gerade die Formulierung als Litotes weist den Spartanern im Vorgriff auf die folgenden Ausführungen die meßllhsiw als positives Pendant zu, die als Schlüsselbegriff nicht nur diese Rede, sondern die gesamte Redentetras durchzieht.48 § 3 richtet sich die Perspektive auf die Athener. Das Verbum eöpistaßmeja impliziert dabei – ähnlich wie 68,3 – einen Konsens innerhalb der Korinther und Spartaner. Die Methode (oiÄa# oÖdvq#) der athenischen Expansion und ihre schrittweise Ausdehnung (kat ö oölißgon xvrouqsin) seien allseits bekannt. Der folgende, mit kaiß eingeleitete Satz geht näher auf die Vorgehensweise ein49 und führt sie auf psychologische Mechanismen zurück: kai? lanjaßnein me?n oiöoßmenoi dia? to? aönaißsjhton uÖmvqn hWsson jarsouqsi, gnoßntew de? eiödoßtaw perioraqn iösxurvqw eögkeißsontai.

Während die Athener augenblicklich noch verhältnismäßig wenig wagten, in der Meinung, nur so verfahren zu können, da sie unbeobachtet seien, würden sie umso rücksichtsloser agieren, wenn sie bemerkten, dass die Spartaner bewusst nicht eingreifen. Mit dieser Einschätzung versuchen die Korinther die Spartaner durch ein weiteres Argument für eine entschlossene Initiative zu mobilisieren, nämlich dass bei anhaltendem Zögern nicht nur eine Fortsetzung, sondern sogar eine Steigerung der athenischen Aggressionen zu erwarten sei.50

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nicht explizit genannt sind, während sie § 3 mit oiÖ §Ajhnaiqoi eingeführt werden, zum anderen, dass dieser Gebrauch des Artikels in klassischer attischer Prosa nicht geläufig ist, was Steup im Anhang, a.a.O., 431 selbst einräumt. Für den absoluten Gebrauch von draqn stellt 73,2 (oÄte eödrvqmen) m.E. eine hinreichende Parallele dar. Anders Gomme, a.a.O., 228. Vgl. Meyer, Ernst, a.a.O., 57: „In diagignvßskein liegt nicht das Moment des Beratens, sondern das der Erkenntnis ... Die ouö diegnvkoßtew haben das Durchschauen, Erfassen der Lage noch nicht durchgeführt, sie sind sich der Bedeutung und Gefahr der Lage noch nicht bewußt ...“ meßllein/meßllhsiw im Sinne von ‚zögern’/‚Zögerlichkeit’ begegnet 69,2.4; 70,4; 71,1; 84,1; 86,2. Vgl. Classen-Steup, a.a.O., 68 zu 19,1: „Fortführung der voraufgehenden Bemerkungen, indem das bisher unter einem gemeinsamen Gesichtspunkte betrachtete Verhalten beider Staaten durch die Partikeln kai? ... meßn und deß in seine Differenzen zerlegt wird.“ In paralleler Entsprechung zum Gegensatz hWsson jarsouqsi – iösxurvqw eögkeißsontai sind auch die Begriffe oiöoßmenoi und gnoßntew „in steigernder Antithese“ (Meyer, Ernst, a.a.O., 8) angeordnet.

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Mit einer ziemlich scharfen Anklage, die die Formulierung eiödoßtaw perioraqn begründet (gaßr), wenden sich die Korinther § 4 wieder direkt an die Spartaner und prangern deren Passivität an. Die Vehemenz ihrer Kritik steigert vor allem die Anfangsstellung des Prädikats hÖsuxaßzete51, das durch einen inhaltlich pointierten und stilistisch ausgefeilten Partizipialausdruck näher modifiziert und erläutert wird: hÖsuxaßzete gaßr, moßnoi &Ellhßnvn, vQ Lakedaimoßnioi, ouö thq# dunaßmei tinaß, aölla? thq# mellhßsei aömunoßmenoi ...

Die gedankliche Wirkung beruht auf der antithetischen Verbindung von dußnamiw und meßllhsiw mit dem Verbum aömußnesjai. Einerseits wird nämlich das Schlüsselwort meßllhsiw durch die vorausgehende Umschreibung ex negativo besonders betont, andererseits ermöglicht erst diese Umschreibung durch die Kontrastierung den paradoxen Ausdruck thq# mellhßsei aömußnesjai, der dem Vorwurf der meßllhsiw eindringliches Gewicht verleiht. Der sprachlich-rhetorische Effekt wird nicht nur durch den die polaren Begriffe dußnamiw und meßllhsiw gegenüberstellenden Parallelismus erreicht, der durch die Isosyllabie und das Homoioteleuton noch an Symmetrie gewinnt, sondern auch durch die rhythmische Gestaltung. Mag bei Überlegungen hinsichtlich bewusster metrischer Formung im Werk des Thukydides durchaus Vorsicht geboten sein, darf man hier wohl zu Recht mit A.M. Parry52 im Anapäst dunaßmei und im Molossus mellhßsei rasches, entschlossenes Handeln bzw. zögerliche Passivität symbolisiert sehen. Durch kaiß wird mit aömunoßmenoi ein weiterer Partizipialausdruck gleicher Wertigkeit verbunden. Auffälligerweise ist beiden Partizipien anaphorisch die prädikative Bestimmung moßnoi vorgeschaltet. Diese nachdrückliche Betonung der Einzigartigkeit soll eindringlich die Absurdität der spartanischen Haltung herausstreichen. In der zweiten partizipialen Bestimmung dient als Gradmesser der Paradoxie bei der Verteidigung gegen Feinde nicht mehr die Art und Weise des Einschreitens, sondern der Zeitpunkt des Eingreifens, der durch den Umfang der gegnerischen Machtentfaltung festgelegt wird. Auch hier wird das von den Korinthern gegeißelte Fehlverhalten (ouök aörxomeßnhn th?n auächsin tvqn eöxjrvqn diplasioumeßnhn de? katalußontew) durch die in ihren Augen korrekte, negiert benannte (ouök aörxomeßnhn) Reaktion kontrastiert. Verstärkend wirkt die prädikative Stellung der Hauptbegriffe ouök aörxomeßnhn und diplasioumeßnhn deß. Um die Spartaner suggestiv für den Kriegsbeschluss 51 Vgl. dazu oben S. 49, Anm. 34. 52 Parry, A.M., Thucydides’ Use of Abstract Language, Yale French Studies 45, 1970, 3-20, jetzt in: The Language of Achilles and Other Papers, Oxford 1989, 177-194, dort 181. Ihm folgt Hornblower, a.a.O., 114.

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leichter zu gewinnen, bezeichnen die Korinther die Athener unmittelbar als eöxjroiß. Mit kaißtoi wird § 5 ein Einwand eingeführt, der freilich „nur in der Absicht der Widerlegung vorgebracht wird“53: Die Spartaner hätten als aösfaleiqw gegolten; damit ist nicht, wie Classen-Steup erklären, gemeint: „es hieß von euch, ihr ständet gesichert da und könntet euch daher eine solche Handlungsweise erlauben“54, sondern aösfaleiqw bezeichnet Bundesgenossen, auf die man sich verlassen kann. Der ganze Gedanke deutet somit schon auf eöpei? aiÄ ge uÖmeßterai eölpißdew ... voraus.55 Dieser Ruf, so habe sich herausgestellt (aära), entspreche nicht der tatsächlichen Wirklichkeit. Ähnlich dem § 1 gegen die Spartaner erhobenen Vorwurf, ihrer aöcißvsiw als Befreier Griechenlands nicht gerecht zu werden, wird hier expressis verbis eine Divergenz zwischen loßgow und eärgon festgemacht:56 vWn aära oÖ loßgow touq eärgou eökraßtei. Diese Behauptung wird im Folgenden näher begründet (gaßr). Dazu wird mit te – kaiß eine enge Verbindung zwischen dem Verhalten der Spartaner zur Zeit der Perserkriege und in der augenblicklichen Situation geknüpft. Wie schon damals die Perser vom Ende der Welt eher bei der Peloponnes angelangt seien, als dass die Spartaner gebührend entgegengetreten wären,57 ebenso sei man jetzt nachlässig gegenüber der Offensive der Athener. Verzerrend blenden die Korin-

53 Classen-Steup, a.a.O., 193. 54 Ebd. Ebenso wenig treffen der Vorschlag des Scholiasten (prosektikoiß, eön ouödeni? sfalloßmenoi) und die Erklärungen bei ThGL („cauti et circumspecti, ita ut falli et labefactari non possetis“), Bétant („certus, erroris expers, firmus“), Bonitz, H., Beiträge zur Erklärung des Thukydides, SAWW 12, 1854, 607-637, dort 608 („in dem Rufe der Vorsicht“), Krüger, a.a.O., 77 („vorsichtig, sich sichernd“), Poppo-Stahl, a.a.O., 202 („cautos“) und Boehme-Widmann, a.a.O., 68 („entschieden“) zu. 55 Vgl. Maddalena, Bd. 2, 134f., Gomme, a.a.O., 229. Liddell, H.G./Scott, R./Jones, H.S., A Greek-English Lexicon, Oxford 91940 (ND 1996 with a revised supplement) (im Folgenden abgekürzt als LSJ) geben als Bedeutung für unsere Stelle „unfailing, trusty“ an. Arnold [Debnar], a.a.O., 177, Anm. 66 verweist merkwürdigerweise unterschiedslos auf Gomme und Classen-Steup. 56 Vgl. dagegen Perikles im Epitaphios 2,42,2: aÜ ga?r th?n poßlin uÄmnhsa, aiÖ tvqnde kai? tvqn toivqnde aöretai? eökoßsmhsan, kai? ouök aün polloiqw tvqn &Ellhßnvn iösoßrropow vÄsper tvqnde oÖ loßgow tvqn eärgvn faneißh. Hier halten sich der preisende Logos und die gepriesenen Erga vollkommen die Waage. 57 Die Korinther spielen wohl besonders darauf an, dass es zur Entscheidungsschlacht bei Marathon gekommen war, noch bevor die Spartaner, die wegen eines religiösen Festes nicht sofort hatten ausrücken dürfen, in Attika eintrafen (Hdt. 6,106,3). Auch zu den Thermopylen schickte man wegen der Karneien und der Olympischen Spiele nur Vorausabteilungen (7,206).

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ther bei der Erwähnung der Perserkriege die Leistungen der Spartaner58 völlig aus und weisen die reklamierte Zögerlichkeit durch das Prädikat auötoi? iäsmen59 geschickt als ein unbestrittenes Charakteristikum der Spartaner aus. Durch die hyperbolische Formulierung eök peraßtvn ghqw60, die die Weite der von den Persern zurückgelegten Strecke gerade im Vergleich mit der geringen Distanz für die Spartaner noch vergrößert, wird der Eindruck der spartanischen Passivität betont. In dem korrespondierenden kai? nuqn-Teil scheint neben der zeitlichen Korrelation (damals – jetzt) auch örtlich durch die Formulierung ouöx eÖkaßw, vÄsper eökeiqnon, aöll ö eöggu?w oäntaw eine Entsprechung zum vorausgehenden eök peraßtvn ghqw ... eöljoßnta gesucht zu sein, doch ist hierbei die Logik etwas verschoben. Diente nämlich im ersten Fall die Betonung der weiten Distanz dazu, die Widersinnigkeit der spartanischen Saumseligkeit drastisch zu steigern, so soll durch die Hervorhebung der Nähe der Athener die Passivität der Spartaner angesichts der umso größeren Gefahr im Sinne eines tua res agitur als unentschuldbar zurückgewiesen werden. Gleichzeitig wird durch die Parallelisierung eine Vergleichbarkeit zwischen den Persern und den Athenern hinsichtlich ihrer Politik und der von ihnen ausgehenden Bedrohung für die Peloponnes suggeriert. Mit dem Verbum perioraqn ist dabei gezielt ein Kernbegriff der Argumentation wieder aufgenommen (vgl. § 1 und 3). Das folgende, mit kaiß angeschlossene Prädikat boußlesje charakterisiert das in den Augen der Korinther lasche Verhalten nicht nur als bewusstes Hinwegsehen, sondern lässt dessen paradoxe Konsequenzen als planvolle Absicht der Spartaner erscheinen, wobei das Adverb maqllon sogar eine zwischen denkbaren Alternativen abwägende Auswahl impliziert: ... kai? aönti? touq eöpeljeiqn auötoi? aömußnesjai boußlesje maqllon eöpioßntaw ... Effektvoll bilden der Infinitiv eöpeljeiqn und das pointiert an den Schluss gestellte Partizip eöpioßntaw einen Rahmen, der das Prädikat boußlesje umspannt. Darüber hinaus tritt das Verbum aömußnesjai sehr hart an kai? aönti? touq eöpeljeiqn auötoiß, so dass der Gegensatz zwischen eigenem (auötoiß) Angriff und passiver Abwehr hervorgehoben wird. Im zweiten von boußlesje abhängigen Glied wird den Spartanern vorgeworfen, 58 Vgl. dazu 18,2: kai? megaßlou kindußnou eöpikremasjeßntow oiÖ ... Lakedaimoßnioi tvqn cumpolemhsaßntvn &Ellhßnvn hÖghßsanto dunaßmei proußxontew ... koinhq# ... aöpvsaßmenoi to?n baßrbaron ... 59 Auf ähnliche Weise versuchten die Korinther bereits 68,3 (Kai? eiö me?n aöfaneiqw pou oäntew hödißkoun th?n &Ellaßda, didaskalißaw aün vÖw ouök eiödoßsi proseßdei: nuqn de? tiß deiq makrhgoreiqn ...) und 69,3 (kai? eöpistaßmeja oiÄa# oÖdvq# oiÖ §Ajhnaiqoi kai? oÄti kat ö oölißgon xvrouqsin eöpi? tou?w peßlaw) in ihrem Sinne eine gemeinsame Wissensbasis zu suggerieren. 60 Sprichwörtlich seit Alkaios fr. 165 Page. Boehme-Widmann, a.a.O., 68 weisen auf unser „von den Enden der Welt“ hin.

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durch solches Tun absichtlich alles aufs Spiel zu setzen: ... kai? eöw tußxaw pro?w pollvq# dunatvteßrouw aögvnizoßmenoi katasthqnai ... Mit dem übertreibenden Zusatz pro?w pollvq# dunatvteßrouw sollen die Spartaner bewusst emotional gereizt werden, da ihre Zögerlichkeit unter diesen Vorzeichen als Feigheit zu bewerten wäre und es ja insbesondere der schwächeren Partei zukommt, im Krieg auf die Tyche zu vertrauen.61 Vornehmlich aber soll insinuiert werden, dass durch ein rechtzeitiges Einschreiten der Spartaner ein weiterer Machtausbau der Athener zu verhindern und somit momentan ein Erfolg gegen sie leichter zu erreichen wäre. Das konzessiv gebrauchte Partizip eöpistaßmenoi62 bringt die Widersinnigkeit der jetzigen Haltung (boußlesje ... eöw tußxaw ... katasthqnai) zum Ausdruck: Gerade die bisherigen Erfahrungen machten es unverantwortlich, im Kampf auf die Tyche zu bauen. Durch diese Argumentation versuchen die Korinther dem möglichen Einwand zu begegnen, dass etwa die bisherigen Misserfolge Athens oder das Scheitern der Perser der spartanischen Politik zuzuschreiben wären. Mit dem Rekurs auf die Perserkriege und bisherige Konflikte mit Athen wird die Zweiteilung des vorhergehenden Satzes (toßn te ga?r Mhqdon ... kai? nuqn tou?w §Ajhnaißouw) fortgesetzt. Inhaltlich ist freilich im Sinne des Redeziels der Korinther die Realität verfälscht, da man die bedeutenden Leistungen der Spartaner wie auch der Athener im Perserkrieg ausklammert63 und eigene Fehler64 zum hauptverantwortlichen (ta? pleißv) Faktor für das persische Scheitern macht. Ebenso ist die Einschätzung, bei Auseinandersetzungen mit den Athenern nur aus deren aÖmarthßmata – hier ist etwa an die Überstürztheit der Athener bei der Schlacht von Koroneia und an die Ägyptische Expedition zu denken65 – profitiert zu haben, eine rhetorische Überspitzung. Der das lange Satzgefü61 Vgl. das Scholion: oÖ ga?r pro?w meißzona polemvqn tußxhn kaleißtv sunergoßn. Der Vorwurf der Korinther gewinnt umso mehr an Schärfe, als es spartanischer Wesensart eignet, der Tyche misstrauisch gegenüberzustehen, vgl. etwa die Archidamosrede und die spartanische Friedensgesandtschaft in Athen, insbesondere 4,17,5-18,5. Allgemein widerspricht es altaristokratischer Lebensführung, sich im Glück oder im Unglück dem Zufall anheimzugeben, vgl. Thgn. 319-322, 397f., 657f. 62 Siehe dazu oben S. 56, Anm. 59. 63 Ähnlich verzerrend deutet Hermokrates in Syrakus das persische Scheitern 6,33,6: oÄper kai? §Ajhnaiqoi auötoi? ouWtoi, touq Mhßdou para? loßgon polla? sfaleßntow, eöpi? tvq# oönoßmati vÖw eöp ö §Ajhßnaw hä#ei huöchßjhsan ... 64 Worauf hier angespielt ist, erklärt das Scholion: eön tvq# stenvq# thqw Salamiqnow tolmhßsanta naumaxhqsai, oÄper kai? eögeßneto aiätion thqw hÄtthw. Vgl. demgegenüber, wie die Athener 74,1 Themistokles das Verdienst zuschreiben, für das Zustandekommen des Gefechts in der Meerenge bei Salamis verantwortlich gewesen zu sein: ... oÜw aiötivßtatow eön tvq# stenvq# naumaxhqsai eögeßneto ... 65 Vgl. Gomme, a.a.O., 229.

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ge abschließende eöpeiß-Satz begründet die unmittelbar vorausgehende Aussage (maqllon hü thq# aöf ö uÖmvqn timvrißa# perigegenhmeßnouw). Oft schon hätten Bundesgenossen im Vertrauen auf den Beistand der Spartaner die eigenen Rüstungen vernachlässigt und seien dann, von ihnen im Stich gelassen,66 zugrunde gegangen.67 Mit diesem Gedanken ist nicht nur auf die oben angemahnte Logos-Ergon-Diskrepanz Bezug genommen, sondern gleichzeitig eine Verbindung zur eingangs der Rede geäußerten Kritik am Misstrauen der Spartaner gegen die Bündner hergestellt. Durch hädh tinaßw pou und den gnomisch-empirischen Aorist wird der Eindruck eines durch die Erfahrung bestätigten, allgemein gültigen Befundes erweckt. Besonders drastisch suggeriert die Personifikation der eölpißdew im Zusammenspiel mit dem Prädikat eäfjeiran einen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen Vertrauen auf die Spartaner und daraus resultierendem Scheitern. Nach diesen heftigen Attacken mildern die Korinther § 6 die hitzige Atmosphäre etwas ab. Mit für das Verständnis der gesamten Rede programmatischen Worten deklarieren sie ihre Rüge als freundschaftliche, begründete Beschwerde und greifen damit dem möglichen Vorwurf vor, dass sie den unter Bundesgenossen üblichen Umgangston verlassen hätten: kai? mhdei?w uÖmvqn eöp ö eäxjra# to? pleßon hü aiötißa# nomißsh# taßde leßgesjai: aiötißa me?n ga?r fißlvn aöndrvqn eöstin aÖmartanoßntvn, kathgorißa de? eöxjrvqn aödikhsaßntvn.

Diese feine Unterscheidung68, die man mit Verweis auf die MarkellinosVita69 auf den Einfluss von Prodikos zurückgeführt hat, ist trotz der formalen Parallelität logisch nicht ganz ebenmäßig gebaut. Denn während eäxjra mehr auf die innere Einstellung bezogen ist, bezeichnet aiötißa eher die konkrete aus einem Gefühl des Geschädigtseins erwachsene Handlung.70 Doch auch der zweite Teil bereitet etwas Schwierigkeiten: Nach66 Vgl. die Worte der Mytilenaier 3,13,7: ... th?n ... aiötißan aöpofeußcesje hÜn eiäxete mh? bohjeiqn toiqw aöfistameßnoiw. 67 Als Beispiele ließen sich etwa Thasos (101,1f.), Euboia (114) und Poteidaia (58,1) anführen, vgl. Gomme, a.a.O., 229. 68 Zum Gedanken vgl. Isokr. 4,130: xrh? de? kathgoreiqn me?n hÖgeiqsjai tou?w eöpi? blaßbh# loidorouqntaw, noujeteiqn de? tou?w eöp ö vöfeleißa# toiauqta leßgontaw. 69 § 36: eözhßlvse de? eöp ö oölißgon, vÄw fhsin $Antullow, kai? ta?w Gorgißou touq Leontißnou parisvßseiw kai? ta?w aöntijeßseiw tvqn oönomaßtvn, euödokimoußsaw kat ö eökeiqno kairouq para? toiqw /Ellhsi, kai? meßntoi kai? Prodißkou touq Keißou th?n eöpi? toiqw oönoßmasin aökribologißan. Vgl. etwa 44,1 und 5,48,2 (eöpimaxißa – cummaxißa), 77,4 (aödikeiqsjai – biaßzesjai), 3,39,2 (eöpanasthqnai – aöposthqnai), 7,77,1 (cumforaiß – kakopaßjeiai), 8,37,1 (cunjhqkai – spondaiß). 70 Vgl. den Übersetzungsvorschlag von Classen-Steup, a.a.O., 195: „nicht um feindliche Gesinnung an den Tag zu legen, sondern um eine berechtigte Beschwerde zu führen.“

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dem die aiötißa in chiastischer Aufnahme näher definiert wird, widmet sich der deß-Teil nicht, wie man erwarten würde, in paralleler Entsprechung der eäxjra, sondern führt mit kathgorißa einen neuen, dafür aber logisch wirklichen Gegensatz zur aiötißa ein.71 Mit dieser Versicherung beschließen die Korinther den Abschnitt und beleuchten c.7072 die den Spartanern vorgeworfene Saumseligkeit von einer höheren Warte aus, indem sie das Wesen der Athener und der Spartaner in einer Synkrisis gegenüberstellen.73 Anders als die athenischen Gesandten, die zur Rechtfertigung der athenischen Politik in der folgenden Rede auf die der aönjrvpeißa fußsiw inhärenten Gesetzmäßigkeiten verweisen,74 argumentieren die Korinther gerade nicht mit dem Physis-Begriff in generalisierender Bedeutung. Vielmehr versuchen sie die Notwendigkeit eines entschlossenen Auftretens hervorzuheben,75 da der Krieg aufgrund der athenischen fußsiw (vgl. vor allem § 9) unweigerlich bevorstehe. Aitiologisch betrachtet lässt Thukydides die Korinther damit wiederum über die aiötißai kai? diaforaiß hinaus zu tiefer liegenden Schichten vordringen, insofern als sie die aktuelle Lage auf die spezifische Eigenart der athenischen und spartanischen fußsiw zurückführen.

71 Zum Gedankengang gut Classen-Steup, a.a.O., 195: „Unsere Vorwürfe sind keine kathgorißa, sondern eine aiötißa: denn wir betrachten euch als fißloi, nicht als eöxjroi? aödikhßsantew; erkennt daher auch unsere Gesinnung nicht als eine feindliche, sondern als eine freundschaftliche.“ 72 De Romilly fasst 69,6-70,1 wohl als eigene Überleitung. Ansonsten ist c.70 in der Gliederung aller Ausgaben als Einheit abgetrennt. 73 Damit weist die Korintherrede über den konkreten Kontext hinaus auf andere Reden im thukydideischen Geschichtswerk – insbesondere den Epitaphios –, die Charakter und inneres Schicksal der beiden Protagonisten Athen und Sparta beleuchten. Siehe zu diesem übergreifenden Fragenkomplex Gundert, H., Athen und Sparta in den Reden des Thukydides, Die Antike 16, 1940, 98-114, jetzt in: Herter, H. (Hrsg.), Thukydides, Wege der Forschung 98, Darmstadt 1968, 114-134 und Schmal, S., Feindbilder bei den frühen Griechen. Untersuchungen zur Entwicklung von Fremdenbildern und Identitäten in der griechischen Literatur von Homer bis Aristophanes, Europäische Hochschulschriften 677, Frankfurt am Main 1995, 169214. 74 Vgl. den zweiten Hauptteil ihrer Rede (75,1-76,2), siehe unten S. 96-108. 75 Als völlig abwegig ist Schmids These zu beurteilen, die Synkrisis sei Zeichen einer nachträglichen Umarbeitung. Von seinem analytischen Ansatz gefangen, sieht er durch sie „der Rede die rhetorische Spitze abgebrochen“. Sie sei „im Grunde Selbstzweck“ und verliere „an agitatorischer Wirkung“, „was sie an Fülle und Tiefe der Gedanken gewonnen hat“ (Schmid, Walter, a.a.O., 46).

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In diesem schon in der Antike berühmten76 Kapitel vereinigen sich formale Virtuosität und inhaltliche Prägnanz in so vollkommener Weise, dass wir zu Recht darin mit A.M. Parry nicht nur „the jewel of the speech“, sondern gar „the most Gorgian passage in all of Thucydides“77 sehen dürfen. § 1 kommt die Funktion einer Überleitung zu, insofern die Korinther im Anschluss an 69,6 ihre Berechtigung, den Spartanern Vorwürfe zu machen,78 erhärten und gleichzeitig das Thema für den folgenden Passus vorgeben: Kai? aÄma, eiäper tine?w kai? aälloi, aäcioi nomißzomen eiQnai toiqw peßlaw yoßgon eöpenegkeiqn, aällvw te kai? megaßlvn tvqn diaferoßntvn kajestvßtvn, peri? vWn ouök aiösjaßnesjai hÖmiqn ge dokeiqte, ouöd ö eöklogißsasjai pvßpote 76 Vgl. die bei Alberti angegebenen Testimonien und die Zahl der imitatores: Demosth. 3,15: ... kai? gnvqnai paßntvn uÖmeiqw oöcußtatoi ta? rÖhjeßnta, kai? praqcai de? dunhßsesje nuqn, eöa?n oörjvqw poihqte. Ios. bell.Iud. 4,225: ... nohqsaiß te ta? deßonta kai? ta? nohjeßnta praqcai ... Dion.Hal. Ant.Rom. 6,19,2: ... di ö hÜn kai? para? gnvßmhn tolmhtai? gißnontaiß tinew kai? uÖpe?r dußnamin maxhtaiß. Vgl. aber dessen Peri? tvqn Joukudißdou iödivmaßtvn 17 formulierte Kritik an den von Gorgias entlehnten, in seinen Augen mit Thukydides’ rauhem Stil unvereinbaren meirakivßdeiw sxhmatismoi? tvqn aöntijeßtvn te kai? paromoivßsevn kai? parisvßsevn in diesem Kapitel. Cass.Dio 38,37,4: ... kai? ta? me?n iädia vÖw aölloßtria aöeiß pote paraballoßmenoi, ta? de? dh? tvqn peßlaw vÖw kai? oiökeiqa eÖtoißmvw ktvßmenoi, kai? mhßte euödaimonißan aällo ti hü to? ta? deßonta praßttein nomißzontew, mhßte dustuxißan aällo ti hü to? met ö aöpracißaw hÖsuxaßzein hÖgoußmenoi. Liv. 45,23,15: Atheniensium populum fama est celerem et supra vires audacem esse ad conandum, Lacedaemoniorum cunctatorem et vix in ea quibus fidit ingredientem. Weitere Stellen bei Poppo-Stahl, a.a.O., 204. 77 Parry, A.M., Logos and Ergon in Thucydides. New introduction by D. Kagan, Monographs in Classical Studies, (Diss. Harvard 1957) New York 1981, 129 bzw. 131. Bei aller Beeinflussung durch die Sophistik, die im sprachlichen Bereich vor allem in den Reden ihren Niederschlag findet, dürfen freilich die Unterschiede nicht übersehen werden, vgl. etwa Rittelmeyer, F., Thukydides und die Sophistik, (Diss. Erlangen 1914) Leipzig 1915, 36 zum Verhältnis des Thukydides zu Gorgias: „Aber so groß die äußeren formalen Ähnlichkeiten im Gebrauch der Antithese zwischen beiden Schriftstellern sein mögen, ein wesentlicher, tiefgreifender Unterschied offenbart sich unverkennbar. Bei dem Sophisten ist die Anwendung der Figur Selbstzweck ... Der Historiker benützt die Antithese mit Vorliebe zur schärferen Bestimmung seiner Gedanken ...“ Vgl. auch Rittelmeyers Urteil zum thukydideischen Stil allgemein (102): „So ist sein Stil als Ganzes betrachtet zwar nicht sophistisch, aber er weist vielfache und mannigfache Beziehungen zur Sophistik auf.“ Zum Einfluss der Sophistik auf Thukydides allgemein siehe daneben Nestle, W., Thukydides und die Sophistik, NJb 17, 1914, 649-685, jetzt in: Griechische Studien, Stuttgart 1948, 321-373 und Ludwig, G., Thukydides als sophistischer Denker, Diss. Frankfurt am Main 1952. 78 Vgl. die Erklärung in den Scholien: ... leßgei nuqn, oÄti ouöx oÖ tuxvßn eiömi, kai? mh? aöpacivßsh#w uÖp ö eömouq oöneidizoßmenow.

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pro?w oiÄouw uÖmiqn §Ajhnaißouw oäntaw kai? oÄson uÖmvqn kai? vÖw paqn diafeßrontaw oÖ aögv?n eästai.

Als Begründung für ihren Tadel verweisen die Korinther auf die zwischen den Athenern und Spartanern bestehenden Gegensätze (ta? diafeßronta)79, die im folgenden Relativsatz steigernd (oÄson uÖmvqn kai? vÖw paqn diafeßrontaw) hervorgehoben werden. Durch die beiden Verben aiösjaßnesjai und eöklogißsasjai, die sowohl den Bereich der äußeren Wahrnehmung als auch der inneren Überlegung umfassen,80 wird die den Spartanern vorgeworfene Unaufmerksamkeit und Zögerlichkeit betont unterstrichen. Demgegenüber demonstrieren die Korinther schon durch die Konstruktion des Satzes (... pro?w oiÄouw uÖmiqn ... oÖ aögv?n eästai), dass in ihren Augen ein Krieg mit Athen unvermeidlich bevorsteht: Die fußsiw als diafeßron zieht nach Überzeugung der Korinther auch politisch gewissermaßen eine diaforaß (im Sinne einer Entzweiung) unweigerlich nach sich. 79 Gegen ThGL (ohne expliziten Bezug auf unsere Stelle „Controversiae, ap. Thuc. praesertim“), Bétant („quod interest, commoda“), Classen-Steup, a.a.O., 195 („die Interessen“), Horneffer („da für uns so große Dinge auf dem Spiel stehen“), Arnold [Debnar], a.a.O., 182 („interests or differences in the sense of disputes“) und Debnar, a.a.O., 44 („differences in the sense of ‚quarrels’“) fassen wir ta? diafeßronta als die zwischen Athen und Sparta bestehenden Gegensätze, vgl. die ausführliche Besprechung unserer Stelle bei Bonitz, a.a.O., 611f. (mit Verweis auf 2,43,5: ... oiWw hÖ eönantißa metabolh? eön tvq# zhqn eäti kinduneußetai kai? eön oiWw maßlista megaßla ta? diafeßronta, hän ti ptaißsvsin), die Erklärungen bei LSJ („points of difference“) und Boehme-Widmann, a.a.O., 69 („Unterschiede“) und die Übersetzungen von Regenbogen („zumal die Unterschiede, um die es hier geht, groß sind“), Landmann („zumal die bestehenden Unterschiede sehr groß sind“) und Vretska-Rinner („zumal große Unterschiede [zwischen euch und den Athenern] bestehen“). Mit Classen-Steup dahinter die strittigen Interessen (mit Verweis auf 6,92,5: ... peri? megißstvn dh? tvqn diaferoßntvn bouleußesjai ...) erkennen zu wollen, erscheint uns aufgrund der folgenden Erörterung, namentlich der unmittelbaren Fortsetzung (vÖw paqn diafeßrontaw) – für Classen-Steup ist dies „außer Belang“ (a.a.O., 195) – unzulässig. Den von Classen-Steup gegen Bonitzens Erklärung vorgebrachten Einwand, die „Annahme, daß schon hier von den Verschiedenheiten der Athener von den Lakk. ... die Rede sei“, lasse „den Umstand, daß aällvw te kai? kteÖ den Satz kai? aÄma ... eöpenegkeiqn begründen muß, ganz außer acht ...“ (a.a.O., 195) – Maddalena, Bd. 2, 137f. nimmt deshalb sogar eine Lücke hinter aällvw te kaiß an –, kann freilich auch Bonitzens Argumentation a.a.O., 612 nicht ganz ausräumen: „Diesen starken Charaktergegensatz können übrigens die Korinthier recht wohl als berechtigend zum offenen Aussprechen des Tadels geltend machen, weil durch ihn die Gefahr sowohl erhöht, als den Spartanern verborgen wird.“ Krüger, a.a.O., 78 und Poppo-Stahl, a.a.O., 203f. geben ohne klare Entscheidung beide Erklärungsvorschläge an, scheinen aber eher zu der von uns favorisierten Deutung zu tendieren. Gomme und Hornblower kommentieren die Stelle nicht. 80 Vgl. Meyer, Ernst, a.a.O., 27.

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Die Tagsatzung in Sparta

§ 2-4 wird entgegen der § 1 implizit angekündigten Reihenfolge zunächst das Wesen der Athener und Spartaner dezidiert gegenübergestellt (... oÄson uÖmvqn kai? vÖw paqn diafeßrontaw ...), bis sich ab § 5 die Ausführungen ganz auf die Athener konzentrieren (pro?w oiÄouw ... §Ajhnaißouw oäntaw ...) und sich zu einer Art Hymnus auf deren rastlosen Unternehmungsgeist steigern. Im ersten Teil, der, meist durch oiÖ meßn – uÖmeiqw deß gegliedert, die Unterschiede zwischen Athenern und Spartanern herausarbeitet, ist sorgfältigst zu jeder Prädikation der Athener eine genaue Entsprechung bezüglich der Spartaner gesucht. Der erste Satz charakterisiert die beiden Parteien jeweils mit drei Ausdrücken, deren Anordnung weitgehend dem Gesetz der wachsenden Glieder folgt (§ 2). Mit der Benennung der Athener als nevteropoioiß81 ist die Beschreibung der spartanischen Wesensart mit ta? uÖpaßrxonta sv#ßzein82 exakt abgestimmt: Das aktive poieiqn hat sein Pendant im defensiven sv#ßzein, und das Objekt des athenischen Handelns, das nevßteron, ein Begriff, der neben der Bedeutung ‚neu’ auch auf Unerhörtes und Revolutionäres weist, findet sein Gegenstück in ta? uÖpaßrxonta, das das von Anfang an schon Vorhandene bezeichnet. Im Gegensatz zur athenischen Schnelligkeit im Entwerfen von Plänen (eöpinohqsai oöceiqw) und in deren tatsächlicher Umsetzung (eöpiteleßsai eärgv#) wird den Spartanern nicht nur diese abgesprochen (eöpignvqnai mhdeßn), sondern sogar vorgehalten, nicht einmal das Notwendige zu tun (eärgv# ouöde? taönagkaiqa eöcikeßsjai). Bemerkenswert ist neben der äußerst differenzierten Unterscheidung zwischen dem Bereich des loßgow (eöpinohqsai – eöpignvqnai) und des eärgon (eöpiteleßsai eärgv# – eärgv# ... eöcikeßsjai), die bei beiden Parteien konsequent durchgeführt wird, die gehäufte Verwendung des Präfixes eöpi(eöpinohqsai, eöpiteleßsai, eöpignvqnai). Dadurch wird der Aspekt des Zusätzlichen, das über ta? uÖpaßrxonta hinausgehende Streben der Athener steigernd betont und somit der Gegensatz zum spartanischen sv#ßzein und dem Zurückbleiben hinter den aönagkaiqa verstärkt. Eine Pointe liegt in der 81 Eben die Furcht vor der nevteropoiißa und dem tolmhroßn (vgl. § 3) der Athener bewegt die Spartaner 102,3 dazu, die Athener im Feldzug gegen Ithome zurückzuschicken: oiÖ ga?r Lakedaimoßnioi ... deißsantew tvqn §Ajhnaißvn to? tolmhro?n kai? th?n nevteropoiißan, kai? aöllofußlouw aÄma hÖghsaßmenoi, mhß ti, hün parameißnvsin, uÖpo? tvqn eön §Ijvßmh# peisjeßntew nevterißsvsi, moßnouw tvqn cummaßxvn aöpeßpemyan ... 82 Die Formulierung ta? uÖpaßrxonta sv#ßzein begegnet wörtlich in der Charakterisierung der athenischen troßpoi durch Nikias 6,9,3, die die Ausführungen der Korinther bestätigt: kai? pro?w me?n tou?w troßpouw tou?w uÖmeteßrouw aösjenh?w aän mou oÖ loßgow eiäh, eiö taß te uÖpaßrxonta svß#zein parainoißhn kai? mh? toiqw eÖtoißmoiw peri? tvqn aöfanvqn kai? melloßntvn kinduneußein: vÖw de? ouäte eön kairvq# speußdete ouäte rÖa#ßdiaß eösti katasxeiqn eöf ö aÜ vÄrmhsje, tauqta didaßcv.

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Konstruktion des Satzes. Denn alle Infinitive sind von oöceiqw abhängig, also auch diejenigen, die die spartanische Bedächtigkeit beschreiben. Fein ironisch wird damit der Passivität der Spartaner eine oöcußthw zugesprochen, freilich „so, daß in der Charakteristik der Lakedämonier davon zu sv#ßzein usw. ... nur die allgemeinste Bedeutung uÖmeiqw oiWoiß teß eöste übrigbleibt“83. Auch § 3 werden klar gegliedert (oiÖ meßn – to? de? uÖmeßteron) jeweils drei Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen miteinander kontrastiert. Eindringlich wird die athenische Waghalsigkeit durch die Präpositionalausdrücke mit paraß als so verwegen dargestellt, dass sie sogar die eigenen Kräfte und besonnene Überlegung84 übersteigt. Effektvoll ist dieser Gedanke in eine völlig parallel gebaute, durch Anapher und Homoioteleuton ausgefeilte Formulierung gekleidet: ... para? dußnamin tolmhtai?85 kai? para? gnvßmhn kinduneutai? ... Gerade die hier gehäuft auftretenden seltenen substantivischen Bildungen mit dem Suffix -thw (tolmhthßw, kinduneuthßw und unten § 4 aöpodhmhthßw und mellhthßw) eignen sich vorzüglich, die Differenz im Wesen der Spartaner und Athener aufzuzeigen. Bei der Beschreibung der Spartaner ist durch die Wiederaufnahme der entscheidenden Begriffe dußnamiw und gnvßmh, die die Kriterien der Bewertung darstellen, explizit ein Gegensatz bezeichnet: Weit davon entfernt, über ihre Kräfte und über die Vernunft zu agieren, bleiben die Spartaner nach Aussage der Korinther nicht einmal im vorgegebenen Rahmen.86 Dieses Defizit wird in Entsprechung zu paraß durch die Adjektive eöndehßw und beßbaiow und durch die Konjunktion mhdeß ausgedrückt. Auch die jeweils dritten Glieder, die das Verhalten in Gefahren charakterisieren, sind exakt aufeinander abgestimmt (eön toiqw deinoiqw – tvqn ... deinvqn). Wäh-

83 Classen-Steup, a.a.O., 196. 84 Diese Auffassung des Ausdrucks para? gnvßmhn ist mit LSJ („reckless venturers“), Bétant („contra rationem“), Poppo-Stahl, a.a.O., 205 und Classen-Steup, a.a.O., 197 den Erklärungen von ThGL („... praeter consilium etiam: i.e., etiam ultra id quod initum consilium suadet“), Krüger, a.a.O., 79 („über ihre anfänglichen Entschliessungen“), Boehme-Widmann, a.a.O., 69 („gegen Erkennen, ihre bessere Einsicht“) und Gomme, a.a.O., 230 („against their better judgement“) vorzuziehen. Unter den beßbaia thqw gnvßmhw sind dementsprechend die „certae prudentis consilii rationes“ (Poppo-Stahl) bzw. die „zuverlässigen Dinge, welche besonnene Überlegung an die Hand gibt“ (Classen-Steup) zu verstehen. 85 Die toßlma der Athener wird besonders häufig im Zusammenhang mit den Perserkriegen hervorgehoben, vgl. die folgende Athenerrede (74,2.4); 90,1; 91,5 und die erste Periklesrede (144,4). Ganz allgemein spricht Hermokrates von der toßlma der Athener wie von etwas Bekanntem (6,33,4): eiö deß tv# kai? pistaß, th?n toßlman auötvqn kai? dußnamin mh? eökplaghq#. 86 Vgl. dagegen die Ansicht des Brasidas 5,9,4: oÄstiw ... pro?w th?n eÖautouq dußnamin th?n eöpixeißrhsin poieiqtai ... pleiqst ö aün oörjoiqto ...

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rend die Athener ihre optimistische Erwartung (euöeßlpidew)87 aktiv ans Werk gehen lasse, erwögen die Spartaner nur ein passives aöpolujhßsesjai und selbst daran verzweifelten sie.88 Die sprachliche Darstellung ist ebenso ausgefeilt wie bei der Beschreibung der Athener. Durch te – te – te sind die Kernbegriffe dußnamiw, gnvßmh und ta? deinaß hervorgehoben und gleichzeitig die Aussage transparent gegliedert. Der erste Teil von § 4, der, wie die Einleitung durch kai? mh?n kaiß signalisiert,89 steigernd einen neuen Gedanken einführt, variiert erstmals das oiÖ meßn – uÖmeiqw deß-Schema, indem durch die Präposition proßw die Charakterisierung der Athener mit der der Spartaner unmittelbar verflochten wird. Der Entschlossenheit der Athener (aäoknoi) wird somit gleich direkt die Zögerlichkeit der Spartaner (pro?w uÖmaqw mellhtaßw) gegenübergestellt.90 Das Gegensatzpaar aäoknoi – mellhtaiß bereitet die Schilderung der Waghalsigkeit der Athener in auswärtigen Unternehmungen (aöpodhmhtaiß) vor, da sich deren Haltung (aäoknoi bzw. tolmhtaiß, kinduneutaiß, eön toiqw deinoiqw euöeßlpidew) am ehesten darin fassen lässt. Mit dem Superlativ eöndhmoßtatoi werden die Spartaner im Gegenzug hyperbolisch als in sich gekehrte, von der Außenwelt völlig abgeschlossene Menschen charakterisiert. Während sich die Athener bei ihren auswärtigen Unternehmungen Gewinne erhofften, hätten die Spartaner Angst vor einer Gefährdung des schon Vorhandenen, was an die § 2 ausgesprochene Maxime

87 Thompson, E.A., Notes on Thucydides I, Hermathena 56, 1940, 136-145, dort 144 merkt an, dass auffälligerweise vier der fünf Belege von euäelpiw im Geschichtswerk des Thukydides auf die Athener bezogen sind. 4,65,4 wird die sizilische Katastrophe auf die übermäßige athenische Zuversicht zurückgeführt: ouÄtv thq# [te] paroußsh# euötuxißa# xrvßmenoi höcißoun sfißsi mhde?n eönantiouqsjai, aölla? kai? ta? dunata? eön iäsv# kai? ta? aöporvßtera megaßlh# te oÖmoißvw kai? eöndeesteßra# paraskeuhq# katergaßzesjai. aiötißa d ö hQn hÖ para? loßgon tvqn pleoßnvn euöpragißa auötoiqw uÖpotijeiqsa iösxu?n thqw eölpißdow. Vgl. auch unten S. 67, Anm. 103. 88 Durch das Nichterfüllen ihrer eigenen Möglichkeiten werden die Spartaner für die Korinther umgekehrt gleichsam zu Erfüllungsgehilfen der athenischen Möglichkeiten; vgl. oben S. 49-51 zu 69,1: kai? tvqnde uÖmeiqw aiätioi ... bzw. ouö ga?r oÖ doulvsaßmenow, aöll ö oÖ dunaßmenow me?n pauqsai periorvqn de? aölhjeßsteron auöto? draq# ... 89 Vgl. Denniston, J.D., The Greek Particles, Oxford 21954 (ND 1987), 351f.: „... kai? mhßn often introduces a new argument, a new item in a series, or a new point of any kind.“ 90 Ähnlich urteilt Thukydides in eigenem Namen über die beiden Parteien 8,96,5: diaßforoi ga?r pleiqston oäntew to?n troßpon, oiÖ me?n oöceiqw, oiÖ de? bradeiqw, kai? oiÖ me?n eöpixeirhtaiß, oiÖ de? aätolmoi ... Zur spartanischen Zögerlichkeit siehe ferner 118,2: ... oiÖ de? Lakedaimoßnioi aiösjoßmenoi ouäte eökvßluon eiö mh? eöpi? braxuß, hÖsußxazoßn te to? pleßon touq xroßnou, oäntew me?n kai? pro? touq mh? taxeiqw iöeßnai eöw tou?w poleßmouw, hün mh? aönagkaßzvntai ...

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ta? uÖpaßrxonta ... sv#ßzein erinnert. Bezeichnenderweise ist von den beiden Kategorien, die zur Beurteilung der Haltung der Athener und Spartaner angewandt werden, nämlich den Erfolgsaussichten bei einer möglichen Expedition und der Einschätzung der negativen Konsequenzen für das Vaterland, bei den Athenern nur auf Ersteres, bei den Spartanern nur auf Letzteres Bezug genommen. Vollständig müsste der Satz also heißen: Bei ihren hohen Erfolgsaussichten kommt es den Athenern erst gar nicht in den Sinn, an etwaige Verluste zu Hause zu denken, die Spartaner hingegen haben so viel Angst, das vorhandene Hab und Gut zu verlieren, dass sie eine auswärtige Unternehmung nicht einmal erwägen, geschweige denn sich davon Erfolg versprechen. Der durative Infinitiv ktaqsjai impliziert ein nie endendes, unersättliches Streben, während der Ausdruck ta? eÖtoiqma, der den Begriff ta? uÖpaßrxonta (§ 2) noch steigert,91 die Angst der Spartaner, den bereits vorhandenen Besitz zu beeinträchtigen, umso deutlicher vor Augen führt. Mit § 5 wendet sich die Darstellung ganz der Schilderung des athenischen Wesens zu (§ 5-9); die vergleichende Prädikation mündet somit in eine absolute Prädikation ein. Indirekt freilich bleibt die Kritik an den Spartanern präsent, da sich aus der Charakteristik der Athener die gedanklichen Entsprechungen bezüglich der Spartaner leicht erschließen lassen.92 Zunächst wird der Wagemut der Athener verherrlicht, der sie bei einem Sieg möglichst weit vorrücken,93 im Falle einer Niederlage nur ganz wenig zurückweichen94 lässt (§ 5). Effektvoll sind die inhaltlich gegensätzlichen Begriffe parallel gegenübergestellt: kratouqntew – nikvßmenoi, eöpi? pleiqston – eöp ö eölaßxiston, eöceßrxontai – aönapißptousin. Insbesondere die beiden korrespondierenden Präfixe eöc- für das Ausgreifen und aöna- für das Zurückweichen sind sorgfältigst aufeinander abgestimmt. 91 Vgl. Classen-Steup, a.a.O., 197. 92 Vgl. Poppo-Stahl, a.a.O., 206: „Omissa Lacedaemoniorum comparatione abhinc ipsi Atheniensium mores describuntur, sed ita ut tacite ubique contraria illorum indoles respiciatur, quae ratio consulto inita maxime accommodata erat ad permovendos Lacedaemoniorum animos.“ 93 Vgl. dagegen 5,73,4 über die Spartaner: oiÖ ga?r Lakedaimoßnioi meßxri me?n touq treßyai xronißouw ta?w maßxaw kai? bebaißouw tvq# meßnein poiouqntai, treßyantew de? braxeißaw kai? ouök eöpi? polu? ta?w divßceiw. 94 Aufgrund des Gegensatzes zu eöceßrxontai ist mit LSJ („fall back, give ground“), Bonitz, a.a.O., 612-614, Krüger, a.a.O., 80, Poppo-Stahl, a.a.O., 206, BoehmeWidmann, a.a.O., 70 und Classen-Steup, a.a.O., 198 diese Bedeutung für aönapißptousin der von Gomme, a.a.O., 230 favorisierten Erklärung bei Athen. 1,23b (... to? aönapißptein kurißvw eöpi? yuxhqw eöstin, oiWon aöjumeiqn, oöligodraneiqn mit Verweis auf unsere Stelle. Vgl. auch den Scholiasten: hü aönapaußontai hü aöjumouqsin, ThGL: „aöjumvq, oöligvrvq“ mit Verweis auf Athen.; „animis cadere“, Bétant: „concidere, animo frangi“) vorzuziehen.

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Die Tagsatzung in Sparta

§ 6 streichen die Korinther den bedingungslosen Einsatz der Athener für ihre poßliw heraus: eäti de? toiqw me?n svßmasin aöllotrivtaßtoiw uÖpe?r thqw poßlevw xrvqntai, thq# de? gnvßmh# oiökeiotaßth# eöw to? praßssein ti uÖpe?r auöthqw.

Mit meßn und deß wird zwischen dem Bereich der svßmata und der gnvßmh und damit zwischen der Ebene des eärgon und des loßgow unterschieden. Ohne jegliche Rücksicht auf das eigene Leben agierten die Athener im Dienste ihrer poßliw, jeder Einzelne stelle seinen Körper gleichsam als Werkzeug zur Verfügung und opfere ihn bereitwillig wie ein fremdes Gut; dagegen werde die für den Erfolg als zweiter Faktor entscheidende Geisteskraft als eigenster Besitz angesehen.95 Das Zusammenspiel von loßgow und eärgon führt also in den Augen der Korinther zu einer unüberbietbaren Konstellation.96 Besonders hervorgehoben sind durch den Superlativ und die prädikative Stellung die Adjektive aöllotrivtaßtoiw und oiökeiotaßth#. Ihre Bedeutung macht die etwas künstliche, ja fast poetische Wirkung des Satzes aus. Auffallen mag der Begriff svßmata, der der eher abstrakten gnvßmh gegenübersteht. Dieses Wort begegnet bei Thukydides öfter im Plural und ist ein Beispiel dafür, wie der Autor organisch-physiologische Termini auf das historische Geschehen anwendet.97 So wird „die substantielle Komponente politischen Wirkens und Leidens“98 konkret durch die Körper der einzelnen Menschen bezeichnet. Gerade die unmittelbare körperliche Betroffenheit, die durch das Konkretum svßmata zum Ausdruck kommt, lässt das Adjektiv aöllotrivtaßtoiw noch drastischer erscheinen und steigert damit die bedingungslose Opferbereitschaft der Athener. § 7 führen die Korinther aus, wie die Athener auf verschiedene Erfolge bei ihren Aktivitäten reagieren. Bei einer nicht völlig zum Ziel gekommenen Unternehmung fühlten sich die Athener um eigenen Besitz gebracht, einen glücklichen Ausgang betrachteten sie nur als ersten Anfang einer noch viel weiter ausgreifenden Aktion, einem Scheitern99 folge sogleich ein neuer Ersatzplan. Alle drei Fälle, zwischen denen unterschieden wird, sind darauf berechnet, die Unersättlichkeit der Athener100 herauszuarbeiten. 95 Vgl. die Paraphrase bei Poppo-Stahl, a.a.O., 206: „Nam pro republica corporis vitam profundimus ac deserimus, mentis virtutem exercemus et servamus.“ 96 Ähnlich bereits oben § 2: ... eöpinohqsai oöceiqw kai? eöpiteleßsai eärgv# aÜ aün gnvqsin ... 97 Zu diesem Thema vgl. die Ausführungen von Rechenauer, a.a.O., 274-279. 98 Rechenauer, a.a.O., 277. 99 Vgl. das Lob des Perikles für das Ethos der Kämpfer, die es auch bei einer Niederlage (oÖpoßte kai? peißra# tou sfaleiqen) für unwürdig erachteten, der Stadt ihre aörethß vorzuenthalten (2,43,1). 100 Vgl. hierzu 4,55,2: ... pro?w §Ajhnaißouw, oiWw to? mh? eöpixeiroußmenon aiöei? eöllipe?w hQn thqw dokhßsevßw ti praßcein ...

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Während das Adjektiv oiökeiqon und das Verbum steßresjai suggerieren, es stehe für die Athener das eigene Hab und Gut auf dem Spiel, und damit wirkungsvoll das Partizip eöpinohßsantew kontrastieren, deutet die Formulierung tuxeiqn praßcantew „auf das Ungenügende des Erfolges hin“101 und verstärkt so die Aussage oölißga pro?w ta? meßllonta. Das an den Schluss gestellte xreißa impliziert ein Bedürfnis bzw. einen Mangel, obwohl ja das Scheitern nur einen zusätzlichen Gewinn verwehrt. Die Verhinderung eines Zuwachses wird somit als Notsituation verstanden (vgl. oiökeißvn steßresjai). Der gnomische Aorist lässt an der Sicherheit des Erfolgs bei einer Ersatzunternehmung keinen Zweifel, doch wird dieser dritte Fall selbst, ein mögliches Scheitern, durch das indefinite tou und das die Seltenheit dieser Alternative betonende kaiß als sehr unwahrscheinlich gekennzeichnet. Der diese Fallunterscheidung erläuternde gaßr-Satz krönt die Schilderung mit einer idealisierenden Bewertung und stilisiert die athenische Aktivität durch das betont vorangestellte moßnoi – deutlich klingt hier die bittere Anapher moßnoi – moßnoi an, mit der die Korinther 69,4102 umgekehrt die Singularität des spartanischen Verhaltens hervorhoben, um dadurch dessen Absurdität zu erweisen – zu einem geradezu einzigartigen Phänomen: moßnoi ga?r eäxousiß te oÖmoißvw kai? eölpißzousin aÜ aün eöpinohßsvsi dia? to? taxeiqan th?n eöpixeißrhsin poieiqsjai vWn aün gnvqsin.

Ausdrücklich wird hier die Identität von Hoffnung103 und Besitz (loßgow und eärgon) bei den Athenern unterstrichen. Gerade die der natürlichen Reihenfolge entgegenlaufende Anordnung der Begriffe eäxousi und eölpißzousin104 verstärkt die drastische Wirkung dieser Pointe. Der Grund für die Einheit von gedanklicher Antizipation und tatsächlichem Besitz wird in der Schnelligkeit des athenischen Zupackens gesehen, die durch die prädikative Stellung des Adjektivs taxußw nachhaltig betont wird. Galten die vorausgehenden Ausführungen eher dem Unternehmungsgeist der Athener und ihrem unbedingten Einsatzwillen, legt § 8 den

101 Classen-Steup, a.a.O., 199. Vgl. die Übersetzung bei Boehme-Widmann, a.a.O., 70f.: „für diesmal erreicht zu haben“. 102 ... moßnoi &Ellhßnvn, vQ Lakedaimoßnioi, ouö thq# dunaßmei tinaß, aölla? thq# mellhßsei aömunoßmenoi, kai? moßnoi ouök aörxomeßnhn th?n auächsin tvqn eöxjrvqn diplasioumeßnhn de? katalußontew. 103 Besonders durch die dreimalige Erwähnung der eölpißw (§ 3: euöeßlpidew, § 7: aöntelpißsantew, eölpißzousin) werden die Athener nachdrücklich den zögerlichen Spartanern gegenübergestellt, die von der Angst gefangen sind, das eigene Hab und Gut zu verlieren. 104 Vgl. die Erläuterung in den Scholien: prvqton gaßr tiw eöpinoeiq, eiQta eölpißzei, kai? eiQj ö ouÄtvw eöpixeireiq, uÄsteron de? kai? ktaqtai.

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Die Tagsatzung in Sparta

Schwerpunkt zunächst mehr auf die Rastlosigkeit ihres Tuns und die Konsequenzen ihrer inneren Haltung: kai? tauqta meta? poßnvn paßnta kai? kindußnvn di ö oÄlou touq aiövqnow moxjouqsi, kai? aöpolaußousin eölaßxista tvqn uÖparxoßntvn ...

Sprachlich wird die „ewige Unrast“105 durch die hyperbolische Formulierung di ö oÄlou touq aiövqnow, durch das Hendiadyoin meta? poßnvn ... kai? kindußnvn, in das noch verstärkend paßnta eingeschoben ist, durch den Superlativ eölaßxista und die Wahl zweier eher ungewöhnlicher Ausdrücke (aiövßn, moxjouqsi)106 betont. In der Hervorhebung des Tatendrangs der Athener107, der es ihnen vor lauter Aktivität nicht einmal erlaube, ihre 105 Lesky, A., Geschichte der griechischen Literatur, Bern/München 31971 (ND 1993), 537 mit Verweis auf das erste Stasimon der sophokleischen Antigone. 106 Classen-Steup, a.a.O., 199 sehen diese Wörter (aiövßn nur hier im gesamten Werk des Thukydides, moxjeiqn nur noch 2,39,4) „mit Absicht ... zu nachdrücklichem Abschluß der ganzen Schilderung gewählt“. 107 Zur polupragmosußnh Athens vgl. den bei Aristophanes mehrfach (Equ. 10111013, 1086f., Av. 978, 987, Daitalhqw fr. 241 Kassel/Austin) erwähnten Orakelspruch Parke, H.W./Wormell, D.E.W., The Delphic Oracle II, Oxford 1956, Nr. 121: euädaimon ptolißejron §Ajhnaißhw aögeleißhw, | polla? iödo?n kai? polla? pajo?n kai? polla? moghqsan, | aiöeto?w eön nefeßlh#si genhßseai hämata paßnta. Eur. Suppl. 321-325: oÖra#qw aäboulow vÖw kekertomhmeßnh | toiqw kertomouqsi gorgo?n oämm ö aönableßpei | sh? patrißw; eön ga?r toiqw poßnoisin auäcetai: | aiÖ d ö hÄsuxoi skoteina? praßssousai poßleiw | skoteina? kai? bleßpousin euölaboußmenoi. 576f.: praßssein su? poßll ö eiävjaw hÄ te sh? poßliw. | toiga?r ponouqsa polla? poßll ö euödaimoneiq. Bei Thukydides begegnet die polupragmosußnh besonders in den Periklesreden als echt athenische Eigenschaft, auf die die Athener stolz waren: 2,40,2: moßnoi ga?r toßn te mhde?n tvqnde meteßxonta ouök aöpraßgmona, aöll ö aöxreiqon nomißzomen ... 63,2: hWw ouöd ö eöksthqnai eäti uÖmiqn eästin, eiä tiw kai? toßde eön tvq# paroßnti dediv?w aöpragmosußnh# aöndragajißzetai ... 3: to? ga?r aäpragmon ouö sv#ßzetai mh? meta? touq drasthrißou tetagmeßnon ... 64,4: kaißtoi tauqta oÖ me?n aöpraßgmvn meßmyait ö aän, oÖ de? draqn ti kai? auöto?w bouloßmenow zhlvßsei ... Im nachperikleischen Athen lassen sich unter den Schlagwörtern aöpragmosußnh – polupragmosußnh die beiden gegnerischen Parteien fassen, die besonders deutlich in der Debatte vor der Sizilischen Expedition hervortreten, vgl. die Worte des Alkibiades 6,18,6f.: kai? mh? uÖmaqw hÖ Nikißou tvqn loßgvn aöpragmosußnh kai? diaßstasiw toiqw neßoiw eöw tou?w presbuteßrouw aöpotreßyh# ... paraßpan te gignvßskv poßlin mh? aöpraßgmona taßxist ö aän moi dokeiqn aöpragmosußnhw metabolhq# diafjarhqnai ... In radikaler Form formuliert Euphemos das perikleische Programm der polupragmosußnh, wenn er in Kamarina zynisch dazu auffordert, sich die Vorteile der athenischen polupragmosußnh zunutze zu machen (6,87,3): ... kaj ö oÄson deß ti uÖmiqn thqw hÖmeteßraw polupragmosußnhw kai? troßpou to? auöto? cumfeßrei, toußtv# aöpolaboßntew xrhßsasje, kai? nomißsate mh? paßntaw eön iäsv# blaßptein auötaß, polu? de? pleißouw tvqn &Ellhßnvn kai? vöfeleiqn ... Zur Rastlosigkeit Athens vgl. ferner die sarkastische Bemerkung der Oligarchen über die Fünftausend 8,72,1: kaißtoi ouö pvßpote §Ajhnaißouw dia? ta?w strateißaw kai? th?n uÖperoßrion aösxolißan eöw ouöde?n

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Güter zu genießen, lässt sich eine deutliche Spitze gegen die Spartaner fassen, deren Maxime in den Augen der Korinther darin besteht, ta? uÖpaßrxonta zu bewahren (§ 2). Die sich anschließende Begründung für dieses Verhalten (dia? to? ...) umschreibt eindrucksvoll bereits erwähnte Motive: Mit ihrem ständigen Bemühen, neue Erwerbungen zu machen, das durch das durative ktaqsjai und durch das Adverb aiöeiß als unersättliches Streben gekennzeichnet wird, ist auf § 4 zurückgegriffen. Die beiden folgenden, durch mhßte – te als zusammengehörig markierten Erläuterungen rekurrieren wiederum auf die innere Einstellung (hÖgeiqsjai): ... kai? mhßte eÖorth?n aällo ti hÖgeiqsjai hü to? ta? deßonta praqcai cumforaßn te ouöx hWsson hÖsuxißan aöpraßgmona hü aösxolißan eöpißponon ...

Mit diesen Worten wird der Tatendrang der Athener (vgl. praqcai, aöpraßgmona) aufs höchste stilisiert und idealisiert. Die Metapher von der eÖorthß, die auf die unmittelbar vorausgehende Formulierung aöpolaußousin eölaßxista tvqn uÖparxoßntvn berechnet ist, verfehlt ihre Wirkung umso weniger, als ja gerade Athen für seine Freude an Festen und Vergnügungen (aöpolaußein) bekannt war.108 Auch mit diesem Punkt könnte ein Seitenhieb gegen die Spartaner beabsichtigt sein,109 die ja wenigstens an ihren Hauptfesten wie den Karneien jede kriegerische Tätigkeit aussetzten.110 In dem philosophisch anmutenden Leitspruch ta? deßonta praqcai ist wiederpraqgma ouÄtv meßga eöljeiqn bouleußsontaw eön vW# pentakisxilißouw cuneljeiqn. Für eine erschöpfende Untersuchung des Begriffs polupragmosußnh siehe Ehrenberg, V., Polypragmosyne: A Study in Greek Politics, JHS 67, 1947, 46-67, Adkins, A.W.H., POLUPRAGMOSUNE and „Minding one’s own business“: A study in Greek social and political values, CPh 71, 1976, 301-327 und Allison, J.W., Thucydides and POLUPRAGMOSUNH, AJAH 4, 1979, 10-22. 108 Vgl. das vom Leitgedanken der teßryiw bestimmte Kapitel 2,38 im Epitaphios. Zu den vielen festlichen Veranstaltungen in Athen vgl. Ps.Xen. Ath.pol. 3,2: ... ouÄstinaw ... deiq eÖortaßsai eÖorta?w oÄsaw ouödemißa tvqn &Ellhnißdvn poßlevn ... Vgl. außerdem 2,9 und 3,8; Isokr. 4,45; Plat. Alk. 2 148e. 109 Vgl. die Bemerkung des Scholiasten: aiönißttetai tou?w Laßkvnaw, oiÄtinew eön eÖorthq# ouök eöstraßteuon. 110 So wird 4,5,1 berichtet, wie die Spartaner gerade ein Fest feiern, während die Athener ungestört an der Befestigung von Pylos arbeiten: oiÖ de? eÖorthßn tina eätuxon aägontew kai? aÄma punjanoßmenoi eön oöligvrißa# eöpoiouqnto, vÖw, oÄtan eöceßljvsin, hü ouöx uÖpomenouqntaw sfaqw hü rÖa#dißvw lhyoßmenoi bißa# ... Speziell zu den Karneien siehe 5,54,2: ... aöphqljon eöp ö oiäkou kai? toiqw cummaßxoiw perihßggeilan meta? to?n meßllonta (Karneiqow d ö hQn mhßn, iÖeromhnißa Dvrieuqsi) paraskeuaßzesjai vÖw strateusomeßnouw. Vgl. daneben auch die Schilderung ihrer Reaktion nach der Schlacht von Mantineia 5,75,2: kai? tou?w aöpo? Korißnjou kai? eäcv §Isjmouq cummaßxouw aöpeßstreyan peßmyantew oiÖ Lakedaimoßnioi, kai? auötoi? aönaxvrhßsantew kai? tou?w cummaßxouw aöfeßntew (Kaßrneia ga?r auötoiqw eötußgxanon oänta) th?n eÖorth?n hQgon. Für die Zeit der Perserkriege vgl. Hdt. 6,106,3 und 7,206,1.

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um ein deutlicher Gegenpol zur § 3 den Spartanern zugesprochenen Lebensführung (thqw ... dunaßmevw eöndeaq praqcai) intendiert. Der korrespondierende te-Teil arbeitet als Lebensmotto eine aösxolißa eöpißponow heraus. Denn durch ouöx hWsson ... hä wird das erste Glied (hÖsuxißa aöpraßgmvn) so entschieden hervorgehoben und das zweite negiert, dass nur die hÖsuxißa aöpraßgmvn als cumforaß für die Athener dargestellt wird.111 Mit einem expliziten Verweis auf den der gesamten Synkrisis zugrunde liegenden Physis-Begriff (pefukeßnai) fassen die Korinther ihre Ausführungen über die Athener in einem Resümee (vÄste) zusammen (§ 9): vÄste eiä tiw auötou?w cunelv?n faißh pefukeßnai eöpi? tvq# mhßte auötou?w eäxein hÖsuxißan mhßte tou?w aällouw aönjrvßpouw eöaqn, oörjvqw aün eiäpoi.

Mit den beiden Perspektiven, durch die hier das aktiv-aggressive Verhalten der Athener beleuchtet wird, nämlich selbst immer rastlos zu sein und auch den anderen Menschen keine Ruhe zu gönnen, sind die entscheidenden Ergebnisse der Charakteristik wieder aufgenommen. Der Verwendung des Verbums pefukeßnai, das durch seine Position im AcI auch formal hervorgehoben ist, entspricht die Vorstellung, dass die Athener durch ihre fußsiw regelrecht gezwungen seien, aktiv zu sein, es ihnen also verwehrt wäre, sich anders zu verhalten. Gerade das Perfekt bringt zum Ausdruck, dass sich das Wesen der Athener nicht nur in der Vergangenheit so gezeigt hat, sondern auch jetzt ihr Verhalten bestimmt, ja sogar für die Zukunft112 grundlegend bleiben wird.113 Nach dieser Stilisierung Athens zu einer rastlos vorwärts drängenden, unaufhaltsam ausgreifenden poßliw leiten die Korinther im dritten Hauptteil ihrer Rede (71,1-3)114 wieder zur aktuellen Lage über und machen die Ergebnisse der Synkrisis für ihre Argumentation fruchtbar. Nach der eindrucksvollen Charakteristik der Athener fällt es ihnen leicht, das zögerliche Verhalten der Spartaner (diameßllete) bei einem derartigen Gegenüber (Taußthw ... toiaußthw aöntikajesthkuißaw poßlevw) ad absurdum zu führen (§ 1): ... oiäesje th?n hÖsuxißan ouö toußtoiw tvqn aönjrvßpvn eöpi? pleiqston aörkeiqn oiÜ aün thq# me?n paraskeuhq# dißkaia praßssvsi, thq# de? gnvßmh#, hün aödikvqn-

111 Vgl. Classen-Steup, a.a.O., 199f. 112 Vgl. die Zweckbestimmung eöpi? tvq# ..., die „die folgenden Infinitive als die unwandelbaren Zielpunkte der ganzen Existenz“ (Classen-Steup, a.a.O., 200) hinstellt. 113 Vgl. Rechenauer, a.a.O., 143. 114 Jones-Powell, Alberti, Krüger und Maddalena untergliedern den Text bis zum Schluss nicht mehr.

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tai, dhqloi vQsi mh? eöpitreßyontew, aöll ö eöpi? tvq# mh? lupeiqn te tou?w aällouw kai? auötoi? aömunoßmenoi mh? blaßptesjai to? iäson neßmete.

In einem zweigliedrigen (ouö – aöllaß) Satzgefüge werden zunächst die Bedingungen beschrieben, unter denen das Stillhalten in den Augen der Korinther berechtigt wäre. Durch diesen vorangestellten Fall soll die Schilderung der tatsächlichen Gegebenheiten umso drastischer wirken. Ein hÖsuxaßzein gewährt für die Korinther nur dann Sicherheit, wenn man zusätzlich zum gerechten Handeln deutlich zu erkennen gebe, dass man sich kein Unrecht gefallen lasse. Der zweite, positiv formulierte Teil des Satzes, der durch die variatio in der Konstruktion115 das Verhalten der Spartaner umso nachdrücklicher hervorhebt, bedarf wegen seiner sprachlichen Schwierigkeit einer ausführlicheren Erklärung: Bis zur Untersuchung von P. Lorenz116 hatte die Forschung im Kolon tvq# ... blaßptesjai einen durch te – kaiß in die beiden Ausdrücke mh? lupeiqn tou?w aällouw und auötoi? aömunoßmenoi mh? blaßptesjai gegliederten substantivierten Infinitiv gesehen. Gemäß der communis opinio117 ergäbe sich daraus etwa die folgende, von Steup vorgeschlagene Übersetzung: „Ihr übt Gerechtigkeit auf der Grundlage, daß ihr weder anderen ein Leid zufügen noch auch, indem ihr euch verteidigt, selbst zu Schaden kommen wollt (d.i. noch auch auf die Gefahr hin, selbst zu Schaden zu kommen, euch gegen andere verteidigen wollt).“118 Dagegen wendet Lorenz zu Recht ein, dass diese Interpretation119 auf einer Missachtung der Regeln für die Stellung der Partikel te basiert.120 Bei korrektem Verständ115 Statt oiäesje hÖsuxißan toußtoiw aörkeiqn, oiÜ aün ... neßmvsi werden die Spartaner direkt mit neßmete angesprochen, um zu betonen, dass nicht nur eine allgemeine Lebensmaxime, sondern das tatsächliche Verhalten der Spartaner beschrieben wird. 116 Lorenz, P., Zu Thukydides 1,71,1, WS N.F. 16, 1981, 79-88. 117 Krüger, a.a.O., 81f., Poppo-Stahl, a.a.O., 208, Boehme-Widmann, a.a.O., 71f., Classen-Steup, a.a.O., 201. Unklar ist die Paraphrase bei Gomme, a.a.O., 232. Dagegen legt Tasolambros, L., Thucydides I. 71, Platon 17, 1965, 246-259, dort 250 angesichts des doppeldeutigen Ausdrucks auötoi? aömunoßmenoi mh? blaßptesjai (247: „‚do not defend yourselves that you may not suffer losses’ or ‚defend yourselves in order to avoid losses’“) – in von ihm nicht angegebener Übereinstimmung mit dem Scholiasten (ouäte aödikeiqn boußlesje kai? aödikoußmenoi aömußnesje) – folgende Übersetzungsvariante vor: „Your principle is not to attack others, but if others attack you to defend yourselves, and prevent them from causing you injury.“ Ebenso Maddalena, Bd. 2, 141 („difendersi per evitare i danni“). 118 Classen-Steup, a.a.O., 201. 119 Dies gilt freilich auch für den Vorschlag von Tasolambros. 120 Lorenz, a.a.O., 83f.: „... in beiden Fällen wird der Text des infinitivischen Kolons in der Weise aufgefaßt, als ob er mhßte lupeiqn tou?w aällouw oder toußw t ö aällouw (bzw. tou?w aällouw te) mh? lupeiqn lautete. Die tatsächliche Wortfolge mh? lupeiqn te tou?w aällouw kai? im Sinne von ‚neque alios laedere et ...’ aufzufas-

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nis negiert (das erste) mhß die gesamte Infinitivkonstruktion,121 die sich durch te – kaiß in die beiden Komponenten lupeiqn tou?w aällouw und auötoi? aömunoßmenoi mh? blaßptesjai aufschlüsseln lässt. Demnach schlägt Lorenz als Übersetzung vor:122 „... vielmehr wollt ihr Gerechtigkeit walten lassen, ohne daß ihr sowohl den anderen ein Leid zufügt als auch mittels entsprechender Verteidigungsmaßnahmen Schaden von euch selbst fernhaltet.“ Diese Auffassung fügt sich auch inhaltlich besser in den Kontext: Nachdem die Korinther 70,9 das Wesen der Athener mit dem Präpositionalausdruck eöpi? tv#q mhßte auötou?w eäxein hÖsuxißan mhßte tou?w aällouw aönjrvßpouw eöaqn zusammenfassend charakterisiert haben, setzen sie 71,1 in scharfen Gegensatz dazu die Zögerlichkeit der Spartaner: Diese legten nicht nur nicht eine Einstellung123 an den Tag, die sich zwar von der athenischen aktiv-aggressiven Haltung abhebt, wohl aber Sicherheit gewähren würde,124 sondern zeigten nicht einmal die Bereitschaft, das Erleiden von Schaden zu verhindern. Somit ergibt sich ein logischer Dreischritt: Den Spartanern wird in Form einer Antiklimax einerseits der attische Unternehmungsgeist, andererseits auch die durch den Relativsatz oiÖ aün ... umschriebene, in den Augen der Korinther angemessene Haltung abgesprochen und schließlich in drastischer Ironie125 vorgeworfen, es sogar zu verschmähen, präventive Verteidigungsmaßnahmen zu treffen. Steigernd fügen die Korinther hinzu, dass die Spartaner mit einer solchen Gesinnung nicht einmal als Nachbarn einer poßliw oÖmoißa Erfolg hätten (§ 2). Mit nuqn d ö wird demgegenüber entschieden auf die tatsächliche Situation (vgl. § 1: Taußthw ... toiaußthw aöntikajesthkuißaw poß-

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sen, bedeutet eine Mißachtung der Regeln für die Stellung der Partikel te, welche in einem negativen Konjunkt nur unmittelbar nach der Negation (Typus ‚ouäte ...’) oder vor der Negation (Typus ‚... te (...) ouö ...’), nicht aber mittelbar nach der Negation stehen darf.“ Als Beispiele für die beiden Typen verweist Lorenz, 85 auf zwei Stellen in unmittelbarer Nähe: 70,9: ... eöpi? tvq# mhßte auötou?w eäxein hÖsuxißan mhßte tou?w aällouw aönjrvßpouw eöaqn ... und 71,4: ... iÄna mh? aändraw te fißlouw ... toiqw eöxjißstoiw prohqsje kai? hÖmaqw ... treßyhte. Für den mündlichen Vortrag wäre hinter eöpi? tvq# mhß eine kleine Pause zu denken. A.a.O., 86. eöpi? tvq# mhß gibt er dabei vereinfachend mit ‚ohne daß’ wieder. thq# de? gnvßmh#. Dementsprechend ist deshalb auch der Ausdruck eöpi? tvq# ... zu verstehen. Dies wäre der Fall, wenn für sie die Bestimmung oiÜ aün thq# me?n paraskeuhq# dißkaia praßssvsi, thq# de? gnvßmh#, hün aödikvqntai, dhqloi vQsi mh? eöpitreßyontew zuträfe. Diese Drastik kommt durch die Interpretation von Lorenz – für die schon allein das schlagende grammatikalische Argument spricht – klarer zum Ausdruck. Zur Verdeutlichung des Gedankens ließe sich für das zweite Glied eöpi? tvq# mh? ... mh? blaßptesjai vereinfachend etwa eöpi? tvq# mh? ... svqoi eiQnai einsetzen.

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levw) verwiesen, womit der Grundtenor der Synkrisis wieder aufgenommen wird: nuqn d ö, oÄper kai? aärti eödhlvßsamen, aörxaioßtropa uÖmvqn ta? eöpithdeußmata pro?w auötoußw eöstin.

Das durch seine Stellung betonte, hier erstmals gebrauchte Adjektiv aörxaioßtropa, das die spartanischen Lebensgewohnheiten126 charakterisiert, zielt über das zauderhafte Wesen, wie es c.70 beschrieben ist, hinaus auf den Aspekt des Altmodischen, um den folgenden Kontrast (vgl. schon 70,2: nevteropoioiß) mit dem athenischen Fortschrittsdenken (ta? tvqn §Ajhnaißvn ... eöpi? pleßon uÖmvqn kekaißnvtai) vorzubereiten. Wie bei einer teßxnh setze sich immer das Neueste durch, dies sei eine unabdingbare Gesetzmäßigkeit (aönaßgkh) (§ 3). Durch aiöeiß und das Präfix eöpi- (eöpigignoßmena) wird der Gedanke einer linearen, immer weitergehenden Entwicklung zum Ausdruck gebracht, wodurch das Stillhalten der Spartaner scharf konterkariert wird. Der folgende Satz konkretisiert den Gedanken insofern, als er ihn auf die spezielle Situation von poßleiw bezieht, er ist aber immer noch allgemein gehalten. Nur einer in friedlicher Ruhe lebenden Stadt sei es zuträglich, die Gewohnheit unangetastet zu lassen, ist man hingegen fortwährend in Streitereien und Händel mit anderen poßleiw involviert, sei man auf ständig neue Verbesserungen (eöpiteßxnhsiw127) angewiesen. Mit di ö oÄper angeschlossen, wird der allgemeine Gedanke wieder auf ganz konkrete Verhältnisse übertragen, diesmal auf Athen, das die Erfordernisse verwirklicht. Somit ergibt sich von § 2 (nuqn d ö) bis § 3 (kekaißnvtai) ein Rahmen, dessen Außenglieder mit der Charakteristik der Spartaner bzw. Athener im Vergleich jeweils zur anderen Macht (pro?w auötoußw – eöpi? pleßon uÖmvqn) eine eher allgemein gehaltene Argumentation umspannen. Bewusst ist dabei mit dem betont an das Satzende gestellten kekaißnvtai eine begrifflich nahe, antithetische Entsprechung zu dem die Spartaner beschreibenden Adjektiv aörxaioßtropa gewählt. Mit dem Begriff polupeirißa, der die Formulierung pro?w polla? ... iöeßnai wieder aufnimmt, ist die athenische Rastlosigkeit treffend auf einen Nenner gebracht. Mit § 4 beginnt der Epilog (§ 4-7), in dem die Korinther zusammenfassend (ouQn) noch einmal die wesentlichen Gesichtspunkte aufgreifen und ihre Forderungen klar formulieren (vgl. die Imperative). Dabei appellieren sie verstärkt an die Ehre der Spartaner, um sie gerade am Schluss der Rede affektiv noch eindringlicher anzusprechen. 126 eöpithßdeuma meint „ein auf Grundsätze gestütztes Verfahren“ (Classen-Steup, a.a.O., 108). 127 Zum Präfix eöpi- vgl. 70,2.

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So fordern sie endlich eine Absage an das zögerliche Verhalten (braduthßw) und stattdessen Hilfe für die cußmmaxoi durch einen Einfall in Attika (§ 4). Mit meßxri me?n ... touqde – nuqn deß wird der momentane Augenblick deutlich als Wendepunkt markiert, mit dem das bisherige Verhalten beendet werden (vÖrißsjv) und eine neue Ära anbrechen soll. Betont ist dabei die von den Korinthern in der ganzen Rede angeprangerte braduthßw an den Schluss des Satzes gesetzt, uÖmvqn dagegen mit Nachdruck vorangestellt, um sie für die Spartaner als charakteristisch zu erweisen und damit die Spartaner affektiv noch härter zu treffen. In die gleiche Richtung zielt der bestimmte Artikel, der die braduthßw als „eure wohlbekannte“128 herausstreicht. Auffällig ist die Formulierung toiqw te aälloiw kai? Poteideaßtaiw, die die Bewohner von Poteidaia deutlich gegenüber den anderen hervorhebt. Indirekt werden dadurch die Korinther von Thukydides als Sprecher in eigener Sache charakterisiert, was sie eingangs der Rede (68,2) explizit bestritten; im Vordergrund ihres Interesses stehen also sehr wohl die in Poteidaia eingeschlossenen Verwandten.129 Der Einschub vÄsper uÖpedeßcasje untermauert zum einen rein rechtlich die korinthische Forderung, indem an die Verpflichtung der Spartaner aufgrund ihres Versprechens130 erinnert wird, zum anderen verurteilt er vom Aspekt des Moralischen her ein mögliches Nichteingreifen der Spartaner. Dieser Gesichtspunkt wird durch den ersten Teil des folgenden iÄna mhß-Satzes ausgeführt. Bewusst sind hier auf engstem Raum viele moralisch-emotional besetzte Begriffe wie proi_ßesjai, fißlouw und cuggeneiqw verwendet, dem sehr effektvoll der Superlativ toiqw eöxjißstoiw gegenübergestellt ist. Der zweite Teil enthält die Drohung131, das Bündnis mit Sparta aufzukündigen.132 Durch das Verbum treßyhte wird eine mögliche Abkehr der Korin128 Krüger, a.a.O., 82. 129 Vgl. oben S. 45, Anm. 20. 130 58,1: ... eöpeidh? ... ta? teßlh tvqn Lakedaimonißvn uÖpeßsxeto auötoiqw, hün eöpi? Poteißdaian iävsin §Ajhnaiqoi, eöw th?n §Attikh?n eösbaleiqn, toßte dh? kata? to?n kairo?n touqton aöfißstantai meta? Xalkideßvn kai? Bottiaißvn koinhq# cunomoßsantew. 131 Eine Übersicht über Warnungen vor einer Zurückweisung des Rates eines Redners, wie sie häufig am Ende einer thukydideischen Rede begegnen, gibt Westlake, H.D., Sting in the Tail: A Feature of Thucydidean Speeches, GRBS 12, 1971, 497503. 132 Die Formulierung kai? hÖmaqw tou?w aällouw aöjumißa# pro?w eÖteßran tina? cummaxißan treßyhte hat der Forschung einiges Kopfzerbrechen bereitet. Während die Mehrheit hiermit von den Korinthern die Drohung ausgesprochen sieht, zu den Argivern abzufallen (Krüger, a.a.O., 82, Poppo-Stahl, a.a.O., 210, Boehme-Widmann, a.a.O., 72, Classen-Steup, a.a.O., 202, Maddalena, Bd. 2, 143f., Gomme, a.a.O., 233, Hornblower, a.a.O., 116. – Diese Deutung geht auf die Notiz eines Scholiasten zurück: pro?w tou?w §Argeißouw: eöxjroi? ga?r hQsan toiqw Lakedai-

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ther als eine von den Spartanern initiierte Maßnahme deklariert, die Korinther selbst erscheinen lediglich als Objekt des spartanischen Handelns, dem jede Möglichkeit genommen sei, frei zu entscheiden. Somit liegt eine ähnliche rhetorische Verdrehung vor wie oben 69,1 in der Formulierung eöw toßde ... aiöei? aöposterouqntew ..., die das athenische doulouqsjai als einen von Sparta aktiv verursachten Akt deutet. § 5 führt etwas abgeschwächt (drv#qmen d ö aün aädikon ouödeßn) die Rechtmäßigkeit des angedrohten Schrittes aus. Betont wird die Korrektheit aus juristischer Sicht zum einen durch die Litotes aädikon ouödeßn, zum anderen durch die Unterscheidung zwischen der Ebene der Götter – verstärkend wirkt das Attribut oÖrkißvn – und der Menschen133 herausgestellt. Ferner versuchen die Korinther ihre Position durch eine pointierte gnvßmh zu untermauern, die vom Standpunkt des Rechts aus ihr fiktives Verhalten gegenüber dem tatsächlichen der Spartaner als korrekt deklariert und die Spartaner insbesondere durch die Verben bohjeiqn und cunomnußnai moralisch verpflichtet: lußousi ga?r sponda?w ouöx oiÖ di ö eörhmißan aälloiw prosioßntew, aöll ö oiÖ mh? bohjouqntew oiWw aün cunomoßsvsin.

Mit § 6 wird diese nur zur Aufrüttelung der Spartaner dienende hypothetische Variante fallen gelassen, stattdessen wieder ein versöhnlicherer Ton angeschlagen: boulomeßnvn de? uÖmvqn projußmvn eiQnai menouqmen ... Nachdrücklich ist mit boulomeßnvn die „Voraussetzung, auf deren Erfüllung die ganze Rede hindrängt“134, an den Anfang gesetzt, um die Spartaner nochmals anzutreiben. Das Wollen (boulomeßnvn), die eigene Initiatimonißoiw), spekuliert de Ste. Croix, a.a.O., 59f. über eine Allianz mit Athen (zustimmend Crane, G., Thucydides and the Ancient Simplicity. The Limits of Political Realism, Berkeley/Los Angeles/London 1998, 214); Kagan, D., The Outbreak of the Peloponnesian War, London 1969, 291-293 hingegen vermutet hinter den Worten nicht mehr als einen Bluff. Am ehesten plausibel erscheint die Interpretation von Westlake, H.D., A Corinthian threat of secession (Thucydides 1.71.4), LCM 5, 1980, 121-125, der gegen die angeführten Meinungen argumentiert und selbst die Auffassung vertritt, „the words pro?w eÖteßran tina? cummaxißan do not necessarily denote defection to an alliance which already existed ...“ (122). Unter Berufung auf die Notiz eines vom oben erwähnten unabhängigen Scholiasten (aönti? touq eiöw eÖteßrvn filißan peri? cummaxißaw uÖmaqw katalipoßntaw) schlägt er folgende Lösung des Problems vor (123): „The Corinthians may, therefore, have had in mind a coalition organized by themselves.“ 133 Gegen ThGL („Schol. fronißmvn“), Krüger, a.a.O., 82 („einsichtiger“), PoppoStahl, a.a.O., 210 („i.e. aiäsjhsin eöxoßntvn, fronißmvn“) und Classen-Steup, a.a.O., 202 („absol. ‚die Einsicht, Urteil haben’“) ist das Partizip aiösjanomeßnvn nicht absolut zu verstehen, vgl. Bétant („intelligere, animadvertere ...“; „partic. omisso obiecto“), Maddalena, Bd. 2, 144 („uomini che ci guardano“) und Gomme, a.a.O., 233 („men who take notice of our actions, whose eyes are upon us“). 134 Classen-Steup, a.a.O., 202.

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ve (projußmvn eiQnai) – Qualitäten, die zum bedächtigen Wesen der Spartaner, wie es die Korinther geschildert haben, in diametralem Gegensatz stehen – sind für die Korinther nicht nur das entscheidende Kriterium, sondern auch die einzige Bedingung für das Wohl der Peloponnes. Die mit gaßr eingeleitete Erläuterung streicht in Entsprechung zu § 5 (drv#qmen d ö aün aädikon ouödeßn) die Unrechtmäßigkeit eines Abfalls von Sparta für den Fall heraus, dass die Spartaner die Bedingung (boulomeßnvn) erfüllen. Mit dem Zusatz ouäte cunhjesteßrouw aün aällouw euÄroimen wird den Spartanern taktisch klug noch einmal ein Sympathiebeweis zugestanden, zum anderen die Verpflichtung auferlegt, sich auch angemessen für ihre Bündner zu engagieren. Zum Abschluss der Rede (§ 7) fordern die Korinther die Spartaner auf, gute Überlegung walten zu lassen.135 Geschickt verstehen sie es also, eine Entscheidung der Spartaner in ihrem Sinne als neutral-objektives, über den Ausgang unvoreingenommenes euQ bouleußesjai zu deklarieren. Besonders das einleitende pro?w taßde136 schafft eine enge Anbindung an den Kontext und lässt somit über die inhaltliche Konsequenz der geforderten euöboulißa im Sinne der Korinther keinen Zweifel. Mit dem Appell, die Peloponnes nicht schwächer werden zu lassen,137 als man sie von den Vätern erhalten habe – mit der Erwähnung der pateßrew ist ein Gesichtspunkt aufgegriffen, der durch seine emotionale Komponente besonders für den Schluss einer Rede geeignet ist –, versuchen die Korinther eine mögliche Entscheidung entgegen ihren Forderungen mit dem Gedanken des Zurückbleibens hinter den Vorfahren zu verknüpfen (... bouleußesje euQ kai? ... peiraqsje ...).138

135 Ähnlich beschließt Brasidas seine Rede in Akanthos 4,87,6: pro?w tauqta bouleußesje euQ ... 136 Zur rückbezogenen Verwendung von taßde siehe oben S. 49, Anm. 35. 137 Etwa durch den Abfall einzelner Bundesgenossen. 138 Die Erinnerung an die Leistung der Vorfahren ist ein Topos aus Feldherrnansprachen. Vgl. etwa Hom. Il. 4,370-400; 5,800-813; Aischyl. Pers. 402-405; Hdt. 7,53,1; Thuk. 2,11,1f.; 4,92,3.7, 95,3; 7,69,2. Zum Gedanken einer Verpflichtung gegenüber den Vätern vgl. auch die berühmten Worte des Glaukos Hom. Il. 6,207209 (... kaiß moi maßla poßll ö eöpeßtellen, | aiöe?n aöristeußein kai? uÖpeißroxon eämmenai aällvn, | mhde? geßnow pateßrvn aiösxuneßmen ...) und die Mahnung des Odysseus an Telemach Od. 24,508f. (... mhß ti kataisxußnein pateßrvn geßnow, oiÜ to? paßrow per | aölkhq# t ö hönoreßh# te kekaßsmeja paqsan eöp ö aiQan).

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2.3 Die Athenerrede (73-78) 2.3.1 Übersicht Unmittelbar im Anschluss an die Korintherrede berichtet Thukydides von einer zufällig und eigentlich in anderer Sache139 in Sparta weilenden athenischen Gesandtschaft, die in Anbetracht der gegen Athen erhobenen Vorwürfe darum bittet, vor der Versammlung sprechen zu dürfen.140 Thukydides leitet diese Rede mit einer ungewöhnlich langen Einführung141 ein, in der er den Leser über deren Motive und Ziele informiert. So hätten die Athener nicht im Sinn, sich wegen der konkreten Beschwerden zu rechtfertigen, wohl aber die Spartaner vor einem übereilten Entschluss zu warnen. Gleichzeitig wollten die Gesandten auf die Macht und Größe ihrer Stadt hinweisen, um die Spartaner damit von einer Entscheidung für den Krieg abzuhalten (72,1). Auch wenn es die athenischen Gesandten im Proömium ihrer Rede ablehnen, eine unmittelbare aöntilogißa gegen die spartanischen Bundesgenossen vorzulegen, geben sie doch zumindest eine gleichsam intentionale aöntilogißa, indem sie zwar nicht auf die konkreten Beschuldigungen der spartanischen Verbündeten eingehen, dafür aber die Rechtmäßigkeit der athenischen Herrschaft nachzuweisen versuchen und damit eine Darstellung der Bedeutung der Stadt verbinden. Geschickt lenken sie die Diskussion von den zur Debatte stehenden juristischen Streitfragen weg auf eine allgemeine Ebene und ersetzen zur geschichtlichen Rechtfertigung ihrer Herrschaft den Aggressionsvorwurf der Korinther gegen Athen durch eine Darlegung ihrer Verdienste und Leistungen als Wohltäter von Hellas in den Perserkriegen. 139 In der Frage der Authentizität thukydideischer loßgoi hat man deshalb gerade bei dieser Rede immer wieder auf freie Fiktion geschlossen, vgl. etwa Schwartz, a.a.O., 105, Stahl, a.a.O., 43 gegen Adcock, Book I, 6 und Rohrer, K., Über die Authentizität der Reden bei Thukydides, WS 72, 1959, 36-53, dort 48. Der Versuch von Raubitschek, unsere Gesandtschaft mit der nach Plut. Per. 30 zur Erklärung des megarischen Psephisma nach Sparta geschickten Gesandtschaft zu identifizieren (a.a.O., 33), muss spekulativ bleiben. 140 72,1: tvqn de? §Ajhnaißvn eätuxe ga?r presbeißa proßteron eön thq# Lakedaißmoni peri? aällvn parouqsa, kai? vÖw h#äsjonto tvqn loßgvn, eädocen auötoiqw parithteßa eöw tou?w Lakedaimonißouw eiQnai ... Vgl. auch 87,5: kai? oiÖ me?n aöpexvßrhsan eöp ö oiäkou diapracaßmenoi tauqta, kai? oiÖ §Ajhnaißvn preßsbeiw uÄsteron eöf ö aÄper hQljon xrhmatißsantew ... 141 Einen Überblick über die einführenden und abschließenden Worte bei thukydideischen Reden gibt Westlake, H.D., The Settings of Thucydidean Speeches, in: Stadter, P.A. (Hrsg.), The Speeches in Thucydides. A Collection of Original Studies with a Bibliography, Chapel Hill 1973, 90-108.

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In betonter Replik gegen die Argumentation der Korinther, wonach das Machtstreben der Athener als ein in ihrer fußsiw verankertes Spezifikum zu verstehen sei, stellen die Gesandten sodann Athens Politik als unausweichliche Konsequenz einer allgemein gültigen, durch die aönjrvpeißa fußsiw vorgegebenen Gesetzmäßigkeit dar, womit jeder moralischen Verurteilung Athens der Boden entzogen ist, und berufen sich in aller Schärfe auf den Grundsatz der Herrschaft des Stärkeren über den Schwächeren. Im dritten Teil ihrer Rede dient der Rekurs auf die aönjrvpeißa fußsiw den athenischen Gesandten schließlich nicht nur mehr zur Rechtfertigung der imperialistischen Politik, sondern fungiert als Folie, vor der Athens Form der Herrschaftsausübung als maßvoll erscheinen soll.

2.3.2 Interpretation Thukydides lässt die Athener ihre Rede mit einem von Entschlossenheit und Selbstbewusstsein geprägten Proömium (73,1) beginnen. Schon die ersten Worte, mit denen die Athener auf den ursprünglichen Zweck ihrer Gesandtschaft Bezug nehmen, tragen einen feierlichen142 Ton: &H me?n preßsbeusiw hÖmvqn ouök eöw aöntilogißan toiqw uÖmeteßroiw cummaßxoiw eögeßneto, aölla? peri? vWn hÖ poßliw eäpemyen ...

Wie in der thukydideischen Einführung der Rede143 wird der eigentliche Auftrag der Gesandtschaft nicht näher benannt, im Vordergrund steht das Bestreben, dem etwaigen Eindruck zu begegnen, zu einer aöntilogißa gegen die spartanischen Bundesgenossen nach Sparta gekommen zu sein. Mit aiösjanoßmenoi144 deß richtet sich die Perspektive auf das augenblickliche 142 Diese Wirkung wird durch die nominale Konstruktion (statt etwa ouök eöpresbeußsamen eiöw to? aönteipeiqn toiqw cummaßxoiw uÖmvqn, wie in den Scholien vermerkt) und durch die Verwendung des zumindest ungewöhnlichen (Dionysios von Halikarnass zählt es Peri? tvqn Joukudißdou iödivmaßtvn 3 zu den poihtikaß, worunter allerdings nicht zwangsläufig ‚poetisch’ zu verstehen ist, vgl. Hase im ThGL: „In l. citato Dionys. H. to? poihtiko?n tvqn oönomaßtvn, quod is memorat inter proprietates Thucydidis, non est fort. Forma poietica vocabulorum, quemadmodum intellexit HSt. ..., sed Vis effectrix vocabulorum, i.e. Fingendorum vocabulorum licentia“), nur noch in späterer Literatur belegten Wortes preßsbeusiw erzielt. 143 Vgl. Anm. 140. 144 Gegen diese Lesart der Hss. CG, die in den Ausgaben von Jones-Powell, Luschnat, de Romilly und Maddalena aufgenommen ist, ist der Verweis auf die thukydideische Einführung der Rede (72,1: ... kai? vÖw hä#sjonto tvqn loßgvn, eädocen auötoiqw parithteßa eöw tou?w Lakedaimonißouw eiQnai ...) als Argument zugunsten der von ABEFM bezeugten Lesart aiösjoßmenoi (so Classen-Steup, a.a.O., 205, gefolgt von Reich, a.a.O., 13), die Alberti, Krüger, Poppo-Stahl, Boehme-Wid-

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Auftreten in der Versammlung: Auch jetzt, wo man sich als Reaktion auf die katabohß gegen Athen eingefunden habe,145 haben die Athener nicht die Absicht, auf die Vorwürfe vonseiten der spartanischen Bundesgenossen zu erwidern. Durch die fast identische Wiederaufnahme der entscheidenden Formulierung ouök eöw aöntilogißan mit den Worten ouö ... aönterouqntew und insbesondere durch die Anlage des Gedankens, die aufgrund der zeitlichen Aufspaltung in ursprüngliche Zweckbestimmung (&H me?n preßsbeusiw) und jetziges Auftreten (aiösjanoßmenoi deß) für die augenblickliche Rede gerade in Abgrenzung (meßn – deß) zum eigentlichen Auftrag der Gesandtschaft eben die zurückgewiesene aöntilogißa erwarten ließe, erhält die ablehnende Haltung der Athener eindringliches Gewicht. Als Begründung weisen die Athener in Parenthese die Rolle des Verteidigers146 von sich, indem sie gleichsam nach dem status translationis den Spartanern die richterliche Zuständigkeit absprechen147 und somit geschickt für den weiteren Fortgang der Rede eine Behandlung der juristischen Streitfragen ausblenden, von denen die katabohß ausgegangen war.148 Gerade in der „bescheidenen Form“ (Potentialis), in die die Athener ihre Position kleiden, drückt sich das „Selbstgefühl“ der Athener, wie Classen und Steup treffend bemerken, „nur wirksamer“149 aus. Besonders unterstrichen wird die Weigerung der Athener, sich den Spartanern unterzuordnen, durch das betonte uÖmiqn und dessen enge Zusammenstellung mit hÖmvqn. Nach der Ablehnung einer aöntilogißa formulieren die Athener in Form einer proßjesiw das Ziel ihrer Rede (aöll ö oÄpvw), das sich in mehrere Komponenten aufschlüsselt. Im ersten, in einen negativen Finalsatz gekleideten Teil setzen sie raffiniert ein mögliches Eingehen der Spartaner

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mann und Classen-Steup in den Text setzen, nicht unbedingt zwingend. Im Sinne der Sprecher mag das Partizip Präsens die Wirkung der katabohß intensivieren. Zu historistisch der Blickwinkel von Reich, a.a.O., 14 und 20; vgl. die oben S. 31, Anm. 145 ausgeschriebenen Zitate. Etwas flach wiederum Reich, a.a.O., 15: „Wahrscheinlich hätten die Spartaner eine solche Bereitschaft gern gesehen …“ Am Ende ihrer Rede verweisen die Athener auf die Bestimmungen des dreißigjährigen Friedens zwischen Athen und Sparta, wonach ein Schiedsgericht zu entscheiden habe (78,4): ... ta? de? diaßfora dißkh# lußesjai kata? th?n cunjhßkhn. Vgl. dazu auch Perikles 140,2 (eiörhmeßnon ga?r dißkaw me?n tvqn diaforvqn aöllhßloiw didoßnai kai? deßxesjai ...) und 144,2 (dißkaw ... oÄti eöjeßlomen douqnai kata? ta?w cunjhßkaw ...) und die Antwort der Athener an die Spartaner 145 (... dißkh# de? kata? ta?w cunjhßkaw eÖtoiqmoi eiQnai dialußesjai peri? tvqn eögklhmaßtvn eöpi? iäsh# kai? oÖmoißa#). Vgl. 67,1: parekaßloun te euöju?w eöw th?n Lakedaißmona tou?w cummaßxouw kai? kateboßvn eöljoßntew tvqn §Ajhnaißvn oÄti spondaßw te lelukoßtew eiQen kai? aödikoiqen th?n Pelopoßnnhson. A.a.O., 205.

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auf die Vorwürfe der cußmmaxoi mit einem xeiqron bouleußesjai gleich, womit sie dem Schlussappell der Korinther, die von den Spartanern ebenfalls euöboulißa einforderten,150 ihr eigenes Verständnis von euöboulißa entgegenstellen, und warnen eindringlich vor den schwerwiegenden Folgen einer leichtfertigen Entscheidung (rÖa#dißvw – peri? megaßlvn pragmaßtvn)151. Gleichzeitig nehmen sie für sich selbst indirekt das Ideal der euöboulißa in Anspruch, während sie das Anliegen der spartanischen Bundesgenossen schon durch den Begriff katabohß zu Beginn des Proömiums von vornherein diskreditierten.152 Mit kai? aÄma bouloßmenoi angeschlossen, wird als positives Ziel der Rede eine umfassende Darlegung formuliert, die sich wiederum in zwei Teilkomponenten aufschlüsselt, einen Nachweis der Rechtmäßigkeit der athenischen Herrschaft und eine Darstellung der Bedeutung der Stadt. Auch in diesem zweiten Teil der proßjesiw, der den Blickwinkel einerseits von den zuvor direkt angesprochenen Spartanern (bouleußshsje) auf die Sprecher selbst lenkt, andererseits die Thematik vom konkreten Fall ins Allgemeine (peri? touq panto?w loßgou) wendet, versuchen sich die Athener schon durch die Wahl des nüchternen Begriffs dhlvqsai vom leidenschaftlichen Impuls (katabohß) der cußmmaxoi abzusetzen. Durch die Formulierung ouök aöpeikoßtvw153 blenden sie die aktuel150 71,7: pro?w taßde bouleußesje euQ kai? th?n Pelopoßnnhson peiraqsje mh? eölaßssv eöchgeiqsjai hü oiÖ pateßrew uÖmiqn pareßdosan. 151 Zu 78,1 (Bouleußesje ouQn bradeßvw vÖw ouö peri? braxeßvn ...) vgl. unten S. 116, zur Warnung des Archidamos 85,1 (... mhde? eöpeixjeßntew eön braxeiq morißv# hÖmeßraw peri? pollvqn svmaßtvn kai? xrhmaßtvn kai? poßlevn kai? doßchw bouleußsvmen, aölla? kaj ö hÖsuxißan) siehe unten S. 143. Vgl. auch Nikias 6,9,1: ... kai? mh? ouÄtv braxeißa# boulhq# peri? megaßlvn pragmaßtvn aöndraßsin aöllofußloiw peijomeßnouw poßlemon ouö proshßkonta aärasjai. 152 Als ein Begriff aus dem Bereich der oörghß bildet katabohß als Ausdruck einer irrationalen Handlungsmotivation einen starken Gegensatz zu der dem Bereich der gnvßmh entstammenden euöboulißa. Richtig Reich, a.a.O., 17 mit Verweis auf Diodotos 3,42,1: ... nomißzv de? dußo ta? eönantivßtata euöboulißa# eiQnai, taßxow te kai? oörgh?n ... Zum Gegensatz oörghß – gnvßmh bei Thukydides allgemein siehe Zahn, a.a.O., 74, Anm. 18. 153 Für ouök aöpeikoßtvw ist gegen Stahl, a.a.O., 45 (zustimmend Flashar, H., Der Epitaphios des Perikles. Seine Funktion im Geschichtswerk des Thukydides, SHAW 1969,1, Heidelberg 1969, 45, Anm. 86), der im Anschluss an Reich, a.a.O., 19, Anm. 1 die Wendung nur auf die Worte 76,2 (ouÄtvw ouöd ö hÖmeiqw jaumasto?n ouöde?n pepoihßkamen ouöd ö aöpo? touq aönjrvpeißou troßpou ...) bezieht und als Übersetzung „nicht unbegreiflicherweise“ vorschlägt (Reich, a.a.O., 13 übersetzt allerdings mit „nicht unbillig“), an der bewährten Auffassung (ThGL: „Non injuria, immerito“, ebenso Bétant, Classen-Steup, a.a.O., 206: „hier s.v.a. dikaioßtata“) festzuhalten, vgl. Rengakos, a.a.O., 24 und 114 mit Verweis auf die Euphemosrede in Kamarina. Dort sind die Worte ... touq de? Surakosißou kajayameßnou aönaßgkh kai? peri? thqw aörxhqw eiöpeiqn vÖw eiökoßtvw eäxomen (6,82,1) als Antwort auf den aödikißa-Vorwurf des Hermokrates (6,77,1) zu verstehen.

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le juristische Situation aus154 und heben den Gedanken auf eine höhere Ebene. Somit haben es die Athener im Proömium erreicht, sich nicht in die Rolle des Verteidigers drängen zu lassen und den konkreten Beschuldigungen der spartanischen Verbündeten antworten zu müssen; aus ihrer überlegenen Position heraus lenken sie die Diskussion auf eine allgemeinere Thematik und verbinden dadurch eine eigene Rechtfertigung und eine Darstellung der Bedeutung155 ihrer Stadt aus geschichtlich-politischer Perspektive geschickt mit dem aktuellen Ziel ihrer Rede. Dabei sind die durch kai? aÄma angeschlossenen Aspekte nicht mit H.-P. Stahl als untergeordnete „Nebenziele der Rede“ zu verstehen, „die sich bei der Behandlung des angegebenen Themas beiläufig ergeben“156, vielmehr enthalten sie für die beabsichtigte Wirkung der Rede (oÄpvw mh? ... xeiqron bouleußshsje) entscheidendes Material,157 ohne freilich deshalb ihre eigenständige Berechtigung zu verlieren.158 Gerade durch die von Stahl für seine Auffas-

154 Von Fritz, a.a.O., 641 spricht von einer „Rechtfertigung, wenn auch nicht nach Rechtsgründen, so doch nach politischen Prinzipien.“ 155 Mit Classen-Steup, a.a.O., 206, die die Erklärung des Scholiasten, aöcißa loßgou sei mit aöcießpainow gleichzusetzen, zu Recht verwerfen, hinter aöcißa loßgou einen Ausfall anzunehmen, halte ich für unnötig. Gerade in dem von Classen-Steup konstatierten leisen Widerspruch, dass „man auch im 2. Gliede eine Berichtigung des die Athener betreffenden loßgow in Aussicht gestellt zu finden erwartet, niemand aber bestreiten konnte, daß Athen ‚der Beachtung wert’ sei“, zeigt sich die Taktik der Athener, den Gedanken von den juristischen Fragen weg auf eine umfassendere Thematik zu verschieben und dabei die Bedeutung der Stadt für die Argumentation fruchtbar zu machen, indem mit ouäte – te geschickt eine enge Verzahnung suggeriert wird. Völlig abwegig ist die Deutung Reichs, a.a.O., 19, der für aöcißa loßgou die Übersetzung „einer Rede wert“ vorschlägt. Ebd., Anm. 2: „Mit anderen Worten: unsere Polis verdient es, dass man sie reden lässt, dass sie angehört wird. Mitten in den Tumult in Sparta, wo von allen Seiten ‚Nieder mit Athen!’ geschrien wird, treten die Athener und bitten um das Wort.“ 156 A.a.O., 45. Unklar und verschwommen der Kommentar von Reich, a.a.O., 13 zu den einleitenden Sätzen: „Diese Teile reihen sich nicht beziehungslos aneinander. Sie sollen vielmehr durch eine abgewogene Unter-, Über- und Gegenordnung den Standort der Redner bestimmen, der ihnen allein im Kraftfeld der politischen Meinungen angemessen zu sein scheint.“ 157 Vgl. 72,1: ... nomißzontew maqllon aün auötou?w eök tvqn loßgvn pro?w to? hÖsuxaßzein trapeßsjai hü pro?w to? polemeiqn. 158 Damit ergibt sich hinsichtlich der Ziele der Rede eine Übereinstimmung zwischen der thukydideischen Einführung der Rede (72,1) und den Worten der Gesandten (73,1), durch die die selbstbewusste Haltung der Athener zusätzlich veranschaulicht wird, vgl. Westlake, The Settings, 101: „Possibly Thucydides may wish to convey to his readers that the explanation given by the Athenians in the speech is an entirely sincere explanation of their purpose ...“

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sung herangezogene Anknüpfung mit kai? aÄma (72,1 und 73,1) wird das Gewicht des letzten Glieds eher sogar noch gesteigert.159 Wie die im Proömium formulierten Ziele ineinander greifen, lässt sich mustergültig am ersten Hauptteil der Rede (73,2-74,4)160 zeigen, in dem die Athener ihre Verdienste in den Perserkriegen schildern. Steht mit dieser Thematik die geschichtliche Rechtfertigung ihrer Herrschaft (ouäte aöpeikoßtvw eäxomen) im Vordergrund, nimmt sich die detaillierte Aufschlüsselung ihrer Beiträge zum Erfolg gegen die Perser zugleich als eine Demonstration der Stärke Athens (hÄ te poßliw hÖmvqn aöcißa loßgou eöstißn) aus, mit der die Athener für die aktuelle Frage eine unmissverständliche

tvqn de? §Ajhnaißvn eätuxe ga?r presbeißa ... peri? aällvn parouqsa ... – &H me?n preßsbeusiw hÖmvqn ouök eöw aöntilogißan ... eögeßneto, aölla? peri? vWn hÖ poßliw eäpemyen ... ... kai? vÖw hä#sjonto tvqn loßgvn, eädocen auötoiqw parithteßa eöw tou?w Lakedaimonißouw eiQnai ... – aiösjanoßmenoi de? kataboh?n ouök oölißghn ouQsan hÖmvqn parhßljomen ... ... tvqn me?n eögklhmaßtvn peßri mhde?n aöpologhsomeßnouw ... – ... ouö toiqw eögklhßmasi tvqn poßlevn aönterouqntew ... ... dhlvqsai de? peri? touq panto?w vÖw ouö taxeßvw auötoiqw bouleuteßon eiäh, aöll ö eön pleßoni skepteßon. – ... aöll ö oÄpvw mh? rÖa#dißvw peri? megaßlvn pragmaßtvn ... xeiqron bouleußshsje ... kai? aÄma th?n sfeteßran poßlin eöboußlonto shmhqnai oÄsh eiäh dußnamin, kai? uÖpoßmnhsin poihßsasjai toiqw te presbuteßroiw vWn h#ädesan kai? toiqw nevteßroiw eöchßghsin vWn aäpeiroi hQsan ... — ... kai? aÄma bouloßmenoi ... dhlvqsai vÖw ouäte aöpeikoßtvw eäxomen aÜ kekthßmeja, hÄ te poßliw hÖmvqn aöcißa loßgou eöstißn. 159 Dafür spräche schon die variatio in der Konstruktion (vgl. etwa Kakridis, J.T., Der thukydideische Epitaphios. Ein stilistischer Kommentar, Zetemata 26, München 1961, 23 zu 2,37,1). Maele, S. van de, /Ama deß ou la „raison véritable“ dans l’oeuvre de Thucydide, CEA 24, 1990, 341-346 kommt bei der Auswertung des Vergleichsmaterials bei Thukydides zu dem Ergebnis „in cauda veritas“ (346) und sieht an unserer Stelle in dem mit kai? aÄma bouloßmenoi angeschlossenen Glied „la raison ... la plus véridique“ (343) ausgedrückt. Vgl. auch Tsakmakis, a.a.O., 80 mit Anm. 53 zu 97,2. 160 Reich, a.a.O., 13 fasst das Proömium bis einschließlich 73,3, ebenso wohl Rengakos, der freilich a.a.O., 25 den ersten Hauptteil – anscheinend versehentlich – mit 73,3 beginnen lässt, obwohl er § 3 schon zuvor behandelt hat. M.E. bildet § 1 eindeutig eine abgeschlossene gedankliche Einheit (vgl. die Gliederung bei PoppoStahl, a.a.O., 212 und de Romilly, Imperialism, 242 und die Absatztrennung in den Ausgaben von Jones-Powell, Luschnat, de Romilly, Alberti, Classen-Steup und Maddalena; Krüger und Boehme-Widmann machen erst vor c.74 einen Absatz), nach der mit kai? ... meßn – deß der Übergang zum Einzelnen erfolgt, vgl. ClassenSteup, a.a.O., 206.

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Warnung an die Spartaner richten (oÄpvw mh? ... xeiqron bouleußshsje).161 § 2f. kommt die Funktion einer Überleitung zu. Zunächst versuchen die Sprecher mittels einer rhetorischen Frage die Sagen der Vorzeit als einen für ihre Erörterung inadäquaten Gegenstand zu erweisen, um dann im Gegensatz dazu (deß) den Blick auf die Mhdikaß zu lenken: Kai? ta? me?n paßnu palaia? tiß deiq leßgein, vWn aökoai? maqllon loßgvn maßrturew hü oäyiw tvqn aökousomeßnvn;

Mit einer eher ungewöhnlichen Begründung162, die diese Sagen nicht als ohnehin hinlänglich bekannt übergeht, sondern in Form eines ironischen Oxymorons163 die Zuverlässigkeit mündlicher Überlieferung (aökoai? loßgvn) alter Begebenheiten in Frage stellt, die oäyiw der Zuhörer zum entscheidenden Kriterium für die Glaubwürdigkeit erhebt und damit nur die erlebte Zeit der Zuhörer (kai?164 oÄsa auötoi? cußniste) zulässt, schließen die Athener die die mythische Zeit betreffenden Epitaphientopoi165 aus 161 Deshalb ist mit Stahl, a.a.O., 46f. und Rengakos, a.a.O., 28, Anm. 67 de Romillys Annahme zweier chronologisch verschiedener Versionen (Imperialism, 267-270, vgl. oben S. 30f.) entschieden zurückzuweisen. Da de Romilly die in der Einführung der Rede und im Proömium angekündigte Machtdemonstration in der uns vorliegenden Rede vermisst – den ersten Hauptteil der Rede bewertet sie fälschlicherweise ausschließlich unter dem Aspekt der Rechtfertigung –, postuliert sie eine Umarbeitung der Rede, bei der die ursprünglich im zweiten Hauptteil enthaltene Machtdemonstration durch den uns vorliegenden zweiten Teil, der die Entstehung und Festigung der attischen Herrschaft behandelt, ersetzt worden sei. Ebenso wenig ist Gommes Einschätzung der Athenerrede haltbar, der nur im Epilog der Rede eine ernsthafte Warnung erkennen will, dagegen die Worte der Gesandten insgesamt für so provozierend hält, als solle Sparta damit regelrecht zu einer unüberlegten Kriegserklärung hingerissen werden, vgl. a.a.O., 254: „... what other purpose can this have had than to provoke the honest Spartans to a hasty declaration of war?“ 162 Gewöhnlich wird in thukydideischen Reden hinreichend Bekanntes eher mit Wendungen wie makrhgoreiqn eön eiödoßsin ouö bouloßmenow eöaßsv (2,36,4; vgl. 68,3; 2,43,1; 4,59,2; 6,77,1) übergangen. 163 Vgl. Classen-Steup, a.a.O., 206: „Denn die aökoai? loßgvn ... sind im eigentlichen Sinne überhaupt nicht maßrturew.“ 164 Zur Verwendung von kaiß siehe Classen-Steup, a.a.O., 21 und 206 („und wie vieles s o n s t“). 165 Vgl. die Erklärung des Scholiasten: ta? kata? §Amazoßnaw kai? Jra#qkaw kai? &Hrakleißdaw. Aufgrund der Thematik ergeben sich in diesem Teil der Rede zwangsläufig motivische Berührungspunkte mit der attischen Epitaphientradition, vgl. Strasburger, H., Thukydides und die politische Selbstdarstellung der Athener, Hermes 86, 1958, 17-40, jetzt in: Herter, H. (Hrsg.), Thukydides, Wege der Forschung 98, Darmstadt 1968, 498-530, dort 503-508 mit genauen Stellenangaben. Der von Konstantinopoulos, V.L., Thuk. I 73,2-74,3. Beitrag zur Forschung der attischen Leichenreden, Platon 50, 1998, 190-212 unternommene Versuch, unseren

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ihrer Betrachtung aus – freilich wird durch die praeteritio der Eindruck evoziert, dass auch die paßnu palaiaß eine Fülle von Zeugnissen der Bedeutung der Stadt enthalten – und wenden sich ganz der für ihr Redeziel günstigeren166 jüngeren Vergangenheit zu. Geschickt begegnen sie durch die sehr energische Formulierung aönaßgkh leßgein dem möglichen Einwand, die ständige Erwähnung167 der Perserkriege könne den Spartanern zur Last fallen, und versuchen zur Untermauerung ihrer Argumentation Abschnitt als Teil der perikleischen Leichenrede für die Toten des Samischen Krieges zu identifizieren, muss freilich spekulativ bleiben. 166 Denn mittels einer Darlegung der Leistungen in den Perserkriegen lässt sich die Größe Athens und die Rechtmäßigkeit der aktuellen Position am besten nachweisen und indirekt gleichzeitig eine wirkungsvolle Warnung an die Spartaner für die augenblickliche Situation aussprechen. Auf seinen historistischen Zugriff fixiert zieht Reich, a.a.O., 23 in der Nachfolge von Jost, K., Das Beispiel und Vorbild der Vorfahren bei den attischen Rednern und Geschichtsschreibern bis Demosthenes, Paderborn 1936, 59 („Auch das spricht Thukydides selber. Es ist eine Kritik an denen, die sich im Lobe der Vorzeit ergehen, ohne das tatsächliche Geschehen zu kennen“) eine Parallele zu den 20,1 formulierten methodologischen Prinzipien der thukydideischen Geschichtsschreibung (ebenso Raubitschek, a.a.O., 38) und attestiert den athenischen Gesandten ein ernstes „Bemühen ..., bei der Schilderung der Ereignisse, die sie selbst miterlebt haben, nur das wiederzugeben, von dem sie überzeugt sind, dass es tatsächlich so geschehen ist“. Bezeichnend auch die Argumentation bei seiner Diskussion der möglichen „Vermutung“, „dass die Redner mit diesen Worten kritischen Einwänden ihrer Zuhörer zuvorkommen wollen“ (a.a.O., 24): „... es ist uns nicht bekannt, dass gerade die konservativen Spartaner gegenüber den mythischen Berichten einen besonderen Zweifel hegten.“ 167 Mit Jones-Powell, Luschnat, de Romilly, Alberti halten wir an der überlieferten Lesart proballomeßnoiw fest, die wir mit Bonitz, a.a.O., 618 („wenn es euch auch lästig sein sollte, euch dies bei jeder Gelegenheit vorrücken zu lassen“), Krüger, a.a.O., 84f. („wenn es auch lästig sein sollte, dass es euch immer vorgerückt wird“) und Poppo-Stahl, a.a.O., 213 („... putamus ... passivi probaßllomaiß ti eandem rationem esse atque passivi eögkalouqmaiß ti ...“) passivisch in Bezug auf ein zu ergänzendes uÖmiqn verstehen. Bétant („praetendere“), Boehme-Widmann, a.a.O., 75 („indem wir es immer vorbringen“), Maddalena, Bd. 2, 149 („anche se a ripeterli sempre ci renderanno fastidiosi“) und Hornblower, a.a.O., 118 („we have brought them forward so often that the repetition of them is disagreeable to us“) deuten proballomeßnoiw als Medium und ergänzen hÖmiqn. Gegen eine solche Auffassung richtig schon Bonitz, a.a.O., 618: „Ob es ihnen selbst lästig ist, diese Dinge so oft zur Sprache zu bringen, müssen die Sprechenden doch wohl schon wissen; aber ob es ihren Zuhörern lästig sein wird, sich dies bei jedem Anlasse vorhalten zu lassen, das, und nur das können sie mit Recht als erst zukünftiger Entscheidung unterworfen bezeichnen.“ Keine klare Entscheidung trifft Gomme, a.a.O., 234. ClassenSteup, a.a.O., 206 und im Anhang, 433 greifen unnötigerweise in den Text ein und schlagen proballoßmena („wenn es immer vorgehalten wird“) vor. Noch radikaler konjiziert Schwartz, a.a.O., 256: ... eiö kai? di ö oäxlou maqllon eästai aiöei? proballoßmenoiw aönaßgkh leßgein.

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eine Verbindung zwischen dem damaligen Geschehen und dessen Thematisierung in ihrer Rede herzustellen: kai? ga?r oÄte eödrvqmen, eöp ö vöfelißa# eökinduneußeto, hWw touq me?n eärgou meßrow meteßsxete, touq de? loßgou mh? pantoßw, eiä ti vöfeleiq, steriskvßmeja.

Die Verknüpfung zwischen dem Bereich des loßgow (aönaßgkh leßgein) und dem des eärgon (oÄte eödrvqmen) wird dabei nicht nur durch kai? gaßr geleistet, das implizit die Forderung begründet, nach vollbrachter Tat auch davon sprechen zu dürfen, sondern insbesondere durch die Wiederaufnahme von vöfelißa, das „bescheiden“168 die Rettung Griechenlands durch Athens Opferbereitschaft (eökinduneußeto) umschreibt, mit dem Verbum vöfeleiqn. Gleichzeitig wird in einer explizit formulierten Logos-Ergon-Antithese der Vorteil des athenischen Erfolgs für die Spartaner, der nach dem unbestimmten eöp ö vöfelißa# jetzt expressis verbis hervorgehoben wird (hWw ... meteßsxete), mit der effektvoll in eine Litotes gekleideten Forderung der Athener kontrastiert, sich der Leistungen auch rühmen zu dürfen. Verstärkt wird der Gegensatz durch die Gegenüberstellung von meßrow und mh? pantoßw. Überdies beinhaltet die Charakterisierung der spartanischen Beteiligung an den Mhdikaß als passives meteßxein am Nutzen des athenischen Handelns (eödrvqmen) einen Vorwurf an die Spartaner, der der Berechtigung des betont bescheidenen Wunsches touq ... loßgou mh? panto?w ... steriskvßmeja zusätzlichen Nachdruck verleiht und umgekehrt dem oäxlow als möglicher Reaktion auf spartanischer Seite die Grundlage entzieht. Bevor die Athener nun konkret mit der Schilderung ihrer Verdienste in den Perserkriegen beginnen, formulieren sie in Anlehnung an das Proömium nochmals programmatisch die Absicht ihrer Rede (§ 3). Sie träten nicht169 auf, um die Spartaner um Nachsicht zu bitten, sondern um ihnen aufzuzeigen, welche Stadt ihnen für den Fall eines Krieges gegenüberstünde.170 Selbstbewusst und entschlossen machen sie klar, dass sie von ihrem Standpunkt nicht abrücken werden – dies bringt der Begriff paraißthsiw vorzüglich zum Ausdruck, womit eine aus der Position der Schwäche heraus vorgebrachte Bitte „um das“ bezeichnet würde, „was man zu fordern

168 Classen-Steup, a.a.O., 206. 169 Zur Verwendung von ouö maqllon ... hä siehe oben S. 51, Anm. 40. 170 In der Konstruktion dieses Satzes spiegelt sich der oben erläuterte Zusammenhang der einzelnen Redeziele: ... dhlvßsevw pro?w oiÄan uÖmiqn poßlin (vgl. aÄma bouloßmenoi ... dhlvqsai vÖw ...) mh? euQ bouleuomeßnoiw (vgl. oÄpvw mh? ... xeiqron bouleußshsje) oÖ aögv?n katasthßsetai. Zur auffallenden Ähnlichkeit mit der Formulierung aus der zweiten Korintherrede 70,1 (... ouöd ö eöklogißsasjai pvßpote pro?w oiÄouw uÖmiqn §Ajhnaißouw oäntaw kai? oÄson uÖmvqn kai? vÖw paqn diafeßrontaw oÖ aögv?n eästai) siehe unten S. 157.

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kein Recht hat“171 –, und sprechen in bewusstem Rückgriff auf die Formulierung oÄpvw mh? ... xeiqron bouleußshsje (mh? euQ bouleuomeßnoiw) nun sogar offen von einem möglichen Krieg. § 4 leiten die Athener mit der emphatischen Formulierung fame?n gaßr172 die konkrete Darlegung ihrer Leistungen in den Auseinandersetzungen mit den Persern ein, aus denen sie mit Marathon und Salamis die beiden Schlachten herausgreifen, die den Ruhm Athens begründen. Während allerdings der Sieg bei Marathon nur kurz genannt wird, konzentriert sich die Darstellung im Folgenden ausschließlich auf den Sieg von Salamis. Diese ungleiche Behandlung resultiert zum einen, wie L. Reich173 und A. Rengakos174 richtig vermuten, aus dem Umstand, dass die Schlacht von Salamis nicht nur aufgrund ihres jüngeren Datums, sondern auch infolge der Beteiligung der in Sparta anwesenden Städte besser präsent war und dass Marathon weniger als Beispiel athenischer projumißa hätte dienen können. Zum anderen tritt im Seesieg von Salamis die Stärke Athens als Seemacht gerade im Hinblick auf das Ziel, die Spartaner zu warnen, am sinnfälligsten in Erscheinung.175 Am Sieg von Marathon heben die Athener – was auf die spätere Darlegung ihrer projumißa im Zuge der Schilderung des Entscheidungskampfes von Salamis vorausweist – hervor, als Vorkämpfer176 Griechenlands allein gegen die Perser Widerstand geleistet zu 171 Schmidt, J.H.H., Synonymik der griechischen Sprache, Bd. 1, Leipzig 1876 (ND Amsterdam 1967), 195. Vgl. die Erklärung des Scholiasten (ouöxi? eÄneka touq aiöteiqn suggnvßmhn fhsißn), ThGL („Veniae petitio“), LSJ („deprecating“), Bétant („deprecatio“). Zu Recht wendet sich Rengakos, a.a.O., 25, Anm. 56 gegen Stahl, der a.a.O., 45 paraißthsiw mit „Rechtfertigung“ gleichsetzt, um so seine oben zitierte Fehldeutung von ouök aöpeikoßtvw zu stützen und jegliche apologetische Tendenz der Rede abzustreiten. 172 Vgl. 3,54,2; 6,10,1. 87,2. gaßr signalisiert dabei den Beginn von angekündigten Ausführungen; vgl. außerdem 41,2; 80,3; 2,37,1. 39,1. 44,1. 45,2. 60,2. 62,2; 3,10,1; 4,17,4; 5,9,3; 6,20,2. 33,2. 34,4. 36,4. 76,2. 82,2. 91,2; 7,11,2. 66,2. 173 A.a.O., 29, Anm. 2. 174 A.a.O., 25, Anm. 57. 175 Dass der Nachdruck auf der Stärke Athens zur See liegt, zeigt sich schon daran, dass 73,4-74,4 nauqw bzw. naumaxeiqn zwölf Mal begegnen. 176 Für die Auffassung von prokinduneuqsai sind prinzipiell zwei Erklärungsmöglichkeiten denkbar: „In proß aut notio ante ceteros (ut proßmaxoi thqw &Ellaßdow dicantur fuisse) aut pro ceteris inest“ (Poppo-Stahl, a.a.O., 214). Aufgrund der Gegenüberstellung prokinduneuqsai – cunnaumaxhqsai und der Nähe zu Simonides fr. 21 Page (&Ellhßnvn promaxouqntew §Ajhnaiqoi Marajvqni | xrusofoßrvn Mhßdvn eöstoßresan dußnamin) verdient m.E. die erste Variante den Vorzug. Ebenso entscheiden Bétant („propugnare“), Boehme-Widmann, a.a.O., 75 („Vorkämpfer der übrigen“), Maddalena, Bd. 2, 150 („gli Ateniesi combatterono contro il barbaro prima di tutti gli altri Greci della penisola“), Pohlenz, M., Herodot. Der erste Geschichtsschreiber des Abendlandes, Leipzig 1937 (ND Darmstadt 1961), 168 („Vorkämpfer gegen den Barbaren“) und Raubitschek, a.a.O., 36 („we alone

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haben, womit sie die Teilnahme der Plataier177 verzerrend ausblenden.178 Gleichzeitig verbirgt sich hinter dem betonten moßnoi und dem Präfix proein indirekter Vorwurf an die Adresse der Spartaner, wie ihn die Korinther179 explizit zum Ausdruck gebracht hatten. Bei der Darstellung der Schlacht von Salamis, die geschickt aus den Ereignissen des Xerxeszuges (oÄte to? uÄsteron hQljen) herausgegriffen ist, können die Athener zwar nicht die alleinige Leistung für sich beanspruchen – cunnaumaxhqsai steht wohlberechnet moßnoi prokinduneuqsai gegenüber –, dafür betonen sie umso ausführlicher ihre ungewöhnliche (ouöx iÖkanoi? oäntew kata? ghqn aömußnesjai, pandhmeiß) Einsatzbereitschaft und Kraftanstrengung. Für die Bewertung ihrer Leistung lässt Thukydides die Athener Gedanken vorbringen, die sich sehr eng mit dem berühmten Athenerpassus Hdt. 7,139 berühren,180 in dem Herodot den Beweis erbringt, dass das Wohl und

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fought in the forefront against the barbarians“). In die gleiche Richtung scheint Hornblower, a.a.O., 118 zu zielen, der ohne Diskussion der Stelle als Übersetzung vorschlägt: „we tell you that we, first and alone, dared to fight the Persians at Marathon ...“ Die zweite Auffassung vertreten der Scholiast (pro? thqw &Ellaßdow kinduneuqsai), Krüger, a.a.O., 85, Poppo-Stahl, a.a.O., 214 (die, wie oben ausgeführt, immerhin von zwei Varianten ausgehen) und Rengakos, a.a.O., 25. Keine klare Entscheidung treffen ThGL („Dicimus enim nos periclitatos esse, vel discrimen belli adiisse [pro universa Graecia] adversus barbarum; vel Propugnasse“) und LSJ („p. tvq# barbaßrv# [sc. thqw &Ellaßdow] braved him for Greece [or, first of all]“). Die Problematik als solche überhaupt nicht erkannt zu haben scheint Reich, der a.a.O., 29 mit „Vorkämpfer gegen den Barbaren“ übersetzt, a.a.O., 30 allerdings mit „für Griechenland der Gefahr begegnet“ paraphrasiert und sich für „diese Interpretation des Wortes prokinduneuqsai“ Anm. 2 auf die oben zitierte Übersetzung von Pohlenz („Vorkämpfer“) beruft. Auszuschließen ist die Deutung von Classen-Steup, a.a.O., 207, pro- sei „zeitlich zu verstehen, indem der Kampf bei M. als ein Vorspiel der Mhdikaß behandelt wird“, von der wohl die Übersetzungen von Regenbogen, Horneffer und Landmann („den Vorkampf ... wagten“, „den Vorkampf ausgetragen“ bzw. „den Vorkampf ... ausgefochten“) und die Paraphrase von Kierdorf, a.a.O., 102 („den Vorkampf ... austrugen“) abgeleitet sind. Der Übersetzungsvorschlag von Vretska-Rinner („haben wir ... vor allem anderen den Kampf mit den Barbaren gewagt“) ist wohl als Druckfehler (statt „vor allen anderen“) zu erklären. Vgl. Hdt. 6,108,1. Aus taktischen Gründen verschweigen die Beteiligung der Plataier auch Artabanos bei seiner Warnung vor der Stärke Athens (Hdt. 7,10 b,1) und die Athener beim Streit um den linken Flügel bei der Aufstellung für die Schlacht von Plataiai (Hdt. 9,27,5). Zur Topik dieses Motivs in der attischen Epitaphientradition siehe Walters, K.R., „We fought alone at Marathon“: Historical Falsification in the Attic Funeral Oration, RhM 124, 1981, 204-211. Vgl. 69,5. Zu diesem längst erkannten Zusammenhang siehe insbesondere Pohlenz, Herodot, 168-170 und Kleinknecht, H., Herodot und Athen. 7, 139 / 8, 140-144, Hermes 75,

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Wehe Griechenlands in der Auseinandersetzung mit Xerxes von der Rolle Athens abhing,181 das damit zum Zünglein an der Waage182 wurde. Hatte schon der Versuch der Gesandten, den möglichen Einwand zu zerstreuen (aönaßgkh leßgein), das ständige Pochen auf die Verdienste in den Perserkriegen könne bei den Zuhörern oäxlow erzeugen, an die einleitenden Worte Herodots (7,139,1: ... aönagkaißh# eöceßrgomai gnvßmhn aöpodeßcasjai eöpißfjonon ...) erinnert, lässt sie Thukydides bei der Beurteilung der Wirkung ihres Eingreifens, die zweimal erfolgt (73,4 und 74,4) und die detaillierte Ausführung der Leistungen Athens umrahmt, bis in Einzelheiten der sprachlichen Gestaltung auf Herodot Bezug nehmen. So deckt sich die Einschätzung der Athener, nur durch ihren Einsatz183 seien die Perser daran gehindert worden, die Städte einzeln anzulaufen und die Peloponnes zu zerstören, da man zu wechselseitiger Hilfe angesichts der Übermacht der feindlichen Schiffe nicht in der Lage gewesen wäre, nicht nur inhaltlich mit der irrealen Beweisführung Herodots 7,139,3184, sondern klingt durch die identische Formulierung kata? poßleiw und die Form der hypothetischen Reflexion (aödunaßtvn aün oäntvn) unmittelbar an Herodot an. Zur Begründung ihrer These verweisen die Athener auf das verzweifelte Verhalten des Xerxes nach der Schlacht (§ 5), was sie als Zeichen der Objektivität ihrer Argumentation verstanden wissen wollen, wie die emphatische Einführung mit tekmhßrion de? meßgiston auöto?w eöpoißhsen zeigt. Nach der Niederlage zur See habe sich Xerxes in der Überzeugung, nicht mehr über eine adäquate Streitmacht zu verfügen, eilends mit dem Großteil des Heeres zurückgezogen. Besonderes Gewicht erhält dieses Argument gerade durch den Kontrast zur vorherigen hypothetischen Gedankenführung, indem der Unfähigkeit der peloponnesischen Städte (aödunaßtvn aün oäntvn), sich ohne Athens Einsatz gegen die Perser durch gegenseitige Hilfe zu schützen, nun die Ohnmacht des Xerxes (ouökeßti auötvq# oÖmoißaw ouäshw thqw dunaßmevw) gegenübersteht und die überstürzte Flucht

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1940, 241-264, jetzt in: Marg, W. (Hrsg.), Herodot. Eine Auswahl aus der neueren Forschung, Wege der Forschung 26, Darmstadt 31982, 541-573, dort 549-551. Hdt. 7,139,5: nuqn de? §Ajhnaißouw aän tiw leßgvn svthqraw geneßsjai thqw &Ellaßdow ouök aün aÖmartaßnoi taölhjeßow ... Ebd.: ouWtoi ga?r eöpi? oÖkoßtera tvqn prhgmaßtvn eötraßponto, tauqta rÖeßyein eämelle ... Rengakos, a.a.O., 25 kommentiert die Stelle zu ungenau, wenn er oÄper nicht auf das athenische Eingreifen, sondern auf die Schlacht von Salamis bezieht und somit nur den zweimaligen Beweis erbracht sieht, „daß diese Seeschlacht der Entscheidungskampf für die Freiheit der Peloponnesier gewesen ist“. Noch weniger wird diese Interpretation der zweiten Stelle (74,4) gerecht. ... prodojeßntew aün Lakedaimoßnioi uÖpo? tvqn cummaßxvn ouök eÖkoßntvn aöll ö uÖp ö aönagkaißhw, kata? poßliw aÖliskomeßnvn uÖpo? touq nautikouq stratouq touq barbaßrou, eömounvßjhsan ...

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(kata? taßxow) einen pointierten Gegensatz zur souveränen Position bildet, die es Xerxes erlaubt hätte, in aller Ruhe gegen die Städte der Peloponnes einzeln vorzugehen (kata? poßleiw auöto?n eöpipleßonta, vgl. unten 74,4: ... kaj ö hÖsuxißan aün auötvq# prouxvßrhse ta? praßgmata hW# eöboußleto). Fraglich bleibt freilich, inwieweit das Verhalten des Xerxes wirklich als tekmhßrion für den mit oÄper eäsxe mh? ... beschriebenen Sachverhalt anzusehen ist; streng genommen lässt sich nämlich an der Reaktion des Xerxes nach der Niederlage nur die entscheidende Bedeutung der Schlacht von Salamis ablesen, nicht aber die durch das auf cunnaumaxhqsai bezogene oÄper postulierte Schlüsselfunktion Athens. Diese Lücke in der Beweisführung versuchen die Athener im Folgenden ausführlich zu schließen. Nachdem zunächst als Ergebnis der Argumentation von § 5 rekapituliert wird, dass nach dem Verlauf der Dinge die Rettung Griechenlands auf der Flotte beruhte, streichen die Athener ihre Leistungen im Einzelnen heraus (74,1), womit sie die bescheidene Formulierung fame?n ... cunnaumaxhqsai deutlich korrigieren und sich die federführende Rolle zuweisen: ... trißa ta? vöfelimvßtata eöw auöto? paresxoßmeja, aörijmoßn te nevqn pleiqston kai? aändra strathgo?n cunetvßtaton kai? projumißan aöoknotaßthn ...

In dreierlei Hinsicht habe sich Athen mit seinem Beitrag entscheidend – mit vöfelimvßtata ist an die Formulierung eöp ö vöfelißa# eökinduneußeto angeknüpft – ausgezeichnet, durch die Stellung des größten Schiffskontingents, durch den klügsten Feldherrn und den entschlossensten185 Kampfgeist. Mit diesen drei Punkten, die parallel jeweils genannt und durch ein superlativisches Attribut als Vorzug Athens hervorgehoben werden, ist überschriftartig die Gliederung für den weiteren Fortgang der Rede § 1f. (nauqw meßn ge ... – Jemistokleßa de? aärxonta ... – projumißan de? ...) vorgegeben; die Ausführlichkeit der Behandlung nimmt dabei entsprechend der Anordnung der drei Bereiche zu. So wird die Zahl der athenischen Schiffe, die die Gesandten, zu ihren Gunsten manipulierend, auf beinahe zwei Drittel der Gesamtzahl von 400 taxieren,186 nur kurz erwähnt, 185 Die Litotes (aöoknotaßthn) weist schon auf die Synkrisis mit den allgemein als zögerlich geltenden Spartanern § 3 voraus. 186 Da man die Angaben methodisch fragwürdig oftmals primär als ein thukydideisches Zeugnis für die Schiffszahlen von Salamis heranziehen wollte, ohne die Redesituation und das Argumentationsziel der Athener zu berücksichtigen, hat diese Stelle vielfach Schwierigkeiten bereitet, weil die Zahl 400 die von Herodot (8,48: 378), Aischylos (Pers. 338f.: 310) und Demosthenes (18,238: 300) gemachten Angaben übertrifft und sich insbesondere bezüglich des Kontingents der athenischen Schiffe zwischen der Formulierung oölißgv# eölaßssouw tvqn dußo moirvqn und der sonst überlieferten Stärke von 200 Schiffen (Hdt. 8,61,2) eine Diskrepanz ergibt.

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während die Rolle des Themistokles breiter dargestellt wird. Ihm schreiben die Athener in scharfer Replik auf die Korinther, die das Scheitern der Perser auf eigene Fehler zurückführten,187 das Verdienst zu, für das Zustandekommen des Gefechts in der Meerenge bei Salamis verantwortlich gewesen zu sein, was durch seine Bezeichnung als aärxvn, die seine Position unter den strathgoiß hervorhebt, und insbesondere durch den Superlativ (aiötivßtatow) nachdrücklich betont wird. Als Beleg für die in ihren Augen unumstrittene (safeßstata) Bedeutung dieser genialen Taktik (vgl. Zur Tendenz der Rede passt es aber vorzüglich, wenn die Athener es vermeiden, präzise Angaben zu machen, und stattdessen mit der aufgerundeten Zahl von 400 Schiffen und der dehnbaren Formulierung oölißgv# eölaßssouw tvqn dußo moirvqn geschickt ihren Anteil unbestimmt vergrößern. Damit erübrigen sich die verschiedentlichen Vorschläge, in den Text einzugreifen oder der Lesart triakosißaw den Vorzug zu geben (so etwa Poppo-Stahl), was ohnehin nicht weiterhelfen würde, da dann die Angabe oölißgv# eölaßssouw tvqn dußo moirvqn ebenso wenig mit der überlieferten Zahl 200 zusammenpassen würde (vgl. Wankel, H., Thukydides 1, 74, 1 und die Schiffszahlen von Salamis, ZPE 52, 1983, 63-66, dort 63. Ein Ausschluss der 20 an die Chalkidier geliehenen Schiffe [Hdt. 8,1,2] ist bei der Tendenz der Rede kaum denkbar, vgl. Rubincam, C.R., Thucydides 1. 74. 1 and the use of eöw with numerals, CPh 74, 1979, 327-337, dort 327, Anm. 2). Befremdet hat außerdem der Gebrauch der Präposition eöw in der hier geforderten Bedeutung, der bei Thukydides singulär ist, wie Rubincam nachgewiesen hat, doch lässt sich die ungewöhnliche Verwendung von eöw durch den Bezug auf den vorausgehenden Satz (eöw auöto? paresxoßmeja) und durch das Bestreben, einen zweiten Genitiv zu vermeiden, hinlänglich erklären (vgl. Wankel, a.a.O., 66, Anm. 19 mit Verweis auf Classen-Steup, a.a.O., 209 und Rubincam, a.a.O., 328f. mit Anm. 7). Entschieden abzulehnen ist die abwegige Interpretation von Walters, K.R., Four Hundred Athenian Ships at Salamis?, RhM 124, 1981, 199-203, der eöw als ‚ungefähr’ fasst – bei diesem Gebrauch von eöw steht bei Thukydides üblicherweise freilich bei der Zahl kein Artikel, wie Rubincam gezeigt hat (a.a.O., 328, Anm. 4 mit Verweis auf ihre Stellensammlung 330, Anm. 14) – und somit die Gesandten von 400 athenischen und 600 griechischen Schiffen sprechen lässt. Ein Blick auf die von Walters als Beleg für seine Deutung herangezogenen attischen Redner – Walters verortet die sich aus seiner Auffassung ergebende Übertreibung der Verdienste Athens in der Tradition der attischen Epitaphien (a.a.O., 201) – lehrt, wie bescheiden sich diese geben (Lysias 2,42 und Isokrates 4,98; 12,50 sprechen lediglich davon, dass die Athener mehr Schiffe als die Bundesgenossen gestellt hätten, Demosthenes 18,238 nennt 200 athenische Schiffe bei einer Gesamtzahl von 300), womit Walters hinreichend widerlegt ist, vgl. Wankel, a.a.O., 65f. Zurückzuweisen ist auch der Ansatz von Papantoniou, G.A., Observations on Thucydides, AJPh 71, 1950, 299304, der den klaren Bezug auf die Schlacht von Salamis leugnet und bei seinen Rechenoperationen von der unhaltbaren Hypothese ausgeht, dass sich mit der Formulierung eön taiqw nausi? tvqn &Ellhßnvn ta? praßgmata eögeßneto der Gedankengang auf „the whole period of naval actions“ (a.a.O., 303) ausweite. 187 69,5: ... kai? to?n baßrbaron auöto?n peri? auÖtvq# ta? pleißv sfaleßnta ... Vgl. dazu die Erklärung in den Scholien: eön tvq# stenvq# thqw Salamiqnow tolmhßsanta naumaxhqsai, oÄper kai? eögeßneto aiätion thqw hÄtthw.

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aändra strathgo?n cunetvßtaton188) für die Rettung Griechenlands führen die Athener geschickt189 die außergewöhnlichen Ehrungen190 des Themistokles durch die Spartaner an.191 Die weitaus umfangreichste Argumentation ist nach dem Gesetz der wachsenden Glieder freilich dem letzten der drei § 1 genannten Beiträge gewidmet, der projumißa Athens (§ 2-4). Bei diesem Punkt nimmt auch die sprachliche Gestaltung an Intensität und Pathos zu, was schon der Neueinsatz mit einem eigenen Prädikat (eödeißcamen) zeigt. Zum Nachweis der athenischen projumißa, die mit dem durch kai? poluß emphatisch gesteigerten tolmhrotaßthn192 in ihrer Zielrichtung näher festgelegt wird, wird zunächst als Folie das Verhalten der anderen Griechen (ouödeißw, tvqn aällvn) in den Blick genommen, um einerseits davon die projumißa der Athener abzuheben und andererseits die angesichts der Verlassenheit von aller Hilfe und der Nähe (hädh meßxri hÖmvqn) der Gefahr hoffnungslose Lage Athens darzulegen, die seine toßlma noch bewundernswerter erscheinen lässt. Die Beschreibung des athenischen Handelns wird mit dem „gewichtigen“193 Prädikat höcivßsamen eingeleitet, dessen unmittelbare Zu188 Zur cußnesiw als Charakteristikum des Themistokles vgl. 138,3. 189 Vgl. Poppo-Stahl, a.a.O., 216: „Quod ipsi Lacedaemonii ita existimaverunt rem extra omnem ponit dubitationem.“ 190 Vgl. Hdt. 8,124,2f.: kaiß min Lakedaimoßnioi kalvqw me?n uÖpedeßcanto, megaßlvw de? eötißmhsan ... mouqnon dh? touqton paßntvn aönjrvßpvn tvqn hÖmeiqw iädmen Spartihqtai proeßpemyan. 191 Mit Luschnat, Krüger, Poppo-Stahl, Boehme-Widmann, Classen-Steup und Maddalena ist die Lesart der Hss. ABEFM kai? auötoi? dia? touqto dh? maßlista eötimhßsate der Lesart der Hss. C kai? auöto?n dia? touqto uÖmeiqw eötimhßsate maßlista dhß, die Jones-Powell, de Romilly und Alberti in den Text setzen (Gomme, a.a.O., 235 und Hornblower, a.a.O., 119 übernehmen sie, ohne die Stelle zu diskutieren), vorzuziehen, da durch die Fortführung des Relativsatzes oÜw aiötivßtatow ... mit auötoiß (= kai? oÜn auötoi? ...) pointiert die Bestätigung vonseiten der Spartaner hervorgehoben wird, vgl. Poppo-Stahl, a.a.O., 216.: „Qui auötoßn praeferunt ... vim sententiae infringunt. Nam de Themistoclis merito Atheniensium legati i p s o r u m Lacedaemoniorum existimationem afferunt.“ Vgl. auch Ros, J.G.A., Die metabolhß (Variatio) als Stilprinzip des Thukydides, Nimwegen 1938 (ND Amsterdam 1968), 445. 192 Zum Motiv der athenischen projumißa in den Perserkriegen vgl. 92,1; 2,36,4; 6,83,1, zur toßlma vgl. 90,1; 91,5; 2,43,1. Zu den Berührungen mit der Korintherrede (70,3) siehe unten S. 157. 193 Reich, a.a.O., 38. Vgl. auch Ebener, D., Kleon und Diodotos. Zum Aufbau und zur Gedankenführung eines Redepaares bei Thukydides (Thuk. III 37-48), Wiss. Zeitschrift der Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg 5, 1955-1956, 1085-1160, dort 1105 zu 3,39,3: „Dafür ist auch das gewichtige aöciouqn verwendet, ein ‚für wert, für angemessen halten’, nicht kritiklose Übernahme eines Gegebenen oder beiläufiger Anschluß an ein Vorüberziehendes, sondern das aus der Prüfung hervorgegangene Urteil ...“

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sammenstellung mit dem Partizip douleuoßntvn, mit dem die Neutralität bzw. offene Parteinahme der perserfreundlichen Griechen vernichtend beurteilt wird, den Gegensatz zwischen dem betont freien Entschluss der Athener und dem als sklavisch charakterisierten Verhalten der aälloi besonders eindringlich vor Augen führt. Wenn Thukydides die Athener mit dem Verbum aöciouqn von einer „sittlichen Forderung an sich selbst“194 sprechen lässt, greift er wiederum deutlich auf Herodot zurück, bei dem das Verdienst Athens noch stärker unter dem Blickpunkt einer Willensentscheidung steht, indem die Entscheidung Athens, wie durch das betonte Partizip eÖloßmenoi195 zum Ausdruck gebracht wird, als eine geistigsittliche Willenswahl gesehen wird, wie sie später bei Aristoteles der Terminus proaißresiw beschreibt.196 Wie dies bei Herodot, abgesehen vom Bild der Waage (ouWtoi ga?r eöpi? oÖkoßtera tvqn prhgmaßtvn eötraßponto, tauqta rÖeßyein eämelle), durch den Nachweis der verschiedenen Optionen veranschaulicht wird, stellen auch die athenischen Gesandten bewusst denkbare Möglichkeiten gegenüber (mhd ö ... mhdeß – aöll ö). So habe man die Stadt geräumt und das Hab und Gut der Zerstörung preisgegeben – zur Steigerung ihrer Opferbereitschaft stilisieren sich die Athener sogar zum Urheber des Verderbens (diafjeißrantew197) –, nicht etwa um die noch übrigen Bundesgenossen im Stich zu lassen oder sich zu zerstreuen,198 sondern um den Kampf auszutragen.199 Dabei erfüllen die negierten Glie194 Classen-Steup, a.a.O., 139. 195 Hdt. 7,139,5: eÖloßmenoi de? th?n &Ellaßda perieiqnai eöleujeßrhn, [touqto] to? &Ellhniko?n paqn to? loipoßn, oÄson mh? eömhßdise, auötoi? ouWtoi hQsan oiÖ eöpegeißrantew kai? basileßa metaß ge jeou?w aönvsaßmenoi. 196 Vgl. Kleinknecht, a.a.O., 551. 197 Vgl. die Angabe in den Scholien: ... to? diafjarhqnai eöaßsantew. Identisch wird fjeißrein in der Euphemosrede 6,82,4 gebraucht, wo der athenische Opfermut ebenfalls mit freiwilliger douleißa gegenüber den Persern kontrastiert wird: ... ouök eötoßlmhsan (sc. oiÖ $Ivnew kai? nhsivqtai) aöpostaßntew ta? oiökeiqa fjeiqrai, vÄsper hÖmeiqw eöklipoßntew th?n poßlin, douleißan de? auötoiß te eöboußlonto kai? hÖmiqn to? auöto? eöpenegkeiqn. 198 Vgl. etwa die Drohung des Themistokles Hdt. 8,62,2, nach Westen auszuwandern. 199 Die allein in unserer Rede dreimal begegnende Formulierung eösbaißnein eöw ta?w nauqw (73,3, hier und 74,4; vgl. daneben 18,2; 91,5; 93,6) wurde regelrecht zum Schlagwort für den Sieg von Salamis (vgl. das Themistoklesdekret Z.13f. [Meiggs, R./Lewis, D., A Selection of Greek Historical Inscriptions to the end of the fifth century B.C. I, Oxford 1969, Nr. 23]) und überhaupt zum Ausdruck militärischer Überlegenheit gerade etwa im Gegensatz zur spartanischen Strategie auf dem Landweg, die stereotyp mit den Worten eösbaßllein eöw th?n §Attikhßn bzw. teßmnein th?n §Attikhßn umschrieben wird (58,1; 71,4; 81,6; 82,3-5; 101,1; 109,2; 114,1f.; 125,2; 143,4). Diese Polarität tritt schon am Ende der Archäologie in Erscheinung (18,2): dunaßmei ga?r tauqta meßgista diefaßnh: iäsxuon ga?r oiÖ me?n kata? ghqn, oiÖ de? nausißn.

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der nicht nur die Funktion, die Freiheit des athenischen Entschlusses zu unterstreichen und die getroffene Entscheidung in ihrer Bedeutung zu würdigen, darüber hinaus verbirgt sich dahinter eine Kritik (vgl. douleuoßntvn) an den perserfreundlichen Griechen, deren mangelnde Hilfeleistung bzw. Verständigung mit den Persern durch eben die von den Athenern nicht gewählten Alternativen to? ... koino?n prolipeiqn und aöxreiqoi ... geneßsjai charakterisiert werden könnte. Dieser Gegensatz zwischen dem bedingungslosen Einsatz der Athener und der Haltung der aälloi wird durch das pathosgeladene mhd ö vÄw, mit dem auf die vorausgeschalteten Partizipialausdrücke eöklipoßntew th?n poßlin und ta? oiökeiqa diafjeißrantew Bezug genommen ist, effektvoll verschärft. Hatte die Gedankenführung in organischer Entwicklung mit kinduneuqsai ihren Abschluss und Höhepunkt erreicht, so nimmt sie in einem vierten von höcivßsamen abhängigen Infinitivglied, das durch die fast zeugmatische Anbindung (höcivßsamen ... kinduneuqsai kai? mh? oörgisjhqnai) besonderes Gewicht erhält, eine etwas überraschende Wendung. Auf gleicher Stufe wie ihren Einsatz in der Schlacht führen die Athener als weitere Konsequenz ihres aöciouqn an, keinen Groll gegen die Spartaner wegen ausgebliebener Hilfeleistung200 gefasst und so etwa von ihrem Eifer abgelassen zu haben. Nicht damit genug, dass Spartas Verdienste in den Perserkriegen durch die thematische Beschränkung auf Marathon und Salamis ausgeblendet werden,201 wird den Spartanern indirekt – dass die Athener über die Spartaner in ihren Augen sehr wohl hätten erzürnt sein können bzw. es auch waren,202 beweist gerade die Formulierung höcivßsamen ... mh? oörgisjhqnai203 – durch den Kontrast mit der projumißa Athens der Vorwurf der Bequemlichkeit (ouö proutimvrhßsate) gemacht und sogar vorgehalten, durch ihr passives Verhalten die Athener an ihrem Einsatz und damit an der Rettung Griechenlands beinahe gehindert zu haben. Für die augenblickliche Situation beinhaltet die idealisierende Selbstdarstellung der Athener (höcivßsamen ... mh? oörgisjhqnai) gleichzeitig eine Aufforderung an die Spartaner, sich ebenso wenig wie sie damals 200 Vgl. Hdt. 8,40,2: dokeßontew ga?r euÖrhßsein Peloponnhsißouw pandhmei? eön thq# Boivtißh# uÖpokathmeßnouw to?n baßrbaron, tvqn me?n euWron ouöde?n eöo?n ... 201 Vgl. dagegen die gedrängte Behandlung der Perserkriege 18,1f., in der nicht nur die Zusammenarbeit der beiden Großmächte betont wird (koinhq# ... aöpvsaßmenoi to?n baßrbaron), sondern Spartas Rolle sogar eher in den Vordergrund gestellt wird (... oiÖ ... Lakedaimoßnioi tvqn cumpolemhsaßntvn &Ellhßnvn hÖghßsanto dunaßmei proußxontew ...). 202 Vgl. Hdt. 9,6: ... eöw Lakedaißmona ... eäpempon aöggeßlouw ... memyomeßnouw toiqsi Lakedaimonißoisi oÄti perieiqdon eösbaloßnta to?n baßrbaron eöw th?n §Attikh?n aöll ö ouö meta? sfeßvn höntißasan eöw th?n Boivtißhn ... 203 Vgl. Hornblower, a.a.O., 119: „... by saying ‚we did not take offence’ the Athenians are here saying in effect ‚we might well have taken offence, but didn’t’.“

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ihnen gegenüber von der oörghß leiten zu lassen und der gegen Athen gerichteten katabohß204 ihrer Bundesgenossen kein Gehör zu schenken. Wurde durch das letzte Infinitivglied als Folie für die athenische projumißa die Haltung Spartas bereits in den Blick genommen, so weitet sich die Argumentation § 3 zu einer Synkrisis205 der Leistungen der beiden Großmächte aus. Zunächst ziehen die Sprecher ihr Fazit (vÄste) aus den eben gemachten Ausführungen, das durch die komparativische Formulierung (ouöx hWsson hä) die folgende direkte Gegenüberstellung (uÖmeiqw meßn – hÖmeiqw deß) unmittelbar einleitet. Sehr bestimmt konstatieren (fameßn206) die Athener, den Spartanern weit mehr207 Beistand geleistet als ihrerseits von ihnen empfangen zu haben. Als Begründung (gaßr) für dieses pauschale Urteil wird im Folgenden dezidiert die Leistung der Athener und Spartaner im Hinblick auf die jeweilige Ausgangslage der poßliw, die Erfolgsaussichten und die wechselseitige Hilfestellung im Vergleich untersucht. Während die Spartaner von unzerstörten Städten aus in der sicheren Erwartung, sie auch in Zukunft zu bewohnen, in den Kampf gezogen seien, hätten sich die Athener ohne begründete Hoffnung, ihre eingenommene Vaterstadt wiederzuerlangen, der Gefahr ausgesetzt. So wird die projumißa Athens gerade vor dem Hintergrund der weitaus günstigeren Voraussetzungen der Spartaner besonders deutlich. Bei aller Parallelität, mit der sich die Angabe aöpo? oiökoumeßnvn tvqn poßlevn und die drastische Formulierung aöpo? thqw ouök ouäshw eäti208, mit der das eroberte Athen umschrieben wird, entsprechen, symbolisiert schon die leichte variatio bei der sprachlichen Gestaltung des zweiten Vergleichspunkts (eöpi? tvq# ... – uÖpe?r ...) einen diametralen Unterschied: Sind auf spartanischer Seite mit aöpoß und eöpi? tvq# Ausgangs- und Zielpunkt folgerichtig gegenübergestellt, ist bei den Athenern eine klare Aussage über Zukunftsperspektiven erst gar nicht 204 Zum Begriff katabohß siehe oben S. 80, Anm. 152. 205 In betonter Abgrenzung zu der von den Korinthern geführten Synkrisis wird hier das dynamische Wesen Athens nicht als Störungspotential verstanden, sondern als projumißa in der Perspektive des Wohltäters positiv gefasst. Dementsprechend erfährt auch die den Spartanern von den Korinthern vorgeworfene Passivität eine Umdeutung: Hatten die Korinther in der Zögerlichkeit der Spartaner letztlich die Ursache für die aggressive Politik Athens gesehen, werten die Athener das Verhalten Spartas als Bequemlichkeit, die Athen beinahe an der Rettung Griechenlands gehindert hätte. 206 Damit ist das feierliche fame?n gaßr (73,4) wieder aufgenommen. 207 Vgl. Classen-Steup, a.a.O., 210: „ouöx hWsson ... hä ist ... mit starker Zurückdrängung, aber doch nicht vollständiger Negierung des 2. Gliedes gesagt ...“ 208 Vgl. die kränkenden Worte des Korinthers Adeimantos an Themistokles Hdt. 8,61,1: tauqta leßgontow Jemistokleßow auQtiw oÖ Korißnjiow §Adeißmantow eöpefeßreto, sigaqn te keleußvn tvq# mhß eösti patri?w kai? Euörubiaßdhn ouök eövqn eöpiyhfißzein aöpoßli aöndri? ...

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möglich. Geschickt differenzieren die athenischen Gesandten auch in der Bewertung des jeweiligen Einsatzes. Während die spartanischen Aktionen mit einem schlichten bohjeiqn bedacht werden, sprechen die Athener sich den Erfolg zu (cunesvßsamen) und betonen durch das Partizip kinduneußontew erneut ihren Opfermut. Den entscheidenden Unterschied freilich sehen die Gesandten in der gegenseitigen Anteilnahme am jeweiligen Schicksal. Im Gegensatz zu den Spartanern, die sich nur aus egoistischen Gründen aufgerafft hätten, was vom Zeitpunkt ihres Eingreifens abgeleitet wird, hätten die Athener die Spartaner gleichermaßen wie sich selbst gerettet. Pointiert ist dabei die nur auf den eigenen Nutzen gerichtete Motivation Spartas durch die ausdrückliche Negierung kai? ouöx hÖmvqn und das „mit Ironie“209 ablehnende to? pleßon mit dem athenischen Verhalten (cunesvßsamen210) kontrastiert. Gleichzeitig ist dem stolzen höcivßsamen (§ 2) mit eöpeidh? eödeißsate uÖpe?r uÖmvqn ein deutlich geringerer Beweggrund gegenübergestellt, womit die Mitwirkung der Spartaner herabgesetzt wird. § 4 lässt Thukydides die Gesandten in enger Anlehnung an die Argumentation Herodots im Athenerpassus211 nach 73,4 erneut durch eine hypothetische Beweisführung die Schlüsselrolle Athens herausarbeiten: Hätten sich die Athener nach dem Beispiel der perserfreundlichen Griechen, die „mit Geringschätzung“212 nur aälloi genannt werden, aus Angst213 um ihr Land den Persern ergeben oder in ihrer Verzweiflung es nicht gewagt, sich auf eine Seeschlacht einzulassen, wären die Spartaner – so wird „mit Ironie“214 (ouöde?n aün eädei) gesagt – bei ihrem geringen Kontingent an Schiffen chancenlos gewesen, und Xerxes hätte in Ruhe seine Pläne verwirklichen können.

209 Classen-Steup, a.a.O., 211, vgl. auch Maddalena, Bd. 2, 154. 210 Gerade die Verwendung zweier Wörter aus dem Wortfeld sv#ßzein (oÄte gouqn hQmen eäti svqoi, ouö paregeßnesje – cunesvßsamen) soll verdeutlichen, dass sich die Spartaner im Gegensatz zu Athen nur um die eigene svthrißa gekümmert hätten. 211 Hdt. 7,139,2: eiö §Ajhnaiqoi katarrvdhßsantew to?n eöpioßnta kißndunon eöceßlipon th?n sfeteßrhn, hü kai? mh? eöklipoßntew aölla? meißnantew eädosan sfeßaw auötou?w Ceßrch#, kata? th?n jaßlassan ouödamoi? aün eöpeirvqnto aöntieußmenoi basileßi_. Vgl. auch Hdt. 8,63: aöpolipoßntvn ga?r §Ajhnaißvn ouökeßti eögißnonto aöcioßmaxoi oiÖ loipoiß. 212 Classen-Steup, a.a.O., 211. 213 Mit deißsantew ist wohl sekundär ein Seitenhieb auf die Spartaner beabsichtigt, deren Motivation zur Hilfeleistung eben mit eöpeidh? eödeißsate erklärt wurde (§ 3). 214 Classen-Steup, a.a.O., 211: „... ‚so hättet ihr nicht mehr zu schlagen gebraucht’, weil ihr es nämlich nicht gekonnt hättet.“ Vgl. auch Maddalena, Bd. 2, 154: „l’ironia dell’eädei è acutissima: fa balenare l’idea d’una sicurezza raggiunta, ma dice invece la certezza della sconfitta.“

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Insgesamt lässt Thukydides die athenischen Gesandten in diesem ersten Hauptteil der Rede über Herodots Argumentation hinausgehen. Erbringt dieser in einer fortlaufenden Kette irrealer Gedankengänge den Beweis dafür, dass Athen die Rettung Griechenlands zu verdanken sei, ohne jedoch Spartas Verdienste zu schmälern – für ihn verliert der Heldenmut der Spartaner, wie er etwa im Demaratgespräch, in der Episode von den Herolden Sperthias und Bulis, in der Darstellung der Thermopylenkämpfer215 und im Diktum des Dienekes zum Ausdruck kommt, allenfalls an politischer Bedeutung216, ihre projumißa jedoch steht außer Zweifel –, argumentieren die Athener stets mit Blick auf Sparta und versuchen zur Untermauerung ihres Anspruchs ouäte aöpeikoßtvw eäxomen aÜ kekthßmeja über die thematische Verengung auf Marathon und Salamis hinaus die Leistung Spartas herabzusetzen. Der zweite Hauptteil der Rede (75,1-76,2)217 behandelt die Entstehung und Festigung der attischen Herrschaft, knüpft also zeitlich an die Ausführungen des ersten Teils an. Die Überleitung zwischen den beiden Teilen erfolgt durch eine raffiniert formulierte rhetorische Frage (§ 1):