Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart: Festschrift für Ernst C. Hellbling zum 80. Geburtstag. Hrsg. von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg [1 ed.] 9783428448234, 9783428048236

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Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart: Festschrift für Ernst C. Hellbling zum 80. Geburtstag. Hrsg. von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg [1 ed.]
 9783428448234, 9783428048236

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Aus Osterreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart Festschrift für Ernst C. Hellbling

Aus Osterreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart Festschrift für Ernst C. Hellhling zum 80. Geburtstag

herausgegeben von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg

DUNCKER & HUMBLOT . BERLIN

Redaktion: Dr. Dorothea Mayer-Maly

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1981 Duncker & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1981 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04823 7

INHALTSVERZEICHNIS

Grundlagen des Rechts

Juristische Interpretation und Rechtsstaat Von Jose! Walter Aichlreiter ...................... , . . . . . . . . . . . . . . .. .

3

Verdeckte Wurzeln des Marxismus Von Michael W. Fischer............................................

21

Juristisches Spezialistentum und enzyklopädische Jurisprudenz Von Theo Mayer-Maly .............................................

31

Das Gesetz und seine Funktionen heute Von Herbert Schambeck ................................ . ...... . ....

45

Der rechtsphilosophische Gehalt von Grundsätzen des Verwaltungsverfahrens Von Helmut Schreiner

61

Die geistigen und historischen Wurzeln der großen europäischen Revolution Von Heinrich Strakosch ............................................

71

Die Freiheitsforderung als Kriterium der Gerechtigkeit Von Ilmar Tammelo .................................... . ...........

95

Die Entfaltung der reformatorischen Natur- und Völkerrechtslehre bis Leibniz Von Alfred Verdross ............................................... 105

Inhal tsverzeichnis

VI

Öffentliches Recht Die Weiterentwicklung des britischen Verwaltungs rechts Von Wabe H. Balekjian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 117 Fragen des allgemeinen Verwaltungsrechtes als Gegenstand der Zusammenarbeit im Rahmen des Europarates Von Klaus Berchtold .......................... . .................... 131 Adolf Merkl und die Verfassungsreform 1929 Von Felix Ermacora ................................................ 151 Bemerkungen zu einem System der Verwaltungs kontrolle Von Hans-Ulrich Evers ............................................. 159 Die "Anwendung unmittelbarer (verwaltungs)behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt" im Lichte neuerer Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts Von Bemd-Christian Funk ......................................... 175 Die Bewilligung zur Zerstörung eines Denkmals als Ermessensproblem Von Herbert Hofer-Zeni ............................................ 209 Gedanken zur Problematik des österreichischen Anhaltungsrechts und zu seiner Reform Von Raimund Jakob ............................................... 223 Region und Landschaft Von Hans R. Klecatsky ................................ . . . . . . . . . . . .. 241 Zur neueren Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu Flächenwidmungsplänen Von Erwin Melichar ................................................ 251 Arzneimittelbegriff im Wandel Von Erhard Mock .................................................. 271

Inhaltsverzeichnis

VII

Verhandlungs- und Entscheidungskonzentration am Beispiel einer gewerblichen Betriebsanlage Von Hans Neuhofer ................................................ 281 Die Säumnisbeschwerde in Verfassungsangelegenheiten Rechtsschutzfrage

eine offene

Von Richard Novak ................................................ 299 Zur Entstehung, Begründung und zu Entwicklungsmöglichkeiten des österreichischen Föderalismus Von Theo Öhlinger ................................................. 313 Zur Bedeutung der bundesverfassungsrechtlichen Festlegung des Bundesgebietes Von Heinz Peter Rill ............................................... 343 über Grundrechte und deren Durchsetzung im innerstaatlichen Recht Von Kurt Ringhofer ................................................ 355 Eurocontrol: Wechselwirkungen staatlicher und internationaler Jurisdiktion Von Christoph Schreuer ..................................... . ...... 371 Grundrechtsschutz auch für konventionelle Daten? Von Harald Stolzlechner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 383 Ist der Zwang zur Trauung vor dem Standesbeamten grundrechtskonform? Von Wolfgang Waldstein ........................................... 401 Die einfache Volksgesetzgebung nach Art. 43 B-VG Von Manfried Welan .............................................. 419

Rechtsgeschichte Vom neo-ständischen Staatselement zum lokalen Verwaltungssprengel: Das österreichische Gutsgebiet Von Wilhelm Brauneder ............................................ 435

VIII

Inhal tsverzeichnis

Landfriede und Verfassung Von Arno Buschmann ....... . ...................................... 449 Das Haus zum grünen Lindwurm eines Wiener Bürgerhauses

Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte

Von Heinrich Demelius ............................................. 473 Privatrecht in Lateinamerika Von Hermann Eichler .............................................. 481 Das Kloster stams und das Land Tirol Von Nikolaus Grass ....................... . ........................ 509 Die Militärgerichtsbarkeit in Strafsachen im Zeitalter Maria Theresias Von Friedrich Hartl .............. , .............................. '"

525

Das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KWEG) von 1917 Von Gernot D. Hasiba .............................................. 543 Die österreichische "Eigentümerhypothek" als rechtsdogmatisches und rechtspolitisches Problem Von Herbert Hofmeister ......................... " ................. 567 Tiroler Rechtsleben vor dem ABGB im Spiegel der Wiener Revisionsinstanz Von Gernot Kocher ................................................ 597 Die österreichische Juristentradition des Vormärz im Widerstreit mit den Reformen des Ministers Grafen Thun Von Gerhard Oberkofler ........................................... 613 Das Ende der Stadtministerialität in den landes fürstlichen Städten Österreichs Von Richard Perger ................................................ 645 Necessitas non habet legern? Von Johannes W. Pichler ........................................... 659

Inhaltsverzeichnis

IX

Die landständische Steuerexekution in Oberösterreich von ihren Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Von Gerhard Putschögl ............................................. 683 Zur Legislative der frühen Neuzeit im Erzstift Salzburg Von Peter Putzer ........... , ....................................... 707 Die Bergrechtsentwicklung im Ostalpenraum in der frühen Neuzeit am Beispiel des Queck.silberbergwerks Idria Von Helfried Valentinitsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 731

Anhang

Verzeichnis der Veröffentlichungen von Ernst C. Hellbling ............ 745 Verzeichnis der Mitarbeiter ... . . . ...................................... 753

ERNST CARL HELLBLING ZUM 80. GEBURTSTAG Ernst Carl HellbLings Jugendziel war es keineswegs, Jurist zu werden. Vielmehr fühlte er sich von der Mathematik angezogen. Ist der Mathematik ein gewiß hervorragender Vertreter entgangen, so darf sich die Jurisprudenz um so mehr eines ganz besonderen "Verlegenheitsjuristen" - wie der als humorvoll und fröhlich bekannte Gelehrte sich selbst mitunter scherzhaft bezeichnet - erfreuen, der die Rechtswissenschaft durch seinen naturwissenschaftlichen Stil bereichert. Hellbling, am 2. Jänner 1901 geboren, aus kaufmännischem Milieu kommeIlld, begann 1918 an der Universität Wien das Studium der Rechtswissenschaften. Daß er den Abschluß ,subauspicüs praesidentis' verfehlte, ist nur den während seines Studiums geänderten Bedingungen zuzuschreiben. Den dennoch ausgezeichneten Studienerfolg hält Hellbling bescheidenerweise für ein Verdienst seiner großen Lehrer: des Romanisten Moritz Wlassak, der Germanisten Ernst v. Schwind und Hans v. Voltelini, des Wirtschaftshistorikers Alfons Dopsch, der Zivilisten Joseph v. Schey und Moritz v. Wellspacher und Ernst Hellblings späteren Freundes und Kollegen Heinrich Demelius, des Strafrechtlers Wenzel Graf Gleispach, des mehr der Philosophie und Gesellschaftslehre zugewandten Volkswirtschaftslehrers Othmar Spann und insbesoilidere der beiden großen Staatsrechtler und Rechtsphilosophen Hans Kelsen und Adolf Julius Merkl. Hellblings wissenschaftliches Interesse war damit geweckt und in die Problematik der Zeit gestellt. Schon damals verfestigte sich Hellblings wissenschaftlicher Standort, der von bewußter Äquidistanz zu Schulen gekennzeichnet ist. Dem Positivismus, der ihn intellektuell zutiefst beeindruckte und dem er heute noch Rechtssicherheit zuerkennt, blieb Hellbling aus der intuitiven Sorge fern, daß eine wesentlich formale Doktrin praktischer Belastung dann nicht gewachsen sei, wenn ein omnivalenter Staat sich ihrer bedient. Diese Befürchtung war auch durch die Anerkennung einer Grundnorm nicht ganz abzuschwächen. Die Entwicklung sollte ihm auf tragische Weise recht geben! Andererseits schien Hellbling das Lehrgebäude des Naturrechts auch nicht unbedenklich beziehbar, weil dieses ihm in seinem Anspruch auf universelle Gültigkeit überzogen vorkam; ein ausschließlich präpositives Postulat barg ihm zuviel Gefahr der Rechtsunsicherheit in sich. Dennoch war und ist für ihn der Kern des Rechts voluntaristischem Zugriff entzogen; dieser Kern liegt in der

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Ernst earl Hellbling zum 80. Geburtstag

Freiheit des Menschen und in seinem Anspruch auf Selbstentfaltung. Recht ist für Hellbling ein Regulans für Menschen, die zur gesellschaftlichen Verbindung bestimmt sind, aber ob der je eigenen Einmaligkeit ihrer Schöpfung einem absoluten Anspruch des Staates nicht unterliegen. Dies ist die geistige Grundlage des Bekenntnisses zu Kategorien des Rechts wie Treu und Glauben, Anstand, gute Sitten und Billigkeit. Freilich setzt der Humanist Hellbling stillschweigend ein Minimum an gesellschaftlichem Konsens voraus: den Willen miteinander auszukommen. Diese Position wird dem Leser seiner Arbeiten gewiß nicht plakativ vorgestellt. Seine Zurückhaltung machte Hellbling aufwendigem Intellektualisieren ebenso abhold wie dem Aufdrängen seines, evangelischem Bekenntnis entspringenden Weltbildes. Daher rührt auch der Verzicht auf die Verwendung eines politisch oder schulmäßig besetzten Begriffsinstrumentars. Damit zeigt aber Hellbling keinesfalls weltanschauliche Abstinenz; die kontinuierlichen Grundlinien seiner Arbeiten lassen erkennen, daß er seit den Anfängen seiner wissenschaftlichen Arbeit bei seinem Weltbild geblieben ist. Daß bei diesem Reflexionsniveau dem Juristen Hellbling eine steile Karriere offenstand, mutet geradezu selbstverständlich an. Nach einer an längst vergessene Tradition anknüpfenden Kavalierstour durch Europa sowie einer kurzen Tätigkeit im elterlichen Wirtschaftsbetrieb und der Absolvierung des Gerichtspraktikums trat Hellbling 1926 in den Verwaltungsdienst beim Magistrat Wien ein. Schon 1948 das Amt eines Obersenatsrates erklommen zu haben, war dem jeder Parteipolitik abgeneigten Musterbeamten der Lohn für seine über den Fleiß hinausgehenden Qualitäten: Integrität, Unbestechlichkeit und Freundlichkeit. Neben der ihn erfüllenden Tätigkeit als Beamter folgte Ernst Hellbling einer Anregung Hans v. Voltelinis, die Geschichte des österreichischen Strafrechts zu erforschen. Den Erfolg sollte der Initiator nicht mehr erleben; Hans Planitz war es, der 1948 der Wiener Fakultät die Annahme der Habilitationsschrift "Grundlegende Strafrechts quellen der österreichischen Erbländer vom Beginn der Neuzeit bis zur Theresiana" vorschlug. Seit dem Erwerb der venia legendi widmete Hellbling sein Schaffen sowohl der Praxis als auch der Wissenschaft, die er beide in ihrer gegenseitigen Bezogenheit verwirklichte: Den Magistrat vertrat nun in wissenschaftlicher Manier ein Beamter bei den höchsten Gerichten, und die Studenten hatten einen Lehrer bekommen, dessen Fallösungen ein Höchstmaß an Praktikabilität boten. Nach dem Ausscheiden aus dem Verwaltungsdienst infolge Erreichung der Altersgrenze gab sich Ernst Hellbling seiner größten Freude hin und ging ganz in die Wissenschaft. Er übernahm 1965 das Ordinariat für Deutsches Recht und Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte an der wiedererrichteten Universität Salzburg. Trotz der star-

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ken Inanspruchnahme in Salzburg - das Institut war aufzubauen, der Lehrbetrieb seiner Fächer war ausschließlich von ihm zu bestreiten, seine Prüfungstätigkeit umfaßte nicht bloß seine eigenen Fächer, sondern im zweiten Studienabschnitt Handelsrecht und im dritten Studienabschnitt Verfassungs- und Verwaltungsrecht - blieb er bis zum heutigen Tag der Universität Wien treu. Der Salzburger Rechtsfakultät war er beliebter Kollege, beeindruckender Lehrer und korrekter Prüfer sowie vornehmer Institutsvorstand - was hier von einem behauptet werden darf, dem es Ehre und Vergnügen ist, sein Mitarbeiter gewesen zu sein. Nach der 1971 erfolgten Emeritierung brauchte auch die Universität Salzburg auf Hellblings schöpferische Kraft nicht zu verzichten. Bis heute - und wir alle wünschen noch recht lange! - bietet Hellblingan beiden Fakultäten Vorlesungen abwechselnd über Neuere Geschichte, Rechtsgeschichte, Finanzrecht und Verwaltungsverfahren an. Ernst Hellblings wissenschaftliche Arbeiten hier insgesamt zu würdigen, ist unmöglich. Sein in über fünfhundert Publikationen niedergelegtes Werk, das kaum ein Gebiet der Rechtswissenschaft unberührt läßt, ja sogar die Auseinandersetzung mit Religion und Philosophie nicht vermissen läßt, könnte nur aufzählungsweise angeboten werden. Das angeschlossene Schriftenverzeichnis spricht da aber eine aussagekräftigere Sprache. Daher sei hier an die anläßlich früherer Ehrungen verfaßten Würdigungen erinnert: Hellblings Schüler Theo Mayer-Maly hat in der Festschrift Hellblings zum 70. Geburtstag und im Staatsbürger vom 27. 1. 1976 und Karl Marschall in der Österreich ischen Juristenzeitung 1976 Hellblings Arbeit und Wirken beleuchtet. Hier sei nur auf das Werk der seither verstrichenen Jahre kurz hingewiesen; aber selbst das kann ob der neuerlichen Fülle von Arbeiten nur punktuell geschehen. Hellblings auch nach der Emeritierung ungebrochene schöpferische Kraft zeigt sich darin, daß das große Standardwerk der österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte in einer zweiten, verbesserten und ergänzten Auflage vorgelegt wurde (Schriftenverzeichnis, Nr. 4). Hervorhebenswert erscheint an Hellblings Arbeit, daß er persönlich daran teilnimmt und den hermeneutischen Zirkel keineswegs negativ versteht. So beleuchtet er das Verhältnis von Staat und Kirche (Nr. 100) nicht mit Objektivitätsanspruch, sondern erklärterweise aus der Sicht seines Bekenntnisses. Betreibt Hellbling Rechtsgeschichte, so erfüllt er die jüngsten Postulate dieser Disziplin: ergänzend und aufklärend der aktuellen Diskussion zur Seite zu treten, um den Raum der erfahrenen Geschichte nutzbar zu machen. Durch Arbeiten zu Versuch und Mitschuld (Nr. 365) und

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zu Täterwillen und Schuldform (Nr. 366) werden historische Denkweisen erschlossen, die die Phantasie der heutigen Strafrechtsdiskussion beflügeln können. Weil Hellbling von Aktuellem und Zukunftsweisendem fasziniert ist, zeigen seine Lösungsvorschläge eine besondere Note: Sie beharren nicht auf einer Problembewältigung mit Hilfe des bestehenden Rechts, sondern beziehen die Veränderbarkeit des Rechts mit ein. Unversehens spannt sich das Spektrum von der Rechtsgeschichte zur Rechtspolitik was einer immanenten Anlage der Rechtsgeschichte entspricht, die aber nicht immer ausgeschöpft wird. Verfaßt Hellbling Aufsätze über Änderung des Wahlrechts (Nr.93), Festigung des Rechtsstaates (Nr.95), Fragen an die Verfassung (Nr.105), überdenken traditioneller Verwaltungsgerichtsbarkeit (Nr. 106), Plebiszitäre Demokratie (Nr. 373) oder das in unübersichtliche Bewegung geratene Hochschulrecht (Nr. 334 - Nr. 348), so überschreitet er den Rahmen herkömmlicher Betrachtungsweise und betreibt engagierte Wissenschaft. Er spart nicht mit Hinweisen auf unzulässige Beeinträchtigungen und Brüche des Rechts durch Politik und Macht, legt aber zugleich offen, wo abgestorbenes Recht der von ihm kritisch beobachteten gesellschaftlichen und sozialen Veränderung angepaßt werden muß. Niemals bleibt er beim Konstatieren; immer wird ein konstruktiver Vorschlag angeboten, der der Rechtsidee gerecht werden will. Daß er damit unbequem wird, nimmt Hellbling in Kauf. Eine große Gruppe kleinerer Arbeiten, die einer breiteren Abhandlung wert wären (Nr. 107 - Nr. 216, Nr. 237 - Nr. 266), wirft ein weiteres, höchst bedeutsames und charakterisierendes Licht auf die Gelehrtenpersönlichkeit: Er dient. Er schreibt nämlich nicht nur für seinesgleichen um den hohen Lohn der wissenschaftlichen Anerkennung, sondern er versucht mit und durch Anschaulichkeit und Bündigkeit dem durchschnittlichen Staatsbürger auf schlichte Weise Recht zu erklären. Er dient damit aber nicht nur diesem Staatsbürger, sondern auch dem Recht. Dieses kann auf Dauer nämlich nur vom Konsens der Adressaten getragen werden. Diesen dadurch zu fördern, daß Rechtsprobleme der Struktur nach allgemeinverständlich gemacht werden, gelingt Hellbling. Endlich gilt es, eines besonderen Merkmals der Arbeiten Hellblings zu gedenken. Sie sind von Weitblick getragen. Der erkannten, zunehmend bestimmenderen Internationalisierung staatlichen Rechts bringt Hellbling seit langem schon große Aufmerksamkeit entgegen; das Völkerrecht ist für ihn keine isolierte Disziplin (Nr. 291 - Nr. 326). Um aber die schon begonnene Zukunft unseres Rechts nicht der Fremdbestimmung zu überlassen, will er mehr denn je die Machbarkeit eines internationalen Verwaltungsrechts überprüfen. Es steht außer Zweifel, daß das Ergebnis in die hiemit als Desiderat urgierte und von Hellbling erklärtermaßen ins Auge gefaßte Neufassung seines zweiten großen Standard-

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werkes, dem Kommentar zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen, einfließen wird. Daß auch dieser großen Aufgabe der gewohnte Erfolg beschieden sein möge, dies ist zum Jubiläum der Wunsch aller, aber insbesondere der seines Schülers Johannes W. Pichler

Grundlagen des Rechts

JURISTISCHE INTERPRETATION UND RECHTSSTAAT Von Josef Walter Aichlreiter Das Schreckensbild der Gesetzesflut stört die politischen Kräfte immer wieder auf und veranlaßt sie, Auswege aus dem immer undurchdringlicheren Gestrüpp des Gesetzesautomatismus zu suchen. So soll der Obmann der großen Oppositionspartei zu Beginn des Jahres 1980 seine Bereitschaft zur Diskussion über eine Lockerung der rigorosen Bindung der Verwaltung an das Gesetz erklärt haben, wenn dafür dem Parlament und damit der Opposition größere Kontrollrechte eingeräumt würden. "Also mehr politische auf Kosten der rechtlichen Kontrolle?"1 Eine am Themenkatalog der Rechtswissenschaft orientierte Auseinandersetzung mit diesen Vorstellungen kann sich nun nicht der politikwissenschaftlichen Fragestellung widmen, aus welcher spezifischen Konstellation der politischen Parteien zueinander diese Äußerung resultiert, sondern es wird vielmehr geboten sein, auf die damit angesprochenen grundlegenden Fragen der staatsrechtlichen Struktur unserer Rechtsordnung skizzierend einzugehen. Auch gegen die folgenden Darlegungen kann daher mit Recht eingewendet werden, daß in ihnen der eine oder andere Gesichtspunkt zu wenig oder überhaupt nicht berücksichtigt wird, doch ist es nicht das Anliegen, eine möglichst umfassende Systematisierung aller nur möglichen Argumentationsstandpunkte zu liefern, sondern die sich aus der Sicht der österreichischen Rechtsordnung wie des von ihrem staatsrechtlichen Verständnis geprägten Rechtsstaatsbegriffs als wesentlich erweisenden Gesichtspunkte hervorzuheben und ihre wechselseitige Beeinflussung aufzuzeigen. Dabei ist das Problem der Normenflut bekanntermaßen keineswegs auf Österreich beschränkt2 • Erst in letzter Zeit hat sich SchmitzS unter dem Titel "Die Gesetzesflut" mit dem ,legistischen perpetuum mobile' beschäftigt, wobei seine Ausführungen weniger dem juristischen Dilemma als vielmehr dem volkswirtschaftlichen und staatsorganisatorischen Aspekt der Explosion der Staatsaufgaben nachgehen. Für ihn liegt eine der Wurzeln des der1 2

S

Die Presse, 10. 1. 80, 3.

z. B. Horst Sendler, Nonnenfiut und Richter, ZRP 1979, 227. Wollgang Schmitz, 7. ÖJT, Bd. T, 1. Teil B.

Josef Walter Aichlreiter

4

zeitigen Zustandes der Rechtsetzung in der "Formaldemokratie Kelsenscher Rechtsstaatlichkeit"4, nach der mit den erforderlichen Mehrheiten "im Parlament so ziemlich alles beschlossen werden kann, was sich dazu eignet, in Gesetzesform gekleidet zu werden". Gepaart mit einer immer umfassenderen Eingriffsbereitschaft des Staates wie aber auch dem Ruf nach ihr, führe dies zur Krise der staatlichen Verwaltung, die darin zum Ausdruck komme, "daß die Effizienz des politisch-administrativen Prozesses bei wachsenden Staatsausgaben zurückgeht"4'. Schmitz sieht hinter diesem äußerlichen Merkmal der Normenflut eine Krise des Staates, die um die Verteidigung oder Preisgabe der Trennung von Staat und Gesellschaft ringt5 • Sein Lösungsvorschlag orientiert sich am Subsidiaritätsprinzip, das durch Delegierung der Regelungskompetenz auf die kleineren staatlichen Einheiten und Reduzierung der Tätigkeit des States auf jene Agenden, für die er wirklich kompetent ist, die Qualität der Normenproduktion heben und die Erfolgskontrolle der Gesetzgebung sehr wesentlich erleichtern, also letztendlich einen stärkeren Staat hervorbringen würde6 • Nun liegt der Einwand nahe, daß die gesamte Diskussion um die ,Krise des Staates' gerade um die Angemessenheit der übertragung von Aufgaben an den Staat ringt, so daß mit einer so allgemeinen Formulierung nichts anderes als das Problem umschrieben wäre. Jedoch gibt Schmitz zwei Anhaltspunkte: Zum einen sei der Staat kompetent "als Ordnungsmacht und Schiedsrichter zwischen rivalisierenden Gruppen"7 und zum anderen sei der Staat von seiner finanziellen überforderung nur zu entlasten, "wenn wieder ein Zusammenhang zwischen der Beanspruchung seiner Leistungen mit einer gewissen finanziellen Gegenleistung dessen, der sie beansprucht, hergestellt wird"s. Nun wird diesen Gesichtspunkten beim Versuch einer Verringerung der Staatsaufgaben sicherlich Gewicht zukommen - Schmitz überlegungen lassen aber eine der wesentlichen Ursachen für den beklagten Zustand der Normenflut außer Betracht, nämlich den Aspekt der Rechtsstaatlichkeit, wie er gerade unserer Rechtsordnung durch Art. 18 B-VG in spezifischer Weise vorgegeben ist. Gerade die bundesstaatliche Struktur Österreichs muß bei konsequenter Anwendung eines Subsidiaritätsprinzips unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung des bisherigen Verständnisses des Legalitätsgrundsatzes zu einerVervielfachung des Normenmaterials führen, würde nicht das überwiegende Gewicht der Regelungskompetenz beim Bund Ebd.35. Ebd. 50. s Ebd.7. 6 Ebd.70. 7 Ebd.71. 8 Ebd.67. 4

4'

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verbleibenD. Damit zeigt sich aber, daß Schmitz zwar einen sicher wesentlichen Aspekt der Gesetzesflut, nämlich den der überbordenden Aufgabenübertragung auf den Staat aufgegriffen hat, wesentlichen anderen Aspekten aber zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Näherte sich also Schmitz dem Problem aus volkswirtschaftlicher Sicht, so gelingt es Mayer-MalylO aus der Sicht einzelner Fallstudien, die prekäre Situation offenzulegen. Mayer-Maly beleuchtet das Faktum der Gesetzesflut aus dem Blickwinkel des Rechtsirrtums als Folge der mangelnden Rechtskenntnis. Seine an § 2 ABGB anknüpfenden Überlegungen beinhalten auch eine berechtigte Kritik an der gerade in der österreichischen Lehre beliebten These, es handle sich bei der Forderung nach Selbstzucht des Gesetzgebers um eine solche der Rechtspolitik, weshalb sie von der rechtsdogmatischen Arbeit des Juristen säuberlich zu trennen sei. Mayer-Maly betont, "daß es kaum eine rechtsdogmatische Argumentation gibt, die nicht von rechtspolitischen Prämissen abhängt und rechtspolitische Wirkung zeitigt. Andererseits kommt vielen rechtspolitischen Themen mehr dogmatische Relevanz zu, als man gemeiniglich wahrhaben will"u. Neben dieser Aufforderung zur Ablegung einer methodischen Schwellenangst der Rechtswissenschaft vor der Auseinandersetzung mit Themen der hier gestellten Art12 sieht MayerMaly die Notwendigkeit einer Rechtsbereinigung durch ein "Programm der Vereinfachung des Rechts,n3, wie auch einer enzyklopädischen Jurisprudenz14 • Soll mit ersterem dem Gedanken der Verwurzelung des Rechts im Bewußtsein des Bürgers Rechnung getragen werden, weshalb einer immer weitergehenden Differenzierung und Spezialisierung ein Riegel vorzuschieben ist, so zielt letztere auf eine Jurisprudenz, "die auf das Recht als ganzes sieht" und will gleichermaßen einer zu frühen Spezialisierung, diesmal aber der Ausbildung der in der Praxis stehenden Juristen, vorbeugen. Mayer-Maly sieht die Gefahr, daß das Auseinanderklaffen von Rechtsgesinnung und Rechtsgeboten zu einem jener Zusammenbrüche der Rechtskultur führen muß, für die es in der Rechtsgeschichte nicht an Beispielen fehle. Zu jenem von Ehmke15 vorgeschlagenen Modell, nur das Wichtige durch parlamentarische Geg Auf die vergeblichen Bemühungen zu einer Vereinheitlichung des Baurechts gerade in gesellschaftspolitisch völlig irrelevanten Fragen, wie etwa der Türbreite oder der Höhe der Stufen von Stiegen, sei nur exemplarisch hingewiesen. 10 Theo Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut. 11 Ebd.78. 12 Deren wesentliche Ursache im Kelsenschen Reinheitsbegriff zu suchen sein wird. 13 Ebd.81. 14 Ebd.85. 15 Horst Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 75; der neue Verfassungsentwurf für den Aargau sieht übrigens gleiches vor.

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setze zu regeln und den Rest delegierten Normen zu überlassen, weist Mayer-Maly zum einen auf das zu Art. 18 B-VG entwickelte Gesetzesverständnis hin und zeigt neben dieser verfassungsrechtlichen Schranke die durch eine bloße Entlastung des Parlaments noch nicht gebannte "Gefährdung des Rechtsbewußtseins der Bürger" auf16 , weil daraus zwar am Rang nicht aber an der Zahl der zu erlassenden Normen eine Änderung folgt, womit dem Gedanken der Rechtskenntnis aber keineswegs gedient wäre. Will Mayer-Maly dem in der Komplexität der Gesellschaft begründeten "Differenzierungspostulat" durch eine stärkere Heranziehung des Instrumentes des Vertrages Rechnung getragen wissen17, so ist Nolls18 Einwand, daß es für die Einfachheit oder Kompliziertheit eines normativen Gefüges grundsätzlich gleichgültig ist, ob die geltenden Normen staatlichen oder vertraglichen Ursprungs sind, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Anerkennt Noll die substituierende Funktion derartiger Verträge an Stelle der Sozialgesetzgebung nur bei annähernd gleich starken Partnern, so sieht Mayer-Maly die gesetzgeberische Sicherung, deren Ursache in einem auf der Befürchtung der übervorteilung des Schwächeren basierenden Mißtrauen gegenüber der Privatautonomie liegt, um den Preis der Hilflosigkeit des Bürgers gegenüber dem undurchschaubar gewordenen Recht erkauftU. Niemand würde sich in der Diskussion um die beklagte Normenfiut zu der undifferenzierten Forderung hinreißen lassen, den Rechsstaat einzuschränken. Die Aufrechterhaltung dieser Errungenschaft des 19. Jahrhunderts in ihrer aktuellen Ausgestaltung in den westlichen Demokratien und insbesondere ihre spezifische Form im österreichischen Verfassungsgefüge stellt eines jener Grundprinzipien dar, deren Infragestellung für sich allein bereits dem Vertreter eines solchen Standpunktes jegliches Gehör im Ringen um die Lösung dieses Problemkreises kosten würde. Weder jene Politiker, die den Gedanken einer Lockerung des aus Art. 18 B-VG abgeleiteten Legalitätsgrundsatzes zugunsten einer erweiterten parlamentarischen Kontrolle aufgreifen, noch die Vertreter einer aus dem Aspekt der Krise des Staates heraus argumentierenden Richtung, wie etwa Schmitz, würden ihre Vorschläge dahin verstanden wissen wollen, eine Einschränkung der RechtsstaatIichkeit zu akzeptieren. Nun haben aber gerade so häufig verwendete Begriffe, wie jener des Rechtsstaates, die Eigenschaft, daß die Klarheit ihres Inhaltes mit der Häufigkeit ihrer Verwendung verloren geht. Wird man Böckenförde20 zugeben 16

17 18

Mayer-Maly, Rechtskenntnis, 17.

Ebd.81.

Peter Noll, Gesetzgebungslehre, 165.

Mayer-Maly, Rechtskenntnis, 82. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandlung des Rechtsstaatsbegriffes, in FS Arndt, 53; auf die antiken Wurzeln hinweisend Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates. 19

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müssen, daß sich derartige Begriffe "niemals abschließend definieren lassen", so sind Böckenfördes weitere Aussagen, daß sie "für das Einströmen sich wandelnder staats- und verfassungstheoretischer Vorstellungen und damit auch für verschiedenartige Konkretisierungen, ohne sich dabei indessen inhaltlich völlig zu verändern, d. h. ihre Kontinuität zu verlieren und zu einer bloßen Leerformel herabzusinken", wenig hilfreich, will man dem Autor nicht unterstellen, man könne dem Rechtsstaatsbegriff alles und jedes unterstellen und er sei dessen ungeachtet noch immer derselbe. Böckenförde selbst sieht offenbar in einer Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln dieses Begriffes einen Weg der Offenlegung seiner wesentlichen Elemente. Er macht deutlich, daß der heutige Rechtsstaatsbegriff seine Wurzeln in der auf Kant aufbauenden Vernunftrechtslehre findet und in diesem Sinne von Mohl, Welcker und v. Aretin in die staatsrechtliche Diskussion eingeführt wurde. Kennzeichen dieser Vernunftprinzipien war die Vorhersehbarkeit staatlicher Willensbildung unter dem Gesetz. Ohne auf die einzelnen Stufen der bei Böckenförde skizzierten Entwicklung näher einzugehen, ist aus der Vorantreibung der Rechtsstaatlichkeit in den Bereich der Verwaltung hinein für die hier anzustellenden Überlegungen die Aussage L. v. Steins von wesentlicher Bedeutung, wenn er unter dem Rechtsstaat den Staatsbürger in den Stand versetzt sieht, "jedes ihm gesetzlich zustehende einmal erworbene Recht im Namen des Gesetzes auch gegen die vollziehende Gewalt zur Geltung zu bringen"2!. Nach Bähr tritt das Recht in der Form des Gesetzes "aus der unsicheren Begrenzung des Gedankens in die festere des Wortes ... über"22. Bei allen Vorbehalten gegenüber Kodifikationen fordert Bähr im Einklang mit der Gedankenwelt des Konstitutionalismus die Errichtung einer Verfassungsurkunde, wobei es als dem Rechtsverständnis widersprechend anzusehen wäre, wenn Auslegungsstreitigkeiten "nur durch die Machtstellung der streitenden Faktoren, also im Zweifel immer zugunsten der jeweiligen Regierung bestimmt"23 werden. Und Bähr kommt im weiteren zu der grundlegenden Aussage, die Lehre der Freiheit der hoheitlichen Regierung von einer gerichtlichen Nachprüfung habe "ihre eigentliche Grundlage in der Nichtanerkennung des öffentlichen Rechts als Recht"2'. Dabei ist es nun nach Ansicht Bährs ganz einerlei, "ob der Inhalt des Gesetzes klar vorliegt, oder erst durch eine mehr oder minder zweifelhafte Interpretation gewonnen werden muß"; was aber Inhalt des Gesetzes ist, sei "niemals eine Verwaltungs-(Zweckmäßigkeits)frage, son2! L. v. Stein, Rechtsstaat und Verwaltungsrechtspflege, in Grünhuts Zeitschrift für das private und öffentliche Recht, Bd. XI, 1879, 50. 22 Otto BähT, Der Rechtsstaat, 8. 23 Ebd.49. 24 Ebd.56.

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dern stets eine Rechtsfrage". Aus dieser Einsicht in die Verwaltungstätigkeit als Interpretationstätigkeit leitet Bähr im weiteren die Notwendigkeit einer gerichtlichen Überprüfung dieser Tätigkeit ab und wendet sich ausdrücklich gegen den von Stahl in seiner Rechts- und Staatslehre vertretenen Standpunkt, wonach die Ministeranklage ein geeignetes Mittel zur Kontrolle der Verwaltungstätigkeit sei. Bähr führt dagegen ins Treffen, daß unter dieser Sanktion "ein Minister willkürlich Recht und Gesetz verletzen kann, insofern er nur den in einer Kammer vorherrschenden Interessen dient, und deshalb der Nichtzustimmung dieser zu einer Anklage gewiß ist"25. Auch unter der aktuellen verfassungsrechtlichen Situation der Ministeranklage bleibt dieser Vorwurf bestehen, der sich dagegen richtet, die Kontrolle der Verwaltungstätigkeit von der Interessenlage in den parlamentarischen Körperschaften abhängig werden zu lassen - nur der unabhängige Richter ist nach Bähr das geeignete Organ, über etwaige Interpretationsbedenken endgültig abzusprechen. Nun gibt das bisher Gesagte Standpunkte wieder, die auch heute noch Allgemeingut der staatsrechtlichen Begriffsbildung sind26 . Worum es hier geht, ist die Unterstreichung eines im bisherigen staatsrechtlichen Verständnis als essentiell erachteten Elementes des Rechtsstaatsbegriffs, nämlich der Justitiabilität, die ihrerseits in der damit verbundenen Vorhersehbarkeit staatlicher Willensbildung als Schutzfunktion für den einzelnen eingeschätzt wurde. Diese Vorhersehbarkeit erforderte aber - auch wenn dies in der Auseinandersetzung offenkundig als selbstverständlich vorausgesetzt und damit gar nicht gesondert hervorgekehrt wurde - den Gedanken als Voraussetzung, daß Rechtspositionen vorhanden und mit bestimmten rationalen Methoden, nämlich jenen der juristischen Interpretationen ,erkannt' werden können27 . Schon damals wurde dieses ,Erkennen' keineswegs derart vereinfacht gesehen, als handelte es sich um einen Prozeß mit nachgerade automatisierten Abläufen, sondern wurde darunter etwa von Bähr "in gewissem Sinne und Maße stets ein freies geistiges Schaffen" verstanden28 . Daraus folgt aber, daß der Rechtsstaatsgedanke in seinem bisherigen Verständnis notwendigerweise mit einem bestimmten Bild juristischer Interpretation verbunden war, also einer Interpretationslehre, die sich an der jahrhundertealten Privatrechtsdogmatik orientierte, auf deren rechtsdogmatischen Prinzipien die Verrechtlichung staatlichen HandeIns schlechthin aufbaute. 25 Ebd.8I. 25 Vgl. Felix Ermacora, Allgemeine Staatslehre, 92. 27 28

Bähr, 13.

Ebd.14.

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Erinnern wir uns wieder des Anlasses der vorliegenden Arbeit, nämlich der Absicht, die bisherige gerichtliche Rechtskontrolle durch eine parlamentarische Kontrolle zumindest teilweise zu ersetzen, so zeigt sich unter dem Licht des Vorgesagten, daß damit vom historisch geprägten Rechtsstaatsbegriff in einem wesentlichen Aspekt abgerückt würde. War und ist der Rechtsstaatsbegriff bisher infolge seiner vor allem liberalen Wurzeln vom Gedanken geprägt, dem einzelnen die Chance der Erstreitung seines Rechtes zu eröffnen, also in den - potentiell- jedem Staatsbürger offenen Kampf um die ,richtige' Interpretation einzutreten, so setzt dieser Vorschlag an seine Stelle eine Auseinandersetzung sozialer Kräfte, die nach ihrer gesamten Konzeption jedenfalls nicht nach den Spielregeln juristischer Interpretation um Rechtsinhalte ringen. Gerade diese aus der privatrechtlichen Auseinandersetzung hergeleitete Position des einzelnen, die ihn - zumindest von der Idee her - in der rechtlichen Auseinandersetzung mit Verwaltungsbehörden sowohl in deren Verfahren selbst wie aber auch vor allem vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts gleichsetzte, war eine der wesentlichen Errungenschaften des Kampfes um den Rechtsstaat und kennzeichnet zumindest das auch heute noch als herrschend anzusehende Verständnis dieses Staatstypus. Andererseits bedingt diese Rechtsstaatstheorie den Versuch einer größtmöglichen Determinierung staatlichen HandeIns durch generelle Normen und damit gerade die beklagte Normenflut, wobei der Rang der Normen unter dem Aspekt der Quantität des Gebotenen irrelevant ist. Der inhaltlich determinierten Norm korrespondiert die diesen Inhalt offenlegende juristische Interpretationsmethode, wobei damit noch keineswegs einer Methode vor den anderen notwendigerweise ein Vorrang zukommen muß. Es sind nur die einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich den Juristen, eigenen Denkweisen, die nach diesem Rechtsstaatsbegriff den Weg zum Recht eröffnen. In dieser Konstellation sahen die Streiter für den Rechtsstaat offenkundig die entscheidende Garantie für den Schutz des einzelnen. Ein durch die Praxis juristischer Interpretation genährter Skeptizismus gepaart mit der Einsicht, daß in einer Vielzahl behördlicher Entscheidungen das Schwergewicht bei der Entscheidungsfindung nicht im Bereich juristischer Interpretation sondern sachverständiger ,Tatsachenfeststellung und -beurteilung' liegt, hat die Suche nach neuen Wegen der Legitimation staatlicher Entscheidungen gefördert. Eine der auf den ersten Blick überzeugendsten Theorien und das Schlagwort, unter dem diese neue Sicht juristischer Entscheidungsfindung firmiert, lautet "Legitimation durch Verfahren", der Titel einer Arbeit von Niklas Luhmann. Wird dieser Begriff heute dazu verwendet, die Grenzen juristischer Interpretation zu überwinden und neue Entscheidungsverfahren

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in den Rechtserzeugungsprozeß einzubinden29 , so hat Luhmann mit diesem Begriff nach eigener Aussage offenkundig viel weniger oder besser gesagt etwas anderes darzustellen versucht. Im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Schrift betont Luhmann, es wäre "jedoch nicht die Absicht dieses Buches, den Entscheidungsprozeß des Richters, des Gesetzgebers und des politischen Wählers zu skizzieren; das hätte ganz andere ... Überlegungen erfordert". In Abgrenzung zu Esser will Luhmann vielmehr die Stellung des Verfahrens als "Mittel der Konfliktrepression" vermitteln. Unter Berufung auf T. Parsons schließt sich Luhmann dem Standpunkt an, daß Kommunikationsmedien wie Macht und Wahrheit in ihrer gesamtgesellschaftlichen Funktion und Effektivität von überzeugungskräftigen Argumenten abstrahieren müssen, "also über institutionelle Stützen verfügen, die Überzeugungsdefizite überbrücken". Was Luhmann anstrebte ist eine "funktionale Analyse", also eine "Technik der Entdeckung schon gelöster Probleme", denn "so wird es möglich, Vorhandenes als Problemlösung zu begreifen und entweder die Strukturbedingungen der Problematik oder die Problemlösungen zu variieren - zunächst der Leichtigkeit halber gedanklich, dann vielleicht auch in der Tat". Es geht ihm daher nicht um eine Rechtfertigung der Institution des Verfahrens durch den Nachweis ihrer Funktion, sondern "es ging um ein Aufdecken des Problems, das sie löst, und das allzuleicht übersehen wird, weil es nicht identisch ist mit denjenigen Problemen, die man durch die Entscheidungen in den Verfahren zu lösen versucht". Besonders verdeutlicht wird Luhmanns Anliegen im weiteren, wenn es für ihn unter dem Titel der Legitimität "weniger auf motivierte Überzeugungen als vielmehr auf ein ... Akzeptieren" ankommt, wobei dieser Anerkennung jedenfalls ein Lernprozeß zugrundeliege. Durch Aufgabe der Bindung des Legitimitätsbegriffes an die persönlich geglaubte und zu verantwortende Richtigkeit der Entscheidungen kann danach erst die "Instutitionalisierung von Legitimität und Lernfähigkeit in sozialen Systemen angemessen" untersucht werden30• Sieht man die Tätigkeit der Richter und Verwaltungsbeamten als Prozeß, so "überträgt diese symbolisch-zeremonielle Arbeit am Recht Legitimität von einer Entscheidung auf andere und erleichtert so das Lernen"31. Wer nun der Lernende sein soll in diesem Verfahren wird von Luhmann ebenso deutlich unter dem Kapitel "Grenzen der Lernfähigkeit"32 beantwortet, und zwar handelt es sich offenkundig um den von der Entscheidung Betroffenen, nicht aber den ZUr Entscheidung Berufenen. Damit aber erweist sich, daß Luhmanns Modell nicht die Er29

Dazu Adamovich-Funk, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10, 99, 240.

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Luhmann, 34.

31 Ebd.36. 32 Ebd.l07.

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klärung für die Gewinnung der Entscheidung liefern will, sondern vielmehr für ihre soziale Anerkennung. Nun liegt sicherlich auch jeglicher juristischer Methode das Interesse zugrunde, die Anerkennung der Entscheidung durch den Betroffenen zu gewährleisten, will sie sich als Teil eines sozialen Prozesses verstehen. Die Begründung für die Anerkennung liegt aber in diesen Systemen in der Richtigkeit oder weniger anspruchsvoll Überzeugungsfähigkeit sowohl des Entscheidungsprozesses, wie vor allem der Entscheidung selbst. Schuldig bleibt Luhmann aber die Antwort auf die Frage, wie nun ihrerseits die Regeln, nach denen dieses legitimierende Verfahren abgewickelt werden soll, von den Betroffenen festgestellt und ihre Nichteinhaltung kritisiert werden kann. Für Luhmanns soziologische Betrachtungsweise stellt sich dieses auf einen interpretatorischen Akt hinweisende Problem gar nicht, dessen Beantwortung aber doch sicher von zentraler juristischer Bedeutung sein wird, soll sich nicht jedes einzelne Verfahren in seiner eigenen Legitimation erschöpfen. Die Ursache für das Fehlen der zuvor aufgeworfenen Frage liegt im methodologischen Bereich: Ringt Luhmann mit seinem Verfahrensmodell um die Offenlegung des sozialen Lernprozesses, der die Anerkennung des Ergebnisses eines konkreten Verfahrens durch den Betroffenen ermöglicht, so zielt der Verfahrensbegriff des Juristen auf eine normative Legitimation ab, die losgelöst vom Einzelfall die Einordnung eines Entscheidungsprozesses in die Rechtsordnung, also seine Deutung als normatives Verfahren ermöglicht33 • Bei der Verschiedenheit des Verfahrensbegriffes nimmt es nicht wunder, wenn die gegen Luhmann vorgebrachten juristischen Einwände, wie etwa von Esser, ins Leere gehen müssen. Damit erweist sich aber Luhmanns Legitimationsmodell als ungeeignet für eine Umsetzung in ein normatives System, was er nach eigenem Bekunden auch gar nicht anstrebte 34 • Einen Anwendungsfall der Luhmannschen Methode der Entscheidungsfindung soll die vom selben Autor formulierte Differenzierung zwischen konditionalen und finalen Entscheidungsprogrammen liefern. Während Luhmann diesen Gedanken unter dem Aspekt der Legitimation folgerichtig mit dem der Verantwortlichkeit verknüpft und hier das Problem der Unabhängigkeit des Richters als Legitimationsgrund behandeW5, hat sich das weitere Schicksal dieses Unterscheidungsmodells 33 Dazu Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, in Die Wiener rechtstheoretische Schule, hrsg. Klecatsky/Marcicl Schambeck, 3. M Ungeachtet dessen liefert Luhmanns Betrachtungsweise wertvolle Anregungen für eine Anpassung des Verfahrensrechtes an seine Deutung als Lernprozeß.

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vom Begriff der Verantwortung gelöst und führt in der Diskussion insofern ein Eigenleben, als es zur Differenzierung juristischer Regelungstechniken schlechthin diene 6 • Besonders das Planungsrecht wird regelmäßig paradigmatisch für ein Finalprogramm angeführt, womit sich zuletzt Raschauer 37 kritisch auseinandergesetzt hat. Vor allem darf die sprachliche Verschiedenheit in der Umschreibung gesetzlicher Tatbestände nicht den Blick auf den Umstand verdecken, daß die verschiedene Zuordnung ihre Wurzel auch in der Neuartigkeit eines Regelungsbereiches und damit in den mangelnden Erfahrungswerten beim juristischen Interpretationsprozeß findet. Auch scheinen die im Zielkatalog raumordnungsrechtlicher Vorschriften aufzufindenden tendenziellen Widersprüchlichkeiten38 einen der Gründe für die Annahme einer qualitativen Verschiedenheit der Regelungsinhalte zu liefern. Gerade die tendenzielle Widersprüchlichkeit von Zielsetzungen in Rechtsvorschriften kann aber nicht als Argument für eine andere Art der Entscheidungsfindung herangezogen werden - auch das Interesse an betriebswirtschaftlicher Kostenminimierung wird dem der Hintanhaltung von Belästigungen von Nachbarn durch gewerbliche Betriebsanlagen im Sinne der GewO 1973 in der ganz überwiegenden Zahl von Fällen widersprechen. Derartige Widersprüche nach einem bestimmten Entscheidungsmuster zu lösen, ist aber das Kennzeichen juristischer Entscheidungsfindung und wird als Charakteristikum privatrechtlicher prozessualer Auseinandersetzung angesehen. Setzt man nämlich voraus, daß in der überwiegenden Zahl der Rechtsstreite nicht eine Position evident unrichtig ist, sondern einander widersprechende Interessen auf Rechtsvorschriften gestützt werden können, die diese Widersprüche zu stützen scheinen, so bedarf es einer abwägenden Entscheidung zwischen diesen Rechtspositionen und damit zwischen den zugrundeliegenden von den Parteien divergierend interpretierten Normen. Dieser Aufgabe, nämlich einer Gewichtung der möglicherweise widerstreitenden Zielsetzungen, werden die immer wieder exemplarisch zitierten planungsrechtlichen Regelungen meist nicht gerecht - damit aber können sie auch nicht einmal als Finalprogramm normativen Handeins gedeutet werden, da einem normativen Programm38 zumindest entnehmbar sein muß, welchen inhaltlichen Leitlinien es folgt, "die das Entscheidungsver35 36

Luhmann, 131. 1. d. S. Theo OhUnger,

ges, 15.

Das Problem des verwaltungsrechtlichen Vertra-

37 Bernhard Raschauer, "Finale Programmierung" und Raumordnung, ZfV 1980, 93 und die dort zit. Literatur. 38 Vgl. etwa § 2 Salzburger ROG 1977. 38 Zur Mehrdeutigkeit des Programmbegriffes siehe Raschauer, 95.

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halten als Wahl geeigneter Mittel zur Verwirklichung vorbestimmter Zwecke festlegen"4o. Worin liegt nun der qualitative Unterschied zwischen Gesetzen, die zu Maßnahmen ermächtigen, mit denen eine Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel hin - etwa die Intensivierung des Fremdenverkehrs - eingeleitet werden soll, gegenüber jenen, die die Behörden mit dem Schutz der Anrainer vor unzumutbaren Belästigungen durch gewerbliche Betriebsanlagen betrauen? Erliegt man nicht letztendlich einer Täuschung über den Grad der Vorbestimmtheit: Die Rechtsvorschrift verlangt keineswegs, daß der Fremdenverkehr durch die Maßnahme bereits intensiviert ist, sondern die Maßnahme muß nur als Mittel geeignet sein, dem angestrebten Zweck zu dienen - gleiches gilt aber auch für die Maßnahmen zur Verhinderung unzumutbarer Belästigungen. Und bei der überprüfung des Erfolges mag es scheinen, als wäre es leichter, die Intensivierung des Fremdenverkehrs quantitativ festzustellen, als die Frage zu beantworten, wann ein Mensch unzumutbar belästigt wird. Als Ergebnis dieser kritischen Auseinandersetzungen mit der Einordnung von Rechtsnormen unter Final- oder Konditionalprogramme läßt sich daher die Aussage Öhlingers, die gänzliche Konditionierung von Finalprogrammen sei unmöglich41 , auch ins Gegenteil verkehrt, nämlich in die Einsicht der jedem normativen Konditionalprogramm anhaftenden Finalität42 , was alleine bereits in der teleologischen Interpretation43 seinen Ausdruck findet. Damit ist die Verbindung zu der am Beginn gestellten Frage der Auswirkungen des Rechtsstaatsbegriffes auf die Normsetzung gegeben. Verknüpft man diesen Begriff, wie dies oben aus historischer Sicht hergeleitet wurde, mit dem herrschenden Verständnis der Funktion juristischer Interpretation, so wird damit das Bemühen um Rechtssicherheit berührt. Damit geht es auch um die Beantwortung der Frage, wie die Organisation einer Rechtsordnung die Kompetenz zur Determinierung von Zielen und damit auch zur Auflösung etwaiger Zielkonflikte verteift. Konzentriert sie die Kompetenz zur Formulierung des Zieles, der Grundsätze für die Lösung von Zielkonflikten, wie auch zur Entscheidung des konkreten Falles auf jene Organe, mit denen der Rechtsunterworfene unmittelbar in Kontakt tritt, also auf die den individuellen Akt erlassenden Verwaltungsbehörden und Gerichte, oder sieht sie hier eine bestimmte Rollenverteilung vor, die etwa einen Gesetzgeber bloß auf die Aufzählung möglicher Zielvorstellungen reduziert, ohne ihn mit 40

ÖhZinger, 16.

Ebd.18. 42 1. d. S. auch Raschauer, 97. 43 Dazu Winkler, Wertbetrachtungen im Recht und ihre Grenzen, 43.

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ihrer näheren Determinierung oder der Festlegung der Grundsätze für die Lösung etwaiger Zielkonflikte zu belasten, um alle diese Fragen der Vollziehung zu überlassen. Das rechtsstaatliche Konzept des Kampfes um das Recht des einzelnen mit juristischen Methoden schließt eine solche Konzentrierung der Rechtsetzung bei den den individuellen Akt erlassenden Behörden aus". Eine solche Kompetenzverteilung würde es dem einzelnen infolge der zwangsläufigen Unbestimmtheit der anzuwendenden Normen schlechterdings unmöglich machen, mit formalisierten rationalen Methoden der Interpretation in den Entscheidungsprozeß einzugreifen; er wäre vielmehr dazu gezwungen, auf die Formulierung gesellschaftlicher Ziele wie auch der Grundsätze ihrer Abwägung zueinander auf andere Weise Einfluß zu nehmen. Gleichzeitig schließt es die moderne Staats struktur nachgerade aus, daß auf solche Ergebnisse abzielende Entscheidungsvorgänge ausschließlich zwischen dem einzelnen und einer Verwaltungsbehörde abgehandelt werden; der Gesetzgeber käme nicht umhin, die an den betreffenden Angelegenheiten jeweils interessierten gesellschaftlichen Kräfte (Verbände, Kammern, Vereine u. a.) in den Entscheidungsprozeß einzubinden, will er überhaupt eine Determinante einführen und sei es eben nur jene der Partizipation am Verfahren45 • Der einzelne müßte trachten, diese Verfahrensbeteiligten für sich zu mobilisieren, will er seinen Interessen zum Durchbruch verhelfen, wobei letztendlich die gesellschaftliche Gewichtung der beteiligten Interessenvertretungen den Inhalt der Entscheidung determinierte. Es bedarf aber keiner besonderen Hellsichtigkeit, um die Konsequenz einer solcherart verstandenen Legitimation durch Verfahren aufzuzeigen: nämlich die Auslieferung des einzelnen an eben diese gesellschaftlichen Kräfte. Der Boden der Entscheidungsfindung mit juristischen Methoden wäre damit verlassen, womit auch die auf ihm basierende Justitiabilität der Entscheidungen vereitelt würde. Die Partizipation des einzelnen am Verfahren würde damit zum Feigenblatt seiner voraussetzungsgemäß unkontrollierbaren Ausgeliefertheit. Eine weitere Konsequenz wäre eine weitgehende Auflösung der, sicherlich auch heute schon schwer zu ziehenden, Grenze zwischen Staat und Gesellschaft46 - die daraus resultierende Entwicklung gibt aus historischer Sicht wenig Anlaß zu Optimismus für den Schutz des einzelnen. Wird aber die juristische Interpretation durch die Bedachtnahme auf das gesellschaftliche Gewicht der jeweiligen Interessenvertretung als Entscheidungskriterium ersetzt, so bedeutet dies jedenfalls eine grundlegende Umstrukturierung der Rechtsordnung und ein Ab" Auf die Diskussion um das Prinzip der Gewaltenteilung sei nur hingewiesen. 45 Raschauer, 99, der im partizipativen Verfahren einen autonomen Ansatzpunkt zur Legitimation von Entscheidungen sieht. 46 Siehe auch Schmitz, 7.

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gehen vom bisherigen Bild der Rechtsstaatlichkeit. Dieses Bild gewinnt seine Konturen durch eine KompetenzverteiIung, bei der die Ziele wie ihre Gewichtung bei der Konfliktlösung im Bereich genereller Normsetzung geklärt werden. Dabei wird es sich bei verschiedenen Materien für notwendig erweisen, in einem höheren Maß als dies zumindest dem österreichischen Verständnis entspricht, die Determinierungskompetenz zwischen Gesetzgebung und Verwaltung auf letztere zu verschieben. Immer stärker setzt sich heute die Einsicht durch, daß auch die juristischen Methoden Ausdruck einer bestimmten sozialen Interessenlage in einer historischen Situation sind47 • Damit müssen sich aber auch die Juristen als Anwender dieser Methoden der Frage nach ihrer Legitimation zur alleinigen Festlegung normativer Inhalte stellen und die Vielfältigkeit staatlicher Aufgaben macht bereits Abstriche an diesem Monopol der Entscheidungsfindung notwendig. Im besonderen schränkt die auch in der Lehre unbestrittene Nowendigkeit der Einbindung von Sachverständigen in diesen Entscheidungsprozeß den Ausschließlichkeitsanspruch der juristischen Ermittlung von Norminhalten bereits erheblich ein48 • Anerkennt man aber, daß sich die juristische Interpretation als rationales Modell der Entscheidungsfindung unbestreitbare Verdienste bei der Konfliktlösung erworben hat, so liegt hierin ihre soziale Legitimation, weshalb sich daher eine Ersetzung dieser Methoden auf jene Fragen beschränken muß, die einer Lösung im Wege juristischer Argumentationsweisen verschlossen sind. Diese Grenzziehung ist fließend und findet ihren Maßstab im jeweiligen Grad der rechtsdogmatischen Durchdringung eines Rechtsgebietes 49 • Ist es auch aussichtslos, die politische Dimension jeglicher juristischer Interpretation zu leugnen, so beantwortet dagegen Kelsens Abschieben der ,rechtsanwendenden' Interpretation in den Bereich des Politischen So keine der drängenden Fragen. Vor allem erweist sich Kelsens 51 alleinige Anerkennung der ,rechtswissenschaftlichen' Interpretation als verschleiernde Begrifflichkeit, denn auch die von ihr zu leistende Feststellung des Rahmens der rechtlich gleichwertigen Auslegungsergebnisse bedarf zum einen selbst der InterpretationS!, zum anderen er47 Peter Schwerdtner, Rechtswissenschaft und kritischer Rationalismus, Rechtstheorie 1971, 67, 224 insb. 232; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 95. 48 Dazu Herbert Hofer-Zeni, Der Sachverständige in der rechtsstaatlichen Wirtschaftsverwaltung ÖZW 1976, 12. 49 Zur Bedeutung der Dogmatik Merkl, Zum Interpretationsproblem, in Die Wiener rechtstheoretische Schule, 1059 insb. 1061. 50 Kelsen, Reine Rechtslehre!, 350. 51 Ebd.352; soweit ersichtlich läßt sich in der Literatur kein Beispiel für diese Interpretationsmethode nachweisen - auch nicht im Verfassungskommentar von Kebsen-Fröhlich-Merkl. 52 Heinz Schäfjer, Verfassungsinterpretation in Österreich, 12.

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scheint es ausgeschlossen, die möglichen Bedeutungen des Wortlautes in "alle denkbare Varianten unter Berücksichtigung ihrer Fernwirkungen für andere Bestimmungen aufzuschlüsseln"53. Und die methodische Reinheit dieses Interpretationsbegriffs stellt Hofer-Zeni's Einwand in Frage54 , wonach dieser Rahmen "gerade mit jenen ,rechtspolitischen' Methoden festgestellt werden" muß, "die Kelsen durch das Rahmenbild ausschalten wollte." Der VfGH liefert in seiner Rechtsprechung bereits Ansatzpunkte für ein geändertes Verständnis der Gesetzesstaatlichkeit, wenn er eine Verordnung unter anderem deshalb für gesetzmäßig erachtet, weil die mit den in ihr berührten Fragen üblicherweise befaßten gesellschaftlichen Kräfte der in der Verordnung getroffenen Lösung zugestimmt haben 55 . Aus der gegenüber dieser Entscheidung angebrachten Kritik56 ist hier nur jener Vorwurf von Bedeutung, der sich dagegen richtet, die Kontrolle zu früh abgebrochen zu haben. Die Kontrolltätigkeit des VfGH muß jedenfalls darauf gerichtet sein, vom Gesetzgeber die Ausschöpfung aller Möglichkeiten einer Determinierung zu verlangen, die bei Heranziehung der in der Wissenschaft erarbeiteten Regelungstechniken für einen bestimmten Sachbereich zur Verfügung stehen. Der Gesetzgeber hat die Entscheidung darüber zu treffen, welche Regelungsmechanismen - etwa in finanzpolitischer Sicht - er angewendet wissen will, in deren Rahmen dann in einem weiteren Konkretisierungsprozeß die gesellschaftlichen Kräfte neuerlich zu Wort kommen können, indem sie in der Verordnung die aktuellen Festlegungen innerhalb der gesetzlichen Grenzen treffen. Mögen diese Grenzen anfangs auch sehr unscharf sein, so wird ihnen die weitere rechtsdogmatische Arbeit klarere Konturen vermitteln und so einerseits der Interpretation der Regelungen wie andererseits einer weiteren gesetzgeberischen Aktivität im selben oder auch in einem verwandten Regelungsbereich zur Erzielung eines größeren Grades der Vorhersehbarkeit bei der Entscheidungsfindung verhelfen. Zuletzt wird diese sicherlich längere Zeiträume erfordernde Entwicklung in vielen Fällen zu einem Bewußtseinsstand der Interpretierbarkeit führen, der heute noch als gering determiniert wie auch determinierbar eingeschätzte Materien als rechtsstaatlich bewältigt erscheinen läßt. So gewänne die Verordnung die Funktion eines Experimentierfeldes zur rechtsdogmatischen Durchdringung von Materien, deren ,abschließende' Determinierung dem Gesetzgeber vorläufig noch nicht möglich ist. 53 Adamovich-Funk,57. 54 Ermessen als Rechtsanwendungsproblem und als Kontrollfreiheit, III C b,

in Druck. 55 56

VfSlg 7220/1973.

Peter Bernard, ÖZW 1974,125; KarL Korinek, ÖZW 1974,126.

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Die Forderung nach einer Determinierung von Gesetzen, nach der sie jede Einzelheit der weiteren Vollziehung eindeutig vorherbestimmen sollen, überfordert vor allem den VfGH selbst, weil dieser Gerichtshof im Dilemma zwischen der Einsicht des Fehlens der eigenen Sachkompetenz zur Beantwortung der mit einem gesetzlichen Begriff aufgeworfenen Probleme, dem Anerkenntnis, daß eine nähere inhaltliche Determinierung zwangsläufig zu unhaltbaren Ergebnissen führen muß und der überzeugung, daß die letztendlich im Verordnungsweg getroffene Regelung nicht völlig sinnwidrig ist, seine Kontrollfunktion nicht anders als legitimierend ausüben kann 57. Dagegen überträgt das zuvor skizzierte Konzept eines in manchen Materien entwicklungsbedingt reduzierten Determinierungsgebotes dem VfGH die auch bewältigbare Aufgabe, festzustellen, ob alle Möglichkeiten des tatsächlich zur Verfügung stehenden Regelungspotentials ausgeschöpft wurden und ob diese Grenzziehungen in sich selbst konsistent sind oder etwa zu Widersprüchen mit verfassungsrechtlichen Schranken führen müssen 58• Dabei können sich diese Grundsätze, auf die gesetzliche Regelungen in bestimmten Angelegenheiten aus Sachzwängen reduziert werden müssen, zum einen auf inhaltliche Leitlinien zum anderen aber auch auf festzulegende Ermittlungsverfahren beschränken, sei es daß der Gesetzgeber auf bestimmte technische oder sonstige wissenschaftliche Modelle der Entscheidungsgewinnung verweist59 , sei es daß er für das Verfahren zur Erlassung von Durchführungsverordnungen die Berücksichtigung bestimmter Interessengruppen vorsieht, wobei sich aber eine Ersetzung gesetzgeberischer Leitlinien durch die ungesteuerte Delegierung der Entscheidungsfindung im Wege der Heranziehung von Interessenverbänden unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit verbietet60 • 57 Exemplarisch sei auf die Entscheidung zu § 12 Devisengesetz hingewiesen, VfSlg 7338/1974. 58 Hier sei auf die Entsch. zum BewertungsG hingewiesen, das es dem VfGH erlaubte, nach Beiziehung eines Sachverständigen die Frage zu beurteilen, ob eine VO den gesetzlichen Regelungsmechanismus einhält, VfSlg 7660/1975. 59 z. B. ein bestimmtes nationalökonomisches Berechnungsmodell, im Falle des BewertungsG das Modell der Berechnung abgabenrechtlicher Größen auf der Grundlage betriebswirtschaftlicher Daten. 60 Raschauers, 99, neue Wege zum Legalitätsprinzip bedeuten beide eine Kapitulation vor der gestellten Aufgabe: Fehlt nicht bloß jeder Maßstab zur Eingrenzung "ausschließlich interessenorientierter Bereiche" innerhalb derer Verordnungen durch einen Interessenkompromiß der Beteiligten legitimiert werden sollen, so verzichtete damit das Recht vor allem auf seine vornehmste Aufgabe, nämlich Interessen ,gerecht' zu gewichten und sich nicht ihrem freien Spiel, also letztendlich dem Stärkeren unkontrollierbar auszuliefern damit würde der Bock zum Gärtner gemacht. Und sein Versuch, Freiräume der Verwaltung dort anzusiedeln, wo sie "der Verfassungsgesetzgeber vorgefunden und billigend zur Kenntnis genommen hat", überspannt diese an sich schon fragwürdige Fiktion ins Beliebige.

2 Festschrift HeJlbllng

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Die kritisierte Flut von Normen wird durch ein solches Verständnis der Aufgabenverteilung im Normsetzungsprozeß nicht eingedämmt. Und es erscheint unter dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit keineswegs ein erstrebenswertes Ziel, mit einem darauf gerichteten Schlachtruf dem Problem Herr werden zu wollen. Man wird vielmehr Bährs Meinung zustimmen müssen, daß "das Recht den gänzlichen Mangel gesetzlicher Formulierung noch weit schwerer, als selbst eine überbürdung mit solcher"61 empfindet. Der Wandel des Verständnisses des Gesetzesbegriffes62 hat seine system bildende Funktion zugunsten der Anpaßbarkeit an oftmals bloß tagespolitische Gegebenheiten oder sonstige Erfordernisse in den Hintergrund gedrängt. Es ist vor allem die Gesetzeskultur, die zum einen unter der Flut leidet, zum anderen aber infolge ihrer Verkümmerung eben diese Flut provoziert. Aus dem Bewußtsein der Vielfalt staatlicher Aktivitäten, die aus rechtsstaatlichen Gründen einer normativen Reglementierung bedürfen, erwächst das Gebot, die Vielfalt der Tatbestände durch den Versuch begrifflicher Homogenität überschaubar zu machen. Es soll dabei nicht das so oft strapazierte aber als Auslegungsgrundsatz jämmerlich scheiternde Ideal der ,Einheit der Rechtsordnung' als Leitlinie postuliert werden. Der derzeitige Weg führt aber unzweifelhaft in eine begriffliche Anarchie und stellt damit gleichzeitig die juristische Interpretierbarkeit von Rechtsnormen als spezifisches Verfahren zur Sinnermittlung in Frage, ohne eine befriedigende Alternative anzubieten. Wenn juristische Interpretation als spezifische Form sozialer Regelungsmechanismen gerechtfertigt ist, dann wegen ihres Anspruches, Lebenssachverhalte innerhalb eines nachvollziehbaren und damit kontrollierbaren rationalen Systems63 zueinander in Beziehung setzen zu können. Soll die Rechtsordnung als System verstanden werden, so mag es ihr zwar nicht gelingen, der Forderung nach Widerspruchsfreiheit gerecht zu werden6\ sie muß aber scheitern, unterstellt man ihr die Widersprüchlichkeit als Prinzip. Je weiter die systembildende Funktion zurückgedrängt wird, desto mehr verwischen sich die Grenzen zwischen juristischer und sonstiger sprachlicher Sinnermittlung aus Texten. Nicht die Tatsache der Existenz einer Vielzahl von Normen 65 , sondern die mangelnde Kohä61 Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 9. 62 Zur Entwicklung des Gesetzesbegriffs Gerhard Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz. 63 Zum juristischen Systembegriff Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 86; Ho llerb ach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung? AöR 1960, 241 ff. insb. 255 Anm. 80. M Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 91. 65 Daß das Bundesgesetzblatt an Umfang zunimmt, mag im Rahmen seiner Handhabung unangenehm auffallen, es wäre aber und erweist sich auch als um vieles unangenehmer, wenn Normen nicht an einer zentralen Fundstelle sondern in teilweise schwierig aufzufindenden Publikationsorganen gesucht

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renz nagt an der Rechtsstaatlichkeit moderner Normsetzung. Mag auch Mayer-Malys Forderung nach einer enzyklopädischen Jurisprudenz utopisch erscheinen, so wird wohl eine Aufgabe zu lösen sein, soll das bisherige Verständnis des Schutzes des einzelnen in der staatlichen Rechtsordnung nicht verloren gehen: Das Streben nach größtmöglicher Systembildung im Bereich juristischer Begrifflichkeit. Haben sich die Grenzen der Methode gezeigt, durch ein Mehr an Text die Rechtssicherheit, also die Vorhersehbarkeit rechtlicher Entscheidungen zu erhöhen, so nötigt diese Einsicht zu einer stärkeren Besinnung auf die systembildende Funktion der Rechtsdogmatik als unverzichtbares Element des Rechtsstaates. Ihre Aufgabe ist es, jene gemeinsame Sprache einer Rechtsordnung zu entwickeln, der generelle Normsetzung wie individuelle Rechtsanwendung dringend bedürfen86 • Andernfalls könnte eine verbandsstaatliche ,Legitimation durch Verfahren' die juristische Interpretation als Weg der Sinnermittlung von Rechtsvorschriften durch das gesellschaftlich-politische Gewicht der Verfahrensbeteiligten ersetzen. Dies bedeutete, die rechtsstaatliche Aufgabe des Schutzes des einzelnen durch den Staat gegenüber gesellschaftlicher übermacht aufzugeben die parlamentarische Kontrolle vermag dieser Aufgabe auf sich allein gestellt nicht gerecht zu werden.

werden müssen, wie dies etwa bei den verbindlichen Festlegungen internationaler Organisationen der Fall war, hierzu Christoph Schreuer, Beschlüsse internationaler Organe im österreichischen Staatsrecht, ZaöRV 1977, 468 insb. 497; hier ermöglicht Art. 49 Abs. 2 B-VG eine flexible Handhabung. 60 Die in jüngster Zeit erschienenen Werke zum Allgemeinen Verwaltungsrecht belegen dieses Bedürfnis.

VERDECKTE WURZELN DES MARXISMUS· Von Michael W. Fischer Der kulturkritische Beobachter der Gegenwart kommt zu einem merkwürdigen Befund: Es ist dies die als Avantgardismus sich tarnende Restauration, die Wiederkehr des Gleichen im Namen revolutionärer Entfesselung menschlichen Schöpferturns. Der Drang, ständig Neues hervorzubringen, zwingt zu trivialisierenden Wiederholungen des Alten. Was wie Neuerung aussieht, ist zumeist Reprise. Dies gilt für verschiedene Lebensbereiche, für die bildende Kunst ebenso wie für die Politik. Sämtliche "gags", die bildende Künstler uns im Laufe der letzten fünfzehn Jahre vorgesetzt haben, sind bereits zwischen 1910 und 1920 von Futuristen, Dadaisten, Surrealisten und anderen erfunden worden. Sie verstanden dies als schockierende Antikunst, als Medium augenfälliger Ablehnung verbrauchter ästhetischer Werte, während die Artefacte der heutigen Epigonen öffentliche Förderung genießen, oft ohne Umweg ins Museum gelangen und dem Parvenu als Kapitalanlage angeboten werden. Auch in der Politik ist dies nicht viel anders: Der Epigone tarnt sich als Revolutionär. Es ist nun keineswegs meine Absicht, Karl Marxals Epigonen abzutun, so sehr die Marxismen von heute, egal nun ob orthodox und stalinistisch oder mit anarchistischen, Freudianischen oder sonstigen Würzen angereichert, eine gewisse museale Reife besitzen. Jungintellektuelle ereifern sich in angemaßtem Bewußtsein, Parteigänger der Zukunft zu sein, über die "soziale Frage" der Biedermeierzeit, wie sie Marx im "Kapital" analysiert hat. Die gesellschaftskritische Problembewußtseinsschwelle erreicht knapp die achtziger Jahre, aber bloß diejenige des vorigen Jahrhunderts. Der österreichische Schriftsteller Franz Werfel hat in seinem 1946 erschienenen Roman "Der Stern der Ungeborenen" bereits voraUiSgesehen, daß das Sowjetsystem irgendwann einmal ein Problemfall für die Wissenschaftsdisziplin "Gerontologie" wird: "Nir-

* Das Recht, seine zentrale Funktion institutioneller Vermittlung ist Hauptgegenstand gegenwärtiger ideologiepolitischer Debatten. Der folgende Beitrag, der als Rundfunksendung in der Reihe "Wissen der Zeit" am 12. Mai 1980 ausgestrahlt wurde, ist bemüht, unberücksichtigte Aspekte des Traditionszusammenhanges dieser Debatten zu erhellen.

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gends habe ich berauschenderen religiösen Pomp angetroffen als in Moskau gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Es war auf dem Roten Platz. Kein Irrtum, er hieß noch immer der Rote Platz, und die alte Partei, eisgrau und stockkonservativ wie nur die Torries in London, hatte die Staatsrnacht inne . . . Dem marxistischen Klerus war nichts anderes übrig geblieben, als sich ... in rote Dalmatikas zu kleiden und ballonartige Mitren aufzusetzen, auf welchen in altertümlichen Worten die Sätze prangten: Die klassenlose Wohlfahrt der meisten Mikroorganismen ist das Ziel des Kosmos." Nun besteht aber ein wirksamer Mechanismus der politischen Geschichte gerade darin, daß Neuerung durch Wiederentdeckung von Altem bewirkt wird. Die bei einem solchen Unterfangen verwendeten Schlagwörter heißen " Rehabilitierung", "Rekonstruktion", "Aufdecken ursprünglicher Wurzeln" und so fort. Kurzum: Das überholte Alte soll im Namen des wahren Alten abgeschüttelt werden. Die dahinterstehende Absicht ist dabei in der politischen Praxis immer ein "Bewirken", während es in der Wissenschaft ein "Verstehen" sein soll. Gemeinsam ist die Hoffnung, daß hinter dem Schauspiel einer Rückkehr zu den Ursprüngen sich Neues ereignet, sich ein neuer Gesichtspunkt ergibt. Genau dies ist auch meine Absicht: Ich versuche im folgenden durch Rückgriff auf die verdeckten Wurzeln des Marxismus die aktuelle ideologiepolitische Diskussion ein wenig zu erhellen. Dreierlei Denkkontexte scheinen mir die verdeckten Wurzeln des Marxismus auszumachen: Erstens die Romantik, zweitens ein faustischer Prometheismus und drittens der aufklärerische Positivismus.

Erstens: Die Romantik und ihre Philosophie war eine erste Reaktion auf die beginnende Industriegesellschaft und ihre theoretische Grundlage, den Liberalismus. Bereits um 1800 zeichnete sich folgender Befund ab: In der Industriegesellschaft zerfallen die traditionellen Bindungen und Loyalitäten, die Individuen treten in ihren gegenseitigen Beziehungen nicht mehr als Individuen auf, sondern als Repräsentanten unpersönlicher, kollektiver Kräfte, als Träger des Geldes oder der Institution. Bereits die Romantik kritisiert den Verlust der menschlichen Persönlichkeit an anonyme Mächte, kritisiert, daß sich die einzelnen Individuen selbst als Verkörperung der Funktionen, die sie ausüben, oder der Güter, die sie besitzen, verstehen. Beklagt wird der Verfall der traditionellen Gemeinschaft, die durch Unmittelbarkeit der Kommunikation sich zu einer moralischen Ganzheit zusammenfügte, die eben nicht bloß durch das ökonomische Interesse, sondern durch elementare natürliche SoHdarität verbunden war. Das Bewußtsein war ja bereits durch die utopisch orientierte Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts über den "bon sauvage" hinlänglich für dieses Problem geschärft.

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Die Gegenüberstellung von organischer "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" im Sinne eines mechanischen Aggregats, in dem das Gemeinwesen nur durch negative Interessenbindung im Gleichgewicht gehalten wird, ist unter verschiedenen Bezeichnungen in der gesamten romantischen und vorromantischen Philosophie gegenwärtig, von Rousseau über Schlegel, Novalis, Fichte bis hin zu dem jungen Hegel. Diese Träume von der Rückkehr zur vollkommenen Einheit, in der die Person ausschließlich Person ist und die Gemeinschaft sich auf unmittelbare Beziehungen gründet, diese Träume von der Aufhebung jeglicher Vermitteltheit zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft, von der Aufhebung der innel'en Zerrissenheit der Persönlichkeit selbst, sind implizit oder explizit gegen die Philosophie des Liberalismus gerichtet, gegen seine wesentliche Grundlage: die Theorie des Gesellschaftsvertrages. Der Liberalismus ging ja davon aus, daß die Menschen von Natur aus durch egoistische Beweggründe geleitet werden, und daß der Ausgleich ihrer widersprüchlichen Interessen nur auf der Grundlage einer rationalen Organisation des Rechtswesens möglich sei, die die Freiheit jedes einzelnen einschränke, während sie ,die Sicherheit aller garantiere. Die anthropologische Prämisse lautet: die Menschen sind von Natur aus Feinde und daher ist die Freiheit jedes einzelnen durch die Freiheit aller anderen begrenzt. Die unbegrenzte Freiheit würde zur Selbstzerstörung führen, denn in einer Gesellschaft, in der niemand verpflichtet wäre, die Rechte des anderen zu akzeptieren, würden alle unaufhörlich Opfer der Aggression und keiner besäße mehr die Sicherheit für sich selbst. Der Gesellschaftsvertrag im Sinne von Thomas Hobbes etwa es ließen sich beliebige andere Beispiele anführen - soll diesem Zustand entgegenwirken, indem er das gesellschaftliche Leben nach den Grundsätzen der Achtung vor der Freiheit des anderen organisiert. So gesehen, erscheint die Gesellschaft als ein künstliches Gebilde, als ein gesetzgeberisches System. In den Augen der romantischen Philosophie entsprach zwar die Beschreibung der Gesellschaft dem faktischen System der zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie die modeme Industriegesellschaft verbreitete, sie entsprach aber keineswegs nach ihrer Ansicht den Erfordernissen der menschlichen Natur. Die natürliche Bestimmung des Menschen besteht vielmehr nach der Romantik darin, daß er in einer Gemeinschaft lebt, ,die nicht durch negative Interessenbindung zustandekommt, sondern durch das eigenständige, durch nichts bedingte Bedürfnis nach Kommunikation. Aktuelle Zusammenhänge werden deutlich, etwa daß auch Jürgen Habermas' modiJSche Theorie vom "herrschaftsfreien Diskurs" sich wesentlich dem romantischen Erbe dankt. Die Gemeinschaft nach Vorstellung der Romantik bedarf nicht des Gesetzes als eines

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Zwangs- und Kontrollsystems, da die sozialen Bindungen sich durch spontane Identifikation eines jeden einzelnen Individuums mit dem gesellschaftlichen Ganzen ergeben. Folgendes wird deutlich: Was für die Romantik die Kritik der "Industriegesellschaft" ist, übernimmt Marx vollinhaltlich als "Kapitalismuskritik" . Seine Entfremdungstheorie, seine Geldtheorie, sein Glaube an die künftige Einheit, in der das Individuum die eigenen Kräfte unmittelbarals gesellschaftliche Kräfte begreift, sind nichts anderes als eine Fortsetzung der romantischen Kritik. Gegenstand des Angriffs von Marx sind die nämlichen Eigenschaften der Industriegesellschaft, deren zerstörerische Auswirkungen die Romantiker registrierten. Begriffe wie "anonyme Marktgesetze", "abstrakte Geldtyrannei", "grausame Gesetze" der kapitalistischen "Akkumulation" finden sich bei Friedrich Schlegel, bei Novalis, bei Achim von Arnim; sie üben - so lautet die gemeinsame überzeugung - "die Herrschaft über die Individuen aus". Auch wesentliche Merkmale der verheißenen Freuden der kommunistischen Gesellschaft entstammen dem romantischen Erbe. Ein fundamentaler Zug der Marxschen Utopie ist der Glaube, daß in der zukünftigen Welt jegliche Vermittlung zwischen Individuum und menschlicher Gattung aufgehoben sein wird. Wir alle kennen ja das naive Bild der Kommunistischen Gesellschaft, wie es Marx in der "Deutschen Ideologie" zeichnet, in der es möglich ist, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden". Alle Apparate, die rationalen wie die irrationalen, die zwischen dem Individuum und dem gesellschaftlichen Ganzen aufgestellt wOI'den sind, werden verschwinden: Der Staatsapparat, das Gesetz, die Nation. Das Individuum wird sich freiwillig mit der Gemeinschaft identifizieren, jeglicher Zwang wird überflüssig werden, die Konfliktquellen werden versiegen. Doch bedeutet die Aufgabe der Vermittlung keineswegs die Aufhebung der Singularität, vielmehr gilt das Gegenteil: Für Marx wie für die Romantiker vollzieht sich die Rückkehr zur organischen Bindung nicht um den Preis der Annullierung des personalen Lebens, sondern sie stattet dem personalen Leben "Authentizität" zurück. Die Zerstörung der Industriegesellschaft, die die Romantiker ins Auge fassen, die Zerstörung des Kapitalismus, von der Marx spricht, wäre also die Rückkehr zur Gemeinschaft und die Rückkehr zur Persönlichkeit zugleich, nicht aber die Verwirklichung der Gemeinschaft auf Kosten der Persönlichkeit. Anstelle der bloß "privaten Freiheit", die durch die Grenzen bestimmt ist, innerhalb derer den anderen kein Schaden zugefügt werden kann, d. h. an die Stelle der Freiheit der Sozialphilosophie des

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Liberalismus, würde die als freiwillige Einheit von Individuen und Ganzheit verstandene Freiheit treten. Jedoch Marxens Konvergenz mit der Romantik ist nur eine teilweise: Die Rückkehr zur verlorengegangenen Einheit soll nicht durch Zerstörung der modernen Technik, nicht durch den Kult arkadischer Primitivität, die Marx als "Idiotte des Landlebens" beschreibt, erfolgen, sondern im Gegenteil: Durch die weitere technische Leistungssteigerung, durch die Entfaltung der menschlichen Fähigkeit, auf Grundlage der bereits bestehenden "Gewalt über die Natur",auf Grund des ständig fortschreitenden Prozesses der "Unterwerfung der Natur". So heißt es wortwörtlich bei Marx. Wir Heutigen - durch ökologisches Bewußtsein sensibilisiert - haben ein geschärftes Auge für die brutal aggressive Terminologie, mit der Marx die Natur zum universellen Objekt von Ausbeutung weI'den läßt. Im Gegensatz zur naturbewußten und naturerhaltenden Romantik, ist dem Marxismus eine naturvernichtende Tendenz immanent. Die Natur erscheint als das säkularisierte, alttestamentarische Böse, als letzter Widerspruch, der sich der verheißenen Freuden kommunistischen Daseins entgegenstemmt.

Zweitens: Der faustische Prometheismus entstammt einem äußerst philosophischen Kontext. Anzuführen wären etwa Texte von Lukrez, die mittelalterlichen Ketzerbewegungen, der Neuplatonismus der Renaissancezeit, die Theorien der Aufklärung, die Weltanschauung der Freimaurer, die junghegelianische Philosophie der Tat. Sämtliche aufgezählten Richtungen teilen den Glauben an die durch nichts begrenzte Fähigkeit des Menschen, als Schöpfer seiner selbst, und die Erfassung der menschlichen Geschichte als eines Prozesses der Selbsterzeugung der Gattung durch die Arbeit. Die Kehrseite der Medaille ist die Verachtung der Tradition und des Vergangenheitskults sowie die überzeugung, daß der Mensch von morgen seine "Poesie" nicht aus der Ver;gangenheit, sondern allein aus der Zukunft schöpfen werde. Man lebt in der Zukunft, in der Möglichkeit, die den Vorrang vor der Wirklichkeit hat; die Wirklichkeit selbst wird bloß als Grenzfall des Möglichen gesehen, als Durchgangsstadium zur Realisierung von weiteren Möglichkeiten. heterog~men

Dieser faustische Prometheismus hat bei Marx eine Präzisierung erfahren: Vor allem ist er kein individualistischer, sondern ein Gattungsprometheismus. Marx glaubte nämlich - und er notierte dies in seinen "Theorien über den Mehrwert" bei der Verteidigung Ricardos vor der sentimentalen Kritik Sismondis -, daß die Idee der "Produktion der Produktion halber" nichts anderes bedeutet, als die "Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck". Man sollte daher keineswegs an ein Aufhalten der Gattungsentwicklung denken, um das

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"Wohl des Einzelnen zu sichern". Die Entwicklung der Gattung werde nämlich, wenngleich sie auf Kosten der Mehrheit der Einzelnen erfolge, letzten Endes mit der Entwicklung jedes einzelnen Individuums zusammenfallen. Der Fortschritt des Ganzen verwirkliche sich zum Schaden der Einzelnen, daher sei die Ricardo vorgeworfene Rücksichtslosigkeit bloß Ausdruck seiner wissenschaftlichen Ehrlichkeit. Marx war felsenfest überzeugt, daß das Proletariat als kollektiver Prometheus in einer alles befreienden Revolution jenen Widerspruch aufheben werde, der die Entwicklung der Menschen permanent begleitet, den Widerspruch zwischen dem Einzel- und dem Gattungsinteresse. Wesentliches Ergebnis dieses faustischen Prometheismus ist Marxens Abneigung, die natürlichen Bedingungen der menschlichen Existenz zur Kenntnis zu nehmen, ist die faktische Abwesenheit der menschlichen Physis in seinem Weltbild. Im Werk Marxens scheint der Mensch gänzlich durch sein "gesellschaftliches Sein" bestimmt. Die leiblichen Grenzen seines Daseins sind nahezu unkenntlich. Dem Marxismus fehlen fast gänzlich solche Aspekte des Lebens wie die Tatsachen, daß die Menschen geboren werden und sterben, daß es junge und alte Menschen gibt, daß sie männlich oder weiblich, gesund oder krank sind, daß sie in genetischer Hinsicht ungleich sind, und daß alle diese Gliederungen Einfluß auf ihre gesellschaftliche Entwicklung nehmen können, unabhängig von den Klassengliederungen, und daß sie den menschlichen Projekten zur Vervollkommnung ihrer Welt Schranken setzen. Marx glaubte nicht an die fundamentale Endlichkeit und Begrenztheit des Menschen, nicht an die prinzipiellen Grenzen seiner Schaffenskraft. Das Böse und das Leid erscheinen bei ihm als die Hebel der künftigen Emanzipation, sie sind keine notwendigen Bestandteile des Lebens, sondern gehen völlig darin auf, gesellschaftliche Fakten zu sein. Die Abwesenheit von Körper und Tod, von Geschlecht und Aggression, die Umstülpung all dieser Fakten in rein gesellschaftliche stellt einen der charakteristischen und oft zu wenig beachteten Bestandteile der Marxschen Utopie dar. Die dritte Wurzel des Marxismus, der aufklärerische Positivismus, entstammt, grob gesprochen, dem neuzeitlichen, an den Naturwissenschaften orientierten Weltbild. Der Ökonom David Ricardo und der Soziologe Auguste Comte (trotz der vielen Verspottungen durch Marx) können zu den Vermittlern gezählt werden ebenso die Vorstellung einer "Dialektik der Natur", wie sie Friedrich Engels entwickelt hat. Wir müssen bedenken, daß im Marxschen Weltbild der faustische Prometheismus dort an eine Grenze anstößt, wo er Prinzip der Vergangenheitsinterpretation ist. Marx spricht ja wiederholt von den Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens, die nach dem Modell der "Naturgesetze"

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wirken. Das bedeutet jedoch nicht, daß es sich hierbei um Gesetze handelt, die eine Verlängerung der Gesetze der Physik und Biologie darstellten, es bedeutet vielmehr, daß es sich um Gesetze haIl!delt, die im Bezug auf die menschlichen Individuen als "äußerlich€ Notwendigkeit" auftreten, die ähnlich unentrinnbar und fatal wie Naturkatastrophen sind. Die Aufgabe des unvoreingenommenen wissenschaftlichen Denkens besteht nach Marx in der Untersuchung dieser Gesetze, und zwar in der Weise, wie der Naturforscher seine Gesetze untersucht: ohne Gefühlsengagement, ohne Wertung, ohne dogmatische Vorurteile, genau so wie Marx der eigenen Vorstellung nach verfuhr, als er das "Kapital" schrieb. Aus dieser Perspektive erscheinen dann normative und das heißt werteIl!de Begriffe der Entfremdung und Entmenschlichung als scheinbar neutralisierte, wertfreie Begriffe des Tauschwerts, Mehrwerts, der abstrakten Arbeit und des Verkaufs der Arbeitskraft. Auf diesem an den Naturwissenschaften orientierten Hintergrund wird der marxistische, von Engels formulierte Freiheitsbegrifj verständlich: Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, das heißt der Grad der Fähig~eit des Menschen, die Naturgesetze zum eigenen Nutzen einzusetzen, je nach dem Entwicklungsstand der materiellen und gesellschaftlichen Technik. Folgendes sei angefügt: Dieser Freiheitsbegriff war nicht zuletzt Ursache der politischen Katastrophe, die Stalinismus hieß. Lenin, Karl Korsch und Georg Lukrics unternahmen bereits vor Stalin die Theologisierung und ethische Glorifikation der Partei und ihrer Rolle. Sie statteten die Partei mit der - höchst fragwürdigen Tugend aus, den einzelnen Arbeitern gegenüber als "Objektivation ihres eigensten, ihnen selbst noch nicht klaren Willens" aufzutreten. In dem Moment, wo die Partei für die Menschen die Rolle übernahm, zu bestimmen, welche Notwendigkeiten sie als "Freiheit" einzusehen hätten, brach die tyrannische Willkür los. Nach Marx ist der Glaube an die "Gesetze", die die Gesellschaft regieren, Voraussetzung nur für die Interpretation der bisherigen Geschichte, der menschlichen "Vorgeschichte", wie €r sich ausdrückt. Bis an ihr Ende bleibt das Schicksal des Menschen in der Gewalt der Notwendigkeit, die den vom Menschen geschaffenen, doch nicht von ihm beherrschten Kräften einverleibt ist - als Geld, als Markt, als religiöse Mythen. Die Kluft zwischen der Tyr·annei der vorgefundenen Gesetze der Ökonomie auf der einen Seite und der Ohnmacht des beobachtenden BewußtseiIllS auf der anderen Seite wird aufgehoben, wenn das seiner Sendung bewußte Proletariat die welthistorische Szene betritt. Denn das gesellschaftlich bewußte Handeln des Proletariats ist keine Realisierung von Gesetzen mehr, sondern - wie sich Marx ausdrückt - das

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Bewußtsein der Geschichte selbst. Der aufklärerische Positivismus behaupteter Kenntnis quasi-naturwissenschaftlicher Gesetze der Gesellschaft ist bloß auf die Vergangenheit gerichtet, die noch als Gegenwart auf uns lastet, jedoch gemäß den Marxschen Verheißungen bald restlos Vergangenheit sein wird. Unter Berücksichtigung dieser verdeckten Wurzeln des Marxismus läßt sich für die ideologiepolitischen Kontroversen der Gegenwart folgendes anmer~en: die Antinomie von Romantik und Liberalismus, von spontaner Identifikation des Einzelindividuums mit dem gesellschaftlichen Ganzen und von rechtstechnischer Interessensregulation, durchzieht sämtliche politische Lager. Auch der Prometheismus als unbegrenzte schöpferische Fähigkeit des Menschen, sein Leben und seine Zukunft - wie auch immer - zu gestalten, ist fast allen großen Gegenwartsideologien gemeinsam. Er ist Gattungsprometheismus in den radikal demokratischen Theorien, Elitenprometheismus in konservativen Theorien und bei denjenigen Marxismen, die eine spezifizierte Avantgardetheorie anbieten, wie etwa der Entwurf von Herbert Marcuse. Kehrseite des Prometheismus ist die übereinstimmende Verdrängung der fundamentalen Endlichkeit und Begrenztheit des menschlichen Wesens. Auch der aufklärerische Positivismus taucht in ba1d verdeckter, bald offener Form vielfältig auf: Die Naturwissenschaften vor Augen, deren Anliegen es ist, eine Herrsclraft über die Natur durch Erkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeiten zu bewirken, will der aufklärerische Positivismus in den Humanwissenschaften analog vorgehen. Er sieht im Menschen ein reagierendes, berechenbares Etwas: Er glaubt bloß das Bedingungsverhältnis von sozialen Maßnahmen und Wirkungen untersuchen zu müssen, um schließlich "Wenn-dann-Sätze" zu formulieren. Die Sozialwissenschaften vermeinen über den zum Geg,enstand von "Verarbeitung" herabgesunkenen Menschen verfügen zu können, Staat und Politik über die Sozilalwissenschaften und so weiter. Am Ende dieses menschenverachtenden Positivismus steht ein riesiger Verfügungsmechanismus, dessen einzige Strategie die "Machbarkeit" des Menschen ist. Zynisch wird dies dann als "wahre Freiheit" etikettiert. Menschliches Verhalten wird so zum Ergebnis von Fremdbestimmung durch angewandte Sozialtechnik. Nahezu jede Partei hat einen aufklärerisch-positivistischen Flügel: Er nennt sich zumeist "pragmatisch", "technokratisch", "problemorientiert" oder sonstwie. Unter diesem Gesichtspunkt scheinen die verdeckten Wurzeln des Marxismus auch die verdeckten Wurzeln der gegenwärtigen ideologiepolitischen Kontroversen zu sein. ",Nichts Neues unter der Sonne' der politischen Ideologien und Utopien", könnte man das Wort des Predigers

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Salomo abwandeln. Dies stimmt, und zugleich doch nicht. Gewiß ist die Begrifflichkeit an der ldeologien- und Parteienanalyse verbraucht. Romantik versus Liberalismus, Prometheismus oder Endlichkeitsdenken, aufklärerischer Positivismus oder autonomes, Lebenssinn suchendes Individuum sind Brüche, die quer durch die Parteien innerhalb der Parteien festzustellen sind. Können d1ese zu einer Neuformulierung der Parteienlandschaft führen, sind etwa die Erfolge der "Grünen Gruppierungen" ein Anfang? Die Fragen müssen hier unbeantwortet bleiben. Jedoch verdeutlicht die Analyse der verdeckten Wurzeln des Marxismus folgendes: Die alteingebürgerte Unterscheidung von "linken" und "rechten" Ideologien ist zu verabschieden. Die Streitigkeiten, die Politikwissenschaftler dieser bei den Lager als Broterwerb untereinander austragen, sind so abgestanden wie die spitzfindigen Turniere der aristotelis1erenden Spätscholastiker. Nicht der prozeßhafte Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft interessiert sie an der "Geschichte": Vielmehr erweisen sie sich durch ihre ergebnislosen Kämpfe und Geisterschlachten als Partisanen der Vergangenheit, deren Parolen, Kategorien und Modelle an längst überholten Lebensbedingungen und Erkenntnishorizonten orientiert sind. Offenkundig zeigt sich wie in den Künsten auch auf dem Feld der politischen Ideologien und Utopien, daß die Fähigkeit des Menschen, neue Entwürfe hervorzubringen, erheblich geringer ist, als dies seiner Eitelkeit lieb sein mag.

JURISTISCHES SPEZIALISTENTUM UND ENZYKLOPÄDISCHE JURISPRUDENZ Von Theo Mayer-Maly Ernst Carl Hellbling ist eine unverwechselbare Juristenpersönlichkeit. Sein singuläres Gedächtnis, das man füglich als ein "absolutes Gehör für Juristisches" bezeichnen kann, hat es ihm gestattet, in nahezu alle Bereiche des geltenden österreichischen Rechts und überdies in die österreichische sowie die -allgemeine deutsche Rechtsgeschichte einzudringen. Dankbar gedenke ich selbst der vielen rechtshistorischen und öffentlichrechtlichen Lehrveranstaltungen des Jubilars, denen ich nicht nur klare Unterweisung, sondern auch vielseitige Anregung verdanke. überaus lehrreich war für den Studenten im 7. und 8. Semester auch die bescheidene, nämlich vor allem aus Fahnenlesen bestehende Mitarbeit am 1. Band von Hellblings Kommentar zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen1• Die Universalität der juristischen Arbeit Hellblings hat ihn immer wieder zu einer Durchbrechung jener Fachgrenzen innerhalb der Rechtswissenschaft geführt, die gerade in Österreich enger gezogen sind und strenger gehütet werden als anderswo. Es liegt nahe, daß ihm diese Arbeitsweise mehr - teils offene, teils verhohlene - Kritik als Lob eingebracht hat. Umso lieber präsentiere ich in dem zu seiner Ehre nun vorgelegten Band die um einige Anmerkungen und aktualisierende Passagen ergänzte Fassung des Vortrages, den ich am 17. Mai 1978 im Rahmen der 200-Jahr-Feier der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz gehalten habe 2 • In der Bundesrepub1ik Deutschland geht manches schneller. Nach meinem Grazer Vortrag hat mich Herr Kollege Merten von der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer gebeten, an dieser im Rahmen eines Sonderseminars über Probleme der Juristenausbildung eine auf die deutschen Verhältnisse abgestimmte Modifikation meiner Ansichten vorzutragen. Die Veröffent1 Vgl. den Hinweis von Hellbling, Kommentar zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen, Bd. 1,1953, S. VI. 2 Der Großteil der damals abgehaltenen Vorträge findet sich dagegen in dem von Sutter redigierten Sammelband "Reformen des Rechts" (Graz 1979); einen Hinweis auf mein Referat und andere dort nicht veröffentlichte Vorträge findet man in diesem Band auf S. 1034 ff.

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lichung dieses Referats ist in dem von Merten herausgegebenen Band 79 der Schriftenreihe der Hochschule Speyer ("Probleme der Juristenausbildung", 1980, S. 15 ff.) erfolgt - in eben dem Verlag, dem wir nun auch die Festgabe zum 80. Geburtstag Hellblings danken. Kürzlich hat das Studium der Rechtswissenschaften ,in Österreich seine gesetzliche Neuordnung erfahren (BGBL 1978/140). In den Auseinandersetzungen vor der Verabschiedung des "Juristengesetzes", aber auch in der ersten Kritik an ihm spielte die große Zahl der vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Einzelprüfungen eine beträchtliche Rolle. In der Tat besteht die Gefahr, daß die neue Ausbildungsordnung den Studenten dazu drängt, nur von Einzelprüfung zu Einzelprüfung zu lernen. Problembewußtsein zu gewinnen und Systemzusammenhänge zu erfassen, ist für ihn in Zukunft wohl ebenso schwer wie bisher. Von den elf Prüfungs fächern der zweiten Diplomprüfung sind neun Fächer oder Fächergruppen solche des positiven Rechts, eine Wahlfachgruppe (§ 5 Abs. 2 Z. 9) stellt zwei nationalökonomische Fächer mit zwei Rechtsfächern zur Wahl. Hebt man aus den vom Gesetz gebildeten Fächergruppen die einzelnen positiv-rechtlich orientierten Rechtsfächer heraus, so ergibt sich die ansehnliche Zahl 19; dabei sind die "Grundzüge fremder Privatrechtssysteme" und das Kirchenrecht nicht mitgezählt. Die Dimension dieser 19 Disziplinen des positiven österreichischen Rechts ist naturgemäß unterschiedlich. Neben großen, traditionellen Fächern wie dem bürgerlichen Recht, dem Strafrecht und dem Verfassungsrecht stehen schmälere Sondergebiete wie die Grundzüge des Immaterialgüterrechts, des Strafvollzugsrechts und des Sozialrechts. Das Wirtschaftsrecht3 führt in den Augen des Gesetzgebers ein Eigenleben (neben dem Handels- und Wertpapierrecht einerseits, dem Verwaltungsrecht andererseits). Das Finanzrecht hat sich von Verwaltungsrecht und Finanzwissenschaft gelöst. Gerade bei diesen beiden Disziplinen ist unverkennbar, daß die Zuweisung einer Sonderstellung durch den Gesetzgeber nicht zuletzt aus der Erfahrung resultiert, daß ihre Pflege im Rahmen einer größeren Disziplin nicht immer und überall zu befriedigen vermochte. Auch an der Emanzipation des Arbeits- und Sozialrechts ist die Erfahrung, daß dieses im Rahmen der Behandlung des bürgerlichen Rechts einerseits, des Verwaltungsrechts andererseits oft zu kurz gekommen ist, maßgeblich beteiligt. Viermal finden wir im gesetzlichen Fächerkatalog das Wort "einschließlich". Mit ihm wird z. B. das IPR in das bürgerliche Recht, die 3 Zu seiner Entwicklung Hedemann, Das Wirtschaftsrecht Rückblick und Abschied, Festschr. A. Hueck 1959, 377 ff.; zu seiner aktuellen Konzeption Koppensteiner, Wirtschaftsrecht: Inhalts- und funktionsbezogene überlegungen zu einer umstrittenen Theorie, in: Rechtstheorie 4 (1973), 1 ff.

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allgemeine Staatslehre und die von dieser nicht unbedenklich abgehobene Verfassungslehre in das Verfassungsrecht einbezogen. Darin liegt vielleicht nicht nur eine Erleichterung der Formulierung, sondern ein bescheidener Ansatz für Integrationstendenzen. Im übrigen aber wird auf Integrationsfächer wenig Gewicht gelegt. Die Rechtsphilosophie erscheint nur mehr als Freifach und als Dissertationsfach. Es ist nicht schwer, den Gesetzgeber ob der Prüfungsvielzahl zu schelten. Es mag leicht geschehen, daß ein allzu fleißiger Student den Wald vor Bäumen nicht sehen wird. Fragt man aber etwas tiefer nach den Gründen für die Entstehung der allzu bunten Palette, so stößt man auf Faktoren, die weit über das Positionsstreben einzelner Fachvertreter hinausgehen. Der aufgesplitterte Fächerkatalog des neuen Juristengesetzes bietet ein getreues Spiegelbild des durch Spezialisierung und Desintegration gekennzeichneten Zustandes unserer Jurisprudenz, ja unseres Rechtslebens insgesamt. Zunächst sollen einige Beispiele zeigen, zu welchen Konsequenzen die Aufgliederung der Jurisprudenz in Spezialgebiete führt. In der Diskussion über die Behandlung zeitwidriger Kündigungen' wurde von einem hohen Richter, der zugleich einer der besten Autoren im arbeitsrechtlichen Schrifttum ist, geltend gemacht6, die Umdeutung der verfehlten Kündigung in eine Kündigung zum nächstzulässigen Termin scheitere daran, daß der die Umdeutung regelnde § 140 des deutschen BGB "in der österreichischen Rechtsordnung kein kongruentes Gegenstück" besitze, zu ihm angestellte überlegungen daher für die österreichische Rechtslage nicht herangezogen werden könnten. Man muß aber nur das nachlesen, was Joseph Unger in seinem "System des österreichischen allgemeinen Privatrechts"e über die "Conversion des Rechtsgeschäfts" sagt, um zu erkennen, daß die Grundsätze über die Umdeutung als allgemeine Auslegungsmaximen nicht einer Positivierung wie in § 140 BGB bedürfen7 • Man wende nicht ein, Unger habe viel aus der deutschen Pandektistik rezipiert. So richtig das !ist, es gehören seine Aussagen doch zugleich zu den Grundlagen österreichischer Zivilrechtstrarution. Die Umdeutung einer als gezo.gener Wechsel ungültigen Urkunde in eine kaufmännische Anweisung (§ 363 Abs. 1 Satz 1 HGB) oder in eine Anweisung nach § 1400 ABGB sowie die Umdeutung eines mißglückten Indossaments in eine Zession beruhen auf der allgemeinen 4 Vgl. Kuderna, DRdA 1969, 287 ff.; Mayer-Maly, ZAS 1975, 226 ff.; Fitz, DRdA 1975, 241 ff.; Marhold, ZAS 1978, 5 ff. S Kuderna, DRdA 1976, 57, 60. 8 Bd. 2, 5. Aufi., 1892, S. 158 f. 7 Zur Lehre von der Umdeutung im deutschen Privatrecht nun Krampe, Die Konversion des Rechtsgeschäfts, 1980.

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Anerkennung der Möglichkeit einer Konversions. Sie mag in bestimmten arbeitsrechtlichen Fragen unwillkommen, ja problematisch sein. Dann müssen die im speziellen Fall gegen eine Konversion sprechenden Argumente geprüft werden. Die Konversion als solche für einen dem österreichischen Recht fremden Vorgang zu halten, geht aber nicht an9 • Die Behandlung von Kaufverträgen, durch die eine Höchstpreisfestsetzung mißachtet wird, bildet ein altes Problem. An der Bestimmung

von Höchstpreisen ist die Rechtsgeschichte ja überreich lO • Die Väter des ABGB von 1811 trafen eine klare Entscheidung: Nach dem § 1059, der von 1811 bis zum Konsumentenschutzgesetz, das den § 917 a ABGB schuf, gegolten hat, war der höhere Preis gesetzwidrig, der Käufer sollte für jede noch so geringe Verletzung Schadloshaltung bei der politischen Behörde fordern können. Ursprünglich war § 1059 auf die Wirtschaftsordnung des späten Absolutismus, die sehr wohl zur Taxierung bereit war, gemünzt. In der liberalen Ära der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Taxen nicht aktuell. Als der erste Weltkrieg neue Höchstpreisfestsetzungen auslöste, stellte sich die Frage, wie mit Rechtsgeschäften auf überpreise verfahren werden sollte. Nach anfänglichem Schwanken entschieden die Gerichte auf völlige Nichtigkeit und lehnten damit eine Lieferpflicht zum gesetzlich zulässigen Höchstpreis ab11 • Diese Haltung nahmen sie auch: nach dem 2. Weltkrieg ein, als Verstöße gegen Bewirtschaftungsvorschriften neuerlich aktuell wurden12 • Dabei war der maßgebliche Gesichtspunkt, daß Preisregelungsvorschriften nicht nur dem Schutz des jeweiligen Vertragspartners, sondern 'auch und in erster Linie der Sicherung der ordnungsgemäßen Verteilung von Bedarfsgegenständen dienen. Der Entwurf der Neufassung des österreichischen Preisgesetzes (das ja am 30.6. 1978 wieder einmal ausgelaufen ist), sah jedoch vor, daß Entgeltvereinbarungen "insoweit rechtsunwirksam" sein sollten, "als das Entgelt unzulässig ist". Nach § 15 Abs.2 des Entwurfs sollte die Verwaltungsstrafbehörde über Ansprüche von Vertragspartnern auf Rückzahlung eines geleisteten unzulässigen Entgelts nach § 57 des Verwaltungsstrafgesetzes entscheiden.

8 Vgl. zur Umdeutung im Wertpapierrecht Stanzl, Wechsel-, Scheck- und sonstiges Wertpapierrecht 1957, 34. 9 Ein öffentlich-rechtliches Beispiel für die Beachtlichkeit der Konversion (Umdeutung eines Volksbegehrens in eine Petition) gibt Korinek, Das Petitionsrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1977, 33. Als gesetzlich geregelter Umdeutungsfall ist die Bestimmung von § 30 Abs.3 Satz 2 des Vertragsbedienstetengesetzes anzusehen, wonach eine entgegen den Vorschriften des § 34 Vertragsbedienstetengesetzes ausgesprochene Entlassung als Kündigung gilt, wenn der angeführte Auflösungsgrund einen Kündigungsgrund im Sinne von § 32 Abs. 2 des Vertragsbedienstetengesetzes darstellt. 10 Vgl. Lauffer, Diokletians Preisedikt, 1971; Mayer-Maly, Festschrift Demelius 1973, 139 ff. 11 OGH ZBl. 1916/53; 1916/88; anders dann SZ 3/62. 12 OGH JBl. 1950, 268; EvBl. 1951/236; JBl. 1959, 412; HBl. 1960, 17.

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Man könnte in diesem Regelungsvorschlag auch den Ausdruck eines großen Vertrauens in die überschaubarkeit des Rechts und in die Spannkraft der Verwaltungsjuristen sehen. Realistischer wird es sein, ihn als Dokument des Verlustes der Ein:sicht in die Dimension von Problemen zu qualifizieren. Dabei kann man die Frage, ob die Trennung von Justiz und Verwaltung wirklich rein formal-organisatorischer Natur ist oder ob Rückzahlungsansprüche der in § 15 Abs. 1 Preisgesetzentwurf bezeichneten Art nicht als "bürgerliche Rechtssachen" (§ 1 JN) jedenfalls vor ordentliche Gerichte gehören, getrost beiseite lassen. Die Erwartung, die Verwaltungsstrafbehörde werde mit den heiklen zivilrechtlichen, insbesondere bereicherungsrechtlichen Problemen, die bei derartigen Rückzahlungsansprüchen unweigerlich auftauchen, fertig werden, bekundet wenriger eine Hoffnung der Gesetzesverfasser auf den allseitig kundigen Juristen als vielmehr eine Unterschätzung der Dimension der zu lösenden Fragen. Die erläuternden Bemerkungen zum Ministerialentwurf räumen die letzten Zweifel aus: Durch die kuriose Vorschrift sollte "der Vertragspartner zur Erstellung einer Strafanzeige veranlaßt und eine möglichst rasche und mit geringen Kosten verbundene Entscheidung über seinen Rückerstattungsanspruch ermöglicht werden". Erfreulicherweise ist dieser Teil des Entwurfs nicht in das Bundesgesetz vom 23.5. 1978 (BGBL 1978, Nr.271), mit dem das Preis gesetz geändert wurde, eingegangen. Nun ordnet § 917 a ABGB ausdrücklich die bloße Teilnichtigkeit von Vereinbarungen an, durch die ein gesetzlich zum Schutz eines Antragspartners festgelegtes Höchstentgelt überschritten wird. Die Ursächlichkeit von Abläufen in der Außenwelt hat für das Recht in mehrfacher Hinsicht Bedeutung. Auch dann, wenn man Kelsens Grundanschauung teilt, daß in der Rechtswelt nicht Kausalität, sondern Zurechnung maßgeblich dst18 , kommt man ohne eine Indienstnahme von Kausalvorstellungen kaum aus. Dem Unternehmen, alle juristischen Kausalitätstheorien ,als Zurechnungslehren zu qualifizieren, sind Grenzen gesetzt: Die selbständige Bedeutung von Aussagen über die Ursächlichkeit eines Geschehens, die diese neben dem Rechtswidrigkeitskalkül und dem Schuldvorwurf haben, resultiert nun einmal aus der Suggestivkraft der Anleihe bei den Seinsaussagen der Disziplinen, die dem EinbLick in Kausalverläufe näher stehen. Die Anleihe bei einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, die mit juristischen Kausalitätsaussagen gemacht wird, wird aber für verschiedene Disziplinen des Rechts zu unterschiedlichen Konditionen aufgelegt. Für das Strafrecht soll die Lehre von der condicio sine qua non 13



KeZ'sen, General Theory of Law and State, 1961, 47.

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gelten14 - auch nach dem neuen österreichischen Strafgesetzbuch, dessen Mordtatbestand freilich nicht mehr eine Kausalitätsformel birgt. Die Zivilisten dagegen orientieren sich zumeist an Adäquanzformeln, mögen einige auch mehr oder weniger stark von ihnen abrücken15 • Den Unterschied im Umgang mit der Kausalität erklärt man mit der Divergenz der Verschuldensanforderungen: Werde - wie im Strafrecht stets Verschulden und oft sogar Vorsatz für den Eintritt von Rechtsfolgen vorausgesetzt, könne mehr als ursächlich gelten als im Zivilrecht, in dem grundsätzlich auch leichte Fahrlässigkeit zur Haftung führt und es an Haftung ohne Verschulden nicht fehlt. In der sozialen Unfallversicherung hat sich eine ganz andere Kausalitätstheorie etabliert - und das sowohl in der österreichischen (vgl. etwa SVSlg. 19 870) wie in der deutschen Rechtsprechung: die Lehre von der wesentlichen Bedingung. Nach ihr soll nur diejenige Bedingung als ursächlich angesehen werden, die im Verhältnis zu anderen Bedingungen wegen ihrer besonderen inneren Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Von der Adäquanztheorie der Zivilisten unterscheidet sich die Lehre von der wesentlichen Bedingung dadurch, daß sie nicht abstrahiert und generalisiert, sondern individualisiert und konkretisiert. Wird in einem Betrieb eine neue Maschine aufgestellt und probiert ein Arbeiter aus, was diese alles kann, so wäre ein dabei eingetretener Unfallschaden zwar adäquat kausal, dennoch wird auf dem Boden der Lehre von der wesentlichen Bedingung die Ursächlichkeit verneint16 • Die in der Ausbildung einer besonderen Kausalitätslehre der sozialen Unfallversicherung liegende Problematik wurde vor allem von Gitter 17 aufgegriffen und zutreffend als Risikoabgrenzung durch die Rechtsprechung gedeutet. Gitters Analyse zeigt sehr gut, daß es falsch wäre, für Spezialbereiche entwickelte Differenzierungen pauschal zu verwerfen. Häufig entsprechen solche Differenzierungen einer sachlichen Verschiedenheit der Problemstellung; dies mag insbesondere auch für die unterschiedlichen Wirkungen der Irrtumsanfechtung bei Arbeitsverhältnissen und einigen anderen Dauerschuldverhältnissen einerseits, bei gewöhnlichen Austauschverhältnissen andererseits gelten18 • Liegt jedoch der 14

Einwände aber bei E. A. Wolf!, Kausalität von Tun und Unterlassen,

1965, 22 ff.

15 Besonders weitgehend Hans Stoll, Kausalzusammenhang und Normzweck im Deliktsrecht, 1968; vgl. Deutsch, Haftungsrecht, 1976, 134 ff. 16 Vgl. Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht 1969, 113. 17 a. a. O. 99 ff.; sehr scharfsichtig nun Tomandl, System d. österr. Sozialversicherungsrechts, 1978, 280 ff. und Deutsch/v. Bar, MDR 1979, 536 ff. 18 Einschränkend aber Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts 1967, 147 sowie Hahn, Die fehlerhafte Normenanwendung im Arbeitsverhältnis 1976, 38.

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Artikulation von Rechtsgedanken eine naturalistische Analogie zugrunde, wie dies bei allen juristischen Kausalitätslehren der Fall ist, so bleibt die Theoriendivergenz von Disziplin zu Disziplin dennoch unbefriedigend. Sachlich verständlich ist auch eine andere dennoch problematische Diskrepanz zwischen Rechtsgebieten bzw. juristischen Disziplinen: die "wirtschaftliche Betrachtungsweise"19. Nach ihr sollen die zivilistischen Kategorien für die steuerliche Qualifikation von Rechtsgeschäften nicht ohne weiteres maßgeblich sein. Es kann dabei dazu kommen, daß ein Geschäft, das für den Zivilisten Tausch oder Verpachtung ist, für den SteuerrechtIer einen Kauf darstellt. Dies mag seinen guten Sinn in der Interpretation der anzuwendenden Norm haben und Versuchen, Steuertatbestände zu umg,ehen, legitim entgegenwirken. Dennoch bleibt ein Rest von Unbehagen. Dem Laien begreiflich zu machen, weshalb ein Rechtsgeschäft für das eine Rechtsgebiet Tausch und für das andere Rechtsgebiet Kauf ist, muß schwerfallen. Wie jeder Ansatz zur Emanzipation von einem unbequem gewordenen System hat auch die wirtschaftliche Betrachtungsweiseaußerhalb ihres genuinen Bereichs schon Zulauf gefunden: Die unbefriedigend enge Abgrenzung der Vorkaufsfälle durch § 504 des deutschen BGB hat Schurig20 zum Vorschlag bewogen, einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise des Vorkaufsfalles den Vorzug zu geben. Tausch und gemischte Schenkung sollen als Vorkaufsfall gelten, wenn der unmittelbare Zweck dieser Geschäfte bei Ausführung mit dem Vorkaufsberechtigten genauso wie bei Ausführung mit dem Dritten verwirklicht wird. Der Einfluß der öffentlich-rechtlichen Emanzipation von den zivilistischen Kategorien ist handfest. Für die gesetzlichen Vorkaufsrechte von Gemeinden ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise bereits anerkannt. In seiner Kommentierung von § 1078 ABGB hat Bydlinski21 jedoch gezeigt, daß es auch möglich ist, eine dogmatische, am Zweck der gesetzlichen Unterscheidung zwischen Kauf und anderen Veräußerungensarlen orientierte Begründung dafür zu geben, daß der Kreis der Vorkaufsfälle nicht zu eng gefaßt wird. Das Verhältnis des Arbeitsrechts zum allgemeinen Zivilrecht bildet einen besonders spannungs geladenen Schwerpunkt der Problematik juristischer Spezialisierung. Bekanntlich ist strittig, ob von einer Eigenständigkeit des Arbeitsrechts oder von seiner Zugehörigkeit zu einer umfassenden Pmvatrechtsordnung ausgegangen werden soll. Zuletzt sind die gegensätzlichen Auffassungen bei der Tagung der Zivilrechts19

Zu ihr besonders Gerold Stall, Das Steuerschuldverhältnis 1972, 21 ff.;

Maaßen, Privatrechtsbegriffe in den Tatbeständen des Steuerrechts 1977, 51 f. 20 21

Das Vorkaufsrecht im Privatrecht, 1975, 130 ff. Klangs Kommentar zum ABGB, 2. Aufl., Bd. 4/2,S. 872 f.

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lehrervereinigung in Lindau im September 1975 artikuliert worden2!. Eine grundsätzliche Eigenständigkeit des Arbeitsrechts, die die Herausarbeitung eigener Begriffe verlange, wurde von Franz Gamillscheg bejaht23 • Gegen eine Separierung des Indivtdualarbeitsrechts vom Zivilrecht hat sich Zöllner' gewandt. Beide Protagonisten differenzieren ihre Positionen: Garnillscheg leugnet nicht, daß das Arbeitsrecht ein Teil des Zivilrechts sei, Zöllner verschließt nicht die Augen vor den besonderen Zügen des Arbeitsrechts. In Wahrheit sind betde zivilistische Arbeitsrechtler. Im arbeitsrechtlichen Schrifttum fehlt es aber nicht an Autoren - und es sind die schlechtesten nicht -, die in der Tat keine engere Beziehung zum Zivilrecht haben. Gerade in Österreich verbindet eine Gruppe von Forschern das Arbeitsrecht nur mit dem Sozialrecht. Es ist dies eine Kombination, der auch das neue Juristengesetz entspricht. Andere (wie Gerhard Schnorr) kann man als "öffentlich-rechtliche Arbeitsrechtler" kennreichnen. Mit der Verselbständigung des Arbeitsrechts verbinden sich aber wichtigere als wissenschaftliche Konsequenzen. Mit ihr hängt zum einen die Frage zusammen, wie der Rechtsschutz in Arbeitsstreitigkeiten organisiert werden soll. Soll eine besondere Arbeitsgerichtsbarkeit mit spezialisierten Richtern 'aufgebaut werden? Die derzeitige österreichische Gerichtsorganisation hält eine im Ganzen vielleicht glückliche Mitte zwischen Trennung und Integration. Maßnahmen zur Steigerung der arbeitsrechtlichen Problemkenntnisse der Richterschaft wären allerdings wünschenswert. Es stellt sich aber auch die Frage der subsidiären Geltung desallgemeinen Zivilrechts, besonders des ABGB. Sollen für Arbeitsverträge die allgemeinen oder besondere Auslegungsmaximen gelten? Soll es für das Arbeitsrecht eine variantenreiche Doublette zur allgemeinen Ordnung der Rechtsgeschäfte geben oder soll dort, wo nichts Besonderes angeordnet ist, doch das allgemeine Zivilrecht gelten? Der 1960 veröffentlichte 1. Teilentwurf einer Arbeitsrechtskodifikation (ÖRdA 1961, 53) sah in § 5 vor, daß die Bestimmungen des ABGB auf Arbeitsverhältnisse nur insoweit angewendet werden sollen, "als sich nicht ,aus diesem Gesetz oder dem Wesen eines abhängigen Arbeitsverhältnisses deren Unanwendbarkeit ergibt". 22 Zum älteren Diskussionsstand vgl. einerseits (gegen Verselbständigung des Arbeitsrechts) Mayer-Maly, JZ 1961, 206 ff,.; Isele, Juristen-Jahrbuch 8, 1967/8, 63 ff.; Bydlinski, Arbeitsrechtskodiftkation und allgemeines Zivilrecht, 1969; andererseits Gerhard Müller, Struktur und Ressortierung der Rechtspflege, 1961; SchnorT v. Carolsfeld RdA 1964, 297 ff.; Santoro-Passarelli, Rivista di diritto dellavoro 19, 1967, 3 ff. 23 AcP 176, 197 ff., bes. 220. u AcP 176, 1976, 221 ff. bes. 223.

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Dieser Regelungsvorschlag ist bezeichnend für die von einer Desintegration der Rechtsordnung durch Etablierung von Spezialgebieten drohenden Gefahren. In § 5 des 1. Teilentwurfs steckt nicht weniger als eine materielle (und daher im Einzelfall schwer klarzustellende) Teilderogation der Gesamtrechtsordnung. Die gerade bei arbeitsrechtlichen Problemstellungen wichtige Durchschaubarkeit der Rechtslage 2S wird durch eine das Spezialgebiet von der allgemeinen Ordnung emanzipierende Norm massiv gefährdet. Man wende nicht ein, es müsse 'an Stelle der materiellen Teilderogation der allgemeinen Ordnung deren formelle Derogation bei gleichzeitiger Ausformulierung positiver Vorschriften für jedes Sondergebiet treten. Eine solche Vorgangsweise hätte zwar mehr Rechtsklarheit zur Folge, besser überschaubar würde die Rechtsordnung aber gewiß nicht. Für die hier bekundeten Vorbehalte gegen die Emanzipation juristischer Spezialgebiete in Normsetzung, Interpretation und dogmatischer Durchdringung ist juristischer Ästhetizismus das schwächste Motiv. Die "Einheit der Rechtsordnung"28 hat praktische, insbesondere auch soziale Bedeutung. Nur als konsequente Ordnung kann eine Rechtsordnung jene Rechtsverbundenheit erreichen und erhalten, die für ihren dauerhaften Bestand unerläßlich ist. Jede Willkürlichkeit - und sei es nur in der Festsetzung und Behandlung irgendwelcher Fristen27 - und jeder Wertungswiderspruch erschüttert die Eignung einer Rechtsordnung, dauerhafte Anerkennung zu finden. Mögen auch alle Anerkennungstheorien des Rechts falsch sein: Geltung ohne Anerkennung macht eine Rechtsordnung bedeutungslos. Nur eine als Einheit, als konsistenter und konsequenter Begründungszusammenhang28 konzipierte Rechtsordnung kann ein gewisses Maß an überschaubarkeit bewahren. Die Informationskrise des Rechts 29 ist nur zum Teil durch die Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und durch eine sehr strikte Interpretation des Legalitätsprinzips bedingt; zum anderen Teil ist sie ein Nebenprodukt der juristi2S Vgl. Schwarz-Holzer, Die Treuepflicht des Arbeitnehmers und ihre künftige Gestaltung, 1976,155 ff. U Vgl. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935; zur Beziehung zwischen Strafrecht und Zivilrecht Mayer-Maly, Verhandl. d. 6. Öst. Juristentages II/4, 1977, 5 ff. 27 Vgl. Gschnitzer, ÖRdA 1954, Heft 10, S. 3 ff. 28 Zur Integrationsaufgabe des Rechts besonders Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen 21968, 136 ff. 29 Zu ihr einerseits Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, 1969, andererseits Sp. Simitis, Informationskrise des Rechts und Datenverarbeitung, 1970.

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schen Spezialisierung: Der durch lange Zeit mit einem relativ schmalen Sektor befaßte Ministerialreferent tendiert dazu, Regelungsvorschläge für seinen Bereich besonders detailliert zu konzipieren30 ; mit der Zeit macht es ihm immer weniger aus, wenn die Normierung seines Sektors von allgemeinen Grundsätzen abweicht. Er gewinnt Freude an der Besonderheit. Experten -auch auf Lehrstühlen - schaffen dem Sondergebiet eine Literatur, bereichern die Sachprobleme durch erdachte, entwickeln einen allgemeinen Teil des Besonderen. Wäre der spezialisierte Jurist öfter mit der Gesamtrechtsordnung konfrontiert - etwa so oft wie ein unspezialisierter Rechtsanwalt -, ihm verginge die Lust an der Weiterentwicklung von Differenzierungen. Wenn Luhmann meint, die Forderung nach Entdifferenzierung des Rechtssystems sei mit dem Streben nach einer gerechteren Gesellschaft unvereinbar 31 , so muß man ihm entgegenhalten, daß nur eine vom Bürger ,erfaßbare Ordnung gerecht sein kann. Man würde die Problematik juristischer Spezialisierung nur partiell erfassen, sähe man sie nicht auch als ein Phänomen der Wissenschaftsentwicklung überhaupt. Die Ansätze zu einer Wissenschaftssoziologie der Jurisprudenz sind erst bescheiden32• Eines ihrer Themen müßte die Erforschung der Bedingungen und Folgen juristischer Spezialisierung sein33 • Spezialisierung bedeutet, das Prinzip der Arbeitsteilung auf den Bereich geistiger Arbeit zu übertragen. Der Aufbruch der Wissenschaften bildet in der Tat ein Gegenstück zur industriellen Revolution. Ohne Spezialisierung würde sich unser Wissensstand nur viel langsamer vermehren34 • 30 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, 1972, 226: "Selbst vom spezialisierten Rechtsunterricht an der Universität ist die Gesetzgebungspraxis weit entfernt, keinerlei Rücksicht nehmend auf die Lehrbarkeit des neu geschaffenen und immer wieder geänderten Rechts." 31 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, 39; gegen die bedenkliche Verteidigung von Gesetzesftut und Kodifikationsunfähigkeit durch Esser, 100 Jahre oberste deutsche Justizbehörde, 1977, 13 ff., 18 ff., 38 f. vgl. Redeker, NJW 1977, 1183 und HonseH, Vom heutigen Stil der Gesetzgebung, 1979,21. 32 Vgl. immerhin das "Programm einer Wissenschaftssoziologie der Jurisprudenz" von Klausa, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 18/1975, 100 ff.; wertvolle Hinweise zu den folgenden Ausführungen verdanke ich Herrn Kollegen M. Rassem und seinen Mitarbeitern vom Institut f. Soziologie an der Universität Salzburg. 33 Als Paradigma für die Untersuchung der Entwicklung eines naturwissenschaftlichen Spezialgebietes nenne ich Mullins, Die Entwicklung eines wissenschaftlichen Spezialgebiets: die Phagen-Gruppe und die Ursprünge der Molekularbiologie, in: Weingart, Wissenschaftssoziologie 2: Determinanten wissenschaftlicher Entwicklung 1974, 184 ff.; allgemein zu Gesetzmäßigkeiten bei der Entwicklung wissenschaftlicher Spezialgebiete Whitley, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 18/1975, 135 ff. 34 Talcot Parsons, The Institutionalization of Scientific Investigation, in: Barber-Hirsch, The Sociology of Science, 1962, 7, 9 f.

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Vermehrung des Wissensstandes ist allerdings für die Jurisprudenz längst nicht so wichtig wie für die meisten anderen Disziplinen. Ihre gesellschaftliche Leistung - das Anbieten von Lösungsentwürfen für Konfiiktfälle - hängt weniger vom Ausmaß der nutzbar gemachten Informationen als vor allem von der Durchschaubarkeit der zu beachtenden Normen und PräjU'dizien sowie von der Nachvollziehbarkeit der Argumente ab. Die oft mit wissenschaftlicher Spezialisierung einhergehende Tendenz zur Etablierung einer besonderen F'achsprache35 fehlt zwar auch unter Juristen nicht, ist aber in praxisbezogenen Rechtsfächern viel seltener als in anderen Wissenschaftszweigen. Kein Geringerer als Max Weber38 hat das hohe Lied der Spezialisierung gesungen: "Nur durch strenge Spezialisierung kann der wissenschaftliche Arbeiter tatsächlich das Vollgefühl, einmal und vielleicht nie wieder im Leben, sich zu eigen machen: hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird. Eine wirklich endgültige und tüchtige Leistung ist heute stets: eine spezialisierte Leistung. Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen, . . . der bleibe der Wissenschaft nur ja fern." Es sei zugestanden, daß sehr viele Erkenntnisse nur durch Spezialisierung möglich sind. Die Demut und der Verzicht, die den Spezialisten ebenso oft auszeichnen wie die überschätzung der Bedeutung seines Teilgebiets, sollen nicht gering geachtet werden. Es soll auch nicht billig auf eine Trendumkehr verwiesen werden, wie sie sich etwa im pädagogischen Schrifttum von Robert Maynard Hutchins 37 - Hutchins war übrigens auch Jurist - manifestiert. Auch mag es zu emotional und romantisch sein, wenn Heidegger 38 von einer zerfallenen Vielfältigkeit von Disziplinen spricht und beklagt, daß die Verwurzelung der Wissenschaften in ihrem Wesens grund abgestorben sei.

Wesentlich ist aber, daß alle durch Spezialisierung erzielte Erkenntnis, um voll auswertbar zu werden, der Vermittlung mit einem umfassenden Wissenstand, mit einem weit gespannten Problembewußtsein bedarf. Daher ist ein Wechselspiel zwischen Speztaldisziplinen und Integrationswissenschaften unerläßlich. Gilt dies schon für das weite Feld der Wissenschaften, so erst recht für die Disziplinen der Jurisprudenz. Für die wissenschaftliche Arbeit im allgemeinen wie für die rechtswis35 Vgl. Bühl, Einführung in die Wissenschaftssoziologie, 1974, 177; Gerhard Frey, Unabdingbarkeit und Destruierbarkeit der Metaphysik, in: Perspektiven der Philosophie 3,1977,31,34. 38 Wissenschaft als Beruf 61967, 11 f. 37 The Higher Learning in America, 1936; Some Questions ab out Education in North America, 1953. 38 Was ist Metaphysik?, 1929.

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senschaftliche im besonderen ist es also nicht belanglos, daß sich der österreichische Gesetzgeber in § 1, Abs.2 lit c des allgemeinen Hochschulstudiengesetzes den Gedanken der Einheit der Wissenschaft zu eigen gemacht hat. Der Wert einer juristischen Spezialisierung auf Immaterialgüterrecht, Arbeitsrecht, Verkehrsrecht, internationales Privatrecht oder Gemeinderecht soll hier gar nicht abgestritten werden. In allen diesen Gebieten ist der Rechtsstoff so diffizil geworden, daß der nicht spezialisierte "Universalpriv,atrechtler" oder "Universalpublizist" Gefahr läuft, Wichtiges zu übersehen und im Ergebnis eine falsche Diagnose zu stellen39 • Dabei mag es unter diesem Aspekt dahinstehen, ob die Diffizilität bestimmter Rechtsgebiete - etwa des Bereicherungsrechts40 - wirklich unvermeidbar ist. Wichtig ist vielmehr, daß neben die juristischen Spezial disziplinen eine juristische Integrationswissenschaft tritt, die man enzyklopädische Jurisprudenz nennen könnte. Ihre Aufgabe hat es zu sein, die Entwicklung der Spez~algebiete zu verfolgen und immer dann zum Gegenstand einer allgemeineren Diskussion zu machen, wenn sich willkürliche Differenzierungen, Wertungswidersprüche und Systembrüche abzeichnen. Die Jurisprudenz hat zum Gedanken der Enzyklopädie eine alte Beziehungu . Ein Einfluß des Programms der französischen Enzyklopädisten42 ist unverkennbar. Diderots überzeugung que tout s'y enchaine et s'y succede par des nuances imperceptibles, führt ebenso zur juristischen Enzyklopädie wie zur Lehre von der Einheit der Rechtsordnung. Enzyklopädie ist ein gelehrtes Kunstwort der frühen NeuzeW 3 • Die 38 Zu den Parallelen zwischen juristischer und medizinischer Spezialisierung GreenwoodlFrederickson, Specialization in the Medical and Legal Professions, in: Countryman/Finman, The Lawyer in Modern Society 1966, 722 ff. 40 Gegen immer neue Differenzierungen im Namen der Gerechtigkeit Larenz, Festschrift v. Caemmerer, 1978,209,210; vgl. auch Canaris, Festschrift Larenz 1973, 799; Selb, JZ 1975, 193. 41 Vgl. etwa Gustav Hugo, Lehrbuch der juristischen Encyclopädie, 1792 (2. Aufl. 1799, 8. Aufl. 1835); Friedländer, Juristische Encyclopädie, 1847; Warnkönig, Juristische Encyclopädie, 1853; Ahrens (ein Grazer Professor), Juristische Encyclopädie, 1857; Volk, Die Juristische Encyclopädie des Nikolaus Falk,

1970.

42 Zu diesem Schalk, Einleitung in die Encyclopädie der französischen Aufklärung, 1936; Proust, L'EncyclopMie, 1965; zu den Anfängen der Fachenzyklopädien - auch der juristischen - Dierse, Enzyklopädie: Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, Archiv für Begriffsgeschichte, Supplementheft 2, 1977, 74 ff. 43 Henningsen, Archiv für Begriffsgeschichte 10, 1966, 271, 274; vgl. seither Dierse, Enzyklopädie, Diss. Münster 1971.

Jurist~sches

Spezialistentum und enzyklopädische Jurisprudenz

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Antike kennt nur die EVXUXALO~ ltatöe[u". Diese meint ursprünglich wohl ein:ßach die landläufige Bildung45 , später die im Kreis sich bewegende, in diskursivem Vorgang erworbene Bildung. Das Programm des rationalistischen Enzyklopädismus, das dann auch die juristischen Enzyklopädien des 18. und 19. Jahrhunderts auslöst, ist von der überzeugung getragen, Zusammenfassung des Wissens erschließe ihrerseits Einsicht. In der Pädagogik ist der Enzyklopädismusauf Widerstand gestoßen. Statt einer enzyklopädischen wird eine exemplarische Pädagogik gefordert48 • Auch Rechtsunterrich,t muß exemplarisch vorgehen. Ein überfrachten des Studien- und Prüfungsstoffes mit positivreChtlichem Detail kann nicht energisch genug abgelehnt werden (kommt aber dennoch allzu oft vor). Um aber die Exempel richtig wählen zu können, muß man das Material insgesamt überblicken. Daher ist gute Rechtsdidaktik auf enzyklopädische Jurisprudenz ebenso angewiesen wie auf spezialisierte. Die Bestrebungen, sich in der Juristenausbildung von der Erziehung eines "Einheitsjuristen" abzuwenden und schon in der Ausbildungsphase eine Spezialisierung einzuleiten47 , sind daher als bedenklich zu bezeichnen. Vor allem aber wäre der Praxis nicht mit einer exemplarischen Jurisprudenz gedient. Die Hilfestellung, die ihr die akademische Rechtspflege in Form von Monographien, Systemwerken und Kommentaren schuldet (und nicht zuletzt dank eines dürftigen juristischen Publikationswesens in Österreich oft schuldig bleibt), muß einerseits von Spezialisten, andererseits 'aber von einer juristischen Integrationswissenschaft geboten werden. An Beispielen für spontane Integrationsversuche fehlt es nicht. Längst ist der Versuch unternommen worden, die Bewertungsmaßstäbe des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts in eine sinnvolle Beziehung zueinander zu setzen, längst wurden allgemeine Fragen wie Tatbestand und Folgen des Rechtsrnißbrauchs unter überschreitung von Fachgrenzen erörtert. Ohne Institutionalisierung wird aber in Zukunft nicht auszukommen sein. Der betrübliche Hang österreichischer Rechtsfakultäten zu engen Venien, eng umschriebenen Lehrstühlen und kleinen Instituten macht die Gewährleistung eines Korrektivs unerläßlich. Gefordert wird mitnichten eine Ächtung des juristischen Spezialistentums. Es ist längst unvermeidbar. Gefordert wird vielmehr eine Ergänzung des juristischen Arbeitsprogramms um eine rechtswissenschaftliche 44 Vgl. Hermann Koller, Glotta 34, 1955, 174; Kühnert, Allgemeinbildung und Fachbildung in der Antike, 1961. 45 Henningsen, a. a. O. (Anm. 36), 304. 46 Vgl. "Das exemplarische Prinzip" (hg. v. B. Gerner, 1963). 47 F. Kübler, Juristenausbildung im Zielkonflikt, 1971, 17 f.; Lenk, Zeitschrift f. Rechtspolitik, 1975, 234, 237.

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Integrationsdisziplin. Das bedeutet konkret: einige neue Lehrstühle und Institute, ein geeignetes Publikationsorgan und ein gesamtösterreichisch abgestimmtes Arbeitsprogramm. Erwägenswert ist überdies, neben den Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts einen weiteren Dienst zu stellen, der die Aufgabe hätte, auf die Gefahr von Wertungswidersprüchen und anderen Bedrohungen der Einheit der Rechtsordnung hinzuweisen. Wichtiger -als institutionelle Maßnahmen aber ist ein Umdenken in der Art der Problembehandlung. Nicht isolierende, sondern übergreifende Argumentationsweise gibt uns die Chance, auch in Zukunft hinter der Fülle der Vorschriften auf das Recht zu stoßen.

DAS GESETZ UND SEINE FUNKTIONEN HEUTE· Entwicklungstendenzen des Rechtsstaates

Von Herbert Schambeck Kein Begriff des Rechtsdenkens hat seit alters her so den Wandel im Ordnungsgefüge von Einzelmensch, Gesellschaft und Staat durch- und

mitzumachen, wie der Begriff des Gesetzes 1 • Vom jus, fas und lex der Römer2 bis zur Mehrzweckeverwendung des Gesetzes im Staat der technisierten Industriegesellschaft der Gegenwart3 war ein weiter Weg zurückzulegen; er wurde zunächst von der Abstufung des Rechts in lex aeterna, lex naturalis und lex temporalis bzw. lex humana bei Augustinus4 und Thomas von AquinS erlaßt, und in der Neuzeit vom Nominalismus, Voluntarismus und Rationalismus seinen präpositiven Bezüge so entzogene, daß der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts einen Begriff des Gesetzes prägen konnte, für den nur mehr die Form, nicht mehr der Inhalt bestimmend wurde7 • Dieser Gesetzesbegriff wurde zum Instrument des Verfassungsstaates8, der sich im 19. Jh. in einer Symbiose von Liberalismus und Demokratismus allmählich entwickelte und mit der Erweiterung der Anerkennung von Staatszwecken über den Rechts- und Machtzweck zum Kultur- und Wohlfahrtszweck sich auch von der Ord-

* Vortrag, gehalten am 10. November 1979 an der Sophia-Universität in Tokio. 1 Siehe Max Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatlicher Verwaltung, Basel und Stuttgart 1962; Hermann Eichler, Gesetz und System, Berlin 1970, und Thomas FZeiner-Gerster, Grundzüge des allgemeinen und schweizerischen Verwaltungsrechts, Zürich 1980, S. 55 ff. 2 Siehe Pierre NoaiUes, Fas et jus, Paris 1948; Max Kaser, Das altrömische ius, Göttingen 1949; ders., Das römische Privatrecht, 2. Aufl., 1. Abschnitt, München 1971, S. 24 ff. und 2. Aufl., 2. Abschnitt, München 1975, S. 52 ff; Gerardo Broggini, lus lexque esto, in: Coniectanea, Milano 1966, S. 55 ff. 3 Dazu Hans R. Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, Wien-Freiburg-BaseI1967. 4 Siehe die Darstellung dazu bei AZfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Auflage, Wien 1963, S. 63 ff. S Näher Verdross, a. a. 0., S. 74 ff. 6 Hiezu Verdross, a. a. 0., S. 83 ff. und S.100 ff. 7 Siehe Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, bes. S. 430 ff. und S. 458 ff. S Beachte Carl Joachim Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1953.

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nungsbewahrung zur Sozialgestaltung enwickelte9 • War der Staat früher, um mit Ferdinand Lassalle zu sprechen, als bloßer Nachtwächterstaat10 vor ,allem für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit verantwortlich, so ist der Staat heute auch für kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit zuständig geworden. Jede Zweckerfüllung ist dem Staat erlaubt, wenn er sie nur auf dem Wege eines Gesetzes zu erreichen sucht und keine Grundrechte dabei verletzt. Der Staat hat auf diese Weise in Gesetzesform seine Entwicklung vom Rechtsbewahrungsstaat zum Rechtswegestaat genommen11 ; eine Entwicklung, die es zu bedenken gilt12 • I. Kennzeichnend tür das Gesetz ist es, daß es Rechtssätze enthält, welche einen allgemeinen, nämlich generell abstrakten Charakter aufweisen. In den Digesten der Römer lesen wir, daß sie "non in singulas personas, sed generaliter constituuntur"13.

Dieser generell-abstrakte Charakter kann dem Gesetz nur dann eignen und eine für alle zukünftigen Fälle der betroffenen Rechtsadressaten gleich geltende Regelung als sanktionsbewährte Sozialgestaltungsempfehlung darstellen, wenn vor der Rechtssetzung im Akt der Gesetzgebung eine derartige Regelmäßigkeit in dem zu ordnenden Lebenssachverhalt gegeben ist. Die Normativität des positiven Rechtes im Gesetz setzt die Normalität der Lage im Sozialleben voraus. RechtLiche Normativität und effektive Normalität stehen in einem wechselseitigen Zusammenhang14 ! Neben dem .generell abstrakten Charakter eignet dem Gesetz ein weiteres Merkmal, nämlich der spezifische Weg der Rechtssetzung, der das Gesetz als generell abstrakte Norm von der Verordnung, die ebenfalls 9 Zu dieser Entwicklung der Staatszwecke HerbertSchambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Berlin 1969, bes. S. 120 ff. 10 Ferdinand Lasalle, Arbeitsprogramm, Rede über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes, gehalten am 12. April 1862 in Berlin im Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, abgedruckt in: Ferdinand Lasalles Gesammelte Reden und Schriften, herausgegeben und eingeleitet von Eduard Bernstein, Band H, Berlin 1920/21, S. 195. 11 Adolf Merkl, Reine Rechtslehre und Moralordnung, Osterreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, Band XI, Heft 3 - 4, Festnummer für Hans Kelsen zum 80. Geburtstag, S. 303. 12 Dazu ausführlich Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Berlin 1970. 13 D.1, 3, 8. 14 So auch Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945, Neudruck Darmstadt 1971, S. 10 und S. 26.

Das Gesetz und seine Funktionen heute

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einen generell abstrakten Charakter besitzt, unterscheidet. Während die Verordnung von einer Verwaltungsbehörde erlassen wurde, geht das Gesetz auf den Rechtssetzungsakt eines von der Verfassung eigens legitimierten Organs zurück, nämlich des Gesetzgebungsorgans. Dieses Gesetzgebungsorgan kann in einem autoritären Staat eine Einzelperson, sei es ein Monarch oder ein Diktator, oder eine Personengruppe sein, sei es eine Militärjunta oder das Zentralkomitee einer Einheitspartei; in einem demokratischen Staat wird diese Rechtssetzungsfunktion hingegen - und das ist erfreulicherweise öfters der Fall - von einem Parlament erfüllt, das sich im Zuge der Verfassungswerdung des Staates und seiner Demokratisierung von einer Ständeversammlung zu einer Volksvertretung entwickelt hat. In einem derartigen demokratischen Rechtsstaat ist das Gesetz somit Ausdruck demokratischer, nämlich parlamentarischer Staatswillensbildung; das Gesetz teilt daher das Schicksal der Demokratie, von der nicht zu Unrecht Winston ChurchiZZ sagte, sie zählt zu dem Anstrengendsten in der Politik. Die Anstrengung der Demokratie in der Gesetzgebung beginnt schon in der unterschiedlichen Anwendung der Gesetzesform in der Rechtssetzung. Der demokratische Verfassungs- und Rechtsstaat ist von der Untersche1dung in Verfassungsgesetze und einfache Gesetze gekennzeichnet; beiden eignet, daß sie generell abstrakte Normen sind, welche auf dem Wege demokratischer Staatswillensbildung zustande gekommen sind; der Unterschied liegt in der Form des Zustandekommens und der Kundmachung sowie bisweilen auch im Inhalt der Gesetze. Die in Gesetzesform beschlossene Verfassung stellt die normative Grundordnung des Staates dar 15 • Die Verfassung wird - mehr oder weniger - auch die politiJSche Grundlage für den Staat bilden, wenn sie in als Verfassungsnormen beschlossenen Gesetzbestimmungen, nämlich in der Verfassung im formellen Sinn, auch die wichtigsten Ordnungsanliegen des Staates, nämlich die Verfassung im materiellen Sinn, beinhaltet. Derartige Ordnungsanliegen des Staates, die für den Fall einer Entsprechung der Verfassung im materiellen Sinn im Verfassungsrecht ihre Regelung finden, sind erstens die Bestimmungen über die Ausübung der Staatsgewalt in den drei Staatsfunktionen, nämlich der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, also die Staatsorganisationsvorschriften und zweitens die Regelung des Verhältnisses von Staat und Einzelmenschen, nämlich die Grundrechte. Diese Zweiteilung in den klassischen Verfassungen zeigte sich schon im 17. und 18.Jh. in der Zweiteilung der nordamerikanischen Pflanzungsverträge und später in 15 Siehe Kägi, a. a. 0.; Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung, in: Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, Wien 1971, S. 211 ff. und Peter Häberte, Verfassung als öffentlicher Prozeß, BerUn

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Verfassungen der nord amerikanischen Staaten, nämlich in frame of government und bill oder declaration of rights 16 • In der folgenden Zeit sind die Verfassungen von beiden Teilen, nämlich von den Staatsorganisationsvorschriften und den Grundrechten, gekennzeichnet gewesen; 'aus letzterer Zeit sei das Bonner Grundgesetz 1949 17 und die Spanische Verfassung 197818 genannt. Manche Verfassungen enthalten wieder nur ein System ihres Staatsaufbaues und die Grundrechte in einem eigenen Verfassungsgesetz, das zum Fundamentalgesetz einen ergänzenden Charakter hat. Als Beispiel sei das österreichische Verfassungsrechtssystem genannt19 , in dem das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 keinen eigenen Grundrechtskatalog aufweist, da sich die politischen Parteien in der konstituierenden Nationalversammlung von 1918 bis 1920 auf keilIlen neuen Grundrechtskatalog für die neugeschaffene Republik Österreich einigen konnten, weshalb sie die 1867 von Kaiser Franz Joseph I. erlassenen Grundrechte, nämlich das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus der sogenannten Dezemberverfassung 1867, übernahmen20 • Durch diese Rezeption gelten heute mehr als sechzig Jahre nach Ausrufung der Republik in Österreich für die Stellung des Einzelmenschen im Staat immer noch die Rechte, die 1867, also vor mehr als hundert Jahren, als es noch keine demokratische Volksvertretung gab, die seinerzeit in Österreich vorherrschenden Liberalen dem damals noch absolutistisch denkenden Monarchen abgetrotzt haben! So kann sich in einer Verfassung die Geschichte eines Staates auch bei Wechsel der Staatsform und bei einer juristischen Neustaatsgründung fortsetzen. Wie treffend hat diesbezüglich J ose Llompart in seiner Schrift über "Die Geschichtlichkeit der Rech1Jsprinzipien" erklärt: "Die Wirklichkeit der Verfassung aber hat die Geschichte zur Mutter und so ist es nicht möglich, das Verfassungsrecht von der Geschichte zu abstrahieren21 ." Österreich ist für diese richtige Feststellung ein treffender Beweis. 1·6 Beachte Georg JeHinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S. 505 ff. und bes. S. 517 ff. 17 Dazu Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band l, München 1977 sowie Band II, München 1980. 18 Siehe Herbert Schambeck, Die Verfassung Spaniens 1978, in: lus Humanitatis, Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, Berlin 1980, S.187 ff. 19 Dazu u. a. Ludwig Adamovich, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechtes, 6. Aufl., Wien 1971 und Robert WaZterlHeinz Mayer, Grundriß des österreichischen Verfassungsrechtes, 3. Aufl., Wien 1980. 20 Näher FeZix Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte, ein Kommentar zu den österreichischen Grundrechtsbestimmungen, Wien 1963, und Ernst C. HeZZbZing, österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2. Aufl., Wien-New York 1974, S. 387 ff. und S. 447 f. 21 Jose Llompart, Die Geschichtlichkeit der Rechtsprinzipien, Frankfurt am Main 1976, S. 160.

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In Auseinandersetzung mit der Geschichte seiner Entwicklung bildet sich das Verfassungsgesetz weiter. Ihrer Entstehung und ihrer Form nach hat die Verfassung in einer absolutistisch-autoritären Zeit den Charakter einer einseitig verkündeten Proklamation, in einer Zeit der Ständeordnung den einer Vereinbarung und mit der Demokratisierung der StaatswillensbHdung den Charakter eines Gesetzes Z2 • In Gesetzesform kann das Verfassungsrecht in einer einzigen Urkunde oder in einer Mehrzahl von Verfassungsrechtsquellen enthalten sein; in ÖSterreich ist letzteres der Fall: neben dem Bundes-Verfassungsgesetz 1920 ist das österreichische Verfassungsrecht in weiteren Verfassungs gesetzen des Bundes und der Länder sowie in einfachen Gesetzen enthaltenen Verfassungsbestimmungen und in verfassungsändernden Staatsverträgen enthalten2za • In jüngster Zeit entspricht der Verfassungsrechtsinhalt häufig einem dritten Erfordernis der Verfassung im materiellen Sinn, nämlich in den Angaben von eigenen Staatszweckbestimmungen, in welchen über den Primärzweck des Staates, nämlich den Rechts- und Machtzweck hinaus Angaben gemacht weIden, wie weit ein solcher Staat auch wirtschafts-, sozial- und kulturpolitische Aktivitäten entfalten SOH2S. In diesem Zusammenhang darf ich Spanien280 und die Bundesrepublik Deutschland23b wieder 'als Beispiel anführen; wo die soziale Rechtsstaatlichkeit als Staatszielbestimmung im Verfassungsrecht ausdrücklich vorgeschrieben wird. Österreich hingegen folgt dem Kelsenschen Positivismus 24 und verhielt sich neutral gegenüber einer Mehrzahl von Staatszwecken, was dem einfachen Gesetzgeber einen großen Spielraum gelassen, den Österreich zur Schaffung eines auf einfachen Gesetzen beruhenden sozialen Rechtsstaates genützt hat. Dazu Schambeck, Der Verfassungsbegriff, S. 216 ff. Hiezu Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von HeTbeTt Schambeck, Berlin 1980. 28 Beachte Adolf MeTkl, Staatszweck und öffentliches Interesse, Verwaltungsarchiv 1919, 27. Bd., S. 268 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 2. Bd., Wien - Salzburg 1968, S. 1559 ff. und HeTbeTt Schambeck, Die Staatszwecke der Republik Österreich, in: Die Republik Osterreich Gestalt und Funktion ihrer Verfassung, Wien 1968, S. 243 ff. 23" Näher Schambeck, Die Verfassung Spaniens 1978, S. 187 ff. 23b Beachte Stem, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, S. 678 ff. 24 Näher Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Charlottenburg 1928 und derselbe, Reine Rechtslehre, Wien 1934; dazu Emst C. HeUbling, Osterreichische Verfassungsfragen im Lichte der Reinen Rechtslehre, Osterreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, Band XI, Heft 3 - 4, Hans Kelsen zum 80. Geburtstag, S. 346 ff. und Roben Walter, Reine Rechtslehre und ..Wertbetrachtung im Recht", in: Festschrift Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, Wien 1971, S. 309 ff. 22

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Herbert Schambeck

ll. Der Hinweis auf Inhalt und Form des Verfassungs gesetzes ist deshalb so wichtig, da nach der von Adolf Merkl entwickelten Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung die Verfassung die Grundlage des Staates insofern bildet, als jeder übrige Akt der Rechtsordnung der Verfassungskonkretisierung dient25 •

Adolf Merkl geht von einer Rechtsordnung mit einer großen Mannigfaltigkeit der Rechtssatzformenaus. Diese Formuntenschiede ergeben sich nicht nur aus dem Vergleich verschiedener Rechtsordnungen, sondern auch innerhalb ein- und dersetben Rechtsordnung, wenn eine Differenzierung der Rechtssetzungsakte z. B. in Verfassungsgesetz, einfache Gesetze, Verordnungen, Vollziehungsakte, in Zivil- und Strafurteile der Gerichte sowie Bescheide der Verwaltungsbehörden und Vollstreckungsakte vorgesehen ist. Ein Pluralismus der Rechtsquellen ist die Folge. Diese verschiedenen Rechtssatzformen stehen zueinander nicht im Verhältnis der Gleichordnung, sondern vor allem in dem der über- und Unterordnung. Die sich daraus ergebende Beziehung der einzelnen Rechtssatzformen deutet auf eine Abhängigkeit hin. So haben alle höherrangigen Rechtssätze als bedingende Akte gleichzeitig eine rechtssetzende Natur, sie machen erst die Rechtsanwendung möglich; das Verrassungsgesetz ist die Grundlage für die Ausführungsgesetzgebung; diese bedingten Akte mit rechtsvollziehender Natur sind aber selbst wieder Voraussetzungen für die weitere Ausführung durch Verordnungen; und diese sind ihrerseits Grundlage für die einzelnen Vollzugsakte, welche die VolLstreckungsbeschlüsse erst möglich machen. Der oberste Akt ist bloß rechtssetzender Natur, der unterste Akt bloß rechtsvollziehender Natur; alle dazwischenliegenden Akte haben einen gemischten Charakter (einen character duplex), denn sie weisen auf ein doppeltes Rechtsantlitz hin, das alle Akte von oben her als Akte der Rechtssetzung, von unten her als solche der Vollziehung erscheinen läßt. Das Gesetz ist also nicht die Endgestalt des Rechtes. Es muß sich vielmehr, wie Merkl es so schön bildlich darstellt, aus der Schale des Ver25 Hiezu Adolf Merkl, Das Recht im Lichte seiner Anwendung, Deutsche Richterzeitung 1918, S.56ff.; derselbe, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1927, Neudruck Dannstadt 1970, insbes. S. 157ff. und derselbe, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931, S. 252ff. Vgl. dazu aus der jüngeren Literatur insbes. Roben Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, Wien 1974; Kurt Ringhofer, Strukturprobleme des Rechts, Wien 1966, S. 21ff.; Karl Korinek, Das Organstrafmandat im Lichte der Lehre vom freien Ermessen, in: Festschrift für Ernst C. Hellbling, Salzburg 1971, S.328ff.; derselbe, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 39, Berlin 1981, im Druck.

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fassungsrechtssatzes der Kern des Einzelrechtsfalls herausentwickeln. Die Gesetzgebung schließt demnach die Rechtserzeugung nicht ab, sie macht sie vielmehr erst möglich und setzt sich, bildlich gesprochen, "in der Weise von Katarakten eines Wasserlaufes in mehreren Stufen fort". Aus dieser Stufenfolge von Rechtssatzformen ergibt sich eine Stufenfolge der Staatsfunktionen. Betrachten wir diesen Stufenbau der Rechtsordnung, der heute weltweit jedem von einem Rechtsquellenpluralismus gekennzeichneten demokratischen Rechtsstaat eignet, so müssen wir feststellen, daß jedem Akt der Verjassungskonkretisierung eine politische Entscheidung vorangeht, z. B. auf Grund der Verfassungs ermächtigung im Parlament ein Gesetz zu beschließen oder auf Grund des Gesetzes von der Behörde eine Verordnung zu erl