Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart: Festgabe für Alois Troller zum 80. Geburtstag [1 ed.] 9783428461868, 9783428061860

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Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart: Festgabe für Alois Troller zum 80. Geburtstag [1 ed.]
 9783428461868, 9783428061860

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Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart

Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart Festgabe für Alois Troller zum 80. Geburtstag

Herausgegeben von

Werner Krawietz und Walter Ott

DUNCKER

d:

HUMBLOT

I

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart: Festgabe für Alois TroUer zum 80. Geburtstag I hrsg. von Werner Krawietz u. Walter Dtt. - Berlin: Duncker und Humblot, 1987. ISBN 3-428-06186-1 NE: Krawietz, Werner [Hrsg.]; TroUer, Alois: Festschrift

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen wiedergabe und der übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten @ 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Gedruckt 1987 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06186-1

Non minor sed minus lulgens

Vorwort Wer sich an einem schönen Sommertag von Bellinzona aus mit dem Auto dem schweizerischen Teil des Lago Maggiore nähert und an dessen Ostseite - die kurvenreiche Bergstraße benutzend - bis zu dem kleinen Ort Fosano emporfährt, der kann mit ein wenig Glück den Jubilar in seinem Feriendomizil antreffen. Vielleicht wird er ihn hier, fern von seiner Luzerner Anwaltskanzlei, mit der Axt oder dem Spaten in der Hand antreffen, in der Kleidung des Bergbauern, der sein Grundstück instand hält. Dieser Eindruck verfliegt jedoch rasch, wenn wir ein wenig später im Gespräch mit Alois Troller vor seinem steingedeckten Landhaus auf dem weiten Rasenplatz sitzen, inmitten einer geschichtsträchtigen Lebenswelt: Vor uns rechts unten, auf der anderen Seeseite Locarno, links davon, sich in den See hinausschiebend, das lebensvolle Ascona, dahinter Bergketten, die durch Täler voneinander getrennt werden. Was sich dem Betrachter dieser Szenerie unmittelbar aufdrängt, das ist die jeweils perspektivisch bedingte HorizonthaJtigkeit des menschlichen Lebens und seiner Möglichkeiten - in - der - Welt, die freilich auch ergriffen und verantwortet sein wollen. Bestimmt diese Horizonthaftigkeit allen menschlichen Erlebens und HandeIns vielleicht auch den Zugang zum Rechtsdenken von Alois Troller? Ganz ohne jeden Zweifel hat kein anderer seine Theorie und Philosophie des Rechts so grundlegend geprägt, sein Rechtsdenken in methodologischer Hinsicht so wirksam bestimmt wie Edmund Husserl, dessen logische U ntersuchungen und dessen transzendentale Phänomenologie vor allem in der Form seines Spätwerks nachhaltigen Einfluß auf das Rechtsdenken des Jubilars ausübten. Von daher rechtfertigt sich auch der Titel dieser Festgabe, die Alois Troller von einem über die ganze Welt verstreuten Kreise von Freunden, einschlägig tätigen Fachkollegen und Rechtsphilosophen zu seinem 80. Geburtstag am 15. Mai 1986 dargebracht wird. Im Vordergrund stehen somit hier nicht seine rechtsdogmatischen Arbeiten im Bereich des Immaterialgüterrechts, insbesondere im Patent-, Marken-, Urheber-, Muster- und Modell- sowie im Wettbewerbsrecht, die bereits von Fachkollegen in einer im Jahre 1976 erschienenen Festschrift gewürdigt wurden; jedoch wird deren - zusammen mit Trollers Arbeiten zur rechtswissenschaftlichen und philosophischen Grundlagenforschung - bis heute auf insgesamt mehr als 600 Titel angewachsener Umfang und Inhalt hier erstmals in einer von Dieter Wyduckel verfaßten räsonierenden Bibliographie im Detail nachgewiesen und belegt. Der Embarras de richesse, der das bisherige wissenschaftliche Lebenswerk von Alois Troller kennzeichnet, wird diejenigen, die ihn bislang vornehmlich als Vertreter dogmatischer Rechtswissenschaft, insbesondere als Autor des international

VI

Vorwort

bekannten zweibändigen, in den Jahren 1983/85 in dritter Auflage erschienenen Lehrbuchs zum "Immaterialgüterrecht" kennen, vermutlich ebenso überraschen wie seine in der rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Grundlagenforschung tätigen Freunde und Kollegen, die ihn wegen seiner vielfältigen wissenschaftlichen Verdienste mit dieser Festgabe ehren wollen. Es wird das - wohl nur ihm zugängliche - Geheimnis von Alois Troller bleiben, wie es ihm gelungen ist, über viele Jahrzehnte hinweg zugleich als Rechtsanwalt, als hoch befähigter Wissenschaftler und als engagierte Persönlichkeit im öffentlichen Leben, über die Grenzen seines heimischen schweizerischen Wirkungskreises hinaus, tätig zu sein, ohne sich zu verzetteln und ohne an Detailkenntnis und Tiefgang zu verlieren. Offensichtlich versuchte Troller sich schon sehr früh darin, in verschiedenen Sätteln zu reiten und den diversen Anforderungen gerecht zu werden. Am 15. Mai 1906 in Bad Knutwil, Kanton Luzern, geboren, legte er nach Schulbesuch in Luzemim Jahre 1926 das Abitur ab. 1926 begann er ein Rechtsstudium in Bern, doch unterbrach er es alsbald, um sich von 1927-1931 in München als Sänger auszubilden und Sprachen zu studieren. Erst 1934 -1935 nahm er in Basel das Rechtsstudium wieder auf, um es im Sommersemester 1935 in Freiburg i. Ue. fortzusetzen. Dort promovierte er 1937 zum Dr. iur. Im Jahre 1938 legte er das Anwaltsexamen in Luzern ab, wo er sich 1941 als selbständiger Anwalt niederließ und bis auf den heutigen Tag wirkt. Spätestens hier wird deutlich, was seine schweizerische Juristenkarriere von einer deutschen zu jener Zeit unterschied. Durch die Wirren des Zweiten Weltkriegs nicht beeinträchtigt, vermochte er im Jahre 1942 das Manuskript seines ersten Buchs "Von den Grundlagen des zivilprozessualen Formalismus" abzuschließen, das im Jahre 1945 veröffentlicht wurde. In ihm klingen bereits eine ganze Reihe derjenigen Themen und Probleme an, die ihn im Rahmen der rechtswissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Grundlagenforschung ein Leben lang beschäftigen sollten. All dies hätte für eine normale Juristenkarriere als Anwalt längst ausgereicht, aber nicht für Alois Troller. In den Jahren 1950-1976 war er zugleich als Lehrbeauftragter für Immaterialgüterrecht an der Universität Freiburg i. Ue. tätig; von 1971 bis 1978 auch als Lehrbeauftragter für Rechtsphilosophie. Schon im Jahre 1957 wurde er in Anerkennung seiner Verdienste zum Titularprofessor ernannt. Auch an sonstigen akademischen Ehrungen hat es ihm nicht gefehlt. Die Rechtsfakultäten der Universitäten Lund (1967) und Lausanne (1980) verliehen ihm den Dr. iur. h. c. Daß eine Persönlichkeit wie Alois Troller und ein Mann von seiner Tatkraft und seinen Fähigkeiten durch all dies - unbeschadet der in diesem Band dokumentierten fortlaufenden wissenschaftlichen Tätigkeit - keineswegs voll ausgelastet war, beweisen seine diversen Aktivitäten im Bereich von Kunst und Musik. Eine Ausstellung der Werke von Henri Matisse im Musee des Beaux Arts, in Luzern, kam nur deshalb zustande, weil er in seiner Eigenschaft als

Vorwort

VII

Vorsitzender des Kunstvereins unangemeldet den schon bettlägerigen Meister an seinem Wohnort in Südfrankreich aufsuchte und im persönlichen Gespräch von der Notwendigkeit dieser Ausstellung überzeugte. Unvergessen ist in Luzern ferner seine langjährige Tätigkeit als Präsident der Internationalen Musikfestwochen. In Anerkennung seiner Verdienste wurde ihm 1967 der Kulturpreis der Innerschweiz verliehen; 1983 erhielt Alois Troller die Ehrennadel der Stadt Luzern. Es wäre vermessen, sein rechtstheoretisches und rechtsphilosophisches Gesamtwerk hier resümierend würdigen zu wollen, doch wird man Alois Troller ganz sicherlich als bleibende Leistung dreierlei zugute halten: 1. Wie kein anderer deutschsprachiger Autor hat er in der Mitte des 20. Jhdts. die Husserlsche Phänomenologie in der Form von dessen Spätwerk, das im nationalsozialistischen Deutschland des Dritten Reichs nicht mehr erscheinen konnte, zur Grundlage seiner Theorie und Philosophie des Rechts gemacht und, wie seine einschlägigen Schriften ganz ausnahmslos beweisen, in höchst eigenständiger Weise zu einer Rechtsontologie und Rechtsphänomenologie fortentwickelt, die "das Sein der Rechtsordnung und das ihr Vorgegebene als Erscheinendes im Bewußtsein des Rechtsdenkers" erfaßt, aber zugleich "die Mitwirkung des erkennenden Denkers und seine Perspektive" mitbedenkt. Zwar nimmt der einzelne Rechtsdenker "die gesellschaftlichen Situationen als Individuum wahr und formt daraus in seinem Bewußtsein als transzendentales Ego die Handlungsmodelle" , doch hat sein Bewußtsein stets "teil am kollektiven Bewußtsein, das in der Sprache (z. B. in Rechtsbegriffen) gespeichert" wird. Jedes Individuum sieht infolgedessen die Wirklichkeit, wie Troller - hier Ilyenkov zitierend und ihm insoweit zustimmend - bemerkt, "mit Millionen von Augen". Nicht von ungefähr hat er seine heutige rechtstheoretische Position auch gelegentlich als "kritischen Realismus" bezeichnet, da die gesellschaftliche Wirklichkeit des Rechts, d. h. die "tagtäglich in ungezählten Handlungen und Verhaltensweisen gelebte Rechtsordnung", stets die Grundlage seines Rechtsdenkens bildet. 2. Dem schon durch Husserl begründeten Trend folgend, die Erneuerung der Philosophie als Wissenschaft und als Grundlage aller wissenschaftlichen Arbeiten überhaupt zu betreiben, hatTroller in den letzten Jahrzehnten maßgeblich dazu beigetragen, den Einfluß der Phänomenologie - und damit auch seiner phänomenologischen Rechtsontologie - über den deutsch-französischen Sprachraum hinaus auch auf das japanische Rechtsdenken auszuweiten, wie das von ihm initiierte, im Jahre 1984 mit Hilfe der Schweizer Straniak-Stiftung in Luzern durchgeführte, im kontinentaleuropäischen Bereich vermutlich erste rechtstheoretische Symposion über "Japanisches und europäisches Rechtsdenken" beweist, dessen Tagungsergebnisse soeben unter seiner Herausgeberschaft veröffentlicht wurden. Hier ist Troller vor allem für eine rechtstheoretische und rechtsphilosophische "Synthese des Rechtsdenkens in verschiedenen Kulturen" eingetreten, deren Möglichkeiten heute in ersten Konturen sichtbar werden.

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Vorwort

3. Zu seiner gänzlich unideologischen Rechtsauffassung gehört auch die Tatsache, daß er sich - wie wohl kein anderer bürgerlicher Rechtsdenker schon zu Zeiten, in denen dies noch nicht üblich war, stets auch mit der marxistisch-leninistischen Rechts- und Staatstheorie auseinandersetzte, wovon auch sein erst kürzlich erschienenes Buch "Das Rechtsdenken aus bürgerlicher und marxistisch-leninistischer Perspektive" beredtes Zeugnis ablegt. Für die überaus mühevolle und entsagungsreiche Herstellung der Bibliographie Alois Troller, die den Berichtszeitraum von 1934 bis Ende April 1986 umfaßt, danken die Herausgeber Herrn Privatdozent Dr. Dieter Wyduckel, Universität Münster, sehr herzlich. Sie dürfte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Werk des Jubilars sehr zugute kommen. Vor allem danken die Herausgeber jedoch dem Verlag Duncker & Humblot GmbH, insbesondere dem Vorsitzenden des Verwaltungsrats, Herrn Rechtsanwalt Norbert Simon, und seinem Geschäftsführer, Herrn Ernst Thamm, für die großzügige Förderung und Unterstützung dieser Festgabe und mancherlei Rat und Hilfe bei der Abwicklung der Herausgebergeschäfte. Besonderer Dank gebührt ferner einer Reihe von Mitarbeitern an meinem Lehrstuhl. Memer Sekretärin, Frau Martina Böddeling, danke ich für ihre wertvolle Mithilfe beim Druckfertigmachen der Manuskripte; sie hat außerdem die Fahnen- und Umbruchkorrekturen überwacht bzw. zum Teil selbst besorgt. Für ihren unermüdlichen Einsatz beim Korrekturlesen und mancherlei sonstige Hilfsdienste bei der Drucklegung dieser Festgabe danke ich ferner meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern, Herrn stud. iur. Athanasios Vrettis, den Herren cand. iur. Volker Dieckmann und Uwe Wixforth, meinem Doktoranden Herrn Antonis Chanos (Komotini/Münster) und Herrn Dr. iur. Athanasios Gromitsaris (Athen/Münster). Münster, im Frühjahr 1986

Werner Krawietz

Inhaltsverzeichnis I. Gesetzesnorm, Präjudiz und Rechtsdogmatik Norbert Achterberg, Münster Das Wesen des Richtens .. . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . .

3

Fritz Pardon, Münster Der institutionelle Beitrag des Rechtsanwalts zur richterlichen Rechtsgewinnung .........................................................

19

Hans-Martin Pawlowski, Mannheim Rechtsstaat ohne Rechtsdogmatik?

31

Jean-Fram;:ois Perrin, Geneve Qu'est-ce que la dogmatique juridique?

49

Valentin Petev, Münster Erkenntnis und Konstituierung der Rechtswirklichkeit

59

11. Geltungsgrund des Rechts Victor Arevalo Menchaca, Basel Hart und der Rechtsbegriff Eine kritische Synthese

73

RajJaele De Giorgi, Salemo/Lecce Abstraktion versus Institution? Phänomenologie und Geltungsgrund des Rechts in der Frühphilosophie des jungen Hegel .......................

95

Hermann Klenner, Berlin (DDR) Zwischen Koexistenz, Indifferenz und Kontraexistenz. Zur Begegnung von Religionen und Rechtsphilosophien im siebzehnten Jahrhundert .........

107

Vladimir Kubes, Brünn Das Rechtsbewußtsein des Volkes ................................. , . .

121

Andres Ollero, Granada Zum Verhältnis von Positivität und Geschichtlichkeit im Recht

135

III. Formales Denken und Formale Logik im Dienste des Rechts Carlos E. Alchourrim/Eugenio Bulygin, Buenos Aires Expressive versus hyletische Konzeption der Normen?

143

x

Inhaltsverzeichnis

lean-Louis Gardies, Nantes

Systeme juridique et systeme logique ....

173

Georges Kalinowski, Orsay

Edmund Husserl sur les norm es. L'ebauche d'une theorie de la science normative et d'une logique des normes

185

lose Llompart, Tokyo

Gleiche Denkformen in ungleichen Rechts- und Staatsauffassungen. Rechtfertigung und Kritik des Formalismus. . . . . . .. ..... ................ ...

201

Hannu Tapani Klami, Turku

Multirationalität und der juristische Diskurs. Betrachtungen zur Logik des Rechts . .............................. ..........................

215

IV. Sprache, Performanz und Ontologie des Rechts lan M. Broekman, Leuven

Zur Ontologie des juristischen Sprechakts

231

Kazimierz Opalek, Krak6w

Normen und performative Akte

243

Beat Sitter, Bern

Orte ethischer Verantwortung in der Wissenschaft ... . ...... . . . .

257

lose Vilanova, Buenos Aires

Phenomenology and the Crisis of Foundations in Legal Science

H. Ph. Visser't HooJt, Utrecht Philosophy of Law and the Study of Legal Reasoning. Some Interrelations

277

295

V. Soziale Konstitution der Wirklichkeit des Rechts Aulis Aarnio, Helsmki

Philosophy of Law at the Crossroads?

301

Stig lorgensen, Arhus

Criteria of Quality in Legal Science

313

Werner Krawietz, Münster

Normativismus oder Skeptizismus? Zum Verhältnis von Regelsetzung und Regelbefolgung in der kritischen Rechtstheorie Kants ........... .......

321

Vilmos Peschka, Budapest

Das Recht und die Ästhetik

343

Robert Weimar, Siegen

Rechtswissenschaft als Weltbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

351

Inhaltsverzeichnis

XI

VI. Recbt als BewuBtseinspbänomen oder Widerspiegelung der Gesel1scbaft Karl A. Mo//nau, Berlin (DDR)

Notizen zur Relation zwischen objektiven und juristischen Gesetzen

371

Walter DttlPeter Higi, Zürich

Das Troller'sche Modell der Erkenntnis und die sowjetmarxistische Widerspiegelungstheorie. Aspekte eines Theorienvergleichs zur juristischen Erkenntnis

377

Johannes Strangas, Komotini

Formalismus und neue Transzendentalphilosophie

389

Martin Usteri, Zürich

Beiträge der Tiefenpsychologie zur rechtlichen Ordnung von Eigentum und Raumgestaltung ...................................................

417

Armin Wildermuth, St. Gallen

Phänomenologie des Rechts als lebensweltlicher Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . .

425

VII. Gerechtigkeit - gleich oder sozial?

Eugene Kamenka, CanberralAlice Erh"Soon Tay, Sydney

Zum soziologischen Verständnis der Gerechtigkeit

443

Aleksander Peczenik, Lund

Moral Thinking, the Law and Rationality

465

Stig Strömholm, Uppsala

Aufgaben und Begrenzungen des Rechts in der modemen Gesellschaft. Paradoxales und Triviales. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

Dta Weinberger, Graz

Die Präsumtion der Gleichverteilung

487

Jerzy Wroblewski, L6dz

Law-Making and Hierarchies of Values

499

Dieter Wyduckel, Münster

Bibliographie Alois Troller Verzeichnis der Mitarbeiter ............................................

511

573

J. Gesetzesnorm, Präjudiz und Rechtsdogmatik

1 Festgabe für Alois Troller

Das Wesen des Richtens Von Norbert Achterberg, Münster

I. Zweihundert Jahre, nachdem Charles de Secondat, Baron la BrMe et de Montesquieu den Richter als "la bouche, qui prononce les paroIes de la loi" bezeichnete!, ist die Unrichtigkeit dieser Deutung Gemeingut, - wobei diese Bezeichnung jedenfalls dann vertretbar ist, wenn man mit Karl R. Popper schon

die Falsifizierung für einen wissenschaftlichen Fortschritt hält 2 • Auch die Auffassung, daß richterliches Handeln Verwirklichung des Syllogismus sei, erscheint überwunden. Der schöpferische Charakter des Richtens wird zunehmend bewußt - zunächst allerdings zurückhaltend, indem "Richterrecht", das diesen Bereich umschreiben soll, auf Lückenfüllung und auf Ausübung von Ermessen sowie Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe begrenzt wird. Alois Troller hat diese Entwicklung beobachtet und begleitet: als Rechtsanwalt, als Rechtswissenschaftler, als Rechtsphilosoph. In der eigenen Person verkörpert er seine Erkenntnis, "daß Rechtspraxis und -theorie Tür an Tür wohnen und in freundnachbarlicher Verbundenheit den Menschen nützen können"3. Als Phänomenologen4 geht es ihm darum, das Wesen des Richtens

1 eh. de Secondat, Baron la Brede et de Montesquieu, De l'esprit de loix. Tome Premier, 1763, liv. XI, chap. VI, p. 271. - Nur nebenbei sei die Unrichtigkeit hervorgehoben, diese Einordnung mit Montesquieus gleichfalls vertretener Auffassung die Rechtsprechung sei "en quelque fa"on nulle" in Verbindung zu bringen (so aber O. Bachoj, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S. 8). Diese Ansicht beruht auf Montesquieus These, daß die richterliche Gewalt nicht von einem ständigen Gericht, sondern von jeweils auf Zeit zu wählenden Richtern auszuüben sei (a.a.O., liv. XI, chap. VI, p. 262, 266), was mitunter verkannt wird (so von K. Doehring, Der "Pouvoir neutre" und das Grundgesetz, Staat 3 (1964), S. 201 [205]; richtig dagegen G. Krauss, Die Gewaltengliederung bei Montesquieu, in: Festschrift für earl Schmitt, 1959, S. 103 [112]). Der hierbei anklingende Gedanke ist vielmehr die "Gewaltenteilung in der Zeit" (dazu W. Kägi, Von der klassischen Gewaltenteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, Festschrift für Hans Huber, 1961, S. 151 [167f.]). 2 K. R. Popper, Logik der Forschung, 5. Aufl., 1973, insb. S. 8, 47ff., 54f., der Falsifizierbarkeit "als Kriterium des empirisch-wissenschaftlichen Charakters eines Theoriensystems" bezeichnet (S. 47). 3 A. Troller, Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft, 1965, S. VI. 4 A. Troller, Die Begegnung von Philosophie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft, 1971, S. 12, bekennt sich selbst zu dem Einfluß, den E. Husserl und N. Hartmann auf ihn ausgeübt haben. Zu seiner eigenen phänomenologischen Ausrichtung ebd., S. 56 ff. (insb. S. 71: "Die Phänomenologie ist deshalb dem rechtswissenschaftlichen Forschen so



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Norbert Achterberg

zu erfassen und zu beschreiben. Sein bedeutsamer Vortrag auf dem Internationalen Symposium "Rechtsprechungslehre", Münster 1984, hat hiervon neuestens wiederum beredtes Zeugnis abgelegt 5 .

11. 1. Die Grundthese der folgenden Darlegungen sei diesen vorangestellt: Nicht nur die zuvor genannten Fälle besitzen, sondern jegliches Richten trägt schöpferischen Charakter. Das Wesen des Richtens ist Rechtsschöpfung. Die Formenstrenge als "Rückgrat des Prozesses"6 hindert dies nicht, sondern stellt den Rahmen bereit, innerhalb dessen schöpferische Tätigkeit sich vollziehen kann 7 • Um Mißverständnissen vorzubeugen: Damit soll nicht ausgesagt sein, daß andere Tätigkeitsbereiche des Staates - Gesetzgebung, Verwaltung keinen schöpferischen Charakter aufwiesen. Die allen Staatsfunktionen eigene autonome Determinante 8 verweist hierauf vielmehr geradezu. Wo Autonomie herrscht, wird selbständig etwas geschaffen. In diesem Zusammenhang geht es

dienlich, weil sie Erscheinungen, d. h. sinnlich Vorstellbares, somit Gegenständliches als Wahrheit gelten läßt", mit Bezugnahme auf E. Tugendhat); vgl. auch ders., Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft, S. 27ff.; ders., Der Einfluß der phänomenologischen Methode auf das zivilprozessuale Denken, ZfRV 7 (1966), S. 3; ders., Edmund Husserls Phänomenologie - ein Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis, in: Schweizer Rundschau 69 (1970), S. 210. - Trollers späteres Bekenntnis zu dem von W. Krawietz (vgl. z. B. ders., Recht als Regelsystem, 1984, S. XII, XVII ff. und passim) vertretenen "kritischen Rechtsrealismus" (A. Troller, Rechtskonstruktion und Rechtswirklichkeit. Ein Beitrag zu einem kritischen Rechtsrealismus, RECHTSTHEORIE 11 [1980], S. 137 [1:37]), bedeutet nicht, daß er damit frühere Positionen aufgegeben hätte; vielmehr will er - expressis ver bis - hiermit nur mögliche Mißverständnisse seiner Rechtstheorie und Rechtsphilosophie ausräumen (vgl. auch noch S. 138ff.). 5 A. Troller, Juristische und metajuristische Determinanten der Rechtsprechung im Zivilprozeß, in: Rechtsprechungslehre, hrsg. v. N. Achterberg, 1986, S. 713ff. 6 A. Troller, Von den Grundlagen des zivilprozessualen Formalismus, 1945, S. 11. 7 Zur Bedeutung der Form R. v. [hering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. T., 2. Abt., 2. Aufl., 1875, S. 471: "Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit"; J. Möser, Patriotische Phantasien. Von dem wichtigen Unterschied des wirklichen und förmlichen Rechtes, 4. T., 1820, S. 115, der bemerkt, daß sich "alle Nationen zur Grundfeste ihrer Freiheit und ihres Eigenthums gemacht [haben]: daß dasjenige, was ein Mensch für Recht oder Wahrheit erkennet, nie eher als Recht gelten solle, bevor es nicht das Siegel der Form erhalten" (heide zitiert bei Troller [FN 6], S. 99). Siehe dazu auch noch ders., ebd., S. 99: "je besser geordnet der Prozeß in technischer Beziehung ist, umsomehr Freiheit kann da gewährt werden, wo sie dem materiellen Recht dient". 8 N. Achterberg, Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung. Grundlegung der Rechtsverhältnistheorie, 1982, S. 44, 65, 73, 76, 93, 96,100, 113, 115, 117; J. Behrend, Untersuchungen zur Stufenbaulehre Adolf Merkls und Hans Kelsens, 1977, S. 82ff.; P. Bernard, Gebundenheit und Ermessen, in: F. ErmacorajG. WinklerjF. KojajH. P. Rillj B.-Ch. Funk (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 1979, S. 89 (89f.); F. Eberhard, Grenzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, ebd., S. 599 (609, 611); H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 243.

Das Wesen des Richtens

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indessen nicht hierum. Vielmehr soll allein aufgezeigt werden, daß und weshalb (auch) bei allem Richten Recht "geschöpft" wird. 2. Die Bezugnahme auf den Syllogismus suggeriert eine Reihenfolge richterlichen Vorgehens dergestalt, daß zunächst die einschlägigen Normen aufgesucht werden und aus ihnen der Obersatz gebildet wird, damit die Tatsachen erkannt werden und aus ihnen der Untersatz formuliert wird und endlich die Subsumtion erfolgt, durch die sich das Urteil als Schlußsatz ergibt. Mit Recht bemerkt demgegenüber insbesondere Aleksander Peczenik, daß juristische Argumentation nicht nur logisch, sondern auch dialogisch erfolgt 9 • Die Richtigkeit der Annahme eines reinen Syllogismus wird schon allein dann fragwürdig, wenn man die Möglichkeit eines "judizbegründeten" summarischen Urteils lO ins Auge faßt. Der im Grunde aussagekräftigere Begriff "hypothetisches Urteil" wird vermieden, weil er mit dem von der Rechtsnorm zu unterscheidenden Rechtssatz in Verbindung gebracht wird 11. Wenn im übrigen in der Rechtsphilosophie die Meinung anzutreffen ist, alle juristischen Aussagen und damit auch die "statements ... by judges" seien "no more than working hypotheses" 12, so ist in der Tat einzuräumen, daß die "nicht hypothetische Wahrheit" das "Beste" ist, der die "hypothetische Aussage" als das "Bessere" vorausgeht 13 • Indessen handelt es sich hierbei nicht um Hypothese, sondern um Approximation. Auch das richterliche Urteil nähert sich wie jeder Rechtsakt der Wahrheit und damit der Gerechtigkeit in der Regel nur, ohne sie zu erreichen. Bei einem summarischen Urteil steht der - wenn auch erst überschlägig ermittelte - Schlußsatz im Vordergrund, und erst danach kommt es darauf an, sich gleichsam "tastend" über die beiden Vordersätze auf diesen hin zu bewegen. Die Richtigkeit der These wird aber vor allem dann zweifelhaft, wenn man bedenkt, daß es dem Richter überhaupt nicht möglich sein kann, die einschlägigen Normen - und damit den "Obersatz" - zu finden, bevor er sich des 9 A. Peczenik, Die Rationalität der juristischen Argumentation: Dialog, Logik und Wahrheit, in: Rechtsprechungslehre, hrsg. v. N. Achterberg, 1986, S. 293ff. 10 Die Erkenntnis von der Bedeutung des Judizes wird auf Bartalus zurückgeführt. Vgl. dazu A. Düringer, Richter und Rechtsprechung, 1909, S. 8. 11 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1967, S. 73, bezeichnet die von ihm von Rechtsnormen unterschiedenen Rechtssätze als hypothetische Urteile, "die aussagen, daß im Sinn einer ... der Rechtserkenntnis gegebenen Rechtsordnung unter gewissen von dieser Rechtsordnung bestimmten Bedingungen gewisse von dieser Rechtsordnung bestimmte Folgen eintreten sollen". Der Kontext dieser These bleibt insofern unklar, als Kelsen zuvor die normative Deutung von Tatbeständen durch die Rechtswissenschaft als Inhalt von Rechtssätzen bezeichnet, dann aber anscheinend Rechtssätze als Aussagen in Rechtsnormen begreift. Indessen kann dies hier auf sich beruhen. Sehr viel klarer ist seine These "Alle Normen gelten nur bedingt" (H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hrsg. v. K. RinghoferjR. Walter, 1979, S. 17). 12 R. Gaff, An Innocent Turn to Crime, Statute Law Review 5 (1984), S. 6. 13 H.-E. H. Jaeger, Meditationen über philosophische Grundlegung von Rechtsprechungslehre, in: Rechtsprechungslehre, hrsg. v. N. Achterberg, 1986, S. 45 (112, Anm. 115).

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Norbert Achterberg

Sachverhalts - also des "Untersatzes" - vergewissert hat. Die These vom "Hin- und Herwandern des Blicks"14 belegt dies besonders deutlich. Dies ist der entscheidende Einwand gegen den Vergleich des Richtens mit dem Syllogismus - und nicht der Umstand, daß dem Richter bei der Urteilsfällung Entscheidungsspielräume verbleiben. 3. Richten vollzieht sich schrittweise, wobei sich fast alle Schritte in Zwischenschritte gliedern. Verfahren, die vom Verhandlungsgrundsatz, und solche, die vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht werden, unterscheiden sich dabei und müssen infolgedessen getrennt dargestellt werden.

a) Der erste Schritt ist die Herstellung des Falles 15 . Mit Recht bemerkt Alois Troller: "Die Konstitution des Tatbestandes ist bei der Rechtsanwendung ebenso wichtig wie die richtige Subsumtion des Tatbestandes unter die richtige Norm 16 . aa) Unter dem Verhandlungsgrundsatz geschieht dies folgendermaßen: Die oft anzutreffende, meist stillschweigend gemachte Annahme, der Richter finde den Fall fertig vor und brauche den Sachverhalt nur unter die Norm zu subsumieren, ist falsch. In Wirklichkeit vollzieht sich die Herstellung des Falles in einem höchst komplizierten Verfahren, in dem das Vorbringen des Klägers, die Einlassung des Beklagten, die Beweisaufnahme und die Beweiswürdigung die wesentlichen Zwischenschritte darstellen. (1) Das Vorbringen des Klägers bestimmt den Umfang des Prozeßstoffs. Der Antrag und seine Begründung stecken die für die Herstellung des Falles erheblichen Grenzen ab. Bestimmte Komplexe des Tathergangs können einbezogen oder ausgeklammert werden und sind dann für die Herstellung des Falles unerheblich: "Quod non est in actis, non est in mundo 17 ." 14 K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl., 1960, S. 14; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., 1976, S. 197ff., 203ff. Vgl. ferner K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., 1983, S. 138, 197 f., 268 f., 451; H.-M. Pawlowski, Methodenlehre fürJuristen, 1981, RdNr. 151f. m. Anm. 116f., zu dem in diesem Zusammenhang erheblichen "henneneutischen Zirkel" (die Kritik, die letzterer RdNr. 151, Anm. 117, an der Ungenauigkeit dieser Bezeichnung übt, ist zutreffend; ich selbst bevorzuge den Begriff "henneneutische Dialektik", N. Achterberg, Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 181). 15 Troller (FN 6), S. 64, hat für die Mitwirkung des Richters bei der Tatsachenennittlung überzeugend drei Gründe herausgestellt: 1. das Interesse der Prozeßbeschleunigung, 2. die lückenlose Beschaffung von Tatsachen, um dem Richter Gelegenheit zur näheren Prüfung der Richtigkeit des Parteivorbringens zu geben und damit das Höchstmaß an materieller Wahrheit zu erreichen, 3. die Wahrnehmung der sozialen Aufgabe des Prozesses, Unterschiede des "materiellen und geistigen Kampfpotentials" der Parteien auszugleichen. "Prozessuale Arbeitsteilung" (ebd., S. 69) spielt hierbei gewiß eine erhebliche Rolle. Vgl. auch noch ders., ZfRV 7 (1966), S. 4ff. 16 Troller, Die Begegnung von Philosophie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft (FN 4), S. 100; s. auch noch ders., ZfRV 9 (1966), S. 6ff. 17 Hieraufbezieht sich auch Troller (FN 6), S. 31, wenn er sich ausführlich mit den -in der Tat hier einschlägigen - Sätzen "Da mihi factum, dabo tibi ius" (ebd., S. 31 ff.) und

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Ohne weiteres einsichtig ist dabei, daß sich die Herstellung des Falles nicht nur auf die materielle, sondern auch auf die formelle Seite bezieht 18 . Zu ihr zählt auch die Ermittlung, ob die Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen: ob das Gericht zuständig ist, ob die Parteien prozeßfähig sind - um nur Beispiele zu nennen -, ist Bestandteil des Prozeßstoffs, der im positiven oder im negativen Fall notwendigerweise eine andere Behandlung erfährt. Im übrigen wird das Ausmaß, in dem der Richter den Fall herzustellen hat, vom Verhalten des Klägers mitbestimmt: Klagerücknahme oder Klageverzicht machen die Herstellung entbehrlich, sofern sie nicht schon erfolgt war und sich nun als überflüssig erweist. Nichterscheinen zum Termin mit der Folge des Versäumnisurteils löst im wesentlichen dieselbe Konsequenz aus, obwohl auch dann geprüft werden muß, ob die Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind 19, so daß das Erfordernis der Herstellung des Falles rudimentär erhalten bleibt. (2) Die Einlassung des Beklagten begrenzt oder erweitert die richterliche Tätigkeit dadurch, daß sie die unmittelbare Voraussetzung für die Vornahme der erwähnten weiteren Zwischenschritte darstellt. Wird das Vorbringen des Klägers bestritten, so ergibt sich die Notwendigkeit der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung, während das gerichtliche Geständnis beide entbehrlich macht (§ 288 Abs. 1 ZP020). Der Fall stellt sich dem Richter dann so dar, wie ihn der Kläger vorgetragen hat. Ihm allein kommt die Bedeutung zu, die Grundlage für das Auffinden der einschlägigen Normen zu liefern.

Aber auch anderes Verhalten des Beklagten ist für den Umfang der richterlichen Tätigkeit bei der Fallherstellung erheblich: So ist eine Partei, die ein Anerkenntnis vorgenommen hat, demgemäß zu verurteilen (§ 307 Abs. 1 ZPO). Die Herstellung des Falles ist wiederum wesentlich vereinfacht: Wie bei dem Verzicht reicht es aus, daß das Vorliegen der unverzichtbaren Sachurteilsvoraussetzungen festgestellt wird; im übrigen muß das Anerkenntnisurteil ohne jede Sachprüfung ergehen, sofern nicht der Anspruch gesetzwidrig oder das Ergebnis sittenwidrig ise1 • Lediglich insoweit können sich noch richterliche Überlegungen in der Sache selbst als notwendig erweisen. dessen "prozessualem Zwillingsbruder" (ebd., S. 77) "Ne eat iudex ultra petita partium" (ebd., S. 76ff.) befaßt. 18 Nicht nur, aber auch insofern, hat Trollers, ZfRV 7 (1966), S. 3, These Bedeutung, daß im Verhältnis von formellem und materiellem Recht "die Gerichtsorganisation und das Prozeßrecht zum Fundament der rechtlich geordneten Gemeinschaft gehören." 19 A. Baumbach / W. Lauterbach / J. Albers / P. Hartmann, Zivilprozeßordnung, 42. Aufl., 1985, Übers. § 330, Anm. 2 E, § 330, Anm. 2 A; R. Zöller, Zivilprozeßordnung, 14. Aufl., 1984, § 330, RdNr. 2. Wegen der Rechtslage in der Schweiz vgl. M. Guldener, Schweizerisches Zivilprozeßrecht, 3. Aufl., 1979, S. 269ff. 20 Mit ZPO ist die deutsche Zivilprozeßordnung gemeint. 21 Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann (FN 19), § 306 Anm. 2 B, § 307 Anm. 2 C; Zöller (FN 19), § 306, RdNr. 5, § 307, RdNr. 4. Wegen der Rechtslage in der Schweiz vgl. Guldener (FN 19), S. 399ff.

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(3) In der Regel stehen sich indessen das Vorbringen des Klägers und die Einlassung des Beklagten teilweise kontrovers gegenüber. Dann wird die Beweisaufnahme erforderlich. Die den Richter hierbei treffende Aufgabe besteht zumindest in der Auswahl der Beweismittel aus deren - freilich selbst geschlossenem - Kreis und so dann in der Beweiserhebung selbst. Wenigstens bei der Zeugen- und bei der Partei vernehmung erwächst die Herstellung des Falles dabei in psychologische Dimensionen 22 .

Die Beweisaufnahme wird entbehrlich, und entsprechende Maßnahmen bei der Herstellung des Falles werden überflüssig, soweit Tatsachen offenkundig sind 23 . Sie bedürfen keines Beweises (§ 291 ZPO). Evidenz - um deren Erhellung sich insbesondere die Phänomenologie bemühte 24 - erweist sich als "Beweis-Mittel"2s. Der Umstand, daß die "Augenscheinlichkeit", zu welcher der Augenscheinsbeweis führt, als Wahrnehmungsevidenz 26 scheinbar unter den Kanon der prozessualen Beweismittel zu rechnen ist, darf hierüber nicht hinwegtäuschen. Denn alle Beweismittel - ebenso also Zeugenvernehmung, Sachverständigengutachten, Urkunden, Parteivernehmung - sollen "Evidenz" bewirken. Nur ist diese eben keine ursprüngliche, sondern eine beweisführungsbedingte. Anders ausgedrückt: Sie ist keine unmittelbare, sondern lediglich eine mittelbare Evidenz 27 . Die Möglichkeit der "Evidenztäuschung"28 muß allerdings für beide Fälle eingeräumt werden: Tatsachen können irrigerweise für offenkundig und damit nicht beweis bedürftig erachtet werden, der Beweis kann aber ebenso irrigerweise für erbracht gehalten und damit mittelbare Evidenz 22 Zur Bedeutung der Psychologie hinsichtlich der "Handlungen der Haupt- und Nebenakteure im Prozeß" Troller (FN 6), S. 15. Insoweit mit Recht vermag ders. (FN 3), S. 132, darüber hinausgehend auszuführen: "Das Prozeßrecht ist . . . angewandte Psychologie" . 23 Von offenkundigen Tatsachen zu unterscheiden sind dabei "generelle Rechtstatsachen" (besser: "richterliche Alltagstheorien") mit einer Bandbreite von Erfahrungssätzen bis zu Vorurteilen, die bei der Tatsachenfeststellung, bezüglich der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen, aber auch bei der Rechtsanwendung bedeutsam werden. Ausführlich hierzu mit zahlreichen Beispielen R. Bender, Die entscheidungsleitende Funktion "genereller Rechtstatsachen", in: Rechtsprechungslehre, hrsg. v. N. Achterberg, 1986, S. 603ff. 24 Vgl. z. B. N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 4. Aufl., 1949, S. 499ff.; E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, 1913, S. 39f. (zur subjektiven Evidenz); E. Husserl! L. Landgrebe, Erfahrung und Urteil, 2. Aufl., 1954, S. 8ff. 2S N. Achterberg, Die Evidenz als Rechtsbegriff, DÖV 63, S. 331 (335f.) = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, S. 31 ff. 26 Achterberg, DÖV 63, S. 332 = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, S. 23. 27 Siehe vorige Anmerkung. 28 Achterberg, DÖV 63, S. 333 ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, S. 25. - Schon J. Geyser, Auf dem Kampffelde der Logik, 1926, S. 231, hat auf die Relativierung der objektiven durch die subjektive Evidenz als eine "schwache Seite der menschlichen Erkenntnis" aufmerksam gemacht.

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angenommen werden. Dies macht begreiflich, daß in der englischen Rechtsordnung anstelle des deutschen Begriffs " Beweis " von "evidence" die Rede ist 29 . Zusätzliche Anforderungen werden an den Richter insofern gestellt, als er sich der "Relativität" des Evidenzkriteriums der Wahrheit bewußt sein muß. Evidenz muß nicht gerichtsstandübergreifend, braucht auch nicht prozeßphasenübergreifend zu sein und ist dies oftmals auch nicht 30 . Mithin kann es sein, daß eine der unteren Instanz evidente Tatsache der höheren keineswegs offenkundig ist und infolgedessen - sofern es sich noch um eine Tatsacheninstanz handelt - zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden muß. Die Subjektivität der Evidenz kann sich ferner dergestalt auswirken, daß das "Evidenzerlebnis" nur bei einem Teil der Richterbank auftritt, bei einem anderen dagegen nicht. Dann hängt es von der Abstimmungsmehrheit ab, ob eine Beweisaufnahme durchgeführt werden muß. Zu einer solchen kommt es auch, wenn über eine Gegenbehauptung zu einer offenkundigen Tatsache Beweis erhoben werden muß3l. Die Beispiele zeigen, daß auch bei Offenkundigkeit Raum für Beweisaufnahmen verbleibt, damit der Tatbestand hergestellt werden kann. Da auch ein auf einer Evidenztäuschung beruhendes unrichtiges Urteil wie jedes andere anfechtbar ist, muß die Evidenz im Urteil begründet werden 32 . Der Vorderrichter ist infolgedessen gehindert, einen für ihn bei der Entscheidung noch bestehenden Zweifel mit der Bezugnahme auf Evidenz abzutun, sondern muß einsichtig machen, daß und warum für ihn Offenkundigkeit besteht. Nur so wird das Rechtsmittelgericht in den Stand versetzt, die Ursache einer Evidenztäuschung zu erkennen. Allein dadurch wird wenigstens ansatzweise ermöglicht, daß die bei gerichtlichen Entscheidungen unerläßliche Rekonstruierbarkeit 33 , der Nachweis ihrer Entwicklung aus dem und ihrer Deckung durch den Normtext, vorgenommen werden kann. (4) Schließlich aber zeigt sich die rechtsschöpferische Kraft des Richtens im Rahmen der Tatsachengewinnung an der Beweiswürdigung (§ 286 ZPO). Aufgrund ihrer Natur als in der Regel freies, nicht an Beweisregeln gebundenes Erkenntniselement muß sie sogar derjenige als rechtsschöpferische Betätigung anerkennen, der diese auf Ermessenshandlungen und Wahrnehmung von 29 G. D. Nokes. An Introduction to Evidence, 2nded., 1956; S. L. Phipson, The Law of Evidence, 9th ed., 1952. 30 Auch in diesem Zusammenhang wirkt sich die Raum- / Zeitbedingtheit der Rechtsordnung aus, auf die Troller, Die Begegnung von Philosophie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft (FN 4), S. 41 f., hinweist. 31 Zur Zulässigkeit des Gegenbeweises gegenüber einer offenkundigen Tatsache R. Schultz, Die Gerichtskundigkeit von Tatsachen, in: Festgabe für Richard Schmidt, 1932, S. 283 (291); B. Wieczorek, Zivilprozeßordnung, Bd. 11, T. 1, 1957, § 291 Anm. B III. 32 Wieczorek (FN 31), § 291 Anm. A III b 2. 33 Ausführlich dazu H. Schreiner, Rechtsprechung und methodische Rekonstruierbarkeit, in: Rechtsprechungslehre, hrsg. v. N. Achterberg, 1986, S. 329ff.

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Beurteilungsspielräumen im Rahmen "wertender Schlüsse" reduziert: Nicht die Erfüllung bestimmter Formen, sondern die durch einen Vergleich von Beweisthema und Beweisergebnis unter Einschaltung der Lebenserfahrung und der Menschenkenntnis gewonnene Überzeugung des Richters beantwortet die Frage, ob der Beweis erbracht ist oder nicht. Sinngemäß dasselbe gilt für die freie Schadensschätzung (§ 287 ZPO)34. Nach allem erscheint auch die Herstellung jener "persönliche[n] Gewißheit, die vernünftige Zweifel, nicht aber die rein gedankliche Möglichkeit der Unwahrheit ausschließt" 35 , als schöpferischer Akt. In der Tat ist der Richter nicht allwissend, sondern besitzt er nur beschränkte Erkenntnismittel, die noch dazu voller Fehlerquellen stecken, aufgrund deren ihm nicht mehr als der Versuch gelingen kann, die Wahrheit zu entdecken. Aber auch schon dies reicht aus, um von schöpferischer Tätigkeit zu sprechen - eingedenk der eingangs erwähnten Bedeutung von Falsifizierbarkeit. bb) Unter dem Untersuchungsgrundsatz ergeben sich nur geringfügige Abweichungen. In derartigen Verfahren kommt es nicht auf das Parteivorbringen an; die Ermittlungen erfolgen von Amts wegen. Konsequenz hieraus ist, daß den Prozeßrechtsverhältnissen zwischen den Parteien und dem Richter Elemente der Kooperation fehlen, wie sie in Verfahren unter dem Verhandlungsgrundsatz anzutreffen sind. Auch die Möglichkeit, den Prozeßstoff einzugrenzen, gehört in diesen Zusammenhang. Alles dies führt dazu, daß dem Richter unter diesem Verfahrensprinzip eine erheblich größere Last bei der Feststellung des Falles zufällt, als unter dem Verhandlungsgrundsatz. Sämtliche bisher genannten Stadien richterlicher Tätigkeit lassen sich einem Bereich der "Rechtsgewinnung" im weiteren Sinne zuordnen, der als "Tatsachengewinnung" umrissen werden kann. Alois Troller hat die Bedeutung der Herstellung des Falles - damit sei dieser Abschnitt beendet - in wahrhaft meisterlicher Formulierung umrissen: "Der prozessual wahre Tatbestand wäre im besten Fall das völlig gleiche Erscheinen der Tatsachen im Bewußtsein des Richters, wie sie im Bewußtsein der Parteien in den entscheidenden Zeitpunkten vorhanden waren. Das ist nie völlig zu erreichen, weil ... diese Tatsachen ... mit zahlreichen anderen verknüpft sind, von denen sie erst im Hinblick auf ihre rechtliche Bedeutung losgelöst werden müssen. - Der Mensch kann auch bei dieser Situation dem Absoluten nur zustreben, ohne es zu erreichen. - So wenig es gelingt, die rechtlichen Regeln zu finden, die jedem wirklich das Seine geben, so wenig ist es möglich, den völlig richtigen Tatbestand erscheinen zu lassen. Auch da gilt der unübertrefflich weise Grundsatz der Römer, daß die Gerechtigkeit nicht ein Zustand, sondern ein Streben ist (iustitia est constans et aeterna voluntas ius suum cuique tribuendi). - Wenn die Parteien und der Vgl. für die schweizerische Rechtslage Guldener (FN 19), S. 399ff. K. Schellhammer, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., 1983, RdNr. 564, unter Bezugnahme aufRGZ 162, S. 223; BGH, NJW 61, S. 777; DRiZ 62, S.169; NJW 77, S. 946; VersR 77, S. 34 35

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Richter sich bemühen, den Tatbestand richtig erscheinen zu lassen, haben sie das Menschenmögliche getan. Dies reicht aus, um eine erträgliche zwischenmenschliche Ordnung zu bewahren, wie die Rechtspflege während Jahrtausenden bewiesen hat 36 ." b) Der zweite Schritt richterlichen Handelns ist die Herstellung der Norm. Sie ist Rechtsgewinnung im engeren Sinne und läßt sich wie die zuvor behandelte Herstellung des Falles der Rechtsgewinnung im weiteren Sinne zurechnen. Daß bei dieser auch der soziale und ethische Gehalt des Rechts zu beachten ist, um zu "letztlich richtigen Entscheidungen im Prozeß der Rechtsverwirklichung" zu gelangen 37 , ist unbestreitbar. Rechtsnormen sind in das Umfeld von Sozialnormen eingebettet und überschneiden sich oftmals mit Moralnormen, sind solchen aber zumindest "nebengelagert" . Der soziale und ethische Kontext befreit sie aus der Isolation des rein Rechtlichen, was angesichts der bereits erwähnten, von ihr anerkannten autonomen Determinante nicht einmal von der Reinen Rechtslehre bestritten wird 38. aa) Der Irrtum, der Richter erhielte die Norm gleichsam "präsentiert" und brauche sie nur anzuwenden, bedarf einer endgültigen Korrektur. Legislative und Exekutive bereiten ihre Normen nicht dergestalt vor, daß sie ungeprüft übernommen werden könnten. Der Richter muß sie durchdenken und sich dadurch ein Bild über ihren Bedeutungsgehalt und ihre aus ihm folgende Anwendungsmöglichkeit machen 39 . Herkömmlicherweise werden die hier entstehenden Probleme als solche der Rechtsnormauslegung und der Rechtsnormergänzung eingestuft. Dagegen ist zunächst insofern nichts einzuwenden, als sie bei ihnen besonders deutlich in Erscheinung treten. Weitere hierzu anzustellende Überlegungen zeigen indessen, daß sie hierüber hinausreichen. bb) Das Handeln des Richters bei der Normherstellung besteht zunächst in der Prüfung, ob die Norm auf den vorliegenden Fall anwendbar ist. Die Frage, ob der Fall unter die Norm - wie meistens angenommen - oder die Norm unter den Fall subsumiert wird, ist dabei sekundär. Sie betrifft die Reihenfolge Troller, ZfRV 7 (1966), S. 11. V. Petev, Die spezifische Rationalität der richterlichen Entscheidungstätigkeit, in: Rechtsprechungslehre, hrsg. v. N. Achterberg, 1986, S. 565 (571). 38 Ich habe die "autonome Determinante" wiederholt, aber auch das "modal indifferente Substrat" als Verbindungen von Sein und Sollen herausgestellt, vgl. insb. N. Achterberg, Brücken zwischen Sein und Sollen: Autonome Determinante und modal indifferentes Substrat, in: Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, hrsg. v. W. Krawietz/H. Schelsky, RECHTSTHEORIE Beiheft 5 (1984), S. 445. Insofern sehe ich wissenschaftliche Divergenzen zu W. Krawietz nicht so scharf wie dieser (Zur Korrelation von Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsanwendung, in: Rechtsprechungslehre, hrsg. v. N. Achterberg, 1986, S. 517 [520]). 39 Mit Recht bemerkt Troller (FN 6), S. 14, daß die Subsumtion oftmals nicht mit Hilfe der Logik vorgenommen werden kann, weil das Gesetz unvollständig ist und mehrere Deutungen zuläßt. 36

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des Ober- und des Untersatzes des juristischen Schlusses und hat zumindest keine rechtspraktischen Konsequenzen. Bemerkenswerter ist, daß das richterliche Handeln demgegenüber in bis zu drei Schritten erfolgen kann: (1) Zunächst hat der Richter bei Zweifeln über die Anwendbarkeit der einschlägigen Normen diese auszulegen. Nur so vermag er sich darüber Gewißheit zu verschaffen, inwieweit ihm ein geschlossenes oder ein offenes Regelungssystem zur Verfügung steht, das er im letzteren Fall durch Rechtsnormergänzung zu schließen versuchen muß. Auch die Auslegung zählt aber bereits zur Herstellung der Norm. Denn diese ist für den Richter solange nicht oder zumindest nicht vollkommen vorhanden, wie ihm deren Sinn noch verborgen ist, auch wenn ihr sprachliches Gewand scheinbar noch so eindeutig ist. Das reichhaltige Instrumentarium, das dem Richter zur Sinnermittlung zur Verfügung steht, ist bekannt - mag es sich hierbei nun um topoi der topischen oder um die canones der traditionellen Interpretation handeln.

Gerade die topische Interpretation läßt das schöpferische Handeln des Richters besonders deutlich in Erscheinung treten. Bei der Anwendung der "Technik des Problemdenkens"40 stellt die Kunst des Findens, der "Inventio", den Richter vor wesentlich größere Schwierigkeiten als bei derjenigen des geschlossenen Kreises der Aulegungscanones. Indem diese Technik nämlich als Problem jede Frage definiert, die mehr als eine einzige Antwort zuläßt, erweist sie sich als "offene", als "pluralistische" Auslegungsmethode. Die Interpretation selbst ist ein Entscheidungsprozeß darüber, welcher von mehreren sich aus der Mehrdeutigkeit eines Normtextes ergebenden Möglichkeit der Vorzug zu geben ist, und zwar dergestalt, daß die topoi dem Richter hierbei als Orientierungshilfen bei der Problemerörterung und Problementscheidung dienen 41 . Der Richter sieht sich hierbei der Notwendigkeit gegenübergestellt, aus einer denkmöglich unbeschränkten Zahl von topoi die interpretations- und damit letztlich entscheidungserheblichen herauszusuchen. Deren Auffinden steht mithin unter dem Vorbehalt der Lösungsrelevanz, wobei der Topik die Erkenntnis zugrunde liegt, daß das Aufwerfen eines Problems ein vorläufiges Verständnis darüber voraussetzt, was als Frage empfunden wird. Jedes solche entstammt einem bereits vorhandenen Verständniszusammenhang - das oft beschworene "Vorverständnis"42 erweist sich mithin als sachimmanent. Unübersehbar ist dabei allerdings auch, daß es nicht im Belieben des Richters steht, welche topoi er zur Interpretation heranziehen will. In den Kreis der Betrachtung dürfen nur solche einbezogen werden, die problem bezogen sind; die Behandlung sachfremder muß ausgeschlossen werden. Das Auffinden der topoi Th. Vieh weg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl., 1974, S. 15 f. Ebd., S. 21 f. 42 Grundlegend J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsprechung, 3. Aufl., 1974, S. 136 ff.; Larenz (FN 14), S. 197 ff., 299 ("Der Text sagt dem nichts, der nicht schon etwas von der Sache, von der er handelt, versteht"); F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl., 1976, S. 133ff.; Vieh weg (FN 40), S. 16f. 40 41

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- und damit der erste Schritt der topischen Interpretation - steht mithin unter dem Vorbehalt der Lösungsrelevanz. Das in der Gesellschaft vorhandene Normprogramm und der ihren Ausschnitt bildende Normbereich leisten dem Richter bei diesem ersten Schritt der Interpretation wertvolle Dienste. Mit dem Vorverständnis verwandt ist der Umstand, daß "in schwierigen Fällen" über die Prämissen der juristischen Argumentation Einverständnis erzielt werden muß. Daß dabei mitunter nur eine begrenzte Anzahl von richtigen Lösungen in Erwägung gezogen wird, ist zutreffend beobachtet - auch insoweit wirkt sich das Vorverständnis aus -, doch ist allen solchen Begrenzungen gegenüber deshalb Vorsicht und Zurückhaltung geboten, weil sie die Variationsbreite möglicher Entscheidungen unweigerlich verengen 43 . Bildet die Norm damit ein sachgerechtes Ordnungsinstrument, den verbindlichen Entwurf einer Teilordnung der Gesellschaft, in der das Ordnende und das Geordnete notwendigerweise zusammengehören und in der Rechtsverwirklichung einander gegenseitig bedingen und ergänzen 44 , so wird auch gerade die topische Interpretation durch die Wechselwirkung von ordnender Norm und geordneter Wirklichkeit, von Normprogramm und Normbereich geprägt. Dabei stellt das Normprogramm die Kriterien bereit, an denen sich die im Normbereich zu suchenden topoi ausrichten lassen. Dieser wird zum Gegenstand des induktiven topischen Verfahrens, während jenes dem Richter das Auslegungsproblem und die Lösungsbedingungen vorgibt. Die Gegenüberstellung der lösungsrelevanten topoi stellt dabei den zweiten, ihre Abwägung gegeneinander den dritten Schritt der topischen Interpretation dar. Der konstruktive, schöpferische Charakter richterlichen Handeins ist bei allem unübersehbar. (2) An die Auslegung muß sich eine richterliche Kontrolle der Auslegungsergebnisse anschließen, sofern sich mehrere von ihnen als möglich erweisen. Die Mehrzahl der canones der traditionellen, die Vielzahl der topoi der topischen Interpretation vermögen dies zu bewirken. Dann steht der Richter vor dem Erfordernis der normkonformen Interpretation. Die in Rechtsprechung und Rechtslehre seit langem anerkannte "verfassungskonforme Auslegung" stellt aus ihr lediglich einen Ausschnitt dar. Nicht nur für das Verhältnis von Verfassungs- und Gesetzesstufe, sondern für die Auslegung von Normen aller Rechtserzeugungsstufen gilt der Grundsatz, daß sich niedrigerrangiges mit höherrangigem Recht in Einklang befinden muß. Dies ergibt sich sowohl aus dem Stufen bau als auch aus der Einheit der Rechtsordnung. Begreift man diese als ein Beziehungsgefüge einander bedingender - genauer gesagt: bedingender und bedingter - Normstufen, so erweist sich jede im Rang unter ihr stehende Hoheitsakte voraussetzende Rechtsnorm Dazu Peczenik (FN 9), S. 296. F. Müller, Normbereiche von Einzelgrundrechten m der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1968, S. 9. 43

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für diese als inhalts bestimmend. Aufgrund dieser Einsicht gebietet die Determination des Inhalts der rangtieferen durch die ranghöhere Norm, jene als mit dieser widerspruchsfrei zu interpretieren, wie das Gesetz mit der Verfassung, so beispielsweise auch die Verordnung mit dem Gesetz konform auszulegen. Die bei der verfassungskonformen Auslegung zu beachtenden Grundsätze sind für den Richter bei jeglicher normkonformen Interpretation erheblich: Nach dem Prinzip der Konservierung darf eine Norm nicht für rechtswidrig erklärt werden, sofern sie - unter Berücksichtigung vor allem ihres Zwecks dergestalt ausgelegt werden kann, daß das Auslegungsergebnis im Einklang mit dem höherrangigen Recht steht. Der Grundsatz des Vorrangs normkonformer Interpretation hat zum Inhalt, daß von mehreren Auslegungsmöglichkeiten die rechtsübereinstimmende zu wählen ist, soweit nicht Wortlaut und/ oder Zweck der Norm entgegenstehen. Das Prinzip der Unzulässigkeit normkonformer Interpretation contra legern schließlich umreißt ihre Grenze und fordert, daß der Richter nicht einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm durch normkonforme Auslegung einen entgegengesetzten Sinn ergibt, mag dieser nun auch mit höherrangigem Recht in Einklang stehen 45 . Letztlich läßt sich die normkonforme Interpretation, deren Ziel die Erhaltung der Widerspruchsfreiheit des Normensystems ist, mit den Prinzipien der Einheit und der Effizienz der Rechtsordnung begründen. Beide haben die Vermutung zur Konsequenz, daß dem Normgeber - auf welcher Rechtserzeugungsstufe auch immer - der objektivierte Wille unterstellt werden darf, im Zweifel solche Normen erlassen zu wollen, die mit dem Inhalt des höherrangigen Rechts übereinstimmen. Aber nicht nur im Verhältnis der lex inferior zur lex superior, sondern ebenso im Fall sonstiger Kollisionen - wie etwa der lex prior mit der lex posterior oder der lex generalis mit der lex specialis 46 - tritt das Erfordernis normkonformer Interpretation auf. Die zur Lösung derartiger Widersprüche bekannten einschlägigen Regeln bilden für den Richter zwar Handlungsrnaßstäbe, verlangen ihm aber in deren Rahmen gleichwohl Erkenntnisvorgänge und Willensentscheidungen ab, die Raum für schöpferische Tätigkeit lassen. (3) Führt allein die Auslegung der einschlägigen Norm oder Normengruppe nicht zu ihrer Anwendbarkeit auf den konkreten Fall, so ergibt sich das Erfordernisjenes zweiten Schrittes der Normherstellung, den man im Gegensatz zur Rechtsnormauslegung als Rechtsnormergänzung bezeichnen kann. Auch er untersteht dem Oberbegriff der Rechtsgewinnung. Voraussetzung jeder Rechts4S Auch die von Schreiner (FN 33), S. 334 unter Bezugnahme auf R. Alexy. Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 216, und eh. Perelman. Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 157f., 161 f. - anerkannte "Konvergenzregel", nach der bei mehreren gleichwertigen Alternativen diejenige zu bevorzugen ist, die den meisten Standpunkten Rechnung trägt, steht unter dem Vorbehalt, daß alle diese Alternativen verfassungskonform sind; anderenfalls fehlte es an ihrer "Gleichwertigkeit". 46 Weitere Fälle bei N. Achterberg. Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1986, § 17 RdNr. 38, 42.

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nonnergänzung ist dabei, wie gleichfalls längst anerkannt, eine Lücke im Rechtsnonnensystem. Ergibt das kontextuelle Umfeld jener Lücke keine unmittelbare Anwendungsmöglichkeit der ihm zugehörenden Nonnen, so folgt hieraus das Erfordernis zu ennitteln, ob diese wenigstens mittelbar herangezogen werden können - nichts anderes bedeutet Rechtsnonnergänzung. Über die hierbei erforderliche schöpferische Tätigkeit hinaus tritt diese ferner sowohl bei der Auswahl der sachgerechten Schlußmethode als auch bei der Herausarbeitung der erforderlichen Schlußelemente in Erscheinung: Indem der Richter beispielsweise bei der Analogie den Zweck der anzuwendenden Nonn erkennen und darstellen sowie die Gleichheit der Interessenlage plausibilisieren muß, steht er unter erheblichen Anforderungen bei der Nonnherstellung, die weit in die Argumentationstheorie hineinreichen. Allein aus der Autorität des Richters kann noch nicht auf die Rationalität des Richtens geschlossen werden. Diese muß vielmehr erst argumentativ begründet werden. In welchem Ausmaß die Lückenfüllung nicht nur mit der Logik, sondern auch mit der Argumentationslehre verbunden ist, wird schon allein daran sichtbar, daß alle Schluß met):J.oden auf Argumenten - argumentum a simile, e contrario, a fortiori, ad absurdum - gründen. Hierauf muß der Richter sich besinnen, will er einen "Rationalitätsverlust der Rechtserzeugung" venneiden, die ihr die "Chance der intersubjektiven Gewißheit" nimmt 47 . Auf die dabei zu venneidenden Argumentationsfehler wurde bereits an früherer Stelle hingewiesen 48 • (4) Auf die Bedeutung, die bei allem der Rechtsdogmatik zufällt, hat besonders deutlich Valentin Petev aufmerksam gemacht 49 , wenn er hervorhebt, daß diese - "deren Aufgabe gerade darin besteht, die geltenden Rechtsvorschriften mit Bezug auf das ganze Rechtssystem inhaltlich zu erschließen und letztlich auch zu diesem Rechtsstoffbegrifflich und systematisch zu ordnen"den Richter entlastet, indem sie ihm von der jeweils herrschenden Lehre akzeptierte Argumente liefert. Daß er ihr durch die Übernahme solcher Argumente autoritativen Charakter verleiht, indem er diese für die Gesetzesinterpretation heranzieht, ist gleichfalls zutreffend, kann hier aber auf sich beruhen. c) Wenn als der dritte Schritt des Richtens die Herstellung des Urteils ins Auge gefaßt wird, so bedarf es keiner weiteren Erklärung, daß die im weiteren Sinne auch die Herstellung der Nonn umfassende Urteilsfällung in diesem Zusammenhang in dem engeren Sinne der Ennittlung des Schlußsatzes verstanden wird. Die Aufgabe des Richters geht in dieser Phase nun allerdings kaum mehr 47 N. Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Entscheidung, RECHTSTHEORIE 6 (1975), S. 145 (145). 48 N. Achterberg, Argumentationsmängel als Fehlerquellen bei der Rechtsfindung, in: Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, RECHTSTHEORIE Beiheft 1, hrsg. v. W. Krawietz/K. 0Ralek/ A. Peczenik/ A. Schramm, 1979, S. 43 ff. = ders., Theorie und Dogmatik des Offentlichen Rechts, S. 163 ff. 49 Petev (FN 37), S. 571.

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über Subsumtion hinaus - ihn deshalb aber als eine Art "Subsumtionsautomaten" zu begreifen S0, wäre nach dem zuvor Ausgeführten deshalb verfehlt, weil seine schöpferische Tätigkeit in jedem Fall- mag es sich um eine Ermessensentscheidung handeln oder nicht - in den beiden vorher genannten Schritten liegt. Immerhin geht es im übrigen bei diesem Schritt noch darum, sozialrelevante Handlungen mit Bezugnahme auf die einschlägigen Rechtsnormen zu "deuten"51 , so daß auch hierbei nicht nur für kognitives, sondern zugleich für volitives Handeln des Richters Raum bleibt. Die bereits im Zusammenhang mit der Herstellung des Falles erwähnte Evidenz wirkt sich in diesem Zusammenhang dergestalt aus, daß auch der Schlußsatz offenkundig sein kann. Dann {st die Evidenz "Urteilsmittel" - nach dem zuvor Gesagten im engeren Sinne -, da sie unmittelbar den Schlußsatz finden läßt. Auf dessen Evidenz gegründete Entscheidungen kommen nicht in einem syllogistischen, sondern in einem summarischen Verfahren zustande. Sie sind Urteilen im eigentlichen Sinne logisch vorgeordnet, denn sie erübrigen syllogistische Entscheidungen, weil das auf die Gewinnung des Schlußsatzes gerichtete volle Verfahren nicht durchgeführt zu werden braucht, wenn dieser Satz ohnehin evident ist. Im prozeßrechtlichen Sinne geht es bei solchen Entscheidungen daher nicht um Urteile, sondern um (verwerfende) Beschlüsse oder Vorbescheide 52 . In objektiver Hinsicht kann es sich dabei um Denkevidenz, Wahrnehmungsevidenz oder um mittelbare Evidenz handeln. Im ersten Falle insbesondere ist der Schlußsatz offenkundig, wenn er ein oberster logischer Satz ist. Dies trifft zu, wenn ein Antrag zurückgewiesen wird, weil er der Begründung nicht entspricht, da beispielsweise die Nachprüfung einer Ermessensentscheidung begehrt, ein Ermessensfehler aber nicht behauptet wird. Dann widersprechen sich Klageantrag und Klagebegründung. Wegen der Relativierung der objektiven durch die subjektive Evidenz kann dabei - wie bereits erwähnt ein auf Evidenz gestützter Schlußsatz auch schon dann gefunden werden, wenn bei dem Richterspruch eines Kollegialgerichts nicht alle seine Mitglieder von der Offenkundigkeit überzeugt sind, sondern nur soviele, wie es der Mehrheit entspricht 53 .

50 Auf die Unhaltbarkeit der "Idee einer vollkommenen Rechtsdogmatik", durch die jedes Urteil ein bloßer Subsumtionsakt würde, hat besonders deutlich H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl., 1972, S. 313, hingewiesen. 51 Petev (FN 37), S. 569, m. Anm. 8, unter Bezugnahme auf R. W. M. Dias, Autopoiesis and theludicial Process, in: RECHTSTHEORIE 11 (1980), S. 257 (263):" ... ifajudge wants to arrive at a certain decision by applying a certain rule, he will state the facts in such a way as to bring the case within it, just as he will state them in another way in order to avoid a rule leading to a certain result." 52 Vgl. §§ 24 BVerfGG, 84 VwGO, 105 Abs. 1 SGG, 349 Abs. 2 StPO. 53 Zu diesem Zusammenhang näher N. Achterberg, DÖV 63, S. 336f. = ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts (FN 14), S. 33 ff.

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Wie dem auch sei: In der Tat läßt sich sagen, daß im Schlußsatz des Urteils das "in der Rechtsnorm ,konzipierte' Recht konkrete Gestalt annimmt und damit ,realisiertes' Recht" wird 54.

III. Der rechtsschöpferische Charakter des Urteils zeigt sich schließlich auch an dessen Folgen, die es nahe legen, sie zumindest reflexiv in den Richterspruch einzubeziehen. Wird etwa die Staffelung von Gebühren für die Benutzung einer öffentlichen Anstalt nach dem Einkommen der Benutzer für unzulässig erklärt, so bedarf es keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, daß sich die Neuregelung der Gebühren zumindest am mittleren Einkommen orientieren wird, was zu einer stärkeren Belastung der einkommensschwächeren Schichten führen muß. Das Beispiel zeigt - und gerade hieraus ergibt sich noch ein bedeutsames Element des Wesens des Richtens -, daß der Richterspruch sozialgestaltende Natur hat 55. Rechtsprechung als "Prozeß der sozial gesteuerten Machtausübung"56 wird nicht nur (auch) sozial determiniert, sondern determiniert zugleich selbst sozial. Die von der Merkl/Kelsenschen Stufenlehre erkannte Ambivalenz aller Hoheitsakte als Rechtsanwendung und Rechtserzeugung erfährt hierdurch ihre soziologische Entsprechung. Auch darin unterscheidet sich der Richterspruch zwar nicht von den Hoheitsakten anderer Staatsfunktionen - unter Einschluß der Verfassung -, doch bildet er insofern auch keine Ausnahme. Man kann auch formulieren: Jeder Rechtsetzer ist sowohl Metagruppe als auch Referenzgruppe der Rechtserzeugung. Im Mikrobereich bedeutet die Sozialgestaltung Streitentscheidung zwischen den Verfahrensbeteiligten, im Makrobereich darüber hinausreichende Wirkung auf die Gesellschaft als solche. Wie weit deren Berührung geht, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Sie ist jedenfalls stärker, sofern die Entscheidung sich auf höherrangige Rechtserzeugungsstufen auswirkt, eben nicht nur den konkreten Einzelfall, sondern weitere Bereiche betrifft, wie dies vor allem für Normenkontrollentscheidungen zutrifft. Denken in Alternativen wird dabei nicht ausgeschlossen 57. Wegen der weiteren Gestaltungsbandbreite mag es auf höheren Rechtserzeugungsstufen 54 Petev (FN 37), S. 570. ss Troller, Die Begegnung von Philosophie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft (FN 4), S. 136, geht hierüber insofern noch hinaus, als er sogar der Rechtswissenschaft Mithilfe am Gestalten der sozialen Ordnung zuerkennt, weil ihre Aussagen auf deren Feststellung oder Änderung gerichtet seien. Unmittelbare sozialgestaltende Wirkung dürfte aber auch er ihr nicht beimessen. S6 P. Trappe, Sozialstruktur und Rechtsprechung, in: Rechtsprechungslehre, hrsg. v. N. Achterberg, 1986, S. 381. 57 Zum Thema grundlegend J. Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 1 und passim. - Vgl. auch noch P. Häberle, Demokratische Verfassungs-

2 Festgabe für Alois Troller

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eine größere Rolle spielen; die Rechtserzeugung durch Rechtsprechung ist hiervon aber nicht schlechthin ausgeschlossen. Aber auch die - rechtsverhältnistheoretisch bedeutsame - Aussage: "Gegenstand der Rechtsordnung ist die praktisch unendlich große Anzahl zwischenmenschlicher Beziehungen"58 wirkt sich in diesem Zusammenhang aus. Bei allem darf allerdings nicht verkannt werden, daß der Richterspruch sich einerseits nicht auf die breite Informationsbasis des Gesetzgebers stützen kann, ihm andererseits in der Regel aber auch die Breitenwirkung des Gesetzes fehlt. Sein Vorzug liegt in der schärferen Fokussierung auf den jeweiligen sozialen Sachverhalt, mit der die Einzelfallgerechtigkeit in höherer Approximation erreichbar ist, als durch die Entscheidung des Gesetzgebers.

IV. Die eingangs aufgestellte These vom schöpferischen Charakter des Richtens ist damit verifiziert - auch dies im Sinne einer "BewußtseinserheIlung" , der sich Alois Troller verpflichtet weiß 59. Nicht nur bestimmte Fälle richterlicher Tätigkeit - wie das herkömmlicherweise sogenannte "Richterrecht" _60, sondern überhaupt jegliche Rechtsprechung besitzt diese Natur. Ohne seinen zugleich rechtsanwendenden Charakter in Frage stellen zu wollen, läßt sich hiernach das Wesen des Richtens als Rechtsschöpfung zur Streitentscheidung mit sozialgestaltender Wirkung bezeichnen.

theorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102 (1977), S. 27 = ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß. Verfassungstheorie einer offenen Gesellschaft, 1978, S. 17 ff., wo darauf abgestellt wird, daß überhaupt alles Denken an Möglichkeiten orientiert, "pluralistisches Altemativendenken" sei (dazu meine Rezension zu dem Buch von Häberle, DVBI. 85, S. 413 [zu IV 1]). 58 Troller, Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft (FN 4), S. 123. S9 Vgl. nur Troller, ZfRV 7 (1966), S. 3; ders., RECHTSTHEORIE 11 (1980), S. 150. 60 Noch immer zu eng daher Th. Raiser, Richterrecht heute. Rechtssoziologische und rechtspolitische Bemerkungen zur richterlichen Rechtsbildung im Zivilrecht, in: Rechtsprechungslehre, hrsg. v. N. Achterberg, 1986, S. 629, der - als Rechtsfortbildung verstandenes - Richterrecht und Rechtsschöpfung identifiziert.

Der institutionelle Beitrag des Rechtsanwalts zur richterlichen Rechtsgewinnung Von Fritz Pardon, Münster Was die richterliche Rechtsgewinnung anlangt, so hat diese im Zuge der historischen Entwicklung einen durchaus verschiedenen Stellenwert gehabt. Dieser hängt entscheidend davon ab, wie man die Stellung des Richters zu Gesetz und Recht jeweils begriffen und institutionalisiert hat. Wenn und soweit der Gesetzgeber, etwa als Souverän, zugleich der Richter war oder in seinem Namen Recht sprechen ließ, ergab sich das Problem der richterlichen Rechtsgewinnung zwar auch, aber nicht in dem Spannungsfeld zwischen Gesetz und Rechtsprechung. Trotzdem ergab sich auch in diesen Epochen das Problem der richterlichen Rechtsgewinnung, wenn im konkreten Spruch etwa von dem normierten Gesetz unter Berufung auf allgemeine Rechtssätze abgewichen wurde. Das Problem tritt aber dann mit aller Schärfe ins Bewußtsein, wenn Gesetzgebung und Rechtsprechung nach dem Gewaltenteilungsprinzip verschiedenen Organen zugeordnet werden, wie sich dies im hiesigen Rechtsbereich entwickelt hat, seitdem Montesquieu 1748 dieses Prinzip in eindrucksvoller Weise verkündet hat. Entsprechend ist nach Artikel 92 Grundgesetz "die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut". Weiter heißt es in Artikel 97 Grundgesetz: "Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen." Das bedeutet, daß den Richtern verfassungsrechtlich Unabhängigkeit gewährleistet ist. Wie sie aber innerhalb dieser Unabhängigkeit Recht sprechen und auf dem Wege dahin das Recht gewinnen, ist ein weites Feld. Es nimmt nicht Wunder, daß hierzu über alle Zeiten hinweg vieles gedacht und geschrieben ist. Das war schon zu Zeiten der Römer so. Das ist heute nicht anders. Im Gegenteil, die mannigfachen Probleme einer modernen Gesellschaft drängen zu immer differenzierteren Reflexionen über die richterliche Rechtsgewinnung. Zu allen Zeiten aber kann dies nicht losgelöst gesehen werden von der Position der Menschen und Rechtssubjekte, die durch die Rechtsprechung betroffen sind. Diese aber haben zu allen Zeiten zur Wahrnehmung ihrer Rechte oder zu ihrer Verteidigung sich eines Dritten bedient, der als Fürsprecher oder Anwalt für sie sprechen konnte. Dem liegt die Erfahrungstatsache zugrunde, daß oft ein anderer das besser als man selbst tun kann, weil man in eigener Sache befangen ist oder auch der andere die größere Sachkunde und Erfahrung hat.

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Naturgemäß zielt die Einschaltung eines solchen Rechtsvertreters entscheidend darauf, daß dieser die Streitsache zu einem günstigen Ausgang für den Auftraggeber hinführt. Damit ist aber unlösbar verbunden, daß es dem Rechtsvertreter gelingt, die angerufene Instanz dahin zu bringen, daß diese den Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht so erfaßt, daß mit einer günstigen Entscheidung zu rechnen ist. Hierin liegt im Kern der Beitrag eines jeden Rechtsvertreters in bezug auf die Rechtsgewinnung durch die entscheidende Instanz. 1. Daß diese Funktion dem Rechtsanwalt vorzugsweise und speziell zukommt, ist in unserem Rechtssystem seit der Jahrhundertwende gesetzlich abgesichert. Mit den Justizgesetzen der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde auch die Rechtsanwaltsordnung unter dem 1.7.1878 1 erlassen. Darin war die freie Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, ihr rechtlicher Status und das Standesrecht eingehend geregelt. Nach der Unterbrechung in der NS-Zeit gilt jetzt wieder der frühere Zustand, wie er in der Bundesrechtsanwaltsordnung vom 1. August 1959 2 festgelegt ist. § 1 lautet: "Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege." In § 3 heißt es: "Er ist der berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten. " Darüber hinaus finden sich in den Paragraphen 78 ff. ZPO eingehende Bestimmungen über sein Vertretungsrecht nach außen im Zivilprozeß. Das Innenverhältnis zum Auftraggeber richtet sich nach den einschlägigen Bestimmungen des Dienstvertragsrechts und Geschäftsbesorgung (§§ 611, 627, 675 BGB). Der Rechtsanwalt ist nicht Beamter, aber auch kein Gewerbetreibender. Im Strafrecht wird seine Funktion als öffentliches Amt im Sinne der §§ 3111,356 StGB gewertet. Hiernach kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Rechtsanwalt nach unserem geltenden Recht institutionell als ein unabhängiges Organ der Rechtspflege mit Beratungs- und Vertretungsfunktion sich darstellt. Im Verhältnis zum Richter nimmt er eine arbeitsteilige Funktion ein, indem er auf seiten seines Auftraggebers dessen Rechte wahrzunehmen und durchzusetzen hat. Das ist einmal so formuliert worden: "Richter und Anwalt haben zwar im Rechtsleben eine verschiedene Stellung, aber das gemeinsame Ziel, dem richtigen Recht zum Siege zu verhelfen 3 ." Daß diese Formulierung fragwürdig ist, liegt auf der Hand. Schon vordergründig ergibt sich die Frage, was nun "richtiges Recht" ist. Auch bleibt offen, wie für Anwalt und Richter zugleich sich ein Prozeßergebnis als "Sieg des richtigen Rechts" darstellt. Richtiger dürfte sein, bei aller Gemeinsamkeit nicht aus dem Auge zu verlieren, daß der Anwalt letzthin die Interessen seines 1 2

3

RGBI. I S. 177fT. BGBI. I S. 565fT.

Baumbach, Kommentar zur ZPO, Anhang zu § 155 ZPO Anm. 1 C.

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Mandanten wahrzunehmen hat und diesem rechtlich zum Siege verhelfen soll. Das gibt Konfliktsituationen. Das schließt aber nicht aus, daß der Anwalt in Wahrnehmung dieser Interessen alles auszuschöpfen hat und ausschöpfen darf, um den Richter zu einer für seinen Mandanten günstigen Entscheidung zu bringen. Das bedeutet, daß der Anwalt nicht nur in tatsächlicher Hinsicht, sondern auch in rechtlicher Hinsicht sowohl die Pflicht als auch das Recht hat, auf die Rechtsgewinnung durch das Gericht einzuwirken. 2. Die Möglichkeiten, dies zu tun, sind für einen Rechtsanwalt sowohl nach den geltenden positiven Bestimmungen als auch rein faktisch beträchtlich. Als Vertreter einer Partei stehen ihm grundsätzlich sämtliche Rechte zu, die auch der Partei prozessual zustehen. Das gilt nicht nur, wenn er nach §§ 78 ff. ZPO als Prozeßvertreter auftritt, sondern auch dann, wenn er etwa nach § 78 a ZPO als Anwalt beigeordnet ist. Wie sehr der Gesetzgeber die Selbständigkeit der Funktion als Prozeßvertreter sieht, erhellt daraus, daß er es in § 78 Abs. 3 ZPO sogar für erforderlich gehalten hat, klarzustellen, daß im Anwaltsprozeß der Anwalt auch in eigener Sache·auftreten könne. Grenzen und Umfang der Mitwirkungsrechte ergeben sich aber ebenso wie bei der Partei aus dem Prozeßrechtsverhältnis, das zum Gericht besteht. Hieraus folgen zahlreiche Rechte und Pflichten. Das ist nicht nur die Förderungspflicht, sondern auch die Mitwirkungspflicht an den im Prozeß anfallenden Maßnahmen, die der Wahrheitsfindung dienen. Im Zivilprozeß gilt die Parteiherrschaft. Das bedeutet, daß es der Partei, mithin dem Anwalt obliegt, alle Fakten und Unterlagen beizubringen, die für die Entscheidung benötigt werden. Das ist in erster Linie der Tatsachenvortrag mit der in § 138 ZPO statuierten Wahrheitspflicht. Das wird vielfach dahingehend interpretiert, daß dem Anwalt lediglich die Beibringung von Tatsachen obliege nach dem alten römischen Satz: "Da mihi facta, dabo tibijus." Dieser Satz mag nach wie vor seine methodische Bedeutung zur Abgrenzung von Tatfragen und Rechtsfragen haben. Er wird auch in einer Vielzahl von Fällen denkökonomisch sinnvoll sein. Das kann aber nicht gelten, wenn die Problematik eines Falles gerade in einer Rechtsfrage besteht, die problematisch ist. Dann kann der Rechtsanwalt den Interessen seines Mandanten nur dadurch hinreichend gerecht werden, daß er auch die Rechtsfrage durchdenkt und zum Inhalt seines Vortrages macht. Daß er zur Durchdenkung der Rechtsfrage verpflichtet ist, folgt allein schon daraus, daß er nur dann zu einem Prozeß raten kann, wenn er die Rechtsfrage selbst daraufhin geprüft hat, ob der Prozeß hinreichend Aussicht auf Erfolg hat. Diese Frage obliegt ihm ohnehin bei dem Antrag auf Bewilligung der Prozeßkostenhilfe nach den §§ 114ff. ZPO, denn nur bei positiver Bejahung wird diese gewährt. Unabhängig davon aber ist das Gericht nach Artikel 103 Grundgesetz verpflichtet, den Parteien rechtliches Gehör zu schenken. Dazu gehört aber nicht nur die Anhörung des tatsächlichen Vortrages, sondern auch das, was in

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rechtlicher Hinsicht für eine Partei vorgetragen wird. Der Gesetzgeber selbst hat in § 139 ZPO vorgesehen, daß das Gericht nicht nur im Wege der richterlichen Aufklärungspflicht die Parteien anhält, alle erheblichen Tatsachen vollständig vorzutragen, sondern das Gericht ist gehalten, das Sach- und Streitverhältnis mit den Parteien nach der tatsächlichen und der rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen. Daraus folgt, daß auch das Rechtsgespräch expressis verbis zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gehört. Dabei ist es unerheblich, ob etwa im Rechtssinne ein Anspruch auf ein Rechtsgespräch besteht, was gelegentlich verneint wird 4 • Entscheidend ist allein, ob dem Rechtsanwalt neben dem Sachvortrag auch der Rechtsvortrag zusteht. Daß das aber der Fall ist, kann nicht zweifelhaft sein. Gerade für die problemhaitigen Fälle ist dies aber ein wesentlicher Punkt, wo für den Rechtsanwalt die Möglichkeit besteht, einen Beitrag zur Rechtsfindung durch das Gericht zu leisten. 3. Selbst nach dem alten Satz "da mihi facta, dabo tibi jus" fallt dem Rechtsanwalt eine Aufgabe zu, die nicht nur legitim, sondern einen ungeheuren Schwierigkeitsgrad hat. Es ist nämlich nicht damit getan, einfach einen Tatsachenvortrag von einer Partei hereinzunehmen und diesen dann dem Gericht vorzutragen. Vorausgehen muß eine kritische Sichtung, die genau homogen dem Vorgang ist, den der Richter zu vollziehen hat, wenn ihm ein Fall zur Entscheidung vorgelegt wird. Zuerst hat der Richter den Sachverhalt aufzuarbeiten. Sein erster Schritt ist die Herstellung des Falles. Fehler, die dabei gemacht werden, stellen die Entscheidung ebenso in Frage wie Fehler bei der Subsumtion des Falles unter eine Norm. Dabei kann sich der Rechtsanwalt keineswegs damit begnügen, es bei einem einmal mit seinem Mandaten erarbeiteten Sachverhalt zu belassen. Das mag genügen, um eine Klage schlüssig einzureichen, um gegebenenfalls ein Versäumnisurteil zu erwirken. Aber die Gegendarstellung der anderen Seite kann den Sachverhalt völlig anders darstellen. Noch schlimmer kann es nach der Beweisaufnahme sein. Auch das muß der Anwalt mit hoher Sensibilität verfolgen, um rechtzeitig gegebenenfalls den Sachvortrag abzuändern. Das hat nicht nur für die erstrebte Entscheidung, sondern auch in der Kostenfrage eine ungemeine Bedeutung. Das bedeutet, daß der Rechtsanwalt in noch höherem Maße als der Richter am Sachverhalt arbeiten muß. In etwa kann das der Richter statischer machen, indem er unbeschadet seines Fragerechts nach § 139 ZPO sich daraufbeschränken kann, die Tatsachen von den Parteien hereinzunehmen, um darauf sein Urteil zu gründen. Demgegenüber ist der Arbeitsvorgang beim Anwalt eher als dynamisch unter der Last des Prozeßrisikos zu werten. Auf jeden Fall wäre es falsch, den Tatsachenvortrag des Rechtsanwalts nicht ambivalent zu der Tatsachenfeststellung durch den Richter zu sehen. Ebenso wie 4

Baumbach, Kommentar zur ZPO zu § 139 Anm. 2E.

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dieser muß er die ihm hereingegebenen Tatsachen kritisch werten, bevor er sie verarbeitet bei Gericht vorträgt. Ebenso wie der Richter kann er sich hierbei aber auch nicht darauf beschränken, die Tatsachen als solche lediglich festzustellen. Er muß das ebenso wie dieser in der Weise tun, daß er den Fall immer wieder im "Hin- und Her-Wandern des Blicks" zu der in Frage kommenden Norm in Beziehung setzt s. Nur so ist die Erarbeitung des Sachverhalts sinnvoll. Das bedeutet, daß der Rechtsanwalt bereits bei dem ersten Arbeitsvorgang der Sachverhaltsfeststellung auch die Rechtsnorm feststellen muß, die für den Fall in Frage kommt. Nur so kann der Fall in schlüssiger Weise an das Gericht herangetragen werden. 4. Daß der Rechtsanwalt der Wahrheitserforschung oft näher steht als das Gericht, erhellt allein daraus, daß er das intime Gespräch mit seinem Mandanten hat. Es wäre lebensfremd, anzunehmen, daß ihm da immer die Wahrheit gesagt wird. Im Gegenteil, es ist keine Seltenheit, daß eine Partei völlig einseitig den Sachverhalt ihrem Anwalt mitteilt und erst der weitere Verlauf des Prozesses, wenn überhaupt, die Wahrheit zutage bringt. Das berührt aber nicht den Kern. Dieser besteht darin, daß die intime Sphäre des Gesprächs mit dem Anwalt doch im besonderen Maße geeignet ist, dem wahren Sachverhalt nahe zu kommen. Mit dieser Vorarbeit trägt aber der Anwalt in hohem Maße mit dazu bei, daß dem Gericht ein Sachverhalt vorgetragen wird, der als Grundlage für die Urteilsfindung brauchbar ist. Damit leistet der Rechtsanwalt seinen Beitrag zur Urteilsfindung des Gerichts, der nicht zu unterschätzen und oft von entscheidender Bedeutung ist. Wird erst ein Prozeß mit einem falschen Sachverhalt begonnen, so lehrt die Erfahrung, wie unerträglich lange er sich hinziehen kann und wie ungewiß die Urteilsfindung oft ist. Das bedeutet, daß die Arbeitsleistung des Rechtsanwalts bei der Erarbeitung des Sachverhalts nicht nur für den betreffenden Fall, sondern auch prozeßökonomisch von großer Bedeutung ist. 5. Ein besonderer Stellenwert gebührt der Bestimmung des § 397 ZPO. Darin ist dem Rechtsanwalt im Zivilprozeß ein eigenes Fragerecht an die Zeugen und Sachverständigen eingeräumt, das den Parteien so nicht zusteht. Damit kann der Anwalt neuen Situationen im Wege der Beweisaufnahme begegnen, die die Ausgangslage des Prozesses in tatsächlicher Hinsicht völlig verändern. Aber auch unabhängig davon wird hiermit seine Funktion bei der Erarbeitung des Sachverhalts deutlich. Diese läßt sich in der Tat nur so begreifen, daß der Rechtsanwalt auch im Zuge des Fortgangs des Prozesses an der Erarbeitung des Sachverhalts wie zu Beginn kooperativ mit dem Gericht beteiligt ist. Ambivalent wird der Sachverhalt festgestellt. Das entspricht dem Wesen des Prozesses, dem procedere, d. h. einem in Bewegung befindlichen Vorgang. Das bedeutet, daß man die Feststellung des Tatbestandes auch dynamisch sehen muß. Man muß 5 Norber! Achterberg, Rechtsprechung als Staatsfunktion, Rechtsprechungslehre als Wissenschaftsdisziplin, in: ders. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, Köln - Berlin 1986, S. 3 - 26, 9.

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sich bewußt sein, daß der Sachverhalt sich im Zuge des Prozesses, nicht selten erst in der zweiten Instanz so darstellt, wie er in Wirklichkeit ist oder war, soweit das überhaupt prozessual möglich ist. Überspitzt könnte man ohnehin sagen, es ist nicht entscheidend, wie etwas wirklich war, sondern was prozessual festgestellt wird. 6. Gerade bei der Beweisaufnahme besteht für den Rechtsanwalt die Chance, sich flexibel einzuschalten. Das gilt nicht nur bei der Durchführung der Beweisaufnahme und den Anregungen und Anträgen, die er je nach Prozeßlage geben kann, sondern auch bei der Beweiswürdigung. Ob und inwieweit gegebenenfalls eine weitere Beweisaufnahme nötig ist, ist nicht zuletzt dadurch bedingt, welche Würdigung und welche Anträge am Schluß der ersten Beweisaufnahme gestellt werden. Gerade hier ist ein hohes Maß psychologischen Einfühlungsvermögens nicht nur beim Richter, sondern auch beim Anwalt notwendig. Gerade in dieser Phase zeigt sich aber auch, ob und mit welchem Einfühlungsvermögen der Rechtsanwalt dem Gericht selbst gegenübersteht. Er muß sich in die Denkweise des Gerichts hineinversetzen und danach sein Plädoyer einrichten und seine Anträge stellen. Das setzt ein hohes Maß an Flexibilität voraus. Auf diesem Wege aber vermag der Rechtsanwalt zugleich auf die Urteilsgewinnung des Gerichts in der Tatsachenfeststellung Einfluß zu gewinnen, mit dem sich das Gericht auf jeden Fall auseinanderzusetzen hat. 7. Ein besonderes Kapitel ist die Beweislast. Im Grunde ist das keine Tatfrage, sondern eine Rechtsfrage. Unter Beweislast versteht man, wen das non liquet eines Beweisergebnisses trifft. Das ist keine Tatfrage, sondern eine Rechtsfrage und doch hängt diese Rechtsfrage aufs engste mit der Tatfrage zusammen, nämlich damit, was tatsächlich als erwiesen angesehen werden kann. Das bedeutet, daß sowohl eine tatsächliche Würdigung als auch ein Rechtsschluß bei der Beantwortung der Frage, wer aus Beweislastgründen unterliegt, vorliegt. Das bedeutet, daß der Rechtsanwalt sowohl sich mit dem tatsächlichen Sachverhalt als auch mit der schwierigen Rechtsfrage der Beweislast auseinanderzusetzen hat. Es kommt hinzu, daß die Lehren über die Beweisführungslast weitgehend die Grundlehren der Beweislast praktisch ausgehöhlt haben. Das bedeutet, daß auch dieser Problematik sich der Rechtsanwalt stellen muß. Gerade solche Fälle sind erfahrungsgemäß Risikofälle, wo die Entscheidung auf der Waage liegt. Das ist das Feld, wo eine gute Argumentation die Chance hat, in das Urteil des Gerichts Eingang zu finden. Das sind typische Fälle, wo der Rechtsanwalt einen effektiven Beitrag zur Urteilsgewinnung leistet. 8. Generell ergibt sich überhaupt die Frage, was letzthin inhaltlich der Funktionsbereich eines Rechtsanwalts ist. Das Gesetz verwendet nicht die oft landläufige Bezeichnung "Anwalt", sondern benutzt exakt die Bezeichnung "Rechtsanwalt". Daraus könnte man die Folgerung ziehen, daß sich der Funktionsbereich lediglich auf reine Rechtsfragen beschränke. Davon kann jedoch nicht die Rede sein. Eine solche Einengung würde den Rechtsanwalt von wesentlichen Bereichen seiner Funktion ausschließen. Wie ernstlich von keinem

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bestritten werden kann, gehört es zu seinen Aufgaben, einen Tatbestand aufzuarbeiten. Es gehört aber auch zu seinen Aufgaben, den Hintergrund eines Falles darin einzubeziehen und diesen sichtbar zu machen. Das bedeutet, daß sich sein Aufgabenbereich weit über die eigentliche Norm auf den Lebenssachverhalt erstreckt, dessen Kenntnis ihn erst in den Stand setzt, für seine beratende und plädierende Tätigkeit die entscheidenden Gesichtspunkte zu gewinnen. Von einem positivistischen Rechtsverständnis her könnte man von der Berufsbezeichnung "Rechtsanwalt" her methodisch und logisch diese Bereiche ausklammern. Es kommt also darauf an, was man unter "Recht" versteht. Gerade insoweit aber haben sich gerade in letzter Zeit Wandlungen im Rechtsverständnis vollzogen, die nicht nur für die Rechtsgewinnung durch den Richter, sondern auch für den Beitrag des Anwalts bei der Rechtsgewinnung von beträchtlicher Bedeutung sind. Es liegt auf der Hand, daß dann, wenn zum Recht nicht nur die abstrakte Norm, sondern auch der tatsächliche und rechtliche Hintergrund gehört, die Dimension der richerlichen Rechtsfindung eine ganz andere ist, als zu Zeiten eines extremen juristischen Positivismus, verstanden als Gesetzes- und Rechtspositivismus. Dann aber ist auch für den anwaltlichen Beitrag zur richterlichen Rechtsgewinnung eine entsprechend größere Bandbreite gegeben. 9. Was diese Problematik anlangt, so ist festzustellen, daß gerade in den letzten Jahren zunehmend ein Rechtsverständnis sich entwickelt hat, das einer komplexen Rechtsgewinnung wesentlich weiteren Raum eröffnet als in Zeiten der Hochblüte eines extremen Positivismus. Es ist erkannt, daß der Satz "da mihi facta, dabo tibi jus" eine Verengung der richterlichen Rechtsfindung beinhaltet, die mit der Realität nicht übereinstimmt. Es ist einfach nicht wahr, daß die Funktion des Richters allein darin bestände, einen vorgegebenen Rechtssatz unter Tatsachen zu subsumieren, die ihm von den Parteien zur Entscheidung vorgelegt werden. Richtig ist vielmehr, daß der Richter weitgehend im Kontext mit den Parteien und insbesondere mit den Anwälten erst den Sachverhalt aufbereitet, der einer Entscheidung zugrundegelegt wird. Richtig ist weiter, daß sich keine perfekten Normen finden, unter die sich der Sachverhalt im Sinne des klassischen juristischen Positivismus einfach subsumieren ließe. Im Gegenteil, in vielen Fällen muß erst die Norm gefunden und erarbeitet werden, die den Fall abdeckt. Der Weg bis dahin zeichnet sich in der Weise ab, daß nach dem letzten Krieg zunächst mit einem naturrechtlichen Denken eine Abkehr von einem strengen Positivismus gesucht wurde. Dem folgte die Skepsis gegenüber einem neuen Naturrecht, um in einem neuen Rechtsrealismus und der analytischen Aufarbeitung der Sachbezüge zum Recht eine Umwandlung zu erfahren. Die Phase, in der wir uns jetzt befinden, stellt sich als Fortsetzung dieser Ansätze dar. Sie versteht sich, wie ich im Sinne der Münsterschen Schule der Rechtstheorie und Rechtssoziologie 6 formulieren möchte, als "postpositivistische Epoche". Ausgangspunkt und richtige Erkenntnis dieser Richtung sind, daß Rechtsnor6 Eingehend dazu: Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984, der für einen schon nachpositivistischen sinnkritischen Rechtsrealismus plädiert.

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men durchweg so stark generalisiert und abstrahiert sind, daß sie ex an te gar nicht völlig eindeutig, erschöpfend und endgültig festlegen können, was im Einzelfalle Rechtens ist 7 • Kennzeichnend ist weiter, daß der Akt der Rechtsprechung ebenfalls im Einzelfalle einen "schöpferischen Charakter des Richtens" hat S und sich seinem Wesen nach als "Rechtsschöpfung zur Streitentscheidung mit sozial gestaltender Wirkung" darstellt 9 • All dies ist Gegenstand eines kürzlich in Münster durchgeführten Symposions 1o gewesen, auf dem Männer, wie Alois Trailer 11 , DIa Weinberger 12 und andere, fruchtbare Gedanken zu einer neuen Rechtsprechungslehre entwickelt haben. All dies kann naturgemäß im Rahmen dieses Beitrages nur verkürzt angesprochen werden. Im Rahmen dieser Abhandlung kann es aber keinem Zweifel unterliegen, daß sich aus den Erkenntnissen einer solchen postpositivistischen soziologischen Rechtsschule ein breites Betätigungsfeld für jeden Rechtsanwalt ergibt, sowohl in der Tatsachenerforschung als auch hinsichtlich der Normgewinnung wie auch im Subsumtionsfeld Argumente in die richterliche Rechtsgwinnung einzubringen, die weit über das hinausgehen, was zu Zeiten eines strengen Rechtspositivismus möglich erschien. Selbstverständlich wurde auch unter seiner Herrschaft mit den überkommenen normlogischen Schlüssen gearbeitet. Auch die Lückenfüllung spielte damals wie heute ihre Rolle. Das gleiche gilt von der Ausfüllung solcher Normen, die bewußt auf eine Ermessensentscheidung oder auf Treu und Glauben abgestellt sind. Trotzdem kann nicht verkannt werden, daß darüber hinaus nach einem postpositivistischen Denken, wie es hier entwickelt ist, nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Umdenken vorliegt. Damit soll gesagt werden, daß das schöpferische Element bei der Rechtsfindung doch einen ganz anderen Stellenwert erhalten hat, als es früher der Fall war. Das bedeutet, daß nicht nur der Richter, sondern auch der Rechtsanwalt in ihrem ambivalenten Erkenntnisprozeß eine wesentlich breitere Bandbreite erhalten haben, die den Rechtsanwalt nicht nur verpflichtet, sondern auch berechtigt, auf ihr seine Beiträge zur Rechtsgewinnung des Richters einzubringen.

7 Ders., Zur Korrelation von Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsanwendung. Strukturprobleme im Theoriedesign einer möglichen Rechtsprechungslehre, in: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre (FN 5), S. 517 - 553. • Norbert Achterberg, Das Wesen des Richtens. Siehe in diesem Bande S. 3 -18, 4. 9 Ebd., S. 18. 10 Vgl. hierzu den bereits in FN 5 zitierten, von Achterberg herausgegebenen Sammelband. 11 Alois Troller, Juristische und metajuristische Determinanten der Rechtsprechung im Zivilprozeß, in: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre (FN 5), S. 713 - 723. 12 Ota Weinberger, Juristische Entscheidungslogik. Zur Theorie der Deutung und Anwendung des Rechts vom Standpunkt des institutionalistischen Rechtspositivismus, in: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre (FN 5), S. 123 -146.

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Das sollte jedoch nicht überzeichnet werden. Eine Unzahl von Fällen liegt so, daß sie schlicht und einfach von Gesetzesnormen abgedeckt sind. Das ist auch gut so. Das erfordert die Rechtssicherheit. Das sollten wir aber mit Augenmaß bedenken. Es geht hier um die problematischen Fälle, wo der Gesetzgeber versagt hat oder der Sinn einer Norm erst durch Auslegung oder Argumentationsschlüsse ermittelt werden muß oder sich die Verhältnisse oder auch die Bewußtseinslage der Gesellschaft verändert haben. Das Spektrum dieser Fälle ist aber in unserer modernen Gesellschaft derart, daß bei allem Respekt vor der Rechtssicherheit eine gründliche Aufarbeitung notwendig ist. Dabei kommt der Wissenschaft, insbesondere der Tatsachenforschung ein hoher Stellenwert zu. Auf dem Prüfstand steht, daß aber letzthin immer der Richter und Anwalt die Entscheidung des einzelnen Falles in arbeitsteiliger Weise bewältigen sollten. Mir scheint, daß dies gerade in unserer Zeit besonders aktuell ist, nicht zuletzt auch in einem neuen Selbstverständnis beider Institutionen, von Richter und Rechtsanwalt, die nach unserem Recht institutionell als "unabhängige Organe der Rechtspflege" statuiert sind. 10. Was den Beitrag des Rechtsanwalts zur Rechtsgewinnung anlangt, so ist dieser bei den Revisionsgerichten evident. Bis ein Fall etwa zum BGH gelangt, ist er durch die sichtende, kritische und aufarbeitende Hand mindestens des beim BGH zugelassenen Rechtsanwalts gegangen. Allein schon die in den Entscheidungssammlungen des BGH veröffentlichten Entscheidungen sind ein beredtes Zeugnis dafür, wie oft die Rechtsargumentation des Revisionsanwaltes in das Urteil Eingang gefunden hat. Nicht gering ist die Zahl der Urteile, wo der BGH expressis verbis erklärt, daß er eine frühere Rechtsprechung aufgegeben hat. Das bedeutet eindeutig, daß das anwaltliche Argument durchgeschlagen hat. Deutlicher kann ein Beitrag zur Rechtsgewinnung nicht in Erscheinung treten. Erfahrungsgemäß handelt es sich um Fälle, die rechtlich von grundsätzlicher Bedeutung sind und im Spannungsfeld problemreicher Rechtsgewinnung liegen, wie sie vorzugsweise zum Forschungsfeld einer neueren Rechtsprechungslehre gehört. Es darf aber auch zum Rollenverhältnis hinzugefügt werden, welcher Mut dazu gehört, einen Fall als Rechtsanwalt vor einem Revisionsgericht, aber auch in den vorausgehenden Instanzen einer Entscheidung zuzuführen, wo die Rechtsprechung bislang einem obsiegenden Urteil entgegensteht. Allein das Kostenrisiko bedeutet für den Rechtsanwalt die Notwendigkeit, die Rechtsfrage subtil und gewissenhaft zu durchdenken. Um so mehr wiegt der Erfolg. Nicht nur in der Revisionsinstanz, sondern auch in der Berufungsinstanz gilt das entsprechend. Naturgemäß steht hier die Sachverhaltenserarbeitung mehr im Vordergrund. Aber auch die Feststellung und Gewinnung der Norm kann nicht weggedacht werden. Dabei sind es keineswegs etwa die voluminösen Fälle, wo das eine entscheidende Rolle spielt. Erfahrungsgemäß sind es oft gerade die kleinen Fälle, die bei näherem Nachdenken die Fragwürdigkeit der anzuwendenden Norm deutlich machen. Man sollte diese Fälle nicht unterschätzen.

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Wenn die Berufungssumme nicht erreicht ist, ist die E~tscheidung rechtskräftig und damit der Fall irreparabel falsch entschieden, wenn nicht das "richtige Recht" zur Anwendung gelangt ist. Das bedeutet, daß in all diesen Fällen nicht nur das gemeinsame Tatsachengespräch, sondern auch das gemeinsame Rechtsgespräch von entscheidender Bedeutung ist. Dabei sollte nicht verkannt werden, daß in jedem Fall rechtlich der erste Denkansatz dahin gehen muß, ob eine eindeutige Rechtsnorm vorliegt oder es sich um einen Problemfall handelt. Dabei sollte man nicht verkennen, worum es sich bei einem Prozeß handelt. Er muß gewiß, wenn man ihn einleitet, sorgfältig überdacht werden. Sein Risiko und seine Belastung bei längerer Dauer wiegen schwer. Wenn man vielleicht eine Norm mit einem Dampfer vergleichen kann, bei dem ungewiß ist, wie seine Fahrten verlaufen und an welchen Ufern er anlegt, so kann man einen Prozeß fast mit einer Rakete vergleichen, deren Schicksal unkalkulierbar ist, soweit sie nicht computerprogrammiert ist, woran es beim Prozeß fehlt. 11. All dies ist im Blick auf den Zivilprozeß gesagt. Gleiches gilt entsprechend für alle anderen Prozeßarten. Das gilt auch für den Strafprozeß, wo die Funktion des Rechtsanwalts bzw. Verteidigers zwar in erster Linie im Tatsächlichen liegt. Aber auch hier obliegt es ihm, das Rechtsgespräch zu suchen und gerade in heiklen Fragen des Wandels gesellschaftlicher Verhältnisse und Bewußtseinslagen seine Argumente in den Entscheidungsprozeß bei der Rechtsgewinnung des Richters einzubringen. 12. Lassen Sie mich mit einem Zitat enden, das anläßlich der Anwaltstagung in Düsseldorfvom 5. März 1985 an die Mitgliederversammlung gerichtet wurde: "Wir müssen den Schritt zu einer Rechtskultur vorbereiten, die von der Vorstellung geprägt ist, daß die Anwaltskanzlei der Ort ist, an dem sich Recht und Bürger primär begegnen. Es bestehen durchaus Möglichkeiten zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit in dieser Richtungl3 ." Mir scheint, daß hiermit ein wesentlicher Punkt getroffen ist, der manchmal übersehen wird. Nur auf diesem Hintergrund läßt sich der institutionelle Beitrag des Rechtsanwalts zur richterlichen Rechtsgewinnung voll und richtig einschätzen. Mir scheint, wir können das nicht wichtig genug nehmen, auch im Interesse einer fruchtbaren Zusammenarbeit, der als solcher ohnehin ein Eigenwert zukommt. Lassen Sie mich aber auch abschließend nochmals deutlich machen, worin zwischen Richter- und Anwaltstätigkeit doch ein existentieller Unterschied besteht. Der Richter hat die Kompetenz und trägt die Verantwortung für die Entscheidung. Das bedeutet, daß sowohl seine Tatsachenfeststellung und seine Normgewinnung stets im Hinblick auf diese Verantwortung ausgeübt werden. Demgegenüber stellt sich die Funktion des Rechtsanwalts insofern anders dar, als er in erster Linie die Interessen seines Mandanten wahrzunehmen hat. Darin liegt naturgemäß eine gewisse Einseitigkeit. Diese Interessenwahrnehmung aber hat er ebenso wie der Richter erklärtermaßen als "unabhängiges Organ der 13

Vgl. Anwaltsblatt 7/1985, S. 337.

Beitrag des Rechtsanwalts zur richterlichen Rechtsgewinnung

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Rechtspflege" wahrzunehmen. Das bedeutet, daß er nicht etwa uneingeschränkt und vorbehaltlos den Wünschen seines Mandanten unterworfen ist. Im Gegenteil, er hat den Sachverhalt und auch die Rechtsschlüsse aus eigener Verantwortung zu tätigen. Im Verhältnis zum Richter ist er aber insoweit freier gestellt, als ihn nicht die Verantwortung für die richterliche Entscheidung trifft, die allein beim Richter liegt. Das bedeutet, daß er freier als dieser operieren kann. Es liegt bei ihm, ob und welche Tatsachen er in einen Prozeß einführt. Das ist weitgehend taktisch bedingt. Ebenso sind seiner Rechtsphantasie keine Fesseln dadurch angelegt, daß er die Entscheidung zu treffen hätte. Das bedeutet, daß er dynamischer als der Richter seine Ideen entwickeln und in den Raum stellen kann. Er steht auch der Rechtsnot seines Mandanten näher als der Richter. Das zeigt sich besonders deutlich dann, wenn er gegen eine vielleicht festgefahrene Rechtsprechung ankämpfen muß. All das aber ist der Rechtsgewinnung durch den Richter nur förderlich. So ist dieser mit einem Tatsachenkreis und einem Bündel von Rechtsvorstellungen konfrontiert, denen er sich stellen muß. Gerade hierin dürfte die Fruchtbarkeit solchen Zusammenwirkens liegen. Es kommt aber noch folgendes hinzu: Es kommt nicht allein auf das an, was in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vorgetragen wird. Nicht minder wichtig ist, wie es vorgetragen wird. Das ist ein Vertrauen schaffender Faktor. Dieser spielt einmal gegenüber dem Gericht eine nicht unerhebliche Rolle. Es ist ein Erfahrungssatz, daß es sehr wohl darauf ankommt, welcher Rechtsanwalt es ist, der die Sache vor Gericht vertritt. Das hängt nicht nur von seinem rechtstechnischen Können ab, sondern auch weitgehend davon, welche Autorität er nach seiner ganzen Persönlichkeit besitzt. Dieser Punkt spielt nicht nur im Verhältnis zum Gericht eine bedeutsame Rolle, sondern auch gegenüber dem Mandanten als auch generell im sozialen Umfeld des Prozeßgeschehens. Im Zivilprozeß kann es bei einer Streitentscheidung zwischen zwei Parteien nur einen Sieger und einen Verlierer geben. Der Sieger wird mit Genugtuung feststellen, daß er endlich zu seinem Recht gekommen, der Verlierer mag verzweifelt sein, wenn er trotz allen Bemühens unterlegen ist. Dann spielt es aber immerhin eine wesentliche Rolle, wie die Prozeßführung durch den Richter und die beiderseitigen Rechtsanwälte gewesen ist. Ebenso wie beim Richter der Stil der Verhandlung eine der wesentlichsten Vertrauen schaffenden Maßnahmen ist, ist das auch bei dem Rechtsanwalt der Fall. Ebenso wie der Stil des Richters zur Rechtsgewinnung gehört, trifft das auch auf das Prozeßverhalten des Rechtsanwalts zu. Wenn es Ziel und Zweck eines Prozesses ist, zwischen den Parteien nicht nur eine formale Entscheidung herbeizuführen, sondern durch die Entscheidung einer strittigen Frage einen Streit zu beenden und damit einen sozialen Krankheitsherd zu befrieden, dann gehört zur Rechtsgewinnung in diesem Sinne nicht zuletzt auch der Stil und eine den Beteiligten verständliche Prozeßführung. Nur das macht die Relativität des Wahrheitsgehalts aller Prozeßentscheidungen für den Unterlegenen, wenn überhaupt, erträglich. Gehört dies aber auch zur Rechtsgewinnung durch den Richter, so trägt der Rechtsanwalt nicht minder

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Fritz Pardon

auch in diesem Sinne durch den Stil seiner Prozeßführung und durch seine Persönlichkeit zur Rechtsgewinnung im Sinne einer sozialen Befriedung bei. Gerade dies sollte ihm bei aller Wahrnehmung der Interessen für seinen Auftraggeber nicht zuletzt Ziel und Richtpunkt seines Einsatzes sein, letzthin auch im Interesse seiner Position, die ihm vom Gesetz als "unabhängiges Organ der Rechtspflege" institutionell zugeordnet ist. In diesem Rollenverständnis sollten wir weniger vom "Kampf ums Recht", wie es Ihering ausdrückte, sprechen, sondern von einem gemeinsamen Ringen um das, was Rechtens ist, ohne daß sich dabei sofort unterschwellig das Begriffspaar von "Siegern und Besiegten" einstellt. Damit, so meine ich, wäre einem neueren Rechtsverständnis, wie es gerade von Troller und der Münsterschen Rechtsschule vertreten wird, im Sinne einer sozialen Befriedung problemgeladener Fälle Rechnung getragen14 • Ich meine, das sollte nicht nur für den Zivilprozeß, sondern auch für den Strafprozeß und überhaupt für alle Ebenen gelten15 , auf denen bis zum Völkerrecht hinauf Rechtspro bleme in einem förmlichen Verfahren ausgetragen werden.

14 Eingehend hierzu: Werner Krawietz, Rechtssystem als Institution?, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 6 (1984), S. 209-243, 239; ders., Begründung des Rechts - anthropologisch betrachtet. Zur Institutionentheorie von Weinberger und Schelsky, in: Werner Krawietz / Helmut Schelsky u.a. (Hrsg.), Theorie der Normen, Berlin 1984, S. 541-556. IS Norbert A. Schoibl, Der Prozeß als soziale Institution, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 6 (1984), S. 287 - 304.

Rechtsstaat ohne Rechtsdogmatik? Von Hans-Martin Pawlowski, Mannheim 1. Die Rechtsdogmatik hat heute eine schlechte Presse. Sie steht in dem Geruch, die Bemühungen der Rechtsprechung um sozial angemessene Entscheidungen unnötig zu erschweren. Insbesondere die "überkommene Rechtsdogmatik" trifft dabei vielfach der Vorwurf, aufgrund ihrer Herkunft aus überholten politischen Zusammenhängen eine soziale Sensibilisierung geradezu zu verhindern. Ich habe es erlebt, daß ein angesehener Zivilrechtsdogmatiker die Richter des Bundesgerichtshofs in einer Diskussion in der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe davor warnte, die Rechtsdogmatik ernst zu nehmen. Mit diesem Unbehagen an der Rechtsdogmatik hat sich allerdings auch die Vorstellung von ihrem Gegenstand gewandelt. Dieser war früher - um es vereinfachend auszudrücken - das vorhandene Recht, das in den positiven Gesetzen zwar seine Gestalt gefunden hatte, von diesen aber nicht geschaffen war!. Das Rechtssystem, das die Rechtswissenschaft erarbeitet hatte, bot auch Kriterien für weitere Entscheidungen. Eiseie konnte daher die dogmatischen Einordnungen der Gesetze unbefangen als Beispiele "unverbindlichen Gesetzesinhalts" anführen 2 • Heute stellen sich dagegen unter dem Einfluß der Interessen- 3 und Wertungsjurisprudenz weithin die "Entscheidungen des Gesetzgebers" als Gegenstand der Rechtsdogmatik dar - also das Gesetzesrecht, das die Rechtswissenschaft nur in einem "formalen Ordnungssystem" zusammenfaßt. Cl. W Canaris 4 hebt daher hervor, daß die Vorstellung, daß die rechtlichen Systeme keine Entscheidungskriterien liefern, heute allgemein verbreitet sei 5. Es leuchtet nun ein, daß dogmatische Systeme, die sich nur als formale (äußere) Einheit der vorhandenen Gesetze darstellen, für die Rechtspraxis kaum 1 So war z. B. nach W. Krawietz. Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, 1978, S. 2, Ziel der alten Rechtsdogmatik das "Ausscheiden aller nur historischen Elemente des Rechts", während sich die Rechtsdogmatik heute als "Lehre von den autoritär (legal) festgelegten Wahrheiten" darstelle (S. 214). Vgl. auch K. H. Ladeur. ARSP 69 (1983), S. 463fT., 472f. 2 AcP 69 (1885), S. 275fT. 3 Nach Ph. Heck hatte das formale, "äußere System" nur eine Ordnungsfunktion, vgl. dazu H.-M. Pawlowski. Methodenlehre für Juristen, 1981, Rz. 135 f., 449 und auch Cl. W. Canaris. Systemdenken und SystembegrifT in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 35fT. 4 Systemdenken (FN 3), S. 86f. 5 Vgl. auch W. Krawietz. Das positive Recht und seine Funktion, 1967, S. 167fT., der immer wieder nachdrücklich betont, daß sich wissenschaftliche Erkenntnis und praktische Entscheidung auf verschiedene Gegenstände beziehen.

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von Interesse sind. Sie erleichtern nur die Übersicht über den Rechtsstoff, den der eingearbeitete Praktiker ohnehin kennt. Dies ändert sich auch nicht, wenn man diese Systembildung mit Cl. Canaris 6 und K. Larenz 7 an den "Wertungen" des Gesetzgebers oder "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" orientiert 8 • Denn auch dann bleiben die einzelnen Entscheidungen der Abwägung der verschiedenen Sachgesichtspunkte und Faktoren überlassen 9 - und damit einem grundsätzlich "offenen", unabgeschlossenen Kreis von Kriterien. Man spricht daher in Anschluß an F. Schulz und W. Willburg gerne von "offenen" oder "beweglichen" Systemen 10. Die sachhaltigen Argumente ergeben sich dabei aus den Entscheidungen, Wertungen oder Zielen der Gesetzgeber, die untereinander - schon infolge ihrer historischen Abfolge ll - keine Einheit bilden. Die Produktionen der verschiedenen Gesetzgeber müssen daher erst durch richterliche Dezision vereinigt werden 12, deren voluntativer Charakter heute weithin als "Erkenntnis" der neueren Methodenlehre gilt 13. Diese Entwicklung hat nun augenscheinlich Bedeutung für die Vorstellungen vom "Rechtsstaat". Denn das Abstellen auf die persönlichen Dezisionen der Richter bringt in die Rechtsprechung ein Element der Willkür hinein - was einen Lehrer des römischen Rechts in einer Diskussion auf einer Zivilrechtslehrertagung zu der Bemerkung veranlaßte, daß man heute von Recht augenscheinlich nur noch sprechen könne, wenn es gebeugt werden könne. Dieses Vordringen von Wert- und Güterabwägungen ist zwar von dem Bestreben getragen, dem Einzelfall gerecht zu werden - weil die Gerechtigkeit auch auf Systemdenken (FN 3), S. 46ff. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 456ff. Larenz bietet mit seiner Lehre von den "Typen" und "Typenreihen" (Methodenlehre, S. 443ff.) allerdings auch einen Ansatz für "sachhaltige" Systeme, vgl. dazu Pawlowski Methodenlehre (FN 3), Rz. 145ff. 8 Vgl. dazu Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 405ff. 9 Canaris, Systemdenken (FN 3), S. 62ff.; K. Larenz, Richtiges Recht, Grundlegung einer Rechtsethik, 1979, S. 174ff. Ein eindrückliches Beispiel bietet hier das abweichende Votum der Richterin Rupp-Brüneck zur "Mephisto-Entscheidung" des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG 30, S. 173 ff., 218 ff., 225). Sie stützt nämlich ihre Ablehnung der Mehrheitsentscheidung u. a. darauf, daß die Mehrheit bei der "Abwägung" zwischen dem Grundrecht der Freiheit der Kunst und dem Persönlichkeitsrecht der "Romanfigur" das Emigrantenschicksal des Autors nicht berücksichtigt habe, d. h. also, auf ein Argument, das nicht zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden kann. 10 Vgl. z. B. W. Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, RECHTSTHEO RIE Beiheft 2 (1981), S. 299 ff., 329 ff. und im übrigen die Darstellung bei Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 451 ff. n Das hebt u. a. Krawietz, Das positive Recht (FN 5), S. 29ff., hervor, Vgl. auch Canaris, Systemdenken (FN 3), S. 64ff., im übrigen Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz.116ff. 12 Vgl. dazu Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 405f. 13 z. B. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1970, S. 192; W. Dütz, AcP 87, S. 361 ff., 367ff. mit Nachw. Dagegen Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 421 f. 6 7

Rechtsstaat ohne Rechtsdogmatik?

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Individualisierung drängt, wie Cl. Canaris 14 hervorhebt. Man versteht daher diese Entwicklung als Folge der "Materialisierung des Rechtsstaats", die mit einer gewissen Notwendigkeit in der persönlichen Dezision des Richters enden muß1S. Aber gerade dieser Zusammenhang provoziert die Frage, ob diese Entwicklung damit nicht notwendig zu einer Auflösung des Rechtsstaats führt - jedenfalls des Rechtsstaates, wie ihn noch die Väter des Grundgesetzes vor Augen hatten. Es hat nun wenig Sinn, dieser Entwicklung direkt mit Überlegungen über die "richtige Methode der Rechtsanwendung" zu begegnen - und z. B. dazu aufzufordern, mit F. v. Hippe[l6, W. Burkhardt 17 oder A. Reinach 18 dogmatische Konzepte zu entwickeln, die in einem gewissen Umfang von der jeweiligen Ausformung in den einzelnen Gesetzen unabhänging sind - und die diese gesetzlichen Ausformungen daher tragen können. Denn die "richtige Methode" der Rechtsanwendung folgt ihrerseits aus der - "richtigen" - Vorstellung von dem, was Recht ist - und gerade Grundlagen und Funktion des Rechts sind heute streitig 19 . Ich will daher versuchen, die hier angesprochene Problematik mit Hilfe von Beispielen zu verdeutlichen, um so eine Grundlage für weitere Analysen zu gewinnen. 2. Das erste Beispiel bieten gegenwärtige Gesetzgebungsvorhaben, wie z. B. die Bemühungen, die Verbreitung der "Auschwitz-Lüge" unter Strafe zu stellen 20 oder die Überlegungen, das Problem der sog. "Leihmütter" zu regeln, z. T. auch Systemdenken (FN 3), S. 83. Vgl. dazu u. a. R. Dreier, JZ 1985, S. 353ff., der das Gegenüber vor "Normen" und "Prinzipien" (Zielvorstellungen) als Konsequenz der Materialisierung des Rechtsstaates plastisch hervorhebt - und dabei auch auf die Gefahr einer "potentiellen Überforderung" von Justiz und Verwaltung hinweist. Ein Beispiel für die Notwendigkeit des Vorbehalts der richterlichen Dezision bietet u. a. die Entscheidung BVerfG 57, S. 361 Ir., 368, in der das Gericht den Ausschluß der Härteklausel bei den Unterhaltsansprüchen wegen Kindesbetreuung für verfassungswidrig erklärt, weil dies gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoße. Dem Richter müsse von Rechts wegen die Möglichkeit verbleiben, im Einzelfall einem gravierenden Fehlverhalten auch Bedeutung für den Unterhaltsanspruch zuzumessen. 16 Zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung, 1930; Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, 1936. 17 Methode und System des Rechts, 1936; Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 2. Aufl.1944. 18 Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, 2. Aufl. 1922. 19 Dazu Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 158f., 277ff. und jetzt: Politische Wissenschaft und politische Ordnung, Festschrift für Rudolf Wildenmann, hrsg. von M. Kaase, 1986, S. 172ff. 20 Die folgenden Überlegungen betreffen übrigens nicht den "Koalitionskompromiß", der sich darauf beschränkt, in diesem Zusammenhang die Möglichkeit zu schaffen, "Beleidigungen" etc. von Amts wegen zu verfolgen (vgl. dazu den Bericht in: JZGesetzgebungsdienst -1985, S. 45). Dieser Kompromiß ist inzwischen als 21. Str.Änd.G. v. 13. 6. 1985 (BGBI. I., S. 965) Gesetz geworden. 14 15

3 Festgabe flir Alois Troller

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mit den Mitteln des Strafrechts, wie man hört. Was an diesen Gesetzgebungsvorhaben stört, sind nicht so sehr Zweifel an ihrer sozialethischen Fundierung bzw. an der "politischen Wertung" des Gesetzgebers - und auch nicht vordringlich die Zweifel an der Möglichkeit ihrer praktischen Realisierung. Es spricht manches dafür, das öffentlich.e Verbreiten der "Auschwitz-Lüge" mit allen Mitteln zu unterbinden. Und welche Eltern wünschen sich schon, daß sich ihre Tochter als "Leihmutter" zur Verfügung stellt? Bedenken gegen die erwähnten Gesetzesvorhaben ergeben sich vielmehr aus ihrer "Zufälligkeit" - aus ihrer mangelnden Verbindung zu dem Zusammenhang der vorhandenen Rechtsdogmatik und den sich daraus ergebenden Bindungen für Rechtspolitik. Unsere Strafrechtsdogmatik hat nämlich in den letzten Jahrzehnten das Strafrecht immer weitgehender auf das Prinzip des Schutzes festumrissener Rechtsgüter zurückgeführt 21 • Dies hat dann insbesondere die letzte Strafrechtsreform in den Jahren 1969-75 bestimmt und dazu geführt, daß eine Reihe von Straftatbeständen aufgehoben oder eingeschränkt wurden, die "nur" dem Schutz von Verhaltensvorstellungen dienten, die durch Weltanschauungen oder Individualmoral geprägt waren 22 • So wurden die Strafbarkeit der "Sodomie", der Kuppelei und des Ehebruchs aufgehoben, die Verbreitung pornographischer Schriften und die Prostitution in einem gewissen Umfang legalisiert und die Religionsdelikte auf "Friedensstörungen" zurückgeführt. Man weist zwar daraufhin, daß das Strafrecht mit dem Verbot der Tierquälerei, der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener und der Erregung öffentlichen Ärgernisses weiterhin auch zum Schutz "nur" sittlicher Gefühle eingesetzt werde. Diese Straftatbestände lassen sich aber auch von dem allgemeinen Prinzip des Rechtsgüterschutzes her verstehen 23 • Sie bieten jedenfalls kein Argument gegen die Lehre, nach der sich das Strafrecht nur als "letztes Mittel" (ultima ratio) zur Verhinderung nachweisbarer sozialer Schäden darstellt - und sie werden in der Strafrechtsdogmatik auch nicht so verstanden 24 •

21 Vgl. z. B. Rudolphi u. a., Systematischer Kommentar zum StG B, Bd. I, 2. Aufl. 1977, Rz. 1ff., vor § 1; H. Jeschek, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 3. Aufl. 1975, § 1 III 1. 22 Vgl. dazu u. a. E. Schmidhäuser, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1975, 4/17ff. 23 So wenn man z. B. das Verbot der Tierquälerei von dem neuen Tierschutzgesetz her interpretiert, das den Übergang vom "anthropozentrischen Tierschutz" zum "ethischen Tierschutz" vollzogen hat, der bereits im Reichstierschutzgesetz angelegt war, das das Tier des "Tieres wegen" schützen wollte (vgl. u. a. A. Lorz, Tierschutzgesetz, 2. Aufl. 1979, Einf. 21 ff.). Die Tiere erhalten damit als "Träger eines eigenen Achtungsanspruchs (ebd., § 1, 15) in einem gewissen Umfang die Qualität von "Rechtssubjekten", wenn sie auch rechtstechnisch weiterhin als Sachen eingeordnet werden, allerdings als "Sachen besonderer Art" (ebd., Einf. 180f.). Das Verbot der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener wäre demnach aus dem Zusammenhang des "allgemeinen Persönlichkeitsrechts" abzuleiten, das Verbot der Erregung öffentlichen Ärgernisses (wie die Religionsdelikte) als "Friedensstörung" zu begreifen.

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Man kann nun diesem Ansatz unseres Strafrechts durchaus kritisch gegenüberstehen - und einige politische Strömungen repräsentieren durchaus ein anderes Verständnis vom Strafrecht 25 . Es ist aber schon zweifelhaft, ob man das Strafrecht ohne den Rückhalt einer neuen (strafrechts-)dogmatischen Konzeption ändern kann. Eine Politik, die einzelne Straftatbestände aufuebt, wiedereinführt und dann wieder aufuebt - nur weil die Mehrheiten wechseln -, stellt sich nicht als (Straf- )Rechtspolitik dar. Was aber an den erwähnten Gesetzgebungsvorhaben 26 auffällt, ist, daß sie in besonderem Maße gerade von den politischen Kräften getragen werden, die sich in gleicher Weise mit großem Nachdruck für die geschilderte "Liberalisierung" des Strafrechts eingesetzt haben und die im übrigen auch weiterhin an diesem Strafrechtskonzept festhalten. Die Widersprüchlichkeit dieses Verhaltens zeigt sich besonders bei der Diskussion über die sog. "Leihmütter". Anlaß dazu gab bekanntlich ein Fall in England, der allgemeine Publizität erlangte. Nach den Einteilungen unseres Rechts ging es dabei zunächst um einen Fall der nicht-ehelichen Geburt. Hierzu hat die Aufuebung der Strafbarkeit der Kuppelei 27 und des Ehebruchs klargestellt, daß diese Erscheinung keinen Anlaß für staatliches Strafen bietet. Ein solcher Anlaß ergibt sich daher auch nicht aus der - heterologen künstlichen Insemination. Diese läßt übrigens gerade bei einer außerehelichen Geburt das Verhalten der Beteiligten nicht moralisch bedenklicher erscheinen als einen außerehelichen Verkehr. Moralische Bedenken oder soziale Gefahren ergeben sich auch nicht daraus, daß der außereheliche Vater der Kindesmutter Geld für das Austragen des Kindes zukommen ließ28. Und selbst der "Profit" des Vermittlungs büros ist nicht verwerflicher oder sozial gefährlicher als der Gewinn sonstiger privater Adoptionsvermittler oder gar der Profit der Produzenten pornographischer Schriften: Wer die Aufuebung der Strafbarkeit der Verbreitung von Pornographie und Kuppelei für richtig (gerecht) hält, kann nicht für die Strafbarkeit der "Leihmütter" eintreten - wenn er konsequent sein

will.

Bei der z. T. scharfen Diskussion über die strafrechtliche Sanktionierung der "Auschwitz-Lüge" tritt dieser Widerspruch in einer etwas anderen Form hervor: Hier wird nicht nur kritisiert, daß der Koalitionskompromiß an dem - für die Opfer von Auschwitz - beleidigten Charakter dieser Äußerungen anknüpft 29 . 24 Schon weil sich die erwähnten "Ausnahmen" auf die "Tradition" stützen, also nicht die Richtung des Strafrechts festlegen. 2S SO z. B. die Gruppen, die die Strafbarkeit der Abtreibung wieder ausdehnen wollen und sich dazu ausdrücklich auf moralische oder religiöse Argumente berufen. 26 Vgl. aber FN 20. 27 Was z. B. durch die Zurücknahme der Strafandrohung gegen Vermieter das Auftreten nichtehelicher Lebensgemeinschaften begünstigte. 28 Es erscheint vielmehr bedenklich, nichteheliche Kinder auf Kosten der Sozialhilfe zu zeugen. 29 Vgl. z. B. H. Ostendorf, NJW 1985, S. 1662ff.



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Es wird vielmehr auch scharf gerügt, daß die geplante Regelung den Tatbestand so formuliert hat, daß er nicht nur die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung vor derartigen "Beleidigungen" schützt, sondern auch die Opfer anderer Verfolgungen 3o . Diese Kritik ist zwar aus den politischen Zusammenhängen verständlich. Sie richtet sich aber augenscheinlich darauf, den Taten der Nationalsozialisten eine "Sonderstellung" (eine Einzigartigkeit) zuzuschreiben - sie damit gewissermaßen als "Einzelfall" zu behandeln 31 . Diese Kritik hat ihren Vorläufer in gewisser Weise in der Aufhebung der Verjährung des Mordes durch das 16. Strafrechtsänderungsgesetz vom 16. 7. 1979 31 . Auch bei diesem Gesetz ging es vor allem darum, die weitere Verfolgung nationalsozialistischer Gewalttaten zu ermöglichen, was politisch opportun erschien. Man sah sich durch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und Gleichbehandlung allerdings gehindert, diese Aufhebung der Verjährung auf die Taten aus der Zeit des Nationalsozialismus zu beschränken, und hob demgemäß die Verjährung für alle Morde auf - obwohl sich dafür aus den gängigen kriminalpolitischen Konzepten kein Anlaß bot. Diese Erscheinungen werfen nicht nur Fragen nach dem Verhältnis von Recht und Politik auf, dem wir uns später noch zuwenden müssen (dazu unten). Von besonderem Interesse ist vielmehr zunächst die unverkennbare Ausrichtung auf den "Einzelfall", der die über sie geführte Diskussion charakterisiert. Diese enge Verbindung zum "Anlaß" der Gesetzgebung bestand zwar auch schon bei der "Verjährungsgesetzgebung"32. Sie hatte dort aber noch zu einer "allgemeinen" (normativen) Regelung geführt 33 - allerdings zu dem Preis, daß diese auch Fälle erfaßte, die "an sich" nicht gemeint waren. Und das drängt heute immer stärker zur Beschränkung der rechtlichen Regelung auf den Einzelfall. Diese Tendenz ist nun nicht nur bei der Gesetzgebung zu beobachten; sie hat vielmehr durchaus ihre Entsprechung in der Rechtsprechung - was ein Blick auf zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verdeutlichen mag. So hatte das Bundesverfassungsgericht 34 zunächst darüber zu entscheiden, ob der durch das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. 7. 197635 eingeführte Versorgungsausgleich mit der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes zu vereinbaren war. Dieses Gesetz ordnete bekanntlich an, daß die Renten- und Pensionsanwartschaften, die Ehegatten während der Ehe erworben haben, im Falle der Scheidung (auch von sog. "Alt-Ehen") zwischen den beiden Ehegatten "geteilt" werden müssen - wie es der durch das Gleichberechtigungs-

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Mit anderen Worten: Sie zu dämonisieren. BGB!. I, 1979, S. 1046. "Namensgesetze" gab es im übrigen zu allen Zeiten. Dies gilt übrigens auch für den "Koalitionskompromiß", vg!. oben FN 20. BVerfGE 53, S. 257ff. BGB!. I, S. 1421.

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gesetz vom 18. 6.1957 36 eingeführte Zugewinnausgleich bereits für das während der Ehe erworbene Vermögen bestimmt hatte. Das Gericht sah in der Einführung des Versorgungsausgleichs 37 keine Enteignung, weil "zum Wesen der auf Lebenszeit angelegten Ehe ... die gleiche Berechtigung beider Partner ... gehört, die auch nach Trennung und Scheidung der Eheleute auf ihre Beziehung hinsichtlich Unterhalt und Versorgung ... wirkt 38 • Die Verteilung der während der Ehe erworbenen Versorgungsanwartschaften im Falle der Scheidung stellen sich "Enteignung" dar, weil sich diese "äußere" Verteilung nur als Konsequenz der vorher bestehenden gleichen "inneren" (sachlichen) Zuordnung dieser Vermögensbestandteile zu beiden Ehegatten darstellt. Man kann und muß in einer Ehe von Gleichberechtigten 39 also davon ausgehen, daß alles, was die Ehegatten erwerben, der Sache nach beiden Ehegatten zusteht, weil diese auch die eheliche Arbeitsteilung regeln (Hausfrauenehe, Doppelverdienerehe etc.)40. In einem späteren Urteil 41 hatte das Bundesverfassungsgericht dann über die Verfassungsmäßigkeit des § 1587 b Abs. 3, Satz 1 BGB zu befinden. Diese Bestimmung regelt den Versorgpngsausgleich bei privatrechtlichen Rentenanwartschaften (den "Betriebsrenten"), die wegen des Status ihrer Träger nicht im Wege des öffentlich-rechtlichen Splitting oder Quasi-Splitting geteilt werden können. Bei ihnen sollte daher die "Teilung" dadurch vollzogen werden, daß der Ausgleichsverpflichtete dem Berechtigten vergleichbare (öffentlich-rechtliche) Rentenanwartschaften durch Zahlung an eine öffentlich-rechtliche Versicherungsanstalt verschaffte - was z. T. erhebliche Zahlungsverpflichtungen begründet, die die Verpflichteten mit hohen Kreditverpflichtungen belasten können. Dagegen wandten sich eine Reihe der so Verpflichteten unter Hinweis auf Art. 14 und 2 GG. Das Gericht hob zwar auch hier hervor, daß diese Regelung die Eigentumsgarantie der Verfassung nicht verletze 42 • Es stellte dann aber fest, daß der Gesetzgeber den Ausgleich zwischen den Ehegatten in einer den Verpflichteten "schonenderen Form" hätte regeln können 43 und (in Hinblick auf Art. 2 GG und das Rechtsstaatsprinzip) auch müssen, weil "der Staat auch bei der Regelung des Privatrechtsverhältnisses der Ehegatten BGB!. I, 609. Bei der Einführung des Zugewinnausgleichs stellte sich das Problem der Vereinbarkeit mit der Eigentumsgarantie nicht, da damals jedem Ehegatten die Möglichkeit gegeben war, die durch das Gleichberechtigungsgesetz normierte Änderung des Güterstandes durch eine einseitige Erklärung auszuschließen. 38 BVerfG 53, S. 296. 39 Ähnlich wie in allen anderen Gemeinschaften oder Gesellschaften von "Gleichberechtigten"; Abweichungen bedürfen besonderer Vereinbarungen. 40 Vg!. dazu auch H.-M. Pawlowski, Die "bürgerliche Ehe" als Organisation, 1983, S. 71 ff. 41 BVerfGE 63, S. 89 ff. 42 Ebd., S. 109. 43 So z. B. durch die Anordnung des sog. "schuldrechtIichen Versorgungsausgleichs". 36

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während ihrer Trennung und Scheidung unverhältnismäßige Belastungen 44 des einen Ehegatten zugunsten des anderen vermeiden müsse"45. Die Feststellung, daß die skizzierte Teilung der "privatrechtlichen Versorgungsanwartschaften" deren Inhaber im Falle der Scheidung besonders hart belastet, ist im Zusammenhang der Ehescheidung durchaus verständlich. Rechtspolitisch mag sich auch eine Regelung der Scheidungsfolgen empfehlen, die derartige "außergewöhnliche Belastungen" vermeidet 46 Man wird also mit anderen Worten - mit dem Bundesverfassungsgericht davon ausgehen können, daß es "bessere" (zweckmäßigere, "schonendere") Regelungen der Scheidungsfolgen "gibt". Das Bundesverfassungsgericht hat aber in mehreren Entscheidungen 47 klargestellt, daß ein Gesetz nicht deshalb "verfassungswidrig" ist, weil es sich als unzweckmäßig darstellt, weil es "bessere Regelungen" geben könnte. Das Gericht stützte seine Entscheidung daher auch auf die Verletzung des "Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit" , der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt. Hierbei fällt aber schon einmal ins Auge, daß sich ähnliche "Härten" z. B. auch bei der "Teilung" von Unternehmen ergeben, die durch den Zugewinnausgleich erforderlich werden kann. Das Gesetz hat daher sowohl in den Fällen des Zugewinnausgleichs wie in den Fällen der Betriebsrenten die Möglichkeit von "Härteregelungen" geschaffen (§§ 1382, 1587 d Abs. 1 BGB), mit deren Hilfe "außer gewöhnliche Härten" schon materiell-rechtlich (und nicht erst beim Vollstreckungsschutz) Rechnung getragen werden kann. Von besonderem Interesse in unserem Zusammenhang ist aber, daß das Gericht mit dem Hinweis auf die Möglichkeit des "schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs" bei privatrechtlichen Versorgungsanwartschaften den Gesetzgeber auf eine Art der Teilung verweist, die nicht nur den Verpflichteten weniger belastet, sondern auch dem Berechtigten weniger gibt 48 • Vergleicht man dies z. B. mit der "Teilung" eines Gewerbebetriebes bei Übernahme durch einen Mitinhaber (vgl. z. B. § 142 HGB), so würde dem eine Regelung entsprechen, nach der der Ausscheidende statt der Hälfte des Wertes nur ein Viertel erhalten sollte, weil die Auszahlung der Hälfte den einen Teil zu stark belasten würde - ein Ergebnis, das man ohne weitere Sachgründe wohl kaum für gerecht halten wird: Wenn die Teilung der Versorgungsanwartschaften deshalb mit Art. 14 GG vereinbar ist, weil "zum Wesen der auf Lebenszeit angelegten Ehe ... die gleiche Berechtigung Hervorhebung vom Verf. Ebd., S. 115 ff. 46 Man kann allerdings sehr wohl fragen, ob eine "Erleichterung der Scheidung" angesichts Art. 6 GG ein rechtlich erlaubtes Ziel ist; man müßte also in diesem Zusammenhang schon auf den Gleichbehandlungsgrundsatz zurückgreifen, der es verbietet, (nur) die Scheidungen der Inhaber von privatrechtlichen Versorgungsanwartschaften zu erschweren. 47 So u. a. BVerfG 3, S. 162ff., 182; 4, S. 144ff., 155 und öfter. 48 Die Ehefrau erhält bei Vorversterben des Mannes weniger, der Mann behält bei Vorversterben der Frau mehr. 44

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(an dem während der Ehe erworb'enen Vermögen und an den während der Ehe erworbenen Versorgungsanwartschaften - der Verf.) gehört"49, dann muß es bei der Scheidung auch bei der "hälftigen Teilung" bleiben - solange diese möglich ist 50 , Für den Zusammenhang unserer Überlegungen ist also festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht der "schonenderen Regelung" der Scheidungsfolgen den Vorrang vor den Konsequenzen gibt, die sich aus dem System unseres Vermögensrechts ergeben - obwohl es die vermögensrechtlichen Überlegungen in der Auseinandersetzung mit Art. 14 GG selbst für einschlägig hält. Auch das Bundesverfassungsgericht zeigt also immer stärker 51 die Neigung, die Regelung der Gesetze dem "besonderen Anlaß", bzw, dem "Einzelfall" (hier dem Problem der Scheidungsfolgen), anzupassen und dabei den Zusammenhang mit anderen Problemen (hier mit dem System des Vermögensrechts) außer Acht zu lassen, 3, Die skizzierten Beispiele machen nun deutlich, was dem anfangs erwähnten Unbehagen an der Rechtsdogmatik zugrunde liege: Gegenstand und Aufgabe der Rechtsdogmatik ist es, durch die systematische Verbindung der einzelnen Erscheinungen des jeweils vorhandenen positiven Rechts zu gewährleisten, daß (entsprechend der überkommenen Vorstellung von "Gerechtigkeit") wesentlich Gleiches auch gleich behandelt wird - oder, mit anderen Worten: das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Entscheidungen zu wahren 52 , Es ist zwar bekannt, daß der Gleichbehandlungsgrundsatz allein nicht zu bestimmten Entscheidungen führt - weil "Gleichheit" nicht naturgegeben ist, sondern immer erst "hergestellt" werden muß 53 • Dennoch ist andererseits nicht zu übersehen, daß die Anerkennung des Gleichbehandlungsgrundsatzes - der bei

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Vgl. oben zu FN 40.

so Der schuldrechtliche Versorgungsausgleich bleibt als einzige Möglichkeit in den

Fällen, in denen eine "hälftige Teilung" nicht mehr möglich ist - nämlich dann, wenn nach Eintritt des Versorgungsfalles keine eigenständige Versorgungsanwartschaft mehr begründet werden kann. SI Ähnliche Feststellungen ergeben sich auch in Hinblick auf die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß der Verpflichtete bei "Vorversterben" des Berechtigten wieder in den Genuß seiner vollen Versorgung kommen müsse (BVerfG 53, S. 257ff., 300fT.), was nur verständlich ist, wenn man die einschlägigen Zusammenhänge des (Sozial-)Versicherungsrechts außer Acht läßt. Denn man kann vom Versicherungsprinzip her unzweifelhaft nicht davon sprechen, daß die Versicherung bei "Vorversterben" eines Berechtigten einen "Gewinn" macht (vgl. Krause, FamRZ 1980, S. 534fT.). Der Bayrische Justizminister Lang hat inzwischen darauf hingewiesen, daß die in Ausführung dieses Urteils getrofTene Gesetzesänderung jetzt Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des gesamten Versorgungsausgleichs begründen, weil die versicherungsrechtlichen Zusammenhänge jetzt dazu führen, daß die (Zwangs-)Versicherten, die sich nicht scheiden lassen, für die "Folgekosten" von Scheidungen aufkommen müssen (FamRZ 1984, S. 317ff.). 52 Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 330ff. 53 Ebd., Rz. 343 fT.

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uns in die Verfassung aufgenommen worden ist (Art. 3 GG)S4 - sehr wohl zu bestimmten Folgerungen führt, wenn durch eine Reihe von Vorentscheidungen 55 die "wesentliche Gleichheit" einer Anzahl von Sachverhalten außer Streit ist - und dies ist in allen Rechtsordnungen der Fall. Steht nämlich für eine Reihe von Sachverhalten außer Streit, daß diese (heute) als "wesentlich gleich" zu beurteilen - und daher "gleich zu behandeln" sind, dann schließt dies eine Anzahl möglicher Entscheidungen aus: Geht z. B. der Gesetzgeber davon aus, daß der Embryo dem geborenen Menschen "wesentlich gleich" sei, so verbietet der Gleichbehandlungsgrundsatz u. a. in Hinblick auf die Abtreibung die sog. Fristenlösung 56 . Es ist verständlich, daß eine derartige Beschränkung der "heutigen" Lösungs- und Entscheidungsmöglichkeiten von vielen als "störend" empfunden wird - und so Anlaß zu dem eingangs erwähnten Unbehagen an der Rechtsdogmatik bietet. Dieses" Unbehagen" an der Rechtsdogmatik mag nun zwar in einem gewissen Umfang berechtigt sein. Wir alle kennen aus der Vergangenheit juristische Argumentationen, die erwünschte Lösungsmöglichkeiten zu vorschnell als "denkunmöglich" oder "juristisch unmöglich" abzulehnen suchten. Hier sei nur daran erinnert, daß man z. B. behauptet hat, daß die Nichtigkeit eines Vertrages dessen Anfechtbarkeit (und die damit verbundenen günstigen Rechtsfolgen) begrifflich ausschließe 57 . Demgegenüber zeigt aber schon der Umstand, daß wir auch heute eine ganze Reihe derartiger "Beschränkungen" der Lösungsmöglichkeiten kennen und akzeptieren - jetzt aber immer verbunden mit dem Hinweis auf eine behauptete" Verfassungswidrigkeit" des jeweiligen Lösungsvorschlages -, daß es nicht die Beschränkung als solche ist, die das erwähnte Unbehagen auslöst. Entscheidend ist vielmehr die Art der Kanalisierung der Argumentation, die die Hilfsmittel bestimmt, mit deren Hilfe die jeweils behaupteten (und zunächst plausiblen) Beschränkungen überwunden werden können. Die - überkommene - Rechtsdogmatik verweist in diesem Zusammenhang immer auf "normative Innovationen" - d.h. auf die Entwicklung neuer Regelungen, die sich widerspruchslos mit dem "vorhandenen System"58 verbin54 Es wäre aber ein Mißverständnis zu meinen, daß der Gleichbehandlungsgrundsatz erst durch die Aufnahme in den Verfassungstext anerkannt worden wäre. Er hat vielmehr das gesamte abendländische Rechtsdenken geprägt. Art. 3 GG hat demgegenüber nur eine besondere Kompetenzregelung in Hinblick auf die Feststellungen von Gleichheit und Ungleichheit eingeführt (dazu H.-M. Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Aufl., Heide1berg 1983, Rz. 140fT.). 55 Vgl. Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 363. 56 Man könnte diese nur "kriminalpolitisch" (z. B. mit Hinweis auf mangelnde Schuldfähigkeit der werdenden Mutter) begründen (dazu ausführlich Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 372, 724ff.), was aber dann z. B. den Ersatz der Abtreibungskosten durch die Krankenversicherung ausschließen würde. 57 Vgl. dagegen Th. Kipp, Martitz-Festschrift, 1914, S. 211 ff., dessen Lehre von den "Doppe1wirkungen im Recht" sich dann doch zu Recht durchgesetzt hat. 58 Dazu Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 455.

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den lassen - notfalls mit Hilfe neuer Systematisierungen 59. Für das normative Denken kommt es bei der Entwicklung "neuer" Regelungen entscheidend darauf an, ob es gelingt, äußere Verhaltensformen oder Sachverhalte zu beschreiben, die sich als Konsequenz des heutigen Systems der rechtlichen Begründungen darstellen 60, die dann jeweils mit gleichen Rechtsfolgen (für alle) verbunden werden 61. Kennzeichnend für dieses gesetzmäßige Denken ist also die Beschränkung auf äußere Verhaltensweisen - und damit eine gewisse Formalisierung, die von der Persönlichkeit der Handelnden absieht (abstrahiert). Es soll- wie schon AristoteIes kommentierte - unerheblich sein, "ob ein anständiger Mensch einen Schlechten beraubt oder umgekehrt, und ob ein Anständiger Ehebruch begeht oder ein Schlechter, sondern das Gesetz betrachtet nur den Unterschied des angerichteten Schadens und behandelt die Personen als gleiche . . ."62. Die Rechtsgenossen werden zu - normativ - gleichen (gleichberechtigten) Personen, indem man von den besonderen Ausprägungen ihrer Persönlichkeit absieht, die ihnen unterschiedliche Bedeutung geben kann. In den letzten Jahren neigt man nun immer stärker dazu, die Beschränkung der heutigen Entscheidungsmöglichkeiten allein auf den Grundrechtsteil der Verfassung zurückzuführen, der dazu als "Wertordnung" interpretiert wird. Die einzelnen "Werte" werden dabei nicht "normativ" (mit Hilfe eines Systems von Regeln) gegeneinander abgegrenzt; man verweist hierzu vielmehr auf eine eher situationsgebundene Abwägung63 • Dies ermöglicht einmal eine größere Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Problemlage. Diese Anbindung an "Werte" ermöglicht aber die Rechtsprechung - nicht nur des Bundesverfassungsgerichts - vor allem die Einbeziehung der jeweils vorherrschenden gefühls- und stimmungsgeprägten "allgemeinen Überzeugung", die z. B. zeitweilig den Gefahren der Beeinträchtigung der Intimsphäre des Einzelnen ein höheres Gewicht beilegt als der staatlichen Gefahrenabwehr usf. Und es ist gerade diese Möglichkeit, die jeweilige "öffentliche Meinung" (oder Stimmung) Ebd., Rz. 116, 124, 382. Ebd., Rz. 361 ff., 369. 61 Solange dies nicht gelingt, kann man zwar in EinzelfäHen mit Hilfe verschiedener Generalklauseln (z. B. des § 242 BGB) zu neuen Entscheidungen kommen - dies aber gewissermaßen nur in Richtung auf die Ausarbeitung "neuer Normen", wie es z. B. F. Wieacker in seiner Abhandlung "zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB" (1956) eindringlich beschrieben hat; vgl. dazu Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 420ff. 62 Nikomachische Ethik, übersetzt und hrsg. von O. Gigon, 2. Aufl. 1972, S. 161; dazu Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 330ff., 341 ff. 63 Dazu instruktiv R. Dreier, JZ 1985, S. 353ff. Dreier hebt dabei zu Recht hervor, daß die meisten Entscheidungen weiterhin ("nur") in Orientierung an den vorhandenen "Normen" geraHt werden - ohne Rückgriff auf die durch "Werte" bestimmten Prinzipien (Zie1vorsteHungen). Diese Normen könnten heute die Urteile jedoch nur noch "primafacie" rechtfertigen. Von daher wird dann verständlich, daß in den FäHen, in denen gerichtliche Entscheidungen auf ein breites öffentliches Interesse stoßen, weitere ("tiefere") Begründungen erforderlich werden; dazu noch gleich unter 4. S9

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einzubeziehen, die die (vermeintliche) Überlegenheit der Wert- und Güterabwägung gegenüber der ("nur formalen") Normativität begründet: Weil die Rechtsprechung damit auf die heutigen Erwartungen eingehen kann (und ihnen gegebenenfalls entgegenkommen) kann. Der entscheidende Unterschied zwischen der Bindung durch "Normen" und der Bindung durch "Werte" liegt also in der Offenheit gegenüber den jeweiligen politischen Überzeugungen, denen gegenüber sich die Normen und die Rechtsdogmatik als "starrer" (undurchdringlicher) erweisen als Werte und Wertordnungen. Mit dieser Feststellung, daß die Rechtsdogmatik - und insbesondere die "überkommene" Rechtsdogmatik - der Absorbtion neuer politischer Aspekte einen stärkeren Widerstand entgegensetzt, wird nun nicht nur der Vorwurf verständlich, daß die Rechtsdogmatik die "soziale Sensibilisierung" verhindere. Diese Feststellung scheint vielmehr darüber hinaus auch bereits die Bestrebungen zur Überwindung dieser dogmatischen Bindung zu legitimieren. Denn die größere Offenheit gegenüber den jeweiligen politischen Stimmungen und Überzeugungen, die es der Justiz ermöglicht, auf die Erwartungsstrukturen der Öffentlichkeit einzugehen und diese bei ihren Entscheidungen zu verarbeiten, scheint auf den ersten Blick geradezu eine Konsequenz des Demokratieprinzips zu sein. Denn wenn auch die Forderung nach dem (allgemein) "politischen Richter", die in dem letzten Jahrzehnt nicht selten zu hören warM, überzogen sein mag; die Ausrichtung an dem politischen Grundkonsens der Mehrheit der Rechtsgenossen (an den "Grundwerten") scheint vom Prinzip der "Volkssouveränität" her dann doch notwendig zu sein. Man kann sich zudem darauf berufen, daß die normative, rechtsdogmatische Begründung gerichtlicher Urteile notwendig in weitem Umfang "formal" bleiben muß und von daher die - demokratische - Öffentlichkeit kaum überzeugen kann. Die Klagen über das Übel der "Formaljurisprudenz" sind ja weit verbreitet. Demgegenüber spricht der Verweis auf die heute anerkannten (und in der Verfassung verankerten) "Werte" das Rechtsempfinden unmittelbar an - und verspricht doch in der Ausrichtung an diesen Werten auch eine Bindung und d. h. auch den Ausschluß von "Willkür". Bei der Diskussion derartiger Argumente stößt man nun zunächst auf die Schwierigkeit, daß alle Gegenargumente selbst wieder als "politisch" interpretiert und eingeordnet werden können - d. h. als Ausdruck politischer Überzeugungen und Intentionen. Denn wer sich gegenüber der eben skizzierten Auffassung auf Zusammenhänge des Rechtsstaats oder ähnliches beruft, wird sich dem Einwand ausgesetzt sehen, daß gerade die vom Demokratieprinzip geforderte Bindung an die in der Verfassung verankerte "Wertordnung" in einem tieferen Sinn dem Prinzip des Rechtsstaats entspreche, da sie diesen nicht nur

64 Diese Forderung vermochte schon angesichts der vorhandenen Gerichtsorganisation mit ihren Instanzenzügen nicht zu überzeugen; vgl. dazu Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 396f.

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fonnell, sondern auch materiell gewährleiste 65 • In einem derart "politischen"auf persönliche Wertungen - gerichteten Streit ist dann aber eine wissenschaftliche Entscheidung ex definitione ausgeschlossen - da auch der Rückgriff auf soziologische oder politikwissenschaftliche Erkenntnisse hier letztlich nur "Schulmeinungen" verspricht - und keine allgemein verbindlichen Aussagen. In unserem Zusammenhang kann es aber nicht um "politische" Erkenntnisse, Überzeugungen oder Entwürfe gehen, sondern nur um rechtliche Feststellungen, die sich auf allgemein verbindliche Aussagen richten 66 . Man mag zwar bezweifeln, ob es derartige Aussagen "gibt" - und diese Zweifel können durch die Erfahrung bestätigt werden. Denn es gibt schon keine Gewähr dafür, daß wir - immer - in einer Rechtsgemeinschaft leben werden; der Rückfall in den "Naturzustand" ist eine praktische Gefahr. Noch weniger aber ist gewährleistet, daß der einzelne auch erkennt, daß er in einer Rechtsordnung lebt und nicht nur einer letztlich willkürlichen Herrschaft unterworfen ist. Diese Zweifel sollten jedoch nicht von der Suche nach dem Recht abhalten - und d. h. eben: Von der Suche nach "allgemein" verbindlichen (und d. h. nonnativen) Aussagen über die gegenseitigen Beziehungen. Die bisherigen Überlegungen lassen nun erkennen, daß die Zweifel an der Möglichkeit allgemeiner nonnativer Systeme - und der dadurch bedingte Rückgriff auf die "Wert- und Güterabwägung" im "Einzelfall" - in den Strukturen unserer Öffentlichkeit begründet ist, und d. h. in der Art, in der heute das Verhältnis von Recht und Politik wahrgenommen wird. Die - fonnalisierte - nonnative Begründung, die ihre "Richtigkeit" (Rechtlichkeit) der Rechtsdogmatik verdankt, ist in einer Reihe von Fällen nicht (mehr) öffentlich zu vermitteln - schon aufgrund ihrer notwendigen "Professionalität". Die Gerichte, die sich mit (fonnalen) rechtsdogmatischen Begründungen begnügen, werden nicht selten feststellen, daß sie die Erwartungen der Öffentlichkeit enttäuschen. Und dieser Umstand muß Richter, die "im Namen des Volkes" entscheiden sollen und wollen, zwangsläufig verunsichern. Daraus folgt aber noch nicht, daß es jetzt von Rechts wegen geboten sei, dieser "Enttäuschung" der Öffentlichkeit dadurch entgegenzutreten, daß man die Urteile (das Recht) den Erwartungsstrukturen der Öffentlichkeit anpaßt. Diese Anpassung mag sich zwar als "politisch" wünschenswert darstellen. Dies heißt aber nicht, daß sie dem - geltenden - Recht entspricht. Es gilt vielmehr zu bedenken, wie sich das Verhältnis von Recht und Politik nach dem (geltenden) Recht darstellt - und nicht nach dem jeweiligen Verständnis von Politik. Vgl. dazu die Darstellung Dreiers, JZ 1985, S. 353 ff. Es ist selbstverständlich, daß nicht gewährleistet ist, daß "rechtlich Feststellungen" in allgemein verbindlichen Aussagen bestehen. Auch Juristen sind Menschen, die dem Irrtum unterworfen sind. Die Rechtswissenschaft kann aber - anders als die Politikwissenschaft oder die Soziologie - zu allgemeinverbindlichen Aussagen gelangen, weil für sie die vorhandenen rechtlichen Institutionen und Organisationen legitime Argumente liefern; dazu näher Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 444, 198ff., 588ff. 65

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Hier ist zunächst noch einmal hervorzuheben, daß die Anbindung an die regelhafte - Normativität die Gleichbehandlung der gleichberechtigten Personen (Rechtsgenossen) konstituiert. Dieser Zusammenhang prägt auch noch heute unser Recht und ist dafür verantwortlich, daß die meisten Fälle normativ - unter Rückgriff auf die (überkommene) Rechtsdogmatik - entschieden werden. Die Normativität des Rechts hat infolge des Wandels unserer Verfassungs- und Gesellschaftsstruktur zudem eine besondere - gewissermaßen dramatisierte - Bedeutung erlangt: Der Übergang vom (christlichen) Toleranzstaat zu einem pluralistischen Staat, d. h. zu einem Staat, der auf der Glaubensund Gewissensfreiheit aufbaut, hat dazu geführt, daß sich unser Recht weder auf die überkommenen christlichen Überzeugungen noch auf neue, allgemein verbreitete Überzeugungen stützen kann 67 • Dies tritt heute besonders dadurch eindringlich hervor, daß unsere Rechtsordnung jetzt auch für eine große Zahl von Menschen gilt, die aus anderen Kulturkreisen eingewandert sind - oder sich Religionen anderer Kulturkreise zugewandt haben. Das schließt es z. B. heute aus, sich wie früher bei der Präzisierung von Generalklauseln auf die überkommene Moral oder - wie z. T. heute empfohlen - auf die herrschende Moral 68 zu beziehen. Denn dies würde die dissentierenden Rechtsgenossen Entscheidungen unterwerfen, die ihre "Richtigkeit" (ihre rechtliche Verbindlichkeit) nicht aus dem allgemein verbindlichen Recht, sondern aus Glaubensüberzeugungen beziehen, die eben nicht (mehr) allgemein verbindlich sind - so verbreitet sie auch sein mögen. Die Bindung des Rechts an die normative Gleichbehandlung der (abstrakten) Personen - ohne Rücksicht auf deren religiöse, sittliche oder moralische Überzeugungen, die einzelnen Persönlichkeiten eine besondere Bedeutung geben mögen -, erweist sich also in unserer pluralistischen Verfassungs- und Gesellschaftsordnung als Garant der "Glaubens- und Gewissensfreiheit" 69 , die unsere Verfassung kennzeichnet 70 und die insbesondere angesichts der EinwanDazu ausführlich Pawlowski, Festschrift Wildenmann (FN 19), S. 172ff. Dazu schon Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 152ff., 194; vgl. auch Pawlowski, Allg. Teil (FN 54), Rz. 498. 69 Dazu ausführlich Pawlowski, Festschrift Wildenmann (FN 19), S. 172ff.; und auch Kreuzwege, Festschrift für Wilhelm Hahn, Heidelberg 1984, S. 226ff. 70 Es sei hervorgehoben, daß diese Entwicklung des Rechtsstaats der Sache nach eine Konsequenz der Entwicklung der christlichen Theologie ist (vgl. dazu Pawlowski, Festschrift Hahn [FN 69], S. 226ff.) Denn die Beschränkung der Aufgaben des Staats (auf die "Erhaltungsordnung"), die sich aus dem Verzicht auf eine religiöse oder weltanschauliche Festlegung des Staates ergibt, ist das Ergebnis der "partnerschaftlichen Trennung" von Staat und Kirche, die durch den mittelalterlichen Gegensatz von Papst und Kaiser eingeleitet und in der reformatorischen "Lehre von den zwei Regimenten" ausformuliert wurde: Christen können darauf verzichten, dem Staat die Aufgabe zu übertragen, seine "geistigen Grundlagen" zu kontrollieren (und d. h., seine Bürger mit den Mitteln des Rechts auf gleichartige religiöse, weltanschauliche - d. h. sittliche - Überzeugungen zu verpflichten), weil sie darauf vertrauen, daß Gott Herr der Geschichte ist. Wenn aber auch der pluralistische Staat sich insofern von "christlichen Überzeugungen" herleitet, so ist es 67

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derung von Bürgern aus anderen Kulturkreisen besondere Bedeutung erlangt hat. Diese Trennung des Staats (und damit des Rechts) von den - unterschiedlichen - Überzeugungen der Rechtsgenossen erschwert nun den (öffentlichen) Umgang mit dem Recht. Denn die Gesetze waren früher trotz der prinzipiellen Anerkennung der Glaubens- und Gewissensfreiheit de facto Ausdruck der allgemein verbreiteten Überzeugung der Bürger. Heute hat aber die faktische Verbreitung unterschiedlicher religiöser, weltanschaulicher und sittlicher Überzeugungen dazu geführt, daß das Recht als einzige Instanz verblieben ist, der allgemeine Verbindlichkeit zukommt. Und wenn dies, wie schon bemerkt, in vielen Fällen (noch?) keine besonderen Probleme bereitet, weil diese auch heute noch normativ - mit Hilfe der Rechtsdogmatik - entschieden werden 71, so treten doch in den Fällen, die aus irgendeinem Grunde das Interesse einer breiten Öffentlichkeit gefunden haben, Probleme auf. Denn in diesen Fällen muß jetzt das Recht auf dem Hintergrund der unterschiedlichsten weltanschaulichen (politischen, religiösen oder philosophischen) Überzeugungen als richtig (gerecht) ausgewiesen werden. Dies kann man zwar mit Hilfe einer autonomen - rechtlichen - Begründung 72 leisten, diese erschwert aber heute infolge ihrer Professionalität der Öffentlichkeit den Zugang zum Verständnis des Rechts. Das Recht bedarf daher heute in besonderem Maße der "Legitimation" - da es sich infolge der skizzierten Zusammenhänge nicht mehr (wie die Moral) "von selbst" versteht. Die Legitimation des Rechts ist nach unserer Verfassung Aufgabe des "politischen Systems" - sie ist von den Politikern zu leisten, die "im Auftrag (Mandat) des Volkes" die allgemeinen für alle verbindlichen Regelungen der gegenseitigen Beziehungen festlegen 73 • Damit kommt allerdings eine - faktische - Bedingung der Allgemeinverbindlichkeit des Rechts in den Blick. Diese beruht darauf, daß das Recht im Auftrag des Volkes formuliert wird - und daher jedem Rechtsgenossen zugerechnet werden kann: Das Recht bindet, weil es im Auftrag des Volkes formuliert und damit das je eigene Recht ist: Das Recht ist das Recht. Diese Legitimation entfällt aber, wenn sich die Mitglieder der Legislative nicht mehr als "Vertreter des gesamten Volkes" darstellen - wenn sie nicht mehr als solche wahrgenommen oder anerkannt werden. Denn dann ist das Recht nicht mehr das - eigene - Recht, sondern nur noch eine ihm gerade von ihnen her verwehrt, sich auf "christliche Überzeugungen" oder Glaubensinhalte zu berufen. Diese sind vielmehr durch Predigt und nicht durch (Rechts-)Zwang zu verbreiten. 71 Vgl. dazu oben FN 63. 72 Zur (relativen) Autonomie des Rechts vgl. Pawlowski. Methodenlehre (FN 3), Rz. 588ff. 73 Dazu ausführlich ebd. (FN 3), Rz. 621 ff., 629 ff., 662 ff. - Die Politik stellt sich so in Zusammenhang unserer Verfassung - vom Recht her gesehen - (auch) als ein Mittel der Rechtserkenntnis dar (Rz. 629ff.).

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Erscheinung von - letztlich unbegründeter oder willkürlicher - Herrschaft. Das Vordringen abwägender (und d.h. letztlich auf Politik gerichteter) Entscheidungs begründungen erweist sich damit als ein Versuch der Justiz (und der Rechtswissenschaft), einem - vorhandenen oder vermuteten - Legitimationsdefizit des Staats (und damit des Rechts) abzuhelfen. Das macht denn auch die Orientierung am Einzelfall verständlich, denn die politische Diskussion orientiert sich weithin - zu RechC4 - an den Einzelentscheidungen und ihren Folgen. Die Tendenz, den Grundrechtsteil unserer Verfassung als "Wertordnung" zu interpretieren, konvergiert daher nicht zufällig mit der (partei-) politischen Diskussion über die "Grundwerte". Die genauere Überlegung zeigt aber, daß dieses Bestreben der Gerichte, die Legitimation unseres Rechts mit Hilfe der Verwendung "werthaitiger" (an Stelle "nur formaler", technischer) Arbeitsmittel zu verstärken 7S, der Sache nach geeignet ist gerade diese Legitimation aufzulösen. Dies läßt schon einmal die Verbindung zur (partei-)politischen Diskussion über die "Grundwerte" erwarten: Denn der Umstand, daß sich alle drei Volksparteien in ihren Programmen und Verlautbarungen auf die Forderung der französischen Revolution nach "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" berufen, hat gerade nicht die Einsicht verstärkt, daß die drei Parteien von derselben Grundlage ausgehen. Die "Grundwertedebatte" hat vielmehr allem Anschein nach die politischen Gegensätze gerade verschärft - weil sich jetzt die bestehenden politischen Meinungsunterschiede als Konsequenz des "richtigen" Verständnisses der Grundwerte darstellen, zu denen man sich "bekennt". Und zwischen verschiedenen "Bekenntnissen" hört die rationale Diskussion auf, wie H. Ryffel immer wieder hervorgehoben haC6. Dem entspricht es denn auch, daß heute die Berufung auf den "status confessionis immer häufiger auftritt; Fragen der Atomenergie, der Verteidigung der Umwelt etc. werden als "Gewissensfragen" bezeichnet, die nicht mehr einer "Mehrheitsentscheidung" unterworfen werden dürften 77. R. Dreier will daher dem einzelnen auch ein Widerstandsrecht gegenüber den "Normen" geben, wenn sie mit ihrem Widerstand gegen die Normen einem

74 Dies ergibt sich aus den "Sanktionsmechanismen", die unsere Verfassung in Hinblick auf die politische Arbeit eingerichtet hat: Der Politiker, der auflangfristige Ziele setzt und in der Wahlperiode keine "Erfolge" bietet, riskiert die "Abwahl", vgl. dazu ausführlich Pawlowski, Festschrift für K. Duden, 1977, S. 349ff., 367ff. 75 Werthaltige Begriffe scheinen besonders geeignet, positive Emotionen zu binden: Man engagiert sich eher für die "Sicherung der Existenzgrundlage" als für die "Sicherung der subjektiven Rechte"; vgl. Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 138 ff. 76 Vgl. Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 269ff., dazu Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 194ff. 77 Dem entspricht es, daß auch im Bereich der evangelischen Kirche die Neigung zunimmt, Fragen der Politik und des Rechts als "Bekenntnisfragen" (Glaubensfragen) zu verstehen - so wurde zuletzt selbst die 40-Stunden-Woche als "Glaubensfrage" bezeichnet.

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"besseren Recht" zum Siege verhelfen wollen 78. Die Verbindung von Recht und Politik verstärkt also nicht die Legitimation des Rechts, sie schwächt vielmehr sowohl das Integrationspotential der politischen Diskussion als auch die Bindungswirkung des Rechts - was nicht überrascht, wenn man bedenkt, daß diese Vermengung die Arbeitsteilung (Gewaltenteilung) zwischen der Legislative und der Judikative berührt 79 • Diese Betonung des "Bekenntnischarakters" von Recht und Politik erhält ersichtlich heute seine besondere Brisanz durch die wachsende Einbeziehung der Angehörigen anderer Kulturkreise: Ein Recht, das auf (unser) Bekenntnis verweist, erschwert (oder verhindert sogar) die Integration von Mohammedanern etc. - da es verhindert, daß unser Staat von den Angehörigen anderer Kulturkreise als Rechtsstaat wahrgenommen wird, d. h. als ein Staat, der auch ihr Recht anerkennt 80 • Unser Staat wird - wie bereits skizziert - nur dann ein freiheitlicher (pluralistischer) Staat bleiben, der die Glaubens- und Gewissensfreiheit aller Bürger gewährleistet, wenn er darauf verzichtet, seine Bürger auf die Anerkennung einer weltanschaulich fundierten Wertordnung zu verpflichten und sein Ruf auf eine normative (formalisierte) Regelung beschränkt, die die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung aller Bürger gewährleistet. Unsere Überlegungen haben allerdings wohl deutlich gemacht, daß es keine Garantie dafür gibt, daß unser Staat ein freiheitlicher - pluralistischer - Staat bleiben kann und wird. Denn ein pluralistischer Staat - ein Staat der Glaubensfreiheit - ist nur möglich, wenn bestimmte geistige und soziale Voraussetzungen vorhanden sind, deren Vorhandensein er selbst nicht gewährleisten kann 8 !: Eine Gesellschaft von Khomeni-Anhängern kann und wird einen pluralistischen Staat ebensowenig tragen wie eine Gesellschaft von Anhängern der "Friedensbewegung", die sich durch Mehrheitsentscheidungen nicht gebunden sehen, weil (nur) sie das "bessere Recht" vertreten. Ein freiheitlicher (pluralistischer) Staat wird vielmehr nur bestehen, wenn er getragen wird von einer Mehrheit von Bürgern, sich durch seine Normen binden lassen unabhängig von den "Zielvorstellungen", die durch das Wertverständnis der jeweiligen Mehrheit geprägt werden. Unsere Überlegungen haben nun gezeigt, daß die Erwartungsstrukturen unserer Öffentlichkeit die skizzierte Tendenz zur "Materialisierung des Rechtsstaates" unterstützen, so daß die Rechtsprechung immer häufiger dazu veranJZ 1985, S. 353 ff. Das hebt übrigens auch Dreier hervor. 80 Vgl. dazu Pawlowski. Festschrift Wildenmann (FN 19), S. 172ff. 81 Dazu ausführlich Pawlowski. Festschrift Hahn (FN 69), S. 226f.; so auch E. W. Böckenförde. Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat-Gesellschaft-Freiheit, 1976, S. 42ff., 60; H. Folkers. Die Neutralität gesellschaftlicher Gewalt und die Wahrheit der Unterscheidung, in: N. Luhrnann (Hrsg.), Soziale Differenzierung, 1985, S. 42ff., 47f. 78

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laßt wird, ihre Entscheidung auf den Einzelfall zu beschränken, der dann durch abwägende Begründung bewertet wird 82 • Es ist zu befürchten, daß sich diese Tendenz noch verstärken wird, wenn es nicht gelingt, die Strukturen der Öffentlichkeit (die "Medienverfassung") zu ändern, die diese Forderung unterstützen. Erforderlich wäre die Einrichtung einer Medienverfassung, die gewährleistet, daß die sachlichen Probleme der Rechtsordnung in den öffentlichen Diskussionen nicht nur in den Selbstdarstellungen der Parteien behandelt werden - die notwendig Bekenntnischarakter aufweisen. Es muß vielmehr Vorsorge dafür getroffen werden, daß die Sachprobleme des Rechts in der Öffentlichkeit auch "sachlich" (von den wissenschaftlichen Erkenntnissen her) abgehandelt werden, da die Art der Diskussion auch die Möglichkeiten der "Lösungen" beeinflußt. Die Aufgabe, "sachliche" (auf die Sache, und nicht auf die Selbstdarstellungen einer Glaubens- oder Weltanschauungsgemeinschaft gerichtete) öffentliche Diskussion einzurichten, wirft naturgemäß eine Reihe schwieriger Organisationsprobleme auf. Denn es hat keinen Sinn, neuen "politischen" Akteuren Zugang zu den öffentlichen Diskussionen in den Medien zu geben. Und das Problem, welche organisatorischen Mittel es ausschließen, daß die Mitglieder einer "öffentlichen" Organisation sich der eigenen "Politik" enthalten, ist augenscheinlich nicht einfach zu beantworten. Die Alternativen zum pluralistischen Staat, zu denen eine Abkehr von der Glaubensfreiheit führen wird, versprechen aber weniger "Recht" als unser Staat seinen Bürgern gewährt. Wir haben also allen Anlaß, uns mit allen unseren Fähigkeiten für den pluralistischen Staat zu engagieren 83 •

82 83

Vgl. dazu schon Pawlowski, Methodenlehre (FN 3), Rz. 749 fI. Vgl. auch FN 70.

Qu'est-ce que la dogmatique juridique? Par Jean-Franr;ois Perrin, Geneve

I. Dogmatisme on dogmatiqne? Nous avons utilise ces expressions aplusieurs reprises avant de realiser que cet usage vehiculait un nombre important d'implicites, voire de confusions. La premiere provient d'un sens commun, que nous ecartons de la problematique; le dogmatisme serait une attitude mentale de rigidite, d'inflexibilite, qui s'opposerait a la sensibilite, a la souplesse. Ce sens peut etre utilise en droit. Ainsi, l'attitude «dogmatique» s'opposerait alors a la prise en compte des circonstances, al'equite. Mais ce sens est «derive» et il ne nous retiendra pas. Nous nous interessons a un sens premier, commun a plusieurs disciplines des sciences qui etaient dites «morales» et que l'on appelle actuellement «humaines». Le substantif «la dogmatique» est utilise sans aucune connotation pejorative. 11 implique une certaine distanciation, parfois critique. Ainsi en va-tillorsque les sociologues parlent du «droit dogmatique ».1 La dogmatique serait le point de vue du droit, ce qui - au vu des difficultes d'une definition de la juridicite - ne veut pas dire grand-chose. L'utilisation de ce concept n'est cependant pas propre aux sociologues du droit; les th60riciens ou philosophes juristes annoncent aussi, avec cette notion, une distanciation 2 al'egard de l'objet droit, eloignement qu'ils considerent volontiers comme la condition d'une approche scientifique. Les choses se compliquent si l'on observe que le sens decrit n'est pas contemporain de ces nouvelles approches. 3 Nous observons que les juristes utilisent depuis longtemps l'expression pour leurs propres besoins dans un sens technique et non pejoratif. Notre projet est de definir le sens qu'ils doivent donner a ce concept. 1 Ainsi, Jean Carbonnier parle-t-i1, dans sa Sociologie juridique, de la «difference entre la sociologie et le droit dogmatique», cf. Paris 1978, p. 21. 2 Ainsi, selon Jacques Lenoble et Franfois Ost «... il est parfaitement possible de rencontrer des ouvrages de science juridique meIant, en proportions variees, une tendance dogmatique a une tendance critique», in: Droit, Mythe et Raison, Publications des Facultes Universitaires Saint-Louis, Bruxelles 1980, p. 161. 3 Ainsi et par exemple, une these de droit de Geneve, de 1920 contient deux parties, l'une dite« historique», l'autre «dogmatique», cf. Joseph Stawski, Le principe de majorite, these, Geneve 1920; G. Kalinowski, Querelle de la science normative, Paris 1969, p. 1, note 1, rapporte ceci: «A en croire M. Kozlowski, le nom de dogmatiquejuridique apparait pour la premiere fois dans le titre de la revue, creee en 1857 par Ihering, Jahrbücher für Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Rechts ... Il se justifie par le fait que les normes juridiques sont traitees dans la science portant ce nom a l'instar des dogmes du christianisme etudies par sa theologie (theologie dogmatique).»

4 Festgabe rur Alois Troller

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Jean-Fran~ois

Perrin

11. Qu'est-ce qu'un «dogme»? L'approche philologique et historique nous pennet d'avancer considerablement. Toutes les sources dassiques, notamment les auteurs th6ologiens qui ont suivi l'evolution et les mutations du sens de ce mot a partir de l'ancien et du nouveau Testament grec, signale nt que «dogma» signifiait d'abord un decret, une decision politique d'un souverain ou d'une assemblee. Ainsi c'est en vertu d 'un «dogma», c' est-a -dire d 'une loi des Medes et des Perses q ue Daniel est jete a la fosse aux lions. Un decret de Cesar Auguste, de meme que les ordonnances de la loi so nt des dogmes. 4 On est deja tn:s pres d'un sens premier que les juristes peuvent utiliser et qui consiste a considerer que le dogme est tout simplement ce qui doit etre, categoriquement, inconditionnellement. Cette definition a composante philologique et historique est necessaire mais non suffisante po ur nos besoins car on ne voit pas ce qui distingue le dogme de la nonne. Les sources th6ologiques apportent a nouveau la reponse. 11 semble que des l'antiquite une deuxieme signification du mot intervient qui implique une materialisation ou une consolidation de la premiere idee. Le dogme devient alors ce qui doit etre inconditionnellement tenu pour vrai. Des le He siede le concept commence a entretenir sa relation tumultueuse avec la notion de «verite». 11 serait, selon certains pairs de l'Eglise et tout particulierement se10n l'usage de l'Eglise grecque, synonyme de «verites chretiennes».5 Des le XVIe siede l'Eglise catholique utilise systematiquement cette signification. L'expose de ces «verites» constitue «la» dogmatique. «. . . le dogme, c'est une verite de la reveIation definie par l'Eglise, et la dogmatique, c'est la systematisation et le commentaire de ces dogmes».6 A partir de cette acception un intense debat oppose les th6ologies catholique et protestante. Le probleme a trait a l'infaillibilite pontificale. 11 faut savoir si, par le dogme, c'est l'Eglise ou Dieu qui parle. Karl Barth definit sa position dans les tennes suivants: «Dans les dogmes, c'est l'Eglise du passe qui parle; elle est veritable, elle a une autorite, elle ne parle pas sine Deo, mais c'est l'Eglise qui parle: elle definit, c'est-a-dire qu'elle enfenne dans les dogmes, la verite reveIee, la Parole de Dieu. Et par la meme, cette Parole de Dieu devient parole humaine, certes hautement importante, mais parole humaine. La Parole de Dieu est au-dessus du dogme comme le cie1 est au-dessus de la terre.» 7 On peut transposer sans aucune difficulte cette problematique sur le terrainjuridique et etablir un parallelisme tres pertinent. Quel est le« foyer» de la verite juridique, c'est-a-dire l'instance pourvoyeuse de sens veritable? Est-ce que, par le dogme, c'est le Legislateur lui-meme qui parle ou n'est-ce pas plutöt «l'Eglise», c'est-a-dire l'Auditoire des juristes qui recherche, reconstitue ou reconstruit la Parole? En d'autres tennes le sens veritable, l'esprit de la loi, existe4 Cf. Ie point de ces recherches in Karl Barth, Dogmatique, Tome premier, Geneve 1953, p.254. 5 Idem. 6 Idem. 7 Idem, p. 255.

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t-il apriori cornme donnee ou n'est-il pas plutöt reconstruction aposteriori? La volonte du Legislateur serait alors - soit elle-meme le dogme, comme le ciel est au-dessus de la terre, - soit parole de juriste, construction d'une volonte raisonnable. Ce parallelisme nous conduit directement au nreud gordien de la problematique. La question qui se pose de savoir si, par definition, le dogme est ou n'est pas «discutable», cornme dit K. Barth. 11 s'agit ici d'une question de definition et non pas d'un debat de fond. Le mot «dogme» doit-il etre reserve a une verite fixee, acquise, ou peut-il, au contraire, etre relativise, pluralise? En d'autres termes plus simples, doit-on admettre une verite dogmatique et une seule par questionjuridique ou, au contraire, peut-on admettre qu'il en existe a priori plusieurs? Faut-il, en droit, reserver au mot «dogme» le sens d'une proposition indiscutable, prise pour vraie apriori ou, au contraire, ce vocable peut-il couvrir des stades provisoires, des «moments» de l'operation de determination du sens? Le juriste a-t-ille droit de faire evoluer la dogmatique ou est-elle, pour lui, l'equivalent de la verite revelee? Karl Barth repond resolument dans les termes suivants pour ce qui concerne la dogmatique theologique: « ... il faut ... mentionner que, d'apres la doctrine catholique romaine elle-meme, tous les dogmes ne sont pas encore connus, c'est-a-dire definis par l'Eglise, qu'il y a au contraire un progres dogmatique independarnment de l'autonomie substantielle de la verite reveIee ... et que seulle «contenu» (sensus) des dogmes et non leur forme, est donne cornme une verite irnmuable et infaillible ... Cette explication pourrait impliquer l'aveu de l'humanite des dogmes ... ».8 L'auteur reconnait l'existence necessaire d'une distinction - si pertinente pour le juriste - entre contenu et forme du dogme. 11 reconnait que le contenu, independamment de la forme, est donne cornme une verite irnmuable et infaillible. Des lors, le dogme lui-meme n'est pas discutable mais bien son contenu et l'on sort ainsi de la difficulte decrite. On ne peut pas affirmer prealablement que le dogme se definit cornme etant le «devoir etre» inconditionnel et dire ensuite que ce qui remplit cette categorie est fondamentalement «discutable». Que faire des lors? OU lire la Parole de Dieu, ou lire l'Esprit de la loi? Dieu, pas plus que le Legislateur, ne parle directement aux hommes; ... atout le moins doit-on avouer qu'un probleme d'intelligibilite, d'acces, se pose. Comment peut-on proceder alors que l'on doit admettre non seulement l'infaillibilite de la Parole mais encore l'imperfection de sa connaissabilite? Les epistemologues-juristes contemporains ont, a notre avis, pu resoudre cette difficulte sur le terrain de la science du droit, des qu'ils surent envisager la fonction d'un mythe, en l'occurrence celui de l'existence d'un legislateur necessairement rationnel, bon et omniscient. 9 On postule que le Legislateur a pose un sens univoque et necessairement satisfaisant. Ce mythe tient lieu de foyer de sens et legitime la recherche. On doit, en tant que Idem. Cf. concernant toute la litterature sur cette question, Fran{ois Ost, L'interpretation logique et systematique et le postulat de rationalite du legislateur, in: Michel van de Kerchove (sous la direction de), L'interpretation en droit, Approches pluridisciplinaires, Publications des Facultes Universitaires Saint-Louis, Bruxelles 1978, p. 79-184. 8

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juriste praticien, faire comme s'il y avait, po ur chaque question de droit, une solution qui correspond au sens d'une proposition, sens susceptible d'etre «decouvert».l0 Cette proposition imaginaire doit etre tenue po ur reelle et c'est elle qui peut etre appelee, dans notre vocabulaire, «dogme». Le concept est utile independamment de la question de savoir s'il est vrai qu'en pratique des propositions de droit se donnent aux juristes comme suffisamment claires pour constituer les principes de solution des cas. Nous voulons dire que la dogmatique juridique, a l'instar, probablement, de la dogmatique ecclesiastique, agit au moyen d'un postulat qui est celui de l'existence apriori d'une verite dont l'existence doit etre admise independamment de la possibilite de sa decouverte reelle. Des lors le dogme n'est pas, par definition, «discutable». Si le dogme definit «ce qui doit etre inconditionnellement tenu pour vrai », il ne faut pas admettre ensuite que par nature il est susceptible d'etre mis en question. Les juristes doivent et peuvent faire comme si un sens «veritable» residait quelque part. Ce sens, c'est le dogme. On postule l'existence d'une verite qui est «de droit» et qui, dans un systeme de legalite, s'identifie a la volonte du legislateur. Les juristes doivent partir de l'idee que la loi constitue le foyer de sens incontestable en application duquel ils peuvent donner une solution aux questions qui leur sont soumises ... Qu'en est-il, en realite? Ce foyer n'est-il que mythique? Souvent la verite dogmatique, le sens univoque, a le caractere d'une donnee immediate. La vitesse est incontestablement limitee a 120 km/h sur les autoroutes ... Plus souvent, beaucoup plus souvent, le contenu n'est pas evident et implique un travail de «construction» de sens, ainsi, par exemple, s'il s'agit de repondre a la question de savoir si, oui ou non, le divorce par consentement mutuel existe d'ores et deja en droit suisse. Notre propos n'est pas de mesurer ou de quantifier la frequence de l'une ou de l'autre des situations, bien que la question ne manque pas d'interet. Les auteurs qui se sont interesses au raisonnement juridique ont, a notre avis, le plus souvent peche par generalisation. 11 serait interessant de tenter un bilan raisonne qui partirait de materiaux judiciaires et non pas de constructions purement speculatives. Nous ne pouvons cependant pas traiter ce sujet dans le cadre limite de la presente contribution et nous nous contenterons de constater que, si le droit est defini par reference a la categorie du «devoir etre», le raisonnementjuridique est toujours et necessairement «dogmatique». Le droit doit fonctionner comme s'il etait un champ de connaissances au sein duquel il faut des premisses inconditionnelles et postulees telles, qui s'imposent au decideur; elles sont, meme avant d'etre etablies, sa verite, la «verite» du droit ou «dogmatique juridique». Cette affirmation ne nous interdirait pas de proceder, sur une autre gamme, dans une autre 10 F. Geny avait dejä admirablement cultive ce mythe puisque toute sa« libre recherche scientifique» est fondee sur le postulat de la possibilite d'une «decouverte» du droit necessaire pour la solution satisfaisante de chaque cas, ... meme si la loi ne dit rien (lacunes) ... meme si elle dit le contraire de ce qui parait socialement necessaire. (Voir ses propos sur la coutume contra legern). cf. Methode d'interpretation et sources en droit prive positif, Essai critique, Paris 1954, p. 390-409.

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perspective, aune analyse critique de la «veracite» de ce postulat. L'approche ne serait plus «dogmatique», mais «scientifique» (ou critique). Le resultat constituerait une «verite» sur le dogme ... et non pas un nouveau dogme. Les deux perspectives sont interessantes. Elles pourraient et devraient etre menees plus souvent en parallele. Nous nous interessons plus particulierement, dans la presente etude, a la premiere piste dessinee, qui est la plus proche des preoccupations de la theorie generale du droit teIle qu'elle est encore communement entendue al'epoque contemporaine. Nous partons de l'idee, acquise grace aux developpements ci-dessus, que les juristes d'un systeme legaliste doivent considerer qu'il existe, aleur disposition, un «sens veritable». L 'identification de ce sens procede, selon notre point de vue, de ce qu'il est convenu d'appeler un raisonnement « dogmatique ». La somme de l'activite des juristes qui tend a l'identification de tous ces sens constitue ce que nous appelons «la dogmatique juridique».

111. Comment accede-t-on

a la «veritb dogmatique?

A partir de ces definitions, il ne se pose plus qu'une seule question au vu de la perspective que nous avons choisie: quels sont les cheminements intellectuels qui doivent etre empruntes pour la quete de ce sens souvent qualifie de «veritable» par la jurisprudence? Nous savons qu'il n'est, le plus frequemment, exprime parfaitement nulle part ... il est de 1'ordre de l'ideal, a l'horizon d'un long chemin, celui d'une recherche qui serait irreprochable, qui n'aurait rien ornis, ni le fait, ni sa qualification, ni l'anticipation du resultat concret, ni, exigence supreme, le caractere juste des solutions qu'il determine. Rousseau, qui n'est pourtant pas suspect de clericalisme, admet que Dieu seul est source d'une telle justice. l l Seul Dieu serait donc parfait dogmaticien. 11 n'empeche que l' on peut cheminer un bout dans cette direction. 11 existe des passages necessaires, de bons plans, de bons guides et c'est un metier (exigeant abien des egards!) que de suivre cette voie ... de tenir des raisonnements qui sont susceptibles d'etre qualifies de «dogmatiquement» corrects. 11 existe une procedure pour acceder a la verite du droit ou - pour nous cette expression est synonyme - po ur resoudre une question dogmatique. Comment decrire, en termes generaux, la demarche? La solution «dogmatique» d'une question de droit peut etre definie, en regime legaliste, comme l'interpretation pertinente de la loi, c'est-a-dire comme l'identification de son « sens veritable ».12 Ce sens n'est probablement pas reperable in abstracto, sans reference aux circonstances d'un cas d'application. 11 n'empeche que la repetition des operations de mise en reuvre, ou l'etude hypothetique des 11 «Toute justice vient de Dieu, lui seul en est la source; mais si nous savions la recevoir de si haut, nous n'aurions besoin ni de gouvernement ni de lois», Jean Jacques Rousseau, Du contrat social, Livre II, chapitre VI. 12 Le parallele avec la demarche theologique pourrait etre poursuivi. K. Barth definit aussi le dogme par reference ä l'idee de concordance avec un sens veritable qui est le fruit d'une interpretation pertinente (cf. Barth [note 4], p. 256).

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possibilites d'execution, pennettent aux auteurs de la doctrine de proceder, par induction, cl la« decouverte» de ce qu'ils considerent comme« la» solution d'une difficulte, abstraitement definie. On doit admettre que le mot «dogmatique» peut etre legitimement utilise pour qualifier ce travail effectue in abstracto, cl tout le moins lorsqu'il identifie les solutions dites «consacrees». IV. La «verite» du droit depend-eUe de la notion de justice? L'association necessaire de la categorie« verite juridique» cl la «loi» choquera evidemment une bonne partie des tenants des theories «jus-naturalistes» c1assiques ... A moins que, grace cl une comprehension tres extensive du concept d'interpretation, l'on en vienne cl considerer que les juristes sont legitimes ou habilites cl contröler non seulement la validite des nonnes (entendue ici comme la simple appartenance cl l'ordre juridique positif et generalement efficace) mais encore cl la «justice» (perspective Jus-naturaliste) des contenus legaux. Les tenants de ce dernier courant de pensee peuvent avoir raison sans que notre definition soit mise en pieces. L'interpretation «pertinente» est aussi, dans leur perspective, celle qui permet d'acceder au «vrai» dogme. La seule difference reside dans le statut de la loi - foyer de sens categorique selon le positivisme hypothetique (il ne s'impose que s'il est juste), seulement, selon la version jusnaturaliste. Dans les deux cas c'est l'interpretation qui determine la «vraie» solution. La difference ne reside que dans le critere de verite que peut manier l'interprete. Est-il, oui ou non, habilite cl mobiliser le juste contre le legal, completement, partiellement, dans des cas exceptionnels, etc.? Chaque systeme de droit contient des regles qui definissent le pouvoir de l'interprete cl cet egard. Ces regles - que nous allons exposer pour le systeme suisse - definissent avec precision les criteres de la verite dogmatique, tels qu'ils «doivent etre;;. V. Quels sont les criteres de la «verite» juridique, en droit suisse? 11 convient donc, dans le droit fil de ces developpements, de se fixer pour objectif l'etude des directives qui sont donnees au sujet de la maniere pertinente d'interpreter les lois. S'il etait possible de forger une theorie de l'interpretation absolument convaincante, celle-ci apporterait infailliblement la reponse cl toutes les questions de dogmatique et les parfaits juristes identifieraient «la dogma tique», c'est-cl-dire l'ensemble des solutions qui s'imposent sous le couvert du droit. S'il etait possible de dire comment il faut effectuer, en toute circonstance, une interpretation correcte, il serait par la meme facile de detenniner, d'une maniere univoque, la solution de toutes les questions. C'est ce reve qui anime la scene du droit ... plus precisement celle de la production des discours juridiques. Loin de nous l'ambition de seulement tenter la gageure qui consiste cl restituer ici l'ensemble des directives qui existent cl cet egard. Le travail serait d'ailleurs inutile car l'observation eIementaire revele l'absence d'unite de doctrine concernant la «bonne» maniere d'interpreter la loi. Ces theories fonctionnent

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gräce a un flou artistique assez etonnant. 11 ne peut pas en etre autrement puisque, comme nous l'avons demontre ci-dessus, la «verite» du droit est souvent un mythe, plus exactement une fiction logiquement necessaire. D'ailleurs, s'il existait une theorie de l'interpretation qui puisse fonctionner a l'instar d'un modele mathematique, le raisonnement juridique serait infaillible. Tel n'est pas le cas, tout le monde le sait. La dogmatique juridique n'est pas une science au sens ordinaire. 11 n'y a donc pas de theorie de l'interpretation qui puisse fonctionner de maniere infaillible et - fait beaucoup plus grave - il n'y a pas de theorie de l'interpretation qui fasse l'objet d'une adhesion sans reserve. C'est dire en d'autres mots que la verite dogmatique, qui serait le produit de cette theorie, est un objectif difficilement accessible. Rien n'est pourtant simple a cet egard. 11 n'est pas vrai non plus que la production dogmatique doit etre consideree comme totalement imprevisible ou aleatoire. Le jeu conjugue et subtil des sources du droit engendre, dans un systeme legaliste, une certaine coherence et les bons juristes peuvent souvent en utilisant leurs intuitions et leurs connaissances prevoir avec de bonnes chances de succes, dans le cours ordinaire des choses, l'issue d'un litige qui implique, a titre cardinal, la solution d'une question dogmatique. Certaines juridictions ont adopte une definition precise de la procedure qui doit etre mise en a:uvre pour decouvrir le veritable sens de la loi, c'est-a-dire la solution dogmatiquement exacte. Nous sommes d'avis qu'annee apres anneese faisant l'echo d'une doctrine d'une qualite et d'un niveau exceptionnels en Europe -le Tribunal federal suisse a mis au point une formule qui condense au maximum cette theorie de l'interpretation et qui a le plus grand interet. 13 Ces prises de position jurisprudentielles sur la problematique de l'interpretation constituent, a notre avis, le meilleur lieu d'etude pour la production d'une reponse a la question qui est posee par le titre de la presente contribution. On peut se baser sur l'exemple que constitue le dernier etat de la formule adoptee par le Tribunal federal. 14 On y trouve d'abord l'expression de la regle ordinaire: en vertu de la theorie du sens clair, l'interprete est lie par la signification qui decoule du texte. On pose donc la presomption qu'il existe un sens du texte. On affirme qu'il est, dans le cours ordinaire des choses, possible d'identifier ce sens sans autre secours. Des lors, dans la regle, ce qui est de droit, ce qui constitue la Cf. l'etude que nous avons consacree a ce probleme in S. J. 1983, p. 609. «La loi s'interprete en premier lieu selon sa leUre. Toutefois, si le texte n'en est pas absolument clair, Si plusieurs interpretations de celui-ci sont possibles, il y a lieu de rechercher quelle est la veritable portee de la norme, en la degageant de tous les elements a considerer, soit notamment du but de la regle, de son esprit ainsi que des valeurs sur lesquelles elle repose. Le sens qu'elle prend dans son contexte est egalement important. En outre, si plusieurs interpretations sont admissibles, il faut choisir celle qui est conforme ala Constitution: en effet, si le Tribunal federal ne peut examiner la constitutionnalite des lois federales (art. 113 al. 3 Cst.), on presume que le legislateur ne propose pas de solutions contraires ala Constitution, amoins que le contraire ne resulte clairement de la leUre ou de l'esprit de laloi (voir par exemple ATF 105 Ib 53 consid. 3a etles arretscites).» ATF 107 V, p.214. 13

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reponse dogmatiquement exacte, c'est le sens qui decoule du texte de la loi. Cette affirmation apporte la reponse ordinaire. Tout ce qui suit, dans la formule, n'est que l'expression des exceptions - problematique elaboree avec un tel soin d'etre complet que l'on peut se demander si, aux yeux du Tribunal federal, l'expression des exceptions ne merite pas plus de consideration que celle de la regle. En tout etat de cause on constate, a la lecture attentive de ces directives, a quel point le postulat de l'existence d'un foyer de sens univoque est effectivement l'idee maitresse. La «veritable portee de la norme», le veritable sens, sont les presupposes necessaires au fonctionnement de tout le systeme. Poussant plus loin encore la fiction de l'univocite du dogme, le Tnbunal federal est alle jusqu'a affirmer que, meme lorsqu'il met en oeuvre des notions juridiques indetenninees, le juge cherche et, s'il travaille conformement aux canons prescrits, trouve non pas une mais la solution, un sens qui est presuppose unique. Les questions dogmatiques n 'ont, po ur chaque cas, qu'une et une seule reponse. 15 Cette eXlgence est rigoureusement conforme a la logique de l'Etat de droit. Dans un tel systeme, le juge est toujours un fidele servant de la norme. Il doit toujours identifier celleci avant de l'appliquer. C'est l'interpretation pertmente qui permet d'arreter les contours exacts de la norme qui convient a la solution du cas ou de la difficulte. La formule affirme implicitement que ce travail d'identification est possible sans exception. 16 Il y a donc toujours une et une seule reponse dogmatiquement correcte et il y a toujours une bonne maniere de l'identifier. Enfin le foyer de sens univoque (et mythique) est particulierement bien revele par l'etude de la formule d'interpretation contra legem. l ? Grace a celle- ci on peut justifier la mise a l'ecart du resultat de l'interpretation litterale au nom du «sens veritable de la norme», sens qui n'est, par definition ici, ecrit nulle part l8 et qui a presque expressement l'allure d'un foyer imaginaire de sens.

15 Il s'exprime dans les termes SUlvants: « Rechercher le sens d'un concept juridique dlt imprecis (sogenannter unbestimmter Rechtsbegriff) ce n'est pas, sei on l'opimon dominante, poser un acte d'apprecIation mais resoudre une question de drOlt (... ) Il est vral que de tels concepts doivent etre precises dans chaque cas partIculier et appliques a l'etat de falt concret. Mais ils ne laIssent pas de choix entre deux ou plusleurs solutIOns d'egale valeur C'est toujours une seule Interpretation qUI est juste et c'est a l'autorite qui doit appliquer une disposition legale qu'i! appartlent de trouver cette interpretatIOn.» ATF 95 I, p. 33 = JT 1970, p. 363 ss. 16 La necessite de cette possibilite decoule d'ailleurs de l'effet conjugue de deux princlpes generaux de droit; Jura novlt cuna d'une part et l'interdlctIOn du dem de justice d'autre part. Si le juge doit trancher, c'est-a-dire apporter une solutIOn et s'il connait le droit. . il ne peut pas ne pas savoir «decouvnr» la solutIOn. 17 «. selon la jurisprudence, l'autonte chargee d'appliquer la loi ne peut s'ecarter du texte de celle-cI, qui la lie (art. 113 al. 3 Cst.) que s'i! existe des ralsons serieuses de penser que la regle exprimee ne correspond pas au veritable sens de la norme ... » ATF 105 I, p. 62. 18 « ... et en tout cas pas necessalrement dans les travaux preparatOlres puisque ceUX-Cl, selon le TF, ont une Importance qUl, sans etre negligeable, n'est pas determinante.» ATF 88 II, p. 477 = JT 1962, p. 266 ainsl que ATF 100 II, p. 52.

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VI. « Verite» du droit ou verite sur le droit? C'est ainsi que le systeme decrit les modalites de son propre fonctionnement. Une fois encore ce qui se passe en contrebas n'est pas pertinent du point de vue de l'approche que nous avons adoptee ici, selon laquelle il convient de decrire «ce que doit etre la dogmatique» et non pas ce qu'elle est. A cet egard encorepour ce qui a trait a1'0bjection qui viendra manifestement al'esprit du lecteur «realiste» - il faut s'exprimer au sujet du probleme de l'existence evidente et necessaire d'une tension continuelle entre ce systeme theorique et le resultat de sa mise en auvre (entre le droit tel qu'il devrait etre et celui qui est concretement). Les juristes ne peuvent pas ne pas voir qu'en realite un pluralisme dogmatique avere, voire avoue, existe. Le Tribunal federal ne laisse-t-il pas lui-meme de tres nombreuses questions dogmatiques «ouvertes»? Il existe des difficultes de toute premiere importance qui ne comportent, meme dans la jurisprudence qui s'exprime c1airement a leur sujet, aucune reponse univoque ou suffisamment certaine. Par exemple: le juge suisse peut-il, en application de l'artic1e ler al. 2 ces, combler ce que la doctrine appelle une lacune par insuffisance?19 La coutume contra legern existe-t-elle en droit suisse?20 L'accord des parties au sujet du caractere irremediable de la rupture de l'union conjugale constitue-t-il en soi, en droit suisse actuel, une raison suffisante pour prononcer le divorce en application de l'art. 142 al. I CCS?21 Le catalogue, meme confine aux questions qui sont de toute premiere importance, pourrait etre poursuivi longtemps. Tant que ces questions ne sont pas c1airement tranchees, chaque juriste est legitime a produire toutes les raisons qui l'incitent a penser que le dogme, si 1'0n prefere, le «veritable» sens de la loi, correspond ala representation qu'il s'en fait. On sait que meme face a une jurisprudence constante et bien etablie, on est autorise, dans un systeme legaliste, en vertu du principe «res judicata inter partes tantum jus fecit», a tenter de demontrer que les juges, auteurs du precedent, se sont fourvoyes dans leur travail d'identification du sens de la norme ou que leur examen doit etre completement repris au vu du changement des circonstances. 22 Les nouveaux developpements de la jurisprudence contra legern instaurent d'ailleurs une contestation possible sur tout texte puisque 1'0n pourra, chaque fois que l'on se trouvera en presence d'un resultat «deraisonnable», estimer que le 19 Cf. ä cet egard la grande perplexite de M. Cl. Dupasquier qui cherchait une reponse dans les arrets du TF, in: Les lacunes de la loi et la jurisprudence du Tribunal federal suisse sur I'art 1 CCS, Bäle 1951, p. 19,20. 20 Nous eprouvons la meme perplexite ä la lecture de I'arret JT 1969, p. 301 ss. II ne serait pas arbitraire que le droit cantonal admette I'existence de cette institution. Mais existe-t-elle sur le plan du droit f€:deral? 21 Pour quel(s) motif(s) le TF ne verifie-t-il plus (ou n'a-t-il plus I'occasion de verifier) si, malgre I'existence d'une rupture objectivement realisee, attestee par I'accord des parties ä son sujet, on peut raisonnablement exiger des epoux la continuation de la vie commune? (cf. JT 1947, p. 10). Quel est le sens actuel de la norme? La «dogmatique» de la question, aujourd'hui? 22 « ... il n'est pas excIu que le sens d'une norme puisse changer» (ATF 105 Ib, p. 60, avec renvoi ä 94 II 71; 97 I 410).

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Iegislateur ne peut l'avoir voulu. 23 Le systeme postule done l'existenee de l'univoeite tout en autorisant une diseussion sans limite. Et e'est ainsi que sous ses dehors de rigidite, de fixite, le systeme integre et digere le ehangement d'une maniere qui est parfois deeoneertante. Mais qu'est-ee que, des lors, la dogmatique? La solution rigide, eelle qui deeoule de la loi? eelle a laquelle on aspire et que 1'0n veut tenter de promouvoir au moyen des meilleurs arguments? A dire vrai ni l'une ni l'autre apriori. La formule du Tribunal federal deerit merveille ou syntMtise plutöt ce proeessus d' « identification» des contenus normatifs a la fois ni eompletement rigide ni eompletement soupIe qui constitue la theorie de ['interpretation. La solution qui s'impose sous le couvert de la dogmatique juridique est donc celle qui a le plus de chance d'etre justifiee par une interpretation pertinente. Doit etre dite teIle celle qui, par la mise en ceuvre de la formule decrite, identifie «le sens veritable» de la regle de droit.

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23 « .... I'interpretation d'une norme conformement ä la leUre de son texte n'echappe pas ä toute censure quand elle conduit ä des resultats que le legislateur n'a pas pu avoir voulus et qui heurtent le sentiment de la justice de meme que le principe de l'egalite de traitement» (trad. de ATF 103 Ia 225 cons. 3c par SJ 1985 p. 363).

Erkenntnis und Konstituierung der Rechtswirklichkeit Von Valentin Petev, Münster

I. Erkenntnisfäbigkeit und Erkenntnisgewißbeit im sozialen Handeln Die Hauptcharakteristik der menschlichen Person, ein in der Gemeinschaft handelndes Wesen zu sein, gibt der Fragestellung nach der Erkennbarkeit der sozialen Welt und, das heißt zugleich, nach der Erkenntnisfähigkeit des Subjekts eine neue Dimension. Die cartesianische Erkenntnisskepsis und die Fragen, die die Philosophie danach über die Bedingungen der Möglichkeit und die Modalitäten der Erkenntnis aufgeworfen hat, müssen im Kontext sozialer Interaktion auf andere Weise formuliert werden. Wenn man davon ausgeht, daß der Mensch, dessen Existenz unabdingbar mit der anderer Individuen verbunden ist, seine soziale Natur verwirklicht, indem er handelt, ist diese Angewiesenheit auf das Handeln der anderen Individuen eine notwendige Bedingung der Konstituierung und Entäußerung der eigenen Person im Rahmen der Gesellschaft. Angewiesen auf die anderen zu sein, bedeutet im Handlungskontext, daß das handelnde Subjekt seine Zwecke nur im Zusammenhang der Zweckverfolgung anderer handelnder Subjekte verwirklichen kann. Für die Zweckverfolgung und Zweckrealisierung ist es erforderlich, daß die Handelnden ihre aufeinander bezogenen Aktionen in einem Prozeß reflektierter gesellschaftlicher Kommunikation deuten und verstehen können. Diese für die Handlungsorientierung notwendige Erkenntnis der sozialen Umwelt setzt eine entsprechende Erkenntnisfähigkeit beim handelnden Subjekt voraus. So kann man hier nicht sinnvollerweise die Fähigkeit des Subjekts, die soziale Realität, die ihm objektiv gegenübersteht, zu erkennen, in Frage stellen, ohne es zu einem blinden Aktionisten, der den Sinn des eigenen und des fremden Tuns permanent mißversteht, zu degradieren. Wenn das Individuum die soziale Realität erkennen kann, um seine Zwecke durch bewußtes Handeln zu realisieren, trägt es zugleich das Bewußtsein von seiner Handlungs- und Erkenntnisfähigkeit; es ist sicher, daß es erkennt, und das heißt, daß es richtig erkennen kann. Die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts setzt aber Erkennbarkeit der objektiven Realität voraus. Die Annahme, nur das subjektive Erlebnis, die subjektive Realität stünde außer Zweifel! , die Existenz 1 Für E. Husserl (Die Idee der Phänomenologie, Husserliana, hrsg. v. W. Biemel, Bd. 11, 2. Autl Den Haag 1958, S. 30) scheint dies festzustehen. Er schreibt: "Wie immer ich wahrnehme, vorstelle, urteile, schließe, wie immer es dabei mit der Sicherheit oder

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einer objektiven Wirklichkeit und ihre Erkennbarkeit aber seien fraglich, ist in handlungstheoretischer Perspektive unhaltbar. Denn man kann nicht sinnvoll behaupten, daß das Individuum bewußt handelt und fähig ist, die dafür erforderlichen Erkenntnisse bezüglich der natürlichen und der sozialen Realität zu erlangen, daß sie jedoch womöglich nicht erkennbar sind.

11. Die komplexe soziale und rechtliche Wirklichkeit 1. Die natürliche und soziale Welt, in der der Einzelne lebt und in der er sich fortwährend orientieren muß, ist äußerst komplex. Sie weist Strukturen auf, die nicht leicht durchschaubar sind. Die Komplexität der natürlichen Welt erschließt sich nicht der elementaren Beobachtung im täglichen Leben. Nur Naturforscher vermögen auf ihrem Gebiet Erkenntnisse über Strukturen und Prozesse dieser Realität zu erlangen. Für die anderen Individuen bleibt sie ein Rätsel, soweit sie sich überhaupt Fragen über ihre Beschaffenheit stellen; zumeist nehmen sie sie in ihrer Komplexität nicht einmal wahr. Und dennoch reichen die Erkenntnisse, die durch die Alltagserfahrung und ohne detaillierte Informationen über die Zusammenhänge in der Natur gewonnen werden, für das praktische, alltägliche Handeln, auch wenn dies simplifizierte Vorstellungen und Bilder sind, weitgehend aus. Die elementaren Wirkungen der Grundgesetze der Natur, die von unmittelbarer praktischer Bedeutung sind, erschließen sich dem Menschen in seiner frühesten Lebenserfahrung. In der sozialen Realität bedarf es demgegenüber der ständigen Orientierung, der Erlangung immer neuer Erkenntnisse. Danach richten die Einzelnen und die sozialen Gruppen ihr Handeln, das zugleich die bereits konstituierte soziale Realität berücksichtigt und fortwährend neu konstituiert. Die soziale Wirklichkeit entbehrt stabiler, objektiv wirkender Gesetzmäßigkeiten, die in präzisen Formeln ausdrückbar sind. Die in der sozialen Realität wirkenden Entwicklungstrends, die oft ungenau als Gesetze der sozialen Entwicklung bezeichnet werden, sind nicht von der Qualität der Naturgesetze mit ihrer präzisen, keine Ausnahmen duldenden Wirkungsweise. Die sozialen Entwicklungstrends wirken nur mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit, sind sehr komplex 2 und lassen sich kaum in mathematischen Größen ausdrücken. Dies hängt wahrscheinlich mit dem bewußten Handeln, mit der wechselnden Unsicherheit, der Gegenständlichkeit oder Gegenstandslosigkeit dieser Akte sich verhalten mag, im Hinblick auf das Wahrnehmen ist es absolut klar und gewiß, daß ich das und das wahrnehme, im Hinblick auf das Urteil, daß ich das und das urteile usw." 2 Siehe allgemein dazu R. Brown, The Nature of Social Laws, Cambridge 1984, S.260ff., der auf den Aspekt hinweist, daß "soziale Gesetze" auch Faktoren der natürlichen Umwelt berücksichtigen müssen, was sie noch komplexer und noch weniger handhabbar macht.

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Zweckverfolgung durch die Einzelnen und mit der subjektiven Beurteilung der Bedingungen, unter denen Zwecke realisiert werden, zusammen. So werden immer neue Handlungskonstellationen geschaffen, die konstante Gesetzmäßigkeiten nicht entstehen lassen und eine Trendbestimmung schwierig machen. Die soziale Wirklichkeit, die aus dem Geflecht sozialer Beziehungen zwischen Individuen und relevanten sozialen Gruppen besteht, existiert, so gesehen, nicht unabhängig vom Bewußtsein und vom bewußten Handeln der Mitglieder der Gesellschaft insgesamt genommen. Sie ist also nicht in dem Sinne objektiv wie die Natur, die es in ihrer konstanten Beschaffenheit auch unabhängig vom Bewußtsein und vom Einfluß durch das Handeln der Subjekte gibt. In der sozialen Realität wirken daher auch nicht objektive Gesetze, die mit den Naturgesetzen vergleichbar wären. Wenn man von objektiven Gesetzmäßigkeiten oder besser von Entwicklungstrends in der Gesellschaft spricht, so sind damit nur diejenigen übereinstimmenden Handlungen gemeint, die auf gemeinsame Zwecke und Beurteilungen der jeweils handelnden Subjekte abstellen und die für die Zeit ihrer Wirkung Handlungsparameter bilden, die es zu betrachten gilt. 2. Die Beziehungen, die in der Gesellschaft zwischen den Einzelnen und zwischen den relevanten sozialen Gruppen im Interaktionsprozeß entstehen, bilden die soziale Wirklichkeit. Dies sind zwischenmenschliche, gesellschaftliche Beziehungen. Auch wenn Sachen oder andere materielle Werte daran beteiligt sind, sind sie nur Objekte dieser Beziehungen: gesellschaftliche Beziehungen bestehen nur zwischen menschlichen Subjekten und Gruppen und nie zwischen Mensch und Ding, wie dies oft in juristischen und soziologischen Theorien vertreten wird. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist durch Institutionen strukturiert. Dies sind Bereiche sozialer Beziehungen, in denen ein bestimmtes Handlungsmuster durch normative Regelungen und insbesondere durch Rechtsregelungen stabilisiert wird, weil es jeweils in der Gesellschaft als wertvoll angesehen wird. Die soziale Wirklichkeit setzt sich also nicht nur aus Handlungen der Individuen zusammen, sondern ist wesentlich durch Normen geprägt. Dies sind ethische Normen, Normen, die das Verhalten von Angehörigen einer bestimmten Glaubensrichtung bestimmen, Rechtsnormen sowie Gewohnheitsregeln, die in verschiedenen Bereichen sozialen HandeIns befolgt werden. All diese Normensysteme entfalten in bestimmtem Maße gegenseitige Wirkungen und ändern mit der Zeit ihren Gehalt entsprechend der Entwicklung der jeweils in der Gesellschaft geteilten ethischen, politischen, religiösen, kulturellen und anderen Ideen, Überzeugungen, Konzeptionen und Theorien. Die sozialen Institutionen stabilisieren nicht nur Verhaltensweisen, die bereits in der Gesellschaft geübt werden, indem sie die Normen liefern, nach denen diese Handlungen geordnet ablaufen sollen, sondern initiieren auch jeweils als wertvoll angesehene Verhaltensweisen. So wird die soziale Wirklichkeit immer wieder aufs neue bewußt konstituiert.

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Zur sozialen Wirklichkeit gehören nicht nur die Handlungen der Einzelnen und die sie regelnden Normen, sondern auch die Ideen selbst, die die Gesellschaft produziert. Soweit diese Ideen von breiten Kreisen der Gesellschaft aufgenommen worden sind und Niederschlag im sozialen Verhalten gefunden haben, bilden sie konstituierende Elemente dieser Wirklichkeit. Jede Gesellschaft hat ihre literarischen und künstlerischen Schöpfungen, produziert wissenschaftliche, ethische und politische Ideen, die in geistigen Werken fixiert sind. Bereits in einem frühen Stadium, in dem diese Ideen noch nicht eine normative Gestalt angenommen haben und noch nicht in soziale Praxis umgesetzt worden sind, und das heißt, solange sie nur von ihren Schöpfern oder auch von einigen wenigen Personen geteilt werden, sind sie für die Deutung der sozialen Wirklichkeit von Belang. Insbesondere das philosophische Denken muß innovative Ideen der Zeit nachvollziehen und soweit wie möglich in praktische Erkenntnis umsetzen. Diese Analyse deutet an, daß Ideen, allgemeine Prinzipien und die von ihnen inspirierten Normen nicht unbedingt aus bereits beobachteten Handlungen, auf dem Wege der Induktion, entstehen 3 , sondern, daß auch umgekehrt, von den Ideen und Prinzipien her Normen formuliert und Handlungen beeinflußt werden. 3. Indem die soziale Wirklichkeit durch Rechtsnormen geprägt wird, entsteht sozusagen eine neue Realität, die Rechtswirklichkeit. In modemen Industriegesellschaften mit ihrer steigenden Komplexität weitet sich die Sphäre rechtlicher Regelungen zunehmend aus. Dieses Phänomen hängt damit zusammen, daß die sozialen Strukturen hier immer komplexer werden und von den Beteiligten an den Interaktionsprozessen nicht ohne weiteres überschaut werden können. In Gesellschaften, die eine Vielfalt von politischen Ideen, ethischen Überzeugungen und anderen WerteinsteIlungen dulden, ja darauf angelegt sind, entstehen naturgemäß keine einheitlichen Leitideen für das soziale Handeln, nach denen sich die Einzelnen in nicht eindeutigen Situationen richten können. Die Pluralität der Einstellungen und die divergierenden individuellen und Gruppeninteressen lassen hier um so deutlicher ein allgemeines Interesse erscheinen, einen Bereich von sozialen Beziehungen oder von Aspekten solcher Beziehungen, die von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind, und über den gerade wegen seiner Bedeutsamkeit allgemein verbindliche Entscheidungen getroffen werden müssen. Dieser Bereich wird von den Normen des Rechts erfaßt, die als einzige die ganze Gesellschaft umfassende verbindliche Verhaltensordnung in komplexen Gesellschaften fungieren. Die Rechtswirklichkeit machen alle vom Recht erfaßten Handlungen aus. Sie präsentiert sich als ein durch Institutionen, wie Verträge, Eigentum, Erbfolge, Ehe, politische Wahlen, Strafvollzug u. a., strukturiertes Gebilde. Die handeln3 Zum Problem der Formulierung allgemeiner Prinzipien auf induktivem Wege, vgl. H. Batiffol, Problemes de base de philosophie du droit, Paris 1979, S. 282fT.

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den Subjekte verfolgen und verwirklichen ihre Zwecke innerhalb und vermittels dieser Institutionen, indem sie sich sowohl nach den einschlägigen - zumeist rechtlichen - Regeln richten, aber auch indem sie sich an der sozialen Praxis, die ihnen in unterschiedlicher Weise zugängig wird, orientieren. So kann man sagen, daß zur Rechtswirklichkeit nicht nur die rechtlich relevanten Handlungen der Individuen, sondern auch die Rechtsnormen selbst gehören4 • Diese Feststellung ist von besonderer Bedeutung, weil die Rechtsnormen unabhängig von der Akzeptanz durch den Normadressaten eine Geltung beanspruchen, sie aber letztlich auf diese Akzeptanz angewiesen sind, um ihre Funktion zu erfüllen. Alle positivistischen Schulen in der Rechtsphilosophie haben bekanntlich ihre Analysen auf die normativ-rechtliche Ordnung konzentriert und - zumal in der extremen Variante eines Rechtsnormativismus - allein im Phänomen der staatlich gesetzten Normen das Recht gesehen und haben es auf diese Weise hypostasiert 5 • Die vom Recht erfaßten sozialen Handlungen werden hier allein unter dem Aspekt des Gegenstandes der rechtlichen Normierung betrachtet. Es ist daher das große Verdienst des Rechtsrealismus 6 , gezeigt zu haben, daß die Handlungen der Normadressaten, d. h. das vom Recht erfaßte soziale Handeln unbedingt in die theoretische Analyse der Rechtswirklichkeit einbezogen werden muß7. Denn die Rechtsnormen sind immer auf soziale Handlungen ausgerichtet, finden darin ihren Sinn, und das Recht insgesamt erfüllt nur dann seine Regelungsfunktion, wenn seine Normen im Handeln der Menschen Verwirklichung finden. Die Rechtsnormen können aber nicht von der Rechtswirklichkeit getrennt gedacht werden, weil in staatlich organisierten Gesellschaften die sozialen Handlungen ab einem bestimmten Grad ihrer gesamtgesellschaftlichen Relevanz durch Normen des Rechts geregelt werden, und die Gesellschaft selbst durch bewußte rechtlich-normative Gestaltung sich fortwährend eine Ordnung gibt. Es ist eine der Grundthesen der Philosophie von Alois Troller, daß Rechtsnormen und soziale Handlungen in erkenntnistheoretischer Sicht nur zusammen gedacht werden können 8 • In seinem Werk hat Troller einen bedeutenden Beitrag 4 O. Weinberger (Logische Analyse als Basis der juristischen Argumentation, in: Metatheorie juristischer Argumentation, hrsg. v. W. Krawietz/R. Alexy, Berlin 1983, S. 170) hebt dies besonders hervor: "Nur weil wir die Realität des Menschen als eines handelnden Wesens und die zwischenmenschlichen Beziehungen als normativ geregelt erleben und das menschliche Verhalten nur als Konsequenzen der Existenz normativer Regulative erfassen können, gelangen wir zur Konstruktion des BegrifTes ,Recht'." 5 Vgl. Batiffol (FN 3), S. 50fT. 6 Man kann hier von der zu engen Haltung mancher seiner Vertreter absehen, die nur in den "sozialen Fakten" (Handlungen der einzelnen und von staatlichen Organen) das "wirkliche" Recht sehen wollten und das normative Moment auf diese Weise vernachlässigt haben, vgl. dazu Batiffol (FN 3), S. 88fT., 100fT. 7 Vgl. W. Krawietz, Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984, S. 39,43 passim. 8 A. Troller (Erkenntnistheoretische Parallele von Widerspiegelungstheorie und Phänomenologie im praktischen Rechtsdenken, in: ARSP, Supplementa vol. I, part 3,1983,

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zur Lösung dieser vielschichtigen Problematik geleistet. Ihm sind diese Zeilen in kollegialer Verehrung und freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet.

111. Der Erkenntnisprozeß der Rechtswirklichkeit 1. Der Erkenntnisprozeß der Rechtswirklichkeit vollzieht sich aus der jeweils verschiedenen Perspektive des Erkenntnisinteresses und der Aufgaben des praktisch tätigen Juristen, des Rechtswissenschaftlers, der Rechtsdogmatik betreibt, und des Rechtstheoretikers.

Der praktische Jurist hat immer eine Antwort auf eine Rechtsfrage zu geben, unabhängig davon, ob er eine Rechtsentscheidung in offizieller Eigenschaft trifft oder nicht. Er muß ermitteln und sagen, was im konkreten Falle das geltende Recht anordnet. Zu diesem Zweck muß er menschliche Handlungen rechtlich qualifizieren, genauer gesagt, sie innerhalb eines geltenden Rechtssystems bewerten. Diese Handlungen vollziehen sich im Rahmen der Aktion praktisch handelnder Menschen, die ihre persönlichen und andere Zwecke verfolgen und sich dabei von Ideen und Überzeugungen leiten lassen. Die Entscheidung juristischer Fragen ist immer erkenntnisgeleitet. Wenn üblicherweise gesagt wird, daß der praktische Jurist die Fakten feststellt und die einschlägige Rechtsnorm anwendet, so bedeutet dies, daß er bestimmte Phänomene der sozialen Realität, die durch menschliche Handlungen wesentlich konstituiert sind, analysiert, deutet und qualifiziert. Die Analyse der faktischen Handlungsabläufe erschöpft sich nie in der "schlichten" Feststellung dieser Handlungen und auch nicht in der Feststellung von Naturereignissen (z. B. ob es zur Zeit der Handlung geregnet hat oder es dunkel war), die die Handlungen begleiten. Die Analyse bezieht sich hauptsächlich auf menschliche Handlungen, die gedeutet und qualifiziert werden müssen, ein Prozeß, der auch nicht mit formallogischen und normlogischen Denkoperationen identisch ist; er wird wesentlich von wertenden Überlegungen rechtlicher, ethischer, politischer und sonstiger Natur begleitet. Die Analyse der rechtlich relevanten Handlungen verläuft immer im Zusammenhang der sie betreffenden Rechtsnormen, deren Interpretation nicht ein bloßes Verstehen von Sprachtexten darstellt, sondern immer im Hinblick auf die von der Norm anvisierten Handlungen, die durch sie strukturiert und qualifiziert werden, vorgenommen wird 9 • S. 53) formuliert hier prägnant: "Gesetze, Urteile, Verträge usw. haben keinen Selbstzweck. Sie sind Verhaltensmodelle für gesellschaftliche Zustände und Handlungen. Diese Zustände und Handlungen geben Gesetzen, Urteilen, Verträgen usw. ihren Sinn. Sie sind die wirklichen Erkenntnisobjekte"; ders., Grundriß einer selbstverständlichen juristischen Methode und Rechtsphilosophie, Basel/Stuttgart 1975, S. 41 f. 9 A. Troller (Rechtsvergleichung und Phänomenologie, in: M. Rotondi, Inchieste di diritto comparato, vol. II, Padua 1973, S. 695) zeigt die Untrennbarkeit von "außenweltlieh vollziehbaren Handlungsabläufen" als "physische virtuelle oder aktuelle Realität" und Rechtsnormen, deren "abstrakten Begriffe ebenfalls als Sprachsymbole für Handlungsgesamtheiten erkannt" werden.

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Der Jurist geht nicht unvoreingenommen an die soziale und rechtliche Wirklichkeit heran; er sieht sie durch das Prisma einer Begrimichkeit, in der rechtliche Begriffe und Konstruktionen dominieren 10. Dennoch ist hier der Erkenntnisvorgang nicht ein völlig andersartiger: Der Erkenntnisprozeß der Rechtswirklichkeit unterliegt allgemeinen Regeln des Erkenntnisgewinns l l ; er verläuft auch im Rahmen bestimmter Annahmen, die in einem mehr oder weniger koherenten Begriffssystem verankert sind; auch der menschliche perzeptive Apparat bleibt immer sich selbst identisch. Das Erkenntnisinteresse im Erkenntnisprozeß der Natur wird vom Bestreben geleitet, die in ihr konstant wirkenden Kräfte für die menschliche Existenz nutzbar zu machen. Dem gegenüber dient das Erkennen der sozialen Realität in ihren durch jeweils wechselnde Ideen, Überzeugungen und Normen geprägten Strukturen als Orientierung für handelnde Subjekte in der Gegenwart. Die soziale und rechtliche Wirklichkeit wird nicht durch die Ermittlung präetablierter kausaler oder sonstiger Relationen und Strukturen erfaßt, wie dies der Fall im Erkenntnisprozeß der Natur ist: sie wird erschlossen durch Analyse, Deutung und Verstehen von sozialen Handlungen 12 im Hinblick auf die sich wandelnden Zwecke der einzelnen und der sozialen Gruppen und auf die Veränderungen, denen die normativen Verhaltensordnungen und insbesondere die Rechtsordnung unterliegen. Der theoretisch arbeitende Jurist, sei er Rechtsdogmatiker oder Rechtstheoretiker, geht mit einer anderen Aufgabenstellung an die Rechtswirklichkeit heran. Er erarbeitet Begriffe, Kategorien und Systeme, durch die die Rechtswirklichkeit eingefangen wird und die konkreten Erkenntnisobjekte innerhalb dieser Wirklichkeit erst analysierbar gemacht werden. Die Begriffs- und Systembildung erfolgt hier in der Regel aus Anlaß beobachteter sozialer Handlungsabläufe und zielt auf die Lösung praktischer gesellschaftlicher Aufgaben ab. Aber auch generell steht nach meinem Verständnis die praktische Dimension des theoretischen juristischen Denkens außer Zweifel. Denn letztlich gipfelt alles theoretische Denken über dem Recht in der Aufgabe, es als allgemeinverbindliche Verhaltensordnung zu verstehen, um es adäquat zu handhaben, und das heißt, seine freiwillige Befolgung zu stimulieren und es aber auch durch autoritative Entscheidungen anzuwenden. So wird das Recht in seiner gegenwärtigen Gestalt realisiert und für die Zukunft konzeptionell weiterentwickelt.

10 In diesem Zusammenhang schreibt Trailer (Grundriß [FN 8] , S. 43): "Der Jurist, der in seinem Bewußtsein ein soziales Sinngebilde geformt hat, vergleicht es mit jenen, die er der Lehre, Dogmen oder Ideologien entnehmen kann." 11 Vgl. Batiffol (FN 3), S. 6; W. H. Balekjian. The Concept of "Fact" in the Physical Sciences and in Law, in: Theory ofLegal Science, hrsg. v. A. Peczenik/L. Lindal/B. van Roermund, Dordrecht 1984, S. 183ff. 12 Vgl. J. Parain-Vial. Philosophie des sciences de la nature, Paris 1983, S. 127, 130ff.

5 Festgabe für Alois Troller

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Der Handlungsbezug des Rechtsdogmatikers ist enger: Er erarbeitet Interpretationsmuster für konkrete geltende Rechtsbestimmungen, die in die juristische Entscheidungspraxis einfließen. Der Rechtstheoretiker agiert demgegenüber in einem weiteren Zusammenhang: Er analysiert das Recht als ein komplexes soziales Phänomen in seinen vielfältigen Bezügen zur Politik, Ethik und Kultur, ohne sich dabei in metaphysischen Spekulationen zu verlieren. Der letzte Erkenntnisgewinn ist allerdings auch hier nicht eine reine Erkenntnis des Rechts - die, wie ich meine, es nicht einmal gibt -, sondern immer eine praktischphilosophische Erkenntnis, weil das Recht außerhalb des Handlungsbezuges von konkret agierenden Menschen nicht existent und nicht denkbar ist. Der praktisch tätige Jurist wie auch der theoretisch denkende und forschende Wissenschaftler sind - trotz der bereits skizzierten Unterschiede in der Struktur ihrer Denkoperationen - nie passive Beobachter der sozialen und rechtlichen Wirklichkeit. Sie sind vielmehr an ihr beteiligt, indem sie an der sozialen Interaktion durch Entscheidungen, Denk- und Sprechhandlungen teilnehmen. Die Individuen, die nicht als Juristen am sozialen Leben teilnehmen, erfassen die Rechtswirklichkeit ohne einen präzisen Begriffsapparat. Sie orientieren sich, wenn sie einfache rechtlich relevante Handlungen ausführen, an der allgemeinen Lebenserfahrung und entnehmen Argumente, auf die sie ihre Entscheidungen stützen, dem praktischen Dialog ihres Lebenskreises. Erst bei komplizierten sozialen Vorgängen bedarf es der Beratung durch Juristen. Der Erkenntnisprozeß der Rechtswirklichkeit verläuft hier durch eine Vermittlung, die eine sehr allgemeine Form annimmt: Das handelnde Subjekt erhält Kenntnisse und Informationen über die erlaubten bzw. gebotenen Zwecke und die zulässigen Mittel, nach denen es seine persönliche Zweckverfolgung ausrichtet. Er analysiert also die Handlungsabläufe, die in seinem Entscheidungszusammenhang relevant sind, nicht selbständig und erschließt die Norminhalte, die hierfür maßgeblich sind, nicht allein. Diese Angewiesenheit auf Erkenntnisse, die durch andere Subjekte gewonnen worden sind, schließt nicht eine eigene Erkenntnisleistung des handelnden Subjekts aus. Sie ist zwar nicht eine spezifisch fachliche Erkenntnis, gehört jedoch zu der sich ausweitenden Lebenserfahrung, nach der die Individuen in Gesellschaften mit komplexen Strukturen ihre Handlungsentschlüsse fassen. 2. Wie jeder Erkenntnisprozeß ist auch das Erkennen der Rechtswirklichkeit auf den Gewinn möglichst präziser Informationen über das Erkenntnisobjekt gerichtet. Inwiefern hier "objektive" Erkenntnisse gewonnen werden und worin die Verläßlichkeit dieser Erkenntnisse besteht, wird noch zu zeigen sein. Phänomenologische Doktrinen, die eine reine Erkenntnis der Dinge, ein Vordringen zu ihrem Wesen propagieren 13 sind, bezogen insbesondere auf die 13 E. Husserl (Husserliana, Bd. III, Den Haag 1950, S. 226) meint dazu: "Mit minuziöser Sorgfalt müssen wir nur darauf achten, daß wir nichts anderes denn als

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soziale und rechtliche Wirklichkeit, in verschiedener Hinsicht nicht haltbar. Sie wollen die Erkenntnis auf das Eigentliche, das Wesen der Dinge reduzieren, das als vorgegeben oder feststehend aufgefaßt wird 14 und nur in dieser Beschaffenheit unverfälscht und vollständig erfaßbar sei IS. ZU diesem Zwecke solle der Forscher zwar "intentional" hinsehen, und d.h. in Verbindung mit einem bestimmten Sinn, der sich aus den Inhalten seines Bewußtseins ergibt, dennoch sei es unabdingbar, daß er sich auf das Erkenntnisobjekt allein konzentriert und den Fluß all seiner vorangegangenen Erlebnisse und Erkenntnisse, die sich auf das erforschte Phänomen beziehen, unterbindet 16. Die soziale und rechtliche Wirklichkeit ist so komplex, daß eine strenge Isolierung des untersuchten Phänomens nicht möglich ist. Eine solche Isolierung ist aber auch nicht sinnvoll, weil in dieser Wirklichkeit die Phänomene eng miteinander verbunden sind und ihren Sinn und Relevanz gerade aus diesen Korrelationen beziehen. So kann der praktische Jurist z. B. die Nichterfüllung eines Vertrages nicht allein aus dem Vertrag heraus als eine schuldhafte oder eine nicht zu vertretende Nichterfüllung qualifizieren; er muß vielmehr eine Reihe von Überlegungen über die Wirtschaftsmöglichkeiten des jeweiligen Vertragspartners und über konkrete die Vertragserfüllung begleitende Umstände anstellen, um die Frage nach der Zurechenbarkeit der Nichterfüllung entscheiden zu können. Auch wenn Betrachtungen aus rechtsphilosophischer Sicht über die Positivität des Rechts angestellt werden, ist es unentbehrlich, daß mehrere Erscheinungsformen dieser Positivität analysiert und in bezug auf andere Phänomene der Rechtswirklichkeit gesetzt werden. Auch eine Reduktion des Erfahrungshorizonts des Forschers, damit er sich auf das Eigentliche "konzentriere", ist hier nicht angebracht. Im Gegenteil, seine ganze Erfahrung und Sensibilität für soziale Vorgänge müssen ständig präsent sein, wenn er soziale Handlungen, die Objekt der Betrachtung sind, in ihren Verflechtungen im sozialen Interaktionsprozeß analysiert. Er muß die "Kontexwirklich im Wesen Beschlossenes (fern Erlebnis einlegen, und es genau so ,einlegen', wie es eben darin ,liegt' ... 14 Auch A. Trailer (Edmund Husserls Phänomenologie - ein Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis, in: Schweizer Rundschau 69 [1970], S. 223) schließt sich dieser Auffassung an: "Der phänomenologisch forschende Wissenschaftler ist einzig und allein auf das Wesen der zu erforschenden Erscheinungen ausgerichtet, sei dies eine einzelne Person, eine Sache oder deren Teile oder seien es Personen oder Sachgruppen. Er läßt sich von dieser ihm eigenen und ihn auszeichnenden Sehweise nicht durch andere Beziehungen zum Objekt, das zu erforschen ist, ablenken. Der Sinn des phänomenologischen Erkennens ist einzig und allein das Wahrnehmen." 15 Vgl. zu den phänomenologischen Doktrinen im Recht A. Brimo, Les grands courants de la philosophie du Droit et de l'Etat, 3. Aufl. Paris 1978, S. 409ff. 16 Trailer (FN 14, S. 222f.) schreibt dazu: "Der Phänomenologe klammert seine eigene Erlebnissphäre ein. Er setzt mittels der Reduktion alle seine persönlichen und in seinem Leben geltenden Lebensinteressen außer Aktion. Damit verwehrt er auch seinem ganzen natürlichen Dahinleben, das auf die naiv entgegengenommene Welt ausgerichtet ist, einen Einfluß auf seine Erkenntnis." 5·

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tualität", in denen die Handlungen und die sie steuernden normativen Regelungen auftreten, berücksichtigen. Und gerade in dem Maße, in dem er dies tut, gelingt auch eine treffende Analyse des Objekts. In der sozialen und rechtlichen Wirklichkeit existieren keine präetablierten Wesenheiten. Alle sozialen Phänomene, soweit sie als solche qualifiziert werden, erfahren ihre Bedeutsamkeit (" Wesenheit") durch Stellungnahmen und Werturteile, die über sie in der Gesellschaft jeweils getroffen werden. Die erfahrbaren "Dinge" der sozialen und rechtlichen Wirklichkeit sind nicht in einem ihnen immanenten Wesen faßbar. Die sozialen Phänomene entstehen, wirken und beenden ihre Existenz in einem Prozeß der bewußten Gestaltung der sozialen Verhältnisse. Sie sind also nicht von einer konstanten Beschaffenheit, sondern so, wie sie jeweils in der Gesellschaft "gemacht" worden sind. Zu ihrem Gehalt (Wesen) vorzudringen, bedeutet, sie in ihrem institutionellen Rahmen zu analysieren, zu verstehen und zu handhaben. Die sozialen Handlungen, die vom Recht erfaßt werden, erschließen sich dem erkennenden Subjekt nicht durch die Evidenz ihres Daseins. Wenn eine Ehe geschlossen wird, ein Testament errichtet wird oder wenn politische Wahlen durchgeführt werden, sind das nicht bloße in der empirischen Welt vollzogene Zustandsänderungen; ihr Erkennen erschöpft sich nicht in einer mehr oder weniger genauen Feststellung ihres materiellen Vollzuges l ? Solche Handlungen treten mit einem bestimmten Gehalt auf, der nicht wahrgenommen, sondern gedeutet und als sinnvoll in einem institutionellen Rahmen verstanden wird. Die Erkenntnis fließt also nicht aus einem perzeptiven Akt der Feststellung oder Wahrnehmung heraus; sie stellt sich vielmehr als Ergebnis von Deutungs- und Verstehensprozessen in bezug auf Rechtshandlungen und Rechtsnormen in ihrer Interdependenz. Die spezielle Kognition der Rechtswirklichkeit kann demnach sich auch nicht allein in der Interpretation von Rechtstexten erschöpfen, wie sie nicht mit der Beschreibung von tatsächlichen Handlungsabläufen vollzogen ist. Die Rechtswirklichkeit, die sich als das natürliche institutionelle Milieu der Individuen und der sozialen Gruppen darstellt, wird in einem vielschichtigen Prozeß der sinnlichen Wahrnehmung und der verstehenden Rezeption erfaßt. Jeder Erkenntnisprozeß strebt nach einer gewissen Sicherheit, Adäquatheit oder "Objektivität" der Erkenntnisse. Eine objektive Erkenntnis im Sinne einer völligen Entsprechung von Objekt und Vorstellung ist nur unter der Prämisse möglich, daß die zu erkennenden Objekte eine bestimmte nur ihnen eigene Beschaffenheit aufweisen und unabhängig vom Bewußtsein der erkennenden Subjekte existieren. Dies wird durch die übereinstimmenden subjektiven Vorstellungen über das erkennende Objekt expliziert. 17 Vgl. O. Weinberger. Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen, in: D. N. MacCormick/O. Weinberger, Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 1985, S. 108ff.

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Die erkennenden Subjekte in der sozialen und rechtlichen Wirklichkeit sind nicht Beobachter von "außen". Sie sind in dieser Realität mit ihren Handlungen und Bewußtseinsinhalten involviert. Sie tritt ihnen nur insofern "objektiv" gegenüber, als sie bereits vorstrukturiert ist. Die Individuen und die sozialen Gruppen sind jedoch am Prozeß der ständigen Konstituierung und Rekonstituierung dieser Wirklichkeit beteiligt, und insofern steht sie ihnen nicht auf Dauer als objektive Realität gegenüber: Sie wird von ihnen durch einen ständigen Handlungsvollzug im Rahmen der bereits existierenden Institutionen und durch Schaffung neuer Institutionen gestaltet. Als handelnde Subjekte (Teilnehmer an Rechtshandlungen oder als Wissenschaftler) erkennen sie die soziale und rechtliche Realität nicht einheitlich, weil sie mit unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben je nach politischen, rechtlichen, ethischen und sonstigen Ideen und Überzeugungen an sie herangehen. Die Erkenntnisse stimmen nur insofern überein, als sie von Individuen mit gleichem Werthorizont gewonnen werden. Sie sind also intersubjektiv vor dem Hintergrund unterschiedlicher sozialer Erfahrung und unterschiedlicher politischer und ethischer Überzeugungen. Dies hat Konsequenzen für ihre Uberprüfbarkeit l8 • Die Erkenntnisse über die soziale und rechtliche Wirklichkeit sind nur dann "adäquate" Erkenntnisse, die als Handlungsorientierung in einer normativ geregelten Wirklichkeit dienen, wenn sie die Ideen, Konzeptionen und Werteinstellungen einfangen, die in der Gesellschaft jeweils dominieren und in ihren normativen Verhaltensordnungen Niederschlag finden. Sie werden durch eine soziologisch-axiologische Analyse des Rechts und der von ihm geformten sozialen Wirklichkeit gewonnen 19 •

18 Zur Überprüfbarkeit praktischer Sätze über die rechtliche Wirklichkeit vgl. R. Weimar, Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft, in: W. Krawietz u. a. (Hrsg.), Theorie der Normen, Festgabe für O. Weinberger, Berlin 1984, S. 69fT. 19 Vgl. allgemein zu einem soziologisch-axiologischen Zugang zum Recht V. Petev, Die spezifische Rationalität der richterlichen Entscheidungstätigkeit, in: N. Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, Köln u. a. 1985, S. 565-577.

ll. Geltungsgrund des Rechts

Hart und der Rechtsbegriff * Eine kritische Synthese Von Victor Arevalo Menchaca, Basel

I. Das Recht Das Recht, die Moral und der Zwang sind die Sozialphänomene, die Hart abgrenzen und verbinden wilP. Es geht um eine "Analytische Jurisprudenz", welche die Wortbedeutungen klärt, und um eine "Deskriptive Soziologie", die das Recht als Sozialkontrolle erforscht. Allgemeines Ziel Harts ist, die Rechtsphilosophie zu fördern. Hart zweifelt nicht, daß das Recht aus Normen bestehe und daß das Rätsel seines BegrifTs (S. 17) drei Fragen aufwerfe: 1. Welche Eigenschaften lassen uns das Recht von anderen Normtypen unterscheiden?;

2. Wie definiert man das Wesen des Rechts?; 3. Wie grenzt sich das Recht von der Moral ab?; Er glaubt, daß die Rechtstheorie in der Konzeption Austins gipfele, erhebt sie zum Idealtypus alles Rechtdenkens und fängt mit ihrer Kritik an. Von der Spitze ausgehend, will Hart das Beste bessern. Für Austin ist das Recht eine Reihe von Befehlen, die Drohungen unterstützen und wie das Diktum eines Bankräubers lauten: "Geld her oder ich schieße!"; "Töte nicht oder ich lasse dich erhängen!". Die Befehle des Rechts richten sich an die Allgemeinheit, haben eine gewisse Dauerhaftigkeit und pflegen bei den Menschen Gehorsam zu begegnen (S. 34 fT.). Eine unabhängige Instanz (Souverän) diktiert diese Befehle. Hart beanstandet an Austin: Einige Rechtsnormen legen zwar den Menschen Strafe auf, aber andere setzen sie in den Stand, Verträge abzuschließen, zu heiraten oder Testamente zu machen, und noch andere gibt es, die Gesetzgeber und Richter, samt Zuständigkeiten und Funktionen, erschaffen (S. 45fT.). Nur • Japanische Übersetzung: "Häto to hö no gaien" hrsg. von Y. Mishima und lose Llompart, in: "Hö no riron" (Theorie des Rechts), Bd. 6, Tokyo 1985. Für Ihre unschätzbare Hilfe beim Verfassen dieser Abhandlung möchte ich Prof. Dr. L. Philipps (München), Prof. Dr. Y. Mishima (Tokyo), Prof. Dr. J. Llompart (Tokyo) und Dr. W. Bauemfeind (Wien) besonders danken. 1 H. L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, Frankfurt am Main 1973. S. 7. Zitate dieses Werkes werden im folgenden mit Angabe der Seitenzahl in den Text eingefügt.

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Victor An!valo Menchaca

die ersten lassen sich als zwingende Befehle erklären, alle anderen erteilen Befugnisse und heißen deshalb Befugnisnormen. Hart fährt fort (S. 52 ff.): Austin werde den Befugnisnormen nicht gerecht, wenn er sie den zwingenden Befehlen assimilieren wolle. So etwa: "Geld her oder ich schieße!" (Bankräuber), "Töte nicht oder ich lasse dich erhängen!" (Strafrecht), "Tue das und das, oder die Ehe ist Null und nichtig" (Zivilrecht)Nichtigkeit als Drohung, wenn man dem Befehl nicht gehorcht -. Hart hält die Assimilation für einen Fehlschlag: Austin wolle auf Biegen oder Brechen eine unechte Uniformität erdichten, die der Intuition widerspricht und den Rechtsbegriff verdunkelt. Befehle und Befugnisse muten Hart grundverschieden an. Dieser Unterschied wird zum Eckpfeiler seines Werks. Ebenso verwirft Hart die Lehre Kelsens. Für die Reine Rechtslehre sind die Normen zwingende Befehle, die sich an Funktionäre richten und sie auffordern, unter bestimmten Umständen Sanktionen zu verhängen: "Er hat getötet, lasse ihn köpfen, oh Richter!". So konzipiert Kelsen die Norm, Seele und Leib allen Rechts. Hart unterstreicht, er sehe Kelsen als einen Extremisten, kaum als die Kulmination der Juristerei (S. 57). Was die zwingenden Befehle anbelangt - "töte nicht oder ich erhänge dich!" (Strafrecht) -, stimmen die Meinungen Austins und Harts überein. Dagegen genießen die Normen, die Befugnisse erteilen - "du kannst heiraten" - nach Hart Eigenständigkeit; während Austin sie auf zwingende Befehle reduzieren will, die den Befugten mit Nichtigkeit drohen, wenn er die Förmlichkeiten nicht respektiert - "Tue das und das, sonst ist die Ehe ungültig". Kelsen denkt wieder anders: Recht ist prinzipiell die Norm, die dem Funktionär befiehlt, im Falle des Mords Sanktionen gegen den Täter zu ergreifen, oder die Ehe für nichtig zu erklären, wenn die entsprechenden Förmlichkeiten nicht eingehalten sind. Aus dem Unterschied zwischen zwingenden Normen und jenen, die Befugnisse verleihen, schließt Hart: 1. Primäre Normen sind diejenigen, die festsetzen, was der Mensch darf oder nicht darf, was er zu tun oder zu unterlassen hat (Pflichten). Wer nicht pariert, wird eingesperrt. Gehorsam ist gefragt. Sie sind die zwingenden Befehle Austins. Nur primitive Gesellschaften, wie die Yahoos Brodies, über welche uns Borges berichtet, können mit einem Recht auskommen, das sich nur aus Primärnormen zusammensetzt. In diesem Fall lassen sich Moral und Recht nicht differenzieren. 2. Sekundäre Normen sind diejenigen, die Befugnisse erteilen und bestimmen, wie man die Primärnormen erzeugt, erkennt, verändert, abschafft, anwendet und vollstreckt. Sie sind Standards offiziellen Verhaltens, die sich mit der Produktion primärer Normen beschäftigen; ihre Struktur bleibt jener der Rechtsnormen identisch, die den Privatpersonen Befugnisse zusprechen, ein Testament zu machen, Verträge zu schließen oder zu heiraten. Es gibt drei Arten Sekundärnormen:

Hart und der RechtsbegrifT

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a) Erkenntnisnorm: sie bestimmt die Fönnlichkeiten, denen eine Nonn zu genügen hat, um als Recht zu gelten. Z. B.: eine Nonn, die das Parlament ennächtigt, gewisse Gesetze zu entwerfen und zu verabschieden. Hier geht es um die Bestimmtheit des Rechts. b) Veränderungsnorm: sie bestimmt, wie man Rechtsnonnen abwandelt oder abschafft. Z. B.: eine Nonn, die das Parlament ennächtigt, ein Gesetz aufzuheben. Hier geht es um die Dynamik des Rechts. c) Entscheidungsnorm: sie spezifiziert, wie man die Nonnen anwendet und vollstreckt. Z. B.: die Nonnen, die festlegen, wie der Richter oder der Henker bei der Ausübung ihrer Berufe vorzugehen haben. Für Hart ist das Recht ein einheitliches System primärer und sekundärer Normen.

Zusätzlich wendet Hart gegen die Befehlstheorie Austins ein: Befehle richten sich an andere, Gesetze verpflichten hingegen auch den Gesetzgeber selbst - sie funktionieren in diesem Fall wie ein Versprechen, an das der Gesetzgeber sich selbst bindet (S. 65 ff.). Außerdem: Nicht nur der Befehl des Souveräns ist Recht, sondern auch der Brauch, wenn die Gerichte seine Vernünftigkeit anerkennen und kein Gesetz ihm widerspricht. - Und w~ wagt, Befehl und Brauch zu assimilieren? - Beim Brauch handelt es sich um Rechtsnonnen, die spontan ohne Souverän oder Gesetzgeber entstehen (S. 68fT.). Hart sieht das Rechtssystem als eine Kombination VOll Befugnissen und Befehlen. Eine dichtere Synthese, eine Reduktion der Befugnisse auf die Befehle oder umgekehrt, schließt er aus (S. 74 f.). Er bemerkt, er könne sich weder eine Identifikation zwischen Befehlen und Befugnissen aus den Rippen schneiden, noch könne er sie aus der Luft zaubern. Die Instanz, die das Recht erzeugt, die zwingende Befehle erläßt und Unabhängigkeit genießt, heißt Souverän. Urdemokratisch konzipiert Austin den Souverän. Er ist der Wähler. Der Wähler Austins verhält sich aktiv, schaltet und waltet nach Belieben und setzt seine Wünsche durch, wenn nötig mit Gewalt und Auflehnung. Kurz: Eine Volksdynamik, wo die Mehrheit durch Revolution oder Abstimmung das letzte Wort behält. Diese Übennacht fordert und erhält gewohnheitsmäßigen Gehorsam der Untertanen, die nur sich selbst untertan sind. Austin zieht keine verkleidende Umschreibung dem Klartext vor: Er stellt die Autorität des Volkes jener des Souveräns gleich. Kein König herrscht dauerhafter oder ungebundener als das Volk (S. 76, 110). Hart wirft Austin Naivität vor. Der Souverän könne kaum aus dem Nichts auftauchen, meint er. Der Gesetzgeber entstamme der Verfassung, die ihn bestimme und begrenze, indem sie seine Identität, Qualifikationen und Fähigkeiten fonnuliere. Der Gesetzgeber finde die Verfassung vor und könne sie nicht abschaffen (S. 112 ff.). Selbst in England, wo kein Unterschied zwischen

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Verfassung und normaler Gesetzgebung bestehe, begegne das Parlament einer Normativität der Fakten, die kein Wähler ausmerzen könne. Hart ersetzt den Souverän durch die Erkenntnisnorm, Inbegriffjeder Verfassung und Ursprung allen Rechts 2 • Für Austin erzeugt ein Souverän das Recht, für

Hart erzeugt das Recht den Souverän und die Erkenntnisnorm das Recht; eine menschliche Instanz als Souverän will Hart nirgends akzeptieren. Für Austin ist der Souverän das Volk, für Hart eine Grundnorm, eine absolute Objektivität, deren Fruchtbarkeit der einer Bienenkönigin ähnelt. Hart denkt, daß Austin einem idealisierten Antikenbild, dem Volk als Gottheit, aufgesessen sei, und daß die Norm ein Königsrecht gegenüber dem Unsicheren, Dumpfen und Anarchischen des Volkes habe. Nachdem er zwischen primären und sekundären Rechtsnormen - d. h. zwischen zwingenden Befehlen und privaten oder öffentlichen Befugnissen unterschieden hat, wendet sich Hart dem zweiten Eckpfeiler seiner Konzeption zu, dem Unterschied zwischen dem internen und dem externen Aspekt des rechtlich Verpflichtenden.

Hart meint (S. 119/86), daß der Mensch sich zu etwas rechtlich verpflichte, nicht weil ihm eine Sanktion drohe, sondern weil er die Pflicht als Grund für die Sanktion erlebe, falls er die Pflicht nicht einhielte. Den Bankangestellten, der einem Räuber das Geld aushändigt, stellt Hart nicht dem Wächter gleich, der einen Einbrecher erschießt. Den Bankangestellten hat der Räuber genötigt, etwas zu tun, das er sonst nicht getan hätte. Der Wächter hatte dagegen die Pflicht zu handeln, wie der Henker eines Tyrannen ebenso die Pflicht hat, den Feind seines Herrn zu enthaupten oder ihm die rechte Hand abzuhacken, wenn der Richter ihn rechtmäßig dazu verurteilt hat. - Klingt das paradox? -. Mitnichten. Der Internaspekt widerspricht nicht selten der Moral. Hart legt sich auf die These fest, daß divergierende Ethiken gleichzeitig bestehen können: eine verabscheut die Todesstrafe, die andere begrüßt sie, eine dritte legt sie als Bestimmung des Schicksals aus. Der Internaspekt des Rechts braucht alle diese Kontroversen nicht zu berücksichtigen, er muß sich lediglich dem Gesetz anschmiegen und die Adaption gelingt ihm ohne Mühe. Hart behauptet, daß der Internaspekt auch bei den Spielregeln bestehe und sich keineswegs auf das Recht beschränke. Jedermann tadelt sofort einen Schachspieler, der die Dame wie einen Springer bewegt. Das allgemeine Erstaunen habe mit einer Sanktion nichts zu tun, die Angst vor der Strafe sei hier unwichtig, vernachlässigbar. Aber nur aufgrund des Internaspekts kann man Normstandards dazu verwenden, das Verhalten der Menschen zu lenken. Weil der Teilnehmer dem Internaspekt beipflichte, sei er bereit, auch Opfer zu bringen, auf Wichtiges zu verzichten. Das wäre undenkbar, wenn er das Recht als die Befehle eines Bankräubers verstünde: eine Rebellion wäre die Antwort darauf; 2 So stellt Hart, Begriff des Rechts, S. 111 fest: "Die Regeln konstituieren den Souverän."

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alle würden das Parlament des Hochmuts, des Wahnsinns und der Menschenverachtung zeihen. Der Externaspekt - die Wahrscheinlichkeit der Sanktion, die Erwartung, nicht unbestraft zu entkommen - (S. 121) gehöre ebenso zum Recht, meint Hart. Ein Beobachter, der nicht mitspielt, nimmt zuerst nur den Externaspekt wahr; aber, wenn er sich auf den Kontext besinnt, muß er unweigerlich zugeben, daß der Externaspekt ohne den Internen unmöglich wäre. Hart betont, der Externaspekt sei das Zeichen, woran der Beobachter das Normmäßige erkenne (S. 129). Der Internaspekt sei das Signal, wobei der Teilnehmer das Normhaftige erfahre. Die Kombination beider Aspekte offenbare eine allgemeine Forderung, die der Sozialdruck ernsthaft und beharrlich verlange; eine Forderung, die sich, wenn nötig, mit physischer Gewalt durchsetze: das nenne man Recht; die Drohungen eines Bankräubers könnten diesen Titel nicht beanspruchen; ohne das Erlebnis dieses Unterschieds wäre jedes Sozialleben ausgeschlossen. Der Internaspekt kann zwar bei einigen Menschen fehlen, aber, wenn er bei allen Menschen fehlte, würde keine Gesellschaft existieren. Hart unterstreicht diesen Standpunkt wiederholt (S. 130/148).

11. Die Erkenntnisnorm Die Erkenntnisnorm legt die Kriterien fest, die Rechtsnormen zu identifizieren (S. 142 ff.). Verfassung, Gesetze und Gerichtsurteile entstammen der Erkenntnisnorm, sei es durch Unterordnung, sei es durch Ableitung, sei es durch beide. Der Brauch läßt sich z. B. nicht von Gesetzen ableiten, sondern ist ihnen untergeordnet. Man soll zwischen Unterordnung und Ableitung unterscheiden (S. 143). Der Prozeß des rechtlichen Anerkennens läuft nicht automatisch ab, beruht auf Beispielen und auf dem, was der Richter für relevant und angemessen hält, wenn er sich auf die Suche nach Präzedenzien begibt. Ebenso bastelt das Parlament bei der Gesetzgebung an Texten; nicht selten muß man sich auf Vernunft und Auslegung berufen, um eine gewisse Fassung zu untermauern (S. 146). Die Erkenntnisnorm ist nirgends expressis verbis formuliert, sie besteht stillschweigend wie jene Regeln, die bei einem Spiel Gewinn und Verlust definieren (S. 146 ff.). Gültigkeit einer Rechtsnorm heißt, daß sie den Erfordernissen der Erkenntnisnorm entspricht. Hart versteht seine Erkenntnisnorm nicht als Hypothese wie Kelsen seine Grundnorm, vielmehr will Hart die Erkenntnisnorm als eine Serie von Gültigkeitskriterien konzipieren. Der Teilnehmer erlebt die Rechtsnorm als verpflichtendfür sich selbst und als Grund seines Gehorsams. Mitnichten ist dieser Gehorsam ein Reagieren auf die Wahrscheinlichkeit einer Sanktion oder ein Resultat der Prophezeiung: "Wenn

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ich mich nicht beuge, wird mich der Richter bestrafen." Die Gültigkeitsaussage entspricht dem Internaspekt der Rechtsnorm. Gültigkeit und Wirksamkeit decken sich nicht völlig: Eine unwirksame Norm kann gültig bleiben, solange das Rechtssystem existiert, aus welchem sie abgeleitet wird. Den Unterschied zwischen Gültigkeit und Wirksamkeit stellt Hart jenem zwischen Intern- und Externaspekt gleich. Die Symmetrie, das Spiegelbild beiderseits einer Achse, als theoretische Standortbestimmung, gebraucht er mit besonderer Vorliebe. Die Erkenntnisnorm ist letzthinnig (S. 149) - d. h. Quelle aller Rechtsnormen, sich selbst eingeschlossen -. Hart sagt, daß sie in England lauten würde (S. 150 ff.): "Gesetz ist alles, was die Königin im Parlament als solches erläßt." Diese Aussage drücke die Erkenntnisnorm aus, stütze sich auf die Tatsachen und empfange ihre grundlegende Macht aus der politischen Einheit der jeweiligen Gesellschaft. Nur eine Revolution könnte sie vernichten oder ersetzen. Die Erkenntnisnorm ist ein Maßstab wie der Meter, der Solartag oder der Dollarstandard. Es ist denkbar, daß ein Land sich vom Meter, Solartag oder Dollarstandard trennen könnte, aber das wäre eine rein politische Entscheidung. Die Erkenntnisnorm, das Fundamentalpolitikum des Rechts, schaltet Norm und Tatsache gleich, fällt ein unbewußtes Werturteil und bedarf keines Beweises wissenschaftlicher Neutralität; sie enthält die obersten Kriterien der Rechtsgültigkeit und ihre Befugnisse kennen nur jene Grenzen, die sich selbst die Sozialwirklichkeit aufzwingen will (S. 155). - Wie kann man den Meter messen, wenn nicht an sich selbst? -. - Wie kann man den Preis des Dollars binden, wenn nicht an sich selbst? -. Die Erkenntnisnormen des Rechts, des Raumes, der Zeit und der Wirtschaft ähneln sich, alle sind Maßstäbe, die sich an nichts messen lassen.

Rechtsnormen gibt es, die gelten, ohne zu wirken, aber die Erkenntnisnorm gilt nur, soweit sie wirkt - in ihrem Fall besteht eine absolute Identität zwischen Wirksamkeit und Gültigkeit -. Vordergründig handelt es sich dabei um eine Tatsachenaussage: Alles, was die Königin im Parlament erläßt, pflegt Gehorsam bei den Bürgern zu finden und gilt als Standard offiziellen Verhaltens bei den britischen Beamten. Die Erkenntnisnorm, eine Tatsachenaussage generalisierter Wirksamkeit, spiegelt die Praxis, die politische Faktizität, die Quelle allen Rechts wider (S. 156 ff.). Das Recht hat eine offene Struktur (S. 173 ff.); die Normableitung, die Langstrecke zwischen Erkenntnisnorm als Allmacht und Gerichtsurteil als Vollstreckung, zwischen Revolution und Henker, ist nur locker vorausbestimmt. wenn überhaupt. Die Rechtsnormen suggerieren zwar die Zukunft. aber sind kein Orakel; sie verzichten des öfteren auf Präzision und lassen den Richter gewähren. So bei den Allgemeinstandards: Sorgfaltspflicht, angemessenem Preis, sicherem Arbeitsplatz. Außerdem: kein Gesetzgeber kann seine Begriffe absolut spezifizieren. - Verbietet man in einem Park, Auto zu fahren, sind auch die Spielzeugautos verboten? -. Grenzfall wäre ein lärmendes Spielzeugauto, das Benzin konsumiert. - Ist es Tierquälerei, Ameisen zu zerstampfen, besonders

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wenn man bedenkt, daß die Naturwissenschaft entdeckt hat, Insekten könnten keine Schmerzen empfinden (S. 179/182). Unbestimmtheit und Gesetzgebung gehen Hand in Hand und keine Gerichtsurteile können diese Unbestimmtheit aufheben. Es handelt sich um die Unmöglichkeit, die Zukunft vorauszusagen, und die Zukunft hat das letzte Wort über Existenz und Fortdauer aller Gesetze. Jedes Volk bewältigt die Zukunft und dämpft ihre Ungewißheit mit Rechtsnormen, aber keine Normen können die Zukunft festlegen oder vorausbedingen. Revolution, Okkupation durch eine fremde Macht und generalisiertes Banditentum setzt Hart (S. 165) gleich und nennt sie "Rechtspathologien", indem alle drei Zustände die Erkenntnisnorm vernichten können. Je mehr die Sonderfälle

zunehmen, sich die Richter widersprechen und Konflikte das Parlament lahmlegen, um so mehr wächst die Gefahr, daß ein Rechtssystem zerbricht. Ähnlich betrachtet Hart den Fall der britischen Kolonien und ihrer Unabhängigkeit: sie pflegen das englische Recht in totum zu übernehmen, aber eine neue Erkenntnisnorm ersetzt die alte (ein einheimisches Parlament löst das Londoner Parlament ab). Hart unterscheidet zwischen Rechts-, Tatsachen- und Wertaussagen (S. 157); alle drei können sich auf eine und dieselbe Norm beziehen. Betrachten wir den typischen Fall einer Primärnorm des Strafrechts, die den Mord verbietet: a) Rechtsaussage: ein Bürger denkt laut: "Er hat mich verleumdet, beleidigt, gekränkt, aber ich bin verpflichtet, sein Leben zu respektieren, obgleich ich es als moralischer und angenehmer empfände, ihn zu erschießen" (S. 146 ff., 157 fT.). b) Tatsachenaussage: ein Beobachter raunt einem anderen zu: "Er würde diesem Schuft an die Gurgel gehen, aber es läßt sich hierzulande mit dem Gesetz nicht spaßen: der Henker macht Überstunden - wer tötet, ist auch schon tot -" (S. 152). c) Wertaussage: Der auch zuschauende Gesprächspartner bemerkt: "Ich finde gut, daß man kurzen Prozeß mit allen Gewaltverbrechern und Betrügern macht, so kann der ehrliche Mensch seine Ruhe haben" (S. 151/152). Die freiwillige Kooperation der Menschen in einem Zwangssystem, meint Hart (S. 189), garantiert nur die Vollstreckung der Sanktionen, und zwar bei ständiger Gefahr, daß man die Menschen unterdrückt und ihre Freiwilligkeit verhöhnt; diese Unsicherheit prägt die Ambivalenz der philosophischen Doktrinen gegenüber den Gesetzestexten. Für die Normnihilisten ist Recht und Gerichtsentscheidung gleich, für die Formalisten ist Recht und Gesetz gleich. Für die Normnihilisten ist die

Rechtswissenschaft eine tremiche oder falsche Voraussage der Gerichtsentscheidung, wobei sie die Rechtsnormen und das Gesetz zum bloßen Hilfsmittel der Prophetie verurteilen (S. 190/206). Der Richter erzeugt alles Recht, weil er die

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Normen in Fakten umsetzt. Das Gerichtsurteil als faktische Nahtstelle zwischen Sein und Sollen ist das Recht. Das klingt verlockend, aber ist alter Wein in neuen Schläuchen. Oft hat man auf gleiche Weise die Frage nach der Omnipotenz des Parlaments gestellt. Diese Omnipotenz trügt, das Parlament ist zeitlich und räumlich beschränkt. Kein Parlament kann seine Nachfolger einschränken, auf gewisse Zuständigkeiten ein für allemal verzichten, seine eigene Allmacht verstümmeln. Hart unterstreicht, daß in England sogar eine gültige Doktrin dagegen bestehe (S. 106 ff.). Ein Parlament, das seine eigene Zuständigkeit so weit erstrecken will, daß es die Zukunft dieser Zuständigkeit beschneidet, ist eine Absurdität, die ich mir durchaus vorstellen kann. Aktuelle Beispiele ließen sich unschwer finden. Inwiefern diese Ansprüche sich aber bewahrheiten, hängt von der Zukunft ab und hat mit einer Omnipotenz des Parlaments nichts zu tun -. Für die Normnihilisten können die Richter nach Belieben schalten und walten. Recht ist, was die Gerichte sagen, daß es sei (S. 206 ff.). Das Oberste Gericht hat das letzte Wort und genießt Unfehlbarkeit, weil niemand es eines Fehlers zeihen kann. Eine Richterrevolution bräuchte nicht einmal Gewalt, die Richter müssen nur ihre Schlüsselstellung wahrnehmen, um die Macht bewußt an sich zu reißen. Hart hält (S. 202) diese Auffassung der Normnihilisten, die sich selbst "Amerikanische Realisten" nennen, für unrealistisch und jegliche Richterverschwörung zumindest für unwahrscheinlich. Die Richter reagieren nur auf Einzelfälle. Die Struktur, in welcher sie eingebettet sind, fördert eine Übereinstimmung letzthinniger Beschlüsse, aber verbietet jede Geschlossenheit des Handeins über die rituelle Förmlichkeit hinaus. Es ist wahr: wiederholt haben sich die Richter als kollektive Ohnmachthaber ausgewiesen, es reicht mit den Beispielen der Weimarer Republik, der Nazi-Zeit und der südamerikanischen Militärdiktaturen. Richtig mutet mich dagegen an, daß die Normnihilisten folgendes einschärfen: Rechtgeber ist eher der Richter, der die Normen auslegt und anwendet, als der Gesetzgeber, der sie formuliert und niederschreibt. Hart wendet gegen die Normnihilisten ein, daß die Normen - sekundäre Rechtsnormen - die Richter erschaffen und nicht umgekehrt (S. 203). Die Entscheidungen eines Richters bewegen sich in engen Grenzen, sie können nicht nach Gutdünken das oder jenes beschließen, auch wenn ihre Macht viel größer ist, als sich die Formalisten vorstellen (S. 204).

III. Recht und Moral Wie jeder Anhänger des Positivismus oder der Naturrechtslehre kann Hart das Problem nicht umgehen: er muß sich zur Frage nach den Verhältnissen zwischen Recht und Werturteil äußern. Er stellt fest, die Naturrechtslehre würde sehr wohl seine Bemühungen, den Rechtsbegriffzu klären, als verdienstvoll (S. 214)

Hart und der Rechtsbegriff

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anerkennen, aber hinzufügen: Recht ohne Gerechtigkeit ist undenkbar. Hart hebt hervor, daß die Thomisten die "reine" Naturrechtslehre vertreten, die extremste und beste Version dieser Schule (S. 216). Hart meint, daß man das Problem der Rechtswerte nicht auf die Gerechtigkeit beschränken dürfe (S. 217). Alle zwischenmenschlichen Werte betreffen das Recht. Gerechtigkeit ist immer gut, Gutes ist oft weder gerecht, noch ungerecht, wenn es die Rechtsnormen anbelangt: Das Gesetz, das den InformatikUnterricht im Gymnasium vorschreibt, mag fortschrittlich, entfremdend oder grausam sein; diesen Unterricht als gerecht oder ungerecht zu bezeichnen, verfehlt die Sache. Die Gerechtigkeit als Eckwert des Rechtlichen berührt meistens die Frage nach der Fairneß: der Verteilung von Lasten und Vorteilen, der distributiven Gerechtigkeit, oder dem Schadenersatz, der kompensativen Gerechtigkeit. Häufig gehen ebenso Gerechtigkeit und Gleichheit zusammen, da begegnet man ausnahmslos der leeren Formel: "Gleiches gleich behandeln, Ungleiches ungleich" (S. 219). Am Inhalt scheitert jede Einmütigkeit, es läßt sich nur auf "universelle" Grundsätze verweisen: z. B. die Rassengleichheit, obgleich Südafrika, eine Nation, die als zivilisiert auftritt, das Prinzip zertrampelt, und die Rassenungleichheit mit Gewalt durchsetzt. Hier die Wirksamkeit internationaler Sanktionen (S. 224) zu loben, der Völkerrechtsschwärmerei zu verfallen, wäre die öffentliche Heuchelei zu bestätigen, die rhetorisch Mißerfolge in Trümpfe verwandeln will (S. 223/224). Allerdings, wenn ein Gericht in Kapstadt oder Kabul Recht spricht, ist Gerechtigkeit immer ein unverächtliches Thema; jeder Richter pflegt zumindest zu beteuern, er gehe unparteiisch und objektiv vor, falls er "ungerechtes" Recht auf Befehl des Gesetzes anwenden muß. Das geschieht nicht nur bei den Despotien, sondern auch bei den Demokratien: Viele Länder verurteilen die "ungerechte" Bereicherung als unsittlich, verwerflich und ausbeuterisch; aber wenige Nationalgesetzgebungen ahnden sie; einige Gelehrte meinen, es würde genügen, die Strafgesetze korrekt anzuwenden, um die "ungerechte" Bereicherung aus der Welt zu schaffen; kaum jemand bestreitet, daß sie nicht gegen die Gerechtigkeit verstößt. Oft stehen Richter und Gesetzgeber Tatbeständen gegenüber, wo Werte in Konflikt geraten (S. 229). Die allgemeine Wohlfahrt kann Schadenersatz verlangen, wo es keine Schuld gibt. Den Armen wirksam zu helfen, bedeutet meistens, die Reichen zu benachteiligen (und nicht immer auf triviale Weise, sondern bis die Grenzen der Entstabilisierung und der Verfolgung): die Position der Reichen in der Massengesellschaft ist zerbrechlicher, als der kleine Mann auf der Straße sich vorstellt. Hart macht klar (S. 239): Wenn die allgemeine Wohlfahrt befehle, eine bestimmte Gruppe zugunsten einer anderen zu benachteiligen, begrenzt sich das "gerechte" Handeln des Richters oder des Gesetzgebers darauf, alle Beteiligten und Betroffenen anhören zu müssen, bevor die Entscheidung fällt. 6 Festgabe für Alois Troller

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Hart gibt außerdem (S. 224) zu, es bestünde die Möglichkeit der Gegenmoralen, die Gleichheit sogar als Prinzip zurückweisen und als ungerecht bekritteln. Die Philosophie Platos und Aristoteles rechtfertigt den Unterschied zwischen freien Menschen und Sklaven, genauso wie das Römische Recht. Es fehlt nicht an zeitgenössischen Denksystemen, welche die Ungleichheit verkündigen. In Südafrika untermauert man die Apartheid philosophisch und ethisch: "Es geht hier den Negern viel besser als anderswo ... ". Hart schreibt (S. 239), den Moralnormen kommen gewisse Eigenschaften zu, die sie von allen anderen Normen abheben: a) Wichtigkeit: Die Moral berührt immer Kernprobleme, Triviales ist ausgeschlossen, es handelt sich um Nahtstellen des Menschlichen. Die Moral läßt sich nur bedingt aber doch mit der Nützlichkeit vereinen. Absurdes, unbegründetes, primitives Verhalten kann man als moralisch wertvoll betrachten - auf dem Gebiet des Sexualverhaltens stoßen wir auf Musterbeispiele, bemerkt Hart -. b) Wandelimmunität: Niemand kann die Moral per Dekret verändern. Sie widersteht dem Willen jedes Machthabers, kennt keinen Gesetzgeber und keinen Richter. Die Moral verändert sich nur nach ihrer Eigendynarnik. Die Gesetzgebung beeinflußt sie, aber die Grenzen jeglicher gezielten Intervention bleiben eng und unberechenbar. Die verbreitete Praxis der Abtreibung, auch wo die Gesetze sie verbieten, ist ein gutes Beispiel dafür. c) Voluntaristische Verfehlung: Moralnormen übertritt der Mensch geflissentlich oder gar nicht. Wer die Moral bricht, muß sich dessen bewußt sein, um den Bruch überhaupt erst zu ermöglichen. Die "objektive" Verantwortung des Rechts ist bei der Moral unbekannt. Die Moral verzichtet nie auf die "mens rea" in ihren Urteilen. d) Moraldruck als Sanktion: Schuld, Gewissensbisse, Reuegefühle sind die Sanktionen der Moral. Sie wirken sich heftig aus, die Gesellschaft verstärkt sie mit Kritik, Verhöhnung und Verachtung, nicht selten wird der Sünder fürs Leben gebrandmarkt und verbannt. Oft hält sich heute der Einzelne an Individualmoralen variablen Inhalts (S. 250 ff.), oft leistet die Moral nüchterne Gesellschaftskritik und versucht, Präzepte der Rationalität durchzusetzen (Geburtenkontrolle, Solidarität mit den Armen und Leidenden, Selbsthilfe). Moralideale pflegt man zu loben, auch wenn man sie nicht teilt. Engagement, Opferwille, Aufrichtigkeit beeindrucken sogar den verbissenen Feind. Moralnormen muß der Mensch dagegen einhalten, ohne zu erwarten, daß die Mitmenschen oder das eigene Gewissen ihn deshalb auszeichnen (S. 251). Die Moral befaßt sich mit außerrechtlichen Normen, aber Recht und Moral beziehen sich des öfteren auf gleiche Verhaltensstandards, es entstehen rechtliche und moralische Pflichten. Das fällt auf, wenn es um die Minimalprinzipien geht, deren Respekt das Zusammenleben erfordert (Gewaltverbot, Ehrlichkeit,

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Wahrhaftigkeit, Berechenbarkeit). Wer tötet, den bestraft die Gesellschaft rechtlich und moralisch - die seltenen Ausnahmen bestätigen, wie ernst die Forderung ist-. Der Unterschied zwischen Recht und Moral besteht nicht in der primitiven Gesellschaft, die keine Sekundärnormen haben. In den modernen Gesellschaften liegt der Unterschied hingegen auf der Hand. Wichtigkeit, Wandelimmunität, mens rea und Moraldruck als Strafe bleiben dem Recht fremd zumindest in dem Maße, daß die Moral sie vorausschickt: Jemand, der inmitten des Meeres einen Mitmenschen ertrinken läßt, dem er unschwer hätte helfen können, hat wissentlich (mens rea) Wichtiges verbrochen; ihm wird die Schuld ewig plagen; kein Richter oder Gesetzgeber kann das ändern. Die Rechtsnormen behandeln nicht nur Wichtiges, sondern auch Triviales. Rechtsnormen sind nicht dem Wandel immun, man kann sie bewußt handhaben, mens rea (Bewußtheit des Verstoßes) ist nicht immer ausschlaggebend und oft absolut irrelevant. Gewissensbisse und Schuldgefühle haben mit den Strafen des Rechts nichts zu tun; die Sanktionen des Rechts sind materiell, meßbar. Die Moral kennt aber auch den Unterschied zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung. Wenn jemand einen anderen töten muß, um das eigene Leben zu verteidigen, ist das eine Rechtfertigung. Wenn jemand einen anderen bei einem Jagdunfall erschießt (S. 238/246), ist das lediglich eine Entschuldigung, die die moralische Verantwortung knapp ausschaltet. Seit altem pocht die Doktrin auf die Xußerlichkeit des Rechts und die Innerlichkeit der Moral. - Was bedeutet das? -: Jemand kann in gewissen Situationen rechtlich etwas verantworten, das er absolut nicht ahnt. Moralisch gilt das nicht, die Moral verlangt das Wissen (S. 245). Deshalb betont die Moral die Innerlichkeit. Ich hafte jetzt für die Schäden, die mein Vieh in Argentinien anrichtet, obgleich ich in der Schweiz wohne und keine moralische Verantwortung dafür trage. Auch wenn er sich zum Positivismus bekennt, läßt Hart Moderation walten, was die Polemik zwischen Positivismus und Naturrechtslehre betrifft (S. 255). Die Positivisten schärfen ein: Das Recht bleibt Recht, entspreche es der Moral oder nicht; der Inhalt des Rechts ist beliebig, der Gerechtigkeit oft gleichgültig, nicht selten sogar widersprechend. Die Naturrechtslehre verkündigt: Die Gesetze, die ein Naturrechtsminimum nicht erfüllen, sind kein Recht. Hart meint, es sei verfehlt, das als eine Kontroverse der Wissenschaft gegen den Aberglauben aufzufassen, wie viele Positivisten es tun. Die Rechtswissenschaft (S. 259/260), wie jede andere Disziplin, strebt an, die Zukunft ihres Gegenstandes vorauszusehen, wobei sie sich als Vergleichsmaßstab einen Optimalzustand als Ziel der Gesellschaft vorstellt. Hart denkt, daß darin keine Metaphysik läge. Gewisse Funktionen der Gesellschaft, nicht zuletzt biologische, vollziehen tatsächliche Werte, so daß jede Negation dieser Werte den Sinn der Wirklichkeit verzerrt und ihr Sein verleugnet. Solche Werte fördern das 6'

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Überleben; die Menschengruppe, die sie nicht achtet, geht selbst zugrunde. Hart bemüht sich, diesen Minimalinhalt, in knappen Prinzipien zusammenzufassen (S.268): 1. Verletzbarkeit: Jede Sozialgruppe muß die Möglichkeiten kontrollieren, welche die Menschen haben, einander gegenseitig zu schaden (Gewaltverbot). "Alle gegen alle" als Spielregel, übersteht keiner.

2. Approximative Gleichheit: Anders als die Nationen oder die Bienen sind die Menschen prinzipiell gleich, keiner kann, zumindest auf sich allein gestellt, andere eine lange Zeit unterjochen. Jene, die sich des Sozialsystems bedienen, und doch seine Einschränkungen brechen, muß das Recht bestrafen. 3. Beschränkter Altruismus: Menschen neigen spontan zur Kooperation und zum Streit. Ein Minimum an Kooperation garantiert jede Gesellschaft, sonst wäre jede Arbeitsteilung unmöglich. 4. Beschränkte Mittel: Da die Sachen, die der Mensch zum Überleben braucht, knapp sind, muß die Gruppe ihren Genuß regeln. Das Eigentum, wie wir es kennen, ist eine Regelung neben vielen anderen möglichen. Dazu gehören ebenso die Normen, die das Versprechen, die Verträge und die Austauschbeziehungen berechenbar machen. 5. Beschränktes Verstehen und beschränkte Willensstärke: Die Menschen kooperieren freiwillig im Zwangsystem der Gruppe (S. 273), weil sie einsehen, daß die Gruppe nur durch diese Kooperation das Überleben sichert und die Übertreter im Zaun hält.

Es handelt sich beim Minimalinhalt um Normen, welche die Menschen, ihre Güter und ihre Vereinbarungen beschützen. Diese Normen genügen bloß einem Mindestmaß und die abscheulichsten Diktaturen müssen sie genauso wie die Demokratien einhalten. Ohne sie existiert kein Sozialsystem. Die Frage läßt sich nicht umgehen: - Ist es die Moral oder sind es die Fakten, die sich selbst ihr biologisches Uhrwerk aufzwingen? Hart betont, es gebe böse Regierungen, große Übeltäter, wie Nazi-Deutschland und Südafrika. - Wie kann man diese grausamen Despotien von den moralischen Regimes abheben? -. Gewiß, Übel- und Wohltäter halten gleichermaßen den Minimalinhalt des Naturrechts ein, weil es ums Überleben geht. - Automatismen! - (S. 276). - Wo liegt dann der Unterschied zwischen Gutem und Bösem? -. Auf diese Frage will Hart antworten, indem er jene Prinzipienfestsetzt, die das Verhältnis zwischen Recht und Moral regeln. - Sieht er in diesen Prinzipien ein Werkzeug, um das Böse zu erkennen? -. Klar drückt sich der Oxford-Philosoph in dieser Hinsicht nicht aus: Er empfindet zwar die Prinzipien als wichtige Wahrheiten, aber warnt uns, daß es schaden und verwirren würde, sie als notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral etablieren zu wollen (S. 278). Mehr kommt Hart der Naturrechtslehre nicht entgegen.

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Hart listet folgende Prinzipien auf: 1. Macht und Autorität: kein Staat kann aus reiner Macht bestehen. Die meisten Bürger kooperieren freiwillig-spontan. Kein Staat kann dem Fehlen dieser blinden Kooperation standhalten. Der Generalstreik ist ein hervorragendes Beispiel. Er bricht jeder Regierung in kürzester Zeit das Rückgrat. Nur: es ist sehr schwierig, einen Generalstreik zu veranstalten. Dessen bewußt sind alle Gewerkschafter und alle Despoten dieser Welt. 2. Einfluß der Moral aufs Recht: Ein unmoralisches Gesetz fällt sofort auf, keiner kann es lange verheimlichen, auch wenn die Untertanen ihm duldsam gehorchen. Es besteht international die Forderung nach einem Recht, das sich mit der Moral deckt, wiewohl keine Einmütigkeit über den Inhalt dieser Moral herrscht. 3. Auslegung: Weder Auslegung, noch Anwendung des Rechts sind automatische Prozesse. Je wichtiger ein Fall, um so mehr muß der Richter entscheiden, zwischen verschiedenen Werten wählen, unparteiisch, vernünftig-engagiert, aufgeklärt, abwägen und ausgleichen. Nur die Moral kann die beteiligte Neutralität des Richters sichern. 4. Die Rechtskritik: (z. B. durch die Presse) Selbst Zwangherrschaften können sich der Kritik nicht entziehen; und sie wirkt, Ergebnisse bleiben selten aus. Die Moral wird zur kritischen Instanz des Rechtlichen. 5. Prinzipien der Legalität und Gerechtigkeit: Selbst verwerfliche Gesetze verwerflicher Regimes stehen unter der Kontrolle einer "inneren Moral" des Rechts. Sie müssen einsehbar sein, die meisten Menschen müssen ihnen gehorchen können, sie dürfen prinzipiell keine rückwirkenden Normen erhalten, wie grausam und willkürlich sie sonst sein mögen. - Ein schwacher Trost? -. Nicht nur. Die "innere" Sittlichkeit, ihre Einhaltung fungieren nicht selten als Zünder der Revolution. Die Despoten können nicht einmal die eigenen Gesetze dauerhaft respektieren, und die Politik der verbrannten Erde reicht nur soweit wie die Macht, die hinter ihr steht. 6. Rechtsgültigkeit und Widerstand: Das Gesetz, das gegen die Moral verstößt, bleibt doch Recht, ein unsittliches Recht. So Austin: " Die Existenz des Rechts ist eine Sache, dessen Vorteil oder Nachteil eine andere". Hart gesteht den moralischen Widerstand gegen das Recht zu, aber glaubt die Unmöglichkeit eines rechtlichen Widerstands gegen das Recht. Der Tyrannenmord verstößt gegen das Recht, daran glauben die Tyrannen und Hart. Für ihn sind Nazi-Deutschland und Südafrika Rechtsstaaten. Die Moral verhält sich strikter und verwandelt sich in eine kritische Instanz gegenüber dem Gesetz: Hart verleugnet Daseinsberechtigung jeder Moral, die das Prinzip" nulla poena sine lege" übertritt; der Staat soll niemanden bestrafen, dessen Taten früher als ihr Verbot erfolgten (S. 289 ff.). - Und die Hitler-Ära? -. Hart bespricht nur die Verurteilung kleinerer Vergehen jener fraglichen Zeit - zu den Kriegsverbrecherprozessen braucht er sich nicht zu äußern, weil sie seiner

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Konzeption gemäß die Frage rückwirkender Gesetze nicht antasteten: Er betrachtet Kriege und Revolutionen als soziale Erdbeben, die die Erkenntnisnorm gefährden. Die Kompromißbereitschaft Harts gegenüber der Naturrechtslehre hält sich in Schranken und berührt nicht das Sachliche.

Am Ende seines Werks befaßt sich Hart mit dem Völkerrecht (S. 293 ff.): das Völkerrecht habe keine Gesetzgebung, Gerichte, Wandels- und Anpassungsnormen, geschweige denn eine Erkenntnisnorm (S. 294). Da widerspricht Hart der Konzeption Kelsens, der die "Grundnorm" des Völkerrechts so formulierte: "Staaten sollen sich so verhalten, wie sie sich bisher verhalten haben". Hart kontert, daß die" Erkenntnisnorm" Kelsens jeglicher Bedeutung entbehrte und lediglich den status quo bestätige (sie sei deshalb überflüssig).

Für Hart setzt sich das Völkerrecht nur aus primären Rechtsnormen zusammen (S. 300). Ohne Erkenntnisnorm ist zwar ein Normensystem ausgeschlossen, aber das Völkerrecht ist ein Normenkomplex, wo der Internaspekt des juristisch Obligatorischen vorwiegt. Das heißt jedoch nicht, daß der Inhalt des Völkerrechts und der Völkermoral völlig übereinstimmten (S. 312 ff.) Auf internationaler Ebene wird der Unterschied zwischen Sittlichkeit und Recht beibehalten. Das Obligatorische des Völkerrechts drückt sich dadurch aus, daß die Staaten normenkonform handeln, einander Reparationen leisten und Repressalien als gewiß befürchten, wenn sie auf ihre Pflichten nicht achten (S. 302/326). Es fehlt aber nicht beim Völkerrecht an paradoxen Erscheinungen die im Staatsrecht keinen Platz fänden: Das Völkerrecht erkennt die Gewalt an, sogar wenn es darum geht, Übereinkünfte zu erzielen. Hart behauptet, ein Staat habe ein Volk, ein Territorium und ein Rechtssystem, das in einer Erkenntnisnorm wurzle, aber keine Souveränität - der Begriff der Souveränität sei halb-mystisch und halb unfaßbar -. Hart muß zugeben, daß einige Theoretiker einschärfen, das Völkerrecht sei nicht mehr als die Selbstverpflichtung eines Staates - wer anders dächte, verleugnete die Souveränität. Aber die Souveränität sei eine variable Größe, ein Maß der Unabhängigkeit und kein Heiligtum. Neue Staaten werden mit bestimmten Rechten und Pflichten geboren, die sich aus keiner Selbstverpflichtung ableiten lassen. Gleichfalls, wenn ein Staat sich neues Territorium aneignet, erhält er aus der Sachlage her neue Pflichten. Da hinke und wackle die Theorie der Selbstverpflichtung (S. 308), meint Hart. Hart teilt die These Benthams, den er als Erfinder des Völkerrechts feiert, daß das Völkerrecht dem Staatsrecht nach dem Inhalt, aber nicht nach der Form ähnelt. Hart hofft und wartet darauf, daß das Völkerrecht sich entwickle, Sekundärnormen erzeuge und die Einheit eines Systems erreiche, die den Normenkomplex entwirre und auflöse.

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IV. Kritik 1. Der Ausgangspunkt Harts läßt entscheidende Fragen offen: a) Welche Disziplin oder Disziplinen betreibt er in seinem Werk? b) Wie unterscheidet er die verschiedenen Disziplinen, die sich mit dem Recht wissenschaftlich befassen, und welche sind sie? c) Warum assimiliert er Recht und Rechtswissenschaft? Warum vermischt er das Recht als Gegenstand mit der Disziplin, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigt? d) Welche Strömungen der Allgemeinen Philosophie vertritt Hart? . Hinweise auf Wittgenstein unterstützen einige seiner Argumentationen, aber bequemen sich zu keiner Kohärenz. e) Er beteuert des öfteren, er wolle die Rechtsphilosophie fördern. Was versteht er dann unter Rechtsphilosophie? Ist sie sein Ziel oder seine Tätigkeit? Ich unterstreiche hier eine wissenschaftstheoretische Unzulänglichkeit des Anfangs, die sein Werk nirgends später nachholt, auch wenn Hart fest glaubt, den "Schlüssel zur Welt der Jurisprudenz" zu finden, und überzeugt ist, die "Grundfragen der Politischen Wissenschaft" restlos zu klären (S. 118, 140). Hart nimmt sich zuviel vor, wie eine einfache Aufzählung der Thematik es verrät. Er möchte die Verhältnisse zwischen Recht, Moral und Zwang ausleuchten, ein Werk der "Analytischen Jurisprudenz" schreiben, eine "Deskriptive Rechtssoziologie" entwickeln, das Recht als soziale Kontrolle erforschen, die Befehlstheorie Austins kritisieren, die Frage des Naturrechts erhellen und die Rechtsphilosophie fördern. Beim Lesen züngeln vorerst tausend Erwartungen auf; Lichtträume, die bald beim Erwachen in der Unmöglichkeit erlöschen. 2. Hart himmelt die Naturwissenschaften an: sie beschrieben sich selbst und ihre Gegenstände in ein paar Zeilen (S. 22 ff.). Das trifft nicht zu: Physik, Chemie und Biologie arbeiten immer an der Definition ihrer Grenzen und Gegenstände. Wir brauchen nur auf die Atomtheorie zu verweisen. Das Atom ist viel hypothetischer als die Grundnorm Kelsens.

3. Die Rechtsanalytik ist zwar ein fruchtbares Studium, wie Hart einschärft, und das Wort "Positivismus" ist tatsächlich zweideutig (S. 67), wie er demonstriert. Es stimmt ebenso, daß die Untersuchung der Worte die Worte und die Phänomene erhellt, wie schon Austin bemerkte und als Motto der Analytik gilt. Aber Hart fällt dem Fehler zum Opfer, dieses Motto zu übertreiben (S. 15/329), und will folgendes nicht einsehen: Gleiche Worte können verschiedene Sachen meinen und verschiedene Worte können gleiche Sachen meinen - mit allen Schattierungen und Kombinationen, die zwischen diesen Extremen liegen -. - Wo überkleistern die Worte relevante Unterschiede? -. - Was ist neu und was ist lediglich anders ausgedrückt? -. Diese Fragen sind mehr als gerechtfertigt, wenn Hart versucht, den Internaspekt des rechtlich Obligatori-

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schen, die Wichtigkeit des Unterschiedes zwischen Befehlen und Befugnissen, oder das Wesen der Erkenntnisnonn zu definieren (S. 142/350). - Inwiefern sind die Konsequenzen dieser Begrifflichkeit anders als bei Austin oder Kelsen? -. Magische F onneln sind Legion, aber nur die Wunder zeichnen den Zauberer aus. - Wird die Kröte zum Prinzen oder nicht? -. Wo scheiden sich die Geister? 4. Das Werk Harts leidet an den Mängeln seiner Tugenden, was Popularität betrifft. Er enthüllt den Rechtsbegriffin den ersten Seiten seines Buches: alles, was für den "gebildeten Menschen" und den "durchschnittlichen Juristen" Recht ist, ist auch Recht für Hart, und zwar (S. 13 / 27): a) Nonnen, die Verhaltensweisen bei Strafe verbieten oder gebieten; b) Nonnen, die Schadenersatz von denen verlangen, die Unrecht taten; c) Nonnen, die genau erklären, wie man ein Testament macht, und Verträge oder andere Vereinbarungen abschließt, welche die Berechtigten zu etwas verpflichten oder berechtigen; d) Gerichte, welche die Nonnen auslegen, und sagen, wann man sie bricht, und die Strafe oder den Schadenersatz bestimmen; e) Ein Gesetzgeber, der alte Nonnen abschafft und neue aufstellt (S. 293). Bis zum letzten - er wandelt die Fonnulierungen nicht einmal geringfügig ab - hält sich Hart treu an diese fünf Elemente. Freilich mußte der britische Jurist der Sechziger Jahre sich bestätigt fühlen: "Genauso wie ich denke, denkt man in Oxford ... " . Aber der Philosoph repliziert böswillig und doppelsinnig: " Im Westen nichts Neues ... " . - Wie lautet die Kritik? -. Mangel an Innovation 3 • 5. Es gelingt Hart nicht, die Kluft zwischen Quantität und Qualität theoretisch zu überwinden. Er fragt (S. 84): "Wieviele Haare muß ein Mensch haben, um kahl zu sein?", wenn es darum geht, herauszufinden, wieviele Mitglieder einer Gesellschaft sich regelmäßig auf eine bestimmte Weise verhalten müssen, damit man sagen kann, diese Verhaltensweise sei obligatorisch (S. 86). Aber die erste Frage antwortet weder auf die zweite, noch auf sich selbst. Es ist hier entscheidend, wo die Grenzen sind. Spaß beiseite: - Was sind die Grenzen der Kahlköpfigkeit? -. Wieviele Regelmäßigkeiten des Verhaltens erschaffen die Obligatorietät des Rechts und das innere Pflichtgefühl? -. Da Hart nicht das Quantitative als fließende Spezifikation der Qualität erfassen kann, verfehlt er Wesentliches: - Was differenziert die unwirksame, die heilende und die tödliche Dose eines Medikaments, wenn nicht die Qualität der Quantität? -. - Wo fängt der Internaspekt des juristisch Obligatorischen an? -. Qualität und Quantität gehören zusammen und keine ist Nebensache der anderen.

3 Selbst der Unterschied zwischen Intern- und Externaspekt wird von anderen übernommen. Vgl. Hart, Begriff des Rechts, S. 348.

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6. Hart behauptet, es gäbe einen Internaspekt des juristisch Obligatorischen, aber beweist uns nirgends seine Existenz. Existenz und Ausmaß des Internaspekts könnte nur eine empirische Untersuchung der Sozialpsychologie bestätigen oder widerrufen. Bis dahin bleibt die Ausführung Harts eine bloße Annahme, die sich aufnichts stützt. Bis dahin gilt genausoviel die totale Umkehrung seiner Annahme, die so lautete: Der Internaspekt - sich dazu verpflichtet zu fühlen, eine oder irgendwelche Rechtsnorm einzuhalten - fehle in unzähligen Situationen, vertusche die Angst vor dem Scharfrichter und seine Glaubwürdigkeit liefe unserer Alltagserfahrung entgegen - keiner würde sich auf sie verlassen, wenn Angst, Drohungen und Strafen verschwänden -. - Aus welchen Gründen folgt der Mensch einer Rechtsnorm? -: a) Er hält sie für gut, moralisch, gerecht, vernünftig (eine Wertaussage); b) Er hält sie für ungerecht, aber glaubt, das Gehorsam sei das geringere Übel; c) Er beugt sich dem Gesetz, weil er die Strafe befürchtet oder eine Belohnung erwartet. Ein rechtlicher Internaspekt - ein Internaspekt neben Angst, Moral oder Gier - gibt es keinen. Ich töte keinen Mitmenschen, weil es unmoralisch ist, weil ich Angst vor der Strafe empfinde oder weil es mir nicht nützt. Im Krieg schießen alle auf den Feind und vergessen seine Mitmenschlichkeit. - Wo liegt der Internaspekt? -. Wo bleibt der "gute Bürger" Harts, der Gesetz und Recht intern-gefühlsvoll respektiert? -. Ich kann hier nicht vermeiden, Hart die Abschweifung ins Metaphysische vorzuwerfen.

7. Hart stellt uns vor einen Scheinwiderspruch, wenn er einschärft: a) Ohne den Internaspekt der Rechtsnormen, ohne die Menschen, die ihn mittragen, gäbe es weder Recht noch Gesellschaft. b) Das Recht, die Gesetze existieren nur wegen gewisser Menschen, potentieller Verbrecher, die keinen Internaspekt aufbringen und alle Vorteile der Gesellschaft ausschlachten, ohne ihr zu dienen. Die Kombination dieser beiden Annahmen Harts versteckt eine Falle für den Kritiker: Wer bezweifelt, daß der Internaspekt existiere, wird beschuldigt, der quasi-verbrecherischen Gruppe der Internaspektlosen anzugehören. Grund allen Übels und allen Rechts. - Warum schalten wir nicht die Falle aus, die Hart uns unwissend-unbewußt legt, und zwar mit gl~ichgewichtigen Argumenten: Der Internaspekt existiert nicht. Das ist ein Glück, sonst könnten alle Kriegsverbrecher sich dessen bedienen. Der Internaspekt ist nicht mehr als eine pseudorechtliche Sondermoral der Unterwerfung gegenüber den Normen und der Widerstandverweigerung gegenüber dem Unrecht. Man muß den Gehorsam verantworten, sich die Angst und die Vorteile der Komplizenkonformität eingestehen. Der Internaspekt ist zumindest genauso falsch und unbegründet wie seine Gegenmeinung.

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8. Gewisse Grundwerte, die er nur halb ausdrückt, leiten das Rechtsdenken Harts: a) Die Erklärungskraft: Er zieht einer Theorie eine andere vor, weil diese angeblich mehr als jene erklärt (S. 118). Er nimmt Austin als Basis an, weil er das Recht mehr als alle andere erkläre, obgleich Hart wenig spezifiziert, welche "die anderen" sind und wo das" Bessere" Austins liegt. - Wer ist das Subjekt, dem etwas erklärt wird und wer schätzt den Erklärungswert ein?-. Darüber verrät uns Hart nichts. Er redet aber dauernd von theoretischen und praktischen Zwecken, die die Rechtstheorie entweder fördern solle oder zumindest nicht behindern dürfe (S. 295). - Eine Wissenschaftsmoran -. Daß diese axiologischen Elemente, die ungerechtfertigt, wenn auch nicht stillschweigend, bleiben, all sein Werk prägen und die Ergebnisse seiner Forschung vorausbestimmen, ist klar, aber er verdrängt systematisch jede Standortbestimmung. Auf ontologische Ansprüche: "Recht, Zwang und Sittlichkeit als das zu sehen, was sie sind" (S. 293), will Hart nicht verzichten. b) Der Utilitarismus: bewegt sich unmißverständlich im Hintergrund, wenn Hart betont, daß die Rechtstheorie dem Juristen dienen müsse, das Recht besser zu verstehen. Aber wer definiert, und wie und warum, daß etwas besser verstanden werde? . - Ragt hier nur das Pädagogische hervor, wie Hart im Vorwort schreibt? -. - Gibt es andere Leitkriterien? -. Alle Rechtstheoretiker glauben mit gutem Gewissen, das Recht "besser" zu erklären, aber das soll sich selbst keiner unterstellen, wenn es wie hier um den Kern des eigenen wissenschaftlichen Tuns und Treiben geht. Sonst stützt sich die Theorie auf die magische Kraft der Worte: Da ich es emphatisch sage, muß es so sein. Niemand wird Deutlichkeit und Nützlichkeit als wertvolle Eigenschaften für die Wissensmoral der Juristen verleugnen, das ist ja selbstverständlich, aber Hart will seine Theorie mit dieser moralischen Selbstverständlichkeit begründen, anstatt die Moral theoretisch zu untersuchen. Die Moral sehnt sich nach ihrer Theorie und nicht umgekehrt 4. 9. Hart verzichtet auf keine der Ansprüche des Rechtspositivismus, aber formuliert ihre Lesart um, so daß die Juristen das Wiederkehrende als neu im Alltag beherzigen können. Wenn Austin das Recht mit einem Banküberfall vergleicht (S. 334, 34/35), wenn Kelsen die Grundnorm als bloße Hypothese bar jedes Inhalts beschreibt (S. 350, 142 ff.), wenn Llewellyn behauptet (S. 3591 189), der Richter habe nicht nur das letzte, sondern auch das einzige Wort, interveniert Hart kraß mit einer beschönigenden Begrifflichkeit der Untertreibung: Kein Banküberfall. Es gibt Gesetzgeber, Richter, Befugnisse, ohne diese wäre das Recht undenkbar. Die Sanktion und der Zwang folgen der Übertretung. Die Grundnorm, Wurzel allen Staatsrechts, ist keine leere Hypothese, sondern eine Erkenntnisnorm, wo das Wirksame und das Obligatorische zusammenfließen, wo man die Gesetze schmiedet. In England: " Alles, was die 4

Wie Hart glaubt. Vgl. Hart, Begriff des Rechts, S. 288.

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Königin im Parlament erläßt, ist Gesetz" - die Königin verfehlt niemals, den Engländern zu imponieren - (S. 151). Die Richter erschaffen keine Normen, sondern wenden sie an, die Richter selbst sind eine Schöpfung der Rechtsnorm. Hart wie Kelsen versteht das Recht als die Emanation einer normativen Wurzel, einer Sollensquelle. Alles sieht jetzt so aus, wie der Jurist möchte, daß alles wäre. 10. Hart unterscheidet fünf Richtungen des Rechtsdenkens: a) Der nordische Realismus (S. 330, 23/24), b) Der amerikanische Realismus (S. 189), c) Die Befehlstheorie Austins (S. 35, 334 ff.), d) Der Normativismus Kelsens (S. 57, 341), e) Die Naturrechtslehre, deren reinste Version der Thomismus verkörpere (S. 217ff., 361, 216). Innerhalb des Positivismus bezieht Hart eine Position der Moderation und der kritischen Nachfolge Austins. Er vereinfacht allzusehr den Stand der Technik seiner Zeit. Das Entweder-Oder, Positivismus versus Naturrecht, hatte die Philosophie längst beiseite geschoben. Hart übersieht die Kippsituation der sechziger Jahre und gerät in eine theoretische Schaumschlägerei, die der verspäteten Geschichtlichkeit vieler Juristen entspricht. Daher die breite Zustimmung. " Das beste seit der Reinen Rechtslehre !", rief man damals aus. Gewiß. Daran kann man nichts rütteln: Hart vertritt einen Zweckpositivismus der Xquidistanz, wo die Juristerei einen konservativen Ruheplatz sorgfältiger Euphemismen erhält. 11. Die zentrale Kritik gegen Hart betrifft die Relevanz des Unterschieds zwischen primären Verpflichtungsnormen und sekundären Befugnisnormen, deren Einheit, so Hart, das Rechtssystem ausmachten. Hart pocht auf die Relevanz, weil der Unterschied angeblich "viel" erkläre. Daß das Recht Pflichten und Befugnisse kombiniert, ist eine uralte Wahrheit. die niemand braucht wiederzuentdecken. Daß es Rechtsnormen gibt, die den zwingenden Befehlen der Gesetze Bestimmtheit, Dynamik und Wirksamkeit verleihen, wußten bereits Austin, Kelsen und viele andere. Der Unterschied, den Hart betont. ist zwar entscheidend (jedermann hat Rechte und Pflichten, das Parlament verabschiedet Gesetze, der Richter urteilt), aber trivial und bekannt. Hart nimmt den Ausgangspunkt seiner Vorgänger, den niemand in Frage stellte, und will ihn in eine bahnbrechende Entdeckung verwandeln, als ob er sagte: " Der Schein trügt nicht, er ist das Recht. Alles, was glänzt, ist Gold" (S. 134, 118, 337). Eine Alchemie des Unmittelbaren. - Aber wer ist der Wirklichkeit näher, Austin oder Hart? -. Austin denkt, daß die Menschen leben und Verträge abschließen: Das Recht beschützt das Menschenleben mit zwingenden Befehlen, die das Töten verbieten, und beschützt die Verträge mit zwingenden Befehlen, die gewisse Förmlichkeiten verordnen - daraus ergeben sich Hinrichtung und Nichtigkeit als Sanktionen - (S. 340, 54, 76). Hart versteht dagegen Verträge, Testamente, Gerichte, Gesetzgeber, Mörder, Opfer und Königinnen cl la Kelsen, als Schöpfungen der Rechtsnormen, die einer Erkenntnisnorm entstammen. Die Wirklichkeit folgt viel eher der Konzeption Austins: die Gesellschaft, die Königinnen, Richter, Gesetzgeber, Mörder, Opfer und Vertragspartner, Recht und Unrecht, einschließt, erzeugt die Rechtsnormen und ihre Wandlungen

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(S. 93 ff.). Hart will die Pyramide umkehren, auf den Kopf stellen, aber da hatte schon Kelsen gründlichste Arbeit geleistet und keinen Platz für Neues freigelassen. Die Suche Harts nach theoretischem Raum schlägt fehl, bleibt unfruchtbar, sogar seine Erkenntnisnorm - trotz aller Anstrengung der Anmerkungen -läßt sich von der Grundnorm Kelsens kaum unterscheiden (S. 350). 12. In der klassischen Kontroverse Positivismus versus Naturrecht bekennt Hart Farbe für den Positivismus: "Rechtsnormen sind Recht abgesehen von ihrem Inhalt". Was Hart Minimalinhalt des Naturrechts nennt, betrifft die biologischen Voraussetzungen der Gesellschaft, um welche sich niemand zu kümmern braucht, weil sie spontan geschehen. Wären sie nicht da, dann gäbe es keine Gesellschaft. Merkwürdig ist nur s, wie Hart seine Parteinahme für den Positivismus rechtfertigt. Er meint, der scharfe Unterschied zwischen Normen und Werten - z. B. wenn ein Jurist den rechtlichen Charakter der HitlerGesetzgebung voll anerkenne (S. 287) - fördere Gerechtigkeit, Moral und Naturrecht "besser" als die Naturrechtslehre selbst. Es möchte darum scheinen, daß bei Hart das Ontologische vom Nützlichen abhängt. Sein moralisches Lob (S. 288 ff.) des Positivismus trägt einen gefährlichen Widerspruch in sich, der die ontologische Unzulänglichkeit seiner Lehre bloßlegt. - Warum gefährlich? -. Gutes, Böses und Nützliches können nicht das Sein des Rechts determinieren, weil sie selbst Seinsmodi sind. - Ist es zulässig, zu sagen: "Das ist, weil es nützt?" -. Alle Betrachtung verendet hier in einer kümmerlichen Silbenstecherei. Konfusion wütet frei, wenn der Leser nach den Fundamenten fragt. Die zwölf Kritiken ergeben sich zwanglos aus der Synthese - sie sind nicht die einzig möglichen, aber wohl schwerwiegend -. Ich möchte weder das Werk Harts an anderen Konzeptionen messen, noch seinen anekdotischen Gehalt hervorheben. Ich will aber klarstellen, daß Ausgeglichenheit und Moderation bei ihm nicht die engagierte Stellungnahme verhindern. Vielleicht die gewagteste (S. 279): - Können die Atomwaffen, wenn sie sich verbreiten, als Gleichheitsfaktor zwischen den Nationen gelten und dazu beitragen, daß das Völkerrecht seine Primitivität überwindet? -. Wiewohl wenige Zeilen lang, ist die fragende Antwort Harts abgerundet und extrem (S. 274 ff.): - Wenn alle Länder, auch die ärmsten, über Atombomben verfügten, würden nicht die Schwächen aller Völker verschwinden, weil irgendeines alle vernichten kann? Vierundzwanzig Jahre nach der ersten Auflage des " Rechtsbegriffs"6 ist dieses Thema heute offener und umstrittener als je zuvor. Nur eines steht bereits fest: Weder das Paradies des ewigen Friedens, noch der endgültige Krieg sind bis jetzt aufgeflammt; Armut und Atombomben haben sich vermehrt; und das Völkerrecht hat nichts an Primitivität verloren (S. 321). Eine kritische Synthese ist nicht die Symbiose zwischen Zusammenfassung und Protest, sondern vielmehr die harmonische Dialektik des Diversen und gegenseitig 5

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Hexengesetz 1944 noch gültig. Vgl. Hart, Begriff des Rechts, S. 286 ff. H. L. A. Hart, The Concept of Law, Oxford 1961.

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Unentbehrlichen. Wie Borges schon in seinem" Pierre Menard" erkannte 7 , sind Tadel und Lob Gefühlsäußerungen, die mit der Kritik nichts zu tun haben. Jedes Buch, das sein Gegenbuch nicht enthält, ist vollständig und unvollkommen. Verändert der Akt des Rechnens die Quantitäten? Die Topologie bejaht dies.

7

J. L. Borges, Gesammelte Werke, Bd. I, S. 112, München 1981.

Abstraktion versus Institution? Phänomenologie und Geltungsgrund des Rechts in der Frübphilosophie des jungen Hegel Von Raffaele De Giorgi, Salerno I Lecce

I. Wie wenige Autoren außer ihm, hat Alois Troller in seinem gesamten Lebenswerk, vor allem in seinen Arbeiten zur Rechtsphänomenologie und seinen theorievergleichenden Überlegungen zum Rechtsdenken aus bürgerlicher und marxistisch-leninistischer Perspektive, zur Ausarbeitung einer Theorie des Rechts beigetragen, die sich zugleich als eine Phänomenologie versteht. Sein Rechtsdenken trifft sich daher mit einer Auffassung des Rechts, die - wie mir scheint - der Theorie und Philosophie der Institutionen und des Rechts nicht allzu fern steht, wie sie sich im Anschluß an Hegel im Rechtsdenken der Modeme herausgebildet hat. Hierzu möchte ich im folgenden einen Beitrag leisten. In einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung! zum Rahmenthema "Recht und Institution" hat Emst-Joachim Mestmäcker 2 sich sehr eingehend mit den heutigen Möglichkeiten einer "Theorie der Institutionen und des Rechts" befaßt. Er hat dabei sehr treffend ausgeführt, daß die Gewährleistung juristischer Rationalität in der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung unter den heutigen Gegebenh,eiten und Umständen "zum rechtssoziologischen Prüfstein" werde, da die modeme Gesellschaft "keine kommandierenden Philosophen"3 anerkennen könne. Wenn ich mich im folgenden gleichwohl mit der Philosophie Kants und Hegels befassen werde, so geschieht dies selbstverständlich nicht etwa mit dem Ziel, aus den Prämissen des Philosophierens dieser großen deutschen Denker eine "normative Theorie des Rechts" abzuleiten, wie es manche Moralphilosophen heutzutage versuchen. Vielmehr geht es mir darum, an einigen Grundbegriffen der Philosophie Hegels die aktuelle Bedeutung seiner Theorie der Gesellschaft und des Rechts für die heutige Rechtstheorie nachzuweisen. Der Bezug auf Kant und auf die Kantsche Philosophie kommt im Hinblick auf mein Thema dadurch ins Spiel, daß der junge Hegel sich in 1 Recht und Institution. Helmut Schelsky-Gedächtnissymposion, Münster 1985, hrsg. von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster, Berlin 1986. 2 Schelskys Theorie der Institution und des Rechts, ebd., S. 19-31. 3 Ebd., S. 30.

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seinem Frühwerk recht kritisch mit den Prämissen des Kantschen Philosophierens und seinen Konsequenzen für die Entwicklung der Fachwissenschaften, insbesondere derjenigen des Rechts, auseinandergesetzt hat, indem er dessen Art zu philosophieren als "abstrakt" bezeichnete. Ich werde im folgenden den Nachweis führen, daß eine kritische Auseinandersetzung mit den einschlägigen Auffassungen Kants und Hegels aktuelle Relevanz für die Konzeption einer modernen Theorie des Rechts besitzt. Im Hinblick auf den "Abstraktionsprozeß", um den es auch mir im folgenden geht, hat Mestmäcker an zentraler Stelle mit Grund darauf hingewiesen, daß die Problematik des Abstraktionsprozesses in der rechtlichen "Regelbildung" schon "in der Formalität der Kantschen Ethik und Rechtstheorie voll formuliert" worden sei. Sehr treffend führt Mestmäcker hierzu aus 4 : "Diese Formalität, d. h. das Abstrahieren von Zwecken, Plänen und Motiven dessen, mit dem ich kooperiere, ist eine praktische Notwendigkeit und geradezu eine Voraussetzung dafür, daß man überhaupt geregelt miteinander umgehen kann. Dies ist ein ganz elementarer Punkt mit Blick auf die Gesetzmäßigkeiten der Regelbildung im Recht". Ich halte dies für eine völlig zutreffende Charakterisierung der rechtlichen Regelung, doch geht es mir darum, im einzelnen zu klären, was unter "Abstraktion" in der Rechtsauffassung des jungen Hegel zu verstehen ist. Ich werde bei der Klärung dieses Problems in fünf Schritten vorgehen: 1. Zunächst werde ich mich mit dem Frühwerk des jungen Hegel auseinandersetzen, das eine detaillierte Kritik an Kant und an den Natur- und Vernunftrechtslehren enthält. 2. Sodann werde ich in knapper Form die Hegeische Argumentationsweise darlegen, wie sie in seinen Werken bis 1806 vorzufinden sind. Dabei werde ich meine Überlegungen auffolgende Grundbegriffe beschränken: Abstraktion, Anerkennung, Freiheit, Negativität, die mir ermöglichen sollen, auszuführen und zu beweisen, daß viele Kritiken des Hegeischen Denkens sich auf ein Mißverständnis eben dieser Begriffe gründen und sich eher auf die Hegeische Rechts- und Staatsauffassung beziehen, wie sie in den "Grundlinien der Rechtsphilosophie" dargelegt wurden, ohne Sinn und Tragweite des Frühwerks Hegels Rechnung zu tragen. 3. Im Rahmen dieser Überlegungen werde ich versuchen, die Aktualität der Umrisse des jungen Hegel für den Aufbau einer modernen Rechts- und Gesellschaftstheorie zu erläutern sowie den Einfluß, den die Auffassung des frühen Hegel auf die Rechts- und Sozialphilosophie ausgeübt hat.

4

Ebd., S. 97.

Abstraktion versus Institution?

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11. Beschäftigt man sich mit der HegeIschen Rechtsauffassung, so hat man meistens die Konstruktion der "Grundlinien der Rechtsphilosophie" vor Augen. Man übersieht, daß im gesamten Hegelschen Werk mehrfache Schichten der Reflexion über Recht, mindestens fünfS, vorhanden sind und daß die Zwecke, die der Philosoph dabei verfolgte, in den jeweiligen Aufbauphasen seines philosophischen Systems verschiedenartig waren. Dabei verliert man aus den Augen, daß während im Jugendwerk das Recht auf etwas rein Formelles und Abstraktes reduziert wird, es im Spätwerk als "etwas Heiliges überhaupt" und als "das Dasein des absoluten Begriffs, der selbstbewußten Freiheit" erfaßt wird 6 . Um diesen Differenzen Rechnung zu tragen, erscheint es mir angebracht, auf die Gründe hinzuweisen, die die ungleiche Stellung des Rechts im System rechtfertigen, sowie auf die unterschiedliche Relevanz, die Hegel dem Recht zuschreibt. Nach Hegel gibt es so viele Rechtsformen und daher - wie wir heute sagen würden - so viele Funktionen des Rechts, wie Entfaltungsebenen der Idee der Freiheit existieren 7 • Die selbstbewußte Freiheit verwirklicht sich nur durch das Recht des Staates oder besser: durch das Gesetz im Staate. Im Staate äußert sich die Wirklichkeit der sittlichen Idee. Sittlichkeit drückt die organische Ganzheit eines Volkes aus, die Allgemeinheit seiner Merkmale, die Geschlossenheit eines allgemeinen sozialen Systems, innerhalb dessen die Individuen Teile des Ganzen sind, das in ihnen lebt. Als einzelne dagegen - atomistisch verstanden - sind die Individuen Besonderheiten, Abstraktionen, wie Hegel sagt; außerhalb der sittlichen Totalität erfahren sie eine abstrakte Freiheit, die durch ein ebenso abstraktes Recht geregelt wird. Hier heißt abstrakt etwas Besonderes, daher Privates; nach Hegel ist die Besonderheit Negativität eben deswegen, weil in ihr sich die Negation der Sittlichkeit äußert oder, wie es Hegel formulieren würde, die Sittlichkeit in ihrem Außer-sieh-sein.

5 Etwa: (1) System der Sittlichkeit, 1803, in: Jenaer Schriften, hrsg. v. G. Irrlitz, Berlin 1972, S. 429-520; Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, 1803, ebd., S. 337 -427; Jenaer Systementwürfe I, 1803-1804, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, Hamburg 1975; Jenaer Systementwürfe III, 1805-1806, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, Hamburg 1976; (2) Philosophische Propädeutik, 1808 ff., in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1970 ff., S. 9-70; (3/4) Enzyklopädie 1,1817, Enzyklopädie 2,1827,1830, in: Werke, Bd. 8-10; (5) Grundlinien der Rechtsphilosophie, 1821, in: Werke, Bd. 7. 6 Grundlinien der Rechtsphilosophie, § 30. 7 "Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit hat ihr eigentümliches Recht, weil sie das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist", in: Grundlinien der Rechtsphilosophie, § 30, Anm.

7 Festgabe für Alois Troller

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Wird von Hegel im vollendeten System das Recht als Recht der konkreten Freiheit verstanden, so wird es im Frühwerk wesentlich als Recht der abstrakten Freiheit gesehen; herrscht im vollendeten System die Funktion des öffentlichen Rechts vor, so ist im Frühwerk hauptsächlich das Privatrecht Gegenstand der philosophischen Reflexion. In der Phänomenologie des Geistes 8 bezeichnet Hegel als Rechtszustand die Übergangszeit, die mit der Auflösung der antiken Sittlichkeit, also mit dem Christentum anfängt und mit der Aufklärung und der französischen Revolution endet. Die Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist eben in diesem Rechtszustand zu finden, indem die soziale Kommunikation zwischen einzelnen unabhängigen Individuen erfolgt: nach Hegel zwischen zufälligen, daher abstrakten Personen. Nachdem sich die antike Sittlichkeit aufgelöst hat, wird die Zerrissenheit der einzelnen Individuen zum Merkmal, welches der modernen Gesellschaft zugrunde liegt. Ihrerseits aber sind die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Kommunikation durch die Existenz eines formellen Systems der Verhältnisse gegeben, welches die Privatsphäre des einzelnen gegenüber dem anderen abgrenzt. Dieses System ist das moderne Recht. Hegels Interesse zielt darauf, die zwischen Recht und Sittlichkeit bestehende Spannung darzustellen, anders gesagt, darauf, die in der modernen Gesellschaft vorhandenen widersprüchlichen Merkmale sowie die Anstöße im Sinne ihrer Aufuebung aufzuzeigen. In der Spannung zwischen Recht und Sittlichkeit wird das Recht fast ausschließlich auf das Privatrecht reduziert: auf das Recht der abstrakten Personen. Worum es uns heute geht, ist nicht so sehr die Aufuebung der Spannung innerhalb des Hegeischen Systems, sondern vielmehr die Funktion zu verstehen, die das Recht nach Hegel in der modernen Gesellschaft ausübt und seine Kritik der naturrechtlichen Auffassungen, des Gesellschaftsvertrages und der Kantschen politischen Philosophie. Diese Auffassungen hatten die Idee des Rechts verabsolutiert: Sie hatten zu einer Idee der Vernunft das gemacht, was lediglich eine historische Daseinsform in der Phänomenologie des Geistes darstellt. Daher die Hegelsche Kritik. Ich werde in knapper Form bei diesem Punkt verweilen, dann werde ich die Funktion des Rechts in Betracht ziehen, wie sie sich aus der geschichtlichen Analyse Hegels ergibt. UI.

Kant hatte als "die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung" die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft angesehen 9 • Die Natur- und Vernunftrechtslehre betrachtete das Recht als ein Werke, Bd. 3, S. 355 ff. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: 1. Kant, Werkausgabe, Frankfurt a. M. 1981, S. 39. 8

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alleiniges, einheitsstiftendes System der gesamten Gesellschaft und schrieb dem Recht die Funktion zu, die zwischenmenschlichen Beziehungen aufgrund von allgemein gültigen Vernunftsprinzipien zu regeln. Das Recht wurde somit zugleich zu einer universellen Kategorie, aber auch zu einem Horizont, der sich zwischen Vorsozialität und Außer- bzw. Übersozialität erstreckt. Angeborene Rechte wurden als dem Individuum anhaftend, unabhängig von der Anerkennung durch die gesellschaftliche Organisation betrachtet, genauso wie man über die Sozialität die Herstellung einer allgemein-rechtlichen Gemeinschaft für notwendig hielt. Der Gesellschaftsvertrag wurde entweder als Grund der Autorität des Staates betrachtet oder als rationale und daher unerläßliche Hypothese, als Bedingung der Möglichkeit einer Gesellschaftsorganisation durch das Recht. Ausgangspunkt dieser politischen Philosophie war stets das Individuum, welches als Träger sowohl von Bedürfnissen als auch von Rechten betrachtet wurde, als Inhaber einer Vernunft, die den Optimismus und die Sicherheit in bezug auf Herstellung gerechter, gesellschaftlicher Umstände ermöglichte. Der junge Hegel teilt weder diese Perspektive noch diesen Ausgangspunkt, noch plädiert er für den Optimismus der Vernunft, er verwirft die jener Theorien zugrundeliegende Idee der Vernunft. Er nimmt einen anderen Ausgangspunkt auf, welcher ihm die Möglichkeit verschafft, die naturrechtliche GrundeinsteIlung als rational unangemessen zu kritisieren. Bereits 1802 erarbeitete er die Idee der sittlichen Totalität: die absolute sittliche Totalität ist nichts anderes als ein Volk 10 • Außerhalb dieser Totalität existiert nur das abstrakte Individuum, die zufällige Person. Volk ist nicht, wie Kant sagte, "eine Menge von Menschen" 11. Volk ist ein organisches Ganzes, das unmittelbar in seinen Sitten, in seinem Geist verschmolzen ist. "In der Sittlichkeit ist also das Individuum auf eine ewige Weise; sein empirisches Sein und Tun ist ein schlechthin allgemeines; denn es ist nicht das Individuelle, welches handelt, sondern der allgemeine absolute Geist in ihm." 12 Der rationale Wille des Staates drückt sich im Volksgeist aus. Von dieser Perspektive her wird die Idee einer freiwilligen Vereinigung der Individuen im Staat unangemessen, um die Entstehung des Staates zu begründen bzw. zu erläutern. Andererseits kann der allgemeine Wille, d. h. der vernünftige Wille nicht als Ergebnis der Zusammenkunft der einzelnen freien Willen betrachtet werden, denn er ist diesen vorgegeben. Vor dem Staat und außerhalb des Staates sind jene freien Willen nur Besonderheiten, nur Abstraktionen. Dadurch, daß die Vernunftrechtler als Ausgangspunkt ihrer Gesellschaftsphilosophie die abstrakten Individuen aufgenommen hatten, deren Verhältnisse durch das Privatrecht geregelt sind, werden sie gezwungen, die Organisation des Staates auf der 10 11 12

7"

Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, S. 382. Rechtslehre, § 43, in: Werkausgabe, Bd. VIII, S. 429. System der Sittlichkeit, S. 480.

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Grundlage des Privatrechts zu erklären. Sie dehnen so sehr die Kategorien des Privatrechts aus, daß sie als Grundlage des Staates das privatrechtliche Prinzip par excellence aufstellen: den Vertrag. Es handelt sich um eine erhabene Fiktion, die nach Hegel "die Form eines untergeordneten Verhältnisses" hat, in die sich die "absolute Majestät der sittlichen Totalität" eindrängt 13 • Genau so wie der Naturzustand nicht das Ergebnis der reinen Vorstellung ist, indem er den wirklichen Zustand der Individuen außerhalb der staatlichen Organisation darstellt, rührt die Dekadenz der modernen Staaten aus der Tatsache, daß die rechtliche und politische Verwaltung, aufgrund welcher sie regiert werden, nach privatrechtlichen Prinzipien gestaltet ist. Sittliche Totalität und Volksgeist jedoch dürfen nicht im Sinne der historischen Rechtsschule verstanden werden 14. Sie bezeichnen nicht den lebenden Geist einer gesellschaftlichen Gemeinschaft, die ihr Kulturgut ständig reproduziert, die sich der Erstarrung dieses Kulturgutes durch die Kodifikation und den Eingriff des Staates widersetzt. Die sittliche Totalität ist unmittelbar eine staatlich organisierte Gemeinschaft und die Staatsgewalt äußert sich durch die Gesetze. Dem Irrationalismus der historischen Rechtsschule, die die Vergangenheit als Erfahrungshorizont der Gegenwart betrachtete, und dem Rationalismus der Aufklärung, die die Vernunft als universelle Leitidee oder als Leithypothese für die Herstellung von gerechten Gesellschaftszuständen betrachtete, setzt Hegel die objektive Vernunft entgegen, die sich in den geschichtlichen Institutionen äußert. Diese Vernunft beschreibt ihre Behauptung sowie die Durchsetzung durch geschichtliche Institutionen. Auf diese Weise rekonstruiert Hegel in seinem System den Rationalisierungsprozeß des sozialen Lebens. Das Recht ermöglicht erst einen solchen Prozeß. Die Perspektive Hegels ist zugleich eine erkenntnistheoretische und geschichtlich-systematische. Sie ermöglicht Hegel nicht nur, die Auffassung der historischen Rechtsschule zu kritisieren mitsamt ihrer Entgegensetzung gegen die Kodifikationsprinzipien, sondern auch die Differenz zwischen Naturrecht und positivem Recht aufzuheben. Die Differenz zwischen den Verwirklichungsstufen des Rechts kann sich nur auf die einzelnen Bestimmungen der Freiheit beziehen, die jeweils ihr eigenes Recht besitzen. Über dem positiven Recht und über dem Staat gibt es nur das Urteil der Geschichte. Die philosophische Reflexion Hegels bewegt sich stets auf zwei Ebenen, die sich laufend verflechten und gegenseitig voraussetzen: Die eine ist die Ebene der systematischen Konstruktion, die andere ist die Ebene der geschichtlichen Entfaltung. Die Geschichte ist Phänomenologie des Geistes, genau so wie die logische Ebene des Systems Züge der geschichtlichen Entwicklung darstellt. Der Grund unseres Interesses an Hegels Denken besteht eben darin, daß seine frühen Systementwürfe, indem sie darauf abzielen, die Spannung zwischen Recht und Sittlichkeit darzulegen, uns eine tiefgreifende Analyse der modernen

13

14

Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, S. 416. Vgl. R. De Giorgi, Wahrheit und Legitimation im Recht, Berlin 1980.

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Gesellschaft anbieten und indem sie eine Darstellung der sich in den geschichtlichen Institutionen äußernden objektiven Vernunft versuchen, uns eine Betrachtung der modernen Gesellschaft aus evolutionistischer Perspektive vorlegen. Im Gegensatz zu Schülern und Apologeten des Hegeischen Denkens, die die bedeutendste Leistung Hegels in seinen systematischen Bemühungen sahen und die stets darum bemüht waren, das System wiederzubeleben, können wir vielmehr behaupten, daß die von Hegel betriebene geschichtliche Analyse und seine Anstrengung, die Entstehung der modernen Gesellschaft zu erfassen, uns als eine große Errungenschaft des modernen Denkens geblieben ist. In dem konfusen frühen Systementwurf ist das System noch nicht umrissen, es sei denn in der Art von Versuchen, die ständig revidiert und neu gebildet werden 15 • Im Rahmen dieses formlosen Materials, welches zum großen Teil nicht für diese Veröffentlichung gedacht war, profiliert sich die eigentliche Form des modernen Rechts, d. h. wird die Struktur eines Systems der gesellschaftlichen Kommunikation umrissen, welches das Moment der geschichtlichen Entwicklung auszeichnet, das Hegel als Rechtszustand definierte. IV.

Der junge Hegel erfaßt das Recht als Ergebnis des Kampfes um Anerkennung. Anerkennung heißt hier nicht etwa Konsens oder Zustimmung, sie ist vielmehr Ergebnis eInes Kampfes, an dessen Ende die Individuen sich als Personen anerkennen, d. h. die Individuen wiedererkennen, daß die gesellschaftliche Kommunikation nur möglich ist, wenn sich zwischen den gegenseitigen Besonderheiten eine Vermittlungsform herstellt, aufgrund derer die Einzelheit zugleich behauptet und negiert wird. Jede Einzelheit tritt in die Kommunikation ein als eine alles andere ausschließende Einzelheit; sie kann sich aber nur behaupten, wenn sie sich selbst als vernünftig setzt und wenn sie auch die anderen Einzelheiten als vernünftige, d. h. als Personen anerkennt. Versuchen wir, in knapper Form die komplexe und nicht immer vollständige Argumentation Hegels zu rekonstruieren. Die Beziehung, die die Menschen untereinander eingehen, ist nach Hegel eine praktische, reale Beziehung. Der einzelne erscheint dem anderen durch die Vermittlung einer Äußerlichkeit, eines Gutes, eines Habens. "Es ist aber das Gut des einen; die Beziehung mehrerer darauf ist eine negative, ausschließende."16 Die einzelnen beziehen sich aufeinander als ausschließende Totalitäten. Sie müssen sich gegenseitig anerkennen. Aber um sich anerkennen zu können, müssen sie einander verletzen; sie müssen sich in ihrem Besitz gegenseitig stören. Indem der einzelne seinen Besitz behauptet, behauptet er seine Negativität. Er erscheint dem anderen als ausschließende Negativität. Die Sache, Gegenstand des Besitzes, ist der Sinn 15 16

s. insbesondere die Jenaer Systementwürfe I, IH. Jenaer Systementwürfe I, S. 308.

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dieser Negativität. Die einzelnen sind somit "gegeneinander als negative, absolute Einzelheit, Totalität" 17. Dieses Anerkennen bedeutet zugleich, sich als "Totalität des Ausschließens"18 und als Totalität der Einzelheit anzuerkennen, da jeder sich selbst ganz in die Sache setzt. Die Frage, auf die Hegel eine Antwort suchte, ist hochkomplex: Er sieht, daß der einzelne sich selbst nur behaupten kann, wenn er sich negiert, oder wie Hegel selbst sagt: daß die Einzelheit zugleich gesetzt und aufgehoben wird. Hegel versucht hier, eine der Paradoxien des modernen Rechts zu erfassen, und dabei die Art und Weise, wie das Recht sich von diesen Paradoxien befreit, zu erklären. Dasselbe Problem hatte sich schon Puchta gestellt. Betrachten wir nun die HegeIsche Lösung. Das Verhältnis, schreibt Hegel, birgt zwei unmittelbare Konsequenzen in sich: die erste besteht darin, "daß jeder die Totalität des anderen negiert", da jeder sich als Totalität der Einzelheit behaupten will. Die zweite Konsequenz besteht in folgendem: will ich mich anerkannt wissen, so muß ich mich als negativ setzen, d. h. ich muß die Totalität meiner Einzelheit autbeben. Hegel faßt diese Dialektik folgendermaßen zusammen: "indem ich mich als Totalität der Einzelheit setze, hebe ich mich selbst als Totalität der Einzelheit auf; ich will anerkannt seyn in dieser Extension meiner Existenz, in meinem Seyn und Besitze, aber ich verwandle diß darein, daß ich diese Existenz autbebe, und werde nur als vernünftig anerkannt"19. Das gesamte Verhältnis löst sich im Bewußtsein auf, nämlich in dem Bewußtsein eines absoluten Widerspruchs: "Dies Anerkennen geht also darauf, sich als Totalität der Einzelheit für den anderen zu erweisen", "aber in diesem Realisieren hebt die Totalität der Einzelheit sich selbst auf'20. Das Verhältnis ist formal und negativ. Aber gerade der negative Charakter des Verhältnisses läßt es zu einem idealen allgemeinen Verhältnis werden. Dadurch ist auf der Ebene der Negativität die Einzelheit einerseits "absolute Einzelheit, Unendlichkeit, unmittelbares Gegenteil ihrer selbst"21, andererseits ist "die Einzelheit absolut gerettet"22. Aber dieses Retten der Einzelheit entsteht durch den absoluten Widerspruch der Anerkennung: Es ist formal, negativ, abstrakt. Die wichtigste Konsequenz der gesamten Dialektik der Anerkennung ist jedoch die folgende: Im Anerkennen ist der einzelne "nicht mehr in seinem unmittelbaren Dasein; zwischen sich und dem anderen hat sich die Vermittlung des Formalen, die Vermittlung des Aufgehoben-seins, gebildet. Der einzelne "ist rechtlich im Anerkennen" folgert Hegel. "Dies Anerkennen ist das Recht."23 Ebd., S. 309. Ebd., S. 310. 19 1. C. 20 Ebd., S. 312. 21 Ebd., S. 313. 22 Jenaer Systementwürfe III, S. 215. 17

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V. Die vom jungen Hegel entwickelte Dialektik der Anerkennung kann, modern gesprochen, als eine erkenntnis- und wissenschafts theoretisch reflektierte Theorie von Recht und Gesellschaft begriffen werden, die das Recht, wiederum modern formuliert, institutionen- und system theoretisch deutet. Die erste Bemühung Hegels besteht darin, den geschichtlich-gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang des Rechtlichen zu rekonstruieren. Er sieht, daß dieser Zusammenhang erst durch die Aufhebung der Unmittelbarkeit in den sozialen Verhältnissen ermöglicht wird. Es handelt sich dabei um ein typisches Merkmal der modernen Gesellschaft. Diese Gesellschaft ist durch das "Auseinanderlegen des Concreten", durch die Zerrissenheit, durch die Trennung zwischen den Subjekten charakterisiert. Seine Empfänglichkeit in bezug auf Anstöße der englischen Sozialphilosophie führt Hegel dazu, als einer der ersten einzusehen, daß die Möglichkeit der gesellschaftlichen Kommunikation von der Möglichkeit abhängt, eine Ordnung der sozialen Handlungen zu schaffen, die sich auf den Ruinen der antiken Sittlichkeit herstellt. Selbst wenn der junge Hegel sich mit der Frage nach der Struktur der sozialen Handlung nicht konfrontiert, stellt er sich gewiß die Frage: Wie ist soziale Ordnung möglich, oder noch genauer: wie ist Gesellschaft überhaupt möglich, wenn die antike Sittlichkeit sich aufgelöst hat. Die Antwort lautet: Es ist notwendig, sich die Existenz von Institutionen in ihrem Prozeßcharakter vorzustellen, nämlich die Generalisierungsprozesse der Verhaltenserwartungen. Solche Prozesse ermöglichen das, was ursprünglich sehr unwahrscheinlich war, nämlich, daß ein Konfliktzustand sich in einen Zustand verwandelt, in dem die einzelnen ihre Besonderheit aufheben und auf die Durchsetzung ihrer unmittelbaren Zwecke verzichten. Hegel geht von einer Konflikttheorie der Gesellschaft aus und sieht im Recht ein soziales Handlungssystem, das in der Lage ist, gegenseitige Verhaltenserwartungen herzustellen und zu stabilisieren. Dieses System besteht aus auf Dauer gestellten Verhaltenssynthesen, die eine Entlastungsfunktion den einzelnen gegenüber ausüben. Die einzelnen werden von der Notwendigkeit entlastet, sich gegenseitig verletzen zu müssen, um sich gegenseitig behaupten zu können. Es ist eben diese Entlastungsfunktion der institutionalisierten Verhaltensweise, die den Konflikt vermeiden hilft. Die Funktion des Konflikts wird durch die Institutionalität der Verhaltenserwartungen versöhnt und aufgehoben. Institutionalität bedeutet hier Negation des Konkreten. Ist aber der Konfliktzustand konkret, so stellt sich demgegenüber die Institution als Abstraktheit, als Vernünftigkeit dar. Diese Vernünftigkeit ist jedoch ihrerseits völlig andersartig als diejenige, die dem Vernunftrecht eignet: Sie ist Ergebnis eines Kampfes, des Kampfes um die Anerkennung, wie es oben ausgeführt wurde. Diese Vernünftig-

23

Jenaer Systementwürfe I, S. 323.

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keit leitet sich aus der Notwendigkeit einer Vermittlungsfunktion her, die gegenseitige Erwartungssysteme herstellt und generalisiert. Sich anerkennen heißt also, die Unerläßlichkeit des Verhaltens abzusondern und zu verselbständigen, und sich daher als abstrakte Personen anzuerkennen. "Das Recht ist das Verhältnis der Menschen, insofern sie abstrakte Personen sind", schreibt Hegel in der Philosophischen Propädeutik 24 • Und in den Grundlinien der Rechtsphilosophie führt er aus: "Die Abstraktion ist zu einer Bestimmung der gegenseitigen Beziehung der Individuen aufeinander"25 geworden. Ohne Einsatz der Vermittlungsfunktion von Institutionen sind die Individuen überhaupt nicht in der Lage,. gesellschaftlich zu handeln. In diesem Sinne erkennt Hegel den Primat des Rechts in der Konstitution der modernen Gesellschaft wieder. Was für uns den Ansatz Hegels besonders interessant macht, ist die Tatsache, daß hier eine Konflikttheorie Ausgangspunkt der Theorie des Rechts wird und damit eine sehr realistische Sicht der Probleme, die sich weit über die bloße Abstraktion sogenannter Vertragstheorien alter und neuer Prägung erhebt. Hegel favorisiert dabei - modern gesprochen - eine institutionalistische Rechtsauffassung, die Konflikte in der Gesellschaft nicht schlechthin als Ordnung störend oder Ordnung zerstörend ansieht, sondern sie produktiv nutzbar zu machen sucht: Konflikte werden zum Anlaß genommen, mit Mitteln des Rechts die institutionelle Lösung oder Regulierung dieser Konflikte zu planen und bereitzustellen. Auf der anderen Seite kann eine friedensstiftende Funktion solcher Institutionen nur dadurch gewährleistet werden, daß der Gebrauch der Freiheiten aller einzelnen in diese objektiven Rechtsstrukturen eingebaut wird. Somit interpretiert Hegel zugleich den Rationalisierungsprozeß der modernen Gesellschaft, der für ihn, ähnlich wie später für Weber, in der Säkularisierung der Vernunft besteht. Für den jungen Hegel bedeutet Vernunft dasselbe wie Abstraktion, Negation der Unmittelbarkeit, Aufhebung der konkreten Einzelheit. Vernunft bedeutet also Bewußtsein der Freiheit in der Äußerlichkeit, d. h. in der Anerkennung des anderen als Person. Hier heißt ihrerseits Abstraktion, daß abgelöst von bestimmten geschichtlich gesellschaftlichen Anlässen der Entstehung von Recht, in abstrahierender, d. h. im wörtlichen Sinne: abgezogener Form, Konfliktlösungsmechanismen mit Mitteln des Rechts auf Dauer gestellt werden. Diese Abstraktion führt zu einem, wie Hegel in seiner Rechtsphilosophie bereits in der Abschnittsüberschrift ankündigt, "abstraktem Recht", das - einmal auf Dauer gestellt - die institutionellen Möglichkeiten vernünftiger Konfliktlösungen bereit hält und nur noch der Konkretisierung in Einzelfällen bedarf, um den jeweiligen Anwendungssituationen angepaßt zu werden. Abstraktion meint aber auch, daß das Recht von seiner Struktur her Indifferenz gegen Bestimmtheiten darstellt, oder wie Luhmann § 182. s. § 192.

24 S. 25

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sagen würde, unschädliche Differenz. Das impliziert, daß die "Idee der Konkretisierung im Recht"26, zum Scheitern verurteilt ist. Selbst die Idee der Konkretisierung, wie sie im System des späten Hegel zu finden ist, ist gescheitert. Es existiert bereits eine Geschichte der Interpretationen des Hegeischen Denkens. Es war nicht meine Absicht, noch ein Steinehen ins Mosaik dieser Interpretationen einzubauen. Ich habe nur versucht, die Aktualität der philosophischen Reflexion des jungen Hegel darzustellen, indem ich sie als einen Denkzusammenhang dargelegt habe, der sich vom vollendeten System der Philosophie Hegels unterscheidet. Daher habe ich in theoriegeschichtlicher Perspektive die frühe Hegeische Reflexion über das Recht als eine erkenntnisund wissenschaftstheoretisch reflektierte Theorie des Rechts und der Gesellschaft aufgefaßt. Diese Theorie ist institutionen- und systemtheoretisch gedeutet worden. Die hier vorgenommene Deutung Hegels enthält aber andererseits auch kritische Stellungnahmen gegenüber der modernen Institutionentheorie, indem sie sich von der älteren Institutionentheorie Haurious und Santi Romanos absetzt und die Schelskysche Institutionentheorie vor der Kontrastfolie des jungen Hegel einer neuen Deutung ihrer Genese und Geltungsgrundlagen unterzieht. Gleichzeitig ermöglicht sie aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Systemtheorie Luhmanns, die - verstanden als soziologische Theorie des Rechts - vor dem Hintergrund der Hegeischen Rechtsphilosophie deutlich macht, wie sehr die moderne soziologische Theoriebildung der Geschichte der Philosophie verbunden ist, allerdings nicht in dem Sinne, daß hier der deutsche Idealismus fortgeführt wird, oder gar in einer bloßen Apologetik, sondern in Anknüpfung an die Errungenschaften des Hegeischen Denkens. Damit gewinnt zugleich eine rechtsrealistische Betrachtung an Raum, wie sie sich seit Ihering und Max Weber über Schelsky und die Luhmannsche Systemtheorie hinaus fortentwickelt hat. In diesen Theorieansätzen wird, ähnlich wie schon bei Hegel, auch auf die Position der Wissenschaft als Institution und System reflektiert, weil Wissenschaft selber als Institution bzw. soziales System begriffen wird, das die systemische Wirklichkeit des Rechtssystems erklärend und deutend beobachtet und analysiert. Insofern hat der frühe Hegel mit seiner Kritik am tradierten Rechtsdenken und mit seiner Ausarbeitung einer philosophischen Theorie des Rechts und der Gesellschaft der weiteren Entwicklung bereits den Weg gewiesen und sie in grundlegenden Positionen vorweggenommen, deren Relevanz auf ihre philosophische Basis hin bis auf den heutigen Tag noch nicht in vollem Umfang ausgeleuchtet worden ist.

26 s. K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Heidelberg 1953.

Zwischen Koexistenz, Indifferenz und Kontraexistenz Zur Begegnung von Religionen und Rechtspbilosopbien im siebzehnten Jahrhundert Von Hermann Klenner, Berlin (DDR) Auf seiner erstaunlichen Suche nach der una veritas menschlichen Denkens und Handeins hat Alois Troller immer wieder in Wort und Schrift Begegnungen zwischen Varianten, Alternativen, Konkurrenten und Antipoden von bleibender Bedeutung herbeizuführen verstanden. Auch wenn einem Außenstehenden die Widersprüche als Produktivkraft gelten, deren Nivellierung in einem zwischen Tolerieren und Synthetisieren gelagerten Feld folglich nicht als sonderlich erstrebenswert erscheinen kann, so bleibt doch das einem Dialektiker höchst genehme Revier von Wechselbeziehungen zwischen Philosophie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft, zwischen Recht und Politik, zwischen Ordnung und Gerechtigkeit, zwischen Rechtspraxis und Rechtsphilosophie, deren Begegnung Troller mit Demut und Geduld, jedenfalls: systematisch betrieben hat. Nun sieht und wertet Troller die zwischenmenschlichen Beziehungen zuallererst von seinen Erfahrungen her, ist also viel zu sehr Realist, um die Hindernisse auf dem Begegnungsweg zwischen Gegnern auch dann zu übersehen, wenn sie sich als Gesprächspartner anerkennen. Er selbst hat solche Begegnungshindernisse auf dem Wege der Philosophen, der Juristen und der Theologen in Gegenwart wie in Vergangenheit auch namhaft gemacht!, was mir wiederum Mut macht, meinen eigenen Versuch, aus Verfremdungsinteresse gegenständlich ins 17. Jahrhundert verlegt, ihm zu widmen. Also, um einen - aus hiesiger Sicht geradezu jubiläumsverdächtigen! Einstieg zu wählen: vor, da diese Zeilen geschrieben werden, pünktlich dreihundert Jahren, am 29. Oktober 1685, hat Kurfürst Friedrich von Brandenburg ein Gesetz besonderer Art unterzeichnet, das Edict betreffend diejenige Rechte, Privilegia und andere Wohltaten, welche Seine Churfürstliche Durchlaucht zu Brandenburg denen Evangelisch-Reformierten Französischer Nation so sich in Ihren Landen niederlassen werden, daselbst zu verstalten gnädigst 1 Vgl. die einschlägigen Passagen in den drei rechtsphilosophisch bedeutsamsten Monographien von Alois Troller, Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1965, S. 160; ders., Die Begegnung von Philosophie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft, BaselJStuttgart 1971, S. 139ff.; ders., Grundriß einer selbstverständlichenjuristischen Methode und Rechtsphilosophie, Basel JStuttgart 1975, S. 120ff.

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Hermann Klenner

entschlossen sein 2 • Da in den vierzehn Artikeln dieses auf deutsch und französisch verfaßten und verbreiteten Gesetzes den von der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes aus dem Jahre 1598 durch das sog. Revokationsedikt Louis XIV. vom 18. Oktober 1685 illegalisierten Hugenotten Zuflucht in dem zu 95% von Lutheranern bewohnten Brandenburg angeboten wurde, pflegt man dieses Edikt auch als Toleranzedikt von Potsdam zu bezeichnen. Aber war es das wirklich? Gewiß, auch im Edikt von Nantes mit seinen 148 Artikeln hatte Henri IV. weder allgemeine Religions- noch allgemeine Kirchenfreiheit proklamiert, sondern ganz im Gegenteil den Katholizismus als Staatsreligion bestätigt und den Calvinisten lediglich ein arg limitiertes Maß an Glaubens- und Kultfreiheiten im Rahmen eines Sonderstatuts zugestanden. Und gemessen am Widerrufsedikt von F ontainebleau 3 ist von seinen Opfern das Potsdamer Edikt als verheißenes Freiheitsdorado empfunden worden: Louis XIV. hatte nämlich nicht nur das Duldungsedikt von Nantes revoziert, sondern auch verfügt

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alle reformierten Kirchen zu enteignen und ihre Gebäude unverzüglich dem Erdboden gleichzumachen;

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jedweden öffentlichen oder privaten Gottesdienst von Reformierten unter Androhung der Todesstrafe zu verbieten;

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alle sich einer Glaubenskonversion zum Katholizismus widersetzenden Prediger der Reformierten unter Androhung der Galeerenstrafe binnen zweier Wochen des Landes zu verweisen;

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alle von nichtkatholischen Priestern eingesegneten Ehen als null und nichtig zu erklären und Kinder aus solchen "Ehen" der Klostererziehung zu übergeben;

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die Auswanderung von Reformierten oder die Entfernung ihrer Besitztümer aus Frankreich unter Androhung der Galeerenstrafe bei Männern, der Einziehung von Leib und Gut bei Frauen zu verbieten.

War aber das Potsdamer Edikt, mit dem sich Brandenburg den in ihrer religiösen und physischen Existenz bedrohten Hugenotten als Refugium anbot, tatsächlich ein Toleranzedikt? Da es hier nicht um eine Übung in Semantik geht, sondern um das Verständnis eines noch mit der Gegenwart verschränkten historischen Prozesses, soll weder eine neue Definition zu bieten noch etwa Etikettenschwindel aufzudecken das ehrgeizige Ziel meines Beitrages sein. Damit wäre den Glaubensflüchtlingen von damals nicht und auch nicht den Toleranzerhoffenden von heute geholfen. Bevor man jedoch in aller Unschuld 2 Abdruck dieses nach heutigem, gregorianischem Kalender am 8. November 1685 erlassenen Edikts bei Eduard Muret, Geschichte der Französischen Kolonie in Brandenburg-Preußen, Berlin 1885, S. 301-306. 3 Abgedruckt bei Carl Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, Tübingen 1924, S. 390ff.

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die den Hugenotten wie von der Schweiz, den Niederlanden, von England, Schottland und Irland, wie von Hessen, Braunschweig, Württemberg und Hamburg so auch von Berlin ausgestreckte helfende Hand als aus Toleranz gereicht ehrt, möge man doch auch folgendes bedenken: Anders als in des sog. Großen Kurfürsten Edikt vom 16. September 1664, mit dem er den Lutheranern und den Calvinisten anstelle der geübten wechselseitigen Verketzerung mutua tolerantia, wechselseitige Duldsamkeit zu üben befahl - nicht sehr erfolgreich, übrigens -, vermeidet dessen im Potsdamer Stadtschloß 21 Jahre später unterschriebenes und gesiegelte Edikt selbst das Wort "Toleranz"; es handelt sich auch nicht um Glaubensfreiheit für Andersgläubige: ein sich selbst wie seine Vorfahren seit Weihnachten 1613 zur Reformierten Religion bekennender Kurfürst (dessen erste Frau wiederum eine Urenkelin des großen Hugenottenführers Gaspard de Coligny war, der in der Bartholomäusnacht 1572 von den Katholischen hingemordet worden war) offerierte seinen eigenen Glaubensgenossen - so die Präambelformulierung des Edikts - sichere Zuflucht vor den rigorosen Prozeduren ihrer Landsleute, damit aber zugleich seine eigenen Machtpositionen in den Auseinandersetzungen mit den lutheranischen Adligen und Geistlichen verstärkend; nicht ohne auch ganz andere Absichten wurde das Potsdamer Edikt nach Frankreich eingeschleust: es war in allen seinen Details ein Anwerbe-, ein brain drain betreibendes Peuplierungsedikt, geboren aus moralischen und materiellen Motiven, eine Mischung aus Mitleid und Staatsräson, zumindest auch eine weise Maßregel volkswirtschaftlicher Politik 4 ; die anzuwerbenden, angeworbenen Hugenotten wurden nicht mit gleichen Freiheiten und Rechten, wie sie die Eingesessenen bereits besaßen, gelockt und gehalten, sondern mit Praerogativen, Immunitäten, Benefizien und Privilegien, mit Vorrechten also; und schließlich handelt es sich um eine auf Reformierte eingeschränkte Großzügigkeit: daß anderswo Verfolgte anderer Religionen und Kirchen in ähnlicher Weise würden Aufnahme finden, war nirgends auch nur angedeutet, und die Katholiken des eigenen Landes waren vor den Einmischungsgewalten gerade des Großen Kurfürsten, der sich als summus episcopus auch gegenüber seinen katholischen Untertanen verstand, nirgends sicher 5 . Es geht nicht etwa darum, dem Potsdamer Edikt den Toleranzcharakter abzusprechen. Mißverständnisse hier wären contraproduktiv . Vielmehr handelt es sich um die Herausarbeitung des sich historisch entwickelten Inhalts, der Bandbreite des Toleranzbegriffs, seiner Relativierung, seiner De-absolutierung, seines Prozeßcharakters. Auch das Potsdamer Edikt, dessen kurfürstlichem Offizialautor kein geringerer als der Lutheraner Samuel Pufendorf seinen eigenen Toleranzessay De habitu religionis christianae ad vitam civilem / Von 4 Vgl. Gerhard Fischer, Die Hugenotten in Berlin, Berlin 1985, S. 23; Frederic Hartweg, Die Hugenotten in der Berliner Akademie, in: Hans Thieme (Hrsg.), Humanismus und Naturrecht in Berlin-Brandenburg-Preußen, Berlin 1979, S. 182f. 5 Vgl. etwa Johannes Linneborn, Kirche und Staat in Preußen, in: Hermann Sacher (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 3, Freiburg 1929, S. 183.

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natur und eigenschaft der christlichen religion und kirche in ansehen des bürgerlichen lebens und staats (Bremen 1687) gewidmet hatte, und zwar auch als Beifall für dessen Hugenottenpolitik, war nicht durch Toleranzideen verursacht und erst recht nicht deren Ursache. Man tut überhaupt gut daran, sich von der schönen Illusion zu befreien, daß Freiheit aus Freiheitsideen geboren und Toleranz aus Toleranzinteresse gewährt wird. Immerhin, um am gewählten Beispiel zu bleiben, auch das Potsdamer Edikt markierte ein Moment in der intellektuellen Emanzipationsbewegung Europas, reflektierend und motivierend, legitimierend und legalisierend deren soziales Pendant: den Übergangsprozeß von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft. Gewiß war der Toleranzanspruch, das Begehren von Gewissensfreiheit gegen die Theorie und Praxis der Kirche Roms gerichtet (deren Oberhaupt noch bis ins 19. Jahrhundert hinein die libertas conscientiae als Teufelswerk, sie zu fordern bestenfalls als Fieberwahn charakterisiert hatte: noch im Todesjahr Goethes erging gegen ihre Adapten die Enzyklika Mirari vos 6 ). Die vom Papst betriebene direkte oder indirekte Identifizierung von religiöser und politischer Macht stand all denen im Wege, die dem Individuum oder gar ganzen Gemeinschaften wenigstens intellektuelle Freiräume zu schaffen versuchten. So ist es auch kein Zufall, daß die einschlägigen Werke aller bedeutender Toleranzphilosophen des 17. Jahrhunderts, also die von Grotius, Milton, Spinoza, Pufendorf, Locke, Toland, Bayle, Thomasius - die damals für ihre Autoren lebensgefährliche Ehre genossen, auf dem Index librorum prohibitorum zu stehen 7 • Was immer das Christentum in seinen frühen Phasen gewesen war: in den Händen einer Kirche, deren Oberhaupt sich als Christus auf Erden verstand, mit der Fülle aller mittelbaren und unmittelbaren Gewalt, mit dem weltlichen wie dem geistlichen Schwert ausgerüstet (doch so, daß es das weltliche Schwert der weltlichen Gewalt übergibt, damit diese es im Dienste und nach dem Befehl der Kirche führe, der sie auch verantwortlich bleibe), konnte diese Religion nicht mit anderen Religionen einfach koexistieren oder sich zu ihnen indifferent verhalten. Der keine anderen Götter neben sich duldende Einmaligkeitsgott, der Alleinseligmachungsanspruch einer Religion, das von einer Kirche angemaßte Verrnittlungsmonopol zwischen Mensch und Gott, die Verschwisterung der politischen mit der religiösen Macht - das alles mußte zu Intoleranzen führen. Aus des Aurelius Augustinus These, daß Böse gegen Böse, Gute gegen Böse, nicht aber Gute gegen Gute, wenn sie vollkommen sind, miteinander kämpfen können 8 , ergibt sich zwingend, daß der Gegner einer unfehlbaren Partei böse sein muß, Pardon und Gnade also im Interesse seines eigenen Seelenheils nicht verdient. 6 Die von Papst Gregor XVI. am 15. August 1832 erlassene Enzyklika ist abgedruckt bei Mirbt (FN 3), S. 439. 7 Vgl. Albert Sleumer, Index Romanus, Osnabrück 1951, passim; vgl. auch J. R. Grigulevii: Ketzer-Hexen-Inquisitoren, Bd. 2, Berlin 1976, S. 544f. 8 So: Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd. 2, München 1978, S. 219 (15/5).

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Und daher hatten sich auch auf diese oder jene Weise die seinerzeitigen Toleranzdenker mit des Aurelius Augustinus souveräner Nichtachtung von Gewissensentscheidungen oder Glaubensüberzeugungen der Individuen auseinanderzusetzen, mit seiner folgenschweren Kommentierung des compelle intrare (Lukas 14,23): es komme nicht darauf an, ob jemand gezwungen wird, sondern allein darauf, wozu er gezwungen wird, zu etwas Gutem oder Bösem 9 • Zu einem insofern ganz ähnlichen Ergebnis führt des Thomas von Aquin unbarmherzige Logik - nicht nur der Teufel ist ein Logiker! - seine Leser und Hörer: wenn Falschmünzer mit Recht von der weltlichen Obrigkeit getötet werden, mit wieviel mehr Recht dürfen dann Ketzer exkommuniziert und hingerichtet werden 10? (Das Erbarmen der Kirche, ergänzt der Aquinate an gleicher Stelle, zeige sich darin, daß sie erst den zweifach zurechtgewiesenen Irrenden als zu hartnäckig aufgebe und nun für die Rettung der anderen sorge, indem sie den aus der Kirche ausgeschlossenen Häretiker dem weltlichen Gericht überlasse, um ihn durch den Tod von der Welt zu tilgen). Auch aus dem Argumentationsschatz der Spätscholastiker ergibt sich, daß ein Recht auf freie Religionsausübung nur den Anhängern der "wahren" Religion zustehe, zu deren Gunsten auch mit Krieg und Invasion intervenieren zu lassen der Papst infolge seiner potestats indirecta legitimiert sei; nicht aber dürfen ein Oberhirte anderer Konfessionen oder ein weltlicher Machthaber zugunsten ihrer protestantischen, moslemischen oder heidnischen Gefolgsleute mit gleichen Methoden vorgehen 11. Eher krasser noch erwies sich der mit spätscholastischen Fundamentalsätzen übers Kreuz stehende gallikanische "Nationalkatholizismus" als Kontraposition zum Toleranzstandpunkt, paarte sich doch die relative Abkoppelung der französischen Kirche vom Bischof Roms, wie sie mit den vom Bischof von Meaux, Jacques Benigne Bossuet, redigierten Vier Artikeln der Deelaratio eleri gallicani de ecelesiastica potestate von 1682 normiert wurden 12, mit dem religionspolitischen Grundsatz un roi - une loi - une Joi, dem totalitären Dreigestirn eines die unheilige Allianz von Staat und Kirche ins Extrem treibenden Absolutismus. Toleranzideen also, da in Gegnerschaft zum Katholizismus erwachsen, als Reformationsprodukt? Religionsfreiheit als deren Ergebnis und vielleicht auch als Beginn und Ursache aller anderen Bürgerfreiheiten, die sie, so die plastische Formel eines Ernst Troeltsch 13, mit hindurchgerissen habe? Vgl. Hans Wetzei, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1980, S. 65. Siehe Thomae Aquinatis Summa theologiae, Pars secunda secundae, Torino 1963, qu. 11,3. 11 Vgl. im einzelnen: Jose! Soder, Francisco Suarez und das Völkerrecht, Frankfurt a. M. 1973, S. 333 tT., sowie Hermann Klenner, Marxismus und Menschenrechte, Berlin 1982, S. 36, 166. 12 Abgedruckt bei Mirbt (FN 3), S. 389; auch Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. 1, Weimar 1950, S. 469. 13 Ernst Troeltsch, in: Historische Zeitschrift, München 1906, S. 39. Vgl. dagegen Christoph Link, Naturrechtliche Grundlagen des Grundrechtsdenkens in der deutschen 9

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Gewiß, von Martin Luther, dem selbst vom Papstbann und der Reichsacht Getroffenen, stammen die Worte, daß man Ketzer nicht mit Feuer sondern mit Argumenten zu überwinden habe, sonst wären die Henker die gelehrtesten doctores auf Erden, und die Obrigkeit solle nicht wehren, was jedermann glauben will, es sei Evangelium oder Lügen 14. Aber Luther hütete sich wohlweislich. aus dem Priestertum aller Gläubigen ein Rechthaben aller Bürger zu folgern. Zwar bewaffnet er mit seiner Lehre von zweierlei Frömmigkeit, Regiment, Recht und Reich die Gläubigen gegen die Obrigkeit, aber eben auch die Obrigkeit gegen die Untertanen (und diese alle gegen die päpstliche Universalmonarchie), doch in einer Pfarr, einem Kirchspiel oder einem Land solle nicht widersprechende Predigt ins Volk gehen, denn daraus entsprängen Haß, Neid, Unfried oder gar Rotten. Mit dieser Lehre vertrug sich dann bestens der im Augsburger Religionsfrieden von 1555 ausgehandelte, im Westfälischen Frieden von 1648 erweiterte und durch das beneficium emigrandi gemilderte Komprorniß des cuius regio eius religio. Damit aber war - bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts! - ein Zustand festgeschrieben, der jedenfalls eines ausschloß: die Religionsfreiheit des Individuums. Denn durch die vereinbarte landeskirchliche Variante von Staatskirchenturn tolerierten sich zwar Katholizismus, Lutheranerturn und Calvinismus im Reich, nicht aber in dessen Ländern: jedes Land hatte eine der drei genannten Konfessionen als herrschende, die anderen beiden bestenfalls als geduldete Konfessionen. Dem politischen Machthaber stand auch das Kirchenregiment zu: in dieser seiner Eigenschaft als summus episcopus besaß er, nicht aber die einzelnen oder in einer Gemeinschaft verbundenen Gläubigen, das ius reformandi, das ius inspiciendi et cavendi, das ius protectionis und sogar das dominium eminens über das Kirchenvermögen. Freiheitsrechte der Individuen konnten auf dieser Grundlage höchstens als speziell ausgegrenzte Reflexrechte entstehen, Vermutung und Wahrscheinlichkeit sprachen gegen ihre Existenz. Wie immer dieses landesherrliche Kirchenregiment historisch erklärt, naturrechtlich begründet und theologisch legitimiert worden ist, es trug nicht nur auf seine Weise zur Versteinerung der nationalen Aufsplitterung Deutschlands bei, sondern verhinderte geradezu ein gleichberechtigtes Nebeneinander aller Religionen innerhalb eines Territoriums, vom Aufkommen eines Rechtsanspruches jedes einzelnen auf Glaubensfreiheit ganz zu schweigen. Privilegierte Kirchen dominierten konzessionierte Kirchen und illegalisierten Volkskirchen. Das Christentum aber war Zwangsreligion 15. Staatsrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Mayer-MalyjSimons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen, Berlin 1983, S. 83f. 14 Vgl. die Details bei Martin Honecker, Religionsfreiheit und evangelische Glaubensüberzeugung, in: Der Staat, Bd. 23, Berlin 1984, S. 490f.; Martin-Luther-Kolloquium anläßlich der 500. Wiederkehr seines Geburtstages (Sitzungs berichte der Akademie der Wissenschaften der DDR), Berlin 1983, S. 34ff. 15 Zum Folgenden: Owen Chadwick, The Reformation, Harmondsworth 1977, S. 398ff.; Heinrich Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz, Darmstadt 1977, S. 37, 158,

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Unter diesen Bedingungen konnten sich Religionen nur als Rivalen mit höchst ungleichen Wirksamkeitsvorausetzungen begegnen. Aus der Sicht der drei großen Kirchen (von den Organisationsformen aller anderen Konfesssionen einmal ganz abgesehen, sie hatten in den Grauzonen zwischen Semi- und Illegalität ihr Dasein zu fristen) erwies sich Toleranz als von Territorium zu Territorium verschieden angelegter Kompromiß, als Waffenstillstand zwischen Ungleichen. Aus der Sicht der Individuen aber hörte Toleranz genau da auf, wo Religion anfing. Im anglikanischen England, im katholischen Spanien, im reformierten Holland, im lutherischen Brandenburg - überall und in nahezu gleicher Weise wurden die Christen zur Verantwortung gezogen, wenn sie keine guten Gründe hatten dem sonntäglichen Gottesdienst in der für sie zuständigen Kirche beizuwohnen. Überall wurden, natürlich um die Schafe vor den Wölfen zu schützen, Häretiker gebannt oder verbrannt. Papst Alexander VI. ließ Girolamo Savanarola, Johann Calvin ließ Miguel Serveto hinrichten. War es aber Zufall, daß sich überall in der Verquickung von Thron und Altar die biblischen Versöhnungsbotschaft in ihr Gegenteil verkehrte? Hätten sich die verschiedenen Konfessionen statt als wechselseitige Antagonisten auch als unterschiedliche Erscheinungsformen religiös-menschlicher Aneignung der Welt, als plurale Produktivität, als Reichtum in Vielfalt begreifen und sich demgemäß als höchst erwünschtes alter ego zueinander verhalten können? Reflektierte das niederländische Sprichwort Sei es Geuse, Mennonit oder Papiste / Ein jeder kratzt nur in seiner Kiste 16 Essentielles oder bloß Existentielles? Wenn jedenfalls nur Tolerante Toleranz zu beanspruchen gehabt hätten, dann hätten die fünf großen Christenkonfessionen des europäischen 17. Jahrhunderts allesamt einen solchen Anspruch gar nicht erst geltend machen dürfen: Der Papst hatte Wyc1ifverdammen und Hus verbrennen lassen; er beanspruchte das Absetzungsrecht gegenüber den von ihm für ketzerisch erklärte Fürsten und hatte auch mit seiner Bulle Regnans in excelsis die Untertanen des anglikanischen Königshauses in England von ihrem Treueid entbunden; er hatte Luther als Häretiker gebannt, die Calvinisten als Wiedertäufer (!) verurteilt, den Massenmord an den Hugenotten in jener Bartholomäusnacht als glückliche Gnade Gottes gepriesen. Für Luther wiederum war der Papst weder Bischof noch Obrigkeit, ja nicht einmal ein Ketzer, sondern ein Beerwolf, welches Tier zu erlegen nicht erst einen Richterspruch erfordere!7. Calvin andererseits wußte sich auch im Besitz der absoluten (freilich einer anderen) Wahrheit, die notfalls mit Gewalt durchzusetzen er als Gottesgebot betrachtete; Luthers Abendmahls248; Hermann Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 3, Berlin 1978/80; Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, Tübingen 1962, S. 932ff.; Jacob Caspar B/untschli (Hrsg.), Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 1, Stuttgart/Leipzig 1857, S. 767ff.; Gert Wende/born, Versöhnung und Parteilichkeit, Berlin 1974, S. 30ff. 16 Det/ev Rehbein, Tür zu, die Heiden kommen, Berlin 1985, S. 109. 17 M artin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 -1983, Bd. 39/2, S. 31- 91, Thesen 51, 60, 61, 67-69. 8 Festgabe für Alois Troller

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lehre hielt er für noch schlimmer als die der Papisten, und die reformierte Orthodoxie dachte gar nicht daran, den eigenen Heterodoxen jenen Freiraum zu gewähren, den sie selbst vom Gallikanismus eines Louis XIV. begehrte, ihrem im Wortsinn Todfeind, mit dem sie freilich die Auffassung vereinte, daß Gehorsam die Grundlage jeder Religion sei, Neugier und Zweifel aber die Quelle von Häresie 18 • Unter den jesuitischen und den reformierten Monarchomachen waren die Ziele gewiß gegensätzlich, aber die von beiden legitimierte Mordmethode eben nicht; für beide war ein rex haereticus eo ipso ein tyrannus, dem gegenüber nicht Duldermiene sondern tätiger Terrorismus das angemessene Verhalten schien. Noch einmal gefragt: Konnte es überhaupt anders sein? Solange sich verallgemeinerungsunfähige Fundamentalinteressen um die ökonomische, politische und geistige Herrschaft gegeneinander kämpfender Gesellschaftsklassen vor allem religiös artikulieren - doch wohl nicht! Unter den nun einmal im Europa des 17. Jahrhunderts gegebenen Voraussetzungen sozialer und nationaler Antagonismen gehörte der religiöse Alleinvertretungsanspruch, das Dezisionsmonopol darüber, wer rechtgläubig und wer anders-, also: falschgläubig ist, zu den Identifikationserfordernissen potentieller Bürgerkriegsparteien. Fanatismus wurde mit Fantismus beantwortet, nicht mit Toleranz. Im Glaubensbekenntnis der Hugenottenkirche in Frankreich vom Mai 1559 wurden im Artikel 28 - und wie sollte es auch anders sein? - alle im Papsttum stattfindenden Versammlungen schlechthin verworfen 19 • Und in Brandenburg, so referiert Droysen 20 , tobten die Pastoren in (lutherisch-)heiligem Zorn, als ihr Kurfürst Johann Sigismund 1613 das Abendmahl nach reformierter Weise feierte. Wenn Konfessionen außerhalb ihres Bekenntnisses kein Heil gelten lassen, wenn sie die von der eigenen Idee unterscheidbare immer nur als häretisch und die andere Kirche nur als Gegen- oder Untergrundkirche klassifizieren können, bleibt für Toleranz nur der Raum und die Zeit, die man zum Atemholen für neue Taten gegen die Falschgläubigen braucht. Toleranz nicht aus Tugend, eher aus Schwäche. Der sich in Deutschland aus der pax catholica über dreißig Jahre Krieg entwickelnde paritätische Friede zwischen den Konfessionen, die sich wechselseitig als Schismatiker und Schlimmeres empfanden, war nicht einmal eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner! Wenn es dafür noch eines Beweises bedürfte: Papst Innocenz X. verurteilte mit seiner Bulle Zelo dominus dei vom 20. November 1648 den Westfälischen Friedenschluß. Fundamentalisten sind nicht konsensfähig. Jedenfalls nicht aus der Sache, die sie vertreten. Vgl. Erich Hasse, Einführung in die Literatur des Refuge, Berlin 1959, S. 285. Abdruck der Confession de foy bei: Muret (FN 2), S. 285 - 296. Zu den theologischen Positionen Luthers, Melanchthons, Zwinglis, Calvins und des Anglikanismus vgl. Bengt Hägglund, Geschichte der Theologie, Berlin 1983, S. 160-229. 20 Johann Gustav Droysen, Geschichte der preußischen Politik, Bd. 11/2, Leipzig 1859, S.617. 18

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Daher darf es eigentlich nur den aus moralischen Kategorien Denkenden verwundern, daß alle die bereits weiter oben genannten großen Toleranzphilosophen des 17. Jahrhunderts, deren Werke den Index Romanus zierten, auch vor den Evangelischen keine Gnade fanden: Hugo Grotius hatte aus dem Kerker der Calvinisten ins katholische Paris fliehen müssen, um 1625 sein De iure belli ac pacis und 1627 sein De veritate religionis christianae publizieren zu können. J ohn Milton, der wortgewaltige Streiter gegen jede Zwangskirche erleidet, als mit Charles 11, der Anglikanismus wieder zur Staatsreligion wird, den vielfachen Zensurtod; sein De doctrina christiana erblickt erstmals 1825 (!) das Licht der Welt. Baruch de Spinoza, aus dem Judentum ausgeschlossen, publizierte sein epochemachendes Toleranzwerk, den Tractatus theologico-politicus / vorsichtigerweise in der Gelehrtensprache, und doch wurde es, gemeinsam übrigens mit des Thomas Hobbes Leviathan vom calvinistischen Statthalter Hollands verboten. Samuel Pufendorfwar in Deutschland mit der lutherischen Orthodoxie verstrickt, sein Eris scandica (Frankfurt 1686) weist es aus, und sein berühmtes Wir haben es mit harthäutigen thieren zu tun, und deswegen muß man sie mit der Mistgabel kitzeln 21 , war auf seine eigenen Glaubensgenossen gemünzt, nicht auf die Hoch- oder Spätscholastiker, denn deren Verachtung demonstrierte er durch Nichtzitieren. John Locke weckte mit seinem nach dem Sieg der Glorious revolution geschriebenen und veröffentlichten The Reasonableness 0/ Christianity (1695) die Christenmenschen seiner von ihm bekannten (und bezahlten) Kirche. John Tolands Christianity not mysterious (1696) wurde als häretisch verbrannt - das irische Parlament war stolz darauf, orthodoxer zu sein als das von England -, wobei ausgerechnet die doch selbst nur tolerierten Dissidenten sich als die Untolerantesten erwiesen. Pierre Bayle, vor den französisch-katholischen Fanatikern zu seinen Glaubensbrüdern geflüchtet, erhielt schließlich 1693 von diesen, den calvinistischen Stadtvätern Rotterdams, Berufsverbot. Und gegen ihres Mit-Lutheraners An Haeresis sit crimen? Ob Ketzerey ein strafbares Laster sey? entfachten, wie man festgestellt hat 22 , die Orthodoxen und "Ketzermacher" unter seinen Kollegen ein Geschrei gegen Christian Thomasius, den Autor. Und doch haben, von den Prinzipienreitern aller Religionsparteien angefeindet, die Toleranzphilosophen einen letztlich irreversiblen Prozeß einleiten geholfen, unverzichtbares Element (und nicht bloß, wie man oft lesen kann, eine Art Propädeutik) von Aufklärung. Auch wenn die am konsequentesten Toleranz fördernden (und sie dadurch eigentlich schon aufhebenden) - aus dem 17. Jahrhundert Winstanley und Spinoza etwa - als von allen Verfemte zu keiner Zeit Aussicht hatten, einmal herrschendes Bewußtsein zu werden, 21 Briefe Samuel Pufendorfs an Christian Thomasius (Hrsg.: Emil Gigas), München/ Leipzig 1897, S. 17 (Brief vom 24. März 1688). 22 Vgl. Rolf Lieberwirth. Christian Thomasius. Eine Bibliographie, Weimar 1955, S. 60; Ernst Landsberg. Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Bd. III/1, München/ Leipzig 1898, S. 86.



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insgesamt trug jedenfalls die Toleranzbewegung zum Selbstverständnis aller nichtfeudalen Klassen über ihre Lebensinteressen bei, speziell über die unausbleibliche Unterscheidung zwischen den kompromißunfahigen Invariablen und den für Toleranzverhandlungen offenen Bereich der variablen Werte und Wichtigkeiten. Daß dabei die sozialen Ungleichheiten der bestenfalls politisch Gleichen nur selten ins Blickfeld der Theoretiker gerieten, gehört zum Normalinventar des bürgerlichen Weltbildes, in dem sich die "Toleranzen" zwischen Grundbesitzer und Landarbeiter, zwischen Akademiker und Analphabeten arglos miteinander vertragen. Innerhalb eines breiten Argumentationsfeldes haben die Toleranzdenker tendenziell vor allem folgende Positionen besetzt: Sie haben als grundlegende Voraussetzung dafür, daß eine prinzipielle Verpflichtung des Staates zu religiöser Enthaltsamkeit, zu einer Toleranz von ganz anderer Qualität als die interkonfessionelle Toleranz überhaupt sein konnte, seine Abkopplung von jeglicher Kirche betrieben. In diesen das Staatsvolk vom Kirchenvolk überhaupt erst unterscheidbar machenden Säkularisierungsprozeß war eingelagert die ein Recht der Individuen aus ihrer eigenen Existenz, aus ihrer Geschichte und ihrer Vernunft erst ermöglichende Scheidung des ius humanum von der lex dei. Von hier aus ist die seit geraumer Zeit immer wieder in ihrer Bedeutung heruntergespielte und doch in ihrer weichenstellenden Wirkung kaum zu überschätzende elfte Prolegomenabemerkung im Hauptwerk des Hugo Grotius zu würdigen 23 , daß seine Naturrechtstheorie auch dann greifen würde, wenn man annähme, was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte, daß es entweder keinen oder keinen sich um die Angelegenheiten des Menschen kümmernden Gott gebe (etiamsi daremus, non esse Deum aut non curari ab eo negotia humana). Es ist dieser Ansatz, den Pufendorfvorantreibt: das Naturrecht als die politica architectonica des corpus politicus könne schon deshalb nicht einmal von christlicher Qualität sein, da es dann nicht allen Menschen einsichtig wäre 24 • So wie es keine christliche Chirurgie gebe, gibt es auch weder einen christlichen Staat noch ein chistliches Naturrecht. Ohnehin habe Christus seinen Aposteln den Auftrag gegeben zu predigen, nicht aber einen Staat zu gründen. Erfahrung und Vernunft lehrten, daß Staat und Kirche unterschiedlichen Zielen ihre Entstehung verdanken: für den irdischen Frieden habe der erstere zu sorgen, für der Gläubigen Seelenheil die letztere. Daher sei beim staatsgründenden Gesellschaftsvertrag die Gewissensfreiheit auch nicht auf die Obrigkeit übertragen worden 2s • Folgerichtigerweise unterscheidet Pufendorf zwischen einer kirchli23 Hugo Grotius, De belli ac pacis (1625), Tübingen 1950, S. 33. Vgl. Norman Paech, Hugo Grotius, Berlin 1985, S. 35; Hermann Klenner, Vom Recht der Natur zur Natur des Rechts, Berlin 1984, S. 20. 24 Samuel Pufendorf, Eris scandica, Frankfurt 1686, S. 252 (Specimen IV / 11 u. 12). 2S Samuel Pufendorf, De habitu religionis christianae ad vitam civilem, Bremen 1687, S. 15f. Vgl. die Details bei Friedrich Lezius, Der Toleranzbegriff Lockes und Pufendorfs,

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chen Toleranz (daß eine Kirche verschiedene Lehrsätze in sich duldet) von der politischen Toleranz (daß die Bürger eines Staates die Freiheit haben, verschiedenen Kirchen anzugehören), womit wiederum der politische (nicht der religiöse!) Alleinvertretungsanspruch einer Kirche gegenüber den Bürgern eines Staates zurückgewiesen ist. Freilich war Pufendorf zu keiner Zeit so radikal wie es John Milton schon vor ihm gewesen war. Als Häretiker galt dem Puritaner nicht derjenige, der von eines anderen, wer immer es sei, Glauben abwich, sondern derjenige, der sich nicht zu seiner eigenen Meinung in Wort und Tat bekannte. Glaubenszwang war Milton als unstaatlich und als unchristlich zutiefst zuwider: Wir wissen nur von einem Fall, in dem Christus jemals Zwang gebraucht hat, und das war, als er die Gottlosen zum Tempel hinaustrieb, nicht hingegen, um sie hineinzuzwingen 26 ! Die folgenreichste Toleranzposition hat freilich John Locke entwickelt. Eigentlich erst er hat erkannt, daß die Zeit reif war, die Glaubensgemeinschaft des Staates in eine Interessengesellschaft zu überführen. Weniger Formulierungen der Art, daß the mutual toleration of Christians das hauptsächliche Kennzeichen der wahren Kirche sei, denn churches have neither any jurisdiction

in worldly malters nor are fire and sword any proper instruments where with to convince men 's mind of error and inform them of the truth 27 , als vielmehr jenes Argumentationsmodell erwies sich durchschlagend, das die Toleranz den Eigentümerinteressen zubordinierte: die Obrigkeit habe sich ausschließlich um the preservation of property ihrer Bürger zu kümmern, nicht aber um deren rechten Glauben und rechten Weg zu Gott, denn der sei ihr nicht besser bekannt als anderen auch, und überdies könne sie, falls sie jemandem eine falsche Religion aufzwinge, diesem in der anderen Welt keine Reparationen leisten, und: can it be reasonable that he [der Staat] that cannot compel me to buy a house should force me his way to venture the purchase of heaven? that he that cannot in justice prescribe me rules of preserving my health should enjoin me methods of saving my soul? he that cannot choose a wife for me should choose a religion 28 ? Mit dieser umwerfenden Logik privatisierte Locke praktisch alle Religionsentscheidungen! Er war es wohl auch, der als erster die perfect uncontrollable liberty des einzelnen, was seine Gottesdienstangelegenheiten betrifft, sein in dieser Beziehung unlimitedfreedom, in die Gestalt eines Rechtsanspruches des Individuums kleidete, in ein absolute and universal right to toleration 29 • Leipzig 1900, S. 58ff., sowie Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, Wien/Köln 1979, S. 240ff. 26 lohn Mi/ton, Selected Prose, Harmondsworth 1974, S. 322 (A Treatise ofCivil Power in Ecclesiastical Causes, 1659). Vgl. auch lohn Mi/ton, Zur Verteidigung der Freiheit, Leipzig 1986, sowie Christopher Hili, Milton and the English Revolution, London 1979, S. 268ff. 27 lohn Locke, Ein Brief über die Toleranz (1685), Hamburg 1975, S. 2, 32. 28 .lnhn Locke, An Essay conceming Toleration (1667), abgedruckt in: H. R. Fox Boume, The LifeofJohn Locke, Bd. 1, NewYork 1876, S.174-194. Vgl. auch lohn Locke, Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt, Leipzig 1980, S. 318.

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Auch wenn Locke, genau übrigens wie Milton, die angebliche Absolutheit und Universalität des Toleranzanspruches eines jeden wieder zu Ungunsten der Katholiken und Atheisten aufhob - während Revolutionen hat Parteilichkeit selten die Chance, in Weisheit zu agieren -, vom Grundsätzlichen her ist jedenfalls der Erkenntnisweg bis hin zu der Einsicht geebnet, daß vollentfaltete Toleranz letztendlich den Schritt von der politisch gleichen Gültigkeit der Religionen zur (politischen) Gleichgültigkeit von Religionen - natürlich nicht der Religiösen - erforderlich macht. Glauben spaltet, Vernunft eint. Erst dann hört Toleranz auf, eine vordemokratische Vokabel zu sein, die einen vordemokratischen Zustand kaschiert: Das vielgerühmte Toleranzgesetz Englands von 1689 war ein Ausnahmegesetz für die nicht der Anglikanischen Hochkirche angehörenden protestantischen Dissidenten, die aber bereits dann aller benefits verlustig gingen, wenn sie es wagten, ihren Gottesdienst hinter verschlossenen Türen abzuhalten 30 • Solange Toleranz nur als eine, Gott sei's geklagt, großzügig zugelassene Abweichung von der nicht einmal perfektionierungsbedürftigen längst bekannten Wahrheit verstanden wird, also doch bloß als Freiraum für irrende Separatisten, wird ihr das Odium des faulen Friedens, des feigen Kompromisses, der arroganten Großmut anhaften. Das böse, nein: das auch gute Wort von der repressiven Toleranz sollte nicht vergessen, es verdient zu Ende gedacht zu werden. Das Gewissen als bloßes forum internum, als garantiertes Refugium für Narrenfreiheiten zu disqualifizieren, / heißt nicht zu begreifen, daß die entwicklungs- und entäußerungsbedürftige Fähigkeit des Menschen, sein eigenes Denken und Handeln zu bewerten, zu den konstitutiven Momenten des Gesellschaftsfortschritts gehört 31 .

29 Locke, An Essay conceming Toleration (FN 28), S. 176, 178. Freilich werden Ursache und Wirkung vertauscht, wenn in der Freigabe des religiösen Gewissens warum nicht in der des atheistischen, hat Bayle vergebens gedacht? - die Grundlage des als modem interpretierten spätbürgerlichen Staates gesehen wird. So geschehen bei Horst Folkers, Die Neutralität gesellschaftlicher Gewalt, in: Niklas Luhmann (Hrsg.), Soziale Differenzierung, Opladen 1985, S. 42; Achim Krämer, Toleranz als Rechtsprinzip, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 29, Tübingen 1984, S. 121. Wesentlich realistischer: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a. M. 1976, S. 253 ff. 30 Toleration Act von 1689, abgedruckt in: Andrew Browning (Hrsg.), Englisch Historical Documents 1660-1714, London 1953, S. 400. 31 Auf Ähnliches zielt wohl Troller, Grundriß (FN 1), S. 82: es genüge nicht, des Anderen Ansicht nur zu dulden; im Ringen um die jeweilige Gesamtansicht von gesellschaftlichen Verhältnissen versage die passive Toleranz. Vgl. auch Hermann Klenner, Verschiedenheit, Gegensätzlichkeit und Vereinbarkeit von Rechtsphilosophien, in: Paul Trappe (Hrsg.), Conceptions contemporaines du droit, Bd. 4, Wiesbaden 1983, S. 465. Keine Toleranz hingegen vermag Friedrich Schnapp (Toleranzidee und Grundgesetz, in: Juristenzeitung, Jg. 40, Tübingen 1985, S. 857) für die insbesondere von Herbert Marcuse (in: WolffjMoorejMarcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a. M. 1980, S. 91) entwickelte Idee aufzubringen, daß die von den Herrschenden ausgeübte Toleranz auch repressiv wirkt.

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Freilich, jeder Emanzipationsideologie, jeder Mündigkeitserklärung des independenten und doch der Vergesellschaftung bedürfenden Bürgers erwachsen absolute Schranken, wenn die Furien von Privatinteressen, wachsend mit Notwendigkeit aus dem privatisierten Produktionsmitteleigentum, der Transformation des Nebeneinander in ein Miteinander im Wege steht. Dann allerdings bleibt nur der auszuhandelnde Kompromiß, angesiedelt irgendwo auf dem Feld zwischen Koexistenz, Indifferenz und Kontraexistenz.

Das Rechtsbewußtsein des Volkes Von Vladimir Kubes, Brunn

I. Zur Einführung Der Begriff des Rechtsbewußtseins spielt eine immer bedeutendere Rolle. Auch unser Jubilar widmete dem Begriff des Bewußtseins in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit besondere Aufmerksamkeit l . Trollers rechtsphilosophische Auffassung beruht auf der Überzeugung, daß erst die Phänomenologie Edmund Busserls eine allgemein verwendbare rechtswissenschaftliche Methode als Hauptweg eröffnet 2 • Die Husserlsche phänomenologische Methode dient ihm auch bei der Feststellung des Inhalts des Bewußtseins. Richtig stellt er fest 3 , daß das 1 Z. B. Alois Troller, Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft, 1965, S. 5, 7, 25fT., 29., 32f., 42, 45, 47f., 113fT., 262fT.; ders., Das Bewußtseinsbild im Rechtlichen, ARSP 13 (1979), S. 243fT. 2 Es ist zweckmäßig zu betonen, daß die Phänomenologie mit der berühmten Schrift Busserls, Logische Untersuchungen (1. Bd., Prolegomena zur reinen Logik, II. Bd. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1900/1901) begründet wurde, und zwar als eine direkte Reaktion gegen alle neokantischen Richtungen mit ihren noetischen, logischen und methodologischen Untersuchungen. Die Philosophen waren schon von dem "ewigen Schleifen des Messers" müde und wollten endlich das Messer zum Schneiden benutzen (Aster, Die Philosophie der Gegenwart, 1935, S. 55; KubeS, Pravni filosofie XX. stoleti, Kantismus, Hegelianismus, fenomenologie a theorie my1Henkoveho fadu - Die Rechtsphilosophie des XX. Jahrhunderts, Kantianismus, Hegelianismus, Phänomenologie und Theorie der Gedankenordnung, S. 108fT.). Diese überwiegende GesamteinsteIlung hat Husserl klar erkannt. Bald hat sich diese ursprünglich einheitliche Husserlsche Phänomenologie in drei Zweige (Richtungen) zerspalten und zwar: in die objektivistisch-realistische Richtung, welche die folgerichtigste Fortsetzung der Phänomenologie bedeutet und schon nicht von Husserl selbst geführt wurde, dann in die transzendental-phänomenologische Richtung (die sog. transzendentale Phänomenologie), welche durch die weitere Stufe in der Entwicklung Husserls repräsentiert ist (siehe seine weiteren Werke, wie z. B. Busserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1913, und ders., Die formale und transzendentale Logik, 1929, wie auch ders., Meditations cartesiennes, 1931) und - endlich - die Richtung der Existenzialphilosophie Martin Heideggers mit seiner führenden Schrift "Sein und Zeit", 1927 - Troller gehört wahrscheinlich zur transzendentalen Phänomenologie, obwohl er in seiner im Jahre 1979 erschienenen Abhandlung (siehe FN 1) sagt, daß auch die materialistisch-dialektische Widerspiegelungstheorie für ihn maßgebend war. 3 Troller, Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft (FN 1), S. 32f.; ders., Das Bewußtseinsbild (FN 1), S. 245fT.

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Bewußtsein der Ausgangspunkt jeglicher wissenschaftlicher Forschung ist. "Die gegenseitige Überprüfung der Inhalte des Bewußtseins der Wissenschaftler führt zur allgemein anerkannten Aussage." "Das im Bewußtsein Erscheinende ist die einzige Grundlage für eine zwischenmenschliche verstandesmäßige Verständigung über das menschliche Dasein, die Welt und den Kosmos." Die Phänomenologie als Lehre von den Erscheinungen hat daher nach Troller 4 zuerst darzutun, wie der Inhalt des menschlichen Bewußtseins nach Gruppen zu ordnen ist. Hemach erst, wenn dieses Inventar besteht, kommt die Frage nach der Herkunft der Erscheinungen und anschließend endlich jene nach der intersubjektiv gut begründeten Überzeugung an die Reihe. Im Sinne der Phänomenologie stellt Troller festS, daß die Reduktion den Forscher von der unausgeschiedenen Mannigfaltigkeit des Bewußtseinsinhalts zurück zu den Tatsachen, die unmittelbar erscheinen, zu den Dingen und ihrem Wesen führt. Derart gelingt die Bewußtseinserhellung. Interessant ist folgende Feststellung von Troller 6 : "Vom wurde dargetan, daß hoch bedeutende Juristen als Aufgabe der Rechtswissenschaft nur die Auslegung und Erklärung des geltenden Rechtes, nicht aber die Vorbereitung der Rechtssetzung ansehen. Ihre Arbeit beginnt also nicht bei den Lebensverhältnissen, die die einzige reale Grundlage der Rechtsordnung sind. Ihre Forschungsobjekte sind bloß die in Gesetzen, Urteilen und der Lehre verkündeten Ordnungsgrundsätze. Die darin enthaltenen Aussagen sind objektivierter Geist. Sie gehören teilweise sogar zum objektiven Geist, nämlich insoweit, als sie zum Bestandteil der allgemein gültigen Überzeugung von der richtigen Ordnung geworden sind. Gesetze, Urteile und rechtswissenschaftliche Dogmen sind als Aussagen über die Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen geistige Güter." Hier steht Troller auch unter dem Einfluß der modemen kritischen Ontologie Nicolai Hartmanns, den er an mehreren Stellen zitiert 7 • Uns interessiert hier freilich das Rechtsbewußtsein des Volkes. Es wird sich zeigen, daß das Rechtsbewußtsein des Volkes oder die Rechtsüberzeugung des Volkes der objektive Rechtsgeist ist. Man muß sich allerdings klarmachen, daß es sich hier bei den Termini "Bewußtsein", "Überzeugung" usw. um bloße HilJsbezeichnungen handelt, da nur der Mensch Bewußtsein hat. Dazu kommen wir später. Es wird sich noch zeigen, daß der Begriff des Bewußtseins des Volkes, d. h. der objektive Geist im Sinne der Auffassung von Nicolai Hartmann bzw. der Begriff des Rechtsbewußtseins des Volkes, d.h. der objektive Rechtsgeist, ungemein wichtig sind. Sie ermöglichen uns, solche Grundfragen zu lösen, wie z. B. das 4 5 6

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Troller, Überall gültige Prinzipien (FN 1), S. 39. Ebd., S. 42. Ebd., S. 47. Ebd., S. 47ff., 204, 208, 262ff.

Das Rechtsbewußtsein des Volkes

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Verhältnis des Rechts und der Macht, des Rechts und der Revolution sowie die schwierige Problematik des "Rechts" contra humanitatem. 11. Zur Geschichte des Bewußtseins des Volkes (des objektiven Geistes) Der Begriff des "Geistes", bzw. des "gemeinen Geistes" kommt schon bei Montesquieu (De l'esprit des lois, 1748, Livre XIX, chap. IV) vor: "Plusieurs choses gouvernent les hommes: le climat, la religion, les lois, les maximes du gouvernement, les exemples des choses passees, les mreurs, les manieres, d'ou il se forment un esprit general qui en resulte." Bei "gemeinem Geist" in Sinne Montesquieus handelt es sich nicht um eine spekulativ metaphysische Konstruktion, sondern sein "esprit general" ist etwas, was da ist, was empirisch bedingt ist. Der wahre Entdecker des objektiven Geistes war allerdings erst Hegel. Eine wirklich Hegeische Auffassung des objektiven Geistes erscheint freilich erst in seinem berühmten Werk "Rechtsphilosophie" (1820). Hier meint Hegel schon den überindividuellen, geschichtlich lebendigen Geist; gerade für den so aufgefaßten Geist prägte er den Terminus "objektiver Geist" (Nicolai Hartmann). In ihm erblickte Hegel den eigentlichen Geschichtsträger, den Schöpfer von Recht und Moral, Gemeinschaftorganisation und Staat, Bildung, Zivilisation und Kultur. Leider hat Hegel seine ganze Auffassung des objektiven Geistes mit seiner typisch spekulativen Metaphysik verdunkelt, wie Hartmann zeigt. Als metaphysische Konstruktion muß man alle diejenigen Züge bezeichnen, die den Boden des Aufweisbaren verlassen - also vor allem alle die Ausführungen, die von der Geist-Substanz handeln oder sie voraussetzen. Der objektive Geist ist kein Wesen hinter den Individuen, keine Substanz hinter dem geistigen Leben einer menschlichen Gemeinschaft; die Individuen sind keine bloßen Akzidentien. Der objektive Geist hat keine Personalität, kein Bewußtsein. Personen haben also ihrerseits einenVorrang, sie haben die Personalität. Der objektive Geist kann ohne Individuen überhaupt nicht existieren. Zwischen dem personalen und dem objektiven Geist ist das Tragen und Getragensein ein gegenseitiges. Es ist zwar wahr, daß der Einzelne im objektiven Geist verwurzelt ist, aber es ist nicht richtig zu meinen, daß niemand über den jeweils lebendigen objektiven Geist hinauswachsen kann. Solche Einzelpersonen existierten und existieren und erfüllen eine geschichtliche Aufgabe, indem sie die Kraft haben, die Menge nachzuziehen (Hartmann). Unter dem Einfluß der spekulativ-metaphysischen Philosophie steht auch die Lehre der Historischen Rechtsschule Savignys vom" Volksgeist" 8. Das Wesen 8 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, 3. Aufl., 1840, S. 11 ff.; ders., Über den Zweck dieser Zeitschrift,

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des Rechts erblickt diese Schule im allgemeinen Rechtsbewußtsein, in dem Volksbewußtsein, im "Volksgeist" , wie er sich in verschiedenen Zeitepochen und bei verschiedenen Völkern bildet. In diesem Volksgeist lebt das Recht, ebenso wie die Moral und die Sprache. "Das Recht wächst also mit dem Volke fort, bildet sich aus mit diesem und stirbt ähnlich ab, so wie das Volk seine Eigentümlichkeit verliert. Allein diese innere Fortbildung auch in der Zeit der Kultur hat für die Betrachtung eine große Schwierigkeit. Es ist nämlich oben behauptet worden, daß der eigentliche Sitz des Rechts das gemeinsame Bewußtsein des Volkes sei. Dieses läßt sich z. B. im Römischen Rechte für die Grundzüge desselben, die allgemeine Natur der Ehe, des Eigentums usw. recht wohl denken, aber für das unermeßliche Detail, wovon wir in den Pandekten einen Auszug besitzen, muß es jeder für ganz unmöglich erkennen. Diese Schwierigkeit führt uns auf eine neue Ansicht der Entwicklung des Rechts. Bei Steigen der Kultur nämlich sondern sich alle Tätigkeiten des . Volkes immer mehr, und was sonst gemeinschaftlich betrieben wurde, fällt jetzt einzelnen Ständen anheim. Als ein solcher abgesonderter Stand erscheinen nunmehr auch die Juristen. Das Recht bildet sich nunmehr in der Sprache aus, es nimmt eine wissenschaftliche Richtung, und wie es vorher im Bewußtsein des gesamten Volkes lebte, so fällt es jetzt dem Bewußtsein der Juristen anheim, von welchen das Volk nunmehr in dieser Funktion repräsentiert wird. Das Dasein des Rechts ist von nun an künstlicher und verwickelter, indem es ein doppeltes Leben hat, einmal als Teil des ganzen Volkslebens, was es zu sein nicht aufhört, dann als besondere Wissenschaft in den Händen der Juristen. Aus dem Zusammenwirken dieses doppelten Lebensprinzips erklären sich alle späteren Erscheinungen, und es ist nunmehr begreiflich, wie auch jenes ungeheure Detail ganz auf organische Weise, ohne eigentliche Willkür und Absicht, entstehen konnte." Nach Puchta, dem großen Systematiker der historischen Rechtsschule, besteht das Recht im Inhalt des Rechtsbewußtseins des Volkes 9. In seinem Werk "Das Gewohnheitsrecht" lehrt er, daß das Recht nationalen Charakter aufweist und vom Volksgeist hervorgebracht wird, wie dieser sich in der Rechtsüberzeugung des Volkes manifestiert. Puchta betont auch, daß das Rechtsbewußtsein immer mehr auf einen engen Kreis, d.h. auf die fachgebildeten Juristen, übergeht. "So geschieht es, daß auf natürlichem Wege die Juristen das Organ werden, in welchem sich die gemeinen nationalen Rechtsansichten aussprechen, und die gemeinsame Überzeugung des Juristenstandes dieselbe Stellung, wie die Überzeugung der Glieder der Nation überhaupt, einnimmt lO ."

Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Bd. I, 1815; ders., System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840. 9 Georg Friedrich Puchta, Das Gewohnheitsrecht, Teil I, 1828, Teil II, 1837; ders., Cursus der Institutionen, 10. Aufl., 1893, §§ 6,10, 11, 15,33; ders., Pandekten, 9. Aufl., 1863. 10 Puchta, Gewohnheitsrecht II (FN 9), S. 19f.

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Gegen die ganze Konzeption des Volkgsgeistes in der Auffassung der historischen Rechtsschule stellte sich eine Reihe von Denkern, freilich mit Einwendungen, die nicht das Wesen der ganzen Problematik sahen und oft auch die wahrhaft genialen Stellungnahmen dieser Schule negierten. Der Begriff des Volksgeistes hatte aber ein zähes Leben. So benutzt z. B. Wilhelm Wundt ll den Begriff des Volksgeistes als Ausdruck für eine selbständige Bedeutung der sozialen Koexistenz, des Faktums, daß sich die völkerpsychologischen Beziehungen nicht ohne die selbständige Bedeutung der sozialen Koexistenz erklären lassen; die völkerpsychologischen Gesetze lassen sich nicht auf die individualpsychologischen reduzieren. In der Rechtstheorie begegnet man dem Volksgeist bei Stier-Som16 12 , lose! Kohler 13 , Paul Oertmann 14 und dem Neohegelianer lulius Binder lS • Verwandte Züge mit dem Volksgeist weisen auch R. Saleilles 16 "Volksüberzeugung" oder Leon Duguits 17 "conscience collective des individues" auf. Mit dem Rechtsbewußtsein arbeitet aber auch ein neoscholastischer Rechtsphilosoph lohannes Messner, wenn er feststellt, daß das Rechtsbewußtsein sich entwickelt, und dazu sagt18 : "Unanfechtbare und fest umrissene Rechtsideen, die jetzt zum allgemeinen Besitz der Menschheit gehören, haben sich allmählich aus ursprünglich schwachen und unsicheren rechtlichen Vorstellungen entwickelt." Das menschliche Rechtsbewußtsein hat sich aber "nicht aus dem Nichts entwickelt, wie die juristische Evolutionstheorie glaubt. Im Anfang war das apriorische Wissen, daß Unrecht nicht Recht ist, nämlich das sittliche Bewußtsein der allgemeinsten Rechtsprinzipien, und dieses apriorische Wissen ist und bleibt unveränderlich. Auch Alfred Verdross beschäftigt sich mit unserem Begriff. Er betont19 , daß Rechtsbewußtsein niemals allein besteht. Es ist immer mit anderen sittlichen Vorstellungen verbunden. Gleichwohl deckt es sich nicht mit dem sittlichen Bewußtsein, sondern umfaßt nur jenen Ausschnitt, der das Zusammenleben der Menschen in einer Gemeinschaft zum Gegenstand hat. Das Rechtsbewußtsein entnimmt also, wie auch Coing hervorhebtl°, dem sittlichen Bewußtsein nur jene Bewertungen, die es für seine Aufgabe, das Zusammenleben der Menschen zu 11 Wundt, Über Ziele und Wege der Völkerpsychologie, Philosophische Studien, Bd. IV, 1888, S. 1 f. 12 Fritz Stier-Somlb, Die Volksüberzeugung als Rechtsquelle (Vortrag), 1900, S. 22. 13 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft I, 1915. 14 Oertmann, Volksrecht und Gesetzesrecht (Vortrag), 1898, S. 26. 15 Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 963, 1030, 1041, 1047. 16 Saleitles, Ecole historique et droit naturei, Revue trimestrielle de droit civil, 1,1902. 17 Duguit, L'Etat, le droit objectif et la loi positive, 1901. 18 Messner, Naturrecht, 1950, S. 173f. 19 Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 242ff. 20 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 51 ff.

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regeln, braucht. Verdross betont weiter, daß Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein nicht erst im Laufe der Menschheitsgeschichte entstanden sind, sondern zum Grundbestand des Menschen selbst gehören. Er beruft sich dabei auf Bergson 21 , der diese menschliche Urerfahrung als "natürliche Metaphysik des menschlichen Geistes" bezeichnet.

III. Das Rechtsbewußtsein des Volkes - der objektive Rechtsgeist Allen Versuchen gegenüber, dem objektiven Geist, also dem Bewußtsein des Volkes eine metaphysische Unterlage zu geben, ist es notwendig, am Grundgesetz der philosophischen Methode überhaupt festzuhalten22 : "Es muß beim Gegebenen einsetzen und von ihm aus erst die Wege weiteren Vordringens finden, wie sich die Möglichkeit dazu bietet." Die Schicht des geistigen Seins ist die höchste Schicht des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt, welche vier Schichten (die anorganische, die organische, die seelische und die geistige) aufweist. Die geistige Schicht weist eine dreifache Form des Seins des Geistes auf, und zwar die des personalen, objektiven und objektivierten Geistes. Eine Form ist auf andere restlos angewiesen; es geht um eine Einheit des ganzen geistigen Seins. Was den personalen Geist, und wir können sofort sagen, den personalen Rechtsgeist betrifft, so handelt es sich offensichtlich um die Einheit des geistigen Lebens des Individuums, um die "Person" mit allen ihren Prädikaten (Provenienz, Prädestination, Zwecktätigkeit, Wissen um Ideen und Freiheit des Willens). Hier überall tritt das Subjekt, die Person in Szene. Nur der Mensch kann Person sein im Sinne eines direkten Willenträgers. Nur der Mensch, die Person, hat Bewußtsein, hat Willensfreiheit, ist mit jenen Attributen, welche aus ihm eine Person machen, ausgestattet; nur der Mensch hat personalen Geist. Der objektive Geist hat weder Personalität noch Bewußtsein und kann deswegen ohne menschliche Individuen mit ihrem personalen Geist nicht existieren. Es handelt sich um ein wechselseitiges Tragen des objektiven und personalen Geistes. Der objektive Rechtsgeist ist das Rechtsbewußtsein des Volkes der betreffenden Rechtsgemeinschaft, die rechtliche Überzeugung des Volkes, seine rechtliche Gesinnung, sein Rechtsempfinden. Wenn man also beim objektiven Geist (Rechtsgeist) vom Bewußtsein (Rechtsbewußtsein), von der Überzeugung (Rechtsüberzeugung), von der rechtlichen Gesinnung, vom Rechtsempfinden spricht, so handelt es sich - wie schon am Anfang dieser Abhandlung angedeutet wurde - um bloße Hilfsbezeichnungen, da man keine besseren zur Disposition hat. Bergson, Evolution creatrice, 1908, S. 352. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 177f., 3. Aufl., S. 206; vgl. ders., Der Aufbau der realen Welt, 1940, S. 21. 21

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Man kann sagen, daß der objektive Geist nichts anderes ist, als die gleichartige Geformtheit alles individuellen Denkens und Auffassens innerhalb eines Volkes (oder auch einer Völkergruppe) in geschichtlich gleicher Zeit. Es ist geistige Geformtheit, die nicht von Individuum zu Individuum, wohl aber von Zeitalter zu Zeitalter wechselt. Objektiver Geist ist für den einzelnen eine relativ feste Basis, in geschichtlichem Zeitmaße aber ist er beweglich. Er ist etwas anderes als die Gemeinschaft der Individuen selbst, die ein Kollektivum ist. Er kann aber nur an und in einer Gemeinschaft von Individuen leben und besteht nur in ihr und mit ihr (Hartmann). Im Rahmen des objektiven Geistes gestaltet sich der objektive Rechtsgeist. Er ist das rechtliche Bewußtsein, die rechtliche Überzeugung, das rechtliche Empfinden des Volkes der betreffenden Rechtsgemeinschaft. Der objektive Rechtsgeist prägt sich selbst in bestimmte Formen, in rechtliche Objektivationen, in den objektivierten Rechtsgeist (in Gesetze, Verordnungen usw.), die er im Fortleben dauernd umprägt. Sobald sich diese Objektivationen von ihm ablösen und aus dem objektiven Rechtsgeist heraustreten, leben sie ihr eigenes Leben. Das Kollektivum bedarf der Formung durch den objektiven Geist. Nur wenn das Kollektivum durch den objektiven Geist (Rechtsgeist) geformt wird und wenn der objektivierte Rechtsgeist mit dem objektiven Rechtsgeist im Einklang steht, ist die Situation der Gemeinschaft gut. Die Formung ist immer Schöpfung des Geistes. Der Zusammenschluß der Individuen selbst wird nicht erst vom Geiste geschaffen. Der Geist übernimmt nämlich den Zusammenschluß vom organischen Leben und nur die Überformung zum höheren Gebilde ist sein Werk. Ein Volk ist Stammesgemeinschaft. Nicht der Geist also erdenkt oder erschafft erst die Gemeinschaft als solche; er übernimmt im Gegenteil die Gemeinschaft aus der Sphäre des organischen Lebens. Deshalb scheinen diejenigen Lehren nicht richtig zu sein, nach denen der Zusammenschluß der Individuen erst durch den objektiven und objektivierten Rechtsgeist erschaffen wird - im Sinne des bekannten Dictums "ubi societas, ibi ius" - und wie es sich die alten Vertragstheorien vorstellten, welche lehrten, daß der Geist das betreffende Kollektivum erst bildet. Auch das Tier lebt in einer Lebensgemeinschaft seiner Art. Nur bei den Menschen wird diese ungeistige Gemeinschaft organischen Charakters durch den Geist (besonders durch das Rechtliche und durch die Moral) zum höheren Gebilde, zur Einheit und Ganzheit, die aktionsrahig ist, überformt. Der Geist erschafft die menschliche Gemeinschaft und gestaltet sie in etwas anderes um, vor allem in den Staat. Der Staat wird also nicht von der Natur geschaffen, sondern vom Geist (Hartmann). Der objektive Geist (Rechtsgeist) ist eine tragende Grundlage der personalen Spontaneität und der schöpferischen Kraft. Das Individuum wächst in ihn hinein bis es seine Höhe erreicht. Erst nach der Erreichung dieser Höhe hat das Individuum eine gewisse Freiheit der geistigen Initiative; der freie Raum ist aber

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gering im Vergleich zu dem, was der Einzelne vom objektiven Rechtsgeist oder vom objektiven moralischen Geist übernimmt. Der objektive Geist (Rechtsgeist) trägt den personalen und ist wechselseitig durch ihn getragen. Die Tragfähigkeit des objektiven Geistes ist immer die größere, wie man das z. B. an dem Rechtsbewußtsein oder an dem moralischen Bewußtsein beobachten kann. Es ist der objektive Geist als bestehende Moral (moralischer Geist) und auch als Rechtsgeist, der die Lebenssituationen der Einzelnen mitgestaltet und durch sie hindurch im Anwachsen der moralischen und rechtlichen Erfahrung auch die Erweckung des Bewußtseins der realen Ideen und der idealen Normideen, besonders der Rechtsidee, bestimmt.

Der objektive Geist ist das, was in vielen Individuen lebt, sich tradiert, von uns allen übernommen und weitergegeben wird. In seinem ganzen Wesen ist er expansiv und seine Formung kann man mit keinen künstlichen Mitteln aufhalten. Der objektive Geist und seine inhaltliche Ganzheit sind in keinem menschlichen Bewußtsein beisammen und trotzdem sind sie da und werden als existierend zur Kenntnis genommen und respektiert. Die Teilnahme des Einzelnen an dem objektiven Geist (Rechtsgeist) ist zwar von grundlegender Bedeutung, trotzdem aber eine sehr beschränkte. Auch der aktiv im öffentlichen Leben Stehende hat in Wirklichkeit nicht die volle Überschau. Der objektive Geist ist in einem persönlichen Geist nurfragmentarisch vertreten. Im rechtlichen Gebiet schafft sich der objektive Geist eine besondere Organisation und viele Objektivationen, besonders in der rechtlichen Sphäre, wo wir es dann mit dem objektivierten Rechtsgeist zu tun haben. Der objektive Rechtsgeist schafft besondere Instanzen, besondere Organe, Gerichte usw. mit speziellen Verfahren, und so leistet er den Eingriffen der Einzelnen Widerstand, wenn sich die Eingriffe gegen den objektiven bzw. objektivierten Rechtsgeist wenden. Der Einzelne erlebt den Widerstand des geltenden Rechts in der Form einer Entscheidung des betreffenden Organs, Gerichts und eventuell auch in Form einer Exekution oder Strafe. Der objektive Rechtsgeist als das Rechtsbewußtsein des Volkes der betreffenden Gemeinschaft weist zwei grundlegende Bestandteile auf. Erstens geht es um das allgemeine Rechtsbewußtsein des Volkes, zweitens um das speziell juristische Rechtsbewußtsein, d. h. um die wissenschaftliche rechtliche Weltanschauung. Diese wissenschaftliche rechtliche Weltanschauung zieht hinter sich das allgemeine Bewußtsein des Volkes der diesbezüglichen Gemeinschaft und zeigt ihm den Weg. Die wissenschaftliche rechtliche Weltanschauung ist ein stufenförmiger Aufbau der einzelnen, vom Standpunkt des Rechtlichen relevanten Ideen und stellt einen Querschnitt durch die Rechtsanschauungen der besten Kenner des Rechtlichen dar. An der Spitze des Aufbaus steht die reale Idee des Rechts als eine dialektische Synthese von Gerechtigkeit, Freiheit des konkreten Menschen, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit. Unter dieser realen Idee des Rechts

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stehen dann die Ideen der Familie und der Ehe, des Vertrags, der Schuld und Haftung, der vollen Demokratie, des Primats des Völkerrechts, die Ideen des Volkes und des Staates, der politischen Parteien usw. Den Inhalt des objektiven Rechtsgeistes, und zwar in seinen beiden Formen, kann man erkennen. Was das allgemeine Rechtsbewußtsein betrifft, kommen verschiedene soziologische Methoden und Techniken in Betracht. Die Ergebnisse des Erkennens sind verifizierbar. IV. Einige Beispiele der grundlegenden Bedeutung des Rechtsbewußtseins des Volkes (des objektiven Rechtsgeistes) Erstens geht es um die immer sehr strittige Frage des Verhältnisses des Rechts und der Macht. Die rechtliche Macht ist keineswegs nur etwas Äußerliches. Das "Recht" ohne Macht ist kein Recht. Das Recht ohne Macht ist ein "Begriff', der einen inneren Widerspruch in sich trägt, da man mit den Worten "ohne Macht" den Inhalt dessen, was dem Recht immanent und in essentieller Weise eigen ist, nämlich die Macht, negiert. Recht ohne Macht ist ein Nonsens. Die Macht wieder, die nicht auf dem Recht beruht, ist eine unrechtliche,ja eine rechtswidrige, sie ist bloße Gewalt. Es scheint, daß es um einen "circulus vitiosus" geht, da die Macht auf dem Recht, das Recht aber wiederum auf der Macht beruhen soll. Es geht um ein altes Problem des Verhältnisses des Rechts und der Macht. Jede bestehende Macht ist getragen von der Gemeinschaft, in der und über die sie herrscht (Hartmann). Der Machthaber steht nicht auf sich selbst, sondern auf der Gemeinschaft. Macht hat er nur als Vertreter des "Willens" der Gemeinschaft. Besteht aber das Recht in nichts anderem als in einer Formel, in den Gesetzen? Dort, wo solche Bestimmungen nicht dem "Willen" der Gemeinschaft, dem Rechtsbewußtsein, dem objektiven Rechtsgeist entsprechen, wird sich eine Rechtsordnung nicht mehr lange Zeit in Geltung und Wirksamkeit halten.

Die Macht, die ein immanenter und essentieller Bestandteil des geltenden Rechts ist, ist keine andere als diejenige, die im Rechtsbewußtsein, in dem objektiven Rechtsgeist lebt. Der objektive Rechtsgeist ist es, der die Macht als den immanenten und wesentlichen Bestandteil des Rechts sowie das Recht, zu dessen Wesen die Macht gehört, vereint. Es ist notwendig, scharf zu betonen - und das in gewissem Widerspruch zur Fomulierung und Beantwortung dieser Frage von Nicolai Hartmann, der doch an einigen Stellen das Recht und die Macht nebeneinander stellt -, daß das Recht sowie die Idee und die Normidee des Rechts schon immanent, in ihrem innersten Wesen, die Macht beinhalten.

Das Recht und die Macht als ein immanenter und wesentlicher Bestandteil des Rechts haben ein und dieselbe Quelle ihrer Geltung und zwar das Rechtsbewußtsein des Volkes der Gemeinschaft, den objektiven Rechtsgeist. Das Recht 9 Festgabe für Alois Troller

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und die Macht sind keine unterschiedlichen Mächte, sondern die Macht gehört zum Wesen des Rechts. Zweitens: Der entscheidenden Bedeutung des objektiven Rechtsgeistes, also des Rechtsbewußtseins des Volkes, begegnen wir auch bei der Lösung der immer sehr strittigen Frage des Verhältnisses des Rechts und der Revolution.

Die geltende (positive) Rechtsordnung hat den Grund ihrer Geltung zuerst im objektiven Rechtsgeist. Der objektive Rechtsgeist ist infolge seines Schaffens und seines Umbildens durch die Idee und Normidee des Rechts ein entscheidender Faktor. Man wird sehen, daß auch die Revolution in ihm ihre innere Begründung hat; nur er verleiht ihr die Legitimation. Die Revolution steht nämlich im Recht, wenn sie den objektiven Rechtsgeist hinter sich hat. Die Mehrzahl von Unklarheiten und Fehlern in der Lösung dieser Grundfrage wird durch die Tatsache verursacht, daß entweder überhaupt nicht oder zumindest nicht mit genügender Folgerichtigkeit in methodologischer Hinsicht zwischen eirizelnen methodologischen Ausgangspunkten unterschieden wird. Es ist klar, daß für einen treuen Gesetzespositivisten die Sache ganz einfach ist. Ein solcher Positivist erkennt nur den immanent-positiv-rechtlichen Zutritt zur Problematik. Vom Standpunkt des positiven Rechts erscheint ihm die Revolution als eine Negation des Rechts undjede revolutionäre Tat als ein Delikt. Ein solcher Beobachter kann den wahren Kern der Revolution rechtsphilosophisch überhaupt nicht sehen. Bestenfalls erscheint ihm die Revolution als ein metajuristisches Problem. Das gilt allerdings mit einer Korrektur. Das eben Gesagte gilt ausnahmslos nur, wenn man vom Standpunkt der staatsrechtlichen Rechtsordnung die Lage beurteilt. Vom Standpunkt des Primats des Völkerrechts wird die Revolution als ein Tatbestand gesehen, den das Völkerrecht kennt und an den es Rechtsfolgen anknüpft. Jedenfalls aber ist - beim Primat des Völkerrechtsdie immanent positiv rechtliche Lösung nur um eine Stufe verschoben. Letztlich aber ist das Verhältnis des Rechts zur Revolution auch von diesem Standpunkt unerklärbar. Dieser Zutritt zu unserer Problematik darf aber keineswegs das letzte Wort der Rechtsphilosophie sein23 • Wir wissen schon, daß die Macht, die ein essentieller Bestandteil des geltenden Rechts ist, keine andere ist als diejenige, die im objektiven Rechtsgeist enthalten und lebendig ist. Die innere Geltung des Rechts ist mit der Macht, die das Recht über die Menschen ausübt, in diesem Sinne identisch. Die Macht des Machtträgers ist eine geliehene Macht. Derselbe objektive Rechtsgeist, den ein solcher Machtträger vergewaltigt, ist doch die einzige Quelle der Macht dieses Machtträgers. Die Macht, die den objektiven Rechtsgeist nicht mehr hinter sich hat, eine solche verselbständigte Macht ist zum Tode verurteilt. Wir haben es mit dem 23 Kubd, Das Recht und die Revolution, Österreichische Zeitschrift für das öffentliche Recht und Völkerrecht 30, 1979, S. 257ff.

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Phänomen der Revolution zu tun. Der objektive Rechtsgeist beginnt um eine neue Objektivation, um eine neue Rechtsordnung zu kämpfen, nämlich um eine solche Rechtsordnung, die im Einklang mit seiner ganzen Entwicklung steht. Wenn der objektive Rechtsgeist seine neue Objektivation auf dem "legalen", friedlichen Wege nicht verwirklichen kann, dann entsteht notwendigerweise eine Diskrepanz zwischen dem Rechtsbewußtsein des Volkes (dem objektiven Rechtsgeist) und der immer noch geltenden Rechtsordnung (dem objektivierten Rechtsgeist). Die Spannung steigert sich immer mehr, bis man zum Phänomen der Revolution kommt. Auf dem Wege der Revolution wird dann die Harmonie zwischen dem objektiven und dem objektivierten Rechtsgeist wieder hergestellt. Der objektive Rechtsgeist hebt seine Objektivationen aus früheren Zeiten auf und gibt sich neue Objektivationen, d. h. neue Gesetze und andere Rechtsnormen. Die geltende Rechtsordnung, also der objektivierte Rechtsgeist, hat den Grund der Geltung im objektiven Rechtsgeist. Auch die Revolution hat in ihm ihre innere Begründung und bezieht von daher ihre Legitimation. Die erfolgreiche Revolution, also eine Revolution, deren Folge eine neue Rechtsordnung, ein neues Recht ist, welches den Hauptmerkmalen des Rechts entspricht, d. h. vor allem die Faktizität (Effektivität) im Durchschnitt und den organisierten Rechtszwang im Durchschnitt aufweist, mit dem objektiven Rechtsgeist im Einklang steht und so zur realen Rechtsidee tendiert, hebt das bestehende Recht auf. Die eigentliche und unmittelbare Rechtsquel/e ist der objektive Rechtsgeist (das Rechtsbewußtsein des Volkes einschließlich der herrschenden rechtlichen Weltanschauung mit ihrer Tendenz zur realen Idee des Rechts).

Drittens geht es um die immer sehr strittige Frage des "Rechts contra humanitatem" . Einige Beispiele solcher "Rechtsnormen" contra humanitatem beleuchten unsere Problematik: -

Alle Neugeborenen sollen hingerichtet werden24 •

-

Für die Tat des einen Menschen soll immer ein anderer verantwortlich sein.

-

Alle Normen, die von einer Kollektivschuld ausgehen und eine Kollektivbestrafung anordnen2 5 •

-

Normen, die den Betroffenen einer Behandlung unterwerfen, welche ihm jegliche Selbstbestimmung vorenthält oder entzieht, wie etwa die Aberken-

24 Julius Moor, Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht, 1931, S. 104. 25 Dazu Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1907, S. 564; Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus, S. 338; German, Zur Problematik der Rechtsverbindlichkeit und der Rechtsgeltung, Revue Hellenique de Droit International, 1965, Sonderabdruck, S. 4fT.

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nung der Rechts- oder Geschäftsfähigkeit aus politischen, religiösen, weltanschaulichen, ideologischen Gründen, aus Rassengründen usw. -

Normen, die Zwangsversuche an Menschen oder Anwendung der Folter mit dem Ziel der Selbstbelastung der Betreffenden anordnen.

-

Normen, die eine Eröffnung reiner Willkür im Verfahren gegen Beschuldigte bedeuten.

Bei der Lösung dieser Grundfrage der Geltung der "Rechtsnormen" contra humanitatem kann man zwei entgegengesetzte Stellungnahmen, zwei "Idealtypen" von Lösungen feststellen. Für die erste Gruppe gilt ausnahmslos die Regel "lex dura, sed lex", "Gesetz ist Gesetz". "Quod principi placuit, legis habet vigorern" (D. 1,4,1 pr.), sagte schon Ulpian. In diese Gruppe gehören z. B. lohn Austin, Karl Bergbohm, Hans Kelsen, Franz Weyr, H. L. A. Hart und auch die bekannte Entscheidung des deutschen Reichsgerichtes (RG Z 118, 1928): "Der Gesetzgeber ist selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen hat." In die zweite Gruppe gehören z. B. Cathrein, Moor, Radbruch, Kaufmann, Coing, Zippelius, Verdross und andere. Erst auf der Grundlage der modemen kritischen Ontologie, die den objektiven Rechtsgeist (das Rechtsbewußtsein des Volkes) auf wissenschaftliche Basis stellte, kann man die Grundfrage der Geltung des "Rechts contra humanitatern" cum ratione sufficiente lösen. Es ist unmöglich im Rahmen des immanentpositiv-rechtlichen Standpunktes eine Lösung zu bringen. Hier muß man nur bemerken, daß wenn man noch im Rahmen dieses immanenten Standpunktes bleibt; wenn man also die Frage behandelt und die betreffende Staatsrechtsordnung gültig ist, ist es unmöglich, diese Frage von der Basis dieser Rechtsordnung zu lösen, sondern wir müssen uns über die betreffende Staatsrechtsordnung erheben und diese Frage auf der Grundlage der den Staatsrechtsordnungen übergeordneten Rechtsnormen des Völkerrechts lösen. Dasselbe gilt, wenn man die Frage der Geltung des Völkerrechts selbst oder einer völkerrechtlichen Norm behandeln will. Auch in diesem Falle kann man die Frage der Geltung nicht vom immanent-völkerrechtlichen Standpunkt lösen, sondern wir müssen noch höher aufsteigen und von dieser höheren Ebene über die Geltung des Völkerrechts bzw. der einzelnen völkerrechtlichen Rechtsnorm entscheiden. Keinesfalls genügt es, mit einer "Grundnorm" zu operieren. Es ist notwendig, über das positive Recht einschließlich des Völkerrechts aufzusteigen, um ein Kriterium zu finden, welches dem Recht übergeordnet werden kann. Das ist eben der objektive Rechtsgeist (das Rechtsbewußtsein des Volkes einschließlich der wissenschaftlichen rechtlichen Weltanschauung mit der realen Idee des Rechts an der Spitze), in welchem das gesamte System des Rechts verankert ist. Die reale Idee des Rechts mit ihren vier Bestandteilen gehört zum objektiven Rechtsgeist. Die Idee der Gerechtigkeit und die Idee der

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Freiheit des konkreten Menschen, die bedeutendsten Bestandteile der realen Idee des Rechts, sind direkte Gesandte der höchsten realen Idee der Humanität und ihre Stimme ist so mächtig, daß sie die Stimme der Idee der Rechtssicherheit übertönen kann, mindestens insoweit, daß ein krasser Widerspruch zu ihnen mit dem Recht unvereinbar ist. Das bedeutet, daß so ein grober Widerspruch die Ungültigkeit der Rechtsnorm bzw. der diesbezüglichen Staatsrechtsordnung zur Folge hätte. Hier ist es auch möglich, gerade immanent-positiv-rechtlich zu argumentieren und sich auf die allgemein anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts, besonders auf die Kataloge von Menschenrechten zu berufen. Wenn aber diese ganze positiv-rechtliche Argumentation versagt, fließt die Nichtigkeit der "Rechtsnorm contra humanitatem", auch wenn sie vielleicht im Völkerrecht enthalten ist, aus dem objektiven Rechtsgeist. Hieraus erhellt, welche entscheidende Bedeutung das Rechtsbewußtsein für die Lösung der Kemproblematik des Rechtlichen hat.

Zum Verhältnis von Positivität und Geschichtlichkeit im Recht Von Andres Ollero, Granada Positivität und Geschichtlichkeit des Rechts bilden eine Einheit seit den Kämpfen gegen die abstrakten rationalistischen Naturrechtslehren des 18. Jahrhunderts. Seitdem ist mit dem Wort "Recht" stets "positives Recht" gemeint. Es stellt sich daher die Frage, welche Bedeutung dieser Option für die Positivität zukommt, inwiefern sie sich als fähig erwiesen hat, die Geschichtlichkeit des Rechts mitzuvertreten. Die Entscheidung für die Positivität scheint mir in drei Hinsichten von grundsätzlicher Bedeutung: a) Erstens erhebt sie den Anspruch, die wissenschaftliche Rationalität in der Handhabung des Rechts zu garantieren, indem sie Recht als einen von guten Intentionen (Sollen) völlig losgelösten realen Gegenstand (Sein) entwirft. Der Normativismus macht das Wesen dieser juristischen Theorie aus, die das positive Recht als die Gesamtheit der "gesetzten" Normen auffaßt, und diese von den "vor-gesetzten" Normen der Moral und den präsumtiven "vorausgesetzten" Normen des Naturrechts unterscheidet. b) Für die Praxis bedeutet diese Entscheidung, daß die Sicherheit zum höchsten Rechtswert erhoben wird. Die möglichen Folgen eines abgegrenzten Rechts werden rational vorhersehbar. Dies vermeidet eine Rückwirkung der Rechtsnormen und konsolidiert die Bürgererwartungen. c) Zugleich wird mit der Entscheidung für die Positivität ein säkularisiertes, auf politischer Souveränität basierendes Legitimationsmodell für das Recht angestrebt. Dadurch ergibt sich eine Syntonie mit dem juristischen Voluntarismus, der das Recht ausschließlich als Befehl versteht, als Ausdruck des "Willens" des souveränen Gesetzgebers, dem man sich zu fügen hat. Die Annahme einer inhaltlichen, ethischen Verbindlichkeit des Rechts hat im normativistisch-voluntaristischen Konzept keinen Platz und erübrigt sich. Die hier umrissenen Implikationen der Entscheidung für die Positivität mußten bekanntlich revidiert werden, und zwar deshalb, weil sie den Aspekten der Geschichtlichkeit des Rechts nicht Rechnung getragen haben.

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I. Die statische Positivität des Gesetzespositivismus

Für den Gesetzespositivismus ist die Positivität des Rechts durch das Gesetz vollständig vorgegeben. Dadurch kann die Verwirklichung des Rechts als Resultat eines rein technischen Anwendungsverfahrens aufgefaßt werden. a) Kann dieses Modell als der rationale Ausdruck der Rechtswirklichkeit angesehen werden? Zweifel sind angebracht. Man geht heute dazu über, eine "racionalidad instantimea" (Lakatos) mit der Fähigkeit, Rationales von Irrationalem, Wissenschaftliches von Nichtwissenschaftlichem abzugrenzen, für unmöglich zu halten. Es ist daher nicht überraschend, daß eine statische Auffassung der Positivität - die ich auf spanisch als "positividad instantimea" bezeichnet habe - auch insoweit problematisch wird, als man ihr zutraut, das spezifisch Juristische so streng und deutlich abgrenzen zu können, als dies nach den Imperativen praktischer Rechtssicherheit und politischer Legitimität erforderlich wäre. b) Mit Argwohn beobachtet der Rechtspositivismus die Auslegungstätigkeit der Praxis, weil er in ihr die Absicht am Werke sieht, Spielräume für ein willkürliches "Ermessen" zu gewinnen. Für den Voluntarismus stellt die Auslegung eine rückwirkende Ersetzung des förmlichen Willens des Gesetzgebers dar, anstatt daß sie einen materiellen Inhalt rational entfaltet. Dagegen wird die schöpferische Auslegung, die die Geschichtlichkeit des Rechts zum Ausdruck bringt, als pathologische Erscheinung, als Bedrohung der Rechtssicherheit des Bürgers, aufgefaßt. c) Indem der strenge Gesetzespositivismus ein richterliches Ermessen nicht zuläßt, tritt er für eine Haltung politischer Loyalität ein, die "ideologische" Manipulationen, welche auf den Verrat der legitimen Herrschaft hinausliefe, prinzipiell verweigert. Doch zur Durchsetzung dieser Loyalität sollte es sich bald als wirksamer erweisen, ein noch der politischen Legitimation bedürftigeres Rechtshandeln zuzulassen als auf der Ablehnung der evidenten rechtsschöpferischen Kompetenz des Richters zu beharren. Da der Gesetzespositivismus der Geschichtlichkeit des Rechts knappe Beachtung schenkte, konnte er der dreifachen Zielsetzung (Rationalität, Sicherheit, Legitimität), die seiner Option für die Positivität des Rechts zugrunde lag, nicht gerecht werden.

11. Der richterliche Normativismus und die "abgestufte" Positivität Ausgerechnet die rigorosesten Positivisten sollten den extremen Gesetzespositivismus einer Korrektur unterwerfen. Sie folgten der Einsicht, daß das Recht nicht durch einen einzigen, es für alle Zeiten positivierenden Willensakt entsteht, sondern durch eine Abfolge von vielen Willensakten, so daß von einer - durch eine Kette von Rechtsentscheidungen begründeten - "abgestuften" Positivität (auf spanisch: "positividad escalonada") gesprochen werden kann.

Zum Verhältnis von Positivität und Geschichtlichkeit im Recht

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a) Diese "Stufentheorie" verleiht dem monolithischen Gesetzesnormativismus größere Flexibilität. Der Preis, den Kelsen entrichten mußte, ist das Modell

einer Rechtswissenschaft, die darauf verzichtet, die rationale Handhabung der Rechtspraxis garantieren zu wollen. Statt dessen beschränkt sie sich darauf, die Unvermeidbarkeit richterlicher Ermessensspielräume rational festzustellen. b) Dadurch, daß anerkannt wird, daß der Richter im gegebenen gesetzlichen Rahmen rechtsschöpferisch tätig ist, wird ihm eine begrenzte Willkür zugestanden. Die Kette der Entscheidungen "interpretiert" authentisch das von der anzuwendenden Norm Gewollte. Der Verzicht auf das Verbot rückwirkender Auslegung erweist sich als einschneidend: die Vorhersage künftiger Entscheidungen - der Kern der Rechtssicherheit - wird unmöglich. c) Im "dynamischen System" Kelsens verliert die durch Anwendung von zuvor gesetzten Normen vorgesehene Bindung der Entscheidung an Wirkung. Der Voluntarismus gewinnt an Kohärenz. Das Recht kann kein materieller Inhalt mehr sein, der die richterliche Willkür kontrolliert, sondern erscheint als nur noch kontrollierbare Willkürtätigkeit. Seine - rein formelle - Legitimation bezieht sich nicht auf eine durch rationale Verfahren erfaßbare Wirklichkeit, sondern ist lediglich durch die Achtung vor diesem Verfahren selbst begründet. Allerdings vernachlässigt dieses positivistische Richterrecht den Aspekt der Geschichtlichkeit des Rechts genau so wie der Gesetzespositivismus. Effektive Diachronie kann nur auf der Basis der Anerkennung eines unverändert bleibenden Kerns Bestand haben. Auch die "abgestufte" Positivität ist radikal ahistorisch. Sie setzt sich aus einer zufälligen Reihe und Zusammenstellung von isolierten Einzelelementen zusammen und ist keineswegs Ausdruck einer sich entwickelnden Wirklichkeit.

111. Eine "realistiscbe" FeststeUung: die "ex-post-facto"-Positivität a) In ihrer Revision des Normativismus reduzieren die "Realisten" das Sollen auf das Sein, die Norm auf das Faktum. Zur Verteidigung der positivistischen Rationalität verwerfen sie den Rechtspositivismus. Die Rede vom "gesetzten" Recht ist nicht rational, wenn man die Frage nicht entscheiden kann, ob das Recht angewandt wird, weil es gilt oder gilt, weil es angewandt wird (Ross). Nach der in sich vollendeten und nach der "abgestuften" Positivität haben wir es nunmehr mit einer dynamischen Auffassung der Positivität - die ich auf spanisch als "positividad sobrevenida" bezeichnet habe - zu tun, die nur "ex post facto" feststellbar ist. Der Unterschied zwischen dem Positiven und Nichtpositiven zerfällt. b) Das empirisch feststellbare Recht erscheint nicht als Resultat einer "Setzung". Vielmehr besteht es aus einer Gesamtheit von Tatsachen, die juristische Form angenommen haben, sei es als Ergebnis des praktischen Funktionierens einer institutionellen "Maschinerie", sei es - im Systemfunktio-

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nalismus - als Resultat theoretischer Selektionstätigkeit eines "Systems". Ohne einen identifizierbaren und datierbaren Willensakt können allein die Rege1haftigkeit der institutionellen Maschinerie oder das Vertrauen in die "Früchte" des Systems ein Gefühl der Sicherheit erzeugen. Wenn es schon nicht möglich ist, die Wirkungen der Norm genau vorherzubestimmen, so kann doch das Vertrauen ins Recht gestärkt werden, und zwar durch Verdeckung seiner Rückwirkung und ritualisierten Entdramatisierung der Enttäuschung von Erwartungen. c) Skandinavischer Realismus und Systemfunktionalismus sind sich in der Ablehnung des vorwissenschaftlichen Voluntarismus einig. Dadurch wird auch das dritte Motiv, das der Option für die Positivität zugrunde liegt, in Frage gestellt. Das "positive" Recht erhält seine politische Legitimation nicht mehr durch Inhalte, die in der Gesellschaft vorfindiich sind. Die juristische Positivität erleichtert dem Bürger nur einen adaptativen Lernprozeß, der es ihm gestattet, die eigenen Erwartungen zu strukturieren. Die Bürger nehmen lediglich an der technischen Herstellung einer "Legitimation durch Verfahren" (Luhmann) teil. Die soziale Anerkennung, die das Recht legitimiert, hat ihren Ursprung nicht mehr in freien Werturteilen, sondern im sozialen Klima selbst, d. h. in der im Wege des sozialen Lernens erzeugten allgemeinen Bereitschaft, rechtliche Entscheidungen hinzunehmen. Damit werden die Wege der Demokratie alten Stils verlassen. Von einem Recht, das zu wollen hat, was die Gesellschaft erwartet, erfolgt der Übergang zu einem Recht, das die Gesellschaft lehrt, was sie zu erwarten hat. Auch diese soziologischen Ansätze sind nicht in der Lage, die Geschichtlichkeit des Rechts zu erfassen. Sie sehen Recht nicht als Entfaltung von Realität,

der Wertpostulate innewohnen, sondern als eine Technik, die geeignet ist, eine risikofreie Zukunft durch Beherrschung von Freiheit zu schaffen.

IV. Die gescbichtliche Dimension der Positivität als "Prozeß der Rechtsverwirklichung" Die geschichtliche Dimension des Rechts besteht in einem kontinuierlichen Dialog von Norm und Faktizität. Darüber ergießt sich der ständig weiter ausschwellende Strom der Positivierung, welche den ontologischen Prozeß der Rechtsverwirklichung (Kaufmann) zum Vorschein bringt. Die Rollenverteilung, die in diesem Prozeß der des Richters entspricht, kann nicht so aufgefaßt werden, als ob es sich um eine schlichte Ersetzung des Gesetzesnormativismus durch einen Richternormativismus handelt. Die Geschichtlichkeit des Rechts bedeutet nicht nur Veränderung in der Hierarchie der Rechtsquellen; es kann ein ,jurisprudentielles Moment" (Lombardi-Vallauri) ausgemacht werden, das jeder Rechtswirklichkeit uneliminierbar zugehört. a) Dies alles läßt uns zu den am "System" von Normen orientierten Modellen der positivistischen Rationalität auf Distanz gehen und führt zur wissenschaftlichen Aufgabenstellung einer paradigmageleiteten Erkenntnisbe-

Zum Verhältnis von Positivität und Geschichtlichkeit im Recht

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mühung (Kuhn), die Frucht einer historischen Sedimentierung ist. Rechtliches Handeln besteht in einem "Urteil" über den realen Ausgleich einer Beziehung, im rationalen und praktischen Begreifen der Forderungen der Gerechtigkeit, die sich im Hinblick auf die Beurteilung gesellschaftlicher Wirklichkeiten einstellen. Hierbei kann es sich nicht nur darum handeln, die im Normtext "gesetzte" Lösung einfach "anzuwenden", auch wenn wir uns der praktischen Rationalität des Ergebnisses vergewissern könnten, indem wir es mit den von der Rechtsordnung abstrakt "vorgesetzten" Lösungen vergleichen. In jedem Fall erfordert das "Recht-Setzen" stets ein Hinausgehen über die durch den Normtext "vorgesetzte" Lösung. b) Zweitens könnte auch ein "Historismus" nicht zufriedenstelIen, der - als resignativer Ersatz für die vom Relativismus desavouierte Gerechtigkeit - die Rechtssicherheit zum höchsten Wert erklärte. Durch Desintegration der Objektivität des Wirklichen erreichte der Historismus, daß das Wesentliche und das Geschichtliche des Rechts auseinanderfallen. Das Geschichtliche aber muß nicht notwendig die Relativierung des Wesentlichen bedeuten, sondern es "soll" im Gegensatz dazu eine Aktualisierung des Wesens bewirken. Andererseits vermögen die logischen Mechanismen des begriffiichen "Systems" eine solche Rechtssicherheit nicht zu garantieren. Die Logik kann den (metalogischen) Sinn eines Rechtstextes nicht vermitteln; eine logische "Anwendung" des Rechts ohne seine vorherige hermeneutische "Auslegung" - die dem Bereich des Vorlogischen zuzuschreiben ist - ist nicht möglich. Um Unsicherheiten bei der Einschätzung der rückwirkenden Folgen einer Entscheidung zu begegnen, haben wir uns argumentativ auf den Boden der aktualisierenden justiziellen Entscheidung über die gerechteste Lösung zu stellen, wodurch die Möglichkeit ihrer Beachtung durch zukünftige Entscheidungen verstärkt wird. Die reine Willkür, auch die durch formelles Verfahren kontrollierte, ist nicht kalkulierbar. Lediglich die "Rechtfertigung" (Cotta) der Entscheidung kann einigermaßen sichere Anhaltspunkte schaffen. Es ist aber nicht möglich, das "gesetzte" Recht von den sinnstiftenden Werten abzugrenzen. Das Recht wird stets im Kontext von "vorausgesetzten" Werten "gesetzt". c) Die Antinomie-Objektivität-Geschichte relativiert die Gerechtigkeit. Ohne deren legitimierende Kraft würde nur die "Legitimation durch Verfahren" bleiben. Versteht man aber die Geschichtlichkeit als Ausdruck des Wirklichen, dann tritt etwas Verschiedenes ein: das Verfahren wandelt sich in das erste Erfordernis einer Legitimation durch Begründung mit etwas Wirklichem, nämlich der Menschenwürde. Diese ist mit einem willkürlichen Voluntarismus nicht zu vereinbaren, auch wenn dieser in seinen Konsequenzen der Menschenwürde entgegenkommt. Aber er fußt auf Verfahrensgrundsätzen, die das Ermessen weitgehend einer Kontrolle unterziehen. Deshalb darf das "Setzen" von Recht nicht in der Weise reiner Gewalt-"Durch-setzung" erfolgen. Der von Olivecrona verkündete "Abschied vom positiven Recht" gründet auf einer luciden Diagnose des ahistorischen Positivismus. Positivität und Ge-

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schichtlichkeit aber sind auch weiterhin aufeinander angewiesen, wenn die geschichtlichen Forderungen der Gerechtigkeit als existenzielle und praktische Aktualisierung von etwas Essentiellem - und nicht als dessen Negation - verstanden werden sollen. Die Geschichtlichkeit des Rechts präsentiert uns diesen Zusammenhang als einen Kontext von Forderungen, der notwendigerweise der "Setzung" bedarf, deren formaler Ausdruck in der Rechtsnorm aber stets nur einen Vorschlag "vor-setzt"; desweiteren als Kontext von Forderungen, auf dessen Anerkennung wir unablässig dringen, obwohl wir ihn im Prinzip als eine "Voraus-Setzung" zu formulieren hätten; außerdem als einen Kontext von Forderungen, der ständig um subjektive Beachtung bemüht ist, subsidiär aber auf zwangsweise "Durch-Setzung" angewiesen ist. Ausdruck dieser Suche nach einem "positiven" Recht ist die Absicht, "Negativ"folgen des Rechts so gering wie möglich zu halten. Dieses Ziel wird nur aufgrund einer beständigen ethisch begründeten Gerechtigkeitsbestrebung erreichbar sein, die freilich immer auf den Einsatz des formalen, auf Rationalitätskontrolle geeichten "positiv-rechtlichen" Instrumentariums angewiesen ist. Literatur Cotta, S., Giustificazione e obbligatorieta delle nonne, Milano 1981. Gonzalez Vicen, F., Estudios de filosofia dei derecho, La Laguna 1979. Kaufmann, A., Rechtsphilosophie im Wandel, Frankfurt 1972. Kelsen, H., Reine Rechtslehre, Wien 1960. Kuhn, T. S., The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962. Lakatos, I. / Musgrave, A., Criticism and the Growth of Knowledge, London 1970 (espanol: Barcelona 1975). Lombardi-Vallauri, L., Corso di filosofia dei diritto, Padova 1981. Luhmann, N., Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969. Olivecrona, K., Law as Fact, London 1971. Ollero, A., Interpretaci6n dei derecho y positivismo legalista, Madrid 1982. Ross, A., On Law and Justice, London 1958.

111. Formales Denken und Formale Logik im Dienste des Rechts

Expressive versus hyletische Konzeption der Normen?* Von Carlos E. Alchourron und Eugenio Bulygin, Buenos Aires I. Zwei Auffassungen der Normen In letzten Jahrzehnten sind Fragen nach dem ontologischen Status und den logischen Eigenschaften von Normen nicht nur von Rechts- und Moralphilosophen, sondern auch von einer ständig wachsenden Zahl "deontischer" Logiker verstärkt diskutiert worden. Dennoch wurde eine beträchtliche Anzahl sehr grundlegender Probleme offensichtlich nicht gelöst. Sie bleiben nach wie vor bestehen. Eines dieser Probleme ist die Frage nach der Möglichkeit einer Logik der Normen. Einige Autoren sind der Ansicht, es gebe logische Beziehungen zwischen Normen und sprechen sich daher für die Entwicklung einer spezifischen Logik der Normen aus. Sie wird gelegentlich "deontische Logik" genannt, obwohl "normative Logik" vielleicht ein treffenderer Name wäre l . Andere weisen schon die Möglichkeit einer solchen Logik zurück, da es in ihren Augen keine logischen Beziehungen zwischen Normen gibt. Ihrer Meinung nach kann deontische Logik nur die Form einer Logik normativer Propositionen annehmen, das heißt (wahrer oder falscher) Propositionen über (die Existenz von) Normen. 2 Ein anderes Grundproblem bzw. ein anderer Aspekt desselben Problems, über das keine Einigkeit herrscht, ist die Beziehung von Normen zur Wahrheit: während einige Autoren ohne weiteres Normen einen Wahrheitswert zuschreiben, 3 lehnen andere entschieden ab, daß Normen als wahr oder falsch angesehen werden können. Diese Frage hängt mit der ersten zusammen, allerdings auf ziemlich undeutliche Weise. Diejenigen Autoren, die glauben, daß Normen einen Wahrheitswert besitzen, akzeptieren sicherlich auch die Möglichkeit einer Logik der Normen. Das Umgekehrte gilt aber nicht: die Anerkennung logischer Beziehungen zwischen Normen führt nicht zwingend zu der Ansicht, daß Normen einen Wahrheitswert besitzen. 4 • Wir möchten David Makinson unseren Dank für seine hilfreichen Bemerkungen und die Korrektur von Stil und Inhalt ausdrücken. 1 Vgl. Kalinowskis Diskussion dieser Ausdrücke in Kalinowski 1978. 2 Vgl. D. Fellesdalund R. Hilpinen, Deontic Logic: An Introduction, in Hilpinen 1971. 3 U.a. Kalinowski und Rödig. 4 Vgl. G. H. von Wright 1963, Weinberger 1977.

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Eine dritte und mit dem vorhergehenden anscheinend nicht verwandte Frage ist die nach den Erlaubnisnormen. Eine große Zahl von Philosophen, vor allem Rechtsphilosophen, bestreitet die Existenz von Erlaubnisnormen und läßt nur einen Normentyp (Gebotsnormen, Imperative, Befehle) zu. Logiker und Juristen tendieren, obwohl vermutlich aus unterschiedlichen Gründen, in geringerem Maße zu einer solchen monistischen Auffassung und haben keine Bedenken, von Erlaubnisnormen zu sprechen (unabhängig davon, ob diese eine autonome Kategorie bilden oder auf Gebote zurückgeführt werden können). Schuld an diesen Diskrepanzen ist zu einem großen Teil die Tatsache, daß die Autoren bisweilen von zwei radikal verschiedenen und unvereinbaren Auffassungen der Natur der Normen ausgehen, die - wenn überhaupt - selten explizit dargestellt werden. Eine kurze Charakterisierung dieser Auffassungen könnte vielleicht erkennen helfen, warum verschiedene Verfasser verschiedene und sogar diametral entgegengesetzte Ansichten über einige ganz grundlegende Eigenschaften von Normen vertreten. Diese beiden Auffassungen werden im folgenden als hyle tische bzw. expressive Konzeption der Norm bezeichnet. Für die hyle tische Auffassung sind Normen propositionsartige Entitäten, also Bedeutungen bestimmter Ausdrücke, die normative Sätze genannt werden. Ein normativer Satz ist der linguistische Ausdruck einer Norm, und eine Norm wird angesehen als die Bedeutung eines normativen Satzes, ganz ähnlich wie eine Proposition als die Bedeutung (der Sinn) eines deskriptiven Satzes betrachtet wird. Aber normative Sätze haben anders als deskriptive Sätze eine präskriptive Bedeutung: daß etwas der Fall sein (oder getan werden) soll oder darf. Bei dieser Auffassung sind Normen nicht sprachabhängig; sie können zwar nur mit linguistischen Mitteln ausgedrückt werdens, aber ihre Existenz ist von jeglichem linguistischen Ausdruck unabhängig. Es gibt Normen, die noch in keiner Sprache ausgedrückt worden sind und vielleicht niemals ausgedrückt sein werden. Eine Norm ist - von diesem Standpunkt aus gesehen - eine abstrakte, rein gedankliche Entität. Normen sind aber von deskriptiven Propositionen nicht unabhängig: sie sind das Ergebnis einer Operation auf solchen Propositionen. In einer Norm ,Op' z. B. finden wir zwei Komponenten: eine deskriptive Proposition p und einen normativen Operator 0, die beide zum begrifflichen Inhalt der Norm gehören. In diesem Sinne gleichen normative Operatoren modalethischen Operatoren, und eine Norm ist eine Proposition ganz in dem Sinne, in dem eine modale Proposition wie Np als Proposition angesehen wird. Normen sind zu unterscheiden von normativen Propositionen, d. h. von deskriptiven Propositionen, die aussagen, daß p geboten (verboten oder erlaubt) ist gemäß irgendeiner bestimmten Norm oder Menge von Normen. Auch normative Propositionen, die als Propositionen über Mengen (Systeme) von 5 Der Ausdruck "Sprache" ist im weiteren Sinne zu verstehen; eine Geste, ein Blick, eine Verkehrsampel sind in diesem Sinne linguistische Ausdrücke.

Expressive versus hyletische Konzeption der Nonnen?

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Nonnen angesehen werden können, enthalten nonnative Ausdrücke wie ,geboten', ,verboten' usw., aber diese haben rein deskriptive Bedeutung. 6 Im folgenden werden die Symbole ,([j)' und ,1P' zur Bezeichnung dieser deskriptiven deontischen Operatoren benutzt. Für die expressive Auffassung hingegen sind Nonnen das Ergebnis eines präskriptiven Gebrauchs von Sprache. Ein Satz, der die gleiche Proposition ausdrückt, kann bei verschiedenen Gelegenheiten für verschiedene Dinge gebraucht werden: behauptend, fragend, befehlend, vennutend usw. Das Ergebnis der Durchführung dieser Handlungen ist dann eine Behauptung, eine Frage, ein Befehl oder eine Vennutung. Der Unterschied zwischen Behauptungen, Fragen, Befehlen usw. entsteht nur auf der pragmatischen Ebene des Sprachgebrauchs: auf der semantischen Ebene gibt es einen solchen Unterschied nicht. So kann z. B. die in dem Satz "Peter legt das Buch auf den Tisch" ausgedrückte Proposition gebraucht werden als eine Behauptung (Peter legt das Buch auf den Tisch.), als eine Frage (Legt Peter das Buch auf den Tisch?) oder als ein Befehl (Peter, leg das Buch auf den Tisch!). Die Zeichen J' und ,!' werden gebraucht zur Anzeige der Art (Behauptung oder Gebot) des von einem (ungenannten) Sprecher durchgeführten linguistischen Aktes. Diese Zeichen sind nur Hinweise auf das, was der Sprecher tut, wenn er bestimmte Worte äußert, sie tragen aber nichts zur Bedeutung (d. h. zum begriffiichen Inhalt) der geäußerten Worte bei. Sie zeigen, was der Sprecher tut, der aber sagt nicht, was er tut, während er es tut; also sind sie nicht Teil von dem, was er aussagt oder was seine Worte bedeuten. Der Ausdruck J p' gibt an, daß p behauptet wird, und ,fp' zeigt an, daß p befohlen wird, während ,Op' eine Proposition ausdrückt, daß p sein (getan werden) soll. ,Op' ist also das Symbol für eine Nonn in der hyletischen Auffassung, während ,fp' eine Nonn in der expressiven Auffassung symbolisiert. Es muß noch einmal unterstrichen werden, daß die Ausdrücke ,fp' und ,~p' nicht die Tatsache beschreiben, daß p befohlen oder behauptet wurde. Die Sätze "A behauptet, daß p" und "A befiehlt, daß p" drücken sicherlich Propositionen aus, die bestimmte Sprechakte beschreiben, aber sie sagen nicht, was mit diesen Propositionen getan wird: sie können jeweils behauptet, hinterfragt, befohlen werden usw. Aber ,fp' und Jp' drücken überhaupt keine Propositionen aus, obwohl sie mit Hilfe der Proposition p konstruiert sind; sie haben folglich keinen Wahrheitswert und können weder negiert noch mittels propositionaler Operatoren kombiniert werden. 7 Was ein Sprecher bei einer bestimmten Gelegenheit tut, kann von ihm nicht (bei derselben Gelegenheit) gesagt werden: es kann nur durch eine Geste, eine bestimmte Hebung der Stimme oder irgendein besonderes 6 Vgl. Alchourron und Bulygin, Von Wright on Deontic Logic and the Philosophy of Law, in: P. A. Schilpp (ed.), The Philosophy of Georg Henrik von Wright, Library of Living Philosophers, La SaUe, Illinois (demnächst). 7 Vgl. H. Reichenbach 1947, S. 337fT.

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Zeichen angedeutet werden, aber diese Mittel zeigen nur den Modus an, in dem der Satz gebraucht wird; sie bilden keinen Teil von dem, was der Satz aussagt (d.h. von seinem begrifflichen Inhalt). Für die expressive Auffassung sind Normen hauptsächlich Befehle, aber sie sind sorgfältig zu unterscheiden von Propositionen, die feststellen, daß eine bestimmte Norm existiert oder daß p geboten oder verboten ist, also von normativen Propositionen. Normative Propositionen hängen mit Normen auf folgende Weise zusammen: wenn p befohlen wurde, dann ist die Proposition, daß p geboten ist, wahr. Wenn ~ p (die Unterlassung von p) befohlen wurde, dann ist wahr, daß p verboten oder - was dasselbe ist - daß ~ p geboten ist. Die beiden Auffassungen von Normen sind radikal verschieden und unvereinbar; für einen irgendwie gearteten Eklektizismus ist kein Raum. Sind Normen Ausdrücke in einem bestimmten Handlungsmodus, dann sind sie nicht Teil der Bedeutung; sind sie Bedeutungen (Propositionen), so sind sie von jeglichem Sprachgebrauch oder Handlungsmodus unabhängig. Trotzdem halten sich viele Autoren nicht eindeutig an eine der beiden Auffassungen, sondern scheinen beiden gleichzeitig anzuhängen. Es ist kennzeichnend für die überaus diffizile Art des Problems, daß gerade die Philosophen, die am tiefsten in diese Problematik eingedrungen sind, zu denen gehören, die zwischen den beiden Auffassungen hin- und herzuschwanken scheinen. So zeigt sich C.!. Lewis klar als Expressivist, wenn er sagt: ". . . the element of assertion in a statement is extraneous to the proposition asserted. The proposition is something assertable; the content of the assertion; and this same content, signifying the same state of affairs, can also be questioned, denied, or merely supposed, and can be entertained in other moods as weil." Lewis erwähnt unter diesen "moods" explizit den "imperative or hortatory mood" und schließt bei seiner Charakterisierung "modal statements of possibility and necessity" ein. 8 Dagegen behandelt er in seiner modalen Logik den Ausdruck ,0 p' als Proposition, wobei der modale Operator der Möglichkeit Teil des Inhalts der Proposition ist. Ebenso finden wir bei von Wright Argumente, die es uns erlauben würden, ihn jeder der bei den Auffassungen zuzuordnen. Einerseits spricht er von "prescriptively interpreted deontic expressions" , zwischen denen bestimmte logische Beziehungen bestehen;9 danach scheint er zu den Anhängern der hyletischen Auffassung zu gehören. Andererseits stellt er fest: "it would be misleading to conceive throughout of the relation between norms and their expressions in language on the pattern of the above two ,semantic dimensions' [sense and reference]. At least norms that are prescriptions must be called neither the C. I. Lewis 1946, S. 49. G. H. von Wright 1963, S. 134; "The ,fully developed' system of Deontic Logic is a Theory of descriptively interpreted expressions. But the laws (principles, rules), which are peculiar to this logic, concern logical properties of the norms themseives, which are then reflected in logical properties ofnorm-propositions. Thus, in asense, the ,basis' ofDeontic Logic is a logical theory of prescriptively interpreted 0- and P-expressions." 8

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Expressive versus hyletische Konzeption der Normen?

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reference nor even the sense (meaning) ofthe corresponding norm-formulations .... the use of words for giving prescriptions is similar to the use of words for giving promises. Both uses can be called performatory uses of language."lo

Dies scheint mehr in Richtung des Expressivismus zu weisen. Diese Zitate aus den Arbeiten der Begründer modaler bzw. deontischer Logik zeigen, daß beide Auffassungen plausibel sind, wobei in manchen Zusammenhängen die eine plausibler ist als die andere und umgekehrt, so daß eine Entscheidung hinsichtlich der beiden Auffassungen nicht leicht fallt, bevor man nicht das ganze Ausmaß ihrer Konsequenzen untersucht hat. Nach dem Stand der Dinge teilen aber die meisten Rechts- und Moralphilosophen sowie die deontischen Logiker die expressive Normenauffassung; die auffallendsten und deutlichsten Fälle unter ihnen sind Bentham, Austin, Ke1sen, AlfRoss, Hare, Jörgensen, Moritz, Hansson, Äquist, Raz und von Kutschera. ll Zu den weniger zahlreichen Vertretern der hyletischen Auffassung kann man Kalinowski und Weinberger zählen. 12 Es kann nicht überraschen, daß derartig antagonistische Ansichten über die Natur von Normen zu sehr unterschiedlichen Antworten auf die drei am Anfang dieser Arbeit erwähnten Probleme führen. Für die expressive Auffassung kann es keine Logik der Normen geben, weil es keine logischen Beziehungen zwischen Normen gibt. Deontische Logik kann nur die Form einer Logik normativer Propositionen annehmen. 13 Für die hyletische Auffassung dagegen gibt es zwei Logiken: eine Logik der Normen und eine Logik normativer Propositionen. 14 Die Lage hinsichtlich der zweiten Fragestellung ist weniger klar. Anhänger der expressiven Auffassung vertreten die Ansicht, Normen hätten keinen Wahrheitswert; unter den Vertretern der hyletischen Auffassung gibt es dagegen zwei Richtungen. Einige von ihnen 1s glauben, Normen seien wahr oder falsch; andere behaupten, sie hätten keinen Wahrheitswert. 16 Diese Frage soll hier nicht diskutiert werden. Die meisten Expressivisten bestreiten die Existenz von Erlaubnisnormen (was nicht die Verneinung der Existenz erlaubter Sachverhalte bedeutet), weil sie nur Von Wright 1963, S. 94. Vgl. Bibliographie. Ein weniger deutlicher Fall- zumindest auf den ersten Blick ist der von Castaiieda, aber man sollte sich nicht von Unterschieden in der Terminologie irreführen lassen. Was Castaiieda ,norms' nennt, sind normative Propositionen (in unserem Sinne); er hat also eine sehr interessante Theorie normativer Propositionen, aber er analysiert keine Normen, die als ,regulations', ,ordinances' oder ,rules' bezeichnet werden. Vgl. Castafieda 1978. 12 Vgl. Kalinowski 1967 und 1978, Weinberger 1978. 13 D. Follesdal und Hilpinen, 1971, S. 7f. 14 Vgl. Alchourron 1969 und 1972. IS Kalinowski 1967 und 1978. 16 Vgl. Weinberger 1978, von Wright 1963, 1968, Alchourron/ Bulygin 1971. 10

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eine Art nonnativer (präskriptiver) Handlung zulassen: das Befehlen. Diese Version der expressiven Auffassung ist die imperative Normentheorie. Es gibt aber auch unter eindeutigen Expressivisten Ausnahmen; einige von ihnen lassen einen besonderen nonnativen Akt zu: den des Erlaubens. 17 Wir werden später sehen, ob es Gründe für die expressive Auffassung gibt, neben Befehlen andere Arten von nonnativen Akten sowie die Existenz pennissiver Nonnen anzuerkennen. Für die hyletische Auffassung ergeben sich solche Probleme nicht; daher akzeptieren die Autoren, die diese Auffassung teilen, zumindest zwei Arten von Nonnen: gebietende oder O-Nonnen und permissive oder P-Normen. Absicht dieser Arbeit ist eine einigennaßen detaillierte Untersuchung der expressiven Auffassung. Bei näherem Hinsehen erweist sie sich als sehr viel wirksamer als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn man sie in angemessener Weise um einige Begriffe (die mit ihrem Geist vereinbar sind, aber von ihren Anhängern gewöhnlich übersehen werden) erweitert, dann ist sie in der Lage, wenn nicht alle, so doch die meisten wichtigen Eigenschaften des nonnativen Phänomens einzufangen. Viele Expressivisten müssen aber, wie Horatio, mehr Dinge akzeptieren als sich ihre Philosophie erträumen läßt.

In früheren Veröffentlichungen, vor allem in Normative Systems, waren wir Anhänger der hyletischen Auffassung. Nonnen wurden als abstrakte Wesenheiten behandelt, als Propositionen mit präskriptiver Bedeutung, die in logische Beziehungen eingehen konnten. Seither sind wir uns bewußt geworden, daß die meisten Verfasser die expressive Auffassung teilen. Es erschien uns daher interessant, deren Möglichkeiten zu untersuchen, um ihre Grenzen aufzudecken und die Unterschiede zwischen den beiden Auffassungen zu zeigen. Das war der Ausgangspunkt für diese Arbeit. Wir haben jetzt den Eindruck, daß in beiden Auffassungen die gleichen begriffiichen Unterscheidungen auftreten, obwohl sie natürlich in verschiedenen Sprachen ausgedrückt werden. Die Wahl zwischen ihnen wird durch ontologische Überlegungen bezüglich der Natur von Nonnen bestimmt, aber es scheint keinen zwingenden Grund zu geben, der eine Entscheidung zugunsten einer der beiden rechtfertigen würde. Es sieht somit letztendlich so aus, als handele es sich mehr um ein Problem des philosophischen Stils oder sogar der persönlichen Vorliebe als um eine Frage der Wahrheit. Wir halten es mit Carnap: "Let us be cautious in making assertions and critical in examining them, but tolerant in permitting linguistic fonns."

11. Normen und Normative Systeme Die expressive Auffassung befaßt sich hauptsächlich mit Nonnen, die von einer Nonnen-Autorität erlassen werden und an andere Personen (Nonnen17

Vgl. Moritz 1963.

Expressive versus hyletische Konzeption der Normen?

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Subjekte) gerichtet sind, d. h. mit Normen, die von Wright prescriptions nennt. 18 Wir wollen also nur diese Art von Normen betrachten, für die viele Rechtsnormen ein deutliches Beispiel darstellen. 19 Wir wollen mit einer Untersuchung der imperativen Normentheorie beginnen, die nur eine Art des normativen Akts zuläßt, nämlich den Akt des Befehlens, und folglich nur eine Art Norm: gebietende Normen. (Es ist unbedeutend, ob sie als Gebote oder Verbote angesehen werden.) Das Befehlen ist im Grunde ein linguistischer Vorgang, ein Sprechakt. Es besteht im Formulieren bestimmter Worte (oder anderer Symbole) mit einer bestimmten Bedeutung. Eine Norm ist ein sinnvoller Satz in seiner imperativen Anwendung (!p). Der Inhalt der Norm ist die Proposition, die mit "p" ausgedrückt wird. Also kann der Akt des Befehlens beschrieben werden als der Akt des Erlassens einer Norm. Der Akt des Erlassens ist von temporärer, aber momentaner Existenz. Von Normen wird aber gesagt, sie existierten fortwährend über eine bestimmte Zeitspanne hinweg. Dies ist ganz klar der Fall bei Rechtsnormen. Wie kann dieses Merkmal von Normen in der expressiven Auffassung erklärt werden? Um dies zu veranschaulichen, werden wir in Anlehnung an Hart eine vereinfachte Situation annehmen, bei der eine bestimmte Bevölkerung, die in einem bestimmten Land lebt, von einem absoluten Monarchen namens Rex regiert wird. Rex kontrolliert sein Volk mittels allgemeiner Befehle, die die Ausführung bestimmter Dinge und die Unterlassung bestimmter anderer Dinge verlangen. Weiter wollen wir annehmen, Rex sei die einzige legislative Autorität dieses Landes. Von Zeit zu Zeit führt Rex die Handlung des Befehlens einer bestimmten Proposition oder einer Menge von Propositionen durch. Die von Rex befohlenen Propositionen bilden eine Menge, die Befehlsmenge A. ledesmal, wenn Rex einen neuen Befehl erläßt, vergrößert sich diese Menge um die neue von Rex gebotene Proposition und wird so zu einer neuen Menge, etwa Al. Im Laufe der Zeit haben wir folglich nicht eine Menge, sondern eine Folge von Mengen (A 1, A 2 ... An). Bislang (d. h. solange nur die imperativistische Spielart des Expressivismus akzeptiert wird) können diese Mengen nur durch Hinzufügen neuer Propositionen vermehrt werden, so etwas wie Subtraktion gibt es indessen nicht. Eine Proposition wird zum Element einer Menge der Folge als Ergebnis eines von Rex durchgeführten Befehlsaktes. Wir können also sagen, daß die Norm!p von dem Moment an existiert, in dem p geboten wurde und damit die Proposition p Element der entsprechenden Menge geworden ist. Dies ist Von Wright, 1963, S. 7ff. Die Theorie kann aber auch an Gewohnheitsnormen angepaßt werden. Deren Existenz hängt ab von bestimmten Dispositionen, die durch bestimmte Handlungen offenbar werden. 18

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natürlich nur eine Redeweise. Tatsächlich ist die Norm !p von momentaner Existenz, genau wie der Akt des Befehlens von p. Wesentlich ist aber, daß alle zur Menge A gehörigen Propositionen in A als geboten angesehen werden. Da ein und dieselbe Proposition p Element z. B. von aufeinanderfolgenden Mengen A 2 , A 3 ••• An sein kann, ohne Element von Al zu sein, istpnicht geboten in Al> wohl aber in A 2 usw. Solange die aufeinanderfolgenden Mengen durch neue Befehle nur vergrößert werden können, gehört das zum Zeitpunkt 11 gebotene p zu allen Mengen, die auf die 11 zugeordnete Menge folgen. Die Existenz einer Norm (= die Zugehörigkeit des Norm-Inhalts) hängt also von bestimmten empirischen Tatsachen ab (Akt des Erlassens im Falle von Vorschriften; bestimmte Handlungen, die über Dispositionen Aufschluß geben, im Falle von Gewohnheits-Normen). Da es keine logischen Beziehungen zwischen Tatsachen gibt, gibt es folglich keinen Raum für eine Logik der Normen. Dies schließt aber nicht die Möglichkeit einer Logik normativer Propositionen aus. Wie wir schon bemerkt haben, ist die Proposition, daß p in A geboten ist, wahr, wenn p von Rex befohlen wurde und so Element der Befehlsmenge A ist. Dies ist zwar eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für die Wahrheit von "p ist geboten in A". Es kann vorkommen, daß Rexp nie befohlen hat, daß er aber z. B. p & q befohlen hat. Dies ist eine andere Proposition, und folglich würde nach unseren Kriterien p nicht zu A gehören. Da aber p eine Folge von p & q ist (weil es logisch von p & q ableitbar ist), ist auch wahr, daß p in A geboten ist. Das Gebotensein von p ist eine Folge des Gebotenseins von p & q, weil p eine logische Folge von p & q ist. Wir können nun den Begriff eines normativen Systems als die Menge aller Propositionen definieren, die Folgen der explizit befohlenen Propositionen sind. 20 (Obwohl wir den traditionellen Ausdruck "normatives System" verwenden, muß betont werden, daß für die expressive Auffassung ein normatives System nicht eine Menge von Normen ist, sondern eine Menge von NormInhalten, d. h. von Propositionen.) Dies setzt uns in die Lage, zu unterscheiden zwischen der Menge A (die von allen explizit befohlenen Propositionen gebildet wird) als der axiomatischen Basis des Systems und dem normativen System Cn( A). welches die Menge aller Folgen aus A ist. Wir können jetzt unser Kriterium für die Wahrheit einer normativen Proposition korrigieren: ,p ist geboten in A' (0 A(P)) ist wahr dann und nur dann, wenn p Element des Systems Cn ( A) ist - d. h. dann und nur dann, wenn p zu den Folgen aus A gehört. Dies bedeutet, daß p in A geboten ist dann und nur dann, wenn p befohlen wurde oder wenn p eine Folge von den Propositionen ist, die befohlen wurden. Im letzteren Fall sagen wir, daß p ein abgeleitetes Gebot ist. 20

XVI.

Über die Vorstellung von Folgerung siehe Tarski 1956, besonders 111, V, XII und

Expressive versus hyletische Konzeption der Normen?

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Die Idee des abgeleiteten Gebots hängt zusammen mit der Idee des impliziten Befehls. Letzterer steht seinerseits in enger Beziehung zum Begriff der impliziten Behauptung. Tatsächlich gibt es mindestens zwei unterschiedliche Weisen, wie man eine von einer Person aufgestellte Behauptung auffassen kann. Im psychologischen Sinne von "Behauptung" wird beim Akt des Behauptens der geäußerte Satz behauptet und nicht die mit diesem Satz ausgedrückte Proposition. In diesem Sinne von "behaupten" hat X mit der Behauptung "Hans küßte Maria" nicht behauptet, "Maria wurde von Hans geküßt", weil dies ein anderer Satz ist, obwohl beide Sätze dasselbe bedeuten, d. h. dieselbe Proposition ausdrücken. In einer anderen, nicht-psychologischen Bedeutung von "Behaupten" aber behauptet X mit der Behauptung "Hans küßte Maria" explizit die mit diesem Satz ausgedrückte Proposition und folglich auch, daß Maria von Hans geküßt wurde, und überdies behauptet er damit (implizit) alle Propositionen wie "Jemand küßte Maria" -, die Folgen der explizit behaupteten Propositionen sind. Dies ist eine nicht-psychologische Bedeutung von Behauptung, denn es ist offensichtlich, daß die fragliche Person wahrscheinlich überhaupt nicht an alle solche Propositionen gedacht hat und deshalb auch nicht die geringste Absicht hatte, sie zu behaupten. Es kann sogar der Fall eintreten, daß q eine Folge vonp ist und daß die Person, die p behauptet, nicht nur dies nicht weiß, sondern sogar glaubt, q sei falsch. Ist sie nicht dazu bereit, q zu behaupten (z. B. weil sie es für falsch hält), so können wir zeigen, daß ihr Standpunkt widersprüchlich ist, indem wir beweisen, daß q aus p folgt. Dies ist eine sehr verbreitete Argumentationsweise: wir versuchen oft, unseren Gegner zu widerlegen, indem wir zeigen, daß die von ihm behaupteten Propositionen eine Proposition zur Folge haben, die er nicht anerkennen will. Diese Art von Argumentation stützt sich auf die Idee der impliziten Behauptung: dabei stellt man alle Propositionen fest, die eine Folge der explizit behaupteten Propositionen sind. In diesem Zusammenhang kann man an einen berühmten Fall erinnern. Als Russell einen Widerspruch in Freges System fand, hatte dies eine verheerende Wirkung auf Frege. Warum? Frege hatte gewiß keine widersprüchliche Proposition behauptet; aber Russell zeigte, daß eine sich selbst widersprechende Proposition ein Theorem (eine Folge) von Freges System war. Frege hatte sie durch die Behauptung der Axiome seines Systems implizit behauptet, und er konnte nicht die Axiome aufrechterhalten und dieses Theorem zurückweisen. Man kann denselben Typ von Beobachtung hinsichtlich des Befehlsakts machen. Auch hier haben wir eine nicht-psychologische Bedeutung von impliziten Befehlen. Wenn eine Person etwas befiehlt, dann befiehlt sie auch alle Folgen von dem, was sie explizit befohlen hat (selbst, wenn ihr diese nicht bewußt sind). Wenn z. B. ein Lehrer befiehlt, alle Schüler sollten das Klassenzimmer verlassen, dann befiehlt er implizit auch, daß Hans (der einer von den Schülern ist) das Klassenzimmer verlassen soll, selbst wenn ihm nicht bewußt ist, daß Hans anwesend ist.

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Diese Überlegungen zeigen, daß es logische Beziehungen zwischen normativen Propositionen gibt. Neben dem Gebot können wir auch die Begriffe des Verbots und der Erlaubnis für normative Propositionen definieren: p ist verboten in A(O A( '" p)): = die Negation von p ('" p) ist Element des Systems Cn( A). p ist erlaubt in A (lPA(P)): Cn( A).

=

die Negation von p ('" p) ist nicht Element von

Selbst wenn es für die imperative Normentheorie keine Erlaubnisnormen gäbe, so gibt es doch erlaubte Propositionen oder Sachverhalte. Nach der Definition ist p in A erlaubt dann und nur dann, wenn p in A nicht verboten ist. Dies zeigt, daß Erlaubnisse einen anderen normativen Status haben als Gebote und Verbote. Die Erlaubnis von p wird durch das Unterlassen bestimmter Akte (Akte des Verbietens von p oder - was dasselbe ist - des Befehlens von", p) gegeben, während das Verbot (das Gebot) die Existenz bestimmter normativer Akte verlangt. Die Analysen in diesem Abschnitt zeigen, daß man einen sorgfältigen Unterschied machen muß zwischen: a) dem Akt des Erlassens einer Norm (Befehlen), b) der Operation des Hinzufügens von neuen Elementen zu einem System als Ergebnis solcher Akte und c) den Kriterien, nach denen ein solches Hinzufügen von Elementen geregelt wird. Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß das, was als Folge des Erlassens einer Menge von Propositionen B zu dem System A hinzugefügt wird, nicht nur die Menge B ist, sondern auch alle ihre Folgen und überdies all die Propositionen, die - ohne Folgen von B oder von A zu sein - nichtsdestotrotz Folgen von A und B zusammen sind. Mit anderen Worten ist das resultierende System, wenn wir einer Menge A die Menge B hinzufügen, nicht Cn( A) + Cn( B), sondern Cn( A + B). In den meisten Fällen ist diese letzte Menge beträchtlich größer als die erste.

III. Ablehnung Nehmen wir an, Rex wird sich darüber klar, daß der Sachverhalt p, den er vor einiger Zeit verboten hat, jetzt nicht verboten sein sollte (vielleicht, weil er mit dem Verbot von p einen Fehler gemacht hat oder weil die Umstände, die das Verbot von p erforderlich machten, sich geändert haben). Er möchte also p erlauben; wie kann er das erreichen? Wenn der Akt des Befehlens von", p erst einmal ausgeführt ist, kann natürlich niemand diese Tatsache abändern. Es wird also immer wahr sein, daß p in A verboten ist. Wenn Rex p erlauben will, so muß er das System in ein solches umändern, zu dem '" p nicht gehört. Diese Änderung ist aber unmöglich, solange es nur Befehlsakte gibt, die in der imperativen Normentheorie allein zugelassen werden. Durch Befehlen kann ein erlaubter Sachverhalt verboten

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werden, aber nicht umgekehrt. Oie Änderung eines Verbots in eine Erlaubnis verlangt eine Sub traktions-Operation; Addition allein ist offensichtlich nicht ausreichend. Um also p zu erlauben, muß Rex die Norm, die p verbietet, zurücknehmen oder aufheben; noch genauer muß er "'paus dem System entfernen. Hierzu muß er zunächst identifizieren, was er entfernen will ( '" p) und anschließend die Operation der Subtraktion von '" p durchführen, so daß als Ergebnis dieser Operation", p aus dem System entfernt wird. Hier muß wieder unterschieden werden zwischen dem von Rex ausgeführten Akt, der Ablehnungsakt genannt werden soll, der Operation des Entfernens von bestimmten Propositionen aus dem System und den Kriterien, die diese Entfernung regeln. 21 Wir wollen mit der Analyse des Ablehnungsaktes beginnen. Genauso, wie es (unter anderem) zwei Arten von auf Propositionen bezogenen Haltungen gibt: deskriptive und präskriptive, d. h. in diesem Zusammenhang Behaupten und Befehlen, so gibt es zwei Arten von Ablehnungsakten, die sich auf dieselbe Proposition beziehen können. Wir wollen sie deskriptive und präskriptive Ablehnung nennen. Der Inhalt beider Arten von Akten ist eine Proposition, aber die beiden Akte lehnen sie auf unterschiedliche Weise ab. Der erste Ablehnungsakt ist einer Behauptung entgegengesetzt, der zweite einem Befehl. Wir wollen die Zeichen, -1' und ,i' benutzen, um die beiden Arten der Ablehnung zu symbolisieren. Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß Ablehnen nicht dasselbe ist wie Negieren. Wenn wir eine Proposition negieren, so behaupten wir eine andere Proposition, die die Negation der ersten ist. Folglich bedeutet das Negieren von p das Behaupten von", p. In ähnlicher Weise kann das Negieren des Befehls, daß p, angesehen werden als das Befehlen, daß '" p: in diesem Falle wäre die Negation des Befehls, daß p, das Verbieten, daß p. Wenn also Rex, um zu erlauben, daß p, das Verbieten, daß p, negieren würde, indem er befiehlt, daß p, so würde er damit nichts weiter erreichen als die Einführung eines Widerspruchs in das System: sowohl p wie auch '" p würden zu Cn ( A) gehören, die Propositionen "p ist geboten in A" und "p ist verboten in A" wären beide wahr und weder p noch '" p wären erlaubt. Dies ist nicht das, was Rex erreichen will, wenn er p erlauben will. Ablehnung ist also eine andere Art von Sprechakt; wer eine Proposition ablehnt, behauptet dazu keinerlei Proposition. Es ist der gleiche Unterschied wie zwischen einem Atheisten und einem Agnostiker. Der Atheist negiert die Existenz Gottes; er tut dies, indem er die Proposition behauptet, daß Gott nicht existiert. Der Agnostiker lehnt die Proposition ab, daß Gott existiert, ohne die Proposition zu behaupten, daß Gott nicht exisiert. Nebenbei zeigt dies auch, daß 21 Über den Begriff der Derogation gibt es nur wenig Literatur. Vgl. die ausgezeichnete Arbeit von Cornides, der ein echter Vorreiter auf diesem Gebiet ist. Weinbergers Unterscheidung zwischen ,Begrenzungssatz' und ,Tilgungsoperation (Streichung)' scheint unsere Unterscheidung zwischen Ablehnung und Ausschließung aufzunehmen. Vgl. Weinberger 1978, S. 192.

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der Standpunkt eines Skeptikers nicht notwendig widersprüchlich ist. Es wäre selbst-widerlegend, wenn der Skeptiker behaupten würde, daß man nichts wissen kann, denn damit würde er zumindest die Proposition zu wissen beanspruchen, daß man nichts wissen kann. Wenn er aber nicht mehr tut, als alle Propositionen abzulehnen, so behauptet er keine Proposition, und sein Standpunkt ist völlig kohärent. In ähnlicher Weise ist die (präskriptive) Ablehnung von P keinerlei Vorschrift; insbesondere ist sie kein Verbot von p. Das Zeichen ,i' ist also ein bloßer Indikator für einen bestimmten Sprechakt und bildet keinen Teil des begrifflichen Inhalts dieses Akts. (,iP' drückt genau wie ,fp' keine Proposition aus, sondern gibt nur an, was mit der Proposition P getan wird.)22 Wenn Juristen von Derogation sprechen, dann geht es normalerweise um die Ablehnung eines Norm-Inhalts. Keine Ablehnung ist erforderlich, wenn das, was derogiert wird, nicht ein Norm-Inhalt ist, sondern nur die Formulierung einer Norm (ein Satz). Wenn der Gesetzgeber bemerkt, daß es zwei oder mehr überflüssige Formulierungen gibt, d. h. daß derselbe Norm-Inhalt z. B. durch verschiedene Paragraphen eines Gesetzes ausgedrückt wird, dann möchte er vielleicht die überflüssigen Formulierungen aufheben, ohne den Norm-Inhalt zu eliminieren. In diesem Fall will er die überflüssigen Formulierungen "ausradieren" und nur eine von ihnen stehenlassen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist keine Ablehnung eines Norm-Inhalts erforderlich. Aber die Entfernung einer NormFormulierung darf nicht verwechselt werden mit der Eliminierung eines N ormInhalts. In diesem letzten Fall ist das, was die Autorität aus dem System entfernen will, ein bestimmter begrifflicher Inhalt (eine Proposition), und um dies zu erreichen, ist der Vollzug eines Ablehnungsakts notwendig. Der Expressivismus muß also neben dem Befehlen noch eine andere Art normativer Akte anerkennen: den des Ablehnens. Die imperative Normentheorie hat keine Erklärung für das Phänomen der Derogation, aber der Expressivismus ist auf sie nicht angewiesen. Die Anerkennung verschiedener Arten von normativen Akten, und insbesondere von Ablehnungsakten, ist mit der expressiven Auffassung völlig vereinbar. Wenn als Ergebnis der Ablehnung eines Norm-Inhalts dieser aus dem System entfernt ist, hört die Norm auf zu bestehen. Hieraus kann man zwei wichtige Folgerungen ziehen: (1) Normen fangen nicht nur zu einer'bestimmten Zeit zu existieren an; sie hören auch in einem bestimmten Augenblick zu existieren auf; (2) normative Mengen können nicht nur durch Addition neuer Elemente erweitert werden; sie können auch durch Subtraktion von Elementen verkleinert werden. 22 Hare beschreibt den Unterschied zwischen Negation und Ablehnung, indem er sagt, daß in einer Negation das Wort ,not' Teil des phrastic sei, daß es aber auch im neustic auftreten könne: es wird dann zu ,not-yes' und ,not-please'. Dies scheint dem zu entsprechen, was wir Ablehnung nennen. Hares ,not-yes' ist dann unsere deskriptive Ablehnung und sein ,not-please' die präskriptive Ablehnung. Vgl. Hare 1952, S. 20-21.

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Zur Folgerung (1) sind einige erklärende Anmerkungen nötig. Wie wir schon gesehen haben, ist die temporäre Existenz von Normen nur eine Metapher. Tatsächlich werden zwei Arten von Akten durchgeführt (Befehlen und Ablehnen): dies sind die einzigen für die Existenz einer Norm relevanten empirischen Tatsachen. Es besteht keine Notwendigkeit für das Auftreten irgendeiner weiteren Tatsache, die die Proposition, daß eine Norm existiert, wahr machen würde. z3 Andererseits ist die Behauptung, daß eine bestimmte Norm in einem bestimmten Moment zu existieren aufhört, irreführend. Es gibt nichts weiter als eine Folge verschiedener Mengen von Propositionen, und eine bestimmte Proposition p kann Element von einigen dieser Mengen sein und nicht von anderen. Wenn sie zu einer bestimmten Menge gehört, so gehört sie für immer dazu; auch wenn es vorkommen kann, daß sie nicht zur folgenden Menge gehört. Wir nehmen nämlich zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Mengen als Bezugspunkte für unsere Behauptungen, daß bestimmte Propositionen oder Sachverhalte geboten, verboten oder erlaubt sind: dies vermittelt die Illusion eine Veränderung in der Zeit. Normative Propositionen sind aber in der Tat zeitlos, denn sie beziehen sich immer auf ein festbestimmtes System. Folglich ist die Proposition "p ist geboten in Al" entweder wahr oder falsch, wenn aber wahr, so ist sie immer wahr, selbst nach der Aufhebung von p. Wenn nämlich p entfernt wird, dann erhalten wir ein neues System, etwa A z. Die Proposition "p ist geboten in A 2 " ist, unter dieser Hypothese, falsch, aber dies ist eine andere Proposition. Die erste Proposition (p ist geboten in Al) bleibt weiterhin wahr, obwohl einen dies vielleicht nicht länger interessiert. In diesem Sinn sind normative Systeme momentan;24 wenn Juristen davon sprechen, daß Rechtssysteme die Zeit überdauern (wie zum Beispiel das französische Rechtssystem), dann meinen sie nicht ein System, sondern eine Folge von Systemen.

IV. Konflikt von Erlassung und Ablehnung Wenn X behauptet, daß p. und Y behauptet, daß", p. so werden die beiden Behauptungen als unvereinbar angesehen, nicht in dem Sinne, daß sie nicht gemeinsam existieren könnten, sondern in dem Sinne, daß die beiden von X und Y behaupteten Propositionen widersprüchlich sind, d. h. es können nicht beide wahr (oder falsch) sein. Die Tatsache, daß zwei Personen zwei widersprüchliche Propositionen behaupten, ist sicher möglich (und überdies äußerst häufig); es ist sogar möglich, daß ein und dieselbe Person zwei widersprüchliche Propositionen behauptet. Solche Behauptungen aber konfligieren. Wollen wir sie in ein kohärentes Ganzes integrieren, so müssen wir zunächst den Konflikt lösen.

23 Vgl. Alchourron/ Bulygin 1979; für eine abweichende Meinung siehe von Wright 1963, Kapitel 7. 24 Vgl. Raz 1970, der unsere Aufmerksamkeit auf diese Tatsache gelenkt hat. Siehe Alchourron/ Bulygin 1976.

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Analog konfligieren auch der Befehl, daß p, und der Befehl, daß,..., p, weil die Norm-Inhalte p und ,..., p widersprüchlich sind. Dies ist die "klassische" Vorstellung von normativer Widersprüchlichkeit. Sie ist eine Erweiterung des Begriffs des Widerspruchs zwischen Propositionen auf Befehle (Normen), da sie nicht auf dem Kriterium der Wahrheit beruht (Befehle haben keinen Wahrheitswert), sondern auf dem Begriff von Erfüllung: es ist logisch unmöglich, beide Befehle !p und !,..., p zu erfüllen oder beiden zu gehorchen. Trotzdem ist es sicherlich für zwei Personen oder sogar für eine Person möglich, zwei konfliktive Befehle zu erlassen. Solange diese zu verschiedenen Systemen gehören, gibt es kein Problem; der Bedarf für die Lösung des Konflikts entsteht erst, wenn sie Elemente desselben Systems werden. Die Einheit des Systems bestimmt dieses Bedürfnis. Ein Normensystem, das gleichzeitig p und,..., p enthält, ist widersprüchlich, und dies wird als ernster Fehler des Systems angesehen, denn bezüglich dieses Systems sind die Propositionen, daß p geboten und daß p verboten ist, gleichzeitig wahr. Man betrachte nun die Art von Konflikt, die entsteht nicht zwischen einem Gläubigen und einem Atheisten (die die beiden widersprüchlichen Propositionen "Gott existiert" bzw. "Gott existiert nicht" behaupten), sondern zwischen einem Gläubigen und einem Agnostiker. Ein Agnostiker lehnt die Proposition, daß Gott existiert, ab, ohne jedoch die Negation zu behaupten. Hier gibt es keinen Widerspruch zwischen zwei Propositionen, sondern einen Konflikt zwischen zwei propositionalen Haltungen betreffs derselben Proposition: Behauptung und Ablehnung. In gewisser Weise sind Behauptung und (deskriptive) Ablehnung unvereinbar. In ähnlicher Weise sind das Erlassen sowie das Ablehnen einer Norm desselben Norm-Inhalts unvereinbar: Es gibt eine Art von Konflikt zwischen dem Befehlen vonp und dem Ablehnen vonp. Dieser Konflikt unterscheidet sich von dem des Befehlens von p und ,..., p. Im letzten Fall haben wir eine Übereinstimmung in der Haltung, aber eine Unstimmigkeit im Inhalt: dies haben wir als normativen Widerspruch bezeichnet. Im ersten Fall haben wir eine Unstimmigkeit in der Haltung, aber eine Übereinstimmung im Inhalt; diese Art von Konflikt wird nach Carnap 25 Ambivalenz genannt. Ein Bedarffür die Konfliktlösung bezüglich einer Ambivalenz tritt auf, wenn dieselbe Proposition (direkt oder indirekt) von derselben Autorität oder von verschiedenen Autoritäten im sei ben System geboten und abgelehnt wird. Um Ambivalenzkonflikte zu lösen, werden bestimmte Kriterien benutzt, die Präferenz-Kriterien oder -Regeln genannt werden sollen. 26 Präferenzregeln dienen der Lösung von Konflikten zwischen Erlassungs- und Ablehnungsakten, Carnap 1942, S. 187. Der Ausdruck "Regel" bedeutet hier nicht eine Norm (einen Befehl oder befohlenen Inhalt), sondern ein rein begriffliches Kriterium. 2S

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die sich (direkt oder indirekt) auf denselben Norm-Inhalt beziehen. Sie legen fest, welcher der Akte Vorrang hat vor dem anderen. Daß der Akt der Ablehnung vonp Vorrang hat vor dem Akt des Befehlens vonp, bedeutet, daß die Menge, die p nicht enthält, der Menge, die p enthält, vorzuziehen ist als Bezugspunkt für normative Urteile der Form 0 A (p) oder IPAp) und umgekehrt. Präferenzregeln werden so gut wie nie explizit angegeben, aber sie werden de facto von Juristen und allen, die mit normativen Systemen arbeiten müssen, benutzt. Drei dieser Regeln werden für gewöhnlich in der Rechtspraxis angewandt; wir werden sie Regeln der auctoritas superior, auctoritas posterior und auctoritas specialis nennen. Diese Namen sind eine Angleichung an bestimmte andere, analoge, aber unterschiedliche Regeln, die von Juristen explizit angeführt werden, um Widersprüche zwischen Normen zu lösen (lex superior usw.), auf die wir später zu sprechen kommen werden (Abschnitt 6). Die Regel auctoritas superior legt fest, daß ein Akt (sei es Erlassung oder Ablehnung), der von einer Autorität höherer Rangstufe vorgenommen wird, Vorrang hat vor einem von einer Autorität niedrigerer Stufe vorgenommenen Akt. Dies bedeutet, daß eine Norm, die von einer höheren Autorität, z. B. einer Legislative, erlassen wurde, nicht von einer untergeordneten Autorität, z. B. der Exekutive, aufgehoben werden kann. Selbst wenn sie abgelehnt wird, ändert sich das System nicht. Wenn andererseits eine höhere Autorität einen Norm-Inhalt ablehnt, so hebt dieser Akt ihn auf (d. h. führt zu seiner Entfernung aus dem System), sofern er vorher von einer niedrigeren Autorität erlassen worden war, und verhindert seine Hinzufügung zu dem System durch einen späteren Erlassungsakt durch eine untergeordnete Autorität. Dieser letzte Fall ist besonders interessant: er zeigt, daß Ablehnung nicht zeitlich auf den Erlassungsakt folgen muß. Wenn wir zwischen der Operation des Ausschließens von Norm-Inhalten, die abgelehnt wurden, und dem Akt des Ablehnens (oft auch "Derogation" genannt) unterscheiden, so wird uns klar, daß es völlig sinnvoll sein kann, den NormInhalt p abzulehnen, auch wenn p kein Element des Systems ist. Obwohl eine solche Ablehnung nicht zur Eliminierung irgendeines Norm-Inhaltes führt, kann sie doch das wichtige Ergebnis hervorrufen, daß die Addition von p verhindert wird, sollte p später von einer Autorität niedrigeren Ranges erlassen werden. Dies ist, was mit Rechten und Garantien geschieht, die in der Verfassung verankert werden: die Verfassung lehnt im Voraus bestimmte NormInhalte (welche die Grundrechte beeinträchtigen würden) ab und hindert so die Legislative an der Erlassung dieser Norm-Inhalte, denn wenn die Legislative einen solchen Norm-Inhalt erläßt, kann er von den Gerichten für verfassungswidrig erklärt werden und wird dem System nicht hinzugefügt. Die beiden anderen Regeln operieren in ähnlicher Weise. Die Regel auctoritas posterior legt fest, daß ein zeitlich späterer Akt, sei es Erlassung oder Ablehnung, Vorrang hat vor dem früheren Akt. Diese Regel ist selbstverständlich nur

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anwendbar auf Akte, die von Autoritäten gleichen Ranges vorgenommen werden; sie ergänzt also die erste Regel. Die Regel auctoritas specialis schließlich legt fest, daß der Akt des Erlassens (oder des Ablehnens) eines weniger allgemeinen Norm-Inhalts Vorrang hat vor dem Akt der Ablehnung (der Erlassung) eines allgemeineren Norm-Inhalts. Es ist wichtig zu betonen, daß diese Regeln nicht alle möglichen Konflikte zwischen Erlassungs- und Ablehnungsakten lösen. Es kann sehr wohl vorkommen, daß dieselbe Autorität oder zwei Autoritäten gleichen Ranges gleichzeitig denselben Norm-Inhalt erlassen und ablehnen. In einem solchen Fall ist offensichtlich keine der drei Regeln anwendbar; solche Fälle treten, wenn auch selten, gelegentlich in der Rechtspraxis auf. Um solche Konflikte zu lösen, müssen weitere Präferenzkriterien eingeführt werden. Es wäre aber ein Irrtum, wenn man Präferenzregeln (traditionelle oder andere) als logische Regeln ansehen wollte.

V. Implizite Ablehnung und Derogation Wenn Rex einen N orm-Inhalt (oder eine Menge von Norm-Inhalten) ablehnt, so gibt dieser Akt an, was er aus dem System ausgeschlossen (subtrahiert) sehen möchte. Die Menge der ausdrücklich abgelehnten Propositionen soll demnach derogandum genannt werden. Wenn aber nur das derogandum vom System subtrahiert wird, könnte Rex das Erreichen seines Zwecks verfehlen. Man nehme z. B. an, p sei abgelehnt worden, das System enthalte aber nicht nur p, sondern auchp & q. Dann reicht es nicht aus, nur p auszuschließen, denn solange p & q Element des Systems bleibt, ist es auch p. Die Ablehnung von p könnte in einem solchen Fall höchstens eine Veränderung des Status von p bewirken; war es explizit befohlen und demnach ein Element der Basis, so ist es jetzt eine Folge der Basis, bleibt aber ein Element des Systems. Also wurde p keineswegs derogiert. Dieses Argument zeigt, daß die Derogation von p nicht nur die explizite Ablehnung von p verlangt, sondern auch die Ablehnung all der Propositionen, die p zur Folge haben. Wir werden sagen, daß diese Propositionen mit dem Ablehnen von p implizit abgelehnt werden. Überdies kann es vorkommen, daß zwei oder mehr Propositionen (zusammengenommen) eine abgelehnte Proposition nach sich ziehen, obwohl keine von ihnen (allein genommen) dies tut. Man nehme z. B. an, q :::> p und q seien Elemente des Systems und p werde abgelehnt. Die Menge {q :::> p, q} impliziert p, also muß sie (implizit) abgelehnt werden. In Verallgemeinerung dieses Ergebnisses können wir folgendes allgemeine Kriterium für implizites Ablehnen angeben: Die Ablehnung einer Menge von Propositionen B lehnt implizit alle Propositionen und Mengen von Propositionen ab, die irgendwelche der zu B gehörenden Propositionen zur Folge haben.

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Es ist anzumerken, daß durch einen Akt der Ablehnung nicht eine Menge von Propositionen abgelehnt wird, sondern eine Familie von Mengen. Diese Tatsache bedeutet einen wichtigen Unterschied zwischen Erlaß (Setzung) und Derogation: Es ist immer eine Menge von Propositionen, die erlassen (gesetzt) wird, aber es immer eine Familie von Mengen, die abgelehnt wird ("abgelehnt" heißt hier "explizit oder implizit abgelehnt"). Welche Wirkung ruft ein Akt des Ablehnens hervor? Wir müssen zwischen zwei Fällen unterscheiden: (i) Wenn keine der explizit abgelehnten Propositionen Element des Systems Cn( A) ist, dann ist keine der abgelehnten Mengen in A enthalten. Hier tritt das Problem der Subtraktion nicht auf. Wenn aber irgendwelche der abgelehnten Propositionen oder Mengen später erlassen werden, so würde diese Tatsache einen Ambivalenzkonflikt hervorrufen. Ein solcher Konflikt kann nur durch Anwendung einer Präferenzregel gelöst werden. (ii) Wenn irgendwelche der explizit abgelehnten Propositionen Elemente des Systems Cn ( A) sind, dann sind auch irgendwelche der abgelehnten Mengen in A enthalten. Da die Elemente von Cn( A) erlassen sind, haben wir einen Ambivalenzkonflikt und brauchen zu seiner Lösung eine Präferenzregel. Wird er zugunsten der Erlassung gelöst, so bringt das Ablehnen keinerlei Wirkung hervor, keine Derogation findet statt, und es gibt keine Veränderung im System. Hat aber die Ablehnung Vorrang, so müssen bestimmte Propositionen durch Subtraktion aus dem System ausgeschlossen werden. Welches sind diese Propositionen? Welche Kriterien bestimmen die Operation der Subtraktion?

Es ist klar, daß keine abgelehnte Proposition und keine abgelehnte Menge in A bleiben kann; denn in diesem Falle würden Elemente des derogandum (d.h. explizit abgelehnte Propositionen) weiterhin Elemente des Systems Cn( A) sein. Wenn eine Menge abgelehnt wird, wäre insbesondere zumindest eine explizit abgelehnte Proposition eine Folge davon. Deshalb müssen alle abgelehnten Mengen aus A ausgeschlossen werden. Was heißt es aber, eine Menge auszuschließen? Wenn eines ihrer Elemente aus der Menge entfernt wird, so verschwindet die Menge als solche: an ihrer Stelle erhalten wir eine andere, weniger umfangreiche Menge. Andererseits ist es dieselbe Menge, solange alle ihre Elemente vorhanden sind. Die Entfernung mindestens eines ihrer Elemente ist also eine hinreichende und notwendige Bedingung für die Eliminierung einer Menge. Wenn nun - wie wir angenommen haben - wenigstens eine der explizit abgelehnten Propositionen zu dem System Cn( A) gehört, dann ist die Menge A (d.h. die Basis des Systems) eine der abgelehnten Mengen. Sie muß folglich eliminiert werden; wenn wir aber alle ihre Elemente entfernen, bricht das ganze System zusammen. Wir würden also mit der Aufhebung eines Nonn-Inhalts die Aufhebung des ganzen Systems bewirken. Dies scheint eine etwas zu drastische Methode für die Erfüllung der Forderung zu sein, daß alle abgelehnten Mengen aus A auszuschließen sind.

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Diese Beobachtung legt die folgenden Angemessenheitsbedingungen für die Operation der Subtraktion nahe: (i) keine abgelehnte Proposition oder Menge von Propositionen soll im System verbleiben, und (ii) die Menge des Subtrahenden soll minimal sein, d. h. es sollen nur diejenigen Propositionen ausgeschlossen werden, die zu entfernen unbedingt notwendig ist, um (i) zu erfüllen. Mit anderen Worten muß das, was nach Durchführung der Operation übrigbleibt, die maximale Teilmenge von A sein, die mit der Derogation vereinbar ist. Eine Teilmenge von A (d. h. der explizit erlassenen Propositionen), die die Forderungen (i) und (ii) erfüllt, soll derogans genannt werden. Jedem nichtleeren derogandum entspricht mindestens ein derogans. Um ein einem derogandum entsprechendes derogans zu konstruieren, müssen wir mindestens eine Proposition aus jeder abgelehnten Menge in A herausnehmen. 27 Da aber einige solcher Mengen mehrere Elemente haben können (von denen keines abgelehnt wird), kann für die Konstruktion des derogans jedes davon benutzt werden; es gibt also verschiedene Möglichkeiten für die Konstruktion eines derogans, und folglich haben wir nicht ein derogans, sondern mehrere. Da jedes derogans eine Menge von Propositionen ist, ist die Menge aller derogantes eine Familie, d. h. eine Menge von Mengen. Was wir aber subtrahieren müssen - falls wir die Angemessenheitsbedingungen erfüllen wollen - , ist nur eine von ihnen, denn wenn wir ein derogans entfernen, dann enthält die Restmenge keine abgelehnte Menge (und daher auch keine abgelehnte Proposition). Wenn andererseits mehr als ein derogans entfernt wird, so ist die Restmenge keine maximale Menge mehr, und Bedingung (ii) wäre nicht erfüllt. Dies zeigt, daß Situationen entstehen können, in denen einem derogandum mehrere derogantes entsprechen und es daher verschiedene Möglichkeiten für die Durchführung der Subtraktion gibt, die demselben Akt des Ablehnens entsprechen. Was noch schlimmer ist: Wir haben hierfür nicht unbedingt Präferenzkriterien. In solchen Situationen gibt es mehrere mögliche Restmengen anstelle von nur einer: der Rest ist nicht eine Menge, sondern eine Familie von Mengen. Dies ist das, was wir an anderer Stelle die logische Unbestimmtheit des Systems genannt haben. 28 Das Problem der Unbestimmtheit entsteht nicht, wenn die explizit abgelehnten Propositionen (das derogandum) unabhängige Elemente von A sind. Dann ist es ausreichend, das derogandum allein aus A zu entfernen. Allgemein: Die 27 Wir sagen ,mindestens eine' anstatt ,nur eine', weil es im Falle sich überschneidender Mengen unmöglich ist, ein und nur ein Element aus allen von ihnen zu entfernen. Man denkez. B. an den Fall der drei folgenden Mengen:{x, y}, {y, z}und {x, z}; wird ein Element aus zweien von ihnen entfernt, so werden auch beide Elemente der dritten entfernt. 28 Vgl. Alchourr6n/ Bulygin 1976, 1977, 1978. Dieses Problem wurde schon von Cornides gesehen, obwohl er ihm keine große Bedeutung einzuräumen scheint. Vgl. Cornides 1969, S. 1241.

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Derogation ist eindeutig dann und nur dann, wenn es nur ein derogans und deswegen nur eine Restmenge gibt. Es kann vorkommen, daß die Subtraktion eines derogans den Ausschluß irgendwelcher anderer Propositionen mit sich bringt, die Folgen von A sind (d. h. sie gehören nicht zu A, sind aber Elemente des Systems Cn( A)), und nicht mehr Folgen von A minus derogans. Die Menge ausgeschlossener Propositionen kann schließlich also doch größer sein als die Menge der subtrahierten Propositionen (derogans). Es ist also angebracht, zwischen Subtraktion und Ausschluß (Eliminierung) zu unterscheiden. Zusammenfassend: Derogation wurde analytisch in zwei Komponenten zerlegt: den Akt des Ablehnens und die Operation der Subtraktion, die zu einem neuen System (der Restmenge) führt. Der Akt des Ablehnens identifiziert ein derogandum. Das resultierende System ist die Restmenge nach Subtraktion eines (dem derogandum entsprechenden) derogans vom ursprünglichen System. Es ist schließlich Wert zu legen auf die Feststellung, daß diese Art von Subtraktion - wie unsere unformalisierte Untersuchung zeigt - eine viel kompliziertere Operation ist als die gewöhnliche mengen theoretische Subtraktion. 29

VI. Widersprüchlichkeit In Abschnitt 4 haben wir Ambivalenzkonflikte untersucht, die auftreten zwischen zwei auf Propositionen bezogenen Haltungen: dem Erlassen und Ablehnen derselben Norm. Die beiden Akte sind unvereinbar, weil sie unvereinbare Ergebnisse zu erreichen suchen: Addition eines Norm-Inhalts zu einem System und seine Subtraktion von diesem. In diesem Abschnitt wollen wir die andere Art normativen Konflikts analysieren: Widersprüchlichkeit von Norm-Inhalten (normativer Widerspruch). Wenn gleichzeitig eine Proposition p und deren Negation", p Elemente eines normativen Systems sind, so wird das System als widersprüchlich bezeichnet. Das Problem mit widersprüchlichen Systemen ist, daß es aus logischen Gründen unmöglich ist, alle seine Normen zu befolgen. Zumindest die Normen !p und ! '" p können nicht befolgt werden. Darüber hinaus sind die Wirkungen eines Widerspruchs sogar noch verheerender, wenn man den klassischen Begriff der Folgerung akzeptiert: Alle Propositionen gehören zu einem widersprüchlichen System. Dies ist der Fall, weil nach dem klassischen Begriff der Folgerung aus einem widersprüchlichen Propositionspaar jegliche andere Proposition abgeleitet werden kann. Also sind alle widersprüchlichen Systeme äquivalent: Sie enthalten dieselben Folgerungen und sind gleich nutzlos. Nach einem solchen System ist alles geboten, niemand kann es jemals befolgen, und es kann also keinerlei Handlung leiten. 29

son. 11

Für eine eingehende Analyse des Begriffs der Aufhebung siehe Alchourrbnj MakinFestgabe rur Alois Troller

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Trotzdem ist es äußerst wichtig, sich klarzumachen, daß widersprüchliche normative Systeme sehr gut möglich sind und ihr Vorkommen, zumindest in bestimmten Gebieten wie etwa dem Recht, ziemlich häufig ist. Der Grund hierfür ist offensichtlich. Die Auswahl der Propositionen, die die Basis des Systems bilden (die Menge A), basiert auf bestimmten empirischen Tatsachen: Befehls- oder Erlassungsakten. Es ist nun nichts seltsames an der Idee, daß eine Autorität p gebietet, während eine andere Autorität (oder dieselbe Autorität vielleicht bei anderer Gelegenheit) ~ p gebietet. Es kann sogar ein und dieselbe Autorität zur selben Zeit p und ~ p gebieten, besonders wenn eine große Anzahl von Normen bei derselben Gelegenheit erlassen wird. Dies geschieht, wenn die Legislative ein sehr umfassendes Gesetz erläßt, z. B. ein Gesetzbuch, das manchmal vier- bis sechstausend Anordnungen umfaßt. Sie alle werden als zur selben Zeit von derselben Autorität erlassen angesehen, so daß es nicht wunder nimmt, daß sie manchmal eine gewisse Menge expliziter oder impliziter Widerspr~che enthalten. Nichtsdestotrotz zögern viele Autoren, diese relativ einfache Tatsache anzuerkennen. Einige von ihnen (besonders deontische Logiker und Moralphilosophen) sind vielleicht beeinflußt von ihrem (direkten oder indirekten) Interesse an einem moralischen Diskurs, denn es scheint nur schwer zu akzeptieren zu sein, daß dieselbe Handlung gleichzeitig moralisch gut und schlecht (geboten und verboten) sein kann. In diesem Gedanken steckt ein Kern von Wahrheit. Er ist wahrscheinlich wahr für rationale Moral, aber höchstwahrscheinlich nicht wahr für positive Moral und ganz einfach falsch für positives Recht. Seltsamerweise gibt es auch Rechtsphilosophen, deren Hauptinteresse ja auf positives Recht gerichtet ist, die diese antiseptische Vorstellung teilen. Kelsen ist oder besser war unter den Rechtsphilosophen vielleicht der prominenteste Vertreter dieser Auffassung. In seinem Buch Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960) leugnet er nicht, daß Gesetzgeber widersprüchliche Gesetze erlassen können, aber er hält daran fest, daß das Rechts-System immer widerspruchsfrei ist. Dieses "Wunder" wird nach Kelsen von der Rechtswissenschaft vollbracht; Juristen merzen alle Widersprüche aus, und so wird "das Chaos zum Kosmos", d. h. "so wird die Fülle der von den Rechtsorganen gesetzten generellen und individuellen Rechtsnormen, das ist das der Rechtswissenschaft gegebene Material, erst durch die Erkenntnis der Rechtswissenschaft zu einem einheitlichen, widerspruchslosen System, zu einer Rechtsordnung". 30 Was Kelsen hier sagt, klingt vielleicht etwas zu optimistisch, aber es ist grundsätzlich wahr. Jedoch weit davon entfernt, seine Behauptung zu unterstützen, daß Rechtssysteme immer widerspruchslos sind, beweist es, daß diese falsch ist. Wenn nämlich Widersprüche ausgemerzt werden müssen, dann gibt es so etwas wie einen Widerspruch, der ausgemerzt werden muß. Q. E. D. Dieses Ergebnis wird sogar von Kelsen selbst bestätigt. In seinen letzten Veröffentlichungen (,Derogation' und ,Lawand Logic', beide enthalten in 30

Kelsen 1960, S. 74.

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Weinbergers Ausgabe von Kelsens Essays in Legal and Moral Philosophy), nämlich ändert Kelsen seine Meinung hinsichtlich normativer Konflikte radikal, eine Meinung, die er in allen seinen früheren Schriften aufrecht erhalten hatte. In ,Lawand Logic' stellt Kelsen nun ganz deutlich fest, daß Konflikte zwischen Normen sehr gut möglich sind, wobei er unter "konfliktiven Norm!;':n" zwei Normen versteht, die unvereinbare Handlungen vorschreiben, z.B. p und ~ p. (Also entspricht Kelsens Vorstellung eines Normenkonflikts genau unserer "Widersprüchlichkeit zwischen Norm-Inhalten".) Solche Konflikte unterscheiden sich nach der neuen Doktrin insofern von logischen Widersprüchen, als zwei widersprüchliche Propositionen nicht beide wahr sein können, während zwei konfliktive Normen beide gültig sein können in dem Sinne, daß sie von kompetenten Autoritäten erlassen worden sind. Ein solcher Konflikt kann nur gelöst werden - nach Kelsens neuer Meinung - durch explizites oder implizites Aufheben einer (oder beider) der zwei konfliktiven Normen. Kelsens neuer Standpunkt stimmt also völlig mit den Ansichten überein, die in dieser Arbeit vertreten werden. Es ist natürlich eine rein terminologische Frage, ob der Ausdruck "System" nur auf Mengen von Norm-Inhalten angewandt wird, deren Widersprüche schon bereinigt wurden, oder ebenso auf widersprüchliche Mengen. Wichtig ist nur, die Widersprüche festzustellen und die Methoden zu untersuchen, die zu ihrer Entfernung benutzt werden. Dies möchten wir in diesem Abschnitt leisten. Interessanterweise erkennen Juristen (die nicht von der Philosophie angesteckt sind) ohne weiteres die Möglichkeit von Widersprüchen im Recht an. Dies wird bewiesen durch die Tatsache, daß es alte traditionelle Prinzipien für die Lösung solcher Konflikte gibt. Die Prinzipien des lex posterior, lex superior und lex specialis hätten überhaupt keine Verwendung, wenn es keine Widersprüchlichkeiten in rechtlichen Anordnungen gäbe. Allein die Tatsache, daß Juristen oft auf solche Prinzipien zurückgreifen, zeigt zumindest, daß sie glauben, daß normative Widersprüche durchaus möglich sind. Und dieser Glaube ist kein Irrtum. Wie werden Fälle von Widersprüchlichkeit in der Rechtspraxis behandelt? Zwei Situationen müssen unterschieden werden: (a) Wenn eine gesetzgebende Autorität einen Widerspruch in einem Rechtssystem entdeckt, kann sie entweder einen oder beide der konfliktiven Norm-Inhalte aufheben, oder sie kann die Dinge lassen, wie sie sind, im Vertrauen auf die Fähigkeit der Richter, den Konflikt zu lösen. Wenn sie sich für die Derogation einer oder beider der konfliktiven Norm-Inhalte entscheidet, ist damit das Problem gelöst. Das Seltsame bei der Derogation ist die Tatsache, daß eine Lösung des Konflikts erreicht werden kann durch eine eher unerwartete Vorgehensweise (zumindest, wenn man den klassischen Begriff der Folgerung akzeptiert): durch die Derogation einer beliebigen Proposition! Dies ist leicht zu beweisen. Angenom11"

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men, p und", p sind Elemente von Cn( A), und der Gesetzgeber lehnt q ab; in diesem Falle ist {p, "'p} eine der abgelehnten Mengen (da aus einem Widerspruch jede Proposition einschließlich q abgeleitet werden kann), und mindestens eins ihrer Elemente muß ausgeschlossen werden. Es genügt, daß eine Proposition nicht Element eines Systems ist, damit dieses widerspruchslos ist. Folglich garantiert die Aufhebung irgendeiner Proposition die Widerspruchsfreiheit des Systems. Das einzige Problem, das in diesem Zusammenhang auftreten kann, ist die Unbestimmtheit des Rest-Systems. (b) Die Lage des Richters scheint eine andere zu sein. Richter sollen das Recht anwenden, nicht es ändern. Sie haben nicht die Kompetenz oder Befugnis, um von der Legislative erlassene Gesetze aufzuheben (außer vielleicht im Falle verfassungswidriger Gesetze). Was können Richter angesichts eines widersprüchlichen Systems tun? Welche Methoden wenden sie bei der Bewältigung solcher Situationen tatsächlich an? An dieser Stelle müssen wir daran erinnern, daß Rechtssysteme nicht nur Mengen von Normen, sondern hierarchische Strukturen sind. 31 Es gibt bestimmte hierarchische Beziehungen zwischen Rechtsnormen oder, wie wir sagen würden, zwischen zu einem Rechtssystem gehörigen Norm-Inhalten. Solche Hierarchien können vom Gesetzgeber festgelegt werden (d. h. durch Gesetze selbst) oder bestimmt sein durch irgendwelche allgemeinen Kriterien, die begründet sind im Zeitpunkt des Erlasses (lex posterior), in der Kompetenz der erlassenden Autorität (lex superior) oder in dem Allgemeinheitsgrad der Norm-Inhalte (lex specialis). Sie können sogar vom Richter selbst unter Gebrauch seiner persönlichen Präferenzkriterien vorgeschrieben werden. 32 Wie im Fall der Ambivalenz sind die drei allgemein anerkannten traditionellen Prinzipien nicht ausreichend, um alle möglichen Widersprüche zu lösen. Manchmal müssen Richter auf weitere Kriterien zurückgreifen, die z. B. auf Gerechtigkeitsüberlegungen oder auf anderen, in Verbindung mit dem Fall stehenden Werten basieren. Die hierarchische Anordnung des Systems gestattet es dem Richter, einige Norm-Inhalte oder Mengen von Norm-Inhalten anderen vorzuziehen und so hierarchisch niedriger stehende Mengen außer Betracht zu lassen. In solchen Fällen neigen Juristen dazu zu befinden, daß es sich um einen scheinbaren Konflikt handelt und es eigentlich gar keinen Widerspruch gegeben hat. Dies kann völlig richtig sein, vorausgesetzt, man versteht unter "Normensystem" nicht eine Menge, sondern eine geordnete Menge von Norm-Inhalten, Dies wird von den meisten Rechtsphilosophen betont. Vgl. Kelsen, Alf Ross, Hart. Vom logischen Standpunkt aus ist eine solche Anordnung entweder eine Partialordnung (eine reflexive, transitive und anti-symmetrische Relation) oder eine schwache Ordnung (eine reflexive, konnexe und transitive, aber nicht unbedingt anti-symmetrische Relation). Die erste Alternative (Partialordnung) wird in Alchourr6n / Makinson ausführlich untersucht. 31

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wobei die Ordnungs-Relationen dem Begriff des Normensystems als fester Bestandteil angehören. Dies zeigt, daß Juristen - zumindest in bestimmten Zusammenhängen - dazu neigen, den Ausdruck "Normensystem" in dieser speziellen Bedeutung zu gebrauchen. Wenn wir aber unter "Normensystem" eine geordnete Menge von NormInhalten verstehen, dann verändert jede Änderung der Ordnungs-Relationen eo ipso das System selbst. Die Tatsache, daß als Ergebnis einer neuen Anordnung das System unterschiedliche Lösungen für dieselben spezifischen Fälle anbietet, zeigt, daß es ein anderes, mit dem ursprünglichen nicht identisches System ist, selbst wenn es dieselben Elemente (Norm-Inhalte) enthält. Trotzdem ist die Vorstellung weit verbreitet, daß Derogation (die bestimmte Norm-Inhalte gänzlich entfernt) eine viel grundsätzlichere Operation ist als einfaches Ordnen und daß deswegen der Richter, obwohl er eine neue Ordnung vorschreiben oder die existierende verändern kann, gesetzlich erlassene NormInhalte aus den gleichen Gründen nicht aufueben kann, aus denen er keine neuen Normen erlassen kann. Dies beruht auf dem Gedanken, daß das System im Grunde identisch bleibt, solange es dieselben Elemente enthält, und daß also der Richter, der die Elemente des Systems "nur" ordnet, dieses nicht verändert und folglich die Grenzen seiner Macht nicht überschreitet. Ordnung wird demnach angesehen als eine viel elastischere und weniger dauerhafte Operation als Derogation. Diese Vorstellung ist aber falsch. Der Eindruck, daß die Entfernung einer oder mehrerer Propositionen durch Derogation irgend wie fundamentaler und dauerhafter sei als die Auferlegung einer Ordnung auf ein System, erweist sich als reine Illusion. Eine Änderung der Ordnung ist genauso fundamental wie die Entfernung von Elementen; tatsächlich sind beide Vorgänge im Grunde äquivalent. 33 Diejenigen Norm-Inhalte, die durch eine Umordnung "beiseite gelegt" oder außer acht gelassen werden, sind ebensowenig anwendbar (bezüglich dieser Ordnung), als wenn sie aufgehoben würden. Auch bezüglich der angeführten Dauerhaftigkeit der Derogation gibt es keinen Unterschied. Eine von der Legislative vorgenommene Derogation kann für eine nur sehr kurze Zeit bestehen, wenn die Legislative ihre Meinung ändert und die aufgehobenen Norm-Inhalte erneut erläßt. Andererseits kann eine von einem Richter vorgenommene Ordnung eine sehr lange Lebensdauer haben, wenn auch andere Richter sie übernehmen. Die Frage nach der zeitlichen Dauer ist also für diese Angelegenheit völlig irrelevant. Die sehr umstrittene Frage, ob Richter Recht "schaffen" oder nur anwenden, kann zugunsten der ersten Annahme entschieden werden, zumindest in der 33 In dem Sinne, daß jeder Derogation eine (Menge von) Ordnung(en) entspricht und jeder Ordnung eine Derogation. Für einen ausführlichen Beweis siehe Alchaurrim / M akinsan. Sie sind aber nicht ganz identisch: eine einem System auferlegte Partialordnung überträgt Eindeutigkeit auf ansonsten unbestimmte Derogationen mittels eines Prozesses der rangmäßigen Ordnung der verschiedenen Restmengen.

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Hinsicht, daß sie das Rechtssystem verändern, indem sie seinen Elementen eine Ordnung auferlegen, wenn sie Widersprüche lösen müssen, wobei sie einige Norm-Inhalte außer acht lassen (was soviel bedeutet wie sie aufzuheben). Nichtsdestotrotz sind dies zwei unterschiedliche Methoden, die von unterschiedlichen Arten von Autoritäten angewandt werden (legislativer Autorität im Falle der Derogation, richterlicher Autorität im Falle der Ordnung), obwohl diese beiden Methoden zu im Grunde identischen Ergebnissen führen (und es deswegen gerechtfertigt ist, sie äquivalent zu nennen). Beide dienen der Lösung des gleichen Problems: der Widersprüchlichkeit eines normativen Systems. Dies zeigt, daß Widersprüchlichkeit in der Tat behandelt wird als ein Problem, das eine Lösung erfordert, und daß es also Widersprüche und widersprüchliche Systeme gibt.

VII. Erlaubnis Für die imperative Normentheorie (welche die populärste Variante der expressiven Auffassung ist) gibt es nur eine Art normativen Akts (das Befehlen); also gibt es nur gebietende Normen, die Handlungen und Unterlassungen vorschreiben und somit Gebote und Verbote entstehen lassen. Erlaubnis scheint eine rein negative Idee zu sein; es ist das Fehlen eines Verbots. Es kann also erlaubte Sachverhalte geben, aber bis jetzt gibt es weder permissive Akte (d. h. Akte, die eine Erlaubnis erteilen) noch permissive Normen. Wie kann diese Theorie Akte erklären, die eine Erlaubnis oder Autorisierung erteilen? Wenn Rex sagt: "Hiermit erlaube ich, daß p", wie kann dann dieser Sprechakt analysiert werden? Es scheint zwei mögliche Wege aus dieser Schwierigkeit zu geben. (i) Ein Weg ist die Beschreibung des Akts als die Derogation eines Verbots, d. h. als Derogation des Verbots von p. (ii) Ein alternativer Weg ist die Anerkennung einer neuen Art von normativem Akt, des Akts des Gewährens einer Erlaubnis (kurz: Erlaubnisakt). Wird dies anerkannt, so muß auch die Existenz zweier Arten von Normen anerkannt werden, nämlich Gebotsnormen und Erlaubnisnormen (in der Bedeutung, in der ein Expressivist den Ausdruck "Norm" verwendet). Eine Erlaubnisnorm ist - wie eine gebietende Norm - ein sinnvoller Satz in seinem besonderen, d. h. permissiven Gebrauch. Der Akt der Gewährung einer Erlaubnis kann also beschrieben werden als der Akt des Erlassens einer Erlaubnisnorm. 34 Diese beiden Vorschläge sollen getrennt untersucht werden. (i) Die zweite Analyse beinhaltet die explizite Anerkennung einer neuen Art normativen Akts; dies ist wahrscheinlich der Grund, warum sie weniger 34 Es gibt relativ wenige Expressivisten, die diese zweite Interpretation anerkennen. Vgl. Moritz 1963, der einer der wenigen ist.

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verbreitet ist unter Expressivisten, die sich in gewisser Weise mit Ockham solidarisch fühlen. Wie aber in Abschnitt 3 dargestellt wurde, führt auch die erste Analyse implizit zur Anerkennung eines neuen normativen Akts: des Ablehnungsakts. Da aber bisher Philosophen und Logiker dem Begriff der Derogation wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben, ist noch keine vollständige Analyse des Ablehnungsakts ausgearbeitet worden. 35 Dies ist ein ernstes Manko der heutigen expressivistischen Theorien. Nur wenn der Ablehnungsakt als grundlegender und unabhängiger normativer Akt anerkannt wird, kann die expressive Auffassung so wichtige Dinge wie Derogation und Erlaubnis erklären. Wenn dies erst einmal geschehen ist, dann gibt es zwei verschiedene Begriffe von Erlaubnis: negative Erlaubnis (Fehlen eines Verbots) und positive Erlaubnis (Derogation eines Verbots). Positive Erlaubnis ist an einen positiven Akt, den Ablehnungsakt gebunden und demnach an einen Ambivalenzkonflikt. Dieser Konflikt kann tatsächlich oder nur potentiell vorliegen, wenn p bisher nicht verboten worden war. Ist der Konflikt dadurch gelöst, daß man der Ablehnung den Vorzug gibt und das Verbot (durch Subtraktion) entfernt wird, dann ist p im positiven Sinne erlaubt. Der Hauptunterschied zwischen negativer und positiver Erlaubnis (neben ihrem unterschiedlichen Ursprung) scheint der folgende zu sein: Ist p negativ erlaubt, so gibt es keinen Konflikt, wenn eine Autorität p verbietet: '" p wird zu dem System hinzugefügt, und im neuen System ist nicht länger wahr, daß p erlaubt ist. Ist p aber positiv erlaubt, so entsteht aus jedem Akt des Verbietens von pein Ambivalenzkonflikt, der nach einer Lösung verlangt. Nur wenn dieser Konflikt zugunsten des Verbotsakts gelöst wird, wird wahr sein, daß p (im neuen System) verboten ist. 36 (ii) Wenden wir uns jetzt der zweiten Analyse von erlaubnisgewährenden Sätzen zu. Für diese Analyse gibt es zwei unterschiedliche Akte: Befehlen und Erlauben, Erlassen (Setzung) einer gebietenden Norm und Erlassen einer Erlaubnisnorm. Folglich gibt es auch zwei Arten von Erlaubnis: negative oder schwache Erlaubnis (Fehlen eines Verbots) und starke Erlaubnis, die durch eine Erlaubnisnorm gegeben wird. Starke Erlaubnis ist wie positive Erlaubnis mit einem Verbot unvereinbar, aber der Konflikt scheint hier nicht ein Konflikt der Ambivalenz, sondern des Widerspruchs zwischen zwei Normen zu sein. Es ist jedoch anzumerken, daß dieser Widerspruch nicht der klassische Widerspruch 3S Zu diesem Thema gibt es einige wertvolle Anmerkungen. Vgl. Bare 1952, S.21: "Modal sentences containing the word ,may' could, it seems, be represented by negating theneustic; thus ,You may shut thedoor' (permissive) might be written,I don't tell you not to shut the door' and this in turn might be rendered ,Your not shutting the door in the immediate future, not-please'." Wenn man die Negation des neustic als Ablehnung ansieht - wie in Anmerkung 22 vorgeschlagen -, so bedeutet Hares Vorschlag die Analyse des Erlaubnisakts mittels einer Ablehnung. 36 Manche Autoren interpretieren Erlaubnis als Ausnahme zu einer verbietenden Norm. Dies kann erklärt werden als partielle Derogation des Norm-Inhalts, d. h. als Derogation einiger der Folgen der verbietenden Norm.

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ist, bei demp und", p beide Elemente der befohlenen Menge sind. Nach unserer Hypothese wurde", p befohlen, also gehört", p zur befohlenen Menge, aber p war nicht befohlen worden; es ist erlaubt worden. Was passiert mit p als Folge seines Erlaubtseins? Es kann sicherlich nicht der befohlenen Menge angehören, denn in diesem Falle wäre wahr, daß p geboten ist. Mit anderen Worten: Wie sollen wir das System konstruieren, wenn wir zwei Arten der Erlassung anerkennen? Wir können nicht alle erlassenen Norm-Inhalte zusammenfassen, denn dann könnten wir nicht unterscheiden zwischen Geboten und Erlaubnissen. (Für einen Expressivisten kann der Unterschied nur in der Art des Erlasses, d. h. des Erlassensakts liegen und nicht im begrifflichen Inhalt des Akts; gäbe es einen Unterschied in der Proposition, würde dies die Anerkennung der hyletischen Auffassung bedeuten!) Der einzige Ausweg scheint die Bildung von zwei Mengen zu sein: der Menge der gebotenen Propositionen (der befohlenen Menge A) und der Menge der erlaubten Propositionen (der erlaubten Menge B). Wollen wir ein nicht-ambivalentes System, dann müssen wir die beiden Mengen irgendwie vereinen. Offensichtlich wäre die Subtraktion der erlaubten von der befohlenen Menge kein gangbarer Weg. Wir wollen keine Gebote, sondern Verbote entfernen; wenn also p verboten und folglich'" p Element von A ist und ebenso p erlaubt und demnach Element von B ist, müssen wir nicht p, sondern seine Negation ( '" p) von A subtrahieren. Deswegen verlangt die Vereinigung die Subtraktion der Negationen der Propositionen, die Elemente der erlaubten Menge sind, von der befohlenen Menge. 37 Ist also p erlaubt, so muß '" p subtrahiert (aus A ausgeschlossen) werden und umgekehrt. Also zieht die Erlaubnis von p die gleiche Operation nach sich wie die Ablehnung von '" p. An diesem Punkt möchte man fragen: Gibt es wirklich zwei unterschiedliche Analysen? Was ist der Unterschied zwischen dem Erlassen einer Erlaubnis und der Derogation eines Verbots? Was ist der Unterschied zwischen dem Akt des Erlaubens von p und dem Akt des Ablehnens von '" p? Tatsächlich gibt es zwischen den beiden Begriffen sehr starke Analogien: (1) Das Befehlen einer Proposition ist unvereinbar mit dem Erlauben ihrer Negation, ganz genauso wie das Befehlen von p unvereinbar ist mit dem Ablehnen von p. In beiden Fällen haben wir einen Ambivalenzkonflikt (zwei unvereinbare Haltungen bezüglich derselben Proposition). (2) Die Menge der Negationen von erlaubten Norm-Inhalten (die von der befohlenen Menge zu subtrahieren ist) ist formal identisch mit der Menge der abgelehnten Propositionen, denn sie ist auf die gleiche Weise konstruiert. (3) Die Operation der Subtraktion ist die gleiche: die Identität des Subtrahenden bestimmt die Identität der Restmenge. 37 Die Bildung von zwei Mengen, einer Menge erlaubter Propositionen und einer Menge ihrer Negationen, wäre ebenso nutzlos wie die Trennung der gebotenen von den verbotenen Propositionen. In beiden Fällen haben wir die gleiche Haltung bezüglich zweier widersprüchlicher Propositionen.

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(4) Starke Erlaubnis erweist sich als dasselbe wie positive Erlaubnis. Man gewinnt den Eindruck, daß beide Analysen im Grunde äquivalent sind in dem Sinne, daß sie zwei verschiedene Beschreibungen derselben Situation geben. Wenn dies so wäre, wäre es ein recht überraschendes Ergebnis; es würde die Fruchtbarkeit des Begriffs der Derogation und seine Wichtigkeit für die Normentheorie zeigen. Auf den Begriff der Erlaubnisnorm könnte man verzichten; dies wäre eine Tatsache, die den Standpunkt derjenigen Expressivisten rechtfertigen würde, die nur gebietende Normen anerkennen, vorausgesetzt sie akzeptieren den Begriff der Derogation.

VIII. Schlußfolgerungen Wir sind nun in der Lage, aus den vorausgegangenen Analysen einige Schlußfolgerungen zu ziehen; wir werden dies tun, indem wir die hyletische und die expressive Auffassung von Normen (im folgenden HA und EA) vergleichen. (1) HA beruht auf einer sehr starken ontologischen Grundvoraussetzung platonischer Färbung: der Annahme, daß es präskriptive Propositionen gibt. Für EA wird keine solche Grundvoraussetzung benötigt.

(2) Der Preis, den EA für diesen Vorteil zahlen muß, ist die Ausbreitung illokutionärer Akte: sie muß einerseits unterscheiden zwischen Behaupten und Befehlen; andererseits zwischen zwei Arten des Ablehnens (deskriptivem und präskriptivem Ablehnen). Für HA gibt es nur zwei Arten von Akten: Behauptung und Ablehnung, weil Befehlen nur das Behaupten einer O-Norm und Erlauben das Behaupten einer P-Norm ist. Und es gibt nur eine Art der Ablehnung; was variiert, ist der Inhalt dieses Akts; er kann eine deskriptive oder eine präskriptive Proposition, d. h. eine Norm, sein. (3) EA kann auf Erlaubnisnormen verzichten, denn sie kann erlaubnisgewährende Akte erklären durch Derogation (Ablehnung und Subtraktion). Für HA kann es Erlaubnisnormen auf der gleichen Ebene wie gebietende Normen (0Normen) geben.

(4) Für EA gibt es zwei Arten von Unvereinbarkeit: Konflikte zwischen Norm-Inhalten (normative Widersprüchlichkeit: fp und f",p) und Konflikte zwischen Akten des Erlassens und des Ablehnens (Ambivalenz: fp und iP). Für HA gibt es zwei Arten von Widersprüchlichkeit zwischen Normen: die Widersprüchlichkeit zwischen Gebot und Verbot (Op und O",p) und die Widersprüchlichkeit zwischen Verbot und Erlaubnis (O",p und Pp oder, was das gleiche ist, Op und", Op). Neben diesen zwei Arten von Widersprüchlichkeit zwischen Normen gibt es den Haltungskonflikt zwischen Erlaß und Ablehnung (Ambivalenz). Ob die Widersprüchlichkeit zwischen Verbot und Erlaubnis reduziert werden kann auf einen Ambivalenzkonflikt (wie die Analyse in Abschnitt 7 nahelegt), kann als eine offene Frage angesehen werden.

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(5) Für HA gibt es zwei Logiken: eine Logik der Normen und eine Logik normativer Propositionen (eine Logik der Erlassung und Derogation). Die Logik der Normen befaßt sich mit logischen Beziehungen zwischen präskriptiven Propositionen (Normen); sie ist eine besondere normative Logik. 3a Die Logik normativer Propositionen befaßt sich mit logischen Beziehungen zwischen deskriptiven Propositionen über normative Systeme. Ihr Ziel ist die Entwicklung einer umfassenden Logik normativer Systeme, die als Spezialfall von Tarskis Logik der Systeme aufgefaßt werden kann. Von besonderem Interesse wäre eine Logik, die in der Lage wäre, dem dynamischen Charakter normativer Systeme Rechnung zu tragen, d. h. ihrer zeitlichen Entwicklung durch Akte des Erlassens und der Derogation. (Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß in ihrem aktuellen Zustand die deontische Logik vom Erreichen dieses Ziels weit entfernt ist.)39 (6) Für EA gibt es nur eine mögliche Logik: die Logik (deskriptiver) normativer Propositionen, im gleichen Sinne wie für HA. Diese deontische Logik sieht der "klassischen" deontischen Logik von Wrights sehr ähnlich,40 aber mit zwei wichtigen Unterschieden: (a) Normative Propositionen sind immer bezogen auf ein ganz bestimmtes normatives System. Deswegen die Indices in Formeln wie ((j) A(P). (b) Das Gesetz deontischer Subalternation ((j) A(P) =>1P A(P) - analog zu von Wrights Theorem Op ---+ Pp - gilt nicht uneingeschränkt. 41 Es gilt nicht für widersprüchliche Systeme, und eine der wichtigsten Thesen dieser Arbeit ist, daß normative Systeme widersprüchlich sein können. Von dem, was in Abschnitt 6 und 7 gesagt wurde, folgt aber, daß ein System widerspruchsfrei ist: (i) wenn es mindestens eine derogierte Proposition gibt; (ii) wenn der Begriff der Folgerung eingeschränkt wird durch eine Ordnungsrelation, die dem System auferlegt wird 42, und (iii) wenn es mindestens eine positiv erlaubte Proposition gibt. (Tatsächlich laufen die drei Bedingungen auf das gleiche hinaus: Derogation mindestens eines Norm-Inhalts.) Die Bedingungen, unter denen ein System widerspruchsfrei ist (und das Gesetz deontischer Subalternation gilt), sind äußerst schwach und leicht zu erfüllen.

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41 42

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Systeme juridique et systeme logique Par Jean-Louis Gardies, Nantes En grec cruVicr'tT\J.1l c'est mettre ensemble et le substantif crucr'tT\J.1U designe effectivement toutes sortes d'ensembles: de soldats, c'est une troupe; d'animaux, un troupeau; de vers, c'est une strophe; de principes politiques, une constitution; de theses philosophiques, un systeme. En fran~ais, le Vocabulaire de la philosophie de Lalande definit systeme: «ensemble d'elements, materiels ou non, qui dependent reciproquement les uns des autres de maniere a former un tout organise». Ce peut etre un ensemble d'objets concrets comme l'ensemble constitue par le soleil et les planetes dit systeme solaire ou systeme planhaire, ou les ensembles de cellules ou d'organes dits systeme nerveux ou systeme circulatoire; un ensemble de realites socioeconomiques, comme le systemejeodal ou le systeme capitaliste; un ensemble de mesures pratiques comme le Systeme (avec une majuscule), c'est-a-dire ce1ui de Law, le systeme continental (de Napoleon), le systeme de defense adopte par un accuse devant le tribunal; un ensemble de methodes de numeration (systeme binaire, decimal, duodecimal, sexagesimal); de mensuration (systeme mhrique) , de c1assification (systeme sexuel de Linne); un ensemble de propositions th6oriques, d'ordre scientifique ou philosophique, comme le systeme de Pto!emee, de Copernic, de Newton, de Descartes, de Kant, de Hegel. Si un systeme n'est pas un simple ensemble, c'est que ses elements sont censes etroitement solidaires les uns des autres, lies par autre chose qu'une coexistence purement accidentelle. Si 1'0n parle d'un systeme de n equations du premier degre an inconnues, c'est bien parce que l'ensemble n'est determine que si toutes les n equations sont reunies; n-1 quelconques d'entre e11es ne constituent pas encore un systeme, puisque les racines y demeurent toutes indeterminees. Entendu de cette maniere, la plus generale, un systeme n'est pas necessairement un systeme logique. Qui dit logos signifie discursivite, ordre, reduction de la rationalite a une forme lineaire. Or, si l' on veut «conduire par ordre» ses pensees, comme dit Descartes dans la troisieme des regles de la methode, il faut commencer «par les objets les plus simples et les plus aises a connaitre» et supposer «meme de l'ordre entre ceux qui ne se precedent point naturellement les uns les autres ». Ainsi procedera-t-on en appliquant la methode de substitution a la solution d'un systeme de n equations a n inconnues: sur la base de l'une quelconque des n equations, on definit /'une quelconque des n inconnues a partir des n-1 autres; on substitue ensuite la definition ainsi obtenue acette inconnue dans les n-1 equations restantes, etc. On introduit de cette maniere arbitraire-

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Jean-Louis Gardies

ment dans le systeme un ordre, qui, en donnant au raisonnement poursuivi un commencement et une fin, en fera ce que nous appellerons desormais un systeme logique. Cette acception que nous proposons ici de l'expression de systeme logique se trouve accordee a ce qu'ecrit Condillac aux premieres lignes de son Traite des systemes: Un systeme n'est autre chose que la disposition des differentes parties d'un art ou d'une science dans un ordre Oll elles se soutiennent toutes mutuellement et Oll les demieres s'expliquent par les premieres. eelles qui rendent raison des autres s'appellent principes; et le systeme est d'autant plus parfait que les principes sont en plus petit nombre: il est meme ä souhaiter qu'on les reduise ä un seu!.

Ainsi proposerions-nous d'entendre par systeme logique, non pas n'importe quel systeme, mais un systeme ordonne apartir de certaines de ses parties posees comme principes, dont ses autres parties se deduisent. L'ideal condillacien du systeme logique semble avoir trouve vers 1920 une sorte de realisation, en particulier dans l'Ecole polonaise, avec certains systemes privilegies d'ordre logico-mathematique. Nous dirons sommairement qu'on peut alors caracteriser un systeme logique par la presence de: 1. Regles de bonne formation des expressions, constituant la grammaire du systeme, c'est-a-dire determinant les ensembles de signes reconnus comme doues de signification a l'interieur du systeme, parmi lesquels il s'agira ensuite de seIectionner ceux qui sero nt acceptes comme theses. 2. Definitions s'appuyant sur des termes premiers poses eux-memes comme indefinis. Sans doute, comme l'ecrit Pascal dans De ['esprit geometrique, la methode ideale, qui parviendrait a «tout definir» «certainement ... serait belle, mais elle est absolument impossible»; si l'on veut eviter la circularite de nos dictionnaires, il faut clairement reconnaitre les indefinis qu'on se donne au depart pour introduire sur leur base des termes nouveaux. Ainsi ce n'est qu'apres avoir pose comme indefinis les termes ou relations point, droite, plan, est situe sur, est entre, que David Hilbert definit a partir de ceux-ci, dans ses Fondements de la geometrie, les termes nouveaux segment, extremite , interieur a, exterieur a. 3. Axiomes, qui so nt les «principes» dont parlait Condillac, reduits de preference au nombre minimal, propositions initialement admises comme theses sans demonstration, puisqu'enfin, comme le disait encore Pascal, la methode qui consisterait a «tout prouver», pour idealement belle qu'elle soit, n'en demeure pas moins impossible. 4. Regles generalement dites de transformation, qui permettent de deduire de ces axiomes toutes les autres theses. 1 1 Pour ne pas entrer dans des details inutiles ä notre propos, nous laissons ici de cöte le cas des systemes, comme les systemes dits de deduction naturelle, qui ne comportent pas d'axiomes, mais uniquement des regles.

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Une teIle presentation conduit a une distinction que nous n'avions pas introduite au depart, a savoir celle du systeme et du mhasysteme, distinction assez immediatement apparente dans le cas des systemes formalises pour une raison facile a comprendre: 1. Le systeme c'est I'ensemble des theses, c'est-a-dire des propositions postulees (axiomes) ou demontrees (theoremes), qui, lorsque le systeme fait I'objet d'une formalisation, s'expriment precisement dans le langage ainsi formalise. 2. Mais nous avions vu qu'il n'y avait pas de systeme sans regles, c'est-a-dire sans ces normes adressees au lecteur ou a I'interprete, et qui lui indiquent comment obtenir des theses. Une regle du calcul des propositions comme le Modus ponens, dite encore regle de dhachement, dont l'origine remonte au moins aux StoIciens, enseigne a I'interprete que, si l'on dispose deja d'une these A et d'une autre these ayant la forme si A alors B, on est en droit d'admettre la nouvelle these B. Une teIle regle se donne classiquement dans la langue vernaculaire: Chrysippe, grec, la donnait en grec, comme moi-meme, fran~ais, viens de le faire en fran~ais. En tout etat de cause le langage dans lequel on I'exprime est, relativement a celui dans lequel s'expriment les theses elles-memes, un mhalangage; elle fait partie du mhasysteme. Cette distinction entre systeme et metasysteme, pour logiquement fondamentale qu'elle soit, n'en est pas moins presque invisible dans les disciplines qui utilisent deja la langue vernaculaire pour l'expression du systeme lui-meme. Euclide, exposant sa geometrie dans sa langue naturelle, n'avait aucune idee de la distinction que nous venons de mentionner, dont on ne s'etonnera pas d'apprendre qu'elle n'a pu emerger dans la conscience des savants qu'avec la constitution de langages integralement formalises. Relativement au type ideal que nous venons de definir, nous voudrions maintenant examiner dans quelle mesure un droit, pris comme ensemble de dispositions en vigueur, un systeme juridique, peut etre assimile a un tel systeme logique. On peut d'abord convenir assez facilement qu'une teIle assimilation suppose qu'on ait prealablement reconnu quelques caracteres particulierement manifestes des systemes juridiques. Si l' on assimile un systeme juridique a un systeme logique, on est naturellement conduit a considerer que les regles explicitement posees par le legislateur, textes legislatifs d'abord, decrets d'application aussi, jouent dans de tels systemes, un röle assez analogue a celui que nous avions reconnu aux axiomes a l'interieur d'un systeme logique, puisqu'ils constituent en quelque sorte I'ensemble des principes (au sens que Condillac donnait a ce mot) dont le reste est cense se deduire. Or, si les textes legislatifs sont, dans un systeme juridique, assimilables a une axiomatique, il faut reconnaitre qu'une teIle axiomatique est plhhorique, le legislateur multipliant les dispositions, generalement sans grand souci de les reduire au minimum.

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Apn!s ce caractere plethorique de son axiomatique, le deuxieme trait marquant d'un systeme juridique est de n'exister que dans l'instant. La plupart des systemes logiques ne changent pas. Considerons le systeme de la geometrie euclidienne: sans doute peut-on en modifier la presentation; meme, sans en modifier la presentation, il est possible d'y ajouter de nouveaux theoremes, jusqu'ici non encore decouverts; en outre, on peut, a cote du systeme euclidien, construire des systemes non-euclidiens; mais, en un sens, tous ces changements n'empechent pas le systeme de la geometrie euclidienne de rester le meme. Dans un droit au contraire, meme si nous laissons pour le moment de cote les revirements de la jurisprudence, nous devons reconnaitre qu'une nouvelle disposition legale, survenant atout instant, peut 2 remettre en cause la totalite de l'edifice. C'est ce que nous voulons dire en declarant qu'un systeme juridique n'est systeme logique que dans ['instant. Le troisieme trait qui caracterise deja grossierement un systeme juridique est d'etre un systeme post-Jondateur. Rappeions qu'un systeme Jondateur est celui qui ne presuppose ou ne sous-entend aucun autre systeme, pour lequel par consequent le lecteur ou l'interprete n'a besoin de rien admettre que ce qui est explicitement donne par l'auteur; dans le cas inverse, de beaucoup le plus frequent, on parle de systeme post-Jondateur. En droit Jranfais par exemple, comme en geometrie euclidienne, on ne propose pas de regles de bonne Jormation des expressions: pour la geometrie euclidienne, il est sous-entendu que ces regles sont deja donnees par la grammaire grecque (ou la grammaire Jranfaise pour les traductions), a laquelle il suffit d'ajouter quelques termes ou expressions techniques; pour le droitJranfais, il est sous-entendu que ces regles so nt fournies par la grammaire franyaise, a laquelle ici encore il suffit d'ajouter quelques termes ou expressions juridiquement techniques. Ni le geometre, ni le legislateur, ni le professeur de droit ou de geometrie ne commencent par un cours de grammaire. Pourtant ce ne sont pas seulement la grammaire et tout le vocabulaire, mais encore des modes de raisonnement fort divers, a la limite, certains elements d'arithmetique, de physique et de sciences naturelles, que le juriste doit supposer admis. Tels sont les trois caracteres, repetons-Ie, les plus grossierement evidents qu'il faut d'abord reconnaitre aux systemes juridiques si nous cherchons ales ranger dans l'ensemble des systemes logiques. Cette reconnaissance une fois acquise, nous voudrions soulever trois questions plus delicates: 1. Quelle est la situation des definitions dans un systeme juridique?

2. Y a-t-illieu de distinguer dans l'organisation du logos juridique, systeme et metasysteme? 2 Nous n'irions evidemment pas jusqu'a dire que toute disposition legale nouvelle remeUe en cause la totalite de l'edifice. Certaines dispositions nouvelles peuvent s'ajouter au systeme sans remeUre en cause ce qui precede, ou du moins tout ce qui precede. Ceci touche a un probleme difficile, que nous n'avons pas a aborder ici.

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3. En quel sens peut-on parler de consistance et de completude d'un systeme juridique? La plupart des tennes auxquels le droit fait appel sont purement et simplement empruntes aux langues vemaculaires, sans qu'on puisse en trouver dans le droit lui-meme de definition. 11 est clair qu'on chercherait vainement dans le Code civil une definition des moulins a vent ou a eau qu'evoque l'article 519, des bois taillis et des futaies de l'article 521, des ustensiles aratoires, semences, pigeons des colombiers, lapins des garennes, ruches amiei, poissons des hangs, pressoirs, chaudieres, alambics, cuves et tonnes, pailles et engrais de l'article 524, tous tennes supposes dejä definis, ou du moins connus, dans le langage ordinaire. En revanche on peut trouver dans le Code civil aux articles 516-536 une serie de definitions, construites ä partir de tennes eux-memes supposes definis dans le vocabulaire commun, de concepts proprement juridiques: meubles, immeubles, immeubles par leur nature, immeubles par leur destination, meubles par leur nature, meubles par la determination de la loi, meubles meublants, etc. Ces definitions sont plus ou moins conventionelles, comme le souligne dans nos exemples la reference ä la nature ou ä la determination de la loi. De meme l'article 578 definit-ill'usufruit: les articles 637-639 la servitude, 1371 et suivants les quasi-contrats; 2071- 2072, le nantissement, le gage et l' antichrese; 2114 et suivants l'hypotheque. Aces exemples concemant le statut des biens (livres II et III du Code civil) on pourrait ajouter d'autres exemples ressortissant ä celui des personnes (livre Ier). Dans ce domaine encore le droit tantöt reprend les tennes du langage naturei, avec leur acception habituelle, et tantöt substitue aux definitions implicitement admises par l'usage ses propres definitions. Ainsi dans la plupart des droits contemporains, la relation de maternite est-elle empruntee au langage naturel grace une definition implicite qui pourrait etre la suivante:

a

a est la mere de b

ff

a est de sexe feminin & a a engendre b

alors que la definition paralh~le de la patemite qui se retrouve niveau du langage naturei:

a peu pres au

a est le pere de b df = a est de sexe masculin & a a engendre b est generalement rejetee de nos systemes juridiques au profit de l'adage bien connu

Is pater est quem nuptiae demonstrant qu'on peut sommairement reduire

a la fonne suivante:

a est le pere de b = il a existe un instant t et un individu df

x, tels que a hait le mari de x en t et x a confu b en t. 12 Festgabe für Alois Troller

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En effet, Ia constatation du/ait naturel selon Iequel a a engendre b etant aussi difficile dans Ie cas de Ia paternite qu'elle est facile dans celui de Ia maternite, Ie droit prefere construire sa determination de Ia paternite sur Ia constatation de deux autres faits I'un et l'autre aises ä etablir: 1. le fait physiologique de la conception de b par un x au temps t, qui s'infere de l'accouchement un certain nombre de mois plus tard 2. le faitjuridique de la situation de mariage entre a et cet x au temps t, que l'etat civil permet d'etablir en toute certitude.

De teIles definitions procedent de ce que Searle appelle constitutive rules, c'estä-dire de regles dont l'objet n'est pas de determiner directement Ie comportement des sujets (obligations, interdictions ou permissions) mais de constituer l'institution. Ces regles sont l'une des sources majeures de Ia presence de l'indicatif descriptif dans Ie systeme juridique; car elles decrivent ce que Ie droit appelle paternite, mariage, biens immobiliers, engagement unilateral,prescription, etc.; mais elles peuvent Ie faire de deux manieres assez differentes, dont Amedeo Conte a eu Ie merite d'introduire Ia distinction. Les dispositions constitutives 3 , nous dit Conte, peuvent etre eidhiques ou anancastiques. Les dispositions constitutives eidetiques so nt Ies ressorts essentiels de I'institution elle-meme. Que Ia promesse engendre une obligation de celui qui a promis et correIativement un droit de celui ä qui il a ete promis appartient ä I'eidos meme de Ia promesse, en ce sens eIementaire qu'il n'y aurait pas de promesse sans cela. Que l'objet soit detenu par Ie creancier dans Ie gage, que I'immeuble soit remis au creancier dans l' antichrese decoule de l'eidos du gage et de I'antichrese tel que I'exposent Ies articles 2071 et 2072:

Le nantissement est un contract par lequel un debiteur remet une chose a son creancier pour surete de la dette.

Le nantissement d'une chose mobiliere s'appelle gage. Celui d'une chose immobiliere s'appelle antichrese.

Que l'hypotheque suive Ies immeubles affectes ä I'acquittement de I'obligation «dans quelques mains qu'ils passent» resulte de l'eidos de l' hypotheque, tel que Ie definit l'article 2114: sans cette condition, essentiellement pas d'hypotheque. Les dispositions constitutives anancastiques en revanche etablissent Ies formes necessaires ä Ia reconnaissance juridique de I'institution. Une promesse quelconque faite sans temoin est d'ordinaire juridiquement nulle; Ie droit regle Ies conditions anancastiques (acte notarie par exemple ou presence de tel ou tel) faute desquelles Ia promesse n'est pas censee etre. L'article 2074 du Code civil ne reconnait Ie privilege que Ie gage confere au creancier relativement aux autres «su'autant qu'il y a un acte public ou sous seing prive, diiment enregistre, 3 Dans les expressions constitutive rules et regulative rules nous traduisons rules par dispositions, pour eviter le pleonasme que la traduction par le mot regles ferait surgir en fram,:ais (regles regulatives ou regulatrices).

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contenant la declaration de la somme due, ainsi que etc. ». De meme les articles 2115 et suivants enoneent les eonditions auxquelles le droit soumet la reeonnaissance de l'hypotheque, puisqu'enfin, dit le Code civil, «l'hypotheque n'a lieu que dans les cas et suivant les formes autorises par la loi». Cette formulation de l'article 2115 merite toute notre attention: non pas /'hypotheque n'est permise que si ... , non pas /'hypotheque doit obligatoirement ... , mais /'hypotheque n 'a lieu .. . L'existenee de ces deux sortes de regles constitutives fait obstacle au reve, earesse par de nombreux logiciens, d'arriver a traiter le droit comme un systeme de normes, ale reduire a des dispositions regulatives, obligations, interdietions, permissions, les seules que puisse prendre en eompte une logique simplement deontique. G. H. von Wright evoquait en 1983 au Congres de 1'1. V. R. a Helsinki la satisfaetion qu'avait inspiree a Kelsen dans les annees 50 l'apparition des logiques deontiques: elles semblaient en effet offrir au theorieien le moyen logique de traiter un droit comme un simple systeme de normes, de deduire des normes a partir de normes. Un systeme de normes, tel est le lit de Procruste, auquel de nombreux logiciens ont espere et esperent eneore reduire chaque systeme juridique. Une telle attitude presuppose une meconnaissance de cette dualite fondamentale de ces systemes, qui eombinent en realite dispositions constitutives et dispositions regulatives. Notre present propos attire immediatement une objeetion. Ces «regles eonstitutives », nous dira-t-on, ne sont-elles pas elles-memes des normes, normes a l'adresse du juge en partieulier? La regle anancastique subordonnant l'existence de la promesse a l'accomplissement de certaines formes impose au juge l' obligation de ne reeonnaitre la promesse qu'a cette eondition, et oblige ainsi qui veut promettre efficacement a passer par la. Ainsi les dispositions dites constitutives ne sont-elles pas elles-memes regulatives, puisqu'elles reglent le eomportement de l'interprete du droit, et, par le fait meme, de tout citoyen, qui est bien force, peu ou prou, de se faire l'interprete du droit, ne serait-ce que pour s'y conformer? C'est cette objection que nous voudrions maintenant rHuter, en montrant qu'elle repose sur une grave confusion entre systeme et mhasysteme. La confusion a l'interieur du droit, entre systeme et mhasysteme est d'abord facilitee par une raison que nous avons deja signalee et sur laquelle nous pouvons done passer rapidement: le droit exprime tout en langue vernaculaire, les dispositions regulatives, c' -est-a-dire celles qui reglent les comportements de tout un chacun, aussi bien que les dispositions constitutives, celles qui s'adressent a l'interprete; il se prive par le fait meme de la possibilite, dont disposent les disciplines formalisees, de rendre deja linguistiquement sensible la distinetion des deux niveaux, et se trouve a cet egard dans la meme situation que le systeme de la geometrie expose par Euclide. Mais il y a pour le systeme du droit une deuxieme raison qui rend la distinction insensible, dont on ne rencontrerait aucun equivalent du cöte de la geometrie. Le 12"

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metasysteme, disions-nous, c'est l'ensemble des normes qui s'adressent a l'interprete. Ainsi le Modus ponens declare-t-il: si vous avez une these A et une these Si A alors B, vous avez le droit (et, dans un contexte de polemique, ['obligation) d'admettre B comme these. Que le metasysteme s'exprime assez naturellement sur un mode normatif (ce qu'indique clairement le mot regle dans regle de transformation) l'oppose immediatement a l'indicatif descriptif, dans lequel s'exprime presque toujours le systeme lui-meme. Le facheux est que, dans le domaine du droit, on retrouve le mode normatif au niveau du systeme luimeme, puisque c'est ici qu'on rencontre les dispositions regulatives. 11 y a encore une troisieme raison qui, dans l'ordre juridique, pousse a la confusion entre systeme et mbasysteme. C'est que les normes constitutives, propres au metasysteme, et les normes regulatives, propres au systeme, ne s'adressent pas a deux ensembles d'individus strictement exterieurs l'un a l'autre. 11 n'y a pas d'une part l'interprete et d'autre part le citoyen sujet de droit. L'interprete, c'est-a-dire le juge ou l'avocat, ou encore le professeur (la Doctrine), est lui-meme soumis au droit qu'il nous interprete, saufle cas, assez exceptionnel, Oll un professeur etranger, comme Zachariae, commente le systeme du droit franc;ais. Rares sont les juristes en situation d'ethnologues; en tout cas les juges appliquent un droit auquel eux-memes n'echappent pas. Quant au sujet ordinaire de droit, nous avons deja eu l'occasion de signaler, en particulier en rapportant l'objection qu'on pouvait nous adresser, qu'il est souvent amene a s'eriger en interprete pour savoir ce qui lui est permis et ce qui lui est interdit. Ainsi le sujet du droit se retrouve-t-il, comme maitre Jacques, sur deux niveaux, moins heureux que le cuisinier-cocher d'Harpagon qui disposait du moins de deux livrees distinctes. L'equivalent de la fameuse scene de L'avare c'est le non moins fameux article 4 du Code civil: Le juge qui refusera de juger, sous pn':texte du silence, de I'obscurite ou de l'insuffisance de la loi, pourra etre poursuivi comme coupable de deni de justice

qu'on peut aussi bien comprendre comme une norme du metasysteme signifiant: Le systeme doit etre considere comme complet; I'interprete ale devoir d'en deduire toutes les dispositions qu'i! aura ä prendre

ou comme une norme regulative du systeme: Si le citoyen est juge, il est soumis ä I' obligation supplementaire de juger, sous la menace des sanctions prevues au Code penal pour le deni de justice.

Ainsi l'objection dont nous etions parti, selon laquelle les pretendues regles constitutives seraient elles-memes des normes, normes a l'adresse du juge dont elles reglent le comportement, est-elle liee aux raisons que nous venons d'enoncer, ainsi qu'a la possibilite, bien connue du logicien, de remplacer, dans l'ensemble constitue d'un systeme et de son metasysteme, telle definition, prise dans sa forme metalinguistique, par une equivalence exprimee dans la forme

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linguistique, c'est-a-dire de substituer dans certains cas a une regle du metasysteme une ou plusieurs theses du systeme, dans un contexte ou de surcroit les theses peuvent eIles-memes avoir un contenu normatif. Ainsi, 1'article 529 du Code civil Sont meubles par la determination de la loi les obligations et actions qui ont pour objet des sommes exigibles ou des effets mobiliers, les actions ou interets etc.

peut-il s'entendre, de maniere equivalente, comme une disposition du systeme, en 1'occurrence a 1'indicatif descriptif: Les obligations et actions qui ont pour objet etc .... so nt meubles ...

ou comme une norme du metasysteme obligeant 1'interprete ä traiter obligations et actions en question comme des meubles. Disposition du systeme ou norme du metasysteme, venons-nous de dire; notre present exemple a ceci de particulier, qui merite attention, que nous n'aurions pu dire norme du systeme. Meconnaitre la distinction entre systeme et metasysteme dans le domaine du droit interdirait a la limite de rien comprendre a la notion de nullite. Une regle constitutive, au demeurant generalement non exprimee, veut, dans la plupart des droits connus, qu'il n'y ait mariage entre deux personnes que si elles sont de sexe different. Oe meme une regle constitutive anancastique veut en droit fran~ais qu'il n'y ait mariage que si 1'on est passe devant un officier d'etat civil. Pour le moment du moins, il n'est pas veritablement interdit d'epouser quelqu'un du meme sexe, c'est simplement impossible; un tel mariage n'est pas prohibe, mais nul. Oe meme, qu'un moderne Romeo reussisse a faire celebrer son mariage avec sa Juliette par quelque franciscain comprehensif, dans le respect de toutes les dispositions du droit canon, mais sans se preoccuper du droit civil, son mariage sera civilement nul. Oe teIles nullites ne se reduisent pas a des prohibitions, meme s'il arrive a la loi de les assortir d'interdictions annexes, par exemple ä 1'intention des officiers d'etat civil ou des pretres qui pourraient etre tentes de s'ouvrir ä des fantaisies, interdictions avec lesquelles il faudrait etre myope pour les confondre. Reste la question de savoir ou les regles du metasysteme peuvent se trouver dans le corps du Code civil. On en rencontre d'abord au titre preliminaire, encore que le Projet de Code civil, redige par Portalis, Tronchet, Bigot-Preameneu et Maleville comportat un titre preliminaire beaucoup plus abondant et explicite sur ces regles destinees a l'interprete. La redaction definitive n'a laisse subsister que les articles 1 et 2, qui determinent la date a laquelle les lois sont executoires et expriment leur non-retroactivite, 1'article 3 qui etablit a qui (a quels sujets de droit) et a quoi (a quels objets) doivent s'appliquer les lois fran~aises, ainsi que 1'article 4, dont on a deja parle. Cette pauvrete du titre preliminaire du Code civil se trouve au demeurant partieIlement compensee par les articles 1156-1164 du livre troisieme qui inspiraient dejä a Zachariae 4 la remarque: 4 Cours de droit civil franfi:ais, traduit par Aubry et Rau, 2eme edition, tome I, Strasbourg, F. Lagier, 1843, p. 77, note 1.

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Le Code eivil ne eontient pas de regles sur l'interpn!tation de la loi; mais eelles qu'il donne dans les art. 1156 et suiv. pour l'interpretation des eonventions, peuvent y suppleer: les lois, en effet, sont l'expression de la volonte du legislateur, eomme les eonventions sont l'expression de la volonte des parties eontraetantes.

Ainsi Zachariae nous invite-t-il ici a reconstituer des fl!gles non exprimees du mhasysteme, par analogie, a partir de certaines dispositions du systeme, a savoir celles qui concernent l'interpretation des conventions entre particuliers: la Jurisprudence et la Doctrine doivent, pour leur interpretation de la loi, se soumettre aux dispositions (regulatives) auxquelles la loi oblige les citoyens a se soumettre dans I'interpretation de leurs conventions. Ainsi l'examen de la maniere dont se reconnait le mhasysteme nous renvoie-til acette particularite du domaine juridique que la responsabilite de la completude, et d'ailleurs celle de la consistance, du systeme y incombe, non pas, comme, semble-t-il, partout ailleurs, a I'auteur presume du systeme, a savoir le legislateur, mais bien a son interprete. Sur cette question de la consistance et de la complhude, nous serons plus bref, puisque c'est un sujet sur lequel nous nous sommes dejä explique anterieurement 5 • L'ensemble des textes legislatifs, disions-nous, pris a la lettre est en realite contradictoire et incomplet: contradictoire, notamment parce que le legislateur d'abord n'est pas unique, mais aus si parce qu'il est loin de prendre toujours la peine d'abroger explicitement les dispositions qu'il cherche ä remplacer; incomplet, notamment parce qu'il ne peut tout prevoir de l'indefinie variete des situations possibles. Or cet ensemble inconsistant et incomplet, l'interprete est tenu de le traiter comme s'i! constituait un systeme consistant et complet, s'il veut en particulier se conformer a l'article 4; c'est donc lui qui se trouve investi de la fonction d'assurer la consistance et la completude. L'interprete supprime les contradictions par appel aux criteres, aux normes, exprimees ou non, du metasysteme, auxquelles correspondent les adages traditionnels: Lex posterior derogat priori, Lex specialis derogat generali, Lex superior derogat inferiori,

le dernier de ces trois adages recouvrant d'ailleurs deux regles differentes, selon que la hierarchie invoquee renvoie a la source de la disposition (une loi passe 5

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Cf. en partieulier En quel sens un droit, un systeme de dispositions juridiques peut-i! etre dit complet? Archives de philosophie du droit 24 (1979), pp. 285-296. La logique et le jeu de l'argumentation dans le raisonnement juridique, Memoria dei X Congreso Mundial Ordinario de Fi!osofia dei Dereeho y Fi!osofia Social, Universidad nacional autonoma de Mexico, 1981, V, pp. 333-341. La logique de I'interpretation du droit et la logique du droit lui-meme, Archives de philosophie du droit 27 (1982), pp. 417-425.

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avant un decret) ou ala dignite des contenus eux-memes (I'obligation de porter secours a autrui l'emportera sur l'interdiction de l'exercice il}{~gal de la medecine). Mais ces quatre regles peuvent elles-memes se trouver en conflit; auquel cas, il n'existe, pour decider de la prevalence de l'une sur l'autre, selon l'expression de Norberto Bobbio, aucun critere des criteres. De meme l'interprete assure-t-illa completude du droi't, comble-t-illes lacunes de la loi, par appel a trois criteres propres au metasysteme: 1. l'argument analogique, dont on peut montrer facilement que les differentes formes, a pari, a simili, afortiori, a minori ad majus, a majori ad minus, reviennent logiquement au meme 2. l'argument a contrario 3. la regle, que le texte definitif du Code civil a passee sous silence, bien qu'elle fUt exprimee dans le Projet, selon laquelle« la loi ... repute Heite tout ce qu'elle ne defend pas»; «aetus praesumitur justus», eomme la formulait le jeune Leibniz.

11 faut choisir entre les deux premieres regles, qui classiquement s'opposent par leurs conclusions, tandis que la troisieme vient generalement al'appui tantöt de l'une contre l'autre et tantöt de l'autre contre l'une des deux precedentes. Mais, pour ce choix, l'interprete ne dispose toujours pas de critere des criteres.

Ainsi, non seulement, a la difference de ce qui se passe pour la quasi-totalite des systemes connus, Oll c'est l'auteur du systeme, celui qui le redige, qui assume la responsabilite de la non-contradiction et de la completude, cette mission est dans le systeme juridique confiee a l'interprete, mais encore le choix entre les regles du metasysteme mises asa disposition pour cette tache depend pour une large part de son appreciation. Aucun algorithme ne pourra choisir asa place: ce qui signifie qu'en admettant qu'on puisse parvenir a mettre un jour un systeme de droit sur ordinateur, on ne peut l'esperer raisonnablement pour le metasys.teme.

Cette derniere des originalites profondes de l'ensemble des dispositions juridiques ne suffit pas cependant a nous interdire de considerer un systeme juridique comme une sorte de systeme logique. Simplement nous devons etre conscients que cette inexistence d'un critere des criteres au niveau du metasysteme en fait ce qu'il faut bien appeler un systeme mou ou un systeme soupie, meme si cette mol/esse ou cette souplesse se trouve tout de meme temperee par l'intervention de la Cour de cassation.

Edmund Husserl sur les normes L'ebauche d'une theorie de la science normative et d'une logique des normes Par Georges Kalinowski, Orsay

Introduction L'elaboration par Husserl de sa phenomenologie-methode et de sa conception de la philosophie comme science rigoureuse a fraye a Alois Troller le chemin vers une connaissance authentiquement scientifique en general et du droit en particulier. 1 Au moment Oll notre colh~gue suisse prend sa retraite, il parait opportun d'evoquer, dans les metanges rediges en son honneur, l'enseignement du Maitre de Göttingen et de Freiburg (Baden) contenu dans ses Recherehes logiques et plus precisement dans ses Prolegomenes ala logique pure, leur premier volume, sur la science normative, sur les normes qui la composent et sur la logique des normes, c'est-a-dire sur les relations constantes existant entre les etats de choses designes par les normes, relations que constatent les theses de cette logique. 2 Cet enseignement a sa source dans le projet ambitieux de constitution de la philosophie comme science rigoureuse, tache exigeant en un premier temps la creation de la logique fondant toutes les sciences et pouvant etr~ par consequent tenue pour la science de la science (Husserll'appelle aussi «theorie de la science» ou «logique pure»). Or c'estjustement cela qui l'a amene a s'interroger sur la science normative, sur les normes et sur leur logique. Car compte tenu de la distinction rencontree ici ou la entre la science theorique, la science normative et la science pratique, l'auteur des Recherehes logiques se proposant l'elaboration de la logique pure a ete necessairement amene a se demander quel etait le caractere de la logique. Etait- elle theorique, normative ou pratique? Au cas Oll elle serait normative, il fallait savoir ce qu'etaient les normes, quelles en etaient les especes et quelles etaient les relations existant entre elles ou plus exactement entre les etats de choses designes par elles (nous pensons bien entendu aux enonces propositionnels normatifs, autrement dit aux normesenonces ou normes-propositions par opposition aux jugements normatifs, en d'autres termes normes-jugements - en adoptant cette terminologie nous evitons l'equivocite du terme «norme» employe indifferemment pour designer tant les normes-jugements que les normes-enonces). S'effor~ant de se faire une 1 Husserl1928 et 1911. Quant aux travaux de Troller voir en particulier Troller 1966, 1967, 1968, 1970, 1973 et 1982. 2 Nous citons les Prolegomenes ä la logique pure d'apres Husserl1969 (la pagination de l'edition allemande ayant servi ä la traduction fran~aise indiquee entre parentheses).

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Georges Kalinowski

opinion dans chacune de ces matieres, Husserl ebauche non seulement une theorie de la science normative, mais encore une theorie des normes, derriere laquelle se profile une theorie des estimations (ä propos de ces dernieres, il convient de distinguer egalement entre les estimations-enonces (propositions) et les jugements de valeur), voire une logique des normes. Nous nous emploierons ä presenter cette tripie contribution de Husserl en suivant l'ordre interne qui relie entre elles ses trois parties. Nous l'avons dejä tente, du moins en partie, dans la seconde moitie des annees soixante. 3 Si nous y revenons aujourd'hui ce n'est evidemment pas pour repeter ou resumer ce que nous avons precedemment ecrit ä ce sujet, mais pour essayer d'aller plus loin et surtout plus au fond des choses. Nous osons supposer qu'apres un si long intervalle rempli d'etudes et de recherches portant sur les memes tMmes ou sur des tMmes apparentes, nous avons quelque chance d'apporter des precisions, des complements, voire des rectifications ä nos travaux anterieurs consacres ä la tripie problematique de Husserl. Neanmoins, pour ne pas trop nous etendre, nous laissons cette fois-ci de cöte la logique husserlienne des valeurs et nous limitons par ailleurs aux deux premiers chapitres des Pro/egomenes la logique pure (§§ 4 ä 16). Ainsi ne prenons-nous pas en consideration entre autres les Recherehes hhiques de Husserl, ouvrage particulierement important pour sa logique des valeurs dont nous ne nous occuperons pas ici. 4

a

I. La science normative selon Husserl Ainsi que nous l'avons dit dans notre Querelle de la science normative, la conception husserlienne de cette science ne se dessine pas, du moins ä prime abord, avec toute la nettete desirable, en depit des analyses, aussi minutieuses que consciencieuses, Oll excelle le fondateur de la phenomenologie. s 11 suit les auteurs - avons-nous signale en passant - distinguant entre les sciences theoriques, normatives et pratiques. Sans aucun doute la science pratique (Husserll'appelle aussi «technologie») est composee de normes indiquant ce qu' on doit et / ou a le droit de faire ou / et ne pas faire ( < beneJit-Analyse und von dem Grad der Wahrscheinlichkeit, ihn ( = den Zweck) zu erreichen. Das System der "Utilitäten" und Wahrscheinlichkeiten ist ein System an sich, wo mehr oder weniger allgemeine Strategien (wie: Maximierung des Gewinns, Minimierung des Risikos oder dgl.) eine wichtige Rolle spielen. Es gibt keinen allgemein validen Maßstab für den Vergleich zwischen Wahrscheinlichkeiten und dem Wertsystem der Eigenwerte der Sachverhalte 14 . Die Beurteilung ist aber auch nicht ganz kasuistisch. Sowohl die Identifikation der "normtypischen" Situation (= des Rechtstatbestandes) als die Beurteilung der Mittel --+ Zweck-Strategien setzt Faktenwissen voraus. Das System der Erfahrung ist aber ex ante nicht geschlossen. Außerdem ist es mehrmals auf eine relevante Weise unsicher. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen den Teilsystemen des multirationalen juristischen Diskurses und den heuristischen Regeln, die - teilweise außerhalb der Logik - für die Vereinbarkeit der Teilsysteme sorgen. Diese Inferenzregeln setzen eine besondere Rationalität voraus; aber ist es möglich, das alles mittels eines einzigen logischen Systems auszudrücken?

13

1983.

Siehe Hannu Tapani Klami, Legal Heuristics - a Theoretical Skeleton, Vammala

14 Über die Struktur der diesbezüglichen Sy~teme ("the axiological systems 0/ action") siehe Hannu Tapani Klami, Anti-Legalism - Five Essays in the Finalistic Theory of Law, Turku 1980, S. 18fT.

15 Festgabe für Alois Troller

226

Hannu Tapani Klami

VII. Wie ersichtlich, geht es um zwei grundlegende Dinge. Der juristische Sprachgebrauch enthält nicht nur Gebote, Verbote oder Erlaubnisse von Sachverhalten. Auch Faktenpropositionen und Vergleichssätze sind mit im Bilde. Laßt uns ein kleines Beispiel nehmen, eine Gesetzesvorschrift: "Ein Polizist, der sich Trunkenheit zuschulden kommen läßt, soll seines Amtes enthoben werden." Dieser Satz der natürlichen rechtlichen Sprache kann verhältnismäßig unproblematisch vom Standpunkt der deontischen Logik so ausgelegt werden, daß den Personenvariablen, die zur Klasse der Polizisten (die eine institutionelle Tatsache ist) gehören, der Sachverhalt des Benehmens "Trunkenheit" verboten ist. Wir sehen übrigens, daß es nicht immer klar ist, ob ein Sachverhalt verboten oder erlaubt ist. Die Antwort auf eine diesbezügliche Frage setzt voraus, daß die Rechtsfolge einer auch noch so klaren Vorschrift von einem gewissen Standpunkt aus beurteilt wird. Nehmen wir an, daß der Polizist X einen Polizeikraftwagen in betrunkenem Zustand gefahren hat. Daraus ergibt sich die Faktenprämisse; Tatsachen gehören ja zum Bereich des Satzkalküls ersten Grades. Wenn es dann zur Verurteilung des Polizisten Xkommt, fällt es uns leicht, eine intuitive Begründung für die Entlassung von Herrn X anzugeben, eine, ganz einfache Subsumtion mag hinreichend sein: Trunkenheit am Steuer gehört zur Klasse der Sachverhalte von "Trunkenheit". Wenn man noch verlangt, daß man diese Subsumtion begründet, ist es leicht zu antworten: Trunkenheit am Steuer ist noch viel schlimmer als eine "gewöhnliche" Trunkenheit. Bei dieser einfachen Begründung wenden wir eine uralte Justifikationsfigur an, einen t67tot; , den schon die griechische Rhetorik analysiert hat und der heute argumentum a minori ad maius heißt. Dabei sind wir aber schon im Bereich der Logik der Begründungen; hier geht es um einen Sonderfall der Relationslogik, von der Logik der Vergleiche ("the logic ofbetter H

).

J.-L. Gardies hat vier Erfordernisse für die Entwicklung der Logik des juristischen Diskurses aufgestellt:

(1) Die zu entwickelnde Logik soll extensioneIl sein, d. h. die Kontrolle der Generalisierbarkeit von Geboten, Verboten und Erlaubnissen in möglichen Welten zulassen. In der Rechtswissenschaft ist es vom Belang, ob eine gewisse Norm, z. B. "OpH alle Situationen und Personen betrifft oder nicht. (2) Die Logik soll insofern "gemischt" sein, so daß sie sowohl Sollsätze als Seinsätze einschließt. Mit anderen Worten: es handelt sich um eine Kombination von deontischer Logik und Satzkalkül.

Multirationalität und der juristische Diskurs

227

(3) Die Struktur der deontischen Funktoren - 0, P, - soll so erweitert werden, daß ihre Argumente nicht nur gebotene, verbotene oder erlaubte Sachverhalte des Verhaltens sind, sondern auch Personenrelationen zwischen dem Befehlenden und dem Befohlenen (nicht nur zwischen dem "Gesetzgeber" und dem "Normenadressaten" , sondern z. B. auch zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner). (4) Es ist notwendig, einen Unterschied zwischen Sachverhalten und Handlungen zu machen. In juristischen Zusammenhängen geht es oft gerade um Änderungen, ob durch bloßes Geschehen oder durch Handlung. "X ist tot" ist ein Sachverhalt. "X stirbt" ist eine Änderung durch ein Ereignis, "X wird getötet" ist eine Änderung durch Handlung. Ich glaube aber, daß diese Liste gar nicht erschöpfend ist, wenn es um eine Logik geht, die für alle Bereiche des juristischen Diskurses anwendbar ist. Ein wichtiger Zusatz ist m. E. die begründungstechnische Anwendung der Logik bei der juristischen Argumentation mit ihren (juristischen und anderen sozialen) Metanormen zu Präferenzen der Argumente in bestimmten Situationen. Diese Präferenzen gründen sich auf bestimmte Wertsysteme. Eine schwierige Frage, die hier nur gestreift werden kann, ist der Bedarf solcher Ausdrücke wie: "Op ist wichtiger als Oq".

Ich glaube, daß man auch eine Präferenzlogik zwischen den Normen braucht; die Normen konkurrieren ja miteinander, und es gibt auch solche Metanormen, wie lex superior derogat legi inferiori oder lex posterior derogat legi anteriori. Kein logisches System kann ein Bett des Prokrustes sein oder, um auf ein moderneres Märchen hinzuweisen, die Haarschneidemaschine eines Erfinders aus Albanien: bei der Anwendung des Automaten ist die Kopfform der Menschen nur zum ersten Mal unterschiedlich. Die Anwendung der Logik darf keine Eigenart des juristischen Diskurses "wegschneiden". Der juristische Diskurs ist stets systemrelativ; die Geltung der Systeme ist epistemologisch und methodologisch mit den Auffassungen eines Auditoriums als konsensbildendem Faktor verbunden. Es ist aber klar, daß der juristische Diskurs aus mehreren (Teil-) Systemen besteht. Die Systeme sind mit der "Lebensform" (Sprachgebrauch, sozialen Normen, Wertungen, Tatsachenannahmen usw.) eng verbunden. Nun geht es darum, die Systeme in verschiedene Formalsprachen zu übersetzen. Es ist offenbar unmöglich, die Übersetzung in eine einzige Formalsprache vorzunehmen. Dies alles ist mit der Multirationalität des juristischen Entscheidungsdiskurses eng verbunden. Die Logiken der Tatsachen (auch von Mittel -+ ZweckAnnahmen), der Normen und der Präferenzen sind Elemente der Multirationalität. lS*

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Hannu Tapani Klami

Nun ist es aber klar, daß es keinen geschlossenen Algorithmus gibt für die Harmonisierung dieser Multirationalität. Es ist eine andere Sache, daß es auch Regeln gibt, die einige Aspekte dieser Harmonisierung betreffen. Diese Heuristik ist nicht theoretisch vollständig; aber die Entwicklung des juristischen Diskurses setzt voraus, daß man von den Regeln der Heuristik spricht, sie analysiert und auch kritisiert. Daß es hier mehrere Rationalitäten gibt, verschiedene Systeme, die in die Formalsprache der Logik zu übersetzen sind, schließt die Anwendung der Logik keineswegs aus. Klar ist nur, daß die Rolle der deduktiven Schlußfolgerungen relativ gering sein muß. Statt dessen hat man eine Vielzahl von Inferenzregeln, die das Verhältnis zwischen den verschiedenen Prämissen aus den in Frage kommenden Systemen betreffen. Z. B. zwischen Normsätzen und Zielsätzen, zwischen Zielsätzen und Aussagen über Wahrscheinlichkeiten der Mittel --+ Zweck-Sequenzen usw. Es gibt im juristischen Denken zahlreiche "Tensionen" zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten, zwischen pircov und cSiavota des Gesetzes, zwischen Normen und Zielen - und zwischen Formalismus und Phänomenologie. Dies spiegelt sich auch in einer "naturgetreuen" Logik des juristischen Diskurses wider.

IV. Sprache, Performanz und Ontologie des Rechts

Zur Ontologie des juristischen Sprechakts Von Jan M. Broekman, Leuven Eine Ontologie des juristischen Sprechakts wird durch die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Referenz nach einem Draußen bestimmt. Dieses Draußen wird im juristischen Diskurs letztlich als ein ,brute fact' aufgefaßt, so daß diese Form der Referenz philosophisch als ein Repräsentationsdenken zu bestimmen wäre. Jenes Denken ist in der Grundstruktur der juristischen Dogmatik fest verankert. Das wird besonders dadurch erreicht, daß juristische Fakten, auf die sich die juristischen Sprechakte beziehen, als spezifische Artikulationen von ,brute facts' vorgestellt werden. Jene Art der Vorstellung ist als eine theoretisch und philosophisch relevante Darstellung zu betrachten, die aber zugleich auch eine Herstellung ist. Diese Tatsache weist schon darauf hin, daß jene Vorstellungsweise auf eine referentielle Struktur angewiesen ist, die gerade durch das Fundierungsverhältnis von juristischen Fakten in natürlichen Fakten zu einer autoreferentiellen Struktur wird. Die gegenwärtige Rechtstheorie hat Fakten öfters als Evaluationen im Recht dargestellt. Dieses besondere Darstellungsverhältnis und seine Ontologie wurde jedoch nicht zur Diskussion gestellt. Jene Ontologie blieb somit an der skizzierten Referenz nach einem Draußen haften. Fakten im Recht sind nach unserer Auffassung jedoch keineswegs Evaluationen. Juristische Faktizität, so lautet die Gegenthese dazu, wird im Rahmen der juristischen Dogmatik konstruiert. Das geschieht ausschließlich als Funktion jener Dogmatik, die ein Regelsystem ist für alle Handlungen (Sprechakte) des Rechtspraktikers. Eine wichtige Schlußfolgerung wäre, daß Rechtstatsachen nicht das Objekt der Rechtswissenschaft bilden, sondern eben Vorbedingung von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis sind. Die ontologische Problematik der auf jene Faktizität bezogenen juristischen Sprechakte ist aufs engste mit dieser Bestimmung von Faktizität als Konstruktion verbunden. Denn Ontologie ist nach unseren abendländischen Wirklichkeitsvorstellungen als implizite oder explizite Aussage über Faktizität aufzufassen. Wer die Grenzen dieser Aussagen überschreiten möchte, wird von jenen Schranken unseres Vorstellungsvermögens zurückgewiesen, durch die die Darstellung von Realität eingegrenzt wird. I. Sprache und Sozialvertrag

Die Sprechakttheorie von Austin bis zu Searle und Kripke repräsentiert die wesentlichsten Grundzüge unseres sozialvertraglichen Denkens. Die Parallele zwischen Austins Theorie und The Concept 0/ Law von Hart ist auffallend, und

232

lan M. Broekman

das wohl nicht nur aus dem Grunde, daß beide Autoren miteinander befreundet waren. Dasselbe gilt übrigens für die rechtstheoretischen Bestimmungen des besonderen performativ-juristischen Sprechakts: auch dort ist die Parallele zwischen Sozialvertrag und Sprechhandlungsstruktur auffallend (Ross, Olivecrona, Alexy). Für eine ontologische Betrachtung des juristischen Sprechakts ist diese Parallele besonders bedeutsam. Sie erfüllt eine besondere Funktion. Recht und Sprache sind besonders in dem performativ-juristischen Sprechakt in einem und demselben Akt realisiert. Mit dem realisierten Rechtsbewußtsein geht immer eine ganz bestimmte Form des Selbstbewußtseins sowie des Sozial bewußtseins zusammen. Darum kann auch eine Sprachtheorie, die sich naivontologisch als Repräsentationsdenken durchsetzt, die Rechtstheorie nach ihrem ideologischen Gehalt bestimmen. Sie ist dann alsbald dazu gezwungen, die in der juristischen Dogmatik vorherrschende Interpretation von Recht, Staat und Realität auch wissenschaftlich zu untermauern. Dadurch können bis in die Grundstrukturen der Sprachtheorie hinein juristische Dogmatisierungen als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit und als soziale Normativität auftreten, ohne daß die konstitutiven Bezüge auf theoretischer Ebene aufgedeckt werden. Dies ist besonders an den Sprechakten selbst zu erläutern. So kann sich weder der Linguist noch der Jurist einen Sprechvorgang vorstellen, ohne die Dominanz der Subjektform in unseren Sprach- und Lebensstrukturen als Selbstverständlichkeit und als philosophisch unproblematischen Vorgang hinzunehmen. Denn wer sich außerhalb dieser Selbstverständlichkeit befindet, hat alsbald jede Verständnis- und Verständigungsmöglichkeit abgeschnitten. So ist es als eine wichtige ontologische Verwurzelung zu betrachten, daß die Sprechakttheorie sich insgesamt auf das Sprecher-Hörer-Modell oder auf subtilere Variationen dieses Modells stützt. Das ist offensichtlich auch dann der Fall, wenn sie die Begrenzungen und engeren Schranken dieses Modells hinter sich lassen möchte und beispielsweise von bloßer Kommunikation zu einer tiefergreifenden interpersonalen Verständigung führen möchte. In einem solchen Fall ist das Modell eines andauernden Wechselspiels von Hörer und Sprecher mitsamt seiner geradezu unendlichen Vielzahl von dritten Personen von einer ungeheueren theoretischen Komplexität. Dieser Rollenwechsel und sein institutioneller Kontext kann niemals als theoretisches Modell für den Dialog gelten, es sei denn, daß man den Dialog eben als interpersonale Kommunikation auffaßt, welche die Beteiligten nicht wesentlich ändert, wenn der Dialog sich entfaltet. Verständigung im Sinne von einem ,Eins-Werden' (Binswanger) ist in dem Modell nicht möglich, da die gegenseitigen Bezugspunkte als Individuen im sozialvertraglichen Muster, d. h. mit Autonomie und Freiheit ausgestattet, sich niemals wesentlich ändern oder gar aufgehoben werden. Diese Beobachtung bleibt auch dann gültig, wenn beispielsweise Jürgen Habermas in seinem Buch "Der philosophische Diskurs der Moderne"! mit 1

Jürgen Habermas. Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main

1985, S. 345ff.

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einer geradezu faszinierenden ontologischen und sprachphilosophischen Unbefangenheit behauptet, "daß das Paradigma der Erkenntnis von Gegenständen durch das Paradigma der Verständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten abgelöst werden muß". Die Performanz der Sprache und der Sozialvertrag als Grundmuster der Sprachtheorie funktionieren in einem solchen Fall unkritisch als Explikation dieses Paradigmawechsels: "Im Verständigungsparadigma ist vielmehr grundlegend die performative Einstellung von Interaktionsteilnehmern, die ihre Handlungspläne koordinieren, indem sie sich miteinander über etwas in der Welt verständigen." Man sieht, wie unreflektiert Sprache und Handlung in bezug auf die Performanz miteinander identifiziert werden. Diese Angelegenheit könnte jedoch noch so betrachtet werden, als ob für den Sprechakt des besonderen juristischen Diskurses keine Folgerungen daraus zu ziehen wären. Das ist nicht der Fall, denn ersichtliche Relevanz für diese Problematik hat die Behauptung, daß die Referenz nach einem Draußen zu einem ,Miteinander' und zu einer Verständigung führt, die paradigmatischen Charakter hat. Wie kann, so muß man sich fragen, eine naiv-ontologische Referenz, deren Repräsentationsdenken dem Paradigma der Bewußtseinsphilosophie als ihrem Herzstück zuzuschreiben wäre, nun plötzlich zu einem neuen Paradigma der Verständigung führen? Offensichtlich nur dann, wenn Verständigung als interpersonale Kommunikation begriffen wird, die nach den bestehenden Grundstrukturen eines sozialvertraglichen Denkens im Rollenwechsel des Hörens und des Sprechens wiederzufinden ist. Erneut Habermas: "Indem Ego eine Sprechhandlung ausführt und Alter dazu Stellung nimmt, gehen beide eine interpersonale Beziehung ein." Das dürfte tatsächlich der Fall sein, aber jene Beziehung hat keinen erkenntnisändernden Wert in bezug auf das Paradigma von Welt, Sprache und Verständigung, da es lediglich ein Selbstverständnis produziert, welches als Repräsentationsdenken eine Wiederholung des bestehenden Grundmusters unserer gesellschaftlichen Ordnung ist. Jene Auffassung ist durch und durch konservativ und sie fußt in theoretischer Hinsicht immer noch auf dem Sprecher-Hörer-Modell: ,,(Die Beziehung) ... ist durch das System der wechselseitig verschränkten Perspektiven von Sprechern, Hörern und aktuell unbeteiligten Anwesenden strukturiert. Dem entspricht auf grammatischer Ebene das System der Personalpronomina. Wer in diesem System eingeübt ist, hat gelernt, wie man in performativer Einstellung die Perspektiven der ersten, zweiten und dritten Person jeweils übernimmt und ineinander transformiert." Habermas verspricht sich davon eine andere Beziehung des Subjekts zu sich selbst, nämlich eine Änderung der Beobachtungsperspektive des Subjekts zu sich selbst. Dadurch ist seiner Ansicht nach die Dominanz der Subjektposition, die auch für den juristischen Sprechakt charakteristisch ist, eine Machtposition gegenüber der gesamten Realität. "Zwischen der extramundanen Stellung des transzendentalen und der innerweltlichen des empirischen Ich ist eine Vermittlung nicht möglich. Diese Alternative entfällt, sobald die sprachlich erzeugte Intersubjektivität den Vorrang erhält. Dann steht Ego in einer interpersonalen Beziehung, die es ihm erlaubt, sich aus

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der Perspektive von Alter auf sich als Teilnehmer an einer Interaktion zu beziehen." Der Nachvollzug des immer schon anwesenden Wissens kann die Stelle des reflexiv vergegenständlichten Wissens, des Selbstbewußtseins, einnehmen. Aber, so wäre erneut im Zusammenhang unserer Erwägungen zu fragen, wie kann ein Selbstbewußtsein aus dem Kreis seiner eigenen Herrschaft, seiner Macht und Autoreferentialität herausgeraten, wenn es lediglich die ontologisch im Repräsentationsdenken verankerten Rollen wechselt, deren Anzeichen die Personalpronomina der Sprache sind? Kein Wunder, daß in Habermas' Lösungsversuch die Regel und die Regelbefolgung einen Hauptakzent bekommt. Von Ent-Regelung durch die Präsenz einer genuinen Andersheit des Andern ist keine Rede. Habermas hält Verständigung für ein neues Paradigma, während erst dann, wenn der Andere seinen paradigmatischen Wert zuerkannt bekommt, von einer wirklichen Verständigung die Rede sein kann (Levinas). Ist eine solche Verständigung, so müssen wir uns erneut fragen, im Bereich des juristischen Sprechakts und jenem des allgemeinen juristischen Diskurses möglich? Welche Form der Verständigung wäre im Recht möglich? Die einzige Antwort, die möglich erscheint, ist die, daß es sich wohl immer um Verständigung zwischen Individuen handelt, die als Rechtssubjekt qualifiziert werden, die über die Sachverhalte sprechen, die nur aufgrund einer Referenz nach einem Draußen als einer Gesamtheit von ,brute facts' verstanden werden können. Ontologie und Faktizität hängen auch dann zusammen, wenn man die Frage nach Verständigung durch Sprechakte stellt. Kernstück der Problematik ist dabei nicht die linguistische Struktur der aktuellen Verständigungsvorgänge, sondern die diese Struktur determinierende Referenz. Sind die Fakten im Recht als ,brute facts' zu verstehen, haben sie evaluativen Charakter oder sind sie KonstruktioQen im Dienste der Gesamtheit des juristischen Diskurses?

11. Recht und Tatsache Das Band zwischen Faktum und Recht ist ein sehr enges. Jeder Jurist spricht so, als ob er von den Fakten ausginge, als ob er über die Fakten redete und als ob er die Fakten selbst zur Sprache bringt. Daß er dabei zwischen Fakten als Sachverhalten und als Tatbeständen differenziert, bleibt meistens verborgen, denn diese Subtilitäten gehören seiner Ansicht nach zu den Selbstverständlichkeiten der juristischen Dogmatik, also zum Handwerk des Juristen. Das Band zwischen Faktum und Recht soll indessen als großes Gut des juristischen Denkens dargestellt werden und somit, jedenfalls im Hinblick auf das öffentliche Bewußtsein, unbefragt bleiben. Fakten sind Fakten, wo kämen wir denn hin, wenn auch Juristen die Unbezweifelbarkeit einer solchen Aussage relativieren wollten? Und dennoch: was sind Fakten, was ist ein Faktum im Recht? Diese Frage ist keineswegs sinnlos, zumal sie zu den verschiedensten Zeiten immer wieder zu einer Hauptfrage des rechtsphilosophischen Denkens geworden ist. Jede Erwägung dieser Frage ist außerdem Anlaß zu neuen Perspektiven auf das

Zur Ontologie des juristischen Sprechakts

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Recht in seiner Gesamtheit geworden. Manchmal hat das sogar zu Änderungen klassisch-dogmatischer Richtigkeitsauffassungen geführt. In den Ordnungen des klassischen Syllogismus ist immer an erster Stelle von den Fakten die Rede. Aber kein einziger Jurist wird eine solche Redeweise für sich in Anspruch nehmen, ohne dabei die Regel bereits im Kopf zu haben, welche angewandt werden soll. Die Rechtsregel bildet den Rahmen, innerhalb dessen über Fakten - damit meinen wir sowohl Sachverhalte (Lebensfakten) wie auch Tatbestände (juristische Fakten) - gesprochen wird. Man könnte in einem verallgemeinernden Sinne formulieren: die (juristische) Regel gibt dem (juristischen) Sprechen seinen Sinn. Etwas ist im juristischen Denken nur der Fall, wenn es eine (Rechts-)Regel gibt, die in diesem Fall angewandt werden kann. Folgerichtigerweise ist im juristischen Denken etwas nicht der Fall, wenn es eine derartige Regel nicht gibt. Darin liegt, zumeist in verborgener Weise, die Aktualität des Problems von Lücken im Gesetz. Es ist sehr klar zu verstehen, daß solche Lücken von großer Bedeutung sind, wenn sie nicht auf die buchstäblichen Formulierungen eines Gesetzes, sondern auf die Regel bezogen sind 2 • Die Fakten stehen also in einem ganz besonderen Verhältnis zu der Regel. Fakten sind Funktionäre der Regel. Das Verhältnis von Recht und Faktum, wie gesagt ein klassisches Thema der Rechtsphilosophie, besteht letzten Endes aus der Tatsache, daß das Recht seine Fakten zustandebringt und damit den gesamten juristischen Diskurs aufrechterhält. Diese Perspektive läßt ersichtlich werden, daß jenes Verhältnis von Recht und Faktum zu den Grundgegebenheiten der Autoreferentialität des Rechts gehört. Die juristische Auffassung ist, daß der Zusammenhang von Fakten und Regel eine wesentlich sprachliche sei. Es ist, so sagt beispielsweise Fr. Rigaux 3 , sowohl die Arbeit der Sprache wie auch Arbeit des Syllogismus, daß Recht seine Fakten konstituiert. Das Wort ,Faktum', so argumentiert Rigaux und mit ihm viele Juristen, besitzt im Recht immer zwei eng zusammenhängende, aber immer zu differenzierende Verweisungseinheiten: einmal sind die Beschreibungen materieller Elemente der jeweiligen Situation gemeint, zum anderen aber auch die juristische Qualifizierung jener Sachlage. Diese doppelte Referenz soll nun die Eigenart des juristischen Urteilens ausmachen. Es spricht dabei für sich, daß jene referentielle Struktur auch die Grundlage jeglicher Rechtsanwendung ausmacht. Mit demselben Wort wird also die Materialität des Faktums wie auch die juristische Qualifizierung jener Materialität zum Ausdruck gebracht. In diesem Zusammenhang ist es unausweichlich, daß Fakten im Recht beschrieben bzw. zum Ausdruck gebracht werden mit den Worten bzw. Begriffen, die letzten Endes vom Gesetzgeber formuliert bzw. ausgedacht wurden. Die Regel spielt dabei insoweit eine kontinuierliche Rolle, als sie das Rechtssystem als 2 3

Jan M. Broekman. Beyond Legal Gaps, in: Law and Philosophy, 1985. Fr. Rigaux. La nature du contröle de la Cour de Cassation, Bruxelles 1966.

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Regelsystem prägt, und diese Prägung betrifft nicht nur die juristischen Handlungen, sondern in einer tieferen Schicht auch die Worte und Begriffe, ja sogar die grammatikalische Struktur der Sprache. In dem Sinne sollte man darauf hinweisen, wie sehr es dem Recht als sozialem System entspricht, daß Rechtshandlungen im allgemeinen die Struktur eines grammatisch wohlgeformten Satzes aufweisen 4 • lose! Esser hat diesen Vorgang als ,juristische Konstruktion' beschrieben. Er weist darauf hin, wie sehr damit die Arbeit des Dogmatikers charakterisiert ist: "Der Dogmatiker braucht ein Modell, durch das die betreffende Fallkonstellation für eine potentiell als sinnvoll ins Auge gefaßte Lösung juristisch ,vorstellbar' wird oder, wie man es auch populär ausdrückt, ,in den Griff bekommt' ... Es handelt sich somit um die generelle Handhabung einer intendierten Praxis innerhalb des anerkannten Systems, auch wenn man zunächst etwas offen Systemfremdes geschaffen hat. Hier muß man u. U. ganz abseitige Ausdrücke und Vorstellungen heranziehen, um sein System anzureichern, ohne daß es ,aus den Fugen geht' 5." Ein Faktum entsteht damit erst, soweit die Partikularität, d. h. Ort und Zeit, Identität oder Objektbezeichnung, im System einen Platz zugewiesen bekommt. Kein Wunder, daß Juristen sich der philosophischen Kritik, ihre Sprachanwendung sei ,instrumentalistisch'6, nicht zu erwehren wissen, es sei denn mit der Aussage, sie könnten ,sich dabei nichts vorstellen'. Diese letzte Aussage trifft insoweit zu, als eine nicht-instrumentalistische Sprachauffassung im Recht und besonders in der juristischen Dogmatik für die gegenwärtige Rechtsauffassung buchstäblich unvorstellbar ist. Die Verankerung der juristischen Aktivität liegt geradezu in jener Sprachhandhabung. Esser weist darauf hin, daß jede juristische Konstruktion, die im Grunde mit jedem Akt des juristischen Sprachgebrauchs zusammenhängt, von Wertungen und Präsumtionen mit Bezug auf eine Idee der Lösungsrichtigkeit inauguriert wird? Die Schlußfolgerung, welche hieraus hervorgeht, ist wichtig. Die Frage nach der Einordnung in das System und damit die gesamte konstruktivistische Tätigkeit, also auch die Konstruktion von Fakten, stellt sich erst, wenn die Frage einer richtigen oder sinnvollen Lösung vorgreiflich beantwortet ist. An diesem Herzstück des dogmatischen Arbeitens kann man also erkennen, welche Relevanz die Bemerkung hat, daß das Recht seine Fakten erst herstellt. Die juristische Qualifizierung ist darum kein beliebiges Element der Dogmatik, sondern Grund und Boden des gesamten Rechts und des Verhältnisses von Recht und Wirklichkeit. Diese Tatsache ist an der Sprache des Gesetzgebers abzulesen. Seine Worte und Begriffe haben immer eine doppelte Bedeutung: einmal sind sie Worte und Begriffe der Alltagssprache mitsamt ihrer Allgemein-

4 5 6 7

Jan M. Broekman, Recht en Taal, Deventer 1979. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, Frankfurt 1970. Jan M. Broekman, Recht und Anthropologie, Freiburg 1979. Esser (FN 4), S. 110.

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gültigkeit und Allgemeinverständlichkeit, zum anderen aber sind sie jeweils auch rechtswissenschaftliche und/oder juristisch-technische Begriffe. Man sollte dabei bedenken, daß innerhalb dieses Vorganges auch jene Qualifikationen mit einbezogen werden, die etwa die Parteien zum Ausdruck gebracht haben. Diese Tatsache, daß die Parteien ebenfalls einen qualifizierenden Einfluß ausüben können, deutet in keinem Fall darauf hin, daß die juristische Dogmatik in dieser Hinsicht eine gewisse Freiheit zuläßt. Auch wenn Parteien ihre qualifizierende Aktivität ausüben, besteht ihre Freiheit nur als Freiheit innerhalb des gesamten Systems der juristischen Dogmatik. Ihnen ist in diesem System ein genauer Platz zugewiesen. Dieser Platz bedingt gewissermaßen die qualifizierenden Intentionen des juristischen Denkens und Sprechensdie ,quaestiones facti' -, wie auch die Schranken des gesetzlichen Qualifizierens - die ,quaestiones iuris'. Das heißt, daß die juristische Lösung immer schon in die Konfiguration der Fakten eingebracht worden ist. Der Hinweis auf die Tatsache, daß die Sprache hier am Werk ist oder auch die Logik (in Form des klassischen Syllogismus) sollte als Hinweis genommen werden, daß Recht und Faktum ein funktionales Verhältnis zueinander haben. Diese Funktionalität ergibt sich im allgemeinen Bewußtsein anders, nämlich so, daß zuerst die Faktizität der materiellen Tatsachen konstatiert werden muß, um danach durch Subsumtion in ein juristisches Konzept aufgenommen zu werden. Diese Selbstdarstellung ist aber ganz und gar nicht mit den Strukturen des dogmatischen Arbeitens in Übereinstimmung zu bringen.

III. Quaestiones facti, quaestiones iuris Der vielbesprochene Gegensatz zwischen den ,quaestiones facti' und den ,quaestiones iuris' ist keineswegs ein klarer Gegensatz. Es gibt immer Anwendungsprobleme im Zusammenhang gewisser einzelner Fälle, und der Versuch einer eindeutigen Fallösung mißlingt, wenn man sich dafür auf diesen Gegensatz beruft. In seinem Aufsatz ,Facts in Law'8 weist Jerzy Wrbblewski darauf hin, daß es in dieser Hinsicht zu sehr unterschiedlichen Resultaten führt, ob man nun von der juristischen \Praxis ausgeht oder von einem mehr rechtstheoretisch orientierten Standpunkt 9 • Darum besteht sehr allgemein die Neigung, so möchten wir den Beobachtungen von Wr6blewski ergänzend hinzufügen, juristische Fakten als identisch mit den deskriptiven Grundstrukturen der Dogmatik zu betrachten. Denn die Grundüberzeugung des Rechtspraktikers ist, daß seine Dogmatik die Wirklichkeit juristisch adäquat erfaßt. Dieses Erfassen ist seiner Meinung nach immer ein deskriptives Erfassen und niemals ein transformierendes Erfassen. Natürlich wird dann und wann die Frage laut, ob nun die deskriptive Erfassung der Faktizität tatsächlich einen Objektivitätsan8 J. Wr6b/ewski, Facts in Law, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, LIX, 2, 1973. 9 eh. Pere/man (ed.), Le Fait et le Droit, Etudes des Logique Juridique, Bruxelles 1961.

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spruch rechtfertigt. Ist die dogmatische Erfassung von Wirklichkeit nicht auch ein hermeneutischer Vorgang? Diese Frage bleibt auch, wenn wir uns die Differenzierungen von Wr6blewski vergegenwärtigen. Er unterscheidet drei Arten der juristisch-dogmatischen Determinierung der Fakten: " ... There are three essential manners of determination of facts in legal norms: descriptive or evaluative, positive or negative, simple or relational" 10. Diese drei analytischen Differenzierungen genügen jedoch nicht, um die Frage nach dem hermeneutischen Gehalt der juristischen Faktizität vollständig zu würdigen. Sie bringen vielmehr eine Reihe von Beobachtungen hervor, die den analytischen Rahmen sprengen. Die Hauptsache und der Hauptnachteil sind dabei, daß der Begriff der Sprache, wenn es um die juristische Dogmatik und ihre Praxis geht, im analytischen Denken auf demselben Niveau gebraucht wird, wie wenn es um die natürliche Sprache geht. Übersehen wird dabei grundsätzlich, daß die Sprache der Dogmatik schon eine konstruierte Sprache ist, in der die Faktizität das Ergebnis einer konstruktivistisch-institutionellen Tätigkeit ist. Letzteres ist in einer natürlichen Sprache jedenfalls nicht in derselben Art und Weise der Fall. Aber gelangt eine analytische Betrachtungsweise, die Differenzierungen anbringt, wie jene zwischen den ,quaestiones facti' und den ,quaestiones iuris' zu einer solchen ontologisch relevanten Schlußfolgerung? Ist ein analytisches Denken dazu geneigt, das Repräsentationsdenken und seine bewußtseinsphilosophische Komponente zur Debatte zu stellen? Drei Bemerkungen sind hier von Belang: 1. Analytisches Denken führt dazu, eine weitgehende Verfeinerung des Sprachgebrauchs der juristischen Dogmatik anzustreben. In diesem Zusammenhang ist der juristische Sprechakt Gegenstand des analytischen Verfahrens. Aber die Analyse bleibt insoweit instrumentell, als die Interessen der Dogmatik nicht relativiert, sondern als einfache Gegebenheit hingenommen werden. 2. Auch die Textualität des juristischen Diskurses, welche von dem juristischen Sprechakt in verschiedenster Weise, aber besonders durch ihre Performanz, realisiert wird, wird lediglich instrumentalistisch behandelt. Die Tiefenstrukturen des Textes werden trotz aller feinsinnigen Analysen der Mehrdeutigkeiten der juristischen Begriffsbildung nicht erschlossen. Juristische Texte werden verstanden als ein pragmatisches Instrument zur Handhabung des positiven Rechts. Die Einheitlichkeit und Eindeutigkeit der juristischen Textualität und ihre Sprechakte sind letzten Endes als Ziel des analytischen Verfahrens zu betrachten. 3. Das Verhältnis von Sprache und Handlung im Recht, worüber bereits im ersten Abschnitt Grundsätzliches gesagt wurde, wird im analytischen 10

Wrbblewski (FN 7), S. 163.

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Denken nicht auf seine ontologischen Implikationen befragt. Die Tatsache, daß Sprachregel und Verhaltens regel im Recht, d. h. die Syntax des Rechts und die Rechtshandlung weitgehend als den Grundstrukturen nach identisch behandelt werden, drückt das deutlich aus. Die Frage, warum der Vollzug von Guristischen) Sprechakten als Vollzug eines normativ gesteuerten sozialen Verhaltens betrachtet wird, bleibt durch den Hinweis auf den Regelcharakter beider nahezu unbeantwortet. Auf diesem Hintergrund ist zu verstehen, daß die Problematik auf der Ebene des Gegensatzes von ,quaestiones facti' und ,quaestiones iuris' verbleibt, so daß die Frage gar nicht erst aufkommt, ob ,quaestiones facti' nicht gemäß den Forderungen der ,quaestiones iuris' erst konstruiert werden. Eine solche Einsicht relativiert gewissermaßen die Schärfe der analytischen Begriffsdifferenzierungen. Recht verweist tatsächlich immer auf juristische Fakten, und soweit dies der Fall ist, tritt Recht nicht aus dem Bereich der Autoreferentialität heraus. Die von Wr6blewski hervorgehobene Normativität der in der Dogmatik festgelegten Regelstruktur ist nicht nur eine Normativität des Rechts, sondern vor allem auch eine Normativität, die für den Rechtspraktiker gilt. Darin wird vorgeschrieben, wie Fakten zustandekommen sollen. Das impliziert, daß die analytischen Differenzierungen, besonders der Hinweis auf den evaluativen Charakter der Faktizität des Rechts, immer noch innerhalb des Bereichs eines rechtspositivistischen Denkens angesiedelt ist. Diese analytischen Differenzierungen sind im Grunde Regeldifferenzierungen, bei denen vorausgesetzt bleibt, daß sie im juristischen Sinn gültige Regeln sind. Darin liegt ein minimum content 0/ positivism (Broekman), der bestimmend ist für jedes Paradigma des Rechts unserer westlichen Welt (Aarnio). Wf0blewski weist darauf hin; daß die Tatsächlichkeit im Recht und die damit verbundene Trennung von Recht und Faktum mit der eingangs erwähnten Unterscheidung zwischen quaestiones/acti und quaestionis iuris zusammenhängt. Bezeichnenderweise fügt er dem hinzu, daß jene Unterscheidung eine andere in intuitiver Weise als Grundlage annimmt, nämlich die Trennung zwischen ,brute facts' und ,institutional facts'. Diese Bemerkung führt mit Notwendigkeit dazu, die Problematik der Faktizität im Recht mit der sogenannten institutionalistischen Rechtstheorie in Zusammenhang zu bringen 11 • In der juristischen Dogmatik sind ganz bestimmte ,institutionelle Imperative'12 festgelegt worden. Es ist klar, daß juristische Faktizität in diesem Lichte ein Problem der besonderen Institutionalität des Rechts ist. Bei einer philosophischen Analyse dieser Institutionalität stößt man alsbald auf ontologische Fragen. Aufwelchem ontologischen Niveau spricht der 11 D. N. MacCormick, Law as an Institutional Fact, 1973; D. N. MacCormickjO. Weinberger, Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 1985. 12 E. Zu/eta Puceiro, Paradigma dogmatico y ciencia dei derecho, Madrid 1981; A. Aarnio, Paradigm Articulation in Legal Research, in: Philosophical Perspectives in Jurisprudence (Acta Philosophia Fennica, Bd. 36), Helsinki 1983.

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juristische Diskurs sich über die Wirklichkeit aus? Welchen Status hat der Begriff der Wirklichkeit in solchen Aussagen? Natürlich beziehen sich solche Fragen auf jene besondere Realität, die wir als tagtägliche Selbsterfahrung des sprechenden Menschen bezeichnen müssen. Andererseits tritt uns hier die besondere Problematik einer Charakterisierung der semantischen Dimension entgegen. Ist Semantik zu bezeichnen? Abhängigkeit und Unabhängigkeit der juristischen Sprache von der natürlichen Sprache des Alltags ist mit diesem Problem verbunden. Die Normativität des Rechts, sowohl im Sinne der dogmatischen Regelstruktur wie auch im Sinne einer sozialen Regelungsstruktur, ist mit der Beziehung zwischen Rechtssprache und Umgangssprache aufs engste verbunden. Die von Weinberger und MacCormick vertretene Theorie eines institutionellen Rechtspositivismus versucht, gegen den Hintergrund solcher philosophischen Fragestellungen das Recht als soziale Gegebenheit, gewissermaßen als einfache Tatsache zu sehen. Philosophische, naturrechtliche oder sonstige Erwägungen werden damit zeitweilig aufgehoben. Und gerade durch diesen Standpunkt wird die dogmatische und philosophische Debatte über die Faktizität der Fakten erneut eröffnet.

IV. Ontologie und Performanz Der konstruktive Charakter juristischer Faktizität wurde herausgestellt, um damit auch die ontologische Grundlage juristischer Sprechakte zu bestimmen. Jene Sprechakte zeigen sich kraft ihres dogmatischen Impetus so, als wären sie Momente einer sprachlichen Darstellung; Realität wird demnach als eine besondere juristische Qualität artikuliert. Aber statt von einer Darstellung, muß von einer Herstellung im Dienste eines übergreifenden Belangs, nämlich des juristischen Diskurses selbst gesprochen werden. Die Repräsentation gehört zur Sprachoberfläche, und eben diese sollte durchbrochen werden, wenn man die ontologischen Grundlagen betrachten will. Jede ontologische Fragestellung ist naiv und lediglich deskriptiv, wenn sie sich auf die Oberfläche der Phänomenalität beschränkt. Juristische Sprechakte sind offensichtlich nicht ausschließlich mit einer solchen naiv-repräsentionalistischen und zugleich voluntaristischnormativen Ontologie verbunden. Man kann in ihnen weitere ontologische Bezüge entdecken. Diese haben mit dem konstruktivistischen Charakter der juristischen Faktizität und mit der Problematik der Referenz eine enge Verbindung. Konsequenz dieser Bemerkung ist, daß die Performanz der juristischen Sprechakte zu den wichtigsten theoretischen und philosophischen Bezugspunkten gehört. In ~er Performanz, so heißt es bereits bei Austin, ist die reine Deskription aufgehoben. Denken, Sprechen und Handeln sind zu der Konkretion ihrer virtuell immer schon gegebenen Einheit gekommen - einer virtuellen Einheit also, die jedem Sprechakt anhaftet. Was gesagt wird, ist dadurch, daß es gesagt wird - und so, wie es gesagt wird. Sogar dem ,es' haftet noch eine referentielle

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Differenz an, die wegzudenken wäre. Gesagt sein ist Sein, sagen ist Sein. Sprache und Sein sind im Konzept der Handlung zu einer besonderen Identität gekommen. Der innere Zusammenhang von Sprachstruktur und gesellschaftlicher Struktur ist durch diese Identität keineswegs aufgehoben worden. Im Gegenteil: der performative 'Sprechakt hat seinen genauen Ort in jener gesellschaftlichen Struktur: er ist letzten Endes der Ort der Krone, der Macht, der Hierarchie, der Arche. Das wird aus der Tatsache ersichtlich, daß performative Sprechakte nur dank einer institutionellen Befugnis realisiert werden können. Wird mit dieser einschränkenden Überlegung hinsichtlich der besonderen und jeweils einmaligen Identität von Sein und Sprache nicht ein Rückfiill in das Repräsentationsdenken dokumentiert? Wird mit anderen Worten nicht zu oft und zu unreflektiert die befreiende Wirkung des performativen Sprechakts hervorgehoben? Wenden wir uns noch einmal der anfangs gestellten Frage zu: Was ist die ontologische Grundstruktur des juristischen Sprechakts? Der performative Sprechakt scheint von allen möglichen Sprechakten am deutlichsten klarzumachen, wie sehr Sein und Sprache in das Gefüge des institutionellen HandeIns eingebettet sind. Nur eine klar erkennbare Befugnis erlaubt den Sprechakt. Erst dann ist die bis zu einer Identität hinführende Deckung von Sein und Sprache eine mögliche Realität. Dieser Realitätscharakter und die offensichtlich virtuellperformative Eigenschaft alles Sprachlichen bekommt im Recht eine besondere Bedeutung. Wichtig ist es, festzuhalten, daß nur institutionelles Handeln imstande ist oder dazu eine Befugnis hat, der Sprache-Sein-Beziehung ihren besonderen Platz, also einen Topos zuzuweisen. Das dürfte, wie bereits gesagt, der Fall sein, weil Sprache und mit ihr Denken das jeweilige gesellschaftliche Grundmuster mitsamt seiner Ordnungen in sich tragen und somit auch selbst eine ordnende Kraft sind. Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, daß im Recht die gesellschaftliche Ordnung so eng mit der sprachlichen Ordnung verbunden ist, daß nur so die Performanz realisiert werden kann. Mit ihr wird die ontologische Grundstruktur der Sprache und einer Rede ersichtlich. Die Virtualität der sprachlichen Performanz nimmt in einer merkwürdigen Weise die Konturen jenes melancholischen Heimwehs an, das sich nach der Augenblicklichkeit, der Blitzartigkeit (Benjamin), der Unmittelbarkeit (Hegel) des Seins sehnt. Ist, so wäre zu fragen, im Recht überhaupt die Möglichkeit gegeben, auch nur für einen Moment jene Unmittelbarkeit zu realisieren - etwa in die Gerechtigkeit als Merkmal des juristischen Sprechakts? Vielleicht ist das einer der seltsamsten Fälle, in denen eine pessimistische und eine optimistische Einstellung in bezug auf die Möglichkeiten einer ontologischen Bestimmung sinnvoll ist. Die pessimistische Determinierung betont die Kontinuität, indem sie hervorhebt, wie sehr die Performanz institutioneller Natur ist. Besonders für den juristischen Sprechakt gilt dann, daß sie regelgebunden ist und keine Möglichkeit in sich trägt, das Phänomen der Ent-Regelung 16 Festgabe rur Alois Troller

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als Moment der Befreiung und der Unmittelbarkeit zu realisieren. Die optimistische Determinierung weist darauf hin, daß in den Randbereichen des juristischen Diskurses Möglichkeiten eines Seinsverständnisses auftauchen, die tatsächlich die ent-regelnde Präsenz des Anderen mit einbeziehen. In dem Sinne wäre dem Anderen in seiner Eigenart ein Platz eingeräumt und nicht zugewiesen, wie das normalerweise im Recht der Fall ist. Eine solche Platzeinräumung wäre in sich als Moment der Aufhebung der Dominanz von Regel und Institution zu verstehen. Ist der juristische Diskurs auch als Gegen-Diskurs zu verstehen? Die ontologische Bestimmung des juristischen Sprechakts ist in unverbrüchlicher Weise mit dem Problem eines Paradigmawechsels im Recht verbunden. Nicht Verständigung im interpersonalen Sinne, sondern Platzeinräumung dürfte als Stichwort eines solchen neuen Paradigmas gelten.

Normen und performative Akte Von Kazimierz Opalek, Krakow 1. In der gegenwärtigen Literatur auf den Gebieten der Rechtstheorie, der Normenlogik, der deontischen Logik sowie der allgemeinen Theorie der Normen wird vorwiegend angenommen, die Normen seien sprachliche Gebilde, Sätze einer gewissen Art, die sich semantisch und/oder pragmatisch von den deskriptiven Sätzen unterscheiden 1 . Diese Ansicht wurde jedoch letztlich von einigen Autoren in Frage gestellt 2 • Es scheint nötig zu sein, diese Sache zu überprüfen. Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen wird der Versuch einer Reinterpretation der Theorie der performativen Akte von J. L. Austin bilden 3 mit der Annahme, die Normen seien eine Art solcher Akte (was in der heutigen Literatur kaum bestritten wird). 2. Die Bedeutung der allgemeinen Formel Austins, Dinge mit Worten zu tun (doing things with words), kann eine zweifache sein. Erstens kann diese Formel die Behauptung zum Ausdruck bringen, daß es neben den konstativen Aussagen diejenigen einer "produktiven" oder etwas zustande bringenden Art gibt, d. h. daß bestimmte Formulierungen selber eine "performative Kraft" besitzen, die entweder eine besondere pragmatische Funktion dieser Formulierungen bildet oder auch ihnen eine besondere Art der Bedeutung verleiht (linguistische Interpretation). Zweitens kann jedoch diese Formel bedeuten, daß in der Ausführung gewisser nicht sprachlicher Akte die Worte entweder zur Vollziehung solcher Akte beitragen oder über sie informieren oder beides (Interpretation, die eine linguistische überschreitet). Wenn also Austin das "Tun von Dingen mit Worten" Akte nennt, so ist seine Äußerung zweideutig, denn der ersten Deutung nach würde es sich um Sprechakte mit einer speziellen "produktiven" ("fatischen") Bedeutung und/oder pragmatischen Funktion handeln, während es - der zweiten Deutung nach - ihrem Wesen nach nicht sprachliche Akte sind, die sich hilfsweise gewisser sprachlicher Ausdrücke 1 Vgl. z.B. G. Kalinowski, La logique des nonnes, Paris 1972, Kap. 1., S. 9f.; Z. Ziembinski, Problemy podstawowe prawoznawstwa (Grundprobleme der Rechtswissenschaft), Warszawa 1980, Kap. I1I, S. 110f. 2 Zwei Beispiele: H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Nonnen, hrsg. v. K. RinghoferjR. Walter, Wien 1979., Kap. I, VIII und passim; J. Wolenski, Z zagadnien analitycznej filozofii prawa (Uber Probleme der analytischen Rechtsphilosophie), WarszawaKrak6w 1980, Kap. I1I, S. 69f. 3 Vgl. J. L. Austin, Other minds, Proceedings ofthe Aristotelian Society, Bd. XX, 1946 und ders., Perfonnative utterances, in: Philosophical papers, Oxford 1961; ders., How to do things with words, Oxford 1962.

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bedienen. Austin hat im Grundsatz die erste dieser Auffassungen angenommen, was auch die weitere Entwicklung seiner Ansichten in der Gestalt der allgemeinen Theorie der Sprechakte bezeugt 4 • In der früheren Phase (Unterscheidung der Performative und Konstative) war er jedoch In dieser Hinsicht nicht so entschieden. Symptomatisch dafür ist die folgende Charakterisierung des Performativs: "Das Äußern des Satzes ist, jedenfalls teilweise, das Vollziehen einer Handlung, die man ihrerseits gewöhnlich nicht als ,etwas sagen' kennzeichnen würde s". Somit liegt die Vermutung nahe, daß die in Rede stehende Handlung (Akt) einen nicht bloß sprachlichen Charakter hat. Beachtenswert ist auch die folgende Formulierung: "In sehr vielen Fällen läßt sich eine Handlung genau derselben Art ohne sprachliche (gesprochene oder geschriebene) Äußerungen vollziehen - man macht es anders 6 ." Man kann bekanntlich z. B. die Worte einer Bitte oder auch eines Befehls durch gewisse Gesten oder den verbalen Protest durch eine andere Handlung, wie das Verlassen des Saales, in dem eine bestimmte Resolution angenommen wird, ersetzen. Die Bedeutung dieser Bemerkung Austins soll jedoch nicht vergrößert werden, da sie vorauszusetzen scheint, daß die betreffenden Akte ihrem Wesen nach verbal sind und ihre Vollziehung auf eine andere Weise nur als ein Ersatz der verbalen Handlung gilt. Austin berücksichtigt verschiedene nicht sprachliche Bestandteile der performativen Akte, indem er schreibt: "Ganz allgemein gesagt, ist es immer nötig, daß die Umstände, unter denen die Worte geäußert werden, in bestimmter Hinsicht oder in mehreren Hinsichten passen, und es ist sehr häufig nötig, daß der Sprecher oder andere Personen zusätzlich gewisse weitere Handlungen vollziehen - ob nun ,körperliche' oder ,geistige' Handlungen oder einfach die, gewisse andere Worte zu äußern'. Dieser Bemerkung Austins zustimmend, kann man solche Beispiele anführen, wie Taufe des Schiffes (eine dazu bestimmte Person schmettert die Flasche Champagner gegen den Rumpf des Schiffes und äußert gewisse Worte), oder Eheschließung (Äußerung passender Worte durch passende Personen zusammen mit anderen Handlungen, wie Übergabe der Ringe usw.). Dasselbe gilt jedoch auch für Fälle, in denen der performative Akt scheinbar nur verbal ist (z. B. Versprechen, Entschuldigung, Ratschlag). Für das Gelingen solcher Akte ist es notwendig, daß die Situationen, Personen und ihre Intentionen ("geistige Handlungen") passend sind. Eine große Bedeutung wird von Austin der Prozedur des performativen Aktes beigemessen. Er schreibt darüber folgendes: ,,(A.l) Es muß ein übliches 4 Vgl. K. Opalek, ,Doing things with words' and the law, in: Anuario de Filosofia del Derecho 1973, S. 234f. 5 Austin,. How to do things with words (FN 3), ~ier und weite~ zitiert nach der deutschen Ubersetzung von E. von Savigny unter dem Titel: Zur TheOrIe der Sprechakte, Stuttgart 1985, S. 28. 6 Ebd. (FN 5), S. 30. 7 Ebd., S. 31.

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konventionales Verfahren mit einem bestimmten konventionalen Ergebnis geben; zu dem Verfahren gehört, daß bestimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Worte äußern. (A.2) Die betroffenen Personen und Umstände müssen im gegebenen Fall für die Berufung auf das besondere Verfahren passen, auf welches man sich beruft. (B.l) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt (B.2) und vollständig durchführen. (r.1) Wenn, wie oft, das Verfahren für Leute gedacht ist, die bestimmte Meinungen oder Gefühle haben, oder wenn es der Festlegung eines der Teilnehmer auf ein bestimmtes späteres Verhalten dient, dann muß, wer am Verfahren teilnimmt und sich so darauf beruft, diese Meinungen und Gefühle wirklich haben, und die Teilnehmer müssen die Absicht haben, sich so und nicht anders zu verhalten, (r.2) und sie müssen sich dann auch so verhaltens." Im Lichte dieser Überlegungen Austins ist der performative Akt aus verschiedenen verbalen und nicht verbalen Elementen zusammengesetzt. Die Nicht-Erfüllung der die verbalen und/oder nicht verbalen Elemente des Aktes betreffenden Erfordernisse hat verschiedene Arten des Fehlschlagens (infelicifies) zur Folge. Diese Erfordernisse bilden die Prozedur des Aktes. Wir werden weiter erwägen, was für ein Objekt diese Prozedur ist. 3. Zuerst sollte man aber die Bestandteile des performativen Akts systematisch untersuchen. Unserer Meinung nach ist dieser Akt mit dem Sprechakt (Akt der sprachlichen Äußerung) nicht identisch, sondern er hat einen anderen Charakter. Wir lassen die Fälle der Vollziehung des performativen Akts ohne Gebrauch der Worte als untypische und sekundäre außer acht und erwägen nur die Fälle, in denen der Akt aus Worten und anderen Elementen besteht. Den ersten Bestandteil des performativen Akts bilden Worte, deren Gebrauch bestimmte Erfordernisse erfüllen muß. Dies sind erstens die allgemeinen sprachlichen Erfordernisse: die Formulierung, der man sich bedient, muß den semantischen Sprachregeln entsprechen. Diese Erfordernisse haben gewisse "Grenzen der Toleranz", indem sie normalerweise eine Reihe der alternativen Arten der Vollziehung des sprachlichen Teils des performativen Akts zulassen. Die Überschreitung dieser Grenzen läßt den Performativ als mißlungen erscheinen. Die sprachlichen Erfordernisse sind auch durch die Kontexte der Situation, des Milieus und der Kultur bedingt. So ist es in bestimmten Fällen der Performative, die den Charakter der konkret-individuellen Direktiven haben, möglich, sich anstatt der Imperativ- oder der Soll-Form der Form der Frage zu bedienen ("Kannst du mir Salz reichen?") bzw. der Form des Satzes im Futur ("Du wirst die Tür schließen! ")9 . In den performativen Akten vom Charakter Ebd., S. 37. Im Zusammenhang damit steht die Diskussion der Linguisten und Sprachphilosophen über die verborgenen Performative, insbesondere sog. wh imperatives, vgl. dazu: J. R. Ross, On declarative sentences, in: Readings in English transformational grammar, hrsg. v. R. A. JacobsjP. S. Rosenbaum, Toronto--London 1970; J. M. Sadock, Toward a linguistic theory of speech acts, New York 1974; G. M. Green, How to get people to do things with words: the question of whimperatives, in: Some new directions in linguistics, 8

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der abstrakt-generellen Normen, besonders in Rechtsnormen, ist oft die Form der allgemeinen konstativen Sätze im Gebrauch 10. Zweitens haben wir es in besonderen Fällen mit einer Verschärfung der Erfordernisse zu tun, indem für die Vollziehung des performativen Akts ein Gebrauch ganz bestimmter - und nicht anderer - Worte notwendig ist (z. B. im römischen Formelprozeß, in den Formeln des Eides, der Eheschließung usw.). Der Gebrauch der Worte wird hier durch andere Regeln als die sprachlichen bestimmt ll . Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß der Wortgebrauch im performativen Akt immer den semantischen Sprachregeln und in gewissen Fällen auch den besonderen außersprachlichen Regeln entsprechen muß. Die zweite Gruppe bilden die außersprachlichen Bestandteile des performativen Akts. Hierzu gehören: andere Handlungen außer der Äußerung der Worte (z. B. bei der Promotion zum Offizier der Kniefall des Promovierten und das Berühren seines Armes mit dem Säbel des Kommandeurs): die Vollziehung der nicht verbalen weiteren Handlungen (z. B. Händedruck der Parteien nach der Äußerung bestimmter Worte durch den Abbitte Leistenden); die richtige Sequenz der verbalen und nicht verbalen Handlungen (z. B. bei der Abstimmung: Verteilung der Abstimmungskarten, ihre entsprechende Ausfüllung durch die Abstimmenden, Einsammeln der Karten, Zählen der Stimmen und Bekanntgabe des Ergebnisses); die Vollziehung der verbalen und nicht verbalen Handlungen durch passende Personen (z. B. Verabschieden des Gesetzes durch die erforderliche Anzahl von Abgeordneten und nicht durch einen Kreis beliebiger Personen); in gewissen Fällen bestimmte psychische Vorgänge bei den Handelnden (z. B. richtige Intentionen beim Versprechen, bei der Entschuldigung usw.); passende Umstände (z. B. Beleidigung als Grund der Entschuldigung, faktische Möglichkeit der Erfüllung des Versprechens). 4. In dieser Aufzählung war die Rede von den verbalen und nicht verbalen Elementen des performativen Akts. Es ist zu unterstreichen, daß dieser Akt ein komplexes Phänomen ist, das aus allen diesen Elementen besteht. Es ist nicht so, daß der performative Akt nur aus den Worten bestünde, während das Übrige nur sein Hintergrund oder Kontext wäre. Der performative Akt enthält passende Äußerungen und am Häufigsten auch andere Handlungen der passenden Personen, vollzogen in passender Ordnung unter passenden U mständen und eventuell auch mit passenden Intentionen. "Passend" bedeutet hier "der hrsg. v. R. W. Shuy, Washington 1973; J. R. Searle, Indirect speech acts, in: Syntax and semantics, Bd. III, hrsg. v. P. Col~/J. L. Morgan, New York 1975. In der deutschen Literatur u.a. V. Ehrich/G. Saite, Uber nicht-direkte Sprachakte; D. Wunderlich, Zur Konventionalität von Sprechhandlungen; G. Grewendorf, Sprache ohne Kontext. Zur Kritik der performativen Analyse -. Sämtlich abgedruckt in: Linguistische Pragmatik, hrsg. v. D. Wunderlich, Berlin 1972. 10 Vgl. K. Opalek, On the logical- semantic structure of directives, Logique et Analyse XIII, 1970, S. 49f., 171. 11 Opalek (FN 4), S. 238.

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Prozedur entsprechend" ("die Prozedur" hat bei Austin eine ausgedehnte Bedeutung). Somit erweist es sich, daß die Bestandteile des perfonnativen Akts durch Komplexe gewisser sozialer Nonnen bestimmt sind. Die Philosophen und unter ihnen Austin, die schon wegen ihrer beruflichen Verbindung zum Standpunkt der Ethik neigen, weisen manchmal auf die Tendenz zur übennäßigen Betonung und Verabsolutierung bestimmter Elemente des perfonnativen Aktes hin, \Yie passende Intentionen (Aufrichtigkeit der Beweggründe) und faktische Möglichkeit der Erfüllung dessen, wozu der Akt verpflichtet (die These ought entails can, Sollen setzt Können voraus)12. Im Gegensatz zu allen derartigen Verabsolutierungen handelt es sich dabei um eine durchaus relative Angelegenheit. In der Ethik spielen solche Erfordernisse wirklich eine große Rolle, aber im Recht wird den Intentionen sehr oft nicht Rechnung getragen, und das Erfordernis der faktischen Möglichkeit einer Erfüllung der Rechtspflicht kann höchstens als Postulat einer rationalen Gesetzgebung gelten. Die Nonnen bilden eine der Arten der perfonnativen Akte. Um "gelungen" zu sein, müssen die Nonnen den bestimmten, durch die Prozedur festgelegten sprachlichen und außersprachlichen Erfordernissen entsprechen und - wenn "gelungen" - schaffen sie einen gewissen Tatsachenzustand. Dieser Zustand besteht nicht bloß in dem "etwas sagen" (in schriftlicher oder gesprochener Fonn). Im Bereich der perfonnativen Akte spielen die Nonnen eine besonders wichtige Rolle, da ohne eine bestehende nonnative Regelung keinerlei performative Akte entstehen können. Für das Entstehen von Nonnen als performativen Akten sind andere, die Bedingungen dieses Entstehens bestimmende Nonnen notwendig. Auf diese Weise kommen wir auf einem anderen Wege als dem der Reinen Rechtslehre zur Feststellung der Existenz einer Kette nonnativer Zusammenhänge und einer Hierarchie der Nonnen. Die perfonnativen Akte anderer Kategorien haben immer bestimmte nonnative Konsequenzen. Z. B. ist der Akt der Entschuldigung keine Nonn, aber seine Konsequenz - wenn er "gelungen" ist - ist die Pflicht des Adressaten und anderer beteiligter Personen, die Entschuldigung als vollzogen anzuerkennen. Ein den Regeln des Schachspiels entsprechender Zug des Spielers A ist keine Nonn, aber seine Konsequenz besteht in der Pflicht des Spielers B, einen der in der entstandenen Situation zulässigen Züge zu machen oder die Partie aufzugeben 13 • 12 Vgl. G. H. von Wright, An essay in deontic logic and the general theory of action, in: Acta Philosophica Fennica, Fasc. XXI, Amsterdam 1968, S. 64f. Neuerdings wurde diese Ansicht jedoch abgeschwächt. Im Referat: Is and ought (XI. Kongreß der IVR, "Plenary main papers and commentaries", Helsinki 1983, S. 11) schreibt von Wright folgendes: "It could rightly be said that a law-giver who enjoined the impossible would behave irrationally, since his will could not be fulfilled. We may therefore make it a maxim of rational or reasonable law-giving that only possible things (actions) be subject to norm." 13 Die Regeln des Schachspiels bestimmen nicht die Pflicht von B, in der entstandenen Situation den zum Matt führenden Zug zu machen, vgl. dazu A. Ross, On law and justice, London 1958, S. 14 (Unterscheidung der "primary rules of chess" und der "technological rules") und G. H. von Wright in der Kritik der Ansicht von M. Black, Is and ought (FN 12), S. 5, 21 f. (die erwähnte "Pflicht" als "technical ought").

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5. Die Erfordernisse für die Vollziehung des performativen Akts nennt Austin "Prozedur". Sein Begriff der Prozedur deckt sich nicht völlig mit dem entsprechenden juristischen Begriff. Dies ist hier aber von keiner besonderen Bedeutung. Wichtig ist es, daß von der Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung dieser Erfordernisse abhängt, ob der Performativ gelungen oder mißlungen ist. Austin analysiert eingehend die Fälle der letzteren Kategorie, indem er verschiedene Arten des Mißlingens (infelicity) charakterisiert. Die Unterscheidung des absoluten Fehlschlags, wenn "der Akt nicht vollzogen" ist, und des relativen Mißlingens, wenn der Akt mangelhaft ist, ist zutreffend, doch entstehen im letzteren Fall für Austin viele ZweifeP4. Um die Sache klarer zu machen, scheint es angemessen zu sein, sich der juristischen Auffassung zu bedienen. Entsprechend werden wir die performativen Akte als "gültig", "ungültig" und "mangelhaft" qualifizieren. Es besteht bei Juristen ein besonderes Interesse an der letzten Kategorie, und zwar an den Weisen der Sanierung bzw. des Nichtigmachens der mangelhaften Akte in zweifelhaften Fällen. Für die juristische Praxis ist dies eine provisorische Kategorie, die entweder positiv durch Validation der Akte oder negativ durch ihre Invalidation eliminiert wird. Für den Zweck unserer theoretischen Erwägungen werden wir auch die Mangelhaftigkeit als eine Übergangskategorie betrachten: ein Teil der Fälle wird schließlich zum Bereich der "Gültigkeit" und der andere Teil zum Bereich der "Ungültigkeit" gehören. Auf diese Weise werden wir im Bereich der performativen Akte eine Dichotomie der Gültigkeit und der Ungültigkeit annehmen können. 6. Zwischen dieser Dichotomie und der Dichotomie der Wahrheit/Falschheit von konstativen Aussagen scheint eine Analogie zu bestehen, auf die anfänglich auch Austin seine Unterscheidung (aber auch Aufstellung auf derselben Ebene) der Performative und Konstative stützte. Unserer Meinung nach ist jedoch diese Analogie nur scheinbar. Die Behauptung, daß ein gültiger performativer Akt vollzogen wurde, ist gleichbedeutend mit der Behauptung, daß dieser Akt vollzogen wurde, und die Behauptung, daß ein ungültiger Akt vollzogen wurde, bedeutet, der Akt wurde nicht vollzogen, d. h. er existiert nicht. Gültigkeit und Ungültigkeit sind also nicht die Eigenschaften der performativen Akte. Gültigkeit bezeichnet den Zustand der Erfüllung der normativen Bedingungen der Vollziehung des Aktes und die Ungültigkeit den Zustand ihrer NichtErfüllung; die Gültigkeit bedeutet also die Existenz des Aktes und Ungültigkeit seiner Nicht-Existenz. Anders steht die Sache mit der Wahrheit/Falschheit der konstativen Aussage. Wahrheit ist nicht ihre Existenz und Falschheit ihre Nicht-Existenz. In beiden Fällen existiert die konstative Aussage. Die Aussage - als eine konstative existiert nur dann nicht, wenn die allgemeinen linguistischen Erfordernisse für 14

Austin (FN 5).

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die Bildung der sinnvollen Aussagen dieses Typus nicht erfüllt werden. Die normativen Erfordernisse dagegen, mit denen wir es bei den Performativen zu tun haben, beziehen sich nicht auf die konstativen Aussagen. Wahrheit und Falschheit sind Eigenschaften der konstativen Aussagen mit Bezug auf die Relation der Aussage zur außersprachlichen Wirklichkeit, auf die die Aussage sich bezieht, oder mit Bezug auf die Bedeutung der in der Aussage enthaltenen Ausdrücke 1s . 7. Um unseren Vergleich des Performativs mit dem Konstativ präzise zu machen, werden wir den performativen Akt mit dem konstativen Sprechakt, d.h. mit dem konkreten Akt der Vollziehung einer konstativen Äußerung zusammenstellen. Unseren Ausgangspunkt bilden also Phänomene, von deren Betrachtung wir zur Analyse auf der logisch-syntaktischen, semantischen und pragmatischen Stufe übergehen. Von der Erscheinung des konstativen Sprachakts machen wir - wie bekannt - sukzessive Abstraktionen, indem wir untersuchen: auf der pragmatischen Ebene die Arten des Gebrauchs der Sprache und deren Funktionen, abgesehen von den individuellen Eigenschaften der konkreten Akte, mit Bezug auf den typischen Sender und Empfanger der Mitteilung und auf typische Situation; auf der semantischen Ebene bloß die sprachlichen Ausdrücke als Träger der Bedeutung, indem wir die Sinnzuschreibungen und Wahrheit bzw. Falschheit der Ausdrücke erwägen; auf der logisch-syntaktischen Ebene nur die Regeln der Bildung der Sätze. Wenn wir auf dieselbe Weise bei der Untersuchung der Phänomene der performativen Akte vorgehen, begegnen wir beträchtlichen Schwierigkeiten. Nehmen wir zuerst die logisch-syntaktische Abstraktion. Die sprachlichen Bestandteile der performativen Akte sind zwar den allgemeinen Regeln der Syntax der normalen Sprache unterworfen, aber damit ist die Sache nicht erschöpft: die Regeln der Bildung dieser Bestandteile beschränken sich nicht auf die formalen, sondern enthalten auch die inhaltlichen Erfordernisse des Gebrauches gewisser Formulierungen; wenn man davon absieht, "verschwindet" der Performativ. Der logische Aspekt der in Rede stehenden Abstraktion bezieht sich auf die Regeln der Verbindung der Sätze und die Bedingungen ihrer Wahrheit/Falschheit. Es entsteht nun die Frage nach dem Gegenstück dieser Dichotomie im Falle der Performative. Es kommt in Frage die normative Dichotomie der Gültigkeit/Ungültigkeit. Unter ihrer Annahme jedoch würden sich die sprachlichen Bestandteile der ungültigen Akte - auch wenn sie auf dieselbe Weise gebildet sind wie die der gültigen - der Analyse entziehen, eben als Teile der ungültigen, d. h. nicht existierenden performativen Akte. Wenn wir aber auf das Kriterium der Gültigkeit/Ungültigkeit verzichten, dann kann kaum die Rede von Performativen und ihren sprachlichen Bestandteilen sein. IS Wir kommen hier zu einem Ergebnis, welches der Ansicht Kelsens analog ist, (FN 2), Kap. 44, 11: "Geltung der Norm ist ihre Existenz, Wahrheit der Aussage ist ihre Eigenschaft." Siehe darüber auch unten, Punkt 8 und FN 18.

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Den Gegenstand der Analyse würden bloß Sätze ohne Eigenschaft der Performativität bilden. Auf der semantischen Ebene würden die bekannten - bisher kaum gelösten Fragen nach dem Charakter der performativen, u. a. normativen Bedeutung im Vergleich zur kognitiven Bedeutung auftauchen. Man sollte hinzufügen, daß im Falle der Konstative eine Abstraktion von Sendern, Empfängern und der Situation vollberechtigt ist, da die Konstative sinnvoll und wahr oder falsch sind, unabhängig davon, wer spricht, zu wem und in welcher Situation gesprochen wird, während es für die Performative wesentlich ist, wer der Sender, wer der Empfänger und wie die Situation ist. Verhältnismäßig bessere Chancen bietet die pragmatische Analyse bei der Suche nach den spezifischen, performativen Weisen des Gebrauchs der Sprache und nach der performativen Funktion der Äußerungen. Auch sie kann jedoch nicht zur Lösung des Problems der normativen Gültigkeit/Ungültigkeit des performativen Aktes führen. 8. Alle diese Schritte auf den Ebenen der logisch-syntaktischen, der semantischen und der pragmatischen Analyse stützen sich aber auf die Annahme, der performative Akt sei ein Sprechakt genau so wie der konstative Akt und insoweit sei die Beschränkung seiner Untersuchung auf linguistische Analysen berechtigt. Dies wird auch mit Bezug auf die Norm angenommen, die von den meisten Autoren als sprachliche Äußerung, genauer: deren Bedeutung bzw. Äußerung zusammen mit ihrer Bedeutung betrachtet wird 16. Im Lichte unserer Erwägungen bestehen jedoch Zweifel, ob dieser Standpunkt richtig ist. Sie tauchten schon im Laufe der Analyse der Bestandteile des performativen Akts auf. Sie wurden bekräftigt durch die Erörterung des Problems der Gültigkeit/ Ungültigkeit, der Existenz/Nicht-Existenz dieses Akts. Sie haben sich bei der Anwendung der Mittel der linguistischen Analyse zum performativen Akt bestätigt: denn es hat sich erwiesen, daß in diesem Fall solche Mittel nicht adäquat sind. Deswegen sprechen wir uns für die Ansicht aus, daß der performative Akt nicht bloß auf einen Sprechakt zurückgeführt werden kann. Unserer Ansicht nach ist der performative Akt ein konventionalisierter Entscheidungsakt, d. h. ein Akt, in dem der Willensakt eine wesentliche Rolle spielt, ein Akt, der einen Sinn hat, der aufgrund der diesen Akt bestimmenden Normen interpretiert werden kann 17 • Es scheint, daß auch die performative Theorie von J. L. Austin zu diesem Ergebnis führen muß. Es ist auffallend, daß Kelsen von seiner normativistischen 16 Siehe darüber M. Black, The analysis of rules, in: ders., Models and metaphors. Studies in language and philosophy, Ithaca, N.Y. 1962, S. 100f. 17 A. Ross, The rise and fall of the doctrine of performatives, in: Contemporary philosophy in Scandinavia, hrsg. v. K. E. Olson/A. M. Paul, Baltimore--London 1972, S. 209 f., schien teilweise einer solchen Auffassung der "normativen Akte" zuzuneigen, zählte aber letzten Endes diese Akte zu den (illokutionären) Sprechakten, nämlich zu den Gruppen dieser Akte, die Austin verdictives, exercitives und commissives genannt hatte.

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Position aus zu einem im Grundsatz ähnlichen Ergebnis gekommen ist. Kelsen zieht nur Normen in Betracht, was für uns von keiner größeren Bedeutung ist, da die Normen der hier vertretenen Ansicht nach eine Art der Performative bilden. Er argumentiert, daß man die Norm nicht auf eine sprachliche Äußerung zurückführen kann, erstens deswegen, weil die Norm zum Bereich der Willensakte und der die letzteren ausdrückenden Befehlsakte gehört, und zweitens deshalb, weil die Geltung ihre Existenz (Ungültigkeit ihre Nicht-Existenz) ist. Nicht jeder Willens-Befehlsakt sei eine Norm, sondern nur ein normativ qualifizierter derartiger Akt, der den Sinn des Sollens hat 18. Die sprachliche Analyse der Norm, die von dem volitiven Charakter der letzteren und ihrer Geltung Gültigkeit abstrahiert, befasse sich im Grunde nicht mit Normen, sondern mit etwas, was "bloß gedachte oder fingierte Normen" genannt werden könne l9 . Solche Ergebnisse waren von der analytischen "Reinen Rechtslehre" kaum zu erwarten. Anscheinend erzwingt die Problematik selber - entgegen den theoretischen Voraussetzungen - eine solche Lösung. Die linguistische Analyse des performativen Aktes beschränkt sich also auf die Untersuchung der sprachlichen Äußerungen, die den Performativ als Entscheidungsakt, als eine neue Tatsache mit ihren Konsequenzen in der sozialen Wirklichkeit zum Vorschein bringen. Die Worte haben hier eine zweifache Funktion, erstens der Mit-Vollziehung (insoweit sind sie ein integraler Teil des Performativs), zweitens der Mitteilung (Deklaration der Vollziehung des Performativs). Diese zweifache Funktion der Worte wurde von Austin eingehend erörtert: er schwankte zwischen der Annahme, daß ihre Äußerung etwas anderes und derjenigen, sie etwas mehr als das Sagen von etwas Wahrem oder Falschem ist 20 . Unserer Meinung nach sollte das Letztere angenommen werden: Die Worte stellen einerseits die Vollziehung des Performativs fest, andererseits aber sind sie an dieser Vollziehung beteiligt. Wie schon gesagt, ist die linguistische Analyse aus den angegebenen Gründen kein adäquates Mittel zur Erforschung der performativen Akte. Außerdem erweckt die Einschränkung des Performatives auf die verbale Dimension den Anschein, als ob die sprachliche Äußerung selber wirkte und etwas vollzöge. Bezüglich der Rechtsnorm suggeriert zum Beispiel eine solche Auffassung, daß die Worte selber die Kraft der Lenkung des Verhaltens des Adressaten haben, während sie nur die wesentliche Tatsache der normativen Entscheidung mitvollziehen und zum Ausdruck bringen. 9. Die vorstehenden Überlegungen liefern einen Kommentar zu dem Vorgehen, das Austin seinen Forschungen zugrunde legte. In der ersten Phase - der Theorie der Performative - war Austin zwar geneigt, die (unserer Meinung nach) einseitige Konzeption des "Tuns von Dingen mit Worten" anzunehmen, doch unterstrich er stark das Bestehen der außersprachlichen Aspekte des 18 19

20

Kelsen (FN 2), S. 21f., 136f. Ebd., S. 5, 202f. Austin, Other minds (FN 3), S. 148-187.

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performativen Akts. In der zweiten Phase ging Austin in Richtung der Ausarbeitung einer allgemeinen Theorie der Sprechakte, die in Lokutions-, Illokutions- und Perlokutionsakte geteilt wurden. Zum Bereich der Sprechakte wurden auch die "früheren" Performative - neben anderen Kategorien solcher Akte - gezählt. Einerseits wurde, was die Performative anlangt, eine unkorrekte Abstraktion vollzogen, indem die außersprachliche Dimension der Performative außer acht gelassen und die Ausschließlichkeit ihrer linguistischen Analyse anerkannt wurde; andererseits verschwand - als die jetzt eine Art der Illokutionsakte bildenden Performative als rein sprachliche Phänomene aufgefaßt wurden -der wesentliche Unterschied zwischen ihnen und den konstativen Sprechakten, welcher in der ersten Phase Austins betont worden war, was bekanntlich sogar zur Ablehnung seiner früheren Theorie durch Austin selbst geführt hatte 21 • Und tatsächlich verwischt die Qualifizierung der Performative als Sprechakte den wesentlichen Unterschied, während die Anerkennung, daß die Performative ihrem Wesen nach außersprachliche Phänomene sind, die nur ein sprachliches "Fragment" haben, den Unterschied zwischen dem Performativ und Konstativ deutlich macht. Darum sollte man - unserer Meinung nach aus den früheren Gedankengängen Austins die vollen Konsequenzen ziehen, was Austin selber nie auf eine entschiedene Weise getan hat. Die Analysen der sprachlichen Bestandteile der performativen Akte werden jedoch nun einmal von zahlreichen Autoren geführt, so daß man fragen muß, welchen Wert solche Analysen haben. Sollen sie aus den oben angeführten Gründen gänzlich abgelehnt werden oder kann man ihnen eine - wenn auch beschränkte - Bedeutung zuschreiben? Als Analysen der performativen Akte sind sie sicher mangelhaft. Es sind hingegen die Analysen der sprachlichen Elemente dieser Akte oder genauer: die Analysen der Äußerungen, die typisch zur Vollziehung der performativen Akte und zur Mitteilung dieser Vollziehung gebraucht werden. Solche Analysen sind nicht ohne Bedeutung für die Lösung der Fragen, die sich die Sprachphilosophie und die empirische Linguistik stellen; sie sind auch nicht ohne Bedeutung für die Lösung der praktischen Aufgaben der Feststellung des Inhalts der Entscheidungsakte dann, wenn die verbale Mitteilung Zweifel über diesen Inhalt weckt. Was das Verfahren der deskriptivistischen Sprachphilosophie anbelangt, kann bezweifelt werden, ob sie die Stufe der Registrierung und Katalogisierung der in Rede stehenden sprachlichen Ausdrücke und ihrer Gebrauchsarten überschreiten kann. Es ist kaum mehr zu erwarten von einem Verfahren, in dem die sprachlichen Intuitionen eine entscheidende Rolle spielen 22 • Ferner ist zu beachten, daß die untersuchten Gebrauchsarten der Sprache von sehr unterschiedlichen Kontexten und - im Falle der Performative - von bestimmten normativen Erfordernissen abhängig Austin, Performative utterances (FN 3), S. 238. Vgl. W. Cer/, Critical review ofHow to do things with words, in: Symposium on J. L. Austin, hrsg. v. K. T. Faun, London 1969, S. 355, 360, 366f., und M.Black, Austin on performatives, ibidem, S. 411 f. Allgemein (kritisch) über die Sprachphilosophie: J. Katz/J. Fodor, What's wrong with the philosophy of language?, Inquiry V, 3, 1962. 21

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sind, was die Ergebnisse beeinträchtigen muß. Man sollte sich jedenfalls der Beschränkungen derartiger Analysen bewußt sein, um so mehr, als sie zum Gegenstand einen künstlich isolierten Aspekt der performativen Akt haben. Anders steht die Sache mit der Ausführung der praktischen Aufgaben einer Feststellung des Inhalts der mitgeteilten performativen Akte, z. B. in den Prozessen der Rechtsanwendung und in den rechtsdogmatischen Analysen. Die Beurteilung der Arten der Durchführung solcher Analysen überschreitet den Rahmen dieser Arbeit. Wir beschränken uns auf die Feststellung, daß solche Analysen sich in der Praxis bewähren und als nützlich erweisen. Sie stützen sich nicht auf die in der Sprachphilosophie erarbeiteten Muster der Analyse, aberunabhängig von den letzteren - verbinden sie auf spontane Weise die rekonstruktivistische mit der deskriptivistischen Tendenz, also die Tendenzen, die für die positivistische Sprachphilosophie einerseits und die Philosophie der normalen Sprache andererseits charakteristisch sind23 • Es ist jedoch zu bemerken, daß die prima facie auch in der Rechtswissenschaft überwiegende Annahme, die von ihr untersuchten performativen Akte seien bloß sprachliche Äußerungen bzw. Aussagen, zu paradoxen Konsequenzen führt, wenn von der Gültigkeit, Wirkung, Effektivität, Befolgung oder Verletzung der Aussagen die Rede ist 24 • Es scheint aber, daß die Jurisprudenz im Grunde ihren Gegenstand, die Normen, auf eine zweifache Weise auffaßt: einerseits wird stets erklärt, die Normen seien Teile der Rechtstexte oder Aussagen, die aufgrund dieser Texte konstruiert oder aus den Texten interpretiert werden 25 , andererseits aber finden wir sehr oft Formulierungen, die den Zusammenhang der Normen mit den "Akten" betonen, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß die Normen aufgrund der normsetzenden Akte entstehen, sondern auch, daß die Normen den Sinn dieser Akte bilden oder daß die Normen selber Akte einer gewissen Art sind 26 • Unsere Konzeption kann der Überwindung solcher Schwankungen dienen. Austin war sich auch teilweise dieser Schwankungen in der Jurisprudenz bewußt, wenn er schrieb: "Nur das immer noch weit verbreitete Vorurteil, Rechtsätze und Sätze in Rechtsgeschäften müßten so oder so Aussagen sein ... , hat viele Juristen daran gehindert, sich über die ganze Angelegenheit viel klarer zu werden 27. " 10. Im folgenden werden wir unsere Erwägungen nur auf Normen als performative Akte einer besonderen Art beschränken. Im Bereich der Performative unterscheiden sich die Normen dadurch, daß sie konventionalisierte volitivdezisionale Akte der Beeinflussung des Verhaltens der Adressaten sind. In einer früheren Arbeit haben wir die Normen zu der Kategorie der volitives gezählt; 23 Vgl. K. Opalek, Sprachphilosophie und Jurisprudenz, in: Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, RECHTSTHEORIE Beiheft 1 (1979), S. 159f. 24 Vgl. Black (FN 16), S. 101, 109f. 25 So z. B. im Lehrbuch von W. Lang/J. Wrbblewski/S. Zawadzki, Teoria panstwa i Prawa (Theorie des Staates und des Rechts), Warszawa 1979, S. 312. 26 Ebd., S. 270f., 313. 27 Austin (FN 5).

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diese Kategorie umfaßt einerseits die Akte der Entscheidung mit Bezug auf das Verhalten des Adressaten (Normen und andere Direktiven) und andererseits die Akte der Entscheidung mit Bezug auf eigenes Verhalten (z. B. Versprechen, Entschuldigung, Rücktritt)28. In der angeführten Arbeit sind wir jedoch Austin gefolgt, indem wir die volitives als eine Art der illokutionären Sprechakte betrachteten, was jetzt entsprechend korrigiert werden muß. Im Bereich der an den Adressaten gerichteten volitives sollen die Normen als Akte der kategorischen Beeinflussung von anderen Direktiven, wie z. B. Ratschlag, Empfehlung, Ermahnung, als Akte der nicht kategorischen Beeinflussung unterschieden werden 29 • Die Aussonderung der volitives bringt das umfassendere Problem der Teilung des ganzen Bereiches der performativen Akte in verschiedene Kategorien zutage, aber eine solche Aufgabe überschreitet meine Kompetenzen und den Rahmen dieser Untersuchung. Aus meinen Ausführungen folgt nun die These von der Unmöglichkeit der Bildung einer Logik der Normen, da die Normen volitiv-dezisionale Phänomene sind. Über eine Logik der Phänomene kann man nur metaphorisch sprechen, so wie z. B. bei den Historikern oder Journalisten von "der Logik der Ereignisse" die Rede ist. Die Bedingung des Operierens mit sprachlichen Gebilden wird erfüllt, wenn man die Normenlogik unter der Annahme einer linguistischen Konzeption der Norm bildet. Eine solche Logik gerät jedoch in Schwierigkeiten, die letzten Endes damit verbunden sind, daß man - im Gegensatz zu dieser Annahme - den nicht sprachlichen Eigenschaften der Normen begegnet, was die Qualifizierung der Normen als geltend/nicht geltend und die Qualifizierung des Verhaltens mit Bezug auf Normen als deren Befolgung oder Verletzung bezeugen. Von der Normenlogik wird die deontische Logik als Logik der (konstativen) Sätze über Normen unterschieden. Eine solche Logik ist zumeist - so wie die Normenlogik - auf eine linguistische Auffassung der Norm gestützt, kann aber auch unter der hier vertretenen nicht-linguistischen Auffassung der Norm als möglich erachtet werden. Wie schon gesagt, ist die Funktion der in den performativen Akten gebrauchten sprachlichen Ausdrücke eine zweifache, nämlich teils eine mit-vollziehende, teils eine informative. In dem letzteren Charakter können die sprachlichen Äußerungen als Berichte, d. h. als Aussagen über die performativen Akte, betrachtet werden. Diese beziehen sich natürlich u. a. auf Normen. Die Äußerung über die Norm kann auf zweifache Weise rekonstruiert werden, einerseits als eine Aussage über die Norm als Performativ, d.h. als die den Normsetzungsakt beschreibende Aussage, und andererseits als eine die Effekte der Normsetzung, d. h. die erfolgte Einteilung der Pflichten bzw. Rechte beschreibende Aussage. Beide sind gekoppelt in der Weise, daß zu den Wahrheitsbedingungen der letzteren auch die Wahrheit der in der ersteren Opalek (FN 4), S. 242f. K. Opalek. Directive discourse, in: Rivista Internationale di Filosofia dei diritto LI, 2, 1974, S. 24Of. 28

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enthaltenen Feststellung der Gültigkeit der Norm gehört, und zu den Wahrheitsbedingungen der ersteren auch die Wahrheit der in der letzteren enthaltenen Feststellung der Einteilung der Pflichten und Rechte gezählt werden muß. Somit ist es gleichgültig, ob die deontischen Sätze als Sätze über die Normsetzungsakte oder die Sätze über die Effekte der N ormsetzung aufgefaßt werden. In beiden Fällen haben wir es mit Sätzen im logischen Sinne zu tun, deren Wahrheit/ Falschheit von der Gültigkeit/Ungültigkeit der Norm und von den tatsächlichen Effekten der Normsetzung im Bereich der Pflichten und Rechte der Adressaten abhängig ist. Die Verifizierung dieser Sätze mit Bezug auf die Gültigkeit der Norm erfolgt durch die Feststellung, ob die normativen Erfordernisse für die Art und Weise der Vollziehung des normsetzenden Aktes erfüllt wurden und ob dieser Akt nicht derogiert wurde bzw. durch desuetudo seine Gültigkeit nicht verloren hatte. Die Verifizierung dieser Sätze mit Bezug auf die Effekte der Normsetzung erfolgt durch die Feststellung der Übereinstimmung der in dem deontischen Satz beschriebenen Einteilung der Pflichten und Rechte mit dem, was tatsächlich in dieser Hinsicht vorgeschrieben wurde. 11. Unsere Untersuchung befaßt sich vor allem mit den Argumenten, die unserer Meinung nach eine nicht linguistische Auffassung der Norm befürworten. Die Betrachtung der Norm als eines Performativs wurde mit einer Reinterpretation und Revision der Ansichten von J. L. Austin über den performativen Akt verbunden. Es war keineswegs unsere Absicht, in diesem Aufsatz speziell die mit den Normen verbundenen logischen Probleme zu erwägen. Wir konzentrieren uns auf die Konzeptionen der deskriptivistischen Sprachphilosophie. Auf dem Wege der Analyse dieser Konzeption ergeben sich jedoch gewisse Konsequenzen, die die Normenlogik und die deontische Logik betreffen30 • Diese Fragen können hier aber nicht weiterverfolgt werden. Sie müßten separat und umfassend erörtert werden, um so mehr als die Diskussion über die Normenlogik und deontische Logik, wie auch über den Status der deontischen Sätze andauert und eine interessante Entwicklung der Ansichten einiger Autoren bezeugt31 • Unsere Untersuchung stellt gewisse Fragen auf die Tagesordnung und überläßt sie zugleich einer weiteren Diskussion. Hierzu gehört die Frage der Konkurrenz zwischen der linguistischen und nicht linguistischen Konzeption der Norm zusammen mit dem Bedürfnis einer beträchtlichen Erweiterung der 30 Den umgekehrten Weg - von logischen Erwägungen zur Annahme der Konzeption der Norm als eines performativen Akts -legt Wolenski zurück (FN 2), siehe insbesondere S.89-97. 31 Vgl. insbesondere von Wright, Is and ought (FN 12) und ders., Bedingungsnormen ein Prüfstein für die Normenlogik, in: Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag, Berlin 1984, S. 447-456 sowie die Auseinandersetzung Weinbergers mit den dort vertretenen Ansichten, Is and ought reconsidered, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (1984), LXX 4, S. 454-474; C. E. Alchourrlm/E. Bulygin, Pragmatic foundations for a logic of norms, RECHTSTHEORIE 15 (1984), S. 453-464 und im Zusammenhang damit O. Weinberger, On the meaning of norm sentences, normative inconsistency, and normative entailment, ibidem.

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Argumentation auf beiden Seiten. Dies könnte entweder zu einer endgültigen Ablehnung einer von ihnen, oder aber möglicherweise zur Bestimmung der Bedingungen ihrer Harmonisierung führen32 • Hierzu gehört weiter das Bedürfnis der Bereicherung und Präzisierung der Charakteristik der Normen als nicht sprachlicher Phänomene im Falle der Annahme einer solchen Auffassung. Diskussionsbedürftig ist auch die Konzeption selbst, welche Normen als performative Akte betrachtet, mit der das allgemeinere Problem der Begründbarkeit und eventuell der Grenzen der Anwendbarkeit der performativen Theorie auf Normen in Zusammenhang steht. Einer Diskussion bedarf auch unsere Auffassung des Charakters der performativen Akte und unsere Interpretation der Überlegungen von J. L. Austin. Unsere Untersuchung drückt gewisse Zweifel aus und entwirft einen Versuch ihrer Überwindung, sie enthält damit zugleich eine Einladung zur Diskussion an diejenigen Rechtstheoretiker, die an dieser Problematik interessiert sind.

32 Für den Autor dieser Erwägungen, der sich in seinen früheren Schriften schrittweise in die Richtung einer Annahme der performativen Theorie in der Normentheorie bewegte, bleibt noch vieles zu überdenken.

Orte ethischer Verantwortung in der Wissenschaft Von Beat Sitter, Bern "Kann man wirklich eine ganze gesellschaftliche Gruppe von der Verantwortung für die Folgen ihres Tuns freisprechen? Ist eine Gesellschaft in Ordnung, in der sich die Wissenschaftler alles Machbare ... leisten dürfen?" - "Sind die Wissenschaftler wirklich legitimiert, über unser aller Zukunft zu bestimmmen? Ich glaube, daß man diese Frage verneinen muß". Die Wissenschaft hat kein Recht, "die Gesellschaft unkontrolliert den Konsequenzen wechselnder Erkenntnis auszusetzen". Nicht ein wirrer Wissenschaftsstürmer war's, der so fragte und antwortete, sondern Bundespräsident W. Scheel anläßlich einer Ansprache vor der Fraunhofer- Gesellschaft vor bald zehn Jahren!. Seine Äußerung soll hier nicht weiter analysiert werden. Sie dient lediglich der Vergegenwärtigung der Tatsache, daß die Wissenschaft, seit Jahren schon, aus wohlerwogenen Gründen und bei durchaus verantwortungsbewußten Personen auf Skepsis stöße. Immer wieder und vielerorts als Garant des materiellen und moralischen Wohles der Menschen gepriesen, gerät Wissenschaft zugleich je länger, je mehr in den Verdacht, Vehikel der Entwürdigung des Menschen, der Zerstörung der Natur, schließlich menschlicher Selbstzerstörung zu sein. Man mißt sie explizit an Vorstellungen über das, was für den Menschen gut und böse bzw. schlecht ist, und ruft sie zur Verantwortung. Ob dieser unüberhörbar gewordene, von manchem Wissenschafter mit Ernst aufgenommene und umsichtig beantwortete Ruf auch gerechtfertigt sei, ist nach wie vor kontrovers. In der wissenschaftlichen Gemeinde selber kursieren widersprüchliche Ansichten: Tritt hier ein Forscher mit gewichtigen Gründen 1 Zit. bei van den Daele j Krohn, S. 20. Das dritte Zitat ist nicht wörtlicher Ausspruch SeheeIs, sondern Wiedergabe des Textes der Berichterstatter. - Die Antwort Scheeis auf die dritte Frage wird bei van den DaelejKrohn ausführlicher als hier wiedergegeben. Scheel schränkt nämlich ein, indem er sagt: "Ich glaube, daß man diese Frage verneinen muß, zumindest so lange, wie die Wissenschaft als Ganzes ihre politische Verantwortung für die Entwicklung unserer Zivilisation noch nicht klar erkannt und übernommen hat." Indessen: Was die Wissenschaft als Ganzes ist und ob sie, einmal hinreichend identifiziert, überhaupt Träger von Verantwortung sein könnte, ist offen. - Für Belege im Text und in den Anmerkungen wähle ich folgende Form: Name des Autors oder Herausgebers, allenfalls Erscheinungsjahr des zitierten Werkes, Seitenzahl. Für genauere Angaben wird auf das Literaturverzeichnis verwiesen. 2 Fünf Beispiele für viele: Good 1982, LabuddejSvilar 1980, Russ-Mohl 1983, Sitter j Weber 1981, Weibel 1984.

t 7 Festgabe für Alois Troller

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für ethische Verantwortung der Wissenschafter ein, widerspricht ihm dort entschieden ein Kollege - entweder grundsätzlich, mit dem Hinweis auf die sogenannte Wertfreiheit der Wissenschaft, oder doch so, daß er die Schwierigkeiten unterstreicht, die sich mit der Zuweisung von Verantwortung in der mittlerweile überaus komplexen Welt wissenschaftlicher Produktion verbinden. Daß der Rufzuweilen an einer Mauer schlichten Unverständnisses für ethische Befragung der wissenschaftlichen Praxis abprallt, sei nicht verschwiegen. "Ethik hat in der Wissenschaft nichts zu suchen", lautet in diesem Falle das Verdikt. Verkündet wurde es, beispielsweise, in der Diskussion um den Entwurf für ein neues Gesetz über die Eidgenössischen Technischen Hochschulen: Hier plädierten Stimmen erfolglos dafür, unter die expliziten Grenzen der grundsätzlich zwar garantierten Forschungs- und Lehrfreiheit auch die ethische Verantwortbarkeit aufzunehmen - dies neben den Grenzen, die der Gesetzesentwurf selber schon aufführte, nämlich die nur beschränkt verfügbaren Mittel sowie den Rahmen der jeweiligen Lehr- und F orschungsaufträge 3 • So scheint es denn gerade innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde geboten, darzutun, inwiefern wissenschaftliche Praxis mit ethischer Reflexion und Verantwortung unlösbar verknüpft ist. Diesem Zweck dient, was folgt.

I. Zur Klärung der Begriffe "Ethik" und "Wissenschaft" "Ethik" und "Wissenschaft" werden unterschiedlich gebraucht. Eine umfassende Erläuterung der möglichen Bedeutung beider Wörter sprengte den Rahmen der hier gestellten Aufgabe. Eine knappe Klärung muß genügen, um vorläufig anzuzeigen, in welchem Sinne die Ausdrücke Verwendung finden. Der jeweilige Zusammenhang wird zur weiteren Verdeutlichung beitragen.

"Ethik" bezeichnet nicht eine subjektive moralische Haltung, sondern eine philosophisch-wissenschaftliche, methodisch und kritisch verfahrende Disziplin. Sie sucht auf nachprüfbarem und argumentativer Auseinandersetzung offenem Wege nach dem sittlich Guten als dem unbedingten Anspruch an menschliches Handeln. Sie beschränkt sich gerade nicht auf die Intimsphäre. Wissenschaft ethisch reflektieren kann deshalb nicht heißen, sie, ausgehend von weltanschaulichen Positionen der politischen Interessen, manipulieren; es heißt vielmehr, Wissenschaft so, wie sie geschichtlich auftritt und wirksam wird, darauf hin zu befragen, ob sie der Verwirklichung sinnvoller menschlicher Existenz diene 4 . 3 Diese Diskussion waltete im Schweizerischen Wissenschaftsrat, dem "beratenden Organ des Bundesrates für alle Fragen der nationalen und internationalen Wissenschaftspolitik" (vgl. Art. 18 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Hochschulförderung vom 28. Juni 1968). Der Rat entschloß sich nach zweimaliger Aussprache, zwar nicht die ethische Verantwortbarkeit eines Forschungsunternehmes, wohl hingegen die Verantwortung des Forschers gegenüber Wissenschaft und Gesellschaft als zusätzliches Kriterium für die Begrenzung von Forschung und Lehre für den Gesetzesentwurf vorzuschlagen. 4 Vgl. Ruh 1980, S. 63.

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.. Wissenschaft" bezeichnet nicht einfach ein allgemeines Verfahren, etwa die methodische Überprüfung von Hypothesen. Das Wort verweist vielmehr auf ein komplexes, offenes System, in welchem viele Prozesse ablaufen, die sich ihrerseits in unterschiedliche Phasen gliedern. So gehören zum Wissenschaftssystem etwa das Formulieren von Forschungsfragen und die Wahl von Methoden; die Enscheidungen, sich eher diesem als einem anderen Gegenstand zuzuwenden; ferner Entwurf und Herstellung von Forschungseinrichtungen; Begründungsverfahren für die Einwerbung von Forschungsgeldern; die Auswahl von Mitarbeitern; sodann die Veröffentlichung - oder Geheimhaltung - von Forschungsergebnissen; die Annahme von Aufträgen wie überhaupt das Zusammenwirken von Wissenschaft, Wirtschaft und Industrie. Es sind dies Tätigkeiten, die zumindest darauf hin befragt werden können, ob sie ethisch relevant seien. Neben "Wissenschaft" taucht "Wissenschafter" auf. Beide Begriffe werden generell verwendet, also ohne zwischen Natur-, Ingenieur-, Geistes- und Sozialwissenschaften weiter zu differenzieren. Diese Wissenschaftsgruppen weisen neben offensichtlichen Unterschieden auch formale wie inhaltliche Identitäten aufS. Verallgemeinerungen sind also ein Stück weit zulässig, wird nur die Existenz von Differenzen nicht gänzlich außer acht gelassen. Im übrigen dürfte es der jeweilige Kontext ohne Schwierigkeiten gestatten, Äußerungen, die ganz oder vorwiegend eine der genannten Wissenschaftsgruppen betreffen, dieser zuzuordnen. Auf eine zentrale Trennlinie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sei immerhin hingewiesen, nämlich auf den Unterschied zwischen Herrschaftswissen und Sinnwissen. Von ihrer Methodik und ihrem Erkenntnisinteresse her sind die Naturwissenschaften auf empirisches Wissen, das Erklärung, Prognose und Eingriffe ermöglicht, ausgerichtet. Sie bemühen sich nicht um die Konstitution von Sinn, nicht um die Vergegenwärtigung und kritische Würdigung von Werten, nicht also um über Zweckrationalität hinausführende Orientierung menschlichen HandeIns. Eben dies ist hingegen die Domäne der Geisteswissenschaften, die sich denn mit den sinnstiftenden Voraussetzungen auch der Naturwissenschaften befassen und deren Wirken unter Sinnaspekten betrachten (Sitter 1977, S. 37 -48). - Aussagen über Herrschaftswissen beziehen sich im folgenden somit auf die Natur- und die Ingenieurwissenschaften, oft auch auf die Sozialwissenschaften, nicht hingegen auf die historisch-hermeneutischen Disziplinen, denen Sinn wissen zum Ziel gesetzt ist: Sinnerfahrung, Sinnkritik und Sinnentwurf6. 5 Vgl. hierzu Hübner, für einen eindringlicheren Vergleich von Natur- und Geisteswissenschaften, der Gleiches wie Trennendes heraushebt, auch Sitter 1977, S. 23 - 36. 6 Dies ohne zu verkennen, daß auch die Produktion von Sinnwissen zu Rechtfertigung und Stabilisierung von Herrschaft, etwa im politischen Bereich, in Dienst genommen werden kann. Der Ausdruck "Herrschaftswissen" wird hier jedoch im Anschluß an M. Scheler gebraucht. Er bezeichnet die Kenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge, die zur

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u. Verantwortung vor der Erzielung von Forschungsergebnissen Geläufig ist das Argument, der Wissenschafter liefere Forschungsresultate, die in sich weder gut noch böse seien. Für den späteren üblen Gebrauch, den andere von ihnen machten, brauche er nicht einzustehen. - Dieses Argument ist geeignet, den Blick auf die Tatsache zu verstellen, daß Forscher lange vor der Anwendung allfälliger Ergebnisse ihr Tun ethisch verantworten müssen. An ausgewählten Beispielen sei dies hier erläutert. Die Mittel und Wege, welche der Wissenschafter einsetzt bzw. beschreitet, um Erkenntnisse zu gewinnen, sind ethisch nicht einfach neutral. So ist es zumindest fragwürdig, ob ein sozial-psychologisches Erkenntnisinteresse es rechtfertige, Menschen als Untersuchungsobjekte zu täuschen, um ihr auf dieser Täuschung beruhendes Verhalten zu studieren. Das Vorgehen widerspricht zwei weitgehend anerkannten ethischen Geboten: andere nicht zu belügen und den Mitmenschen nie derart zu entwürdigen, daß man ihn nur als Mittel gebraucht. Beide Gebote wurden verletzt in den bekannten Gehorsamsstudien von S. Milgram sowie in den Experimenten mit Personen, denen man entweder eingeredet hatte, homosexuell zu sein, oder die man hypnotisierte, um sie anschließend als Heroinverkäufer einzusetzen (Höffe 1981, S. 251 f.). - Als nicht minder bedenklich sind sogenannte Placebo-Versuche oder kontrollierte Studien anzusehen, bei welchen man kranke Menschen ohne deren Wissen von einer Behandlung ausschließt, mit dem Zweck, sie als Kontrollgruppe zu gebrauchen, um Aufschluß über die Wirksamkeit, insbesondere auch über Nebenwirkungen eines neuen Medikamentes zu gewinnen (Weidmann, S. 59 f.). Krasser noch tritt die ethische Problematik von mit Kontrollgruppen durchgeführten Untersuchungen zu Tage im Falle von Syphiliskranken, denen zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung die Behandlung ihres Leidens vorenthalten wird (Jonas, S. 264 f.). - Daß Forschungen mittels Tierversuchen, die man nicht ohne sittliche Wertung als notwendig bezeichnen kann, in den hier angeschnittenen Problemkreis fallen, braucht heute nicht mehr ausführlich erklärt zu werden. Unser sittliches Bewußtsein hat sich in dieser Beziehung sowohl geschärft wie verfeinert. Hingegen machen Tierversuche beispielhaft deutlich, inwiefern wissenschaftliche Methoden unter dem Anspruch ethischer Rechtfertigung stehen: Der Forscher bleibt nicht bei der äußeren Betrachtung seiner Gegenstände stehen, sondern greift in sie ein; er fügt ihnen, soweit sie empfinden können, Leiden bei; er zerstört sie gar. Dies alles, ohne daß von vornherein feststünde, daß er hierzu moralisch berechtigt ist. Was er seinen Objekten antut, "ist eine reale Tat, für deren Sittlichkeit das Erkenntnisinteresse keine Blankodeckung erteilt" (Jonas, S. 262).

Ausübung von Macht eingesetzt werden. Herrschaftswissen ist Instrument zur Beherrschung von Natur und Dingen, von Gesellschaft und Individuen. Vgl. Seheler, S. 66; Lipp, S. 1099 f.

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Ein anderer Aspekt der ethischen Relevanz von Mitteln und Wegen der Forschung erschließt sich uns, wenn wir bedenken, daß Forschungsarbeiten nicht isoliert geschehen, vielmehr in einem gesellschaftlichen Kontext stehen. Sie benötigen, selbst im Falle des staatlich besoldeten geisteswissenschaftlichen Einzelforschers, öffentliche Mittel, sind mithin einbezogen in den Prozeß der Verteilung gesellschaftlicher Güter, der unter der sittlichen Forderung der Gerechtigkeit steht. Das heißt, daß ein Anspruch auf Bereitstellung von Forschungsmitteln immer auch unter sozialethischer Hinsicht zu begründen ist. Insbesondere das Begehren nach aufwendigen Einrichtungen, wie sie für die sogenannten "big sciences" erforderlich sind, ist nicht allein anhand eines nachweisbaren Forschungsbedürfnisses und des Vorhandenseins ausgezeichneter Forscherpersönlichkeiten zu rechtfertigen. Auch die Beteuerung, internationale Wettbewerbsfähigkeit stehe auf dem Spiel, reicht als solche nicht hin. Forscher und Forschergruppen müssen überdies auch ethisch glaubhaft machen, daß sich die Zuteilung eines beachtlichen Stücks der nur beschränkt verfügbaren gesellschaftlichen Güter, die ja auch anderen Zwecken dienen müssen, just auf ihre Forschungsarbeit dringend empfiehlt. Wenn wir uns auch hüten müssen, das in diesem Abschnitt vertretene Argument zu überdehnen, indem wir behaupten, Mittel und Wege der Forschung schüfen in jedem Falle ein schwieriges ethisches Problem, dürfen wir doch feststellen, daß dies zutreffen kann. Aus dieser Möglichkeit leitet sich indessen unschwer die Forderung her, in jedem einzelnen Falle Mittel und Wege wissenschaftlicher Tätigkeit daraufhln zu befragen, ob sie sich mit ethischen Problemen verbinden und, gegebenenfalls; solche Probleme verantwortlich zu bewältigen.

m. Verantwortung in der Bestimmung von Forschungszielen und -gegenständen H. Jonas meint einmal, es sei "dahin gekommen, daß die Aufgaben der Wissenschaft zunehmend von äußeren Interessen statt von der Logik Wissenschaft selbst oder der freien Neugier des Forschers bestimmt werden" (S. 260). In ähnlicher Weise hebt Hj. Staudinger hervor, wissenschaftliche Forschung und die Umsetzung ihrer Ergebnisse in Technik charakterisiere sich als "ein positiv rückgekoppeltes System, das zwangsläufig nach einer Exponentialfunktion akzeleriert". Entweichen aus diesem System sei unmöglich (S. 13). Forschung produziert mit jeder Antwort neue Fragen, sie befähigt Technik, ihr neue Instrumente zur Beantwortung dieser Fragen zu liefern, während andererseits aus der Entwicklung der Technik neue Forschungsfragen entspringen (S. 11). Technik indessen ist Mittel zu wirtschaftlicher, d. h. in unserem politischökonomischen Kontext zu wachstumsorientierter Macht. Über sie ist Wissenschaft an Wirtschaft gebunden, wird sie zu deren Instrument. Exemplarisch belegt das H. Weidmann mit einem Hinweis auf die medizinisch-biologische Forschung in der Industrie, wo die Auswahl der Forschungsprojekte sich

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weniger an medizinischer Wichtigkeit als an "guten Erfolgschancen" und "hohem Verkaufspotential" von Projekten orientiert (S. 51 f.). Er räumt ein, daß diese "durch äußere Sachzwänge diktierte Einstellung einer Forschungsleitung ... natürlich vom ethischen Standpunkt aus in Frage gestellt werden kann" (S. 52). Nur nebenbei sei bemerkt, daß hieraus für den ethisch wachen Forscher das Erfordernis entspringt, den Einsatz seiner Person, seines Wissens und Könnens in einem industriellen Betrieb vor sich selber zu rechtfertigen. Die zunehmende Ausrichtung wissenschaftlicher Forschung aufwirtschaftliche und politische Ziele ist uns in letzter Zeit eindringlich vor Augen geführt worden. Stichwörter sind die von Frankreich initiierten "europäischen Netzwerke" sowie das Unternehmen EUREKA, beide dazu ausersehen, die wissenschaftliche Zusammenarbeit von europäischen Forschungsinstituten, Firmen und Staaten zu intensivieren mit dem Ziel, gegenüber Japan und den USA wirtschaftlich konkurrenzfähig zu bleiben. Entsprechend wurden die Forschungsbereiche ausgewählt; sie siedeln sich im Umkreis von hochentwickelter Technik (High Technology) an. - Auf nationaler Ebene hat der Schweizerische Bundesrat gleichgezogen, indem er einmal mittels eines Sonderförderungsprogramms beachtliche Beiträge für die Forschung in den Ingenieurwissenschaften, in Informatik und Biotechnologie freizustellen sucht, zum andern die Kapazität seiner Technischen Hochschulen in eben diesen Bereichen durch Aufstockung ihres Personaletats erhöht. Mit den im vergangenen Oktober verabschiedeten "Zielen für eine schweizerische Forschungspolitik" verfolgt er die gleichen Absichten. Diese Ziele sind für die Planung von Tätigkeit und Aufwendungen der Organe der Forschungsförderung verbindlich 7 • Es sind jedoch beileibe nicht bloß wirtschaftliche oder staatliche Instanzen, welche gewillt sind, Forschung vermehrt in den Dienst der Wohlfahrt von Mensch und Mitwelt zu stellen. Weitreichende Erhebungen der schweizerischen wissenschaftlichen Akademien im Zusammenhang mit der Vorbereitung der eben angesprochenen forschungspolitischen Zielvorstellungen reflektieren den klaren Willen der wissenschaftlichen Gemeinde, ihr Potential für die Suche nach Lösungen für manifeste oder absehbare Probleme soziokultureller, wirtschaftlicher oder ökologischer Natur einzusetzen. Dabei werden diese Probleme nicht bloß in nationalem, sondern in weltweitem Rahmen gesehen. 7 "Ziele für eine schweizerische Forschungspolitik" legt der Bundesrat, die oberste Exekutivbehörde des schweizerischen Bundesstaates, gestützt auf Art. 20 -23 des Bundesgesetzes über die Forschung vom 7. Oktober 1983 fest. Die eben erstmals für eine vierjährige Planungsperiode (1988-1991) definierten Ziele berücksichtigen allerdings nicht nur wirtschaftliche Notwendigkeiten. Neben Gebieten der Inforrnations-, Fertigungs- und Biotechnologie rücken sie den Schutz der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen als Schwerpunkt für die Forschungsförderung in den Vordergrund, ferner Probleme der gesellschaftlichen und weltpolitischen Entwicklung. Schließlich weiß die oberste Landesbehörde darum, daß Wissenschaft und Technik allein dem Menschen nicht zum Segen gereichen; in sittlicher Verantwortung müssen sie entwickelt und eingesetzt werden. Darum sollen auch Forschungsanstrengungen im Bereiche ethischer Besinnung besonders gefördert werden.

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Was lehren uns diese Feststellungen? In erster Linie eines: daß die Festlegung von Forschungszielen und die Wahl von Forschungsgegenständen keineswegs gleichsam von selbst, aus einer wissenschaftsimmanenten Logik heraus erfolgen, sondern von persönlichen Einstellungen, gruppenspezifischen Traditionen und Forderungen, gesellschaftlich vermittelten Bedürfnissen und Interessen geprägt sind; daß sie aus einer Analyse und Beurteilung einiger für die eigene wie überhaupt für menschliche Wohlfahrt als wesentlich erachteter Aspekte der jeweiligen historischen Situation entspringen (Coreth, S. 143). Sie sind mithin wert- und sinngerichtet, das aber heißt: ethischer Reflexion und Verantwortung zugänglich. Beides ist nicht bloß Angelegenheit von allfälligen Auftraggebern, sondern Pflicht der tätig werdenden Wissenschafter selber. Dies umso mehr, als die Tragweite der von ihnen in Angriff genommenen Forschungen, wenn überhaupt, so am ehesten für sie absehbar oder zu erahnen ist. Mit der Annahme von Mandaten, mit dem Engagement in empfohlenen oder besonders geförderten Forschungsrichtungen treffen sie eine Wahl, die sie im Hinblick auf sich selber, auf die sie tragende Gemeinschaft und deren Zukunft, schließlich unter Berücksichtigung von Interessen und Rechten all des Seienden, das von ihrer Aktivität betroffen wird, sittlich zu verantworten haben (vgl. Böckle, S. 9 f.). Auch für die Wissenschafter gibt es also kein Arkadien, in welchem menschliches Verhalten von möglicher Schuld und jeglicher Verantwortung ausgenommen wäre. Was sie betreiben, heißt Welterkenntnis und zielt auf Weltbeherrschung im Interesse des Menschen (Staudinger, S. 11). Das gilt für die sogenannte Grundlagenforschung nicht minder als für unmittelbar anwendungsorientierte Arbeiten. Dessen sind sich die Wissenschafter, wenn oft auch uneingestandenerweise, bewußt. Anders bliebe unerklärlich, daß "die Grundlagenforscher von heute ... , um Geld von der öffentlichen Hand einzuwerben, sagen: , Die Grundlagenforschung von heute ist die Technik von morgen'" (S. 12). Zwar stimmt das, zumindest bezogen auf die Naturwissenschaften. Dann heißt es aber auch, solange man wahrhaftig bleiben will, zu dieser Einsicht zu stehen. Freilich läßt sich auch ein Zweites aus den gemachten Feststellungen ableiten: die Relativierung des Einflusses des einzelnen Forschers auf den Prozeß des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, damit notwendig verbunden die Einschränkung seiner persönlichen Verantwortlichkeit. Gerechterweise kann einer ja nur so weit zur Verantwortung gezogen werden, als sein Wissen und Können sowie dessen absehbare Folgen reichen (vgl. Böckle, S. 12). Der Forscher sieht sich eingespannt in einen Prozeß, der ihn, um mit M. Heidegger zu sprechen, in Anspruch nimmt als ein Geschick, das nicht in seine Verfügung gestellt ist. Das Ganze dieses Geschehens fällt nicht in seine Verantwortung, also auch nicht die durch das System als Ganzes hervorgebrachten Erzeugnisse (Obermeier, S. 51); wie es andererseits auch schlechte Metaphysik wäre, von diesem - hypostasierten - Ganzen zu verlangen, daß es Verantwortung trage (vgl. Anm. 1). Die Zuweisung von ethischer Verantwortung im "positiv rückgekoppelten System" von Forschung und Technik stellt uns offensichtlich

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vor schwierige Probleme. Sie sind derart gravierend, daß "Zuweisungen im Sinne eindeutiger personaler Zuweisung von Verantwortlichkeiten weitgehend unmöglich" scheinen (Obermeier, S. 51). Allein, diese Schwierigkeit dispensiert uns nicht von der Aktualisierung unserer natürlichen Befähigung zu sittlichem Handeln. Wir sehen uns vielmehr vor die Aufgabe gestellt, uns im konkreten Falle zu fragen, wofür wir allein bzw. gemeinsam einzustehen haben und sinnvollerweise einstehen können. In der Schwierigkeit der Zuweisung von Verantwortung liegt die ganz besondere Herausforderung menschlicher Sittlichkeit in unserer geschichtlichen Situation. Als vernünftige Wesen haben wir sie anzunehmen. IV. Der Verdrängungscharakter der Wissenschaft als QueUe ethischer Verantwortung Das System der Wissenschaft, so wurde gesagt, charakterisiert sich durch offene Prozesse. Wissenschaft ist dynamisch, sie weitet sich aus durch die Generierung neuer Fragen aus vorläufigen Antworten und entwickelt sich durch Kritik. Theorien und Methoden lösen einander freilich nicht ohne Wellenschlag ab, sondern sie verdrängen einander gegenseitig. Kompetition als Prozeß und Kompetitivität als Eigenschaft von Forschern und Instituten gelten denn geradezu als Garanten fruchtbarer wissenschaftlicher Tätigkeit. Sie sind Ziel von Wissenschafts-, vorab von Forschungspolitik. Kritik als Angriff und Verdrängung als Erfolg bezeichnen wesentliche Phasen im Prozeß der Forschung. In der Folge genießt in der wissenschaftlichen Gemeinde höchste Anerkennung, wer im Streit um das, was jeweils als Wahrheit gilt 8 , den Sieg davon trägt. Doch wissenschaftliche Rationalität gilt nicht nur unter den Forschern, sondern in weiten Kreisen der Öffentlichkeit als zuverlässigster Hort von Wahrheit. Ferner hat die Tatsache, daß Wissenschaft zu einer hervorragenden Produktivkraft geworden ist, vom allgemeinen Bewußtsein längst Besitz ergriffen. Und man weiß, daß das materielle Wohl von Einzelnem und Gesellschaft von der Stärke der Produktivkräfte abhängt. Eben darum beschränkt sich die Anerkennung des erfolgreichen Forschers nicht bloß auf den Kreis der Fachleute. Er genießt soziales Prestige schlechthin, das etwa in öffentlichen Ehrungen weithin sichtbaren Ausdruck findet. Man denke an Nobel-, Balzan- und Latsis-Preise. Der Umstand gesellschaftlicher Prämiierung wissenschaftlicher Leistungen dient hier als Anzeige dafür, daß der Verdrängungscharakter der Wissenschaft 8 Obenneier hat überzeugend dargelegt, daß nicht so sehr die Poppersehe Falsifikation, als vielmehr die pragmatische Verifikation den Forschungsprozeß bestimmt. Dieser Prozeß zielt nicht auf interesselose Wahrheit, sondern auf brauchbare Wahrheiten ab eben auf das, was im Hinblick auf vorgegebene Ziele als wahr gelten kann: "Aussagen sind wahr, wenn wir mit ihnen arbeiten können, und wir können mit ihnen arbeiten, wenn sie brauchbare und reproduzierbare Ergebnisse inklusive Prognosen liefern" (S. 33).

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sich nicht nur innerwissenschaftlich auswirkt. In der Tat liefert heute in erster Linie die Wissenschaft - unmittelbar über ihre Theorien, mittelbar über die Produkte, die sie erzeugen hilft - die Muster, anhand derer in weiten Regionen auch außerhalb ihres Bezirkes Mensch und Welt interpretiert werden. Selbst wenn Forschungsfragen und ihre methodische Beantwortung von Sinn- und Wertvorstellungen unabhängig wären, treten die von ihnen zutage geförderten Resultate nicht bloß mit dem Anspruch auf Wahrheit und insofern universale Verbindlichkeit auf, sie vermitteln überdies Ansichten von uns und unserer Welt, die mit den Bildern, die bislang für unsere Welt- und Sinnorientierung maßgebend sein mochten, in Konflikt geraten können. Noch wo eine Vermittlung zwischen überkommenen und neuen Vorstellungen gelingt, mündet die Konkurrenz in partielle oder gänzliche Verdrängung. Wert- und sinneutrale Forschungsergebnisse werden auf diesem Wege sinnrelevant. Das muß der Forscher bedenken und dafür, in den Grenzen seiner Zuständigkeit, auch einstehen. Weil es um sinnrelevante Effekte seiner Arbeit geht, trägt er ethische Verantwortung. Ein aktuelles Beispiel für diesen abstrakt skizzierten Prozeß liefert die Soziobiologie. Bekannlich geht sie von zwei Grundannahmen aus, wovon die erste besagt, daß das Verhalten sämtlicher Lebewesen Ergebnis von deren Anpassung an die Umwelt sei, während die zweite dieses Ergebnis als genetisch fixiert ausgibt. Das Sozialverhalten gilt danach in all seinen Formen als durch genetische Informationen nicht nur vorgeprägt, sondern hinreichend determiniert. Auch so komplexe Verhaltensformen wie Sprache, sittliches Handeln oder künstlerische Tätigkeit werden "in Begriffen wie ,Selektionsvorteil', ,Überlebensvorteil', ,Anpassung' und ,Fitness' erklärt" (Wuketis, S. 33). - In ihrer radikalen Ausformung bei Richard Dawkins versteht die Soziobiologie den Menschen als "survival machine", als Überlebensmaschine. Auch sein scheinbar altruistisches Verhalten ist für sie nichts als Ausfluß des Egoismus seiner Gene. Vorstellungen von Verhaltensspielraum, freier Entscheidung und sittlicher Verantwortung finden in dieser Theorie und dem durch sie implizierten Menschenbild keinen Platz. Daß hier die Ergebnisse wissenschaftlicher Tätigkeit mit traditionellen Wertund Sinnorientierungen in Konkurrenz treten, liegt auf der Hand. In Frage gestellt wird die unsere Kultur tragende, unter anderem für unsere freiheitlichdemokratische politische Organisation maßgebende Vorstellung vom Menschen als einem vernünftigen Wesen, das seine Ziel- und Zwecksetzungen reflektiert und auf oberste Grundsätze richtigen Handeins bezieht, also moralisch und verantwortlich agiert und des gerechten Zusammenlebens mit ~einen Mitmenschen fähig ist. Angegriffen wird, kurz gesagt, die für unser sittliches, rechtliches und politisches Leben wegweisende Idee der Menschenwürde. Denn in der Tat: "Wenn ich nur eine Maschine bin, dem Diktat meiner Gene ausgeliefert - wozu soll ich dann über Gut und Böse nachdenken? Wie kann eine genetisch programmierte Überlebensmaschine ethische Pflichten wahrnehmen?" (Wuketis, S. 35). Sind Menschen solche Maschinen, ist es absurd, Systemen sozialer

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Steuerung, etwa Rechtssystemen, die Vorstellung von zumindest in Grenzen zurechnungsfähigen Individuen zugrundezulegen (Troller, S. 19). - Offensichtlich haben Arbeiten an einer Theorie, wie sie die Soziobiologie vorträgt, nicht bloß Konsequenzen für unsere Erkenntnis, sondern ebenso Auswirkungen auf unsere sittlichen und politischen Überzeugungen. Der Forscher kann sich von diesen ethisch-politischen Implikationen nicht lossagen, sondern hat sie seinerseits ethisch zu verantworten.

V. Verdinglichung und Reduktion - zwei ethisch relevante methodische Grundelemente empirischer Wissenschaften Man wird einwenden, das Beispiel der Soziobiologie sei zumindest für jene Wissenschaften, die sich nicht unmittelbar mit dem Menschen und seinem Verhalten befassen, irrelevant. In Grenzen stimmt dieser Einwand, im Grundsätzlichen jedoch verfehlt er sein Ziel. Denn Soziobiologie wurzelt ebenso wie Astrophysik und organische Chemie oder die Disziplinen der empirischen Sozialforschung im Boden der neuzeitlichen Wissenschaft. Diese aber zeichnet sich unter anderem durch folgende Merkmale aus: Forschung und Wissen machen sich in der Neuzeit frei von weltanschaulicher Indienstnahme. Wissenschaft muß nicht länger Heilswissen sein. Sie wird vom Anspruch auf Unfehlbarkeit entbunden, darf sich als "Institution für folgenlose Irrtümer" verstehen, die "ohne Legitimationspflicht legitim ist" (Marquard, S. 17-21). Curiositas, früher als Behinderung im Vorwärtsstreben auf dem von der Kirche verordneten Heilspfad verpönt (ebd., S. 17), wandelt sich zur Tugend des grenzenlosen Wissenwollens. Wir verstehen sie heute als natürlichen Drang des Menschen, geradezu als dessen Recht, immer mehr zu wissen; sie gilt uns als der innerste Motor der Wissenschaft, und zugleich zeichnen wir sie mit hohem Wert aus 9 • Während so Erkenntnis, wiewohl als fallibel, der Verbesserung und Erweiterung stets bedürftig verstanden, mit hohem Sinnwert, letztlich mit einem moralischen Wert ausgestattet wird, erfährt ihr möglicher Gegenstand eine restlose Verdinglichung. Er wird zum puren Objekt, von dessen allfälligem moralischem Wert, der sich in anderem als wissenschaftlichem Zusammenhang ausweisen ließe, aus methodischen Gründen abgesehen wird. "In der neuzeitlichen Wissenschaft ist die Ent-Moralisierung ... zur Voraussetzung der Forschung selber geworden" (Lepenies, S. 548). Mit der Verdinglichung verbindet sich eng ein weiteres für empirische Wissenschaft zentrales Element: das Verfahren der Reduktion als "Methode der gedanklichen Vereinfachung durch Betonung eines einzigen Gesichtspunktes"lO. Sie ist maßgeblich am Erfolg der empirisch-experimentellen Forschung 9 Vgl. als Beleg die Arbeit von Marquard; ebenso die historisch reflektierenden Darlegungen von van den Daele / Krohn, bes. S. 28. 10 M. Born, zit. bei Hammer, S. 46.

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und deren gewinnbringender Umsetzung in industrielle Technik beteiligt. Vereinfachung der untersuchten Phänomene, Erklärung des komplexen Weltganzen idealerweise mittels einer einzigen Formel ist ihr Ziel. Hj. Staudinger spricht vom "entscheidenden ,Erfolgsrezept' der modemen exakten Naturwissenschaft" und resümiert es wie folgt: "Reduzieren, die unüberschaubare Fülle auf wenige meßbare und, sofern möglich, wiederholbare Vorgänge" zurückführen. "Man stelle die Frage an die Natur, indem nur eine Größe verändert wird und messe die Antwort auf die vorgegebene Veränderung. Das Rezept heißt also: Reduktion, Messung, Experiment. Daß das Rezept erfolgreich war, wird kein Mensch bezweifeln" (S. 8). Mit Verdinglichung und Reduktion arbeitet auch die Soziobiologie. Weil sie ethisch problematische, deshalb den Forscher zu sittlicher Verantwortung nötigende Ergebnisse produziert, ist die Frage, ob und inwiefern auch die anderen, das gleiche Rezept anwendenden Forschungsrichtungen sittliche Verantwortung fordern, zumindest nicht abwegig. So weit ich heute sehe, gründet tatsächlich die tiefste sittliche Problematik empirischer Forschung in Verdinglichung und Reduktion. Hier finde ich denn auch den hervorragendsten Ort ethischer Verantwortung in der Wissenschaft. Ich meine folgendes: Keineswegs sind Reduktion und Verdinglichung als methodische Vorkehren an sich unsittlich. Doch sind sie verbunden mit der Einübung in eine Grundhaltung, die auf Erklären und Beherrschen von Dingen - und nichts als Dingen - ausgerichtet, dagegen dem Erfahren von und dem Wissen um innere Werte des Seienden ungünstig ist. Weil sie einer Rationalität dienen, welche - übrigens in einzigartiger Weise - Wahrheitserkenntnis in grundsätzlich unbegrenzt mitteilbarer Form erzielt; weil sie ferner als Faktoren eines Prozesses wirken, der vor nichts halt macht, also auch traditionelle Instanzen der Verantwortung verdinglicht und verfügbar macht - eben deswegen verdrängen sie Wissensformen, die andere als empirisch-wissenschaftlicher Rationalität entsprechende Einsichten vermitteln, für unsere Sinnorientierung hingegen, für das Bestreben um Einsicht in das, was gelungenes und glückliches Dasein heißen kann, ausschlaggebend sind (vgl. Good, bes. S. 144). Diese Analyse ist janusköpfig. Aufklärung mittels wissenschaftlich-rationaler Untersuchungen kann angemaßte Autorität entlarven und befreiend wirken, das steht außer Zweifel. Sie vermag andererseits für humane Existenz unverzichtbare Werte und Prinzipien zu destruieren. Das sei in Kürze erläutert. Die im Beginn neuzeitlicher Wissenschaft noch aufrechterhaltene und zugleich für sie konstitutive kartesianische Trennung vom Menschen als Forscher und nichtmenschlichem Seienden als Forschungsgegenstand ist dahingefallen (van den Daele/Krohn, S. 24-27). Der Mensch ist heute selber Objekt seiner wissenschaftlichen Untersuchungen. Seine Definition hat sich, gleichsam unter der Hand, mit dem Fortschreiten von Verdinglichung und Reduktion einerseits, von technischer Fertigkeit andererseits, gewandelt. Die Frage, was er sei, gibt Anlaß zu Kontroversen. Je nach Ansicht, die man vertritt, wird man sich

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dagegen verwahren oder aber begrüßen, daß abgetriebene Föten wissenschaftlichen Experimenten oder kosmetischer Produktion zugeführt werden; man wird In-vitro-Fertilisation und Embryotransfer ablehnen oder aus ihnen gewonnene Zygoten und Embryonen tiefgefrieren, weiterentwickeln, für genetische und entwicklungsbiologische Forschungen einsetzen. An allfällige eugenische Eingriffe in menschliche Erbsubstanz mögen sich Bestrebungen zur Züchtung wünschbarer Menschenformen anschließen (vgl. van den Daele/Krohn, s. 18)11. Nicht von ungefähr geschieht diese Entwicklung. Von Reduktion und Verdinglichung wird sie zumindest gefördert. Was dabei zerfällt, ist die empirisch-wissenschaftlicher Untersuchung nicht zugängliche Idee der Menschenwürde. Wie weit dieser Zerfallsprozeß tatsächlich fortgeschritten ist, mag die Frage eines befreundeten Biologen illustrieren, was denn Menschenwürde sei, inwiefern sie als Vorstellung verbindlich werden könne. Auch die oben zitierten sozialpsychologischen und medizinisch-biologischen Forschungsbeispiele können der Verdeutlichung dienen 12 • Man verstehe richtig: Hier wird nicht behauptet, empirisch-wissenschaftliche Forschung führe aus sich heraus und unweigerlich zu inhumanen Praktiken. Zu bedenken bleibt hingegen, daß die für solche Forschung grundlegende methodische Haltung die Gefahr in sich birgt, maßgebende sittliche Werte, in erster Linie eben die Idee der Menschenwürde, auszuhöhlen. Der gerade auch von Forschern unternommene Versuch, unter Rekurs auf diese Idee beispielsweise den Eingriff in menschliche Erbsubstanz für unzulässig zu erklären, ist Beleg hierfür: Daß diese Stellungnahme erfolgt, zeigt, daß sie offenbar nötig ist. Es gibt weitere Ereignisse, welche die Stichhaltigkeit der geäußerten Bedenken bestärken. Hieraus läßt sich schließen, daß die Wissenschafter diese möglichen Konsequenzen ihrer Tätigkeit zu reflektieren und in ihre ethische Verantwortung aufzunehmen haben.

11 Daß die Redeweise, deren ich mich eben bediente, nicht Erfindung, sondern Sprachgebrauch bekannter Forscher war, belegt der Tagungsbericht des berühmt gewordenen Ciba-Symposiums 1962 in London, der unter dem Titel "Man and His Future" 1963 bei J. & A. Churchill Ud., London, erschienen ist. Die deutsche Ausgabe, eingeleitet von W. Wieser, wurde herausgegeben von R. Jungk/ H. J. Mundt, Das umstrittene Experiment: Der Mensch. Elemente einer biologischen Revolution. München 1966 und Zürich o. J. (im Buchclub Ex Libris Zürich). 12 Die Berichte über grauenhafte Forschungsuntersuchungen am Menschen in Konzentrationslagern der Nazis wurden jüngst ergänzt durch einen Rapport über mit wissenschaftlicher Akribie durchgeführte Experimente, denen Japaner im Zweiten Weltkrieg amerikanische Kriegsgefangene aussetzten. Die Untersuchungen dienten beispielsweise dazu, die Wirksamkeit von chemischen und biologischen Waffen zu testen. Man vernimmt, und auch das gehört in diesen Kontext, daß die Amerikaner die ganze mit diesen Versuchen befaßte japanische Einheit laufen ließen, gegen den Preis der Überlassung der wissenschaftlichen Dokumentation (Schmid, S. 7; aufschlußreich in diesem Zusammenhang auch Jonas 1981, S. 263 f.).

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VI. Verantwortung für die Natur Verdinglichung und Reduktion als methodische Grundelemente der Wissenschaft betreffen selbstverständlich nicht bloß den Menschen, sondern, entsprechend dem universalen Erkenntnisanspruch der Wissenschaft, alles Seiende. Die ganze Natur wird "entsubjektiviert" (Holzhey); die wissenschaftlich-technische Einstellung, die reiche Verdienste im Zusammenhang mit der physischen Erleichterung menschlichen Daseins aufzuweisen hat, wird generalisiert. Sie findet in der nicht selten zur Behauptung gesteigerten Hoffnung Ausdruck, Wissenschaft und Technik vermöchten letztlich alle, auch die von ihnen selber induzierten Probleme zu bewältigen. Hinter dieser Hoffnung steckt das Ideal vollkommener Beherrschung der Natur, welches vor nahezu 400 Jahren Francis Bacon verkündete (1597) und das seither wohl alle empirisch-experimentelle Forschung antreibt. Daß diese Einstellung, trotz ihrer Verdienste, die volle Wirklichkeit unserer Welt verfehlen muß, läßt sich unschwer einsehen. In den letzten fünfzehn Jahren sind wir stets eindringlicher daran erinnert worden, daß der Mensch auf Gedeih und Verderben mit der Natur verbunden bleibt. Was immer er ist, sie gewährt ihm die hierfür notwendigen natürlichen Bedingungen. Auch die höchsten humanen Ziele zerfallen, ist die natürliche Grundlage, auf der allein sie sich verwirklichen lassen, stark beeinträchtigt oder gar verschwunden. Natur ist Voraussetzung und objektive, unverfügbare Einschränkung menschlicher Willkür zumal. Was sie nicht gestattet, sollte der Mensch unterlassen. Daß diese Norm gilt, erfährt er spätestens dann, wenn Natur sich seinem weiteren Zugriff verweigert, indem sie zugrunde geht, damit aber ihm die Existenzmöglichkeit entzieht. Das "letzthinnige Veto ... gegen die Utopie" (Jonas 1984, S. 332) totaler Naturbeherrschung liegt in der Macht der Natur; nicht "wieviel der Mensch noch zu tun imstande sein wird ... , sondern wieviel davon die Natur ertragen kann" (ebd., S. 329), ist zuletzt wichtig. Weil Natur ihre Existenz nicht dem Menschen verdankt, dieser sich hingegen als für die Fristung seines Daseins von ihr abhängig erfährt, geziemt sich ihm, Natur zu achten. Kommt ihm Würde zu, schuldet er sie letztlich der Natur als seinem Grund und Herkunftsort. Alle Würde des Menschen nimmt ihren Ursprung in der Würde der Natur. Es ist heute ganz besonders wichtig, daran zu erinnern, daß der Mensch überall dort, wo er etwas macht, darauf angewiesen ist, daß ihm Seiendes, ob von Menschenhand unberührtes oder kulturell überformtes, vorgegeben ist. Menschliche Kultur ist nicht in dem Sinne schöpferisch, daß sie auch das materiale Substrat, auf dem sie aufbaut, aus nichts bereitzustellen vermöchte. Demnach eignet allem, womit der Mensch zu tun hat, ein Kern, der ohne sein Zutun besteht. Ferner hat der Mensch kein in ihm selber gelegenes Recht, das, was er nicht selber geschaffen oder gemacht hat, willkürlich zu schädigen oder zu zerstören 13. Diesem Grundsatz entspringt dagegen für den Menschen eine 13 Dieser Grundsatz entspricht dem alten naturrechtlichen Gebot "alterum non laedere"; vgl. Sitter 1984 b, S. 165.

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Pflicht: in allem Machen nach bestem Wissen dessen absehbare und fernerhin mögliche Auswirkungen zu bedenken, dies unter gewissenhafter Achtung gegenüber dem Dasein alles Seienden, das vom Handeln faktisch oder möglicherweise betroffen wird. Dieser Pflicht entspricht das moralische Recht alles Seienden auf Achtung vor seinem Dasein - ein Existenzrecht alles natürlich Seienden gegenüber dem Menschen.

Das Existenzrecht gilt auch dann noch, wenn zugleich feststeht, daß es verletzt werden muß, weil der Mensch nicht anders als unter Nutzung der nichtmenschlichen Naturwesen leben kann. Es ist falsch, seine Geltung mit dem Hinweis auf dieses Faktum einfach aufzuheben. Weil es trotzdem gilt, setzt es menschlicher Nutzung Grenzen. Freilich stürzt es den Menschen auch in Konflikte. Sich diesen zu entziehen, gelingt indessen nur um den Preis der Wahrhaftigkeit und der Rechtschaffenheit. Es ist mithin falsch, wenn der Mensch die Spannung entschärft, oder wegdiskutiert, in der allein er human da zu sein vermag: als "Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will", also auf Kosten anderer Naturwesen und zugleich verantwortlich für diese 14. Mag auch der Umfang solcher Verantwortung nicht leicht und nie endgültig abzuschätzen sein; mag es mühsam, unbequem und schwer sein, sie auf sich zu nehmen und zu ertragen: Es bleibt für den auf Wahrheit sowie die Unterscheidung von Gut und Böse von Natur aus bezogenen Menschen verwerflich, sich aus ihr herauszustehlen. Die Bedeutung der Pflicht zur Achtung und des entsprechenden Rechts des Seienden nimmt angesichts der wissenschaftlich-technischen Machtmittel, mit denen sich der Mensch ausgerüstet hat, zu. Diese Mittel sind heute so gewaltig, daß die Menschheit alles Seiende, das in ihrer Reichweite liegt, zu schädigen und zu vernichten in der Lage ist. Je größer ihre Macht: ihr Wissen und Können, umso mehr wächst ihre Verantwortung gegenüber allem solcher Macht möglicherweise Ausgesetzten. Nicht schlicht natürliche, vielmehr von Menschen gewollt heraufgeführte Umstände haben alles Seiende unter ihr Verfügenkönnen geraten lassen. Das wissen sie; als moralische Wesen müssen sie dafür ebenso einstehen wie sie, mit H. Jonas zu sprechen, das Seiende in ihre Hut zu nehmen haben. Ihre Fähigkeit zu Beeinträchtigung und Kontrolle hat für sie Verpflichtung zur Fürsorge im Gefolge. Das "Mächtige in seiner Ursächlichkeit" wird zum Verpflichteten, das "Abhängige in seinem Eigenrecht ... zum Gebietenden" (Jonas 1979, S. 175.). Was für den Menschen generell als moralische Verpflichtung gilt, betrifft den Wissenschafter besonders, und zwar deshalb, weil er über Sonderwissen verfügt, das den Entscheidungsträgern in unserer Gesellschaft in aller Regel abgeht. "Sagesse oblige", so hat Andre Mercier einen alten Wahlspruch umgeformt: "Es ist die Zugänglichkeit zu neuem Wissen, die neue Verpflichtungen schafft" (Popper, S. 569 f.). Dem Wissenschafter fällt die Pflicht zur Aufklärung von 14

Vgl. hierzu Schweitzer, Kap. XXI, S. 375 fT., besonders S. 377, 381, 387.

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Öffentlichkeit und Entscheidungsträgern über mögliche Folgen unseres Wissens und Könnens zu - auch dann, wenn solche Aufklärung nicht gefragt, mit Verlust der Gunst des Publikums verbunden sein mag. Angesichts der Verletzlichkeit der Natur zieht diese Pflicht nach sich, daß die Forschergemeinschaft mit ebenso viel Phantasie und Energie, mit der sie neuen Einsichten nachjagt, nach Folgen und Nebenwirkungen - auch langfristigen - bereits verfügbaren Wissens und Könnens sucht - noch einmal: dies auch dann, wenn keine Prämien winken. Für die Instanzen, die mit öffentlichen Mitteln Forschung fördern, resultiert aus der gleichen Überlegung die Pflicht, Projekte zu initiieren, die derartige Konsequenzenforschung zum Ziele haben. Ein neuer und dringlicher Themenbereich für Sonderförderungsmaßnahmen tut sich hier auf. Doch die moralische Verpflichtung, die sich für die Wissenschafter aus der Sicht des Verhältnisses von Mensch und Natur, wie sie hier vorgeschlagen wurde, ergibt, reicht weiter, hinein in komplexe und verworrene, entsprechend auch konfliktträchtige Bereiche. Wissenschaftshistorisch und -theoretisch auch nur wenig geschulte Forscher kennen Einseitigkeit und Begrenztheit ihres Wissens, d. h. auch die Unabsehbarkeit möglicher Folgen von Experimenten einerseits, von auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauenden technischen Realisationen andererseits. Wo solche Experimente und Projekte zeitlich oder räumlich weitreichende, zugleich nicht oder nur in geringem Maße überschaubare und kontrollierbare Dimensionen annehmen, sollten die Forscher kraft ihres Wissens dafür eintreten, daß mit der Verwirklichung von Plänen solange zugewartet wird, bis mit hinreichender Überzeugungskraft dargetan ist, daß die Verwirklichung umweltverträglich ist, also dem obersten Ziel aller Wissenschaft entspricht: das Überleben der Menschheit in menschenwürdiger Umwelt langfristig zu sichern (Saladin, S. 129)15. VII. Verantwortung für ethische Bildung Wissenschaft ist für unser Selbst-und Weltverständnis von größter Bedeutung. Sie bestimmt das Dasein von Menschen und Natur heute und für die Zukunft entscheidend mit. Sind sich die Wissenschafter der ethischen Bedeutung ihrer Tätigkeit umfassend bewußt? Werden sie auf die auch sittliche Verantwortung, die sie in Forschung und Lehre persönlich zu übernehmen haben, ausreichend vorbereitet? Die Antwort auf diese Fragen fällt nicht beruhigend aus. Wer heute in die wissenschaftliche Ausbildung eintritt, hat alle Hände voll zu tun, sich mit Lehrstoffen, Arbeitsmethoden, Forschungsfragen und bereits etablierten Zielund Zweckvorstellungen vertraut zu machen. Zwar werden ihm Werthaltungen 15 Vgl. für diesen Gedankengang Spaemann, S. 496 sowie, im Anschluß an diesen, Höffe 1982, S. 527. Für Formulierungen des obersten Zieles, dem Wissenschaft zu dienen hat, Böck/e, S. 14; Coreth, S. 114; Furger; Ga/tung, S. 94-96; Höffe 1982, S. 531 (in der erweiterten Fassung: S. 67).

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anerzogen, doch betreffen sie in der Regel ausschließlich das wissenschaftsinterne Forscherethos. Spätestens nach Abschluß der Grundausbildung nimmt ihn das Konkurrenz-und Reputationssystem, welches zu wissenschaftlicher Anerkennung führen kann, gefangen (vgl. Russ-Mohl). Seine Tätigkeit auf oberste Prinzipien gelungenen und glücklichen Menschseins zu beziehen, sie in einem größeren, auch politischen und wirtschaftlichen Rahmen zu überdenken, gehört nicht zu den fundamentalen und deswegen obligatorischen Lerneinheiten, die er zu absolvieren hat. Diese Skizze mag überzeichnet sein l6 , im Wesentlichen trifft sie die Wirklichkeit doch. Dann aber ergibt sich für die heute in Forschung und Lehre leitenden Personen eine neue ethische Pflicht: für eine Ergänzung der wissenschaftlichen Curricula zu sorgen, damit angehende Wissenschafter über jene ethische Bildung verfügen, die ihre künftige Tätigkeit erfordert. Doch damit nicht genug. Heute aktive Forscher haben nur in der Minderzahl eine Grundausbildung in Ethik genossen. Mehr und mehr werden sie indessen von der Öffentlichkeit aufgefordert, sich zu ethischen Fragen zu äußern. Sie stehen auch nicht an, dieser Aufforderung Folge zu leisten, kommen ihr sogar zuvor. Insbesondere von Spitzenforschern verlangt man immer wieder Stellungnahmen zu Problemen ethischer Verantwortung, sie mögen die Wissenschaft insgesamt oder spezielle ihrer Praktiken betreffen (vgl. Labudde j Svilar und Sitter jWeber). Nun liegt auf der Hand, daß Fragen ethischer Verantwortbarkeit in einem besonderen Bereiche Fachkenntnisse erfordern. Umgekehrt gilt, daß diese Fachkenntnisse nicht auch ethische Kompetenz verbürgen. Denn auch in der Ethik gibt es Fachwissen: zunächst eine lange historische Tradition mit ihren Fragestellungen und Antwortversuchen, die auch heute nicht bloß lehrreich, sondern in mancher Hinsicht maßgebend sind, sodann methodisches Wissen und Können, die sich beide an den allgemeinen Normen wissenschaftlicher Arbeit ausrichten. Kurz: Mindestens Grundkenntnisse in Ethik sind unerläßlich, soll nicht bloß fachlich, sondern auch ethisch kompetent argumentiert werden können. Aus dieser Sachlage heraus ergibt sich für in ethischen Belangen interpellierte Forscher - wie überhaupt für etablierte Wissenschafter - die sittliche Pflicht, ethische Bildung, soweit nötig, zu erwerben und zu erweitern - oder darauf zu verzichten, zu ethischen Fragen öffentlich Stellung zu nehmen (vgl. Hammer, S. 43). Denn die Öffentlichkeit ist geneigt, die durch fach wissenschaftliche 16 Wir wissen beispielsweise, daß es seit langem Kurse in ärztlicher Ethik gibt; daß immer häufiger spontane, oft von noch in Ausbildung Begriffenen initiierte Veranstaltungen zum Problem des Verhältnisses von Ethik und allgemeinen oder speziellen Fragen der Wissenschaften durchgeführt werden; daß sich wissenschaftliche Institutionen, insbesondere Akademien, intensiv mit Fragen befassen, die Forschung und Anwendung in den durch sie repräsentierten Bereichen aufwerfen; daß diese Institutionen sich bemühen, durch Weisungen, Grundsätze und Richtlinien den Forschern Orientierungshilfe zu leisten.

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Kompetenz zurecht bestehende Autorität eines Forschers auf dessen ethisch relevante Verlautbarungen zu übertragen. Daraus kann Irreführung resultieren, die dann, wenn der wissenschaftlich hochqualifizierte Redner seinen eigenen Wertungs- und Interessenhintergrund nicht reflektiert hat, in ideologische Verfestigung nicht weiter bedachter Vorurteile - auch ethischer Natur mündet (vgl. Hammer, S. 32). Ein Drittes bleibt zu bedenken, wiederum als sittliche Pflicht: Wenn es denn ethisches Fachwissen gibt, in erster Linie bei Philosophen und Theologen, dann verlangt die für alle wissenschaftliche Rationalität unnachlaßliche Wahrheitsund Wahrhaftigkeitsforderung, daß man sich bei der Lösung von ethischen Problemen in der Wissenschaft auch mit der nötigen ethischen Kompetenz ausrüste. Da ethische und nicht fachliche Probleme im Vordergrund stehen, heißt dies, dafür zu sorgen, daß die Diskussions- und Entscheidungsprozesse in den mit der Problemlösung betrauten Gruppen nicht durch deren unausgewogene Zusammensetzung in eine vorbestimmte Richtung gezwungen werden. Hier eröffnet sich für die derartige Zusammensetzungen festlegenden Wissenschafter ein ganz besonderer Bereich ethischer Verantwortung l7 . Hat Ethik in der Wissenschaft nichts zu suchen? so lautete die Ausgangsfrage. Daß sie entschieden zu verneinen ist, steht außer Zweifel. Wo weitere Orte ethischer Verantwortung in der Wissenschaft liegen, bleibt in nie erlahmender sittlicher Anstrengung auszumachen. Professionelle Ethiker haben daran teilzunehmen. Doch ihr Einsatz allein genügt nicht. Ohne den ebenbürtigen Beitrag der Fachgelehrten müßte das Unternehmen scheitern. Was wiederum, sollen Dialog und Zusammenwirken gelingen, bedingt, daß jeder Wissenschafter ein Stück weit Ethiker ist.

17 Ein Beispiel: HöfTe kritisiert die Zusammensetzung der Kommission, die von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften und von der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft den Auftrag erhielt, den Entwurf für die "Ethischen Grundsätze und Richtlinien für wissenschaftliche Tierversuche" auszuarbeiten. Neun von elf Mitgliedern waren "selbst experimentelle Wissenschaftler ... , dagegen war nicht einmal die Schweizerische Ärztevereinigung vertreten, geschweige denn kritische Gruppen wie ,Ärzte gegen Tierversuche'" (1984, S. 148). - Die neue Kommission, die nun von den beiden Akademien als Mittel zur Durchsetzung der Grundsätze und Richtlinien gebildet wurde, verdient diese Kritik nicht länger. Zur Zeit sind gerade nur die Hälfte ihrer Mitglieder im von HöfTe gemeinten Sinne "experimentelle Wissenschaftler"; daneben finden sich eine Juristin, ein Ethologe, ein Ethiker, der Präsident des Schweizer Tierschutzes, und geleitet wird die Kommission von einem in Sozialethik spezialisierten Theologen.

18 Festgabe rur Alois Troller

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Phenomenology and the Crisis of Foundations in Legal Science By lose Vilanova, Buenos Aires

Foreword I want to express my gratitude to Professor Walter Ott and Professor Werner Krawietz who gave me this opportunity to address myselfto a qualified audience of social scientists and philosophers outside the Spanish speaking countries. I do not master my English and hope that the audience will be benevolent when reading this paper. This lack of mastery is one ofthe reasons for giving here just a general outline of my views and the main line of the arguments. Our subject deserves a more detailed exposition next to a full discussion. I am working in this ambitious project but I am afraid that I will not be able to complete it soon and anyway it will be in Spanish.

Introduction We lawyers are acquainted with the so-called legal science or jurisprudence. First it was an important part of our studies at the University. Second, - and more important - we consider our work (as Attorneys in Law, Legal Counsels, Judges, etc.) as an application of the knowledge developed by legal scientists. Like physicians or surgeons who apply scientific knowledge (anatomy, physiology and so on). The relation between pure and applied science of common use in current epistemology seems to be quite right in both cases. Do intellectual proceedings used by jurisprudence qualify as scientific? This~ question will be usually considered as a way of asking about the (common) use of the word "science" . The answer will be conventional. Traditionally jurisprudence was considered a science. In our time, however, the prevailing trend in science and epistemology would lead to the conclusion that jurisprudence does not deserve the "science" label, considering that it lacks some standard patterns of rationality and contrastability. My contention will be that jurisprudence meets some of those requirements. Regarding the requirements jurisprudence does not meet, my strategy will be to point out that they do not apply to social sciences. A full development of the foundations of legal science involves ontological problems (what is law?) and also metaphysical ones (determinism - indeterminism). These kinds of problems will only be mentioned, when necessary, along

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this paper. The foundations of legal science also involve the subject known as "sources" of the law as weIl as the construction or interpretation of rules provided by them. We cannot either discuss these matters within the limits of this paper. We willjust mention them as far as they are required by the main line of our argument. The first section deals with the present crisis oflegal science. The main subject will be the so-called "crisis of foundations" of a science in phenomenological terminology. The second section deals with the method of social sciences as opposed to the method of natural sciences. The third section will try to explain how the social science method works at jurisprudence.

1. Tbe current crisis of legal science Our main concern is the crisis of foundations of legal science which will be discussed under 1.3. below. There are at least two events exercising a powerful influence upon this crisis. We cannot understand our subject without considering these events. 1.1. Crisis of the law

Changes in the law affect the very object of jurisprudence in such a measure that jurisprudence cannot be a science. This is the content of the famous indictment made by von Kirchman in 1847. 1 Considering that this crisis affects the law in itselfwe say that it is ontologieal. However the point of the ontological crisis is more serious and goes far beyond what von Kirchman could imagine. It acquires its present size because of the marxist conception about law. Marx identifies law and state and contends that law is a system of domina ti on. The view generally accepted by social scientists is that all social system of rules involves domination but also consent. The marxist theory oflaw as a system of domination does not include any consent and would be therefore wrong. However the very fact of taking only domination into account when law is considered, makes as aware ofthis aspect oflaw and only of this aspect which is the "truth" oflaw. In marxist terminology this amounts to "conscientization". Conscientization of domination causes a decrease in consent. People who are aware ofbeing dominated do not freely consent. Some people may be aware and others not. It is a matter of degree. So marxist theory is still wrong, but wrong in a lower degree: it is less wrong than it was at the starting point when the theory was first launched. Each new step in this process increases

1

J. H. von Kirchman. Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin 1847.

Phenomenology and the Crisis of Foundations in Legal Science

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domination in the law and carries a decrease in consent. This is no problem to a philosophy aimed to change the world rather to describe it. However the law itself is under a process tending to suppress consent.

At the end of this process law will be only domination exercised through the mere use of force. Notice, by the way, that marxist theory identifies law and state. The end of the process above mentioned may be part of an utopia. In the meantime law suffers a permanent crisis which is connected with the high technology deve10ped in the use ofviolence. It is a common place that the state has the monopoly for the use ofviolence and this common place - as we shall see - is an assumption of current General Theory of Law. However, after the suppression of consent by the marxist conception about law, this monopoly becomes a mere fact. Some people, as a matter of fact, dominate other people. Law - under this permanent crisis - faces a dilemma. One horn is living peacefully under a - more or less - authoritarian government. The other one is to oppose violence to violence. This second horn of the dilemma may be acceptable for Politics but it destroys law which presums people living peacefully together. Perhaps this is the reason why theorists of law chose the first horn. 1.2. Crisis derived of current epistemology

The constitution and magnificent development of Physics and other natural sciences was the outcome ofthe adoption ofthe so-called "galilean" paradigm of science. Towards 1840 Augusto Comte gave birth to a new line ofthought under the name of "positivism". Positivism would replace once and for ever the old philosophy superseded by the new way of thinking following the galilean paradigm. The galilean paradigm was the model for all sciences. So positivism entailed methodological monism i. e. that only one method - the method of causal explanation - holds for all sciences. Stuart Mill joined Comte. In accordance with these two c1assics of positivism - or empiricism - the task of (empirical) sciences was to discover the uniformities or regularities holding between kinds of events, i. e. the laws of nature. Both conceived these laws as causal. Towards the end ofXIX century there was areaction against the methodological monism entailed by positivism. This reaction however was not successful. The renewal of Logic towards the end of XIX century gave new support to positivism which remains the prevailing philosophy of science up to date under the name of logical empiricism. With the aid of the new Logic, positivism could give account of its central notion, i. e. causal explanation, in terms of the well known deductive nomological model and the statistics - probabilistic model. 2

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The main contention of positivism - expressed in terms of its present version i. e. logical empiricism - is that in any science, the truthfulness of scientific laws and theories may be established by contrasting their logical consequences with observational statements concerning facts - events, states ofthings - observed into the "empirical basis" of such a science. This thesis has been criticized by Popper and his followers who contend that thefalseness (and not truthfulness) of theories and hypothesis made by scientists in any science may be established by contrasting their logical consequences with observational statements concerning facts - events, states of things - observed into the empirical basis of such a science. The point to stress here is that both, empiricists and falsificationists agree in one thing: the role observation plays in contrasting theories (laws or hypothesis) made by scientists. Observation and only observation serves to such purpose. Observation determines what is a fact and what may be inc1uded into the empirical basis of a science. 1.3. Crisis of foundations in legal science

1.3.1. Jurisprudence and legal positivism Our starting point was that we lawyers are acquainted with legal science. What do we know, generally speaking, about it? Almost all of us know that it flourished in Ancient Rome under the form of commentaries to edicts enacted by the pretor. 3 In the Anglosaxon tradition legal science starts on the XVII 2 The deductive-nomological model was first proposed by Popper in 1935. However it was fully developed by Carl. G. Hempel in 1942. It was first designed for causal explanations. It applies also however to explanations which are not causa!. The statisticsprobabilistic model is, according to Hempel, another form of Covering Law Mode!. This model is supported by the logic of induction developed by Camap: the condusion is not entailed by premises but only (highly) probable. We cannot discuss here Hempel's views. However if we accept that scientific laws may refer to certain finite number of facts which is the case with Geology, Zoology, Botanics, etc. - and add a propensional theory of probability - which seems to be the best - then the statistics Covering Law Model is quite in order and does not need support by Logic of induction. The major premise asserts some frequency of a kind of events (E) when other kind of events (C) are present. Make the frequency equal to 0.9 for instance. The second premise asserts the occurrence of a fact of the dass "C". The condusion asserting a probability of 0.9 to occurrence of an event pertaining to the dass "E" is entailed by such premises. The model does not explain the occurrence of the event "E". The model serves to make predictions. It does not "wash hands" when considering the individual case. See C. Hempel, Aspects of scientific explanation and other essays in the philosophy of science, Ch. XII, Section 3. There is Spanish version, Paid6s, Buenos Aires 1979, ps. 370 to 405. The propensional theory of probability has been proposed by Popper and would imply to accept indeterminism (See: J. Watkins, The unity ofPopper's thought, in: The Philosophy ofKari Popper, La Salle, Illinois 1974, Ch. 11, Section 2 and subsection 2.5. 3 We oversimplify. Gayo, Instituta, I. 2 says: Constant autem jura populi Romani ex legibus, plebiscitis, senatusconsultis, constitutionibus principium, edictia eorum qui jus edicandi habent, responsis prudentium.

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century under the form of commentaries of decisions by courts and tbis tradition continues up to date. In our own tradition legal science begins in France under the form of commentaries to the Civil Code enacted in 1804 and in Germany with the bistorical school ofHugo and Savigny who accept several "sources" of law giving first place to custom. Edicts, codes, custom, decisions by courts, are made by men and nothing bigher than man and bistory - like God, man's nature or Reason -. Tbis point becomes explicit in the German bistorical school. The object of legal science is sometbing made by men. Legal positivism or juspositivism as opposite to jusnaturalism is presupposed by legal science. It is worth noticing that legal positivism has notbing to do with positivism at large as discussed under 1.2. above. It is also worth noticing thatjuspositivism does not entail normativism - the conception of law as a system of rules -. Prominent legal scientists as Rudolph von Ihering or Roscoe Pound - to put only two instances - will be sufficient to support the above assertion. Considerations about interests, ends, purposes and even values are not exc1uded by juspositivism, provided that they make reference to interests, values, etc. ofmen and not to platonic ideals located outside of this world. 1.3.2. Juspositivism in the General Theory of Law Juspositivism is apresupposition, an assumption of legal scientists. Tbis assumption has been the subject of the so-called General Theory of Law. Unfortunately the c1arification ofjuspositivism by the current General Theory assumes the ontological and / or epistemological views discussed under 1.1. and 1.2. above wbich do not allow the foundations of legal science familiar to us lawyers. The General Theory conc1usion is thatjurisprudence is not a science at all or that it has to be reformed or modified in order to get scientific rank. The General Theory of Law under discussion begins with Bentham and Austin inc1uding prominent authors as Hans Kelsen, H. L. A. Hart and Alf Ross. In spite of important differences among them, risking an oversimplification to some degree, we may summarize tbis line of General Theory into the two following assertions: (1) Law consists of commands, directions or prescriptions issued by some authority (or the rules wbich are the meaning of such acts). (2) Legal rules are binding because they are compulsory. The obligatory character of law proceeds from the use of force. We cannot discuss here the two foregoing assertions, I criticized both of them and tried to inc1ude consent into the concept of law and to build a notion of obligatory not derived from the use offorce. 4 For the purpose of tbis paper it 4

95.

See: Original constitution of legal rneanings, RECHTSTHEORIE 15 (1984), S. 82-

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will be enough to point out some undesirable consequences of the General Theory under discussion. Ross' theory is the deepest and most complete intent to construct legal positivism in terms of positivism at large. His acceptance of methodological monism leads Ross to propose areform of the jurisprudence. After that reformation jurisprudence will finally be a science consisting on statements allowing the "true" and "false" values. Although the proposal seems to involve important investigations on the actual "being in force" of rules, the final result is disappointing: prescriptions issued by authorities are usually published by the Official Gazette. We lawyers usually read the Official Gazette in order to be informed of enactments made by authorities. But the compilation of such enactments falls short of the legal science we know and try to apply. In accordance with Kelsen's theory, the function of jurisprudence is to capture the objective meaning of prescriptions - acts of will - enacted by authorities. This objective meaning is the content of normative statements made by legal science. These normative statements are descriptive but prescriptive as weIl. In the last version of his theory Kelsen includes authorizing amongst the functions of legal rules. He makes the contention that a Judge is authorized (but not obliged) to pass judgement against Defendant guilty of violation of applicable law. s He is in the same condition of the father authorized (but not obliged) to moderately chastise his children. This consequence ofthe Pure Theory is unacceptable for lawyers. Suppose we have a lawsuit and the violation by Defendant has been established by evidence and suppose the Judge does not pass judgement against Defendant but rejects PlaintifT claim supporting his odd decision in this consequence of Kelsen's theory. We will say that the Judge does not perform his duty and that a theory allowing such lack of performance is a false theory. The present General Theory of Law accepts a distinction between ideological juspositivism and theoretical juspositivism. This distinction was introduced by Ross and is a consequence of his acceptance of positivism in the sense explained under 1.2. above. Theoretical juspositivism allows identification of legal systems. Ideological juspositivism adds that legal rules justify acting in accordance with them. 6 At present General Theory of Law follows Ross in accepting positivism as explained under 1.2. above. As a consequence it rejects ideological positivism. Provided that legal rules do not justify action at all, the search of justification leads to some ground outside of positive law. This is the theoretical starting point ofthe so-called revival ofNatural Law, which, as a matter offact, was the S

6

25.

H. Kelsen, Teoria pura dei Derecho, UNAM, Mexico 1979, p. 39. A. Ross, EI concepto de validez y otros ensayos, Buenos Aires, Centro Editor, 1969, p.

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consequence of systematic violation of human rights by totalitarian systems. 7 Some authors will seek justification only in terms of an ideal Morals or Ethics. 8 These later developments are also unacceptable in my opinion for us lawyers. We are in practice acquainted with legal institutions - as, for instance, the statute of limitations, or an amnesty - which are good institutions, in order to preserve the life of the social group, just institutions, which seem to be alien to Natural Law or ideal Ethics. 2. Social sciences methodology 2.1. Methodological dualism

Methodological dualism was introduced towards the end of XIX century in Germany by prominent philosophers and social scientists 9 as areaction against classical positivism represented by Comte and Stuart Mill. We will oversimplify the subject and accept the common view that this reaction culminates with W. Dilthey who developed the crucial distinction between explanation ( Erklären) as method of natural science and understanding (Verstehen) which is the method proper of sciences dealing with man and culture (Geisteswissenschaften). Understanding was conceived generally in a subjectiveway. These authors are now the classics ofmethodological dualism. They did not succeed in establishing a firm basis for it. As we will argue in this section A. Schutz intent of phenomenological foundation of social sciences methodology succeeded finally, towards 1950, in developing a notion of understanding which justifies methodological dualism. 10 7 This revival took first place in Germany in connection with the "nature of things theory" (Radbruch, Welgel, Ballweg, Fechner, etc.). 8 c. S. Nino, Etica y derechos humanos, Paid6s, Buenos Aires. In sheet 28 (see more explicitly, C. S. Nino, La validez dei derecho, Astrea, Buenos Aires 1985, p. 131) he states what seems to be the main argument for rejecting ideological positivism: the Hume's principle that you cannot derive normative statements from descriptive statements. Maybe Hume's principle is sound. Howevet "Ought" may be defined in terms of"ls" and "Value" defined in terms of facts (E. W Frankena. Ethics, Englewood Cliffes, Prentice, Hall, 1963). The issue is related with the naturalistfallacy denunciated by G. E. Moore in 1903. However nowadays this is consideredjust a dictum by Moore presupposing the nonnaturalist view in Ethics (see: E. Rabossi. Estudios Eticos, Valencia, Venezuela 1979, p. 96). Charles Taylor illustrates satisfactorily that non-naturalists are forced to stop with a dictum as "X is good" any rational controversy with a naturalist and that there are good arguments supporting naturalism in Ethics. See "The neutrality ofPolitical Science" 3.1. in The Philosophy of social explanation, Comp. A. Ryan, Oxford University Press 1973. 9 Droysen, Simmel, Dilthey and Max Weber are prominent representatives ofthis line of thought. Croce and Collingwood deserve mentioning. Winde1band and Rickert supported also methodological dualism although their line of thought is somehow different. .

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The notion of (human) action as opposite to natural events was studied by authors following the analytical philosophy of common language in accordance with the last Wittgenstein. l1 Intention and purpose gave support to teleological explanation of behaviour - proposed by Charles Taylor in 1964 - giving an independent support to methodological dualism. 2.2. Social experience and understanding

Towards 1950 Schutz made what is in our opinion the main discovery: understanding is not a method used by social scientists but the way human beings have experience of the social-cultural world. 12 The novelty of this notion was perhaps ignored by Schutz himselfwho assigned it to the classics ofmethodological dualism. We have to stress and develop the new conception. Classic dualists opposed understanding to explanation. Under the new conception the opposition holds between understanding and observation. It concerns the empirical basis of social sciences. For the sake of argument let us assurne that (human) action is the subject of social sciences. The consequence of the new notion of understanding is that you can understand an action but you cannot observe it. Therefore: a) The same observed movement, for instance someone rising his right hand, constitutes different actions: a member of a meeting wants to speak; a pupil asks permission to leave the classroom; a speaker begs silence to his audience; a member of Parliament votes; a patient obeys his doctor; an official swears when taking charge; someone salutes in the Roman style. b) Different observed movements constitute however the same kind of action. For instance reading a book by a blind man using his fingers, to push a button (call bell) with the head, to open a dOOf using foot, etc. are the same kind of actions usually involving other observable movements. c) Forbearances are actions as: fasting, let one's beard to grow, compliance of a vote of silence, etc. However forbearance constists of intentional abstention and do not imply any observable movement at all. 10 In 1932 Schutz published his main book "Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt"; phenomenology was still at that time "transcendental" (idealism) as Schutz expressly said in the Foreword of his book. Phenomenology so understood could not serve for the foundations of socia! sciences. 11 Paragraphs 611 and 660 ofWittgenstein Philosophical Investigations inspired Miss Anscombe "Intention" (1957) and several papers. Their general content was that language we use when speaking about action is different from language we use when describing movements and other natural events (P. Ricoeur, EI discurso de la acci6n, Madrid 1981, p.13). 12 A. Schutz, EI problema de la realidad social, Amorrortu, Buenos Aires 1974, p. 77. The original paper was published in 1954 and included as chapter 2 of The Problem of Social Reality, Martinus Nijhoff, La Haya 1962.

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285

2.3. Common sense constructions at the basis of action and understanding

An important part ofSchutz' work was devoted to the philosophical problem of how understanding is possible. His intent of solving this problem takes as starting point the Lebenswelt ofthe last Husserl. This would be day by day life of each human being with his biography. Some structures of the Lebenswelt make possible "common sense constructions" which play an important role in the foundations of social sciences methodology. We will just mention some of this Lebenswelt structures: the Lebenswelt is always there before my birth and will be there after my death; it consists basically in interaction with other human beings; every one has a stock of knowledge at hand; the other is an alter ego; reciprocity ofperspectives and reciprocity ofHere and There. The study of Lebenswelt structures made by Schutz is generally convincing and interesting for phenomenology. However it may be ofno interest for social scientists in general and philosophers who reject phenomenology. Fortunately we can give account of common sense constructions and their function in terms of the process of aculturation (endoculturation or socialization) weIl known by every social scientist and social philosopher. This aculturation process provides to each man the common sense constructions which typify the meaning any action has for the members of the group. And what is said about action includes in the same way not only iso la ted actions but also typical courses of action, those attached to social roles, etc. As we will see under 2.5.1. below it also includes the (natural) facts which can be observed. I will assert here that common sense typifications give an objective meaning to actions (Schutz himself seems to appreciate only subjective meaning, an issue to be discussed below when considering intentionality). Going a bit further than Schutz does, I will contend that considering understanding in accordance to the notion explained under 2.2. above, the whole repertory of actions (what is understable but not observable) in a social group is provided by common sense typifications. In other words: there are no other actions than those provided by common sense typifications. This will be sufficient to characterize what is called the external aspect of action, i. e. action as understandable by people other than the agent. Consideration ofthe so-called internal aspect, i. e. action from the viewpoint of the agent will be our next concem. 2.4. Intentionality: "Motives for" and "motives because"

So far we were concemed with the so-called external aspect of an action i. e. action from the viewpoint ofthe group members other than the agent himself. However the internal aspect of action i. e., action from the point of view of the agent himself deserves consideration. Furthermore this subjective meaning of action enjoys a sort of priviledge due to the fact that intention by the agent is crucial for the very notion of action and presupposed when we understand

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action. We will contend however that only this conception (that action presupposes some intention by the agent) is important for social sciences foundations and that the actual intention an agent has when acting in a particular occasion plays a minor role - if any - in mentioned foundations because of the weIl known fact that such intention lacks the requirements of objectivity and contrastability. The internal aspect was also priviledged in A. Schutz' conception. The word "action" he says will be employed here to mean the human behaviour conceived beforehand by the agent, based in a preconceived project. Any project consists of anticipating the future behaviour by means of the imagination. 13 The words "intent" or "intention" are not stressed in Schutz' terrninology. However, in current accepted terrninology, we can say that the agent intends what Schutz calls the "act" i. e. the action performed, which receives also the name of" result" of the action. It is worth noticing that Schutz died in 1959 and he does not mention Miss Anscombe's "Intention" published in 1957. After Miss Anscombe inquiry became clear that any behaviour or course of action may be intentional under certain description but not intentional under a different description. Suppose that I intend to open the window, then the result intended will consist on the window open. A consequence of this result will be, for instance, that the temperature ofthe room becomes lower. But suppose my purpose is to lower the temperature of the room and do it by means of opening the window. Now opening the window is not the result I intended. Courses of action allow displacements of intention towards the future or towards the past.

These displacements of intention could not worry us too much considering that the actual intention of an agent in a particular occasion plays a minor role - if any - in the foundations of social sciences. We will try however to state some rules in order to deterrnine what displacements may deserve consideration and, in some way, the degree allowed for such displacements in accordance with the scientific principle of objectivity and contrastability. Displacements towards the future will be called "ahead displacements" and displacements towards the past will be called "back displacements". We suggest the following rules: (1) In absence ofreasons or evidence on the contrary, the objective meaning of action as established by understanding in accordance with common sense typifications - explained under 2.3. above - will be considered the result intended by the agent. (2) "Ahead displacements" will be allowed only on the basis of: i) generalized knowledge at hand about usual consequences - social or natural - of the result, consequences foreseable by almost everybody. (They will not be allowed when the agent lacks such knowledge, as in the case of a child for 13

Schutz (note 12), ps. 49 and 147.

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instance); ii) evidence supporting that the agent's knowledge at hand exceeds the general knowledge about usual consequences (a physician for instance). Evidence - may support also up to some extent the degree of such excess of the actual knowledge the agent has (it is the content of a paper published by a scientist, for instance); iii) evidence concerning actual behaviour by the agent (robbery after murder allows saying that murder was committed "in order ton robbery). (3) Back-displacements will be allowed only on the basis of lack of ability or skill by the agent: i) this is the rule when learning any ability; ii) after the ability or skill was acquired through learning, the agent may lack the ability permanently or on a particular occasion due to a decrease of his capacity caused by desease, fatigue, alcohol, etc. (4) Back-displacements which have no basis in lack of ability as explained in point (3) will not be allowed at all. They do not occur in reallife of people and as a consequence are of no interest for social sciences. They are just an artificial construction of philosophers of action. 14 According to Schutz the agent has an objective or purpose which Schutz calls "motive for". For instance the "motive for" robbery could be to obtain some amount of money without delay. This "motive for" has to be distinguished from the true motives which Schutz calls "motives because". For instance we can say that the agent committed robbery because he is unemployed, grew up in an orphan asylum and afterwards was conditioned to live expensively. "Motives because" are influences (causes?) which explain why he projected such action. Purposes ("motives for") are conscient to the agent while "motives because" remain obscure to him when acting. 1S 2.5. Social science as second degree constructions

The inquiry about the "internal aspect" of action - with the addition of the rules we propose - matches finally with the "external aspect" explained above under 2.3. This enables us to deal with our major concern which is to establish social sciences methodology: what is peculiar to the social sciences method, and different of the method proper of natural sciences.

14 I mean for instance the theory ofbasic acts as developed by Goldman. For the theory ofaction the search for "basic acts" is like the "atomistic" notion ofperception as a set of sensorial data built by empiricist Psychology, successfully criticized first by Gestalttheory authors. See: A. Goldman, A theory of human action, Princeton University Press, New Jersey 1976, Ch. III, section 4, ps. 63 to 72. 15 Schutz (note 12), p. 50.

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2.5.1. Natural sciences and common sense constructions Taking the Lebenswelt as starting point, the concept of Nature (Physis) is an abstraction which leaves out persons, their lives, their social interaction, etc. However the Lebenswelt consists basically of human interaction as stated under 2.3. above. The acultured common sense constructions will determine then not only the objective meaning an action has for the members ofthe group but also what kind of events are there to be observed. This view would be rejected by former empiricists who assumed without criticism that there are pure and simple facts. This view was later abandoned and it was recognized that all observations contain a "theoretical charge". 16 Schutz stressed the same point following the opinion of many important philosophers he quotes: pure facts do not exist; all of them are interpretedJacts. 17 Common sense acultured constructions give (in the Lebenswelt) the interpretation included in the events people observe. Let's put an example: epileptic convulsions were once interpreted as possession by a spirit. Facts so interpreted by common sense constructions may serve as starting point for natural scientists. However he has to substitute his own set of hypothesis and theories for this primitive "theoretical charge" in order to develop natural science. This is for instance what psychiatry has done with epileptic convulsions. The natural scientist will change the "observable facts" he tries to explain by adding some facts or may be substracting others in order to obtain the set of facts which constitute the "empirical basis" of his science, allowing contrastability to his theories. With the growth and development of a science, the facts included into the empirical basis accepted by the community of scientists become the new starting point for future inquiries and contrastations and "facts" as interpreted by common sense constructions finally have no place in science and its empirical basis. 18 2.5.2. Social sciences and common sense constructions The social scientists approach should be quite different. If we accept that human action is, roughly speaking, the subject of social science and accept the conception of human action developed under 2.3. and 2.4. above, we have to conclude that common sense typifications of actions and courses of behaviour constitute apart which cannot be separated from the very subject of social science. Schutz makes the same assertion although the wording he employs is somewhat different: He says that soclal sciences are constructions of second degree relative to constructions of first degree made by the authors of sociallife. Harold P. Brown, La nueva filosofia de la ciencia, Tecnos, Madrid 1984, p. 105. Schutz (note 12), p. 36. 18 In our opinion common sense knowledge constructions have, however, an important role in the "conventional" point accepted by scientists to stop constrasting theories of lower and lower degree (see: K. Popper, La lögica de la investigaciön cientifica, Tecnos, Madrid 1982, p. 99). 16

17

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Common sense typifications allow the social scientists delimitation of courses of action having the same objective meaning which will be the result of such courses of action. This result will be considered the purpose the agent pursues, the "motive for" of the action (internal aspect). Once the scientist has so limited the kinds of courses of action he wants to investigate, he goes on by constructing a typical pattern for such courses of action. This pattern of action constructed by the scientist includes only the elements which are relevant to the course of action investigated. The pattern is assigned to a model of agent endowed with conscience. The agent model is imagined as purposeful and rational (up to some degree). However the conscience he has contains only the elements relevant for the course of action pattern as constructed by the social scientist. This fictitious conscience contains only the "motives for" typical for such a course of action. Only some "motives because" which are considered typical enter the pattern as causes of the typical "motives for". 19 This model of agent is not a man with his biography, fears, interests and ambitions. He is rather an homunculus (the homo economicus, the homo juridicus, etc.) having only the invariable motivations, and the rest of elements relevant, attributed to the model by the scientist. He will act in any given occasion in accordance to the typical pattern constructed by the scientist. So this pattern gives account of all actual courses of action made by real agents in the social scene provided they conform with the constructed pattern. The pattern gives account of such courses of action because it allows to derive them from the purpose of the agent. The typical "motives because" included into the pattern allow also to explain actual courses of action at the social scene in causal (or next to causal) terms. 20 Social sciences have to elaborate particular proceedings alien to those proper of natural sciences in order to match them with common sense experience of social world. This, as a matter of fact, is what all theoretical sciences of human affairs have done: economics, sociology, legal sciences, linguistic, cultural anthropology, etc. 21

Schutz (note 12), ps. 37, 65 and 80. The statistics model will be the proper for this causal (or next to causal) explanations considering that human beings have ex hypo thesis, motivations not included into the pattern proper to the model agent. Statistics model and propensional theory on probability as explained under note 2 above justify speaking of "next to causai" explanations. 21 Schutz (note 12), p. 79. 19

20

19 Festgabe für Alois Troller

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3. The method of legal science 3.1. Normative common sense constructions

Schutz was concerned with common sense knowledge constructions. They typify what kind of action some course ofbehaviour iso However day by day life ( Lebenswelt) includes some common sense constructions typifying some courses of actions as actions consisting in preventing or impeding some action, and actions consisting in forbidding or permitting some courses of action. As a matter of fact these kinds of actions consisting in impeding, directions, chastisments and rewards are an important part of the process of aculturation in itself during childhood. "Don't do it" is perhaps the phrase more frequently used by fathers in addressing to their children. What the objective meaning of these actions is? Applying the phenomenological method explained under section 2. above, we should say that the purpose of such actions is to influence behaviour. This influence differs from causation - as would be for instance, to "influence" behaviour by means ofusing drugs -. The result of this kind of actions is to establish a rule for behaviour. The influence a rule has over behaviour presupposes freedom of choice by the agent to whom the rule is addressed (in accordance with common sense constructions under consideration). When these courses of action become institutionalized in a society they provide a set of rules which, as a matter of fact, influence behaviour. We say then that the set ofrules ispositive (Law, Morals, Courtesy, Fashion and so on). Any positive set of rules may be considered as a way of social control. In accordance with our views the common use ofthe word "law" makes reference to a positive set ofru/es governing interferences ofbehaviour between two or more subjects to be decided by actual impediment as a last resort. 22 3.2. Sources of /aw as normative constructions

Normative common sense constructions made by the same authors in the social scene hold not only for law but also for all positive set of rules as defined in point 3.1. above (Morals, Courtesy, Fashion, etc.). For all of these "systems" normative common sense constructions main point is that of the sources i. e.: typified actions or courses of action having the virtue of introducing or subtracting rules into the set of rules. We will deal here only with sources oflaw. In a broad sense the common sense constructions include sources of particular rules. As for instance would be an order to stop given by a policeman, adecision by a court, etc. 22 This notion ofLaw as distinct ofMorals was the main point made by Tomasius and Kant. Nowadays Del Vecchio and Cossio developed the distinction.

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However due to the principle of minimum or formal rationality which holds for large andj or civilized countries at least for most courses of behaviour, we will pay attention - in accordance with a weil established tradition in jurisprudence - to sources 0/ general rules. Constructions made by the authors ofthe social scene include custom, as one of the main sources. Custom should be defined as the repetition of particular actions which: (1) are ofthe same specific kind and (2) they have in addition the same legal meaning. 23 Another source ofthe law generally accepted is statutes enacted by Parliament which roughly speaking are general prescriptions. Mentioning of this two different kinds of sources will be sufficient for our present purpose. Howeveras advanced under 2.3. above - none of the sources which as a matter of fact are constructed as such by the authors in social scene should be left out. 3.3. Constructions

0/ second degree by legal science

Sources of (general) legal rules are the first degree constructions which the legal scientist has to elaborate in order to obtain a (scientific) second degree construction giving account of positive law. The function of general rules - as we will see below - is to justify decisions in particular cases. For a legal scientist there is first the need of interpretation (or construction). The words of a precedent or even the words employed by a Code, are just words. The legal rules are not the words included in the prescription but the meaning of such words. What really matters is the meaning of the prescription as a whole. Or, more precisely, the meaning ofthe set ofprescriptions which will be used to decide a case. Now the rule ofthe common use ofwords will be useless in order to find the meaning relevant for lawyers and courts. This assertion is supported by the fact - known by every lawyer - that changes in interpretation by the courts occur under considerations of utility, policies, interests and j or values in spite of the fact that the meaning of words employed by legislator did not change at all in accordance with the "common use" rule. Supposing general legal rules in accordance with sources were finally established through interpretation. Now the legal scientist has to take the set of rules under consideration in order to construct with it (as far as possible) a deductive system. 24 Finally legal scientists will try to construct a theory. A theory includes terms which have not been included in the empirical basis of science given by understanding in social sciences. The theory should have, however, logical consequences which may be experienced. Usually legal scientists undergo this 23

24

J. Vilanova, Original constitution of legal meanings, quoted above, section 7. J. F. Linares, Los sistemas dogmäticos en el derecho administrativo, Fundaci6n de

Derecho Administrativo, Buenos Aires 1984. 19·

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higher construction which is a theory under the label of "nature" of some legal institution, which has been criticized as a form of Aristotelian essentialism. However let us take some theories deserving some respect: for instance theories about possession as advanced by Savigny or Ihering, or about patrimony by Aubry and Rau, or about persons (entitled to rights and having duties) by Kelsen. Theories indude amongst their logical consequences not only the legal rules obtained by interpretation oflegal sources but also many rules which will be induded in the set of applicable legal rulesalthough they are not mentioned at the "sources ", nor obtained by interpretation of them. 3.4. Formal rationality and judicial syllogism

Social control of communities consisting of many people - most of the countries at present - cannot be done through particular prescriptions. General legal rules are required. Although these general rules may be unjust or even irrational (for instance discrimination based in religion, race or sex) anyway general rules entail a minimum degree of rationality. Provided that particular cases should be decided in accordance with general rules, cases which are equal in accordance with applicable general rules, will deserve an equal decision. This rationality obtains in law and is the core ofthe so-called legal or judicial syllogism. 2s The main point of critics of judicial syllogism is the already discussed need of interpretation. But interpretation concems the source and not the legal rule which is an outcome of interpretation. Once assessed the applicable general legal rule,judicial syllogism is the canonic model for legal reasoning, isomorphic to the deductive-nomological model for explanation in natural sciences. A general legal rule is the Major Premise establishing a kind or dass of legal consequences for the occurrence of a fact or some action pertaining to some kind or dass of facts or actions: After evidence it is asserted that a fact or action pertaining to the kind mentioned by the general rule has occurred. The two premises entail that the Judge has to pass judgement in accordance with the legal consequences mentioned in the general rule. Now it seems obvious that formal validity of reasoning accounts for rationality and not causality or determinism more or less involved in the deductive-nomological model used in natural science. 3.5. Contrastability

As admitted in natural science contrastability of a higher level theories may be done by comparison with lower leveliaws. The same holds for legal science. For 2S J. Wroblewski, Silogismo legal y racionalidad de la decision judicial, Cuaderno de Trabajo n" 19, Maracaibo 1977.

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instance Ihering refutes Savigny's theory concerning possession pointing out that sources recognized possession even in {;ases where corpus was absent ( saltus ivernus ac aestivis). In what the lowest level of general legal rules as constructed by legal science is concerned, contrastation in order to establish their truthfulness or falseness will be done with the empirical basis. Elements forming empirical basis are provided in social sciences by understanding ofhuman action. What makes true a general legal rule constructed by legal scientists is its actual - "being in force". The actual "being in force" of general legal rules can be investigated by legal scientists just looking at the empirical basis as provided by understanding. Lawyers usually take court decisions as the most important element of the empirical basis and will say that a general rule is in force in case that it is applied by the courts (of course there is a problem of degree here) and will say that the rule is not in force in case the courts do not apply it. The general legal rule constructed by the legal scientist admits so the "true" - "false" predicates. The glance required may be wider than to look at court decisions. For instance the way people act openly without hiding their courses of action from authorities may be evidence of desuetudo of legal rules constructed on the basis of prescriptions enacted by authorities. Finally there is nothing wrong with the twofold role recognized to jurisprudence as being both legal science and one ofthe sources oflaw. All social sciences may affect the subject of their inquiries as may be seen with the well known selfperforming prophecies. However it is not the pure inquiry proper of science which has such effect but publication of the inquiry. Publication is a fact, and we should not be astonished by a fact producing some efTect. Legal science before publication is just legal science which may be true or false. After publication can become a source of law as far as it becomes apart of the knowledge at hand of Judges, lawyers, etc. -

Philosophy of Law and the Study of Legal Reasoning Some Interrelations By H. Ph. Visser't Hooft, Utrecht The idea developed in this short contribution is that there is a large measure of circularity between the philosophy of law and the study of legal reasoning: understanding legal reasoning from a structural point of view is largely dependent on general legal theory, but this theory may be strongly influenced, itself, by the analysis oflegal reasoning. A process of"Hin- und Herwandern des Blickes" probably is the answer to this uncomfortable challenge; there 1S, as it were, no fixed point at which we can stare in order to grasp the full reality oflaw. We must approach this full reality through the mutual adaptation of our theoretical views and of our analytical findings. 1. I start with the impact of general legal theory on the understanding oflegal reasoning. A clear example can be found in Dworkin's criticism of Hart!: Dworkin teils us that Harfs "positivism", with its insistence on rules, and its claim that legal rules are to be identified by their institutional pedigree (rule of recognition), closes doors to the understanding of legal reasoning which should be kept open in order to grasp the full complexity ofthe latter. In particular, the crucial role of general principles, which judges take account of without the backing of any clear rule of recognition, cannot be accounted for in Harfs model. Can Dworkin's criticism be upheld? MacConnick 2 suggests that it cannot, because general principles are typically discovered within the substance ofpositive law itself(N. B. this is my tenninology, and not MacConnick's); "the principles which are principles oflaw are so because oftheir function in relation to (rules oflaw)", this function being one ofretrospective rationalization. Thus, there is a relation between the rule ofrecognition and principles oflaw, albeit an indirect one. I myselfhave strong doubts whether it always is easy to fit general principles within the framework of Harfs theoretical stipulations. There surely are important cases in which judges have introduced general principles which they have discovered within the law's societal (moral) surroundings, and not within the ambit of positive law itself. Thus, the revolutionary interpretation of art. 1401 of the Burgerlijk Wetboek by the Hoge Raad in 1919, which introduced a general duty ofcare in the Dutch law oftorts, cannot in any way be considered to "rationalize" rules of law which existed at the time. An independent status, 1 2

Ronald Dworkin, Taking rights seriously, London 1977, eh. 2. Neil MacCormick, Legal reasoning and legal theory, Oxford 1978, p. 233.

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derived from moral insight, is attributed to general principles by the greatest analyst oflegal reasoning in the Netherlands, Paul Scholten. 3 Identical views are expressed in a very general way as to French law by Jeanneau 4 : very important principles ofFrench law, such as the "continuite des services publics", cannot be "degages des lois existantes". If other principles can, "par un effort d'exegese", the link with such an "ensemble de textes" is so tenuous "que nous apercevons difficilement par quel processus le principe en cause pourrait bien heriter de la force obligatoire qui s'attache aux textes dont il est issu". Whatever the exact merits of Dworkin's criticism of Hart (they surely are not negligible), this criticism makes us very much aware ofthe intriguing possibility that we still may have no model of law true to the "complexity and sophistication of our own practices" . 5 Shaping a "model" of law has a potential impact on our understanding of legal reasoning; so has, probably, any sort of account we want to give ofthe law's "inner nature". I would like to suggest that a full description of legal reasoning cannot be made in any serious way unless one links the many types of argument which lawyers consider to be relevant with the many sorts of"authority" which it is the function of law to bring together. The interpretation of statutes or precedents basically implies the authority of certain texts which embody the law's "givenness", its claim to positive existence, to certainty. Arguments of a conceptual nature (f. i., arguments from analogy) are fundamentally related to the law's search for inner consistency and coherence, i. e. for systematic unity (a search which can be traced itselfto the claims offormaljustice). Arguments on the level of substantial justice and policy, i. e. "consequential" arguments in MacCormick's terminology, have to do with the necessary response oflaw to the needs and moral sense of present-day society. Studying the strategies of lawfinding thus is identical, in the end, with exploring the basic structures and values oflaw itself: the analysis oflegal reasoning requires a full-fledged theory oflaw. In short, lawyers reason as they do because they are lawyers, and what lawyers are committed to therefore must be our final problem. I stressed the "explanatory" impact oflegal theory on legal reasoning. Is there, also, a "causal" impact - does legal theory, by itself, have a direct influence on the ways in whichjudges find the law? This should, at first sight, be answered in the negative. Such an influence must, at the very least, be difficult to trace. But there probably is an "implied" theory oflaw, in any country and at any moment ofhistory (the theory oflaw ofthe time and place) to which theorists, taken as a group, do give explicit nourishment, and which strongly fashions legal reasoning. The relative weight of "text", "system" and "teleology" does very much depend upon the views we have conceming the proper tasks of a legal P. Scholten, Verzamelde geschriften 1949, Deel I, p. 403. B. Jeanneau, La nature des principes generaux du droit en droit fran~ais, in: KahnFreund, A source-book on French law, Oxford 1973, p. 162. S Dworkin (note 1), p. 45. 3

4

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system. 6 This must make us doubt whether there can be any well-defined and timeless legal methodology - a doubt which we should entertain all the more since lawyers combine (as we saw they do) hermeneutical, dassificatory and valuational modes of thought. Law, perhaps, is not one thing, but a peculiar combination of things. We must beware of single-track models. 2. Is it perhaps less dear that the study oflegal reasoning may by itselfhave an impact on legal theory? Dworkin's criticism ofHart, which lalready referred to, shows this to be otherwise: the factual workings oflaw-finding (in casu the use of general principles) here offer an easy starting-point for a debate concerning the concept of "law" as such. This starting-point can carry us very far. Whatever mixtures we may observe, in reality, between the level of"rules" (applicable in an all-or-nothing fashion) and the level of "principles" (which have, instead, a dimension of "weight"), a typology which stresses for analytical ends the difference between these two sets of norms, and which is sufficiently rooted at the same time in a precise description of cases to make us aware of the very important role played in actual practice by the second set, strongly confirms a non-positivistic view ofthe law, according to which legal systems have an "open texture" in relation to their moral surroundings. 7 General principles, indeed, can largely be identified with values. 8 Though consisting of"rules" at their operative end, legal systems also contain a large collection of principles, the mutual ordering ofwhich (on a case- by-case basis) largely explains the inner dynamics of these systems i. e. the development of the body of rules itself. For principles (values) continuously dash with each other: Robert Alexy interestingly refines Dworkin's analysis by considering them as "Optimierungsgebote". "Der für die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien entscheidende Punkt ist, daß Prinzipien Normen sind, die gebieten, daß etwas in einem relativ zu den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohem Maße realisiert wird ... Der Bereich der rechtlichen Möglichkeiten wird durch gegenläufige Prinzipien und Regeln bestimmt. "9 The task of legal reasoning as an argumentative process is one ofmutual adjustment, compromise, "Abwägung" between conflicting values; this process, which is the substance of the living law, cannot be "seen" on the level of rules. Indeed, it stands behind the rules themselves. 6 A recent attempt to interpret modern developments in Freneh and Belgian lawfinding in terms of successive legal theories ean be found in eh. Perelman, Logique juridique (Nouvelle rhetorique), Paris 1976. Pitlo, De evolutie van het privaatreeht, Haarlem 1969, eh. VIII, presents views eoncerning the evolution oflegal reasoning (Pitlo mentions f. i. the 19th-century fondness for "a eontrario" arguments) whieh refer not to legal theory as sueh but to more general patterns of thought. 7 Robert Alexy, Rechtsregeln und Reehtsprinzipien, Paper for the 1983 IVR Congress (Helsinki). 8 Ibid., p. 20. "Prinzipien- und Wertkollisionen können als dasselbe, einmal in deontologischem und einmal in axiologischem Gewand angesehen werden". 9 Ibid., p. 12.

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One could object that an open, dynamic model of law is nothing new in legal theory. It is'nt. The newer, more analytic trend in the study of legal reasoning however has the virtue of asking for such a model in order to explain the facts. 10 3. Now, learning from "law" what "legal reasoning" is, and the other way round, strongly depends upon some continuity being acknowledged from the start between "law" as an object of conceptual investigation and "law" as a complex of law-finding practices. This may seem to be a matter of course: how could law be studied without taking account of the ways in which it is determined in concrete cases, and how could legal reasoning be understood without some notion ofwhat the word "legal" stands for? Even Hart's so-called "positivism" shows a proper awareness of this; it tries to counter Dworkin's arguments, but it does'nt shrug them off as being irrelevant. However, perceiving a common ground at all between the one and the other perspective itself depends upon a further presupposition. Legal reasoning cannot be taken seriously if it is not considered to be a manifestation of practical reason. Should the actual "production" oflaw on the judiciallevel (and also, in some respects, on the legislative level) be considered to be synonymous with the exercise of irrational will, it is clear that nothing could be leamed from it. But then, philosophy of law would have to retire within the fastness of a mere formalism, such as Kelsen's. This shows the importance of recent attempts to formulate a clear conception of practical reason, and to locate legal reasoning within this wider field. Philosophies which do not admit some structure, some "logics" to exist within the compass of practical thought, undermine the perception of law as an on-going argument.

10 Ibid., p. 17 -18 and 20: the study of general principles in their actual operation makes it impossible to propose "eine starke Prinzipientheorie" , according to which legal systems contain a set of precise "Vorrangrelationen" (i. e. orderings) between principles, which predetermine all decisions on actual cases. I cannot discuss here the intriguing fact that Dworkin himself wants us to think in terms of such a "starke Prinzipien theorie" .

v. Soziale Konstitution

der Wirklichkeit des Rechts

Philosophy of Law at the Crossroads? * By Aulis Aarnio, Helsinki This essay deals with the changes - and the challenges brought about by those changes - that philosophy of law will have to face at the end of this century. In other words, this treatise may weIl be understood as a kind of forecast ofthe future devel opment in legal theoretical thought. Recognizing the difficulties in predicting societal afTairs in general, one has to admit that foretelling the course of intellectual activities is even more hazardous. Only in an extremely general sense can one state that human thought would follow some certain paths of development. Such a claim would be a heavy underestimate of the innovative elements inherent in human thought. Nevertheless, the issue can be approached from quite point ofview as weIl. No school of thought has ever got birth in a total vacuum. As part of an intellectual tradition it is always areaction to something else, and in case of legal philosophy that "something else" is a certain sodal event or direction of sodal development. 1 One important task of legal philosophy is then to "grasp the reality" conceptuaIly, i. e. to make it conceivable what is currently taking place in society. When taking to predict the future state oflegal theory, the direction of development in society can therefore be taken as the starting point. In other words, philosophy of law be an efTort to analyze current legal problems also at the turn ofthe on-going century. What could such problems be like - that is the key question of my forecast. Before entering the main subject I feel I ought to remind my reader ofthe fact that a "forecast" of e. g. future intellectual activities mayas weIl be a mere guess or a wish ofhow things should be in time to come, only dressed in the disguise of scientificity. However, let the arguments speak for themselves now. The reader will naturally be the final judge at to the weight of those arguments. To a high degree, philosophy of law - as legal thinking in general - is a product of the society. The cause-and-efTect relationship between those two is not, however, a direct or unambiguous one. Rather one could speak of an interaction between legal philosophy and society: legal philosophical analysis help people to conceive the state of social afTairs and to steer social development into the direction desired. I take an example. • Translation by Raimo Siltala, LL. M. Aulis Aarnio, The Development of Legal Theory and Philosophy of Law in Finland, in: Philosophical Perspectives in Jurisprudence. Acta Philosophica Fennica, 1983, p. 9 pp. 1

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During the latest decade, legal theoretical thought in various parts of the world has very much focused on the analysis ollegal decision-making. 2 The term argumentation theory has also been used in this context. Some eminent scholars have paid their attention to the description of how legal decisions are actually reached. 3 Most scholars, however, have concentrated on thejustification ollegal decisions. 4 Has the object of study been selected by chance, or by a collective agreement made by the scholars involved, or because such study should be "in fashion" among the scholars? I doubt it. In fact it is fairlyeasy to point out several social reasons for this kind of research interest. S Without going to the details, the generalloss of belief in authorities in all the industrialized countries, the rise ofthe level ofknowledge -which in part explains the former reasonand the so-called value revolution can be mentioned. Reasons of more basic character can be found for the ones mentioned above, but they as weil have their origin in the very same society. Bearing this in mind, it is only natural that legal decisions justified only with reference to the authoritative position of the decision-maker have aroused wide research interest among the scholars. The need to understand the nature oflegal decisions and to criticize them comes from outside legal theory. The scholars not act independently when choosing the topics oftheir scholarly activity. They live in a society and react to the cognitive needs of that society. An explanation like this leaves a lot open for questions, though. Asking e. g. what is it in judicial decisions and administrative praxis that makes the problematics of legal justification so topical. A reference to the breakdown of authorities or to the value revolution are all too general to give firm ground for the further development of the issue. Therefore, I will comment some ideas presented by Jürgen Habermas, the eminent German philosopher and sociologist, whose main work is the impressive "Theorie des kommunikativen 2 See e. g. Chaim Perelman, The New Rhetoric, in: Pragmatics of Natural Language (ed. Y. Bar-Hillel), 1971, p. 148 pp.; Ottmar BaI/weg / Thomas-Michael Seibert (Hrsg.) Rhetorische Rechtstheorie, 1982; Andres Ol/ero, Interpretacion dei Derecho y Positivismo Legalista, 1982; Martin P. Golding, Legal Reasoning, 1984; Robert S. Summers, Types of Substantive Reasons: The Core of a Theory of Common Law Justification, in: Cornell Law Review, vol. 63, 1978, p. 724 pp.; Aleksander Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, 1983; Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978. The list given above is no more than a sampie ofthe many treatises published in the field. As such, however, it indicates that the theory oflegal decision-making is being analyzed within various legal cultures, from various points ofview, and that the scholariy activity is still keen in the field, as one can see from the years of publication of the treatises. 3 E. g. Bannu Tapani Klamithinks like that in: Legal Heuristics: A Theoretical Skeleton, in: Oikeustiede-Jurisprudentia 1982, p. 5 pp. 4 E. g. Aulis Aarnio / Robert Alexy / Aleksander Peczenik, The Foundation of Legal Reasoning, in: RECHTSTHEORIE 12 (1981), p. 133 pp., p. 257 pp. and p. 423 pp. (translation in German: Metatheorie juristischer Argumentation, Krawietz / Alexy, [Hrsg.], 1983). s Ibid., p. 133 -134.

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Handeins, 1-11" (1981). Even if Habermas' ideas were not interpreted quite literally, they seem to open an interesting view over some core issues oftoday's society. Besides, they elucidate the background of the current Finnish legal theory as well. Habermas draws a distinction between "das System" and "die Lebenswelt" . The System includes politics, administration and jurisdiction. All these three are govemed, as Habermas thinks, by an instrumentalistic way of thinking. For instance, administration is basically the search of means to achieve certain goals. Though the goals are not always either clearly expressed or even conceived by the authorities, administration still is and will remain to be "an art ofmeans".1t is based on a strongly instrumentalistic ground. It is characteristic for the modern society, which has much in common with the scientific-technical way of thinking, that the goals are selected to a high degree by a kind of technical rationality.6 Academician G. H. von Wright describes the matter with the following words: "I believe that in theory as weIl as in practice there exists a tendency to reduce all need-oriented questions to goaloriented questions. In the modern society this tendency has nurtured the strive to regard all social problems as "technical" ones, which can be solved by the "experts" with the help of different kind of goal-means methods. What is then easily forgotten is the fact that what is needed depends on whether the goal itself is necessary for human welfare. And that question cannot be solved by any ordinary expert whatever. "7 von Wright refers here to Max Weber's weIl-known concept of "Zweckrationalität". 8 Goal-orientation attaches a distinct form of rationality to actions and things. Every thing is conceived instrumentally, as a means to a certain goal.

According to von Wright, technical development and industrial production represent the kind of goal-oriented rationality that has cast a shadow over everything else in our culture. 9 Technical rationality not only determines the means hut the goals, too. Technological culture creates needs that are without any doubt presumed to be for the welfare of the human kind - without ever asking whether those objectives are indeed worthy or acceptable. Do we in fact need what we are claimed to need? As von Wright reminds us, that question cannot be solved by the authorities.1t is for the ordinary people, for the members of the civil society to decide. Ilkka Niiniluoto writes about the same issue with words: "The human kind has a future only if he makes conscious and weIl-justified choices as regards technology. Political activity led by mere instincts does not count for that, since 6 E. g. Aulis Aarnio, Murusia matkan varrelta ("Some Older Ideas, Some New Ideas"), 1985, p. 26-27. 7 G. H. von Wright, Tarpeesta ("On the Concept ofNeed") in: Ajatus 41 (1984), p. 33. 8 Ibid., p. 33. 9 Ibid., p. 37.

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it calls for determining life-fostering value goals as well as obtaining reliable knowledge of the elose and remote effects of the choices made." 10 In Niiniluoto's mind it is primary to outline what kind oflife the human kind wishes for itself on planet earth, and only thereafter to look for means to reach that goal or to foster its realization. If this is not done, some things may be believed to be absolutely worthy as goals for mankind, with science backing that kind ofbelief - without realizing that in the long ron they might be quite perilous to the whole human kindY Taking still one more example of the very same topic, Henryk Skolimowski writes about how modern technocrats regard themselves as the today's Prometheus of progress. The many efforts to arrange social affairs with utility in mind is one typical feature of the technical rationality of our time. 12 The ideas presented by Habermas are very much alike those already commented upon. However, he also makes a theoretical effort to conceptualize some characteristics of this development. Habermas thinks that the "System" has step by step become detached from "Lebenswelt" , and it has begun to live its own life following its own roles. Politics becomes detached from people, administration becomes bureaucratized, and jurisdiction becomes more and more technical. 13 Ordinary people get alienated from the System. They do not act as citizens in their social relationships anymore, but as subordinates. Instead of being subjects, they have become objects. 14 "Lebenswelt" is governed by rationality of totally different type. Habermas names it communicative rationality, "kommunikative Rationalität". In the domain of "Lebenswelt" life is still a total whole, in which people may act as 10 Ilkka Niiniluoto, Ihminen ja tekniikka ("Man and Teehnology"), in: Ajatus 41 (1984), p. 19-20. 11 See also what Simo Knuuttila writes about the issue in the artic1e titled "Uuden ajan alun filosofisten ihmiskäsitysten uutuuksista" ("On the New Ideas of the Coneept of Man at the Beginning of the Modern Time"), in: Ajatus 41 (1984), p. 133. 12 Henryk Skolimowski, Ekofilosofia ("Eeophilosophy"), 1983. 13 Aarnio, Murusia matkan varrelta (note 6), p. 51-53. 14 See e. g. Joachim Israel, Vieraantuminen ("Alienation"), 1971, p. 11 pp., p. 119 pp. and p. 292. Erich Fromm writes interestingly about the matter using the term automatie eongruence. See Erich Fromm, Pako vapaudesta ("Eseape from Freedom") 1976, p. 163 pp. It is interesting to eompare Habermas' thoughts with Ludwig Wittgenstein 's eonception of the tasks and nature of philosophy. G. H. von Wright states that "the problems of philosophy have their roots in a distortIon or malfunetioning ofthe language-games whieh 1D turn signalizes that something is wrong the ways in wh ich men live" (underlining here). Later on von Wright eontinues to elaborate the theme: "Had Wittgenstein lived to see the sixties and seventies of our century he would, no doubt, have found plenty to reinforce his view ofthe dangers of self-destruetion inherent in the nature ofmodern industrial society." -See von Wright, Wittgenstein, 1982, p. 207 pp. and p. 211. Translated to the terms used by Habermas, this eould mean that eommunieation (the language-game of eommunieation) does notfunction. See Aulis Aarnio, The Rational as Reasonable. A Treatise on Legal Justifieation (fortheoming 1986).

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subjects. There one may still act and communicate in relation with other people who also have the same competance. The objective of all this activity is to become understood and accepted by the others. 15 Human communication can be successful only ifit takes place in an intelligible way. Therefore, communicative rationality is argumentative. In Robert Alexy's words, rational discourse, "rationaler Diskurs" is characteristic of this part of reality.16 In addition to the detachment of the System and "Lebenswelt" from each other, Habermas points out still another aspect in the development of society. Besides that the instrumentalistic character of the System has begun to govern people's social relationship, the System itselfhas an effect on "Lebenswelt" , too. Habermas writes about the colonializing effect of the System on "Lebenswelt" . The term is a very descriptive one, when one bears in mind the core of colonialism: to govern violently an alien culture. In practice, the colonializing effect of the System can be seen in that everything becomes interpreted goalrationally. As already said, the communicating citizen becomes a subordinate to politics, administration and jurisdiction. Simplifying the matter quite roughly, one could state the claims about the "politicizing" process going on in society has something in common with what was said above. 17 On the contrary to what one might think, Habermas does not take a romantic stand for the "original Lebenswelt" against all kind ofmodernization development. There is no return to things gone by. The wheel of development cannot be turned to roll entirely backwards. But, since the techno-structure of society is manmade, so man has the power to influence the future course of social development. Using Habermas' conceptual scheme, this means that we have to bridge the gap between the "System" and "Lebenswelt". According to Habermas, there is only one means to achieve this: by letting communicative rationality have the value it deserves. Habermas approaches the issue with the help ofthe concept legitimacy crisis. If the System is allowed to function on its own, following its own rules, e. g. administrative praxis as "the art of means" legitimates itself. In other words; See also Aarnio, Oikeussäännösten tulkinnasta, 1982, p. 167 pp. Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, p. 219 pp.ja especially p. 261 pp. It is worth noting that Habermas draws a distinction between four kinds of propositions occuring within the domain of communicative rationaIity: descriptive, normative, evaIuative, and expressive. Truth is the criterion for the descriptive propositions, "Richtigkeit" for the normative ones, "Wahrhaftigkeit" for the evaluative and authenticity for the expressive ones. F or our purposes, the category of normative propositions is of most significance. According to Habermas, the "Richtigkeit" of these propositions is judged with the heip ofthe "Richtigkeit" ofthe values involved. Using Weberian term, one could speak of value rationality ("Wertrationalität") as the criterion for the normative propositions. - See Habermas, Theorie des kommunikativen Handeins, 1., p. 60 pp. 17 I have treated this issue in another connection, stating that the demarcation line between private, common, and public afTairs has got blurred, and that there seems to have been a tendency to turn some private afTairs public. In some cases this has in fact taken place, Aarnio, Murusia matkan varrelta (note 6, p. 15 pp. 1S

16

20 Festgabe rur Alois Troller

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administrative praxis is legitimated by the very same administrative praxis. We face the same problem within the domain oflaw, as well. The valid legal system is often said to be a se1f-Iegitimating system. The legal norms validate themselves. It is certainly true that, in asense, this kind of property is indeed attached to the legal system and the legal norms. In order to avoid a total chaos and anarchy, there need to be some norms which conduct human behavior. These norms are then called legal ones. Neil MacCormick has said that each legal system has to have such legitimating reasons, called underpinning reasons. 18 But, on the other hand, it is due to the underpinning reasons that the law has a kind of value in itself. That is, however, only one side of the matter, but perhaps a more problematic issue in today's society than before. Let us consider the so-called value revolutions. As a good example of them one could mention the many cases, in which some "green movement" - representing a reshaped value conception - has collided with the official administrative or judical decision-making machinery. The legal interpretations put forth in the legal and administrative praxis have been seriously questioned, and the representatives of the green movement have wished to interpret the contents of the law in a totally new way. The term alternative use of law has often been mentioned in this connection - in Italian "uso altemativo de1 diritto".19 When the legal interpretation presented by the officials is no longer considered the only valid interpretation of the contents of law, a crisis evolves. That crisis is called legitimacy crisis. 20 No "deeper" justification can be found for the officiallegal interpretations at the value basis of the society. A legal interpretation and a certain value conception are found to be contradictory. That is the core and essence ofthe legitimacy crisis. The matter can also be stated so that the (formal) law and morality are contradictory in that situation. According to Habermas, the core of the problem is that e. g. administrative decisions ought to be justified with the rationality prevailing in "Lebenswelt" as the final criterion. The final legitimation of administrative praxis has to be found in what is rational and reasonable in people 's "Lebenswelt" . The same goes with politics. Alienation can be avoided - or at least the extent to which it occurs can . be diminished - if politicans consciously strive at conveying the values prevailing in the civil society into the decision-making structures ofthe society. In other words, people's very own conception of their well-being ought to be heard in the political decision-making procesS. 21 In Habermas' words, the goals 18 Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, 1978, p. 62 pp., p. 138 pp. and p. 240 pp. See also Peczenik (note 2), p. 47. 19 Lars D. Eriksson, Marxistisk teori och rättsvetenskap, 1980, passim; and Lars D. Eriksson, Olika argumentationsmodeller, in: JFT 1979, p. 25 pp. 20 See also Kaarlo Tuori, Oikeusvaltiokäsitteestäja sen historiasta ("On the Concept of Rechtsstaat' and Hs History"), in: Oikeus 3/1981, p. 194 pp. 21 It is dear that the role of a politician indudes also other aspects than merely conveying the value basis of the civil society to the decision-making structures of that society. One function of rational social activity is to conceptualize and analyze the consciousness of the citizens.

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ofthe System have to be evaluated with the help of communicative rationality. That is the key question of legal legitimacy in my example case, as well. The legitimacy crisis connected to a value revolution or to some other social movement can be settled only if the decision made match the requirements of communicative rationality. Legal decisions have to bejustifiedin such a way that our more or less conscious expectations or rational and reasonable decisions are met with. 22 When searching for the legitimacy of legal decisions, we cannot, however, reject "legal technics", i. e. legal knowledge and skills of quite technical character, needed in legal interpretation. Such legal "craftmanship" is what differentiates the "professionals oflaw" from the experts of any other field. Yet the control of their activities has to be carried out also otherwise than merely keeping an eye on their technical abilities. A "legal technician" cannot be controlled by another "legal technician", if a socially acceptable decision is to be reached. Judicial and administrative decisions have to be not only formally (technically) correct but also in accordance with the prevailing value basis of the society. And the latter one can not be determined by lawyers only. Instead, the representatives of the legal profession ought to follow closely the subtile changes in the value atmosphere of the society. Should they lose their contact with the values of society, they need to be reminded oftheir responsibility. Otherwise the law will be interpreted on the terms of the System and the experts - "for the harm of the common people", in Olaus Petri's well-known words. 23 My lengthy analysis on some current social problems and the efforts to conceptualize them has been intentional. The previous discussion, I hope, opens some views as to the challenges that legal theory will have to face at the turn of this century. My "forecast" is quite naturally based on the assumption that the social trend described earlier will continue to exist for the following decade and a half, too.

There seems to be no reasons to doubt the significance of the theory 0/ legal decision-making also in time to come. With legal decision-making I refer both judicial and administrative decisions. They both involve the application of a legal norm to an individual case. Some factors affecting the relationship between legislation and social development seem to underline the importance of the theory of legal decision-making. The need for regulative activity is smaller in a society whose tact of change is relatively slow - compared to a society facing rapid and complex change. In the former, the amount of legal norms is smaller and their life is longer than in the latter one. As a good example of this is the legal codification for Sweden (and Finland) from 1734, which responsed to the needs of the agrarian Finnish society for astonishingly long aperiod. It is clear that a situation like that was made possible only by a flexible interpretation of the Aarnio, The Rational as Reasonable (note 14), passim. Arvot ja tuomarinohjeet, in: Studia Juridica 1982. Published in Swedish, titled "Värdena och domarregler", in: Festskrift för Jan Hellner, p. 7 pp. 22 23

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statutes, giving them such contents that fit better to the altered circumstances. The legal decision-maker thus had to continue the work of the legislator. That phenomenon is a frequent one always when an old and casuistic set oflaws is in use. Even a slow social change creates new kind of norm application situations, and for instance the need for analogical interpretation oflaws increased steadily as the laws grow older. That process, in turn, strengthens the position of the norm application bodies - in this case the position of the courts of justice. In today's Finland, the significance of the norm application activity seems to be growing for totally different kind ofreasons. The reasons for the process taking currently place are of two types: legislation concerning directly the status of the courts of justice, and the changing character ofiegisiation itself. The law reform which entered into force in 1980 (see the Code of Judicial Procedure 30: 3) has significantly restricted the right of a litigant to have his case decided by the Supreme Court. A permission to appeal to the Supreme Court may be allowed either because of the precedential character of the case or (e. g.) because the unity of national judicial praxis justifies it. Since only a very limited amount of cases now enters the Supreme Court, the precedential weight of the decisions given in those cases has increased accordingly. As the decision given by the Supreme Court of Justice in Finland were endowed with more significance as prejudicates by arecent legislative act, the directing function of the courts grew in importance at the same time. This tendency involves at least two kind of problems. On one hand, the decisions given by the Courts of Appeal become in most cases final, since the right to appeal to the Supreme Court of J ustice was significantly restricted. When taking into account the number ofthe Courts of Appeal in Finland (7), it is possible that the restriction on the right of appeal will gradually loosen the uniformity oflegal praxis. Strengthening the prejudicative weight of the decisions given by the Supreme Court cannot ever wholly replace the role the Court has as a supervisor of the uniformity of the nation-wide legal praxis. After all, the prejudicates always concern individual cases. The other possible disadvantage introduced by the reform ofthe right of appeal is related to the same matter. There seems to be a tendency to issue a general and abstract legal norm in the Supreme Court decisions, instead of an application of an already existing norm to an individual case. In other words, the court exercises legislative power, which is the constitutive right of the Parliament - not of jurisdictional bodies. If that line of demarcation is not kept clear, the doctrine of the division of the three basic constitutional powers (legislation, jurisdiction, administration) becomes vague. As concerned the doctrine of the division of the constitutional powers, the altered relationship between the Supreme Administrative Court and the Government has been discussed much lately. The question deals with drawing the distioctioo betweeo the legal and administrative issues. The former ones are decided authoritatively and finally by the Supreme Administrative Court, while the latter ones belang ioto the domain of governmental discretion. Several

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scholars have stated that the Supreme Administrative Court has taken to decide more and more such cases which ought to be directed to the Government. This is said to be true especially in matters dealing with land planning. If such a tendency can indeed be recognized, it naturally brings with it the strengthening of the status of the jurisdictional bodies. The doctrine of the division of the constitutional powers gets blurred as concerns the line between jurisdiction and administration. The perhaps most important question, however, deals with the functions and possibilities oflegislation in the modern society. It seems evident that legislation can not be replaced by civillaw contracts, social practices, etc. Quite on the contrary, the principles of democracy require that the constitutional powers of the law-enacting body - i. e. the Parliament - are strengthened still. Legislation is the means to continue the democratic tradition. On the other hand, when the tact of social change is extremely rapid and the social relationships get more and more complex, legislation process runs into difficulties. Correcting an undesirable state of affairs with the means of legislation is a lengthy, complicate and often politically troublesome process. Therefore, it is unrealistic to think that a continuous and systematic legislation procedure would be the sole answer to all the new norm application situations. The quicker the tact of social change, the more responsibility the jurisdictional and administrative bodies obtain in norm application. That is the very core of the idea of the division of labor, inherent in the doctrine of the division of the constitutional powers. Law application is the fastest and the most flexible way to respond to the new legal issues arising from society. Besides, e. g. in the domain of the Ministry of Justice the preparation of a wide legislative reform is taking place currently, which also diminishes the need to make adjustments at the level ofindividuallegal norms. Moreover, especially in civillaw and in such fields of law that are near to the everyday life of the ordinary citizens the pace of reform must not be too fast. People adopt new legal norms fairly slowly, and as to the citizen's legal consciousness, it is not desirable to introduce radical changes in the essential legal norms frequently. In such a case, the danger ofthe supremacy of the System in the sense meant by Habermas increases: legal arrangements do not reach people's minds anymore. They fee1like beeing mere subordinates to the System, having alienated from its goals. In all, the social weight and significance of the jurisdictional bodies seems to be in increase. More and more legal problems are left to their discretion, which quite reasonably increases the responsibility that the courts and administrative officials have. The are responsible for making such legal decisions that the welljustified claims for legal security in the civil society are met with. The decisions have to be justified in such a way that the citizens will understand the contents of the decisions together with the reasons for reaching a solution of exactly the kind as in question. And what is of most significance, the contents of the legal decisions have to be not only formally correct, but also in accordance with the

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values prevailing in the civil society. It is only then that the decisions can be said to be legitimate in the sense defined earlier.24As regards the tasks of legal philosophy, this means that the theory of argumentation - and especially the theory of legal justification - will most probably continue to hold its key position in the following years, too. The trends of social change outlined above, however, tend to attract some other kind of research interests, as well. One example of this tendency can already be seen in '-he Central Europe, and in the German-speaking countries in particular. I refer to the theory of legislation. This "Gesetzgebungslehre" is still in its infantry, and is not yet able to grasp wholly the complexities of the subject. 2sThe quick rise in interest in it, however, seems to imply that Habermas did hit the point in analyzing society. As already said, legislation is the comerstone of the demoeratie tradition from the legal point ofview. Several challenging objects of study are related to that issue. The topics are in a sense interdisciplinary: theyare in-between politology, science of administration, constitutional law, administrative law, and philosophy oflaw. For example, the important question ofthe legitimaey of jurisdiction and administration - which was treated from the point of view of the decision-making theory earlier in this essay - can be mentioned. Even if one did not see the question in the very same light as Habermas, it is evident that he has clearly recognized the significanee that the issue has for the whole social order. Another theoretical problem related to the same issue is the question of the three-division of the constitutional powers, as introduced by baron Montesquieu. What would Montesquieu think about the strengthened position of the jurisdictional bodies e. g. in the current Finnish society? It remains for the future scholars to answer how the division of the constitutional powers ought to be reinforeed so that the ideas of democracy would be put into practiee to a larger extent than today. Paradoxically enough, the core of the issue seems to be in reinforcing the demarcation lines between the three constitutional powers onee again - not in abolishing the doctrine aitogether. These objects of study require the development of the theory of social action, which has been carried out lately by e. g. Ota Weinberger. 26 Neither seems there 24 On how the problematics discussed is related to the thematics of"Rechtsstaat", see Tuori, op. cit. (note 20), p. 202 pp. 2S See e. g. Theo Öhlinger (Gesamtredaktion), Methodik der Gesetzgebung, 1982. 26 Ota Weinberger, Studien zur formal-finalistischen Handlungstheorie, 1983. See also my treatise on the matter in On Legal Reasoning, p. 134 pp. The central idea of that book was to modify the theory of social action in such a way that it would fit in the legal context. The same issue is developed further in the essay "On the Theory of Societal Change - General Remarks.", in: Memoria dei X Congreso Mundial Ordinario de Filosofia dei Derecho y Filosofia Social, 1982, p. 119 pp. An important contribution to the discussion was presented by Kauko Wikström in his doctoral thesis, titled "Oikeuskäytännön tulkinnasta". Erittely oikeusnormien soveltamistoiminnasta esitettävien väitteiden teoreettisista perusteista ja oikeuskäytännön rakentteestä. ("On the Interpretation ofLegal Praxis. An Analysis on the Theoretical Character

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be any doubt of the increasing importance of the systems theory, when considering the legitimacy problem. I only refer to the many treatises on the matter by Werner Krawietz. 27 • The question of rationality, which has been analyzed by e. g. Habermas, is linked to the systems theoretical analyses. The Habermasian point of view may need some further elaboration, and e. g. the concept of institutional rationality as put forth by Helmut Schelsky seems promising.28 The ideas of Ota Weinberger and Neil MacCormick bear similarity to those mentioned, too.29 As I stated when commenting the thoughts ofHabermas, knowledge and skills in legal technology ("legal cra/tmanship") is the very comerstone of all professional legal activity, and as such it will remain in future, too. With legal technology, however, I do not mean technicism in the superficial sense of the word, referring to detached knowledge of individual norms as disconnected from their systemic basis. "Legal craftmanship" is more than anything realizing the systemic connections of the valid legal system. Simplifying quite roughly, ont could state that the very "essence" of legal thought leans heavily on the general doctrines o/law. When trying to estimate the impact this may have on the scholarly activity in time to come, I see a growing interest in the legal system as a composite network of concepts and principles. As an example one could mention the team research work led by Antero Jyränki at the University ofTurku in Finland, titled "On the Basic ofthe Finnish Legal Thought", and the reviving interest in the general doctrines in various fields of law. 30 I myself regard this course of development as the right one. It supplies legal theory with many new objects of study, and - besides - makes it possible for legal theory and (theoretical) legal dogmatics to near each other. 31 These insights into future, based on what is taking place in today's world, are more than insights or forecasts of a possible state of affairs in future. Still, they do own one common feature, which has always been typical of philosophy and theoretical thinking. The task of legal philosophy and legal theory in future as weIl as today is to increase lawyers' selfconsciousness oftheir position in society, ofthe Arguments used in the Application of Legal Norms and on the Structure of Legal Praxis."), 1979. See especially p. 77 pp. For comments thereupon, see my statement as the official opponent of the thesis in Lakimies 1980, p. 477 pp. 27 Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, 1984. 28 Helmut Schelsky, Diejuridische Rationalität, 1980, p. 5 pp., p. 16 pp., and for wider analysis, see p. 29 pp. 29 See e.g. Ota Weinberger, Das Recht als institutionelle Tatsache, in: RECHTSTHEORIE 11 (1980), p. 427 pp. 30 See also the excellent analysis on the issue by Lars Björne in the work Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, 1984, passim. See also my general comments ofthe significance ofthis kind ofresearch activity in my article in Problemas Abiertos en la Filosofia dei Derecho. Doxa, 1984, p. 11 pp. 31 In this connection, I pass the question how the issue mentioned above have been approached. That kind of analysis of the methodology used would weil deserve a treatise ofits own.

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of their duties and their responsibility. Only such an individual who acts conscious of his own situation can ever be competent to respond to the challenges that the representatives of the legal profession necessarily face in society. A lawyer may act as a hinder to social progress, or he may alternatively give an active contribution to the social construction taking place. The advice "know thyself' is as current today it was over two thousand years ago. Neither is there any reason to doubt its topicality at the end of this century.

Criteria of Quality in Legal Science By Stig J0rgensen, Ärhus I. The Purpose of Science

The word "quality" has entered the Danish language through German or French from the Latin "qualitas" derived from "qualis", i. e. some sort of condition according to Greek 1tOlOtllcr derived from poios (1tOt) with the basic meaning, (i. e. to somewhere) heading for some place. The lexical meaning of the word "quality" is in fact: nature, characteristic, value. So "quality" is referring to the objective characteristics of things such as weight, colour, shape etc. which can be proved as well as to the values which are not referring to the provable characteristics of things, but to the estimating person's feelings, attitudes and purposes of the thing. When we talk about "criteria of quality", we use the meaning last mentioned as expedient.

It is clear that an activity, including science, cannot be expedient or suitable without a purpose or an intention. A human activity without a motive is just as meaningless as an effect without a cause, says Schopenhauer. Actions must be defined as acts of will as opposed to spontaneous and mechanically enforced movements. But the motive need not be conscious since the act ofwill may have been provoked by an unconscious purpose. This necessary restraint of purpose of activity is also indicated in the word "method" which derives from the Greek flEtU ooocr, i. e. the way by which (one reaches the goal). Scientific method is thus the criteria which must be fulfilled in order to be able to talk about a scientific activity. What is the purpose of science then? And what is the purpose oflegal science. As regards the first question it is not possible to get much closer than to state, in general, that the purpose must be to increase our knowledge. It must be the way = the method which delimits science from other ways by which we can increase our knowledge. As opposed to the unsystematic and concrete collection offacts, science is a systematic activity which generalizes its observations in accordance with certain universals. The very first Greek science expressed its thoughts poetically by referring to the wish of finding the etemal in the changeable. But what is science? What does it mean that we know something, and that we do not only wish or believe something? By this we presuppose the concept of "truth", since true knowledge is knowledge achieved by certain methods which can be checked and reproduced.

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11. Idealism and Realism in Science 1 In this connection two very different theories of cognition can be used: speculation and empiricism. The rationalistie and idealistie sciences take their starting points in the human thought since they from some fundamental assumptions about the state of things are deducing their cognition which so to speak is projeeted out into the reality which is then constituted. The empirie (realistic) science presumes that reality already exists so that the essential thing is to describe the reality which is refleeted by the human consciousness. Thus the former theory of cognition is called the theory of projection achieving the maximum security by keeping itselfwithin a well-defined system of thought and language; on the other hand, "truth", i. e. the accordance between reality and consciousness, is doubtful. An empiric (realistic) science gives, on the contrary, a much larger accordance between reality and consciousness, whereas the security on the other hand is less, since it has been a generally accepted principle ever since Oavid Hume's and Immanuel Kant's criticism of cognition at the end of the 18th century that you cannot infer concrete observations from generallegalities. In the same way you cannot infer a cognition from a valuation. Ouring the latest generation the general theory of language and science has emphasized the dilemma by referring to the autonomie character ofthe language as being separated from the reality it is to describe. One of the consequences of this knowledge has been drawn from the theory 0/ eoherenee which maintains that scientific statements can only be verified or/alsified (made true of false) with reference to rules of correct language usage. The theory 0/ eorrespondanee has on the contrary maintained that it is both necessary and possible to relate reality to astatement, i. e. to verify or falsify the statement with reference to phenomena of reality.

ill. AIf Ross's ReaIistic Legal Science 2 Logical positivism wrongly assumed that reality so to speak reflected itself in the consciousness and was thereby transformed into a linguistic expression which could immediately be compared to reality in accordance with certain criteria of measurement. As far as leg~l science is concemed, Alf Ross would point out a "eommon judge 's ideology" as the criteria oflaw, for which reason he referred to the grounds of legal decisions as being the actual expression of the ideology. The criterion ofthe truth in a statement about "existing Oanish law" therefore had to be the probability of the fact that the courts in a hypothetical case, where the rule of law in question was tried, would arrive at a conc1usion that was in accordance with the contents of the sentence. 1

2

Stig JBrgensen Values in Law (1978), p. 29 !T.

See below.

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There are many uncertain elements in this theory. In the first place it is not possible to prove the existence of a "common judge's ideology" which like "justice" and "the general sense of justice" - which Alf Ross rejects as being unscientific metaphysics - is a statement about the existence of a common legal ideology for aIl judges; the very existence of dissents and contradictory judgements demonstrates this fact. Secondly these "prognoses", i. e. statements of legal science about future probable expressions of the judge's ideology, are at the same time a source of law. Thus the doctrine is not only partly self-verifying and like other social scientific prognoses part of the consciousness that is described, but it is also prescribing as far as the doctrine is recognized as a legal source which it is expressly assumed to be in modern legal practice. Nor is it realistic to assume that legal science in fact makes this kind of calculation of probability.1t is not only uncertain which probability is sufficient, but this probability is by legal science based on an immediate description and interpretation of the existing source oflaw material in accordance with" the legal method" which the scientist masters just as weIl as the judges. In fact "the theory of prognosis" is inspired by Anglo-Saxon - especially the American - idea of law where the judges are legal notabilities. In addition to this AlfRoss had to regard both interpretations ofthe source of law material and the judicial decision itself as an evaluating process in accordance with his theory of legal science. Thus large parts of the dogmatic legal science (de sententia ferenda) became politics while the judicial decision was an actual process of motivation and the grounds a later" facade legitimation ". The former consequence was serious enough since the greater part oflegal science - the interpreting part - became unscientific; the latter was fatal since the only source of information of knowledge about "existing Danish law", viz the judges feelings of what they are obliged to do is in principle uncertain. The decisive weakness in Ross' legal theory, which also applies to the so-called "Scandinavian realism" (or "the Uppsala School"), is, however, the presumption that law must be understood as a "phenomenon of reality" in the external world, i. e. either as behaviour or ideology by which legal science turns into sociology or psychology. By this legal science prevents itself from describing and interpreting an authoritative set of roles, or in other words the legal norms. IV. Legal Science as Interpreting Science 3 By reducing our visual field to "existing law" in that (empirical) sense by stressing the judges' concepting of law you prevent yourselffrom describing and interpreting the norms which have validly become apart of Danish law according to the principles of the sources of law - however, without being part of the judges' consciousness - and you prevent yourself from criticizing the 3

See above, Stig Jergensen, Pluralis Juris (1982), p. 41 tT. with note 70.

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Stig J0rgensen

judgments and the grounds for judgments which are in fact realized. The content ofthe principles ofthe sources oflaw concerning the criteria ofhow valid Danish law comes into existence is a historical and cultural matter. It is easy enough to refer to the rules of the existing constitution concerning the formation of statutes. This is, however, not sufficient at all since other forms of material are recognized as legal (e. g. customary law, court practice, legal science) just as there is an extensive consensus among the jurists concerning which arguments are recognized as legal (de sententia ferenda, i. e. advice to the judges and other people solving conflicts) and which are political (de lege ferenda, i. e. advice to the legislation). In the Danish so-called "Christiania case" the Supreme Court thus rejected the reference ofthe High Court saying that "the free city" was a "social experiment" and therefore a matter ofParliament which ironically enough had referred the case to the courts of law, (Ugeskrift for Retsvasen [0] 1978.315), and in a comment on a judgment of the Supreme Court in U 1984.284 (U 1984 B. 49) it is said that an objective tort liability for damages demands statutory authority.

It is clear that such rules of valid legal argumentation exist, but on the other hand it is difficult to state their contents in a few words, among other things because they are different in different branches of law which are controlIed by different legal principles and ideas. Among other things, criminal law is controlIed by the principle oflegality, while the law ofbankruptcy is dominated by the principle of equality, public law by competing considerations of security and efficiency, the law of procedure by the principle of contradiction, and private law by the principle of equivalence. Since the purpose of the rules oflaw is to regulate the behaviour in society, both considerations of purpose and of consequence play an essential part in the complicated set of rules of interpretation and argumentation which has developed through the ages.

By this we have already demonstrated the very decisive weakness ofthe logicoempirical theory of science: The belief that language and reality are immediately comparable or in other words that the description can be objective. It was the analytic and hermeneutic philosophy of language that drew attention to the intentional character of the language which resulted in the fact that any description of reality necessarily implicates an evaluation in the form of an interpretation and a qualification of reality in connection with the system of language. Therefore, when you deal with criteria of quality in legal science it is very important to understand that the object oflegal science is not to make objective descriptions ofphenomena ofreality, but to interpret an authoritative normative material with the purpose of the norms as a basis. The purposes of these norms are to regulate the social behaviour in accordance with a set of cultural and political ideas and with an evaluation of the consequences of the different possibilities of interpretation and their accordance with the purpose or purposes.

Criteria of Quality in Legal Science

v.

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The Principles of Reality and Rationality4

The dogmatic legal science does therefore, in principle, not differ from the application of the law. Both activities deal with the solution of legal disputes. The practician solves real conflicts whereas the theorist takes adecision on hypothetic conflicts; the practician must arrive at adecision whereas the theorist can let the solution of a problem remain unsettled; the practician must probably consider ifhis decision is consistent with earlier and later decisions in accordance with "the nature of things" whereas it is the theorist's main object to adapt his solutions ofthe problems to systematic considerations which express the general ideas and principles ofthe branch oflaw and aim at a consistency in accordance with the principle of rationality. The principle of rationality must necessarily be a superior principle in legal science as it has been ever since the Glossatores in the Bolognian Middle Ages for the first time tried to bring consistency and coherence into the traditional, outmoded, and diffuse but authoritative (Roman) source material. If the principle of rationality must be a superior principle in legal science it is not only because the method of science as mentioned above, in general, must be systematic and generalizing, but because the principle ofjustice in the sense: that equal cases are treated equally, is another way of expressing the conception of rule. That equal cases are treated equally means that they must be treated in accordance with a rule. The formal justice demands rules which enable man to predict the behaviour of others and by that the consequences ofhis own actions. The material justice depends on the contents of the rules which again partly depend on the special ideas within the individual branch of law, partlyon the existing cultural and political situation.

But legal science must not only respect the principle of rationality but must also recognize the principle of reality. This means that the legal scientist must know the purpose and the function of the conditions oflife in question - since it is the purpose of the rules to regulate certain conditions of life - as mentioned above - and it is therefore impossible to interpret the rules without knowledge of that reality. However, the legal scientist cannot be content with having knowledge of a special part of life. If the scientist shall be able to fit his branch into a larger systematic connection, he must have a superior knowledge not only ofthe whole legal system, but also of the social conditions in general. The person who deals with labour law must for instance be familiar with the entire law of contracts in order to fit the solutions of the problems concerning labour law into a perspective of the generallaw of contracts. Much insecurity and ambiguity in the speciallaw of contracts, especially the part which has been subjected to a political administrative process of control, such as the law of 4

Pluralis Juris (note 3), p. 7 and 14 ff. Values in Law (note 1), p. 59.

Stig J0rgensen

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tenancy, the law of employment, etc., are due to the fact that the law of contracts has been left to specialists who have not kept the connection to the general system of law. The same applies to other branches of law such as the law of taxation, company law, and environmentallaw in the widest sense. That the systematic connection must be corrected in consideration of the

development 0/society is another aspect. The general idea of private law based on the principle of will and freedom counteracts the modern idea of the WelfareState which modifies the principle ofwill not only with the interest of commerce

and the principle of objective interpretation, but also with the principle of equality and the society's protection of those who are in a weak strategic position. The development of labour law is an example of the fact that actions, which are normally illegal, are accepted in certain respects when by means of collective force the purpose is to protect the weak wage earners. New branches of law detached from the traditional systematism have therefore arisen: environmental law and business law, including consumer purchases, company law, maritime law, and law of tenancy with elements of both private law and public law. Labour law arose as a completely new branch of law during the first third of this century. From the principle of rationality and reality follows that the mutual inspiration between theory and legal practice is essential for the adaptation. Practice provides theory with information about the practical solutions of problems, and theory provides practice with an analysis and a criticism of the adaptation of the individual decisions to a general system of law and ideas. VI. Legal Method 5

In the society of today the knowledge of the legislation and administrative regulations must, of course, be the primary basis of dogmatics since this production of rules in the Constitution is stated as the primary source of law which must form the basis oflegal decision. Besides, no definite rules concerning the priority of the remaining source material which may be quoted can be stated perhaps apart from the fact that Supreme Court judgments have a high priority. Neither are there any established rules which indicate to what extent preparatory work of statutes is decisive for the construction ofthe purpose of the law. It is not correct either to ascribe the purpose ofthe law the decisive impact on interpretation. Among other things it is possible that the purpose cannot be achieved through the rules of law. However, the purpose must respect the linguistic word border, unless it is shown that there is amistake in the process of legislation which has happened now and then. Systematism and other logical considerations must be respected 5

See below.

Critena of Quality in Legal Science

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as well. On the other hand it must be borne in mind that conclusions by analogy and contrast are normally logical methods of conclusions, but in reality an evaluation ofwhether a rule oflaw is exhaustive or not, and that different rules of presumption apply to different branches of law. While conclusions by analogy as a principal rule are excluded in criminallaw out of consideration for the legal security they are as a general rule allowed in the law of contract, at least as far as the relationship between the parties is concerned. Thus the criteria of quality oflegal science partly coincide with the criteria of the identification and interpretation of the existing source of law material in the so-called "legal method". As Knud Illum once said, it is not possible to describe the method exhaustively, it has to be learned through legal training, partly through the legal education partly through legal practice. An important distinction is here the argumentation de sententia ferenda and de lege ferenda. As stated above the dogmatic legal science gives good advice to the courts and administrative institutions concerning which possibilities of interpretation to prefer among the possibilities being compatible with the linguistic content of the norm. The recomrnendation must, of course, respect the systematic, teleological and pragmatic regards which must be stated and discussed. General references to "expediency" or "practical considerations" are part/y meaningless part/y a necessary cover for one's own inarticulate estimates. It is the so-called "critical science" which in the strongest way has emphasized the demand for an open argumentation on account ofthe possibility of criticism and discussion of the decisions made, including hypothetical proposals of solutions of problems in legal science. But it is a general moral philosophic assumption that the real reasons for adecision must be stated openly whereas the person who decides in return has a claim to be taken at his word and not suspected of justifying his decisions with false arguments such as the American and Scandinavian realism have claimed supported by certain elements of the "critical legal science" , especially the Marxian one.

The decisive thing is therefore to know which arguments are recognized as legal, remaining within the framework of the politico-juridical system, and which arguments go beyond this and then become political. Or, in other words, where is the borderline between the solutions that the judges may choose without legislation and the solutions demanding legislation. Above the so-called "Christiania-case" and another case are mentioned in Which the Supreme Court decided on that subject. We have to keep our legal argumentation within this very indistinct framework since we in our comrnunity, governed by law, must recognize the devision offunctions among the different institutions ofthe comrnunity. Judges are not like politicians elected by the people and have therefore no political authority to make political decisions. But because of the crisis of the

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Stig ]I:'Jrgensen

democracies during the latest 10 -15 years there has been a general tendency, however, to "c1asify" political problems, which the political system cannot manage, for instance the above "Christiania-case ", cases concerning boycotts, cases concerning the environment, etc., as "legal". The reluctance ofthe courts of law to get themselves involved in political cases is understandable and respectable since the courts of law otherwise would lose their reliability as impartial conflict solvers. VII. Conclusion I have now reached the end. And many might think that it was not far. The "realistic" legal science was apparently far more scientific and had some c1ear criteria of quality. It was so very simple to refer to "the objective description" and "the mechanism of verification" of natural science. But in that way legal science shirked the responsibility of its opinions and referred instead to the probability of the judges' having this opinion. As mentioned above it is, however, only a seeming security and c1arity. Speaking about other's interpretations of the source of law material is, as mentioned, only a superfluous evasion, which does not throw light on anything, but on the contrary exempts legal science from its duty to state its own arguments. It is on the manner that this duty is fulfilled that the quality oflegal science shall be judged.

Normativismus oder Skeptizismus? Zum Verhältnis von Regelsetzung und Regelbefolgung in der kritischen Rechtstheorie Kants Von Werner Krawietz, Münster

I. Referenz des Rechtssystems in realistischer Perspektive Wer einen gemeinsamen Ausgangspunkt aller Rechtstheorien bzw. der miteinander konkurrierenden Theorieschulen sucht, die heute mit dem Aufbau einer Theorie der Normen, insbesondere einer Theorie des Rechts, befaßt sind, kann diesen in der - wohl einhellig geteilten - Annahme erblicken, daß es zumindest in der modernen Gesellschaft mehr oder weniger verselbständigte Normensysteme bzw. Regelsysteme des Rechts nun einmal gibt. Von der Existenz solcher Normen- oder Regelsysteme des menschlichen Sozialverhaltens, die unser Erleben und Handeln strukturieren, sicherstellen und auf diese Weise auch künftige mitmenschliche Aktivitäten erwartbar und damit zugleich berechenbar machen, gehen gegenwärtig alle mit dem Recht wie auch immer befaßten Wissenschaften unter Einschluß der Rechtswissenschaft aus. Jedoch ist im ganzen wie im einzelnen höchst umstritten, was damit gemeint ist, d. h. was es genau genommen bedeutet, wenn davon die Rede ist, daß es Normen- oder Regelsysteme des Rechts gibt bzw. derartige Systeme existieren. Die Referenztheorien, die sich heute mit einer Deutung der Regelsysteme des Rechts befassen, wie beispielsweise die Institutionentheorie von Helmut Schelsky, die den Bezugspunkt der Regeln des Rechts in die jeweiligen sozialen Institutionen hinein verlegt, oder auch die Theorie des Rechtssystems von Niklas Luhmann, die sich neuerdings als Theorie selbstreJerenzieller Systeme begreift, sind anders als die rein sprachanalytischen, normativistischen und positivistischen Theorien - nicht bloß in normentheoretischer, sondern auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht realistisch geprägt. 1. Seit den Kritiken Kants 1 bis hin zur Reinen Rechtslehre Kelsens 2 und seiner Wiener rechtstheoretischen Schule 3 des Normativismus erscheint es 11mmanuei Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781; ders., Kritik der praktischen Vernunft, 1788; ders., Kritik der Urteilskraft, 1790; Vgl. ferner: ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785; ders., Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1786; ders., Metaphysik der Sitten, 1797. Die Schriften Kants werden im folgenden zitiert nach der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen sechsbändigen Werkausgabe (WW). Reprografischer Nachdruck der Ausgabe: Darmstadt 1956ff. 21

Festgabe für Alois TraUer

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Werner Krawietz

ausgemacht, daß alle Rechtswissenschaft - sei dies nun (1) eine an der Rechtspraxis, d. h. am jeweils geltenden Recht und seiner Anwendung orientierte praktische (dogmatische) Rechtswissenschaft, (2) die ihr zuarbeitende Juristische Methodenlehre oder (3) die beiden zu Grunde liegende Allgemeine Rechtslehre / Rechtstheorie - es jedenfalls mit der Positivität des Rechts zu tun hat, d. h. mit einem wie auch immer gesetzten, von Menschen für Menschen gemachten, geschichtlich-gesellschaftlich bedingten Recht. 4 Jedoch ist nach wie vor nicht hinreichend aufgeklärt, (i) was dabei unter Normen oder Regeln des Rechts zu verstehen und (ii) wie deren Positivität im Sinne ihrer Gegebenheit als Recht näher zu charakterisieren ist. Handelt es sich im Hinblick auf die Gegebenheit allen Rechts nur um Normen oder "Regeln im Kopfe", die allenfalls gedacht werden, d. h. bloß als Gedankeninhalt - falls gewußt und bekannt - unser Verhalten mitbestimmen können, aber nicht müssen, oder sind diese Regeln auch Bestandteile einer erfahrbaren, d.h. auf Selbstbeobachtung und/oder Fremdbeobachtung zurückführbaren, irgendwie erkennbaren gesellschaftlichen Realität, die ihrerseits das Dasein der Normen- und Regelsysteme des Rechts sehr weitgehend beeinflußt, auch wenn uns dies bei der Regelbefolgung vielleicht gar nicht bewußt wird? Offensichtlich ist Kant bei seiner kritischen Grundlegung einer Theorie der Normen oder Regeln des Rechts sich dieser Problematik durchaus bewußt gewesen, denn er bemerkt in seiner Kritik der reinen Vernunft sehr treffend: "Ein Arzt daher, ein Richter oder ein Staatskundiger kann viele schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden. 5" Zugleich fallt Kants Stellungnahme mit Blick auf den möglichen "Nutzen der Beispiele", welche "die Urteilskraft schärfen" mögen, sehr kritisch aus. Dies zeigen seine weiteren Ausführungen zum Verhältnis von Fall und Regel, in denen er bezogen auf die Verwendung von Beispielen sehr treffend bemerkt: "Denn was die Richtigkeit und Präzision der Verstandeseinsicht betrifft, so tun sie (scil. 2 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960; ders., Allgemeine Theorie der Normen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Kurt Ringhofer und Robert Walter, Wien 1979. 3 Hans Klecatsky / Rene Marcic / Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule, 2 Bde., Wien 1968. Zur Kritik des rechtstheoretischen Normativismus der Wiener Schule Kelsens aus rechtsrealistischer Perspektive jetzt: Werner Krawietz / Helmut Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, Berlin 1984. 4 Kelsen, RR, S. 9, 201; ders., ATN, S. 113f., 187. S Dazu und zum folgenden: WW 11, S. 185.

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die Beispiele!) derselben vielmehr gemeiniglich einigen Abbruch, weil sie nur selten die Bedingung der Regel adäquat erfüllen (als casus in terrninis) und überdem diejenige Anstrengung des Verstandes oftmals schwächen, Regeln im allgemeinen, und unabhängig von den besonderen Umständen der Erfahrung, nach ihrer Zulänglichkeit, einzusehen, und sie daher zuletzt mehr wie Formeln, als Grundsätze, zu gebrauchen angewöhnen". Auch hat Kant durchaus gesehen, daß im Bereich der "praktischen Regeln", gerade wenn diese gleichsam als "Prinzipien" in einer "gewissen Allgemeinheit" gedacht werden, stets "von einer Menge Bedingungen abstrahiert wird, die doch auf ihre Ausführung notwendig Einfluß haben".6 2. Worauf es somit bei der Erzeugung von Regeln und ihrer Befolgung auch im Bereich des Rechts letzten Endes ankommt, das ist für Kant bei allem Bemühen um eine apriorische Grundlegung seiner Einsichten ganz offensichtlich (i) die menschliche Handlungs- und Erkenntnispraxis, der er mit Blick auf die Praxis des Rechts den Primat vor aller Theoriebildung einräumt, und (ii) die Einsicht in die Tatsache, daß wir - zumindest was die Befolgung von wie auch immer gewonnenen Rechtsregeln angeht - hierauf gewöhnlich "in praxi", d. h. "durch Beispiele und wirkliche Geschäfte", abgerichtet werden. Dies gilt offensichtlich nicht nur im Geschäftsleben für die alltägliche Rechtspraxis, sondern auch für die dieser Praxis zuarbeitende Theorie, die sich - sei es als Wissenschaft, sei es als Philosophie des Rechts - mit dieser Praxis als ihrem Gegenstand befaßt. Leider wird die Interpretation der Rechtsphilosophie Kants im Verhältnis zu dessen Kritiken der Eigenart und der Eigenständigkeit seiner Rechtslehre, wohl auch wegen deren Einbettung in seine Metaphysik der Sitten, bis auf den heutigen Tag zumeist nicht gerecht, weil sie gewöhnlich deren originären Beitrag zur Erkenntnis der Positivität allen Rechts entweder gänzlich ignoriert oder doch unterschätzt. Nicht von ungefähr weist Kant schon in seiner grundlegenden, das Verhältnis von Praxis und Theorie betreffenden Abhandlung von 1793 7 darauf hin, daß zur Anwendung einer Regel in der Praxis stets auch ein "Actus der Urteilskraft hinzukommen" muß. Der Praktiker "unterscheidet" vermöge dieses Akts, "ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht". 8 Jedoch macht Kant mit Grund darauf aufmerksam, daß dieser Akt der Urteilskraft selbst nicht wiederum zur Gänze durch Regeln eingehegt werden kann, da auch deren Anwendung wieder einern Akt der Urteilskraft unterliegt usf., so daß bei einern Fortschreiten auf diesem Wege ein infiniter Regreß unvermeidbar wäre. Infolgedessen können in der Tat für die Ausübung der Urteilskraft "nicht immer wiederum Regeln gegeben WW VI, S. 127. Eingehend hierzu: Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: WW VI, S. 127 -172, insbes. mit Bezug auf das "Staatsrecht", ebd., S. 143ff., sowie auf das "Völkerrecht", ebd., S. 165ff. 8 Dazu und zum folgenden: WW VI, S. 127. 6

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werden ... , wonach sie sich in der Subsumtion zu richten habe (weil das ins Unendliche gehen würde)". Was hingegen die Praxis der Theorie selber angeht, insbesondere das wissenschaftspraktische Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Philosophie des Rechts, so weist Kant im "Streit der Fakultäten" von 1798 mit Grund darauf hin, daß die "Juristenfakultät" die ihr von der Regierung anvertrauten Lehren jedenfalls "auf Schrift" gründe, ohne die es für das (durch "Gelehrsamkeit" geleitete) Volk "keine beständige, für jedermann zugängliche Norm, danach es sich richten könnte, geben würde". 9 Ferner macht er darauf aufmerksam, daß "eine solche Schrift (oder Buch)" jeweils "den Befehl eines äußeren Gesetzgebers zum Grunde legt". Infolgedessen müsse der "schriftgelehrte Jurist" das Recht "nicht in seiner Vernunft, sondern im öffentlich gegebenen und höchsten Orts sanktionierten Gesetzbuch" suchen, denn die gesetzgeberischen "Verordnungen machen allererst, daß etwas recht ist".l0 Jedoch müssen "die weltlichen Gesetzbücher der Veränderung unterworfen bleiben", "nachdem die Erfahrung mehr oder bessere Einsichten gewährt". Schöpft aber der Jurist "nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem Landrecht", dann darf die zu den "oberen" Fakultäten gehörende Juristenfakultät in ihre Lehren auch nichts "aus der Vernunft Entlehntes" einmischen, insbesondere sich nicht auf die "freien Vernünfteleien" der philosophischen ("unteren") Fakultät einlassen. 11 Jedoch macht Kant im Hinblick auf letztere darauf aufmerksam, es müsse "noch eine Fakultät geben, die, in Ansehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung unabhängig, keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurteilen, die Freiheit habe". 12 Damit wird die Frage nach den Voraussetzungen und Grundlagen einer Arbeitsteilung zwischen (1) Praxis und Wissenschaft, insbesondere Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, sowie (2) zwischen Wissenschaften und Philosophie, insbesondere zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, aufgeworfen oder - um es mit Kant zu formulieren - die Frage danach, wie man "den ganzen Inbegriff der Gelehrsamkeit (eigentlich die derselben gewidmeten Köpfe) gleichsam fabrikenmäßig, durch Verteilung der Arbeiten, zu behandeln" hat. 13 Auch wird damit die Parallele deutlich, die ganz offensichtlich besteht zwischen (i) Kants Auffassung von der Arbeitsteiligkeit der Wissenschaften und (ii) Helmut Schelskys Auffassung von der Notwendigkeit einer inter- und multidisziplinären Kooperation der Rechts- und Sozialwissenschaften, jedenfalls soweit es um das Recht und seine Verwirklichung geht. 14 WW VI, S. 284f. WW VI, S. 287. 11 WW VI, S. 285. 12 WW VI, S. 282. 13 WW VI, S. 279. 14 Eingehend hierzu: Helmut Schelsky, Die juridische Rationalität. Vorträge der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Opladen 1980, S. 6ff., 16f.; ders., 9

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11. Norm, Recht und Regel als Dinge-in-der- Welt Einer philosophischen prundlegung dienende Untersuchungen, die der Frage gewidmet sind, was die Annahme besagt, daß es Regelsysteme des Rechts gibt bzw. solche Systeme existieren, sind seit jeher - was die Genese und Geltungsgrundlagen derartiger Rechtsvorstellungen angeht - vor allem mit drei Problemen belastet. Diese sind im deutschen juristischen Systemdenken schon lange vor Kant in Erscheinung getreten. Sie wurden durch die Vernunftaufklärung und die hieran anschließenden Folgeentwicklungen nicht hinreichend aufgearbeitet und verunklären demzufolge das praktische und das theoretische Rechtsdenken und Argumentieren bis auf den heutigen Tag. Ich meine damit (1) gewisse Mängel im Systemkonzept selbst. Sie haben mit Bezug auf das Regelsystem des Rechts dazu geführt, daß die Problematik der Systembildung im Rechtsdenken der Gegenwart gewöhnlich zu einseitig primär unter epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Aspekten betrachtet wird. In der Problembehandlung defizitär geblieben ist ferner (2) die Problematik der Rationalität der Regelsysteme des Rechts. Sie wird erstaunlicherweise nicht als Frage nach dem Regelcharakter des Rechts bzw. der Rechtssysteme selbst aufgenommen, um zunächst deren Geltungsgrund zu klären, sondern vornehmlich verstanden als Frage nach der Wahrheitsfähigkeit und dem Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Systembildungen unter Einschluß derjenigen der Rechtswissenschaft. 15 Ferner ist dabei (3) ungeklärt geblieben, worin der Bezug zu erblicken ist, auf den die sprachlichen Ausdrücke ,Norm' oder ,Regel' bzw. ,Regelsystem des Rechts' referieren, d. h. mit anderen Worten: welche Bedeutungsbeziehungen zwischen diesen sprachlichen Ausdrücken und den Dingen - in der - Welt bestehen 16, die mit Hilfe dieser Ausdrücke bezeichnet werden. 17 Dies Die Soziologen und das Recht, Opladen 1980, S. 34fT., 46f., der sehr trefTend auf Immanuel Kant verweist als Beweis dafür, daß "von der juridischen Rationalität her auch eine Total-Sicht der Vernunft und des menschlichen Zusammenlebens möglich ist". Vgl. ferner: Werner Krawietz, Juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften? Zur Konkurrenz divergierender Rationalitätskonzepte in der modemen Rechtstheorie, in: RECHTSTHEORIE 15 (1984), S. 423-452, 438fT., 441 fT. IS Vgl. hierzu: Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984, S.50ff., 58 fT., 65 fT. Vgl. ferner: ders., Ansätze zu einem Neuen Institutionalismus in der modemen Rechtstheorie der Gegenwart, in: Juristen-Zeitung 40 (1985), S. 706-714, 708fT., 710f.; ders., Paradigms, positions and prospects of rationality - The changing foundation of law in institutional and systems theory, in: Samfunn, Rett, Rettferdighet. Festskrift til Torstein EckhofTs 70-Ärsdag, Oslo 1986, S. 452-456. 16 Grundlegend dazu jetzt: Edmund Runggaldier, Zeichen und Bezeichnetes. Sprachphilosophische Untersuchungen zum Problem der Referenz, Berlin-New York 1985. 17 Sehr trefTend: Peter F. Strawson, On Referring, in: ders., Logico-Linguistic Papers, London 1971, S. 1-27, 10: "People use expressions to refer to particular things. But the meaning of an expression is not the set ofthings or the single thing it may correctIy be used to refer to: the meaning is the set of rules, habits, conventions for its use in referring." In der Tat haben sortale Ausdrücke, wie ,Norm' oder ,Regel', auch im Hinblick auf menschliche Artefakte, wie beispielsweise das Recht, die Funktion, Sorten von Dingen aus

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ist kein Rückfall in die naive Auffassung, daß sprachliche Ausdrücke insofern eine Referenz haben, als sie sich auf einen bestimmten Gegenstand oder eine bestimmte Sorte von Gegenständen beziehen, für die sie stehen und die sie bezeichnen, beispielsweise (i) auf die in Rechtstexten enthaltenen Normsätze oder (ii) auf die mit ihrer Hilfe geregelten menschlichen Verhaltensweisen. Vielmehr geht es im folgenden allein darum, derartige Auffassungen überhaupt erst einmal zu rekonstruieren, da offensichtlich ganz beträchtliche Auffassungsunterschiede bestehen. Die Auffassung, daß sich ein sprachlicher Ausdruck, wie beispielsweise der Ausdruck ,Norm' oder ,Regel', auf einen bestimmten Gegenstand als sein ReJerenzobjekt bezieht, meint im folgenden nur, daß ihm die Funktion zukommt, diesen Gegenstand aus anderen herauszugreifen und ihn zu spezifizieren. 1. Erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch betrachtet, mögen die bestehenden Unklarheiten damit zusammenhängen, daß im vorkantischen Verständnis von System, beispielsweise im Bereich des astronomischen Wissens, das gesamte Weltgebäude im Verhältnis zu der es erforschenden Wissenschaft, dieser zunächst als ein durchaus reales systema mundi erschien, dem insoweit auch eine Art Wahrheit der Sache (veritas rei) zugesprochen wurde. Jedoch wurde schon früh deutlich, daß ein derartiges, vorgeblich wahres Weltsystem kaum mehr zu sein vermochte als eine Konstruktion der Astronomen, die der gedanklichen Erfassung und Beherrschung der Gestirnbewegungen diente. a) Schon Condillac scheint dies bedacht zu haben, wenn er in seinem "Traite des Systemes" von 1749 bemerkt, ein System sei "nicht anderes als die Darstellung der verschiedenen Teile einer Kunst oder einer Wissenschaft in einer Ordnung, in der sie sich gegenseitig stützen und in der sich die letzten durch die ersten erklären" .18 b) Der hypothetische Charakter aller derartigen Annahmen über den wirklichen Aufbau des Weltgebäudes und seine Ordnung wird vollends deutlich bei Voltaire l9 , so daß seither die obige Annahme eines vermeintlich wahren Systems geradezu als eine contradictio in adiecto erscheinen mußte. 20 der uns umgebenden Welt herauszugreifen. Durch diese sortalen Ausdrücke beziehen wir uns jedoch stets auf etwas, nämlich auf die soziale Tiefenstruktur des Rechts, der man letztlich nur durch laufende Forschungen schrittweise näherkommen kann. 18 Condillac, Oeuvres philosophiques, hrsg. von Georges le Roy, Paris 1947, Bd. 1, S. 121: "Un systeme n'est autre chose que la disposition des differentes parties d'un art ou d'une science dans un ordre Oll elles se soutiennent toutes mutuellement, et Oll les demieres s'expliquent par les premieres." 19 Voltaire, Oeuvres, Paris 1829, Bd. 32, S. 89f.: "Nous entendons par systeme une supposition, ensuite, quand cette supposition est prouvee, ce n'est plus un systeme, c'est une verite. Cependant, nous disons encore par habitude le systeme celeste, quoique nous entendions par lä position reelle des astres. " 20 Dies bemerkt sehr treffend: Friedrich Kambartei, "System" und "Begründung" als wissenschaftliche und philosophische Ordnungsbegriffe bei und vor Kant, in: Jürgen

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c) Was schon hier sichtbar wird, das ist die eigentümliche Doppeldeutigkeit von Wort und Begriff des Systems, das (1) als ein allem denkenden Erkennen gleichsam vorgegebenes, in der Sache selbst bestehendes, realiter schon existierendes System angesehen wird und (2) erst durch eine kunstgemäße bzw. wissenschaftliche Darstellung im Rahmen einer die einzelnen Teileinsichten übergreifenden, hypothetischen Ordnung als systematische Einsicht, d. h. in dem die Sache selbst erfassenden, sie deutenden und damit erkennenden System in Erscheinung tritt. Dessen hypothetische Bestandteile bedürfen freilich noch eines Beweises, bevor sie als Wahrheiten aufgefaßt werden können. Was schon hier angesprochen wird, ist die heute jedem kontinentaleuropäischen Juristen geläufige Unterscheidung zwischen (i) dem inneren, in einem Rechtsstoff, wie beispielsweise in den Digesten des römischen Rechts, schon implizierten System und (ii) dem diesen Rechtsstoff in wissenschaftlichen Normsätzen darstellenden, mit ihm korrespondierenden äußeren System, so daß - jedenfalls rechtswissenschaftlich betrachtet - inneres und äußeres System miteinander korrelieren.

2. Nicht von ungefähr ist deshalb das "System" schon bei Kant in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1786 bloß noch ein "nach Prinzipien geordnetes Ganze der Erkenntnis". 21 Und "Wissenschaft" heißt für Kant eine "jede Lehre, wenn sie ein System" bietet. In dem Maße, in dem sich der Systembegriffzum Erkenntnissystem hin entwickelte, konnte auch die Wissenschaft als solche durch eben diese Systemeigenschaften gekennzeichnet werden. In seinen Überlegungen bringt Kant dies zum Ausdruck im 3. Hauptstück der Transzendentalen Methodenlehre seiner Kritik der reinen Vernunft unter der Überschrift "Die Architektonik der reinen Vernunft". 22 Die menschliche Vernunft ist für ihn "ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System". Kant definiert "Architektonik" deshalb ausdrücklich als "Kunst der Systeme"23 und fährt dann fort: "Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Szientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt." a) Demgegenüber war noch für die Schulphilosophie von Christian Wolff (1679-1754) - was die Wahrheitsfähigkeit systematisch geordneter wissenschaftlicher Aussagen angeht - die im Hinblick auf das erkennende Subjekt transzendentale Wahrheit stets eine ontologische. Diese transzendentale Wahrheit (veritas transcendentalis) war als solche in den Dingen erkennbar (rebus ipsis inesse intellegitur) als die in den Dingen selbst bestehende Ordnung (ordo in varietate eorum, quae simul sunt ac se invicem consequuntur; ordo eorum, quae Blühdorn/Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1969, S. 99-113,102. 2t Dazu und zum folgenden: Kant, WW, S. 11. 22 WW 11, S. 695. 23 WW 11, S. 449, 695.

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enti conveniunt).24 Dementsprechend war die transzendentale Wahrheit der Welt die Ordnung dieser Welt (in mundo datur veritas transcendentalis). b) Spätestens mit und seit Kant kann jedoch in erkenntnistheoretischer Hinsicht als gesicherte Einsicht gelten, daß "die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen", weil wir "nichts (kennen) als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist". 25 Die Dinge an sich sind somit für Kant gar nicht erkennbar. Infolgedessen kann sich für ihn die transzendentale Wahrheit auch nicht ergeben aus einer als richtig erkannten Ordnung der Dinge "an sich", sondern nur aus unserer "Art, sie wahrzunehmen". c) Anders als für Wolff, der noch meinte, daß die wissenschaftliche Systembildung, das heißt alle systematisch geordnete Erkenntnis, eine erkennbare Ordnung der Dinge "an sich" schon voraussetzt (veritatum universalium nexus fundatur in nexu rerum; nisi istius modi nexus daretur, nec systemata veri nominis condi possunt),26 ist es für Kant nicht der - gar nicht erkennbare! Zusammenhang der Dinge an sich, welcher systematische Erkenntnis ermöglicht, sondern das menschliche "Erkenntnisvermögen" selbst, welches sich eine systematisch geordnete Erkenntnis schafft. Jedoch transzendentiert die menschliche Erkenntnis nirgendwo den menschlichen Erfahrungsbereich. Erkenntnis und Erfahrung bedingen einander wechselseitig. Alle "unsere Erkenntnisse" liegen stets in "dem Ganzen aller möglichen Erfahrungen". 3. Infolgedessen kann auch die "transzendentale Wahrheit, die vor aller empirischen vorhergeht und sie möglich macht", für Kant nur "in der allgemeinen Beziehung auf dieselbe" bestehen, das heißt nur in bezug auf die mögliche Erfahrung. 27 Das Wort und der Begriff "transzendental" haben bei Kant "niemals eine Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge, sondern nur aufs Erkenntnisvermögen". Alle Begriffe, mit deren Hilfe wissenschaftliche, das heißt systematisch geordnete Erkenntnis sich aufbaut, entspringen allein dem "Verstand", durch den sie "gedacht" werden, doch beziehen sie sich stets, auch wenn sie "a priori möglich sein mögen, dennoch auf empirische Anschauungen, d.i. auf Data zur möglichen Erfahrung".28 Der menschliche Verstand schöpft somit nach Kant seine Gesetze "nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", indem er alle Erscheinungen unter seine eigenen Gesetze faßt". 29 24 Dazu und zum folgenden: Christian Woljf, Philosophia prima sive Ontologia, methodo scienti(ica pertractata, 2. Aufl., Frankfurt und Leipzig 1736, Neudruck Hildesheim 1962, § 495, S. 383; tiers., Cosmologia generalis, methodo scientifica pertractata, 2. Aufl., Frankfurt und Leipzig 1737, Neudruck Hildesheim 1964, § 78, S. 71. 25 Kant, Kritik der reinen Vernunft, WW 11, S. 87. 26 Christian Wolff, Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata, Frankfurt und Leipzig 1738, Neudruck Hildesheim 1968, § 482, S. 371. 27 Kant, Kritik der reinen Vernunft, WW 11, S. 193. 28 Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, WW III, S. 157f.; ders., Kritik der reinen Vernunft, WW 11, S. 69,270.

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Die wissenschaftliche Systembildung setzt somit bei Kant gerade nicht voraus, daß im Gegenstandsbereich der Wissenschaft, die sich mit der Systematisierung ihres Gegenstands befaßt, ein systematischer Zusammenhang der Dinge "an sich" besteht. Sie vermag dies freilich auch nicht auszuschließen, weil im Bereich des Zusammenhangs der Dinge "an sich" mangels Erkennbarkeit eine Systematisierung gar nicht Platz greifen kann. Damit stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich aus der Anwendung dieses Systemkonzepts auf einen schon vorliegenden, wie auch immer beschaffenen Rechtsstoff ergeben. Jedenfalls ist heute sehr viel deutlicher als bisher, daß es Kant mit den obigen Ausführungen nur um Naturerkenntnis ging, nicht um Rechtserkenntnis. Auch entwickelte sich das juristische Systemdenken zumindest in Deutschland primär unter dem Einfluß Christian Wolffs und seiner juristischen Schüler und erst sekundär unter dem Einfluß Kants und der Kantianer. 30 III. Geltung, Verbindlichkeit und Wahrheit des Rechtssystems Offensichtlich führen das Wort und der Begriff des Systems bis auf den heutigen Tag noch Erkenntnisansprüche mit sich, die sich im Bereich des Rechts - verstanden als Anspruch auf Wahrheit, Rationalität oder Richtigkeit der rechtlichen bzw. juristischen Systembildungen der Jurisprudenz - gar nicht, nur schwer oder nur in sehr engen Grenzen einlösen lassen. Solange das jeweils geltende Recht, unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen und bloß erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch betrachtet, noch als gottgewollt, in der Natur der Dinge angelegt oder in der angeborenen Vernunft des Menschen begründet, das heißt als setzungsunabhängig, ohne Dazutun des Menschen von Natur gegeben, aber für ihn vermöge seiner Vernunft erfaßbar und einsehbar angesehen wurde, mußte in der Tat der Gedanke eines mit Hilfe der menschlichen Vernunft erkennbaren, alle einzelnen Teile des Rechts in ihrem Gesamtzusammenhang erfassenden, im eingangs gekennzeichneten Sinne vermeintlich wahren Systems des Rechts nicht bloß die Rechtsphilosophen, sondern vor allem die Juristen faszinieren, versprach es doch nicht mehr und nicht weniger als die im Rechtssystem zum verbindlichen Ausdruck gelangende, wenn auch Kant, Prolegomena, WW III, S. 189, 193. Dazu und zum folgenden: Werner Krawietz, Begriffsjurisprudenz, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel-Stuttgart 1971, Bd. 1, Sp. 809813; erneut abgedruckt in: Krawietz (Hrsg.), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz, Darmstadt 1976, S. 432-437, 435f.; ders., Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, in: Aulis Aarnio u.a. (Hrsg.), Methodologie und Erkenntnistheorie der juristischen Argumentation, Berlin 1981, S.299-335. Vgl. im vorstehenden Zusammenhang auch: Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der "praktischen Jurisprudenz" auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1979, S.117, 147ff. et passim, der sehr treffend bemerkt, daß Kants "Unterscheidung von Struktur und Erkenntnis und (,an sich' unerkennbarer) Struktur des Erkenntnisgegenstands in der Jurisprudenz nicht aufgenommen" wurde, "weil man sie nur für die Naturerkenntnis, nicht aber für die Erkenntnis des positiven Rechts passend fand". 29

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bloß ideologische Einheit der rechtlichen Weltanschauung. In dem Maße, in dem die in diesem Verhältnis von Gott, Natur und Vernunft zum Ausdruck gelangenden, letztlich metaphysisch-weltanschaulichen Voraussetzungen hinfällig wurden, mußten jedoch auch die Prämissen eines vermeintlich wahren Systems des Rechts und die vorgebliche Rationalität der verschiedenen rechtswissenschaftlichen Systementwürfe als höchst problematisch erscheinen. 31 Dies wurde erstmals deutlich im frühbürgerlichen Rationalismus des 16. Jhdts., in dem die systematischen Leistungen der mittelalterlichen Jurisprudenz unter dem Einfluß und im Gefolge des allgemeinen Humanismus zunehmend abgelöst wurden durch die Systemleistungen des Humanismus im Recht 32 und diejenigen einer humanistischen Jurisprudenz. 33 1. In dem Bestreben, die in den justinianischen Texten, insbesondere den Digesten vorliegenden Einzelentscheidungen und Regeln des positiven Rechts zu erfassen, die historischen Texte zu ordnen und auch in inhaltlicher Hinsicht systematisch zu erschließen, um sie in einem das Ganze der Rechtsordnung umfassenden Lehrgebäude darzustellen, haben die deutschen Juristen des 16. Jhdts. - dem Postulat eines quellengemäßen ordo iuris folgend - das juristische Systemdenken schon früh mit den Anforderungen einer neuen Rationalität in Übereinstimmung zu bringen gesucht. 34 Dabei waren nicht nur das Erfordernis einer Textkritik sowie der Ordogedanke genuin humanistisches Allgemeingut, sondern auch das hier vorausgesetzte Systemkonzept selbst, denn schon Melanchthon hatte für die Theorie gefordert, daß die Einteilung des Stoffes die Ordnung der Dinge selbst widerspiegeln müsse. 35 Bei der Übertragung dieses Systemkonzepts auf den vorliegenden Rechtsstoff schieden sich freilich die Geister. Nicht wenige Juristen betrachten die Stoffordnung der Digesten angesichts der in ihnen zum Ausdruck gelangenden, 31 Zum Vorgang der Säkularisation eines religiös bzw. theologisch begründeten Naturund Vernunftrechts sowie seinem Verhältnis zum positiven Recht: Werner Krawietz, Die AusdifTerenzierung religiös-ethischer, politischer und rechtlicher Grundwerte, in: Konrad von Bonin (Hrsg.), Begründungen des Rechts, 1I. Juristen-Theologen-Gespräch in Hofgeismar, Göttingen 1979, S. 57-85, 58f., 60fT. 32 Hans Erich Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: Jürgen BlühdornjJoachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1969, S. 63-88. 33 Grundlegend: Myron Gi/more, The Jurisprudence of Humanism, in: Traditio 17 (1961), S. 493-501; Guido Kisch, Die humanistische Jurisprudenz, in: La storia dei diritto nel quadro delle szienze storiche. Atti dei primo congresso internazionale della Societä Italiana di storia dei diritto, Firenze 1966, S. 469-490; Hans Erich Troje, Zur humanistischen Jurisprudenz, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag, Göttingen 1972, Bd. 1I, S. 110-139. J4 Hans Erich Troje, Die Literatur des gemeinen Rechts unter dem Einfluß des Humanismus, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. 1I.Band, l.Teilband, München 1977, S. 615-795, 741 fT. 3S Ebd., S. 742.

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richtungsweisenden rechtlichen Architektonik bereits als wohlgelungen, andere hingegen, wie beispielsweise schon Johannes Sichardim Jahre 1528, erblickten in ihnen kaum mehr als einen "schlecht zusammengenähten Flickenteppich, an dem man weder Kopf noch Fuß unterscheiden kann". Das zentrale Problem, um das es hier ging, war somit, wie Troje sehr treffend dargelegt hat, die Frage, "ob die gewünschte Ordnung dem Rechtsstoff, wie er überliefert vorlag, schon eigen ist oder ob sie ihm erst noch gegeben werden muß".36 Während die einen das Gesamtgebäude der Rechtsordnung als schon vorgegeben ansahen, erschien den anderen die Errichtung eines derartigen Gesamtgebäudes als noch aufgegeben, so daß sie es auf Grund und nach Maßgabe der vorhandenen Einzelentscheidungen und Regeln des Rechts als eine nach einheitlichen Prinzipien herzustellende Ordnung rational neu zu konstruieren suchten. 2. In der Auseinandersetzung mit diesen Problemstellungen wurde der Gedanke eines Rechtssystems bzw. eines Systems der Rechtswissenschaft in der deutschen Rechtslehre des späten 17. und des frühen 18. Jhdts. nachhaltig gefördert durch die Bestrebungen der Rechtswissenschaft (iuris prudentia, iuris scientia), die Ordnung der tradierten Rechtssätze des römischen, des kanonischen und des deutschen Rechts, gewöhnlich als Rechtsordnung (ordo iuris) und noch nicht als Rechtssystem bezeichnet, in lehrbuchmäßiger Form systematisch darzustellen. 37 a) Das römische Recht mit seiner Begriffiichkeit und die hieran orientierte Rechtssprache dienten dabei gleichsam als eine universell verwendbare lingua franca, um die Problemstellungen einer mit dem jeweils geltenden Recht und seiner Anwendung befaßten Rechtswissenschaft zu formulieren und in ihrer Eigenart zu charakterisieren. b) Demgegenüber hat Johann Friedrich Freies/eben schon im zweiten Jahrzehnt des 18. Jhdts. das Corpus iuris durchaus als Rechtssystem (systema legum) begriffen, jedoch sehr treffend zwischen Rechtssystem und systematischer Jurisprudenz unterschieden (differt systema legum seu Corpus a iurisprudentia systematica), weil er davon ausging, daß im Corpus iuris das Rechtssystem nur in materieller, aber nicht informeller Hinsicht enthalten sei (in illo haec materialiter sed non formaliter ... continetur).38 36 Troje (FN 34), S. 742f. erblickt hierin mit Grund "Versuche des Neubaus eines Gesamtsystems juristischer Dogmatik". 37 Hierzu die Nachweise bei: Schröder, Wissenschaftstheorie und praktische Jurisprudenz (N. 30), S. 105. 38 Johann Friedrich Freiesleben, De indole, mediis et usu cognitionis iurisprudentiae civilis vulgaris atque eruditae, Leipzig 1721, § X, S. 10. Die von Schröder, ebd. (N. 30), S. 100 vertretene Auffassung, daß "irgendwelche inneren Anforderungen an ein System hier gar nicht gestellt" werden, vermag m. E. nicht zu überzeugen. Vielmehr läßt die obige TextsteIle deutlich erkennen, daß hier der Sache nach bereits ein Unterschied gemacht wird zwischen einem dem Corpus immanenten Rechtssystem und dem systematischen Anliegen der Jurisprudenz, also zwischen dem inneren und dem äußeren System.

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3. Zu einem rechtswissenschaftlichen Erkenntnissystem umgestaltet wurde das Rechtssystem erst durch die mit Hilfe der juristischen Methodik vorgenommene, mit Mitteln der juristischen Logik (logica iuridica) unterstützte, systematisch geordnete Darstellung des Rechtsstoffs, durch welche die Materie des Rechts in eine wissenschaftliche Form gebracht wurde. 39 a) Im Anschluß an den philosophischen Systembegriff von Christian WolfF ist beispielsweise für seinen Schüler Johann Adam /ckstatt, der diesen Systembegriff in seiner 1731 erschienenen Schrift "Meditationes praeliminares de studio iuris ordine atque methodo scientifica instituendo" auf die Jurisprudenz anwandte, das rechtswissenschaftliche Erkenntnissystem ein Komplex von Gesetzen, die untereinander und mit den ihnen zugrunde liegenden Prinzipien verknüpft sind (complexus legum, inter se et cum principiis suis connexarum, systema iuris audit).41 Die auf diese Weise hergestellte systematische Ordnung des geltenden Rechts erwies sich somit als eine Form der Jurisprudenz, in der diese die charakteristischen Merkmale einer objektiven Disziplin gewinnt, die zugleich auch subjektives Wissen und praktische Fähigkeiten vermittelt (sumitur vero iurisprudentia vel obiective seu systematice, vel subiective seu habitualiter). b) Ganz in diesem Sinne stellt schon in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. die Jurisprudenz nach Auffassung von Daniel Nettelbladt ein Wissen bereit, das in Form von praktischen Kunstregeln eines rechtlich richtigen Verhaltens systematisch geordnete Wahrheiten über die von Rechts wegen bestehenden Rechte und Pflichten enthält (est pars eruditionis dogmaticae, quae continet veritates de iuribus et obligationibus seu iuridicas veritates, in formam artis redactas).42 In methodologiseher Hinsicht durchaus folgerichtig begreift daher Wilhelm Gottlieb Tafinger am Ausgang des 18. Jhdts. als "Rechtswissenschaft" allein die "methodisch verarbeitete Summe aller in Teutschland geltenden Rechte". 43 Die bisherige Entwicklung des deutschen juristischen Systemdenkens resümierend, konnte deshalb J. T. H. Schnaubert in seiner "Wissenschaftslehre des Rechts" im Jahre 1819 feststellen, daß die "Rechtswissenschaft" nicht mehr und nicht 39 Eingehend hierzu: Werner Krawietz, Juristische Logik, in: Joachim Ritter /Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1980, Bd. 5, Sp. 423434. 40 Zu seinem SystembegrifT: Christian Wolff, Philosophia rationalis sive Logica methodo scientifica pertractata, Frankfurt und Leipzig 1728, § 889, S. 635: "Systema enim dicitur veritatum inter se et cum principiis suis connexarum congeries." 41 Johann Adam Ickstatt, ebd., Cap. IV, § 30, S. 143. 42 Daniel Nettelbladt, Nova introductio in iurisprudentiam positivam Germanorum communem, Halle 1772, § 11, S. 10 f. Vgl. ferner: Krawietz, BegrifTsjurisprudenz, S. 436 f. Zum gesamten vorstehenden Zusammenhang jetzt auch Schröder, Wissenschaftstheorie und praktische Jurisprudenz (N 30), S. 43, 103fT., 110. 43 Wilhelm Gottlieb Tafinger, Encyclopädie und Geschichte der Rechte in Teutschland zum Gebrauch bey Vorlesungen, Erlangen 1789, S. 1.

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weniger ist als das "System der Erkenntnisse über den Rechtszustand des Menschen".44 IV. Der mißverstandene Kant: Ertrag seiner kritischen Theorie und Philosophie des Rechts Die hier vorgelegte Deutung steht im Gegensatz zu den überkommenen Deutungen der Rechtsphilosophie Kants, in denen - gestützt auf die Kritiken Kants und deren einseitig interpretierte Konsequenzen für das Rechtsdenken gewöhnlich die erkenntnis- und wissenschafts theoretischen Aspekte in den Vordergrund gerückt wurden und werden. Was demgegenüber die wirklichen Möglichkeiten wahrer Erkenntnis über die Außenwelt und über unser eigenes Erleben angeht, so führt die Verfolgung einer skeptischen Methode mit Bezug auf das Recht als Gegenstand - in - der - Welt heute (1) zu einer stärkeren Betonung der Eigenständigkeit des Rechts und (2) zu einer dementsprechenden Verselbständigung seiner Rechtslehre. Auch hat ein Skeptizismus mit Blick auf den Ertrag der Kritiken Kants für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis (3) eine gesteigerte Verselbständigung seiner Rechtslehre gegenüber der Sittenlehre zur Folge, weil die Orientierung des Rechtsdenkens an der Positivität allen (wirklichen/möglichen) Rechts unvenneidbar wird. 1. Nicht von ungefähr unterschied schon Kant selbst in seiner "Metaphysik der Sitten", welche die Anfangsgründe der Rechtslehre und der Sittenlehre ("Tugendlehre") bietet, zwischen der "Lehre des positiven Rechts", die es mit den "wirklichen" Gesetzen zu tun hat, und der eigentlichen, hierzu komplementären "Rechtslehre", die er als den "Inbegriff der Gesetze" auffaßte, "für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist" .45 In der Tat kann der Jurist - sei es ein Rechtskundiger, der die Gesetze bloß "äußerlich, d. i. in ihrer Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle kennt", oder ein Rechtsgelehrter, der sich um den Aufbau einer universell verwendbaren "Rechtslehre" bemüht, "um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten" praktisch wie theoretisch nicht umhin, im Hinblick auf die Fragen, (1) "was Rechtens sei (quid sit iuris)" und was demzufolge (2) der "Begriff des Rechts" bzw. (3) die "Rechtslehre" sei, zunächst einmal davon auszugehen, "was in irgend einem Lande die Gesetze zu irgend einer Zeit wollen", oder noch genauer: "was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben".46 2. Die Ausbildung eines derart "auf die Praxis" gestellten Begriffs des Rechts und einer fachuniversalen, am jeweils geltenden Recht und seiner Anwendung orientierten, aber sich (i) im Verhältnis zur tradierten Jurisprudenz und (ii) im 44 Julius Theodor Friedrich Schnaubert, Lehrbuch der Wissenschaftslehre des Rechts, Jena 1819, S. 7. 45 WW IV, S. 336f. 46 WW IV, S. 337.

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Verhältnis zur Philosophie partiell verselbständigenden und (iii) gegenüber den jeweiligen örtlichen und zeitlichen Bedingungen und Umständen des Rechts mehr oder weniger indifferenten allgemeinen Rechtslehre, die zumindest in Deutschland seit dem 19. Jhdt. einen ungeahnten Aufschwung erlebte 47 , verdanken sich einer sehr langwierigen, insgesamt sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden Entwicklung des Rechtsdenkens 48 , dessen Voraussetzungen und Folgen erst in den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts in vollem Umfange deutlich geworden sind. 49 a) Noch im 16. Jhdt. bestand weitgehend Einigkeit darüber, daß die Beschäftigung mit dem Recht in Anknüpfung an das tradierte Selbstverständnis der Jurisprudenz seit jeher eine gänzlich praktische Tätigkeit gewesen sei. Daher blieb neben dieser genuin praktischen, d. h. auf bloße Rechtskenntnis und Rechtsanwendung bedachten Jurisprudenz für eine allgemeine, gegenüber den konkreten Bedingungen und Umständen der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle partiell indifferente Lehre oder Theorie des Rechts bzw. für eine Theorie der Rechtswissenschaft gar kein Raum. Auch dort, wo im Hinblick auf die praktische Handhabung des jeweils geltenden Rechts nicht bloß von Jurisprudenz (iuris prudentia), sondern stattdessen auch von Rechtswissenschaft (iuris scientia) die Rede war, wurde zunächst zwischen beiden gar nicht unterschieden. Vielmehr wurden beide Ausdrücke nebeneinander als gleichbedeutend benutzt, da man keine Veranlassung sah, zwischen (i) einer praktischen und (ii) einer theoretischen Jurisprudenz zu differenzieren. 50 b) Selbst dort, wo eine derartige Unterscheidung vorgenommen wurde, erblickte man die "praktische" Jurisprudenz zunächst allein in der Art und Weise und demzufolge auch das, was den Juristen auszeichnet, allein in der Fähigkeit, die gegebenen Gesetze auszulegen und auf menschliche Handlungen anzuwenden (prudentia leges exponendi, easque ad actiones hominum applicandi), während sich die "theoretische" Jurisprudenz gewöhnlich darin erschöpfte, 47 Eingehend hierzu: Werner Krawietz, Zur Kritik der Juristischen Methodenlehre seit Friedrich Carl von Savigny, in: Anales de la Catedra Francisco Suarez 18/19, S. 101-131; Franz Wieacker, Die Ausbildung einer allgemeinen Theorie des positiven Rechts in Deutschland im 19. Jhdt., in: Hans-Martin Pawlowski (Hrsg.), Festschrift für Kar! Michaelis, Göttingen 1972, S. 254-362. 48 Zur Geschichte und den diversen Phasen dieser Entwicklung seit dem hohen und späten Mittelalter: Krawietz, Juristische Logik (FN 39), Sp.430ff.; ders., Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, Wien-New York 1978, S. 86ff., 155ff. 49 Zu dem zweimaligen Paradigmawechsel, der sich in der deutschen Jurisprudenz (i) unter dem Einfluß der Kritiken Kants am Ausgang des 18. Jhdts. und (ii) unter dem Einfluß Iherings in der Wende zu einer soziologischen Jurisprudenz am Ausgang des 19. Jhdts. vollendete: Werner Krawietz, Zum Paradigmenwechsel im Juristischen Methodenstreit, in: ders./Kazimierz Opalek u.a. (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Berlin 1979, S.113-152, 128ff., 131ff. so So expressis verbis: Johann Balthasar Braun, Jurisprudentia in genere ac specie, nova et scientifica methodo publicata, Salzburg 1687, S.200: "Iurisprudentia est scientia absolute et simpliciter practica."

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die hierbei vorausgesetzte inhaltliche Gesetzeskenntnis (cognitio legum) sicherzustellen. 51 Jedoch wurde diese Gesetzeskenntnis nicht als ein systematisch geordneter bzw. zu ordnender Komplex von Erkenntnissen über das Recht angesehen, also auch nicht als Wissenschaft (scientia, episteme) verstanden, sondern zunächst als eine Kunst (ars, techne) begriffen, das heißt als eine subjektive Befähigung (habitus practicus, leges recte interpretandi applicandique).52 c) Die Einteilung in eine "praktische" und in eine "theoretische" Jurisprudenz bezog sich somit im 17. und im 18. Jahrhundert keineswegs auf die durch divergierende Erkenntnisinteressen bedingte Unterscheidung zwischen mehr oder weniger verselbständigten Teildisziplinen der Jurisprudenz, wie ich sie eingangs gekennzeichnet habe. S3 Vielmehr hat sich in der Jurisprudenz eine Ausdifferenzierung in - demjeweiligen Abstraktionsniveau nach unterschiedliche! - Wissenschaftsgebiete, vor allem (i) in eine spezielle Rechtslehre, wie sie heute in den einzelnen Teilgebieten dogmatischer Rechtswissenschaft, beispielsweise im Strafrecht, Bürgerlichen Recht oder Öffentlichen Recht, gepflegt wird, und (ii) in eine allgemeine Rechtslehre oder Rechtstheorie erst sehr viel später und nur ganz allmählich herausgebildet und durchgesetzt. 54 Seither begreift sich die Rechtstheorie als ihrem Selbstverständnis nach allgemeine, im Verhältnis zu allen besonderen Rechtslehren komplementäre, auf höherem Abstraktionsniveau angesiedelte Disziplin, die zu den normativen und kognitiven Aufgaben der praktischen Rechtswissenschaft ihren eigenständigen Beitrag leistet.

3. Ganz offensichtlich verdankt sich die Wende im Rechtsdenken, die sich unter dem maßgeblichen Einfluß der Kritiken Kants und seiner Rechtslehre vollzog, einer Entwicklung, die sich in Deutschland im wesentlichen erst im Verlaufe des 19. Jhdts. vollends durchsetzte. ss Sie kann wohl am ehesten als ein tiefgreifender Wandel im Handlungs- und Forschungsparadigma der gesamten Rechtswissenschaft begriffen werden, das (1) der dogmatischen Rechtswissenschaft, (2) der zugehörigen Juristischen Methodenlehre und (3) der für beide grundlegenden (allgemeinen) Rechtslehre/Rechtstheorie jedenfalls im deutschen Rechtsdenken als Fundament diente. 56 Sie führte mit Blick auf das Recht nicht nur, wie üblicherweise angenommen wird, gleichsam als Ertrag der 51

Schröder (FN 30), S. 13 fT., 21f.

Ebd., S. 15. Eingehend hierzu: Werner Krawietz, Juristische Argumentation in rechtstheoretischer, rechtsphilosophischer und rechtssoziologischer Perspektive, in: Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für Hans-Ulrich Scupin, Berlin 1983, S. 347-390, 348fT. 54 Ebd., S. 350fT., 352f. 5S Hierzu aus der Sicht der Münstersehen Schule der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie wohl als erster: Jürgen Blühdorn, ,Kantianer' und Kant. Die Wende von der Rechtsmetaphysik zur ,Wissenschaft' vom positiven Recht, in: Kant-Studien 64 (1973), S.363-394. S6 Krawietz, Paradigmenwechsel im Juristischen Methodenstreit (FN 49), S. 113 fT., 128f., 144f. S2

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Kritiken Kants zu einer Überwindung der überkommenen Natur- und Vernunftrechtslehren. 57 Unter dem Einfluß seiner durchaus kritischen Rechtslehre kam es vor allem zu einer die bisherigen basalen Vorstellungen allen Rechtsdenkens in Mitleidenschaft ziehenden, tiefgreifenden Zerstörung der bisherigen Metaphysik der Sitten und des Rechts.

Infolgedessen konnten die hergebrachten, bislang unkritisch übernommenen Voraussetzungen und Implikationen des Rechtsdenkens nun schrittweise abgelöst und ersetzt oder - besser und genauer - substituiert werden. Dies geschah im wesentlichen in drei Schritten, nämlich (i) durch die nun dominant werdende Vorstellung von der Positivität allen Rechts, gegenüber welcher ein Natur- oder Vernunftrecht seither allenfalls in einem bloß homonymen Sinne als ,Recht' bezeichnet werden, aber in Wirklichkeit nicht als Recht gelten kann 58, (ii) durch die Begründung der Jurisprudenz als Fachwissenschaft, die unter diesen gewandelten Voraussetzungen nun als ,positive' Rechtswissenschaft etabliert wurde 59 und (iii) durch die Begründung einer gegenüber Moral und Ethik verselbständigten praktischen Philosophie des Rechts, die sich seit Kant - und ich möchte hinzufügen: noch verstärkt und neu begründet durch Hegel! - als Philosophie des ,positiven' Rechts begreift. 60

V. Kritik der Reinen Rechtslehre durch Neuinterpretation der Rechtslehre Kants Geht man heute - im Anschluß an Kelsen und den Neukantianismus - von der Reinen Rechtslehre Kelsens bzw. derjenigen der Wiener rechtstheoretischen Schule aus, so kann diese im Hinblick auf den Regelcharakter des Rechts wie des Rechtssystems wohl am ehesten als ein pointiert herausgestellter, wenn nicht gar übertriebener Normativismus gekennzeichnet werden. Nach normativistischer Konzeption, die hier in ihrer wohl extremsten Form vertreten wird, ist (1) das Recht, verstanden als Kollektivsingular , nichts anderes als eine generelle / individuelle Rechtsnorm, (2) die Rechtsordnung nichts anderes als ein System von Rechtsnormen und (3) die Rechtswissenschaft nichts anderes als ein System von 57 Jürgen Btühdorn, Naturrechtskritik und ,Philosophie des positiven Rechts'. Zur Begründung der Jurisprudenz als positiver Fachwissenschaft durch Gustav Hugo, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 41 (1973), S. 1-17. 58 Problemaufschließend: Jürgen Btühdorn, Zum Zusammenhang von ,Positivität' und ,Empirie' im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft zu Beginn des 19.Jahrhunderts, in: ders. / Joachim Ritter (Hrsg.), Positivismus im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1971, S. 123-159. 59 Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis (FN 48), S. 3, 192f. 60 So ausdrücklich schon: G. W F. Heget, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 18101831. Edition und Kommentar in sechs Bänden von Karl-Heinz Ilting, Zweiter Band: Die "Rechtsphilosophie von 1820", Stuttgart 1974, § 212, S. 658, der nicht nur vom "positiven Rechte" spricht, sondern die "positive Rechtswissenschaft" als diejenige begreift, welche "die Autorität zu ihrem Princip hat".

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Aussagen über Rechtsnormen. 61 Die Geltung und mit ihr zugleich die Daseinsweise oder Existenz der Normen- oder Regelsysteme des Rechts wird hier im wesentlichen reduziert auf eine rein normativistische Rechtsbetrachtung. Sie beschränkt ihre Deutungen - gestützt (i) auf das mit diesem Normativismus verbundene Postulat einer reinen, d. h. von allen nicht rechtlichen Beimengungen befreiten Erkenntnis 62 , (ii) auf eine prinzipielle Dichotomie von Sollen und Sein 63 sowie (iii) auf eine rein normativistische Lehre vom Stufenbau des Rechts 64 , der seinerseits (iv) nicht auf einer gesetzten, sondern bloß auf einer in mente vorausgesetzten Grundnorm 65 basiert - ausschließlich auf "die Rechtsnormen und die durch diese Normen konstituierten Beziehungen 66 " und ignoriert damit sehr weitgehend die Realität des Rechts. 1. Die Vertreter der Reinen Rechtslehre Wiener 67 oder Brünner 68 Schule berufen sich gewöhnlich zur Begründung ihrer Theorie des Rechts bzw. ihrer 61 Hierzu statt anderer: Robert Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, Graz 1964; Wolfgang Schild, Die Reinen Rechtslehren, Wien 1975. Vgl. ferner: Krawietz, Recht als Regelsystem (FN 15), S. 115 f. 62 Werner Krawietz, Reinheit der Rechtslehre als Ideologie? In: ders. j Ernst TopitschjPeter Koller (Hrsg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Berlin 1982, S. 345-421, 348ff., 395ff. 63 Ebd., S. 398ff., 401 f. 64 Jürgend Behrend, Untersuchungen zur Stufenbaulehre Adolf Merkls und Hans Kelsens, Berlin 1977; Andreas Trupp, Zur Kritik der Stufenbautheorie und der wissenschaftstheoretischen Konzeption der Reinen Rechtslehre, in: Werner KrawietzjHelmut Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, Berlin 1984, S. 299-317, 300ff., 314ff. Eingehend hierzu: Werner Krawietz, Die Lehre vom Stufenbau des Rechts - eine säkularisierte politische Theologie? Ebd., S. 255-271, 269ff., der die von Verfassungs wegen erfolgte Etablierung eines Stufenbaus der Rechtsordnung als "Selbsthierarchisierung des Rechtssystems" charakterisiert. 65 Dazu: Werner Krawietz, Grundnorm, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel-Stuttgart 1974, Bd. 3, Sp. 918-922; ders., Reinheit der Rechtslehre als Ideologie (FN 62), S. 394f., 420f. Vgl. ferner: Dieter Kühne, Die Grundnorm als inhaltlicher Geltungsgrund der Rechtsordnung, in: KrawietzjSchelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis (FN 64), S. 193-200. 66 So expressis verbis: Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? In: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe für Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 143 -162, 143 f. 67 Hierzu mit Blick auf Kelsen unter besonderer Berücksichtigung von dessen Spätwerk: Vladimir Kubes, Das neueste Werk Hans Kelsens über die allgemeine Theorie der Normen und die Zukunft der Reinen Rechtslehre, in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht und Völkerrecht 31 (1980), S. 155-199, 180f., 189ff., 192f., der den Einfluß Kants auf die Reine Rechtslehre sehr kritisch und treffend würdigt. 68 Zu letzterer vor allem: Vladimir KubeS, Die Brünner Schule der Reinen Rechtslehre, in: ders.jOta Weinberger (Hrsg.), Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie), Wien 1980, S. 9-32,11 f. Kubes erblickt zwar den gemeinsamen "Charakterzug beider Schulen der Reinen Rechtslehre" mit Grund darin, daß "die transzendentale (kritische) Philosophie Immanuel Kants ihren Ausgangspunkt bildet" und mit ihr auch Kants "Dualismus von Sein und Sollen" als kennzeichnender "Zug beider Lehren" anzusehen ist, doch rügt er mit Recht, daß der Normativismus der Reinen Rechtslehren der "gesamten philosophischen Auffassung Kants" nicht gerecht geworden sei. Dem

22 Festgabe für Alois Troller

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Werner Krawietz

Theorie der Rechtswissenschaft unmittelbar auf Kant. Jedoch zeigen neuere Forschungen, die eine mit Blick auf Kant und die Auswirkungen seiner Kritiken wie seiner Rechtslehre skeptische Methode 69 verfolgen, daß jedenfalls eine unmittelbare Aufnahme seiner Rechtslehre mangels zureichenden Verständnisses derselben zunächst (i) weder in der Rechtsphilosophie noch (ii) in der Rechtstheorie erfolgte. Zumindest wurden gelegentliche, eher indirekte Bezugnahmen nicht angemessen begründet, weil eine adäquate Einsicht· in die von Kant neu konzipierte Positivität des Rechts noch fehlte. Dieses Defizit hatte seinen Grund vor allem darin, daß in der Rezeption des Kantischen Denkens zunächst nur dessen Kritiken im Vordergrund standen und auch allzu einseitig gewürdigt wurden. Wo demgegenüber eine direkte Berufung auf Kants Rechtslehre - wenigstens aus heutiger Sicht - wirklich angebracht erscheint, kann sie diesen neueren Forschungen zufolge nicht im Sinne eines verabsolutierten Normativismus verstanden, sondern muß sie wohl eher im Sinne eines an der Normativität und an der Wirklichkeit allen Rechts orientierten Rechtsrealismus gedeutet werden, der vom Primat der Praxis und den praktischen Handlungsbezügen des Rechts ausgeht. 70 könnte deutlicher pointierend hinzugefügt werden, daß eine derart scharfe Dichotomisierung von Sein und Sollen dem Rechtsdenken Kants fremd war. Auch Jaromir Sedlacek, Die Rechtsnorm, ebd., S.324-338, 324f. erinnert sehr treffend daran, "daß die Reine Rechtslehre ihre Fundamente in der Philosophie Kants hat, wenn auch nicht direkt, sondern über Schopenhauer und die Marburger Schule". Und Karel Englis, Kritik der Normativen Theorie, ebd., S. 176-193, 177f. moniert mit Grund, daß der Kantische "Dualismus dessen, was ist, und dessen, was sein soll", "für die normativen Rechtstheoretiker zum Dogma geworden" ist. 69 Zu den Voraussetzungen eines auch gegenüber Kant und dem Neukantianismus durchaus angebrachten normentheoretischen Skeptizismus, der einem verabsolutierten Dogmatismus wie einem übertriebenen Kritizismus gleichermaßen mit einem auf Vorurteilskritik bedachten, vernünftigen Zweifel (dubitatio rationalis) begegnet: Odo Marquard, Skeptische Methode im Blick auf Kant. Münstersche Diss. phi\., Freiburg 1958, S. 57ff., 68ff.; G. E. Moore, Four Forms of Scepticism, in: ders., Philosophical Papers, London-New York 1959, S. 196-226; Gerard Radnitzky, Über empfehlenswerte und verwerfliche Spielarten der Skepsis, in: Ratio 7 (1965), S. 109-135; Enno Rudolph, Skepsis bei Kant. Ein Beitrag zur Interpretation der Kritik der reinen Vernunft, München 1978; Norbert Hinske, Skeptische Methode, in: Joachim Ritter jKarifried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel-Stuttgart 1980, Bd. 5, Sp. 13711375; Christoph Wild, Philosophische Skepsis, Königstein/Ts. 1980. Eine skeptische Methode mit Blick auf Kelsen und Kant verfolgt: Krawietz, Recht als Regelsystem (FN 15), S. 132f. Zur Genese des modernen Kritikbegriffs vor dem Hintergrund des Skeptizismus jetzt auch: Werner Schneiders, Vernünftige Zweifel und wahre Eklektik, in: Studia Leibnitiana XVIII 2 (1985), S. 143-161, 156ff., 159f. 70 Eingehend (i) zur Problematik der Praxis als einem Handeln und (ii) zum praktischen Handlungsbezug des Rechts, der alles Handeln als Form der "Teilnahme am normativ bestimmten Leben einer Gemeinschaft" begreift: Friedrich Kaulbach, Das transzendentaljuridische Grundverhältnis im VernunftbegriffKants und der Bezug zwischen Recht und Gesellschaft, in: ders.jWerner Krawietz (Hrsg.), Recht und Gesellschaft, Berlin 1978, S. 263 - 286, 291 f., 318; ders., Rechtsrationalität in der Perspektive einer transzendentaleri Handlungstheorie, in: Norbert Achterberg/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hrsg.), Recht und Staat im sozialen Wandel, Berlin 1983, S. 333-345, 341ff., 344f. Den wohl

Normativismus oder Skeptizismus?

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2. Es ist eine schlichte, aber betrübliche Tatsache, daß die im Anschluß an Kant begründete Theorietradition des Neukantianismus zunächst keinen unmittelbaren Bezug zur Kantischen Rechtslehre herstellte, sondern sich hauptsächlich auf die Kritiken Kants und deren Ertrag für die Rechtsphilosophie stützte. 71 So ging beispielsweise Rudolf Stammler von Kants kritischer Philosophie aus, nicht von seiner Rechtslehre. Der Grund hierfür dürfte ganz allgemein in derfreilich verfehlten - negativen Einschätzung der Rechtslehre Kants zu erblicken sein, die im einschlägigen Schrifttum zu Unrecht als unkritisch 72 oder doch jedenfalls als mindere Leistung 73 angesehen wurde. Richtigerweise wird überzeugendsten Versuch, "die gelegentliche Berufung Kelsens auf Kant auf ihre Berechtigung hin zu prüfen", aber zugleich auch eine "Konfrontation der Position Kelsens mit derjenigen Kants" bietet: Friedrich Kaulbach, Begründung der Rechtsnormen in Reiner Rechtslehre und in einer transzendentalen Philosophie des Rechts, in: Werner KrawietzjHelmut Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, Berlin 1984, S. 349-367, 351 ff., 366f. Zu dem für die heutige westdeutsche Rechtstheorie durchaus charakteristischen, vor allem für die Münstersche Schule der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie signifikanten Regelskeptizismus, der gewöhnlich (i) in Form eines Normenskeptizismus und (ii) eines Faktenskeptizismus in Erscheinung tritt: Werner Krawietz, Zur Korrelation von Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsanwendung, in: Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, Köln 1986, S. 517 - 553, 527 ff., 547 ff. 71 Hierzu vor allem: Julius Ebbinghaus, Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus, in: Gerold Prauss (Hrsg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973, S. 322-336, Vgl. ferner: Hans-Ludwig Ollig, Der Neukantianismus, Stuttgart 1979; ders., (Hrsg.), Neukantianismus, Stuttgart 1982. Das gänzlich vergebliche Bemühen, kantianische Rechtsphilosophie zu betreiben, ohne an Kants Rechtslehre anzuknüpfen, ist nicht nur charakteristisch für Rudolf Stammler und die Marburger Schule des Neukantianismus (Hermann Cohen, Paul Natorp), sondern auch für die Heidelberger Schule bzw. die Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus (Heinrich Rickert, Paul Windel band), durch die auch das Rechtsdenken Gustav Radbruchs maßgeblich geprägt wurde. 12 So ausdrücklich, aber m. E. unzutreffend: Christian Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, Frankfurt a. M. 1971, S. 16 ff., 339 f., der von der Annahme ausgeht, "daß die kantische Rechtslehre nicht teilhat an dem säkularen Fortschritt der kantischen Philosophie", den Bruch zwischen der "kritischen" Theorie Kants und seiner - vermeintlich! - nicht kritischen Rechtsmetaphysik aus den historischen Bedingungen zu erklären sucht und deshalb keinen Zugang zu Kants originärer Philosophie und Theorie des Rechts gewinnt. Gänzlich verfehlt erscheint daher auch seine Würdigung der in der Metaphysik der Sitten enthaltenen Rechtslehre Kants, die nach Ritters Auffassung angeblich nicht nur "nicht durchgehend die deutlichste Fassung seiner Gedanken" bietet, sondern auch "nicht entfernt den Reichtum und die Beweglichkeit, die Intensität und die Offenheit seines Rechtsdenkens erkennen läßt". Ein ärgeres Mißverständnis gibt es wohl kaum! 73 Diese durchaus typische Vorurteilsstruktur referiert auch: Ralf Dreier, Zur Einheit der praktischen Philosophie Kants, in: Perspektiven der Philosophie 5 (1979), S. 5 -37, 6ff., 9f., wenn er im Hinblick auf die metaphysischen "Anfangsgründe der Rechtslehre" Kants bemerkt, es sei "spätestens seit dem Neukantianismus eine unter philosophischen wie juristischen Interpreten verbreitete Auffassung, daß es Kant nicht mehr gelungen sei, die transzendentale Methode in seiner Rechtslehre konsequent fruchtbar zu machen und die systematische Verbindung zwischen dieser und seinen kritischen Hauptschriften 22"

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Werner Krawietz

demgegenüber die Rechtslehre Kants nicht nur, wie eingangs dargelegt, als eigenständiges, von den Kritiken Kants relativ unabhängiges Werk anzusehen sein, sondern, wie neuerdings Gerd-Walter Küsters nachgewiesen hat, vor allem als selbständige "kritische Leistung angesprochen werden können". 74 Mit der längst fälligen Neuinterpretation der Rechtslehre Kants wird freilich zugleich der Reinen Rechtslehre Kelsens die bisherige - vermeintliche! Grundlage entzogen, denn es geht nunmehr auch in der Theorie und Philosophie des Rechts in der Tat um die durch und seit Kant in das Zentrum des Rechtsdenkens gerückte Frage, (1) "aufweiche Faktizität sich die Rechtslehre bezieht" und (2) "wie die Vermittlung von Recht und Realität zu denken" ist. 75 Und es geht (3) um diese beiden - miteinander natürlich verknüpften Aspekte der Fragestellung in genau dieser (und nicht in der umgekehrten!) Reihenfolge. Es handelt sich somit nicht nur um das Erfordernis einer neuen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Reinen Rechtslehre, sondern vielmehr um eine Antwort auf die Frage, ob ein reiner Normativismus, wie ihn die Wiener rechtstheoretische Schule intendiert, mit Blick auf den Gegenstand Recht, was immer das sein mag, überhaupt möglich ist. Sollte diese Frage, wie hier angenommen wird, schlechthin zu verneinen sein, so muß sich auch die normativistische Rechtstheorie - wohl oder übel- mit den Erfordernissen einer rechtsrealistischen Normentheorie vertraut machen. Auch diese Einsicht verdankt sich Kants kritischer Theorie und Philosophie des Rechts, sofern man sie zureichend zu deuten versteht. 3. Ferner ist bis auf den heutigen Tag unaufgeklärt geblieben, (1) welcher Stellenwert dem Denken Kants mit Blick auf die Konzeption der Reinen Rechtslehre in Wirklichkeit zukommt und (2) welche Fernwirkungen von Kants Rechtsdenken ausgehen. herzustellen". Wie die neuere Kantforschung beweist, findet dieses Vorurteil in der Rechtslehre Kants keine Stütze. Zu den vermeintlichen Gründen für die "Verneinung einer kritischen Rechtsphilosophie Kants", die von ihm als unangemessen angesehen wird, vgl. ferner: Werner Busch, Die Entwicklung der kritischen Rechtsphilosophie Kants 17621780, Berlin-New York 1979, S. H. ZU der obigen Fehleinschätzung mag auch, wie Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 1983, S.208f. sehr treffend bemerkt, das abfällige, aber unrichtige Urteil Schopenhauers beigetragen haben, "er könne die ~echtslehre nur aus Kants Altersschwäche erklären". 74 Hierzu jetzt den überaus anregenden und informationsreichen Bericht über die einschlägigen "Erträge der Forschung" von: Gerd-Walter Küsters, Kants Rechtsphilosophie, Darmstadt 1987, vor allem Teil IV "Neukantianismus und Rechtslehre" (in Druck). Zu demselben Ergebnis gelangt auch: Höffe, Immanuel Kant (FN 73), S. 211, der sehr treffend betont, daß Kants Rechtslehre durchaus "keine vorkritisch-dogmatische, sondern eine kritische Philosophie (ist), die jenen Vernunftbegriff des Rechts entwickelt, der flir alle positive Gesetzgebung die Bedeutung eines höchsten normativ-kritischen Maßstabes hat". Jedoch macht er zu Recht darauf aufmerksam, daß die Rechtsphilosophie "weder den Gesetzgeber noch den Richter ersetzen" kann. 7S Küsters (FN 74), IV a. E.

Nonnativismus oder Skeptizismus?

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a) Seit geraumer Zeit regen sich Zweifel, ob die transzendentale Philosophie Kants wirklich die Basis für die Reine Rechtslehre abzugeben vermag, wie von deren Apologeten gern behauptet wird. Auch erscheint es aus den eingangs dargelegten Gründen schwer verständlich, daß ausgerechnet Kant mit seiner durchaus realistischen, allein an dem wirklichen/möglichen Recht orientierten Normen- und Handlungstheorie 76 die Rechtfertigung für den verabsolutierten Normativismus der Wiener rechtstheoretischen Schule geliefert haben sollte. 77 Man wird daher allen Versuchen, den übertriebenen Normativismus der Reinen Rechtslehre ausgerechnet auf Kants Theorie und Philosophie des Rechts zu stützen, mit der nötigen Skepsis zu begegnen haben. b) Selbst von denjenigen, die einer rein normativen Theorie des Rechts nahestehen oder doch zumindest nahestanden, wird - aus der Perspektive eines Rückblicks, den das jetzt vorliegende Spätwerk Kelsens erlaubt - heute sehr deutlich gesehen, daß dieser beim Aufbau seiner Normentheorie sich keineswegs unmittelbar auf die Rechtslehre Kants stützte, sondern die "ganze transzendentale Philosophie durch die Brille der Cohenschen Interpretation von Kants Lehre" betrachtete. 78 Auch ist heute sehr viel deutlicher als bisher, "daß die Cohensche Interpretation der transzendentalen Philosophie einseitig (war) und keinesfalls der gesamten philosophischen Auffassung Kants gerecht" wurde 79. Es erscheint daher nicht weiter verwunderlich, daß Kelsen, freilich nicht unter dem unmittelbaren Einfluß der Kantischen Theorie und Philosophie des Rechts, sondern "unter dem Einfluß des Marburger Neukantianismus" rein normativistisch argumentierend, "im Recht und im Staat nur eine Norm, ein Sollen" erblickte. 80 76 Grundlegend: Friedrich Kaulbach, Plädoyer für ein tranzendental-philosophisches Programm im Kontext der gegenwärtigen Rechtsphilosophie, in: RECHTSTHEORIE 10 (1979), S. 49-69, 62ff., 65f.; ders., Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, Berlin-New York 1978; ders., Einruhrung in die Philosophie des Handeins, Dannstadt 1982, S. 33 ff., 135 ff., 161 ff. Vgl. ferner zur gesellschaftlichen Funktion des Rechts in der Philosophie Kants: Volker Gerhardt, Recht und Herrschaft, in: RECHTSTHEORIE 12 (1981), S. 53-94, 73ff., 78f. Zum Wirklichkeits- und Handlungsbezug des heutigen Rechtsdenkens vgl. ferner: Alois Troller, Rechtskonstruktion und Rechtswirklichkeit, in: RECHTSTHEORIE 11 (1980), S. 137 -150,138 ff.; ders., Das Rechtsdenken aus bürgerlicher und marxistisch-leninistischer Perspektive, Zürich 1986, S. 34ff., 43ff. Auf eine Erörterung der Voraussetzungen und Folgen seines "kritischen Rechtsrealismus" muß ich leider - entgegen meiner ursprünglichen Absicht! - hier verzichten, da eine angemessene Behandlung dieser Thematik den Rahmen meines obigen Beitrags gesprengt hätte. Ich werde sie alsbald an anderer Stelle folgen lassen. 77 Hierzu die tiefschürfende Kritik von: Günther Winkler, Sein und Sollen. Betrachtungen über das Verhältnis von Sein und Sollen im Hinblick auf das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und Recht, in: RECHTSTHEORIE 10 (1979), S. 257 -280, 265 ff., 279 f. Vg1. ferner: Werner Krawietz, Verhältnis von Macht und Recht in staatlich organisierten Rechtssystemen, in: Paul Hofmann u.a. (Hrsg.), Festschrift rur Klemens Pleyer, Köln 1986, S. 217 -235, 222ff., 231 f. 78 Vladimir Kubes, Das neueste Werk Hans Kelsens über die allgemeine Theorie der Nonnen (FN 67), S. 180f. 79 Ebd., S. 189.

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c) All dies gilt nicht nur für die Wiener, sondern - in entsprechender Weise - auch für die Brünner Schule der Reinen Rechtslehre, die von ihrem Begründer Franz (Frantisek) Weyr (1879-1951) von vornherein als eine rein "normative Theorie" konzipiert wurde. Wie dessen früherer Schüler Vladimir Kubd überzeugend darlegt, stützt sich auch die Brünner Version des Normativismus vornehmlich auf die transzendentale (kritische) Philosophie Immanuel Kants, doch geschieht dies gleichfalls nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch die Interpretation von Schopenhauer, die dieser der kritischen Philosophie Kants gegeben hat. Während Kelsen die Lehre Kants "durch die Brille von Cohen" sieht, erblickt Weyr sie "durch die Brille Arthur Schopenhauers". 81 Nach allem wird somit die Grundlegung des Normativismus, die seinerzeit im Rahmen der Wiener bzw. der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre erfolgte, bis auf den heutigen Tag durch die teils einseitigen, teils zu stark vereinfachten philosophischen Interpretationen belastet und verunklärt, die den Kantischen Kritiken und seiner Rechtslehre (1) durch die Cohensche und (2) durch die Schopenhauersche Deutung des Kritizismus zugefügt wurden. Infolgedessen stehen sämtliche Schul richtungen der Reinen Rechtslehre, allen voran natürlich ihr wichtigster Repräsentant, das Wiener Hans Kelsen-Institut, wie Kubes selbstkritisch und sehr treffend dargelegt hat, heute vor der "Aufgabe, eine neue philosophische Fundierung for die in der ganzen Welt so verbreitete und so berühmt gewordene Schule zu suchen". 82 Vor allem ist gegenwärtig ungeklärt, (i) welchen genauen Platz, d. h. welchen rechtspraktischen und rechtstheoretischen Stellenwert der Normativismus in der geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung des Rechts bzw. des Rechtsdenkens einnimmt, und (ii) ob und bejahendenfalls wie der Normativismus zu einer neuen, ihn tragenden Grundlage zu gelangen vermag, d. h. wo das Recht in seiner Normativität bzw. wo eine rein normativistische Rechtslehre im "Aufbau der Welt" ihren wirklichen "Heimatort" findet. 83 Jedenfalls kann der Normativismus der Reinen Rechtslehre Kelsens seine Grundlage weder in den Kritiken Kants noch in dessen kritischer Philosophie und Theorie des Rechts finden, da Kant - mit Grund skeptisch gegenüber einer bloß natur- oder vemunftrechtlichen Argumentation - in seiner Begründung des Rechts und seiner Rechtslehre auf die rechtserzeugenden Institutionen, wie den Gesetzgeber und den Richter, nicht verzichten wollte und demzufolge auch einer Verabsolutierung der Dichotomie von Normen und Fakten mit all ihren mißlichen Konsequenzen nicht zustimmen konnte.

80

8! 82 83

Ebd., S. 190. KubeS, Brünner Schule (FN 68), S. 13. KubeS, Das neueste Werk Hans Kelsens (FN 67), S. 192. Ebd., S. 192, 195.

Das Recht und die Ästhetik Von Vilmos Peschka, Budapest "Gesetze und mit ihnen alle einzelnen Rechtssätze sind gleich den Werken der Literatur und Kunst und Wissenschaft geistige Sachen. "* ( Alois Trailer)

I.

Die Verbindung des Rechts mit dem Ästhetischen durch das Bindewort und erweckt jedenfalls urheberrechtliche Reminiszenzen. Es treten jene Gedanken in den Vordergrund, die mit dem rechtlichen Schutz des ästhetischen Werks, also mit jenen Rechtsverhältnissen in Verbindung stehen, deren Objekt das künstlerische Werk ist Wir wissenjedoch sehr gut, daß im Rechtsschutz des Kunstwerkes die ästhetische Qualität nur eine geringe Rolle spielt Die folgenden Erörterungen werden daher keineswegs urheberrechtlicher Natur sein - wie vortremich der Jubilar dieses Bandes auch immer als Jurist im Bereich des Urheberrechts sein mag ..,--, sondern sie sind, wie schon das Motto des Beitrags herausstellt, rechtsphilosophischer Art Alois Troller ist nämlich vor allem Rechtsphilosoph und ein hervorragender Vertreter jener phänomenologischen Rechtsphilosophie, die das Recht als geistige Erscheinung in ständiger Verbindung mit den gesellschaftlichen und anderen geistigen Erscheinungen sieht und sie miteinander vergleicht Demzufolge bedarf das Verhältnis des Rechts und des Ästhetischen als Verbindung beider Objektivationen der Erhellung. Es handelt sich darum, daß die geistigen Objektivationen als solche nicht bloß über gemeinsame Züge verfügen, sondern auch über unterscheidende Eigenarten, welche ihre Existenz begründen und es überhaupt ermöglichen, daß sie ihre gesellschaftliche Bestimmung erfüllen. Im Vordergrund des philosophischen Interesses stehen infolgedessen Eigenarten, die das Recht vom Ästhetischen als geistige Objektivation unterscheiden. Alle zu untersuchen fehlt hier der Raum. Deshalb beschränken wir die Aufmerksamkeit auf zwei Momente, die uns den Objektivationscharakter des Rechts wie den des Ästhetischen prägnant vor Augen führen sowie das, worin und wie sich diese geistigen Objektivationen - unter anderem - infolge ihrer Eigenarten unterscheiden. Es handelt sich um ein inhaltliches und ein formelles Moment: einerseits um die im homogenen Mittel des Rechts

* Alois Trailer, Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main-Berlin 1965, S. 114.

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und des Ästhetischen sich bezeugenden abweichenden Eigenarten, namentlich um das Typische des im Recht und im Kunstwerk sich ausdruckenden Inhalts, andererseits um die abweichende Eigenart der Geltung und des zur Verwirklichung Kommens der rechtlichen und ästhetischen Objektivationen. Unerläßlicher Ausgangspunkt des Verstehens und Erhellens beider Probleme ist, daß das Recht wie das Ästhetische in die Welt der gesellschaftlichideologischen Objektivationen gehört. Als solche lösen sie sich einerseits vom Bewußtsein ihrer Schöpfer los und existieren als davon unabhängige Vergegenständlichung, ideologisch als Recht oder Ästhetisches dadurch, daß ihr Inhalt einen Empfänger, das heißt ein Bewußtsein findet, welches diesen annimmt und sich aneignet. Zum Objektivation-Sein des Rechts und des Ästhetischen, zum Heraustreten der rechtlichen und ästhetischen Inhalte aus dem Bewußtsein, zum Äußeren und zum Selbständigwerden bedarf es jedoch eines bestimmten Mittels und zwar eines eigenartig geformten Mediums. Sowohl der rechtliche als auch der ästhetische Bewußtseinsinhalt müssen sich offenbaren, äußern und zwar in einer äußerlichen, realen Materie, um durch dieses Medium selbständig zu werden und sich aus dem Bewußtsein herauszuheben und sich davon loszulösen. Davon spricht Goethe im allgemeinen, wenn er diese Entfaltung charakterisiert: "Was wir als Handlung und Tat, als Wort und Schrift gegen die Außenwelt richten: dieses gehört derselben mehr an als uns selbst, so wie sie sich daruber auch eher verständigen kann als wir es selbst vermögen 1 ." Goethe führt eigentlich all jene Substanzen und Medien an, in welchen der rechtliche Bewußtseinsinhalt sich objektivieren kann. Aber die Objektivierung des Ästhetischen - um das Abweichen anzudeuten - kann sich auch noch in anderen Medien vollziehen. Denken wir bloß an den Reichtum der Objektivationsmittel des Bildhauers oder des Malers. "Der Rechtssatz und das Gesetz bestehen materiell als physisches Gebilde, die als Papier und Druckerschwärze sinnlich wahrnehmbar sind. Es handelt sich um die im Urheberrecht als corpus mechanicum bekannte Materialisationsform des Geisteswerkes (Leinwand und Farben, behauender Stein, Buch und Noten usw.)2." Da die durch Goethe angeführten vermittelnden Medien nicht allein die Materie der rechtlichen Objektivation bilden, sondern - unter anderem - auch die des Ästhetischen, bedarf die Erscheinung des rechtlichen wie auch des ästhetischen Bewußtseinsinhalts in den erwähnten Materien noch weiteren Formens und Umgestaltens zum eigenartig homogenen Medium, um von rechtlichen oder ästhetischen Objektivationen sprechen zu können: "Dieses Medium ist ... , so schreibt György Lukacs 3 , nicht eine von der Tätigkeit der Menschen unabhängig vorhandene objektive Realität wie eine Tatsache, ein 1 Goethe, Spruchweisheit in Vers und Prosa. Tempel-Classiker, Goethes Sämtliche Werke, Leipzig, Bd. 111, S. 370. 2 Troller (FN *), S. 114. 3 György Lukacs. Die Eigenart des Ästhetischen, Berlin-Weimar 1981, Bd. 1, S. 607.

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Zusammenhang in Natur oder Gesellschaft, sondern ein besonderes Formungsprinzip der Gegenständlichkeit und ihrer Verknüpfungen, die von der Praxis der Menschen eigens hervorgebracht werden." Die Ausprägung im eigenartigen homogenen Medium des rechtlichen wie auch des ästhetischen Bewußtseinsinhalts bringt das Formen der'Materie, die Reduktion der Ausdrucksmittel und ihre Beschränkung, die Einengung der gesellschaftlichen Tatsachen und Verhältnisse, die Selektion der inhaltlichen Elemente und Momente mit sich. Diese Reduktion und Beschränkung geht einerseits vor sich im Hinblick auf jenes Medium, in welchem sich der Bewußtseinsinhalt ausdrückt, andererseits im Interesse, den Zielen, der Bestimmung und der Wirksamkeit der vorliegenden Objektivation. In der Reduktion und Selektion des gesellschaftlichen Inhaltes vom Standpunkt der Bestimmung der ideologischen Objektivation spielen Kategorien, wie z. B. das Einzelne, das Besondere, das Allgemeine und der Typus, eine bedeutende Rolle. Sowohl in der rechtlichen als auch in der ästhetischen Objektivation, in der Ausprägung der eigenartig rechtlichen oder ästhetischen homogenen Mittel, ist gleichermaßen die Kategorie des Typus zu finden, der jene konkretesten und entwickeltsten notwendigen Eigenschaften des konkreten gesellschaftlichen Verhältnisses, der Situation oder Erscheinung des im konkreten gesellschaftlichen Verhältnis erscheinenden Menschen und seiner Tätigkeit, zusammenfaßt, in welchen die gesetzmäßigen, wesentlichen allgemeinen Bestimmungen sich klarer und augenscheinlicher ankündigen. Der Typus ist konzentrierte, gedankliche Darstellung der aus der konkreten, objektiven gesellschaftlichen Situation und den Gesetzmäßigkeiten abgeleiteten, aus diesen notwendigerweise folgenden Züge und Relationen: Unter Typus versteht man "die konzentrierte Zusammenfassungjener Bestimmungen ... , die eine bestimmte konkrete Stellung in der Gesellschaft, vor allem im Produktionsprozeß objektiv notwendig hervorruft. Damit ist der ... Begriff des Typus dem der allgemeinen Gesetzlichkeit untergeordnet. Er hat also im Leben wie in der Wissenschaft unmittelbar den Charakter der Besonderheit4 ." Der Typus ist also eine gesellschaftliche Erscheinung und Kategorie, die durch die objektiven Gesetzmäßigkeiten und die wesentliche Allgemeinheit des konkreten gesellschaftlichen Verhältnisses bestimmt ist. Indem Typen die aus diesen notwendig sich herstellenden, konkretesten und entwickeltsten Eigenschaften, Bestimmungen und Beziehungen zum Ausdruck bringen bis hin zum höchsten Grad ihrer realen Widersprüchlichkeit, erfassen sie so die wesentliche Allgemeinheit wie auch die individuelle Erscheinungsform der gegebenen konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse und der Situation, in der sie so bewahrt und enthalten sind, daß sich in ihnen die gesetzmäßigen, die allgemeinen und die wesentlichen Bestimmungen noch klarer zeigen.

4 György Lukacs. Über die Besonderheit als Kategorie der Ästhetik, in: Georg Lukacs, Werke, Bd. 10.

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11. Die Ausprägung des Typus, der typischen Lebenssituationen und des Verhaltens haben im Recht bzw. im Ästhetischen selbstverständlich verschiedene Zwecke und verschiedene Bestimmungen. Eines der heikelsten Probleme der rechtlichen Regelung und der Rechtspflege ist die Gestaltung einer reibungslosen Verbindung zwischen der individuellen Lebenssachlage, der Individualität des Rechtsfalls und der Allgemeinheit der Rechtsnorm. Die Kategorie des Typus ist somit infolge der erwähnten eigenartigen Züge und Kriterien, besonders dadurch, daß sie jene am weitesten entwickelten individuellen Züge der gesellschaftlichen Situationen und des Verhaltens erfaßt, in welchen das gesellschaftlich Allgemeine noch offenbarer wird, gerade durch ihre Besonderheit ein optimales Mittel dafür, den Inhalt der Rechtsnorm so zu gestalten, daß er geeignet ist, die individuellen konkreten Fälle unmittelbar praktisch zu beeinflussen. Deshalb entnimmt der Gesetzgeber aus der Mehrzahl einzelner Fälle "das Bild des Typus der darin handelnden Personen und der einbezogenen Sachen" 5. Wenn der Gesetzgeber als Inhalt der Rechtsnorm typische Situationen, Sachverhalte und Verhaltensweisen konzipiert, erleichtert er es dem Rechtsanwender außerordentlich, den konkreten Lebenssachverhalt zum Rechtsfall zu formen und unter die allgemeine Geltung der Rechtsnorm einzureihen. Im Ästhetischen hat die Kategorie des Typus selbstverständlich eine ganz andere Rolle und Funktion. Sie ist dazu berufen, die evokative Kraft der ästhetischen Objektivation zu begründen. Sie dient dazu, die im Kunstwerk gestalteten gesellschaftlichen und menschlichen Situationen, Entscheidungen und Wahlen zu erleben und damit zugleich die Selbsterkenntnis der Menschheit auf kathartische Weise zu ermöglichen. Infolgedessen erscheinen beide Objektivationen und die im Interesse der abweichenden gesellschaftlichen Bestimmung des Rechts und des Ästhetischen angewendete Kategorie des Typus im Recht wie im Ästhetischen selbstverständlich auf eigenartige Weise. Sie unterscheiden sich ganz bedeutend voneinander. Wir erblicken den bereits angemerkten, höchst bedeutsamen Unterschied bei dem im Recht bzw. im Ästhetischen vorkommenden Typus darin, daß die Typen in der Rechtsnorm definiert erscheinen. Im Ästhetischen ergibt den eigenartig ästhetischen Charakter des Typischen jene Art des Ausdrucks, die darin besteht, daß dort das die Besonderheit repräsentierende Typische in seiner unmittelbaren Sensualität erscheint, ohne dem Allgemeinen im Bewußtsein die eigenartige, von der Erscheinungsform abgesonderte Form zu geben, also unter Ausschaltung der gedanklichen Unmittelbarkeit des Allgemeinen 6 • Im Inhalt

5 Alois Troller, Die Begegnung von Philosophie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft, Dannstadt 1971, S. 32. 6 Lukacs, Werke (FN 4), Bd. 10, S. 720.

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der Rechtsnorm handelt es sich hingegen um das gedankliche, begriffliche Erfassen, Befestigen und Herausheben des Typischen, um das rein begriffliche Darstellen der typischen Züge der zu regelnden gesellschaftlichen Verhältnisse, Situationen und Vorgänge, des Verhaltens und der Tätigkeit der an ihnen teilnehmenden Menschen. Im Rechtsnorminhalt ist also das Ergreifen und Darstellen der typischen Züge und Momente der gesellschaftlichen Verhältnisse und Verhaltensweisen nicht sensuell (wie im Ästhetischen), sondern es geht auf kontemplative Weise in gedanklicher Unmittelbarkeit vor sich. Es handelt sich darum, daß im Inhalt der Rechtsnorm die Typen, d. h. die typischen Züge der gesellschaftlichen Verhältnisse, Situationen, Umstände, Vorgänge und menschlichen Verhaltensweisen, genau definiert erscheinen. Diese Definiertheit des Typus im Inhalt der Rechtsnorm bringt eine eigenartige Hierarchie zustande zwischen der Allgemeinheit des Begriffes, der Definition und der Besonderheit des Typus, d. h. der typischen Züge. Der Typus und die typischen Züge werden infolge ihrer Definiertheit dem Allgemeinen, d. h. der Allgemeinheit der definitionsartigen Begrifflichkeit, untergeordnet. Solange im Ästhetischen "das Allgemeine und das Besondere ... im Verhältnis der Inhärenz (stehen), wobei naturgemäß die Besonderheit ... die Grundlage jener Substantialität bildet, der die Allgemeinheit inhäriert" 7 , solange ist beim Recht im inhärenten Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen das Allgemeine die Grundlage jener Substantialität, zu der das Besondere gehört. Diese begriffliche Definiertheit ändert und modifiziert ganz zweifellos - die Beweglichkeit und Flüssigkeit des Typus, der typischen Züge, d. h. jene Eigenart, die diese Kategorie durch Verbindung der Allgemeinheit und der Totalität der Rechtsnorm mit der Individualität des konkreten Falles so anwendbar macht. Doch die begriffliche Definiertheit des Typus, des Typischen im Inhalt der Rechtsnorm, d. h. des die Besonderheit repräsentierenden Typus, hebt keineswegs diese im Realisationsvorgang der Rechtsnorm sich offenbarende segensreiche Wirkung auf. Die Besonderheit des Typus bewahrt sich nämlich in den begrifflichen Allgemeinheiten der Definitionen, doch wird sie infolge ihrer Definiertheit verfestigt, verhältnismäßig steif, begrenzt und damit auch weniger beweglich und fluid. Jedoch macht die unerläßliche Forderung nach rechtlicher Regelung, das heißt nach Rechtssicherheit, genau dies auch unbedingt notwendig. Die Definiertheit des Typus im Inhalt der Rechtsnorm, die den Bewegungsspielraum zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen des Typus befestigt und begrenzt, bedient sich - ohne sie gänzlich aufzuheben - der zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen vermittelnden Eigenschaft der Kategorie des Typus.

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Lukacs, Die Eigenart des Ästhetischen (FN 3), Bd. 11, S. 245.

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111. Wenn bisher bei der Untersuchung der Rolle des Typus im Recht und im Ästhetischen die Aufmerksamkeit entscheidend auf den Vorgang der Trennung und Ablösung dieser gesellschaftlichen Objektivationen vom Bewußtsein gerichtet war, dann werden wir jetzt, um die Verschiedenheit der ästhetischen und rechtlichen Objektivation aufzuzeigen, näher untersuchen, wie sie - sei es rechtlich, sei es ästhetisch - zur Geltung gelagen unter aktiver Mitwirkung des Bewußtseins des Subjekts. Es handelt sich um die von Nikolai Hartmann 8 betonte unerläßliche Bedingung der Existenz ideologischer Objektivationen, d. h. daß diese als Objektivationen nur durch die Rezeption des Subjekts, durch effektive Mitwirkung des jeweiligen Bewußtseins existieren und zur Geltung kommen können. Unsere Aufgabe besteht also darin, daß wir die angesichts der gesellschaftlichhistorischen Existenz und Seinsart jeder gesellschaftlichen Objektivation auftauchende Frage, wie in dieser Beziehung das Gesetz des Verhältnisses des Subjekts und des Objekts zur Geltung gelangt, für das Recht und für das Ästhetische zu beantworten suchen. Bezüglich des Ästhetischen ist - nach der Erörterung von György Lukacs9 - klar, daß die These, es gibt kein Objekt ohne Subjekt, unbedingt gültig ist. Zwar ist es wahr, daß das ästhetische Objekt in seinem materiellen Sein irgendwie vom Bewußtsein unabhängig ist, doch dann existiert es in dieser Unabhängigkeit vom Bewußtsein ästhetisch nicht. Weil die Existenz des Ästhetischen als Objektivation die Setzung des Subjekts beansprucht, können wir voraussetzen, daß die ästhetische Objektivation im empfangenden Subjekt auch gewisse Erlebnisse hervorruft. Ohne dies hört das ästhetische Gebilde als solches auf und es bleibt der Stein, die Leinwand, ein Objekt, das so ist wie die anderen und das als solches unabhängig von jeder Subjektivität existiert. Bezüglich der rechtlichen Objektivation kann jedoch weder die unbedingte Mitwirkung des Hartmannschen "lebenden Geistes" 10 noch die von György Lukacs bezüglich des Ästhetischen eröffnete These: es gibt kein Objekt ohne Subjekt unmittelbar und ohne Beschränkungen festgestellt werden. Der unbedingte Ausgangspunkt der Analyse ist die Tatsache, daß die. rechtliche Objektivation, wie beispielsweise die Rechtsnorm, das richterliche Urteil oder der Kontrakt, in seinem konkreten Material und als Mittel, z. B. in Schrift und als Wort, bloß ein Stück Papier, ein Steinblock, eine durch einen Ton hervorgerufene Luftschwingung ist und keineswegs über rechtliche Geltung und Normativität verfügt, wenn der in diesen Mitteln und Materien abgefaßte rechtliche Inhalt nicht auf irgendeine Art erkannt und anerkannt wird. Jedoch geschieht ehen die Erkenntnis und Anerkennung dieses in der rechtlichen Objektivation enthaltenen rechtlichen Inhaltes auf eine von anderen gesellNikolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, Berlin-Leipzig 1982, S. 262ff. Lukacs, Werke (FN 4), Bd. 1, S. 526-527. 10 Hartmann (FN 8), S. 362.

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schaftlichen Objektivationen, wie etwa vom Ästhetischen abweichende eigenartige Weise. Der entscheidende Punkt der Seinsart der normativen rechtlichen Objektivationen ist nämlich das Rechtsbewußtsein der rechtsanwendenden und rechtvollstreckenden staatlichen Organe bzw. die dieses auf eigenständige Weise zum Ausdruck bringende Praxis, das konkrete gesellschaftliche Verhalten und Funktionieren. Dieses konkrete Verhalten und Funktionieren der rechtsanwendenden und rechtvollstreckenden staatlichen Organe sichert und verwirklicht einerseits unmittelbar, andererseits mittelbar durch das rechtmäßige Verhalten der Rechtssubjekte die normative Existenz der rechtlichen Objektivationen. Unerläßliche Bedingung der Herausbildung und Verwirklichung dieser rechtsanwendenden Tätigkeit und Praxis ist jedoch die immer wieder geschehende Erkenntnis und Anerkennung des normativen Inhaltes der rechtlichen Objektivationen. Bezüglich der rechtlichen Objektivationen normativen Inhalts ist also die ,Es gibt kein Objekt ohne Subjekt'-These nur mit der bedeutsamen Einschränkung auszusprechen, daß es kein Objekt, d. h. keine rechtliche Objektivation ohne rechts anwendendes Subjekt, d. h. ohne das spezifische Rechtsbewußtsein der staatlichen rechtsanwendenden Organe und Personen und ohne das Erkennen und Anerkennen des normativen Inhalts der rechtlichen Objektivation gibt l l . Um Mißverständnisse zu vermeiden, müssen wir aber noch hinzufügen, daß das Subjekt in diesem Fall kein individuelles Rechtsbewußtsein, sondern ein rechtsanwendendes gesellschaftliches Bewußtsein bestimmter Allgemeinheit kennzeichnet. Damit haben wir eine unterscheidende Eigenart des vom Standpunkt der Existenz der rechtlichen Objektivationen normativen Inhalts unbedingten Subjekts festgesetzt, nämlich seine bestimmte Allgemeinheit. Solange nämlich das Subjekt des Ästhetischen das individuelle einzelne Bewußtsein ist, besteht es im Fall der rechtlichen Objektivation normativen Inhaltes nicht, weil das individuelle Rechtsbewußtsein wie das individuelle Verhalten, sofern es bloß das individuelle Rechtsbewußtsein und die Tätigkeit des staatlichen rechtsanwendenden Organs oder der Person ist, bezüglich der Geltung der rechtlichen Objektivation in seiner Unmittelbarkeit irrelevant ist. Die Situation ändert sich und zwar ganz wesentlich, wenn wir die rechtliche Objektivation in ihrer nicht normativen Existenz untersuchen. Es ist nämlich bekannt, daß die rechtliche Objektivation als normative und nicht normative Ideologie gleichermaßen gesellschaftliche Wirkungen ausübt 12. Es ist kaum zweifelhaft, daß die rechtliche Objektivation in der Gesellschaft entscheidend als rechtliche Objektivation normativen Inhaltes funktioniert. Unleugbar ist jedoch, daß die rechtlichen Objektivationen, losgelöst von dem Rechtsbewußtsein, das sie zustandegebracht hat, existieren, sich daraus hervorheben, ihren Schöpfer überleben und wenn sie im Lauf der Zeit den normativen Inhalt Lukacs, Werke (FN 4), Bd. 1, S. 527. Vilmos Peschka, Das Recht als Ideologie, Staats- und Rechtswissenschaft XXIV/1, 1981, S. 29-41. 11

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und die Geltung auch verloren haben, weiterhin als rechtliche Objektivationen, als in bestimmte Materie und Form gegossener rechtlicher Inhalt fortbestehen können. Solange die Materie und das Medium, das reale Gebilde besteht, das den einstigen normativen rechtlichen Inhalt trägt, solange dieses gegenständlich nicht zunichte wird, kann es auch als rechtliche Objektivation bestehen, aberselbstverständlich - nicht in seiner N ormativität, in seiner rechtlichen Geltung. Die rechtlichen Objektivationen - insoweit sie in ihrer Gegenständlichkeit bestehen bleiben - bewahren ihren rechtlichen Bewußtseinsinhalt der Vergangenheit. Dazu, daß dieser in der rechtlichen Objektivation bewahrte, doch rechtlich nicht mehr geltende Bewußtseinsinhalt wirken, sogar bestimmte gesellschaftlich-ideologische Funktion erfüllen kann und soll, bedarf es freilich der aktiven Mitwirkung des jeweiligen Bewußtseins, des Subjekts. In diesem Fall einer, im nicht normativen Sinne verstandenen rechtlichen Objektivation kann wahrhaftig erklärt werden, daß die These: kein Objekt ohne Subjekt, gültig ist und zwar ohne jede weitere Einschränkung und Einengung. Die rechtliche Objektivation eröffnet nämlich ihren nicht normativen rechtlichen Inhalt nur für das erkennende, verstehende Bewußtsein unter aktiver Mitwirkung desselben. Die Existenz der nicht normativen rechtlichen Objektivation offenbart sich also darin, daß das individuelle Bewußtsein sie erkennt, versteht, erörtert und erklärt. Die Allgemeinheit der Erkenntnis und des Verstehens, also des empfangenden Bewußtseins ist nicht notwendig, es genügt die bestimmte Aktivität, das Wiedererkennen, die den rechtlichen Bewußtseinsinhalt entfaltende Mitwirkung des Bewußtseins des Individuums. Ohne dies existiert hingegen die rechtliche Objektivation nicht normativen Inhalts bloß in ihrer reinen Gegenständlichkeit, doch nicht als Objektivation des Rechtsbewußtseins. Insoweit ist die nicht normative rechtliche Objektivation auch im Hartmannschen Sinn ein "Ausgeliefertsein" 13 und verdankt ihre Existenz dem Bewußtsein, das ihren rechtlichen Inhalt erkennt und entfaltet. Die gesellschaftlich-ideologische Rolle und Wirkung der nicht normativen rechtlichen Objektivationen ist nicht zu unterschätzen. Denken wir nur daran, welche wichtigen Aufgaben der rechtliche Bewußtseinsinhalt der nicht normativen rechtlichen Objektivationen in der Rechtswissenschaft, vornehmlich in der Rechtsgeschichte oder der Rechtstheorie, aber auch in der Praxis der Gesetzgebung und der Rechtsanwendung als unterstützendes, stärkendes oder als abweisendes, schwächendes Argument erfüllen kann.

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Hartmann (FN 8), S. 390.

Rechtswissenschaft als Weltbild Von Robert Weimar, Siegen Im Zuge der seit einigen Jahren verstärkt geführten Debatte um die Rationalität der Wissenschaft und die Rationalitätsbedingungen des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts ist das Augenmerk auf die Relevanz der verschiedenen Positionen und ihrer Paradigmen für die Erkenntnis von Recht und Rechtswissenschaft gerichtet worden. Auch im engeren Bereich der Rechtswissenschaft, der juristischen Dogmatik oder dogmatischen Rechtswissenschaft beide Ausdrücke verwende ich im folgenden synonym -, wird damit der Boden bereitet für die heute wohl unangefochtene Einsicht, daß juristische Dogmatik wie alle Rechtswissenschaft nicht ohne philosophische Annahmen betrieben werden kann und auch nicht betrieben wird. Nach den anhaltend eindrucksvollen Reklamationen Jose! Essers l zum Vorverständnis und seinem bestimmenden Einfluß auf die Rechtsfindung, die eine vorläufige Klärung dieses Phänomens unter verschiedenen Aspekten erreichten, scheint es angezeigt, ein in seiner Tragweite nicht weniger bedeutsames, über den Entdeckungszusammenhang der Rechtsfindung hinausweisendes wissenschaftsrelevantes Phänomen der Aufarbeitung wenigstens in einigen Grundlinien zuzuführen: das Weltbild der Rechtswissenschaft und seine Zuspitzung auf die in der Fassung des Themas ganz und gar unpolemisch verwendete Formel von der "Rechtswissenschaft als Weltbild". I. Wissenschaft und Weltbild

Mit "Weltbild" ist die vereinfachende Vorstellung von der Welt und ihrer Wirklichkeit gemeint, die gegenüber ihrer ansonsten undurchdringlichen Komplexität eine das individuelle und soziale Dasein des Menschen ermöglichende Ordnung in dem Sinne herstellt, daß sie ihm Daseinsorientierung vermittelt. Weltbilder beziehen sich nicht auf die Wirklichkeit selbst, sondern auf ihre Bedeutung. Weltbilder finden diese Bedeutung "in", "aus" oder "hinter" den Tatsachen oder schreiben die Bedeutung den Tatsachen zu. Im Gegensatz hierzu hebt die Wissenschaft, vor allem im Bereich der Naturwissenschaften, auf die Tatsachen als bedeutungsfreie Gegebenheiten ab 2 • Wissenschaft und Weltbild schließen damit einander aus, Wissenschaft ist als solche kein Weltbild. Dies 1 Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1972. 2 Vgl. F. H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz-Wien-Köln 1984, S. 54f.

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heißt nicht, daß Wissenschaft nicht in Beziehung zu einem Weltbild steht, daß sie ohne Weltbild sei. Liegt eine wesentliche Funktion des Weltbildes darin, durch die in ihm antizipierte Deutung der Welt eine Ordnung der Welt zu entwerfen, basieren Wissenschaften in diesem Sinne auf Weltbildern. Mehr noch, sie haben nicht nur eigene Weltbilder, die Ausdruck bestimmter Welt-Anschauungen sind, sie können - wie sich zeigen wird - in ihrem Bemühen um sinnhafte Orientierung gerade in Gestalt der Sozialwissenschaften und der dogmatischen Rechtswissenschaft selbst Weltbildcharakter annehmen, der in der kulturellen Überlieferung ständig weitergegeben wird. Dazu sind Weltbilder auf Institutionen angewiesen, die für die laufende Unterweisung und gesellschaftliche Einübung sorgen, indem sie - wie dies Karl Engisch 3 detailliert für das" Weltbild des Juristen" beschrieben hat - aus der Wirklichkeit diejenigen Tatsachen und Ordnungselemente herausheben, in die der Mensch einbezogen ist. Dem traditionellen Gegensatz von Wissenschaft und Weltbild - als Alternativformen der Erfassung von Welt - entspricht die Ansicht, die dem Weltbild das spekulative Denken zuordnet, während Wissenschaft durch die Wahrheitsfähigkeit ihrer Aussagensysteme gekennzeichnet ist. In einer Welt, deren Wesen ihre Fraglichkeit ist, fehlen der Wissenschaft sichere Fundamente. Die Last, das Ganze der Welt von Grund auf selbst denken zu müssen (wenn man nicht bloß glauben will) und trotzdem zu handeln, scheint die Kraft des Menschen wie die bisherige Kapazität der Wissenschaft zu übersteigen. In dieser Zwiespältigkeit ist es die Zuflucht zum Weltbild, welches die Gedanken ausgibt, aber darin nicht selbst zum Vollzug dieser Gedanken kommt, und es im übrigen der Wissenschaft überläßt, ihre Probleme zu behandeln, so daß diese möglichst nicht bis in den Grund zu denken braucht. Auf diese Weise entlastet sich die Wissenschaft von ihrem eigenen Basisdenken, das sie außerhalb ihres engeren Expertenturns durch Weltbilder ersetzt. So bleibt in der wissenschaftlichen Haltung ein Weltbild zumindest latent; die Frage, ob das Weltbild zu den Voraussetzungen von Wissenschaft gehört oder auch Implikat von Wissenschaft sein kann, tritt dann zurück. Nur selten scheint der Besitz des Weltbildes und die von ihm ausgehende Beeinflussung des wissenschaftlichen Handelns überhaupt bewußt zu sein. Damit ist aber zugleich behauptet, daß "Wissenschaft" und "Weltbild" jedenfalls bei den nicht ausschließlich an der Erfahrung, sondern im wesentlichen an der Bedeutung von Welt orientierten Wissenschaften sich nicht nur in ihrer herkömmlichen Entgegensetzung abschwächen, sondern daß der notwendige, nicht nur vorwissenschaftliche Bezug zum Weltbild auch innerwissenschaftlich bzw. intradisziplinär im Selbstbezug auf das internalisierte Weltbild statthaben kann. Diese Frage korreliert nun ganz offensichtlich (auch) mit der Kontroverse um den Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, dem ich 3 Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl., Heidelberg 1965; s. a. die instruktive Literaturzusammenstellung zur Weltbild-Philosophie, ebd., S. 165-178. Zur juristenorientierten Weltbild-Forschung aus soziologischer Sicht vgl. W. O. Weyrauch, Zum Gesellschaftsbild des Juristen, Neuwied-Berlin 1970.

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der begrenzten Absicht meiner Präsentation entsprechend nicht grundlegend, sondern nur, soweit es für die vorliegende Thematik unumgänglich erscheint, nachgehen kann 4 • Die vielfaltigen Versuche zum Problem der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft haben jedenfalls eines nicht auszuschließen vermocht: daß man die dogmatische Rechtswissenschaft - nur überhaupt deren Wissenschaftscharakter, nicht der der übrigen Rechtswissenschaft ist angezweifelt worden - als Wissenschaft ansehen kann. Unter dieser Prämisse läßt sich die These von der in der dogmatischen Rechtswissenschaft verborgenen Weltbild-Dimension zumindest diskutieren, um daraus gegebenenfalls Folgerungen für rechtsdogmatisches Handeln zu ziehen. Soviel scheint sich schon jetzt abzuzeichnen: Soweit sich dogmatische Rechtswissenschaft selbst als Ausdruck unkritisch übernommener Weltanschauung und eines daraus gewonnenen Weltbildes erweisen sollte, wird - dünnt man nicht den Wissenschaftsbegriff bis an die Grenze der Preisgabe aus oder wandelt sich ein solches Weltbild nicht zu einer wissenschaftlich akzeptablen Position - ihr Wissenschaftscharakter zumindest wieder problematisch. Die Weltbildhaftigkeit der Rechtswissenschaft scheint heute - parallel zu einer zunehmenden wissenschaftstheoretischen Durchdringung und methodologischen Disziplinierung S - ins Abseits gestellt. Dies erscheint paradox; denn das Bemühen, ihre Grundorientierung offenzulegen und den eingetretenen Verlust ihrer Handlungsgewißheiten zu analysieren, müßte sich dabei verstärken, während das Gegenteil der Fall ist. Die Gewißheitseinbußen zeigen sich am deutlichsten im Wandel der Ideologien, der auch die Weltbilder erfaßt, ihre Resistenz aber immer erst spät überwinden kann 6 •

11. Grundmerkmale des "juristischen Weltbildes" Hervorstechendes Merkmal des "juristischen Weltbildes" ist zugleich ein Grundzug aller Weltbilder: die Tendenz zur radikalen Vereinfachung der jeweils 4 Vgl. zum Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaft näher R. Weimar, Zur Theoriebildung in der Rechtswissenschaft, in: Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, Berlin 1984, S. 703 -722; tiers., Reine Rechtslehre und Theoriefortschritt. Überlegungen zur Fortentwicklung der Theorie des Rechts, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 5 (1984), S. 409-423; tiers., Explikative oder normative Rechtstheorie?, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 3 (1981), S. 193-214; O. Weinberger, Der Wissenschaftsbegriff der Rechtswissenschaften. Programm einer erkenntniskritischen Jurisprudenz, in: Der Wissenschaftsbegriffin den Natur- und in den Geisteswissenschaften, Studia Leibnitiana, Sonderheft 5 (1975), S. 102-120; R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, in: ders., Recht - Moral- Ideologie, Frankfurt a. M. 1981, S. 48-69. S Dazu näher R. Weimar, Rechtserkenntnis und erkenntniskritische Rechtswissenschaft, in: Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag, Berlin 1984, S. 69-102. 6 Vgl. K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Heidelberg 1922, insb. S. 88ff., der von der "Hartnäckigkeit" der Weltbilder spricht.

23 Festgabe für Alois Troller

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befragten Komplexität der Welt, mit der Folge, daß sich ein Relevanzdenken herausbildet, das sich in dem Anspruch spezifiziert, die Welt in einem Ordnungsschema auf eine Wahrheit zu reduzieren, um sie zugleich dichotomisch in gerecht / ungerecht, gleich / ungleich, Freund / Feind usw. aufzuspalten. Dieses Grundmuster der Welterfassung verheißt eine weitgehende Erfüllung zumindest des Bedürfnisses nach Orientierung einerseits, nach Sicherheit andererseits. Wo diese selektive Deutung auftritt, schließt sie Alternativen zu der verfochtenen Weltorientierung aus. Auf diese Weise erhält das juristische Weltbild notwendig ein Stück Wirklichkeitsverweigerung. Für die Bereitschaft, auch "Gegenbilder" zu akzeptieren, ist wegen des Grundbedürfnisses, "Identität" durch das - wie immer verstandene - "Recht" zu erlangen, kein Raum. In dem Maße, in dem damit die Chance weitergehender, hinreichender Welterfassung gering ist, wird auch das auf rationale Fundierung von Ordnung angelegte Rechtsdenken ungewiß. Die "Erlösung" stellt sich nicht ein. Der Zustand zwischen Ungewißheit und Unerlöstheit ruft ein um so. stärkeres Bedürfnis nach besser begreifbaren Weltauslegungsangeboten hervor, die Auskunft geben über den "rechten Platz" des Menschen und den Quell für sein "richtiges Handeln" in der Welt. Solche Angebote aber scheint es nach dem Verfall von Religion und bei allem Zweifel an der Universalisierbarkeit von Moralprinzipien und ihren Normen nicht überall mehr zu geben. So bleibt es denn dabei, auf die Effizienz oder - um vieles anspruchsvoller - auf die praktische Richtigkeit 7 des Rechts zu rekurrieren, diese Strategie dann für die Verrechtlichung der gegebenen Systeme zu bemühen, um auf diese Weise die ganze Komplexität in einer handhabbaren Ordnung "regierbar" zu gestalten und zu beherr!?chen, was wiederum für sich selbst eigene Wirklichkeit schafft. Damit hat sich nicht nur der "Kampf ums Recht", sondern auch die diesem zuarbeitende Rechtswissenschaft eines solchen dem Recht eignenden Reduktionismus zu bedienen. Die Frage, wie die Rechtswissenschaft ihre Fähigkeit zur Bereitstellung ihres Gegenstandes - des Rechts auch in seiner praktischen Richtigkeit - soll steigern können, wird hiervon unmittelbar beeinflußt. Der Jurist fragt als solcher nicht beim Anthropologen oder sonstwem nach der Vorstellung vom Menschen 8 . Ist für eine als richtig oder gerecht auszuweisende oder auch nur als 7 Grundlegend O. Weinberger. Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie. Skizze einer handlungstheoretischen und non-kognitivistischen Gerechtigkeitslehre, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 3 (1981), S. 307-330. 8 Diese Problematik liegt indes nur scheinbar außerhalb der juristischen Dogmatik und der juristischen Praxis. Das heißt also nicht, daß das "Menschenbild" in diesen Bereichen keine Rolle spielt. Es wird nur meist nicht thematisiert, sondern bleibt im Alltag der Rechtsfindung unsichtbar. Zu Recht erinnert Engisch. Weltbild (FN 3), S. 31, daran, wie sehr etwa innerhalb des Naturrechts die Vorstellung vom Menschen schwankte, wenn z. B. Grotius im Menschen ein friedliches, zur Gemeinschaft hinstrebendes Wesen, Hobbes ein eigensüchtiges, feindseliges und zugleich furchtsames Wesen, Pufendorf ein selbstsüchtiges, boshaftes, aber auch hilfsbedürftiges Wesen sahen. Was diese Vorstellungen

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funktionsfähig zu etablierende Ordnung ein bestimmtes Verhalten des Menschen notwendig, kümmert die Natur des Menschen wenig: ob er Natur- oder Geistwesen ist, ob er nur auf sein Wohl bedacht oder altruistisch ist. Der hiernach auf die Person reduzierte Mensch hat das zur gesollten Leistung normierte Verhalten an die Umwelt zu erbringen, ausgenommen, es tastet seine Würde an. Die dabei schon hier auf die Begründungsmöglichkeit des Rechts bedachte Sichtweise - wir gehen dar auf unten näher ein - hält sich von Schwierigkeiten frei, wo immer sie diese umgehen kann. Dies bedeutet auch, daß sich eine solche Sichtweise nicht auf systematisch erarbeitetes Wissen stützt, daß vielmehr die empirische Grundlage in einer Weise verdünnt wird, daß nahezu jede Wertung möglich erscheint. Wenn es denn in diesem Sinne für das juristische Weltbild typisch ist, bestimmte Fragestellungen als nicht angängig abzuweisen, liegt dies nicht immer schon daran, daß es ohne übergreifendes, weiteres Fragen den vom Recht vorgegebenen Grundlagenbereich akzeptieren muß. Der im Abschneiden von empirischen Hinterfragungen sich zeigende Dogmatismus ist signifikanter Ausdruck des juristischen Weltbildes selbst. Warum dieses Weltbild seine überkommene Struktur trotz der revolutionären Entwicklungen in Wissenschaft und Philosophie weitgehend hat bewahren können, ist - wie mir scheint - unschwer beantwortbar: weil sich aus dem Umbruch in Philosophie und Wissenschaft bis heute keine intellektuell befriedigende Weltorientierung ergeben hat, die für die hier erörterten Punkte eine wesentliche Verbesserung bieten könnte. So tritt die Rechtswissenschaft in ihrem dogmatischen Reduktionismus weiterhin auf der Stelle; dabei sind ihr hier sicherlich auch die hinterfragungsund öffnungsresistenten Bedingungen ihres institutionellen Wirkens, die ihr zwangsläufig Begrenzungen auferlegen, zugute zu halten. Sie steht nicht anders als die Rechtspraxis vor allem unter Zeitknappheit, wodurch das "Diskursstreben" regelmäßig sehr begrenzt bleibt 9 • Was sich hiernach als ein Zentralpunkt des zugrunde liegenden Weltbildes erweist, ist eine Auffassung von der allgemeinen Bedeutung der Rechtsidee, die mit einer Verkürzung der erkenntnistheoretischen Probleme einhergeht. Die Frage nach dem Grunde der Wahrheit wird zu einer Frage nach dem "Recht": der Verrechtlichungsgedanke reduziert damit den Erkenntnisbereich. Meinung begibt sich auf die Ebene des Wissens. Tatsachen wird ein Rechtsbild aufgesetzt. Die Welt wird normativ und nicht deskriptiv-explanativ verstanden, das Erkennen stellt sich unter die Kategorie des Rechts im Sinne einer Betonung des allerdings verbindet, ist die Auffassung des Menschen als eines "Vernunftwesens" . Erst im 19. Jahrhundert erscheint der Mensch vor dem Recht als "Kaufmann" und "Unternehmer", während sich im 20. Jahrhundert das Bild des Menschen als "Kollektivrnenschen" durchsetzt, gleichzeitig aber die älteren Gedanken des Naturrechts, der Aufklärung und der historischen Schule daneben noch weiterwirken (Ebd., S. 32). 9 Vgl. H.-J. Koch/ H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre. Eine Einführung in die Grundprobleme der Rechtswissenschaft, München 1982, S. 371 f. 23·

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formalen oder methodischen Aspekts, der auf Formen und Regeln ("manner" statt "matter") abhebt. Die Rechtsphilosophie tut sich schwer daran, die erkennt nistheoretische Relevanz dieser Weltsicht überhaupt aufzugreifen.

In.

Der Aufbruch in die "Logik des Allgemeinen"

Will der Mensch in der Unsicherheit der Welt einer Ordnung versichert sein, sind es in erster Linie die mit dem Recht befaßten Institutionen, die entsprechende Orientierungen zu leisten berufen sind. Indem das Recht auch selbst zur Institution wurde und das Erbe von Mythos und Religion in der Frage antrat, was als Daseinsorientierung zu gelten hat, übernahm es zwangsläufig auch deren Autorität, an der die Rechtswissenschaft teilhat. Dieser Prozeß zeigt sich in nichts deutlicher als daran, daß an die Stelle der einst "religiösen Logik" sich im Recht eine Logik des Weltbegreifens setzte, die ebenfalls nach einem "Abschluß im Absoluten" verlangt. Diese Logik ist absolutistisch ausgerichtet: sie setzt ein Absolutes voraus. So wundert es nicht, daß etwa naturrechtliche Systeme wie überhaupt das ganze ontologische Denken immer wieder zu zeigen bemüht sind, daß das Recht irgendeines "absoluten Rückhalts" bedürfe 1o . Auch der juristische Positivismus macht hiervon keine Ausnahme; er bedient sich dieser Logik, indem er den hierarchisch gedachten Stufenbau der Rechtsordnung an der Grundnorm (H. Kelsen) festmachte und auf diese Weise den Rückgriff auf eine außerhalb seiner selbst liegende - zweckhypothetisch - gesetzte formale "Instanz" zu sichern suchte. Nachdem die bedingungslose Bindung an das positive Gesetz mehr und mehr als Irrtum eines weitgehend überwundenen Gesetzespositivismus angesehen wird, gewinnt der Glaube wieder an Boden, materialen Werten der Gerechtigkeit verpflichtet zu sein. Deshalb gelten die Bemühungen der professionellen Verwalter des juristischen Weltbildes - bei aller Detailverschiedenheit der rechtsdogmatischen Spielarten - ganz überwiegend den allgemeinen Prinzipien, in denen das Recht der Verfügungsgewalt des Menschen entzogen wird. Für das Recht wird damit ein letzter, nicht mehr hintergehbarer Fixpunkt anvisiert. Dabei ist es keineswegs immer ein weltübersteigender Status der in Anspruch genommenen Letztinstanz; ebensogut kann eine "ins Diesseits gewendete Transzendenz" (G. Dux) bemüht werden, die das gleiche leistet wie metaphysische Systeme, nur eben mit dem Unterschied, daß es dann der Mensch ist, auf den als letzte Entscheidungsinstanz rekurriert wird. Allen diesen Perspektiven ist gemeinsam, daß sie das Recht so auffassen, daß es einen letzten sinnhaften Bezug seiner inneren Logik nach fordert. In diesem Rekurs auf ein darin beschlossenes Allgemeines liegt die geheime Möglichkeit der Übereinstimmung sonst verschiedener Zugangsweisen zum Recht und seiner Begründung auch unterhalb dieser Ebene.

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G. Dux, Strukturwande1 der Legitimation, Freiburg-München 1976, S. 25.

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1. Formalismus der Prinzipien und Kontingenz des Rechts

Die Anforderung der immanenten Logik des Rechts selbst ist es, die es erleichtert, die ihr entsprechende einheitliche Grundstruktur des juristischen Weltbildes bloßzulegen. Diese Logik bildet die Grundlage dafür, daß nach der ihr gemäßen Vorstellung immer etwas auf einen hinter ihm gelegenen, selbst der Erklärung aber entrückten Ursprung zurückführbar sei. In dieser Sicht erscheint der Ursprung als Emanation aller materialen Rechtswirklichkeit. Der Aufweis absoluter Prinzipien kann dann als Korrektiv gegenüber unrechtmäßiger Machtausübung nutzbar gemacht werden. Aus demselben Grund wird es möglich, daß die Allgemeinheit der Prinzipien, zumindest mittelbar, auch ihre substantielle Qualität sichert: Sie soll traditionell das, was allgemeines Gesetz sein kann, vor dem, was Unrecht ist, auszeichnen 11 • Indes haben Rechtswissenschaft und Philosophie nirgendwo zu zeigen vermocht, daß die Allgemeinheit der Prinzipien,d. h. ihre formale Reinheit auch Gewähr für ihre materiale Inhaltlichkeit leistet. Daß dies aber doch der Fall sei, diese implizite Meinung landläufigen Lehrguts entlarvt sich als nichts anderes denn als Ideologie des juristischen Weltbildes, dem diese Vorstellung im Grunde als Voraussetzung dafür dienen muß, bestimmte Ordnungsleistungen gültig hervorzubringen. Damit wird im Begreifen des Formalismus der Prinzipien deren Verwiesenheit auf ein Gegebenes überspielt: Das Rechtsdenken läßt sich von der Vorstellung bestimmen, das Allgemeine bzw. der Aufstieg zum Allgemeinen biete einen Maßstab für die Regelung der konkreten Verhältnisse. Damit enthält das Allgemeine immer auch schon die Regel für das Besondere. Die Deduktion kann Inhaltliches - dies wird allenthalben zugestanden - nicht hinzufügen. Es kann sich nur um eine Gestaltung der Prämissen selbst handeln (die oft als solche verschleiert bleibt), wenn Inhalte ableitbar werden sollen. Ist also zuvor nicht schon im Allgemeinen das Konkrete festgehalten worden, versagt es sich dem erstrebten Output. Ebensowenig versorgt die in den sozialen Verhältnissen wirkende Ordnung die Prinzipien - wenigstens nach herkömmlicher Anschauung - mit realem Gehalt. Diese Vorstellung ist mit einem LogikSchema nicht verträglich, das seinen (logischen) Ausgang vom Allgemeinen nimmt. Daß in diesem Sinne Rechtsprechung und juristische Dogmatik die gleichen allgemeinen Prinzipien mit unterschiedlichen Gehalten anfüllen und anfüllen können, liegt in dieser ein - mal mehr, mal weniger erwünschtes Maximum an Flexibilität verbürgenden Verfahrensweise begründet. Formal läßt sich jedes Handeln zur Norm, jede Norm zum obersten Prinzip und jede Norm auch zu einem ihr vorausgesetzten Prinzip stilisieren 12 • Jedes Ebd., S. 32. Ebd., S. 38. Damit ergibt sich der Vorwurf, daß diese Konstruktion einfach so eingerichtet wird, daß herauskommt, was man gerade wünscht. Prinzipien sind jedenfalls nur die "Konturen der Lösung, nicht die Lösung selbst", meint J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl., Tübingen 1964, S. 80. Es 11

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aufgrund dieses Schemas konzipierte Recht kann über eine ihm vorausliegende höchste Norm schließlich zur Legitimation kommen. Insoweit treffen sich die verschiedensten Positionen in der Einheit ihres Weltbildes: Das Resultat ist, daß Kritik letztlich abgeschnitten wird. Sie kann es gegenüber gültig abgeleiteten Ergebnissen nicht geben. Ebenso ist evident, daß "jede faktische Ordnung sich der Teilhabe an einem für absolut deklarierten Hintergrund versichern und sich so sankrosankt stellen kann"13. Damit erweist sich der Ursprung dieses Weltbildes als ein "logischer", seine Konsequenzen sind "positivistisch". Nun führt es wenig weiter, wenn man den Rückgriff auf allgemeine Prinzipien einfach als Abschottungs- oder Verschleierungsstrategie für Interessendurchsetzungen nur ideologiekritisch zu enttarnen sucht. Das Dilemma ist vielmehr im Denkstil des vorherrschenden Weltbildes begründet, der der Mentalität der juristischen Methodologie vorausgeht und diese bestimmt. Die Aufdeckung des Dilemmas hat also nicht erst dort anzusetzen, wo der Denkstil nur übernommen, sondern wo er produziert worden ist. Wenn über die Versicherung des Allgemeinen jedwede Praxis festschreibbar erscheint, dann besteht wohl mehr als nur eben der Verdacht, daß das Grundübel schon im Zugriff auf das Allgemeine liegen könnte. Diese Verfahrensweise scheint indes so lange unausweichlich, als sie an ihrer eigenen Maxime, deren Ausdruck diese Verfahrensweise ist, festhält. Dies heißt aber nichts anderes, als daß sich das juristische Weltbild von seinem Letztbegründungszwang, auf den es sich in seiner Geschichte festgelegt hat, zu befreien hätte. Es müßte sich also letztlich von dem Denkstil der auf das Allgemeine zurückgehenden Logik lösen können und zugleich die Rücksichten auf Weltbilder identischer Begründungslogik aufgeben. Dazu ist die höchst folgenreiche Einsicht zu vollziehen, daß es keine absoluten Begründungen geben kann. Die Begründungsidee, die für den klassischen Rationalismus seit Aristoteles 14 maßgebend war und die sich hartnäckig im Weltbild des Juristen zu halten vermochte, muß also aus diesem Weltbild entfernt werden und - weitaus schwieriger - nicht etwa ersatzlos gestrichen, sondern gegen eine andere, möglichst bessere rationale Denkmentalität eingewerden hier außerjuristische (politische, kulturelle, wirtschaftliche usw.) Gesichtspunkte eingeführt, die nach Esser "zu Rechtswertungen transformiert" werden. Wo die gesellschaftlichen Verhältnisse keine ganz überwiegende und eindeutige Orientierung zeigen, da scheint es nur eine einzige - elementare - Aufgabe des Rechts zu geben, die im Bewahren einer kulturellen Tradition erfüllt wird, die im allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtsein lebendig ist (Esser, ebd., S. 82). In diesem Sinne sind Recht und Justiz "konservative" Institutionen, die der Neuerung nur so weit folgen, als diese sich gegen die Tradition durchsetzt: Recht und Justiz legitimieren nur das "evolutionäre Minimum" (Esser). Soweit das Recht darin die Frage nach der Legitimation dessen, was ist, stellen muß, schließt es die Disponibilität der bestehenden Ordnung und der etablierten Verhältnisse nicht aus. 13 Dux (FN 10), S. 39. 14 Lehre vom Beweis oder zweite Analytik (hrsg. v. O. HöfTe), Hamburg 1975, S. 3fT.

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tauscht werden IS. Der Ausweg liegt darin, daß das Denken seine Form der Ableitung aus Ableitungskategorien verläßt: "Daß sich entwickeln nur kann, was in nuce im Ursprung schon enthalten ist, ist selbst ein metaphysisches Postulat"16. Damit geht es fortan um eine neue Art der Rationalitätsstruktur, die das Rechtssystem zutiefst selbst betrifft. 2. Bedingungen erfolgreicher Kritik des Begründungsdenkens

Die Kritik des Begründungsdenkens müßte dartun können, weshalb es notwendig ist, diese Denkstruktur und ihre Logik aufzugeben. Wichtig ist, daß sie dabei nicht selbst Zuflucht zu dieser Logik nehmen darf. Wer an der klassischen Begründungsidee festhält, dem wird man zunächst klarmachen, daß seine Einstellung ebenso von einer fundamentalen Entscheidung abhängt, wie dies bei den Kritikern dieser Glaubensweise der Fall ist, ohne daß schon dieser Umstand zum Dezisionismus und damit zum Subjektivismus führen müßte. Dieses Wissen ist jedoch schon allein deshalb nur sehr schwer ans Ziel zu bringen, weil es sich seinerseits nur auf der Grundlage der hergebrachten Denkstruktur einlösen läßt. Wir haben hier das Dilemma, daß man sich aufgrund einer blockierenden Sozialisation einfach gehindert sieht, die Bedingungen des Geltungsanspruchs dieser Begründungslogik zu erkennen und offenzulegen. Will man dieser Behinderung entgehen, bleibt nichts anderes übrig, als die Vorstellung von einem absoluten Ursprung als Begründungsinstanz des Rechts einmal beiseite zu lassen. Damit wird erreicht, daß die auf das Ursprungsdogma gestützte Lehre und damit dieses Dogma selbst wenigstens frei von jener Behinderung betrachtet werden können: der Blick auf den kulturell determinierten mentalen Konstitutionsprozeß wird möglich, die Entstehungsbedingungen erschließen sich einer historischen Erklärung. Geht man von der anfänglichen Ungeschiedenheit von Religion und Recht aus, so wird nahegelegt, daß man bei der Suche nach der Entstehung des Ursprungsdogmas auf die Orientierungsfunktion der Religion verwiesen ist, die das menschliche Verhalten in einer Weise normiert hatte, daß der Mensch in der Welt zu leben vermochte. Das verordnete Verhaltensrepertoire war über das Vehikel der Offenbarung mit dem Absoluten wesentlich so verwoben, daß es als diesem entspringend in der Glaubensanschauung faßbar wurde. Diese Vorstellung setzte sich fort in einem Rechtsglauben, daß es für die Beurteilung dessen, was ist, einen obersten Ordnungswert gibt, der sagt, daß es sein solle bzw. nicht sein solle. Dieser eine übergesetzliche Gerechtigkeit voraussetzende, idealistiIS Zur Kritik am Begründungsdenken vgl. insbes. H. Albert, Traktat über kritische Vemun(t, 3. Aufl., Tübingen 1975, S. 13ff.; ders., Kritizismus und Naturalismus. Die Überwindung des klassischen Rationalitätsmodells und das Überbrückungsproblem, in: ders., Konstruktion und Kritik, Hamburg 1975, S. 13ff. 16 G. Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt a. M. 1982, S. 23; vgl. auch J. Piaget, Biologie und Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1974, S. 16.

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sehe Ausgangspunkt ist es, der das Rechtsdenken ständig nötigt, das für Recht Erkannte im Gewand eines deduktivistischen Systems auszugeben. Dabei ist es gleichgültig, ob die Rechtsidee als transzendent, als in der Vernunft begründet oder nur als denknotwendiges Regulativ aufgefaßt wird. In allen diesen Fällen bleibt die Rechtsidee notwendig ein und derselben Begründungslogik verhaftet. Dies zeigt sich deutlich auch in der Rechtspraxis. So erkennt etwa das Bundesverfassungsgericht die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgeber bindenden Rechts an und hält sich für zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen 17. Es gibt nach Ansicht dieses Gerichts Verfassungssätze, die "so elementar und so sehr Ausdruck eines auch der Verfassung vorausliegenden Rechts sind, daß sie den Verfassungsgesetzgeber selbst binden und daß andere Verfassungsbestimmungen, denen dieser Rang nicht zukommt, wegen ihres Verstoßes gegen sie nichtig sein können"18. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn eine Verfassungsnorm "grundlegende Gerechtigkeitspostulate, die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung selbst gehören, in schlechthin unerträglichem Maße mißachtet" 19. Da auch der Gesetzgeber Unrecht setzen könne, müsse die Möglichkeit gegeben sein, den "Grundsatz der materialen Gerechtigkeit" höher zu werten als den der Rechtssicherheit, wie er in der Geltung des positiven Gesetzes für die Regel der Fälle zum Ausdruck komme 20 . Zwar verbiete es sich, die verfassungsrechtliche Prüfung im einzelnen an naturrechtlichen Vorstellungen zu orientieren, und zwar schon wegen der Vielfalt der Naturrechtslehren, die zutage trete, sobald der "Bereich der fundamentalen Rechtsgrundsätze" verlassen werde 21 ; was aber die Einzelausgestaltung der Normen angehe, die die Verfassung positiviert habe und die vielfach als übergesetzlich bezeichnet würden (etwa Art. 1 oder Art. 20 GG), so seien sie zur freien Disposition des Verfassungsgebers nur insoweit gestellt, als jene letzten Grenzen der Gerechtigkeit nicht überschritten würden 22 . Nur wenn es aber überhaupt gelingen könnte, eine Gerechtigkeitsinstanz als eine Art "archimedischer Punkt", als echte, irrtumsfreie ultima ratio aufzuzeigen, kann die Stufenleiter der Begründung als finit angesehen werden und der Begründungsprozeß richtigerweise abgebrochen werden, weil damit das "Fundament der Erkenntnis" erreicht und die Verankerung der (Voll-)Begründung in dem fundamentalen Prinzip der Gerechtigkeit gelungen wäre. Weiterzugehen ist dann nicht möglich. Es gehört zu den Grundpfeilern des juristischen Weltbildes, daß es für den Rechtsfindenden - gleich welcher Ebene - in Anspruch nimmt, Begründungen durch den Rekurs auf eine ultima ratio definitiv abzubrechen. 17 18

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BVerfGE 1, 18 (Leitsatz 27). BVerfGE 1, 32. BVerfGE 3, 225 (Leitsatz 2). Vgl. BVerfGE 3, 232. BVerfGE 10, 81. BVerfGE 4, 296.

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Das Begründungsproblem wird damit zu einem Problem der Reduktion auf eine fundamentale Instanz, also zu einem Problem der Zurückführung aller "nichtfundamentalen" Geltungsansprüche auf die Basisinstanz, der aus irgendwelchen Gründen Autorität - im Sinne einer letzten, zu respektierenden Vorgegebenheit, auf die sich alle "abgeleitete" Rechtsfindung berufen kann - zugeschrieben wird. Im Rahmen dieser Konzeption wird der Ableitungsprozeß - selbst dort, wo er sich als "Kritik" versteht - zu einem rechtfertigenden Akt, der das Problematische auf das "Unproblematische", d. h. auf das Nichtproblematisierte, und das Zweifelhafte auf das "Sichere" zurückzuführen sucht. Dieses Programm zielt also darauf ab, einen "Teil" der Rechtsfindung zu verabsolutieren, während es damit gleichzeitig diesen Teil zur Legitimationsbasis für die Reststrecke des Rechtsfindungsprozesses macht. Das Fazit ist, daß diese Basis letztlich als Richter über den gesamten Prozeß der Rechtsfindung fungiert. Aber gerade diese - wie immer verstandene - Basis ist nicht einfach "gegeben"; sie gerade ist das Problem, so daß jede Rechtsfindung, um ihren Ausgangspunkt zu rechtfertigen, diesen zu einer unabdingbar gültigen Voraussetzung verabsolutieren muß. Diese Letztbegründung - die Inthronisation der Rechtfertigungsinstanz der Rechtsfindung - macht das juristische Weltbild aprioristisch. Seine Philosophie läuft auf einen "Positivismus auf höchster Ebene" hinaus, nämlich auf ein im weiteren Sinne "positivistisches" Verfahren der Letztbegründung durch Reduktion auf angeblich Letztgegebenes. Dieses Schema beherrscht auch die juristische Rechtsfindungsarbeit im Alltag der dogmatischen Rechtswissenschaft und der Rechtspraxis: es macht keinen prinzipiellen Unterschied, ob das Denken ein allgemeines Gerechtigkeitsideal verabsolutiert oder sich die Verabsolutierung nur auf die jeweils jüngste Judikatur des Bundesgerichtshofes bezieht, soweit diese als eine "hinzunehmende Gegebenheit" und damit als Basisinstanz etwa für die Lösung einer im Schrifttum noch kontroversen Rechtsfrage gewählt wird. Auch wenn man das Problem nicht einfach schon durch "Verabsolutierung" der Entscheidung eines Höchstgerichts lösen will, aber die regulative Basis doch diesseits der abstrakten Prinzipien ansiedelt, stets bleibt es dabei, daß das Rechtsdenken auf das absolutistische Schema bisher fixiert ist. Von diesem Schema aus gesehen ist jede Rechtsfrage (und natürlich auch der "positive Text") "nach oben hin" - wie lose! Esser 23 sagt - stets "unvollendet". Selbst der "normale" Rechtsfindungsvorgang ist unter diesem Aspekt ohne Benutzung allgemeiner Rechtsprinzipien nicht denkbar 24 • Ohne den Glauben an jene Prinzipien des Rechts scheint es hiernach nicht möglich zu sein, positive Resultate zu gewinnen: Der Glaube an sie ist nicht Esser, Grundsatz und Nonn (FN 12), S. 259. Ebd., S. 253; vgl. zur Prinzipienproblematik auch A. Troller, Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft, Frankfurt a. M.-Berlin 1965. 23

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dispensierbar, soll etwas anderes gerechtfertigt werden können. Eine "Se1bstgarantie" des juristischen Denkens gibt es nicht. IV. Juristisches Weltbild und Wirklichkeit Das juristische Weltbild braucht auch eine den Anforderungen des Rechts gemäße Strategie des Umgangs mit den Tatsachen der realen Welt. Mit dem Rechtsbild als Teil des Weltbildes korrespondiert ein juristisches Seinsbild. Recht und Wirklichkeit werden im Weltbild nicht unabhängig voneinander gesehen. Karl Engisch kennzeichnet die Weitsicht des Juristen allgemein als eine "natürlich-soziale" oder als Weltbild der "alltäglichen Erfahrung" 25 , der Jurist lasse es sich allerdings nicht nehmen, "jenes natürlich-soziale Weltbild umzuformen, um es den besonderen Aufgaben einer juristischen Behandlung und Betrachtung anzupassen"26. Es ist nach Engisch im wesentlichen dieselbe Welt, in der sich auch die "Geschichte" abspielt. Für das Recht kommt daher nur derjenige Wirklichkeitsausschnitt in Betracht, der durch das praktische Dasein und Wirken des Menschen in der Gesellschaft und seine konkreten Wertbeziehungen bestimmt wird 27 . Dieses Weltbild macht die wissenschaftliche Auflösung durch die modemen Naturwissenschaften nicht mit, was nicht ausschließt, daß Gesetzgebung und juristische Dogmatik zuweilen auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse abstellen. Aber diese Erkenntnisse ordnen sich in das juristische Weltbild lediglich ein, sie bestimmen es nicht, machen das Weltbild nicht zu einem naturwissenschaftlichen Bild von den Dingen. Die "Alltagsbegriffe des natürlichen Weltbildes", meint Engisch 28 , und ihr innerer Zusammenhang mit der Welt der Werte seien es, die "jene Begriffe der Rechtswissenschaft als einer Wertungswissenschaft empfehlen". Dieser Zusammenhang gehe verloren, wenn sich die Rechtswissenschaft der naturwissenschaftlichen Betrachtung zuwenden würde. Man dürfe es dem Juristen, der nicht mit irgendeiner Wissenschaft von der Welt in Konkurrenz treten wolle, nicht zum Vorwurf machen, daß er einem "naiven" Realismus huldige 29 . Dabei kann die BetrachEngisch, Weltbild (FN 3), S. 15. Ebd., S. 15. 27 Ähnlich schon H. Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie, Berlin 1935, S. 74. 28 Engisch, Weltbild (FN 3), S. 21; vgl. demgegenüber zu" Werten in wissenschaftlichen Weltbildern" M. W. Fischer, Rationalisierung der Gesetzgebung, Frankfurt a. M.Bern-New York 1985, S. 126-132. 29 Engisch, Weltbild (FN 3), S. 23. Der Begriff des naiven Realismus bleibt bei Engisch unpräzisiert. Ich gehe für die weitere Erörterung im folgenden davon aus, daß hier diejenige erkenntnistheoretische Haltung gemeint sein soll, "die die sinnliche Stufe der Erkenntnis mit dem ganzen Erkenntnisprozeß gleichsetzt, d. h. die objektive Realität als schon in der Wahrnehmung gegeben (durch die Wahrnehmung erkannt) annimmt" (G. Klaus/M. Buhr [Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, 13. Aufl., Berlin 1985, S. 1018). Grundlegend im übrigen A. Troller, Das Bewußtseinsbild im Rechtsdenken, in: ARSP Beiheft 13 (1979), S. 243ff. 25

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tung der rechtlich erheblichen Welt darüber informieren, auf welche "letzten Elemente unsere juristischen Begriffsbestimmungen lossteuern und welche Struktur die, Tatbestände aufweisen, denen die Rechtsfolgen zugedacht sind"30. Das Bild der Welt bleibt für Engisch ein "natürliches", auch wenn man die Welt über die Rechtsbegriffe erreicht. Es bedeutet "noch keine Verzerrung des Weltbildes selbst", wenn der Gesetzgeber, Rechtsgelehrte oder Praktiker die Rechtsinhaltsbegriffe "mit eigentümlichem, vom Alltagssprachgebrauch vielfach abweichenden Gehalt" füllen. Recht und natürliche Welt stehen sich nicht einfach einander gegenüber, die rechtlichen Vorgänge gehören nach Engisch 31 selbst zum natürlichen Weltbild. Dem scheint freilich manches von dem, was Engisch selbst an juristischer Eigenart der Welt betrachtung zusammenträgt, zu widersprechen. Der "Mensch im Recht" wird zunächst einmal nicht als Mensch, sondern als Person bloßes Rechtssubjekt, also "Berechtigter" und "Verpflichteter", findet sich als Träger juristischer Zuordnungen wie Eigentümer, Vertragspartner, schließlich in der rechtsrelevanten Rolle des Ehegatten, Verbrechers USW. 32 Engisch findet darin - entgegen seinem Ausgangspunkt und seiner Intention - doch eine "durchaus eigenständige Haltung des Rechts dem Menschen gegenüber", während er sich zugleich gegen Verfälschungen wehrt, die ein von allen natürlichen Vorstellungen abgesondertes, spezifisch juristisches Weltbild entwickeln. Der Handlungsbegriff im Recht ist bei Engisch ein natürlich-sozialer Begriff des praktischen Lebens 33 , wobei die Einbeziehung des "Voraussehens" und "Inkaufnehmens" eingetretener Handlungsfolgen in den juristischen Vorsatzbegriff "trotz ihrer Eigenwilligkeit" nicht aus dem "natürlichen Weltbild" herausführe 34 • Zweifel melden sich bei Engisch 3S beim Zeitbegriff: Gibt es - fragt er im Anschluß an Erik Wolf - "vielleicht eine besondere juristische Zeit?" Die Zeitrelationsbegriffe scheinen dies nahezulegen ("vor der Fälligkeit der Schuld", "zur Nachtzeit", "zur Unzeit", "lebenslange Freiheitsstrafe" usw.). Trotz seiner "Eigentümlichkeiten" stehe der rechtliche Zeitbegriff "dem natürlichen Zeitbegriff noch verhältnismäßig nahe"36. Dies ist zwar nicht durchgängig einzusehen, Engisch, Weltbild (FN 3), S. 22. Ebd., S. 24. 32 Auf diese Beispiele bezieht sich Engisch, Weltbild (FN 3), S. 28; die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen, ohne daß allerdings damit ihre Lozierung auf der Stufe der sinnlichen Wahrnehmung möglich wird. 33 Ebd., S. 38. 34 Ebd., S. 39. 3S Ebd., S. 73. 36 So Engisch, Weltbild (FN 3), S. 109, der andererseits aber die Zeit, verglichen mit dem Raum, flir "unanschaulich" hält und sie damit - seiner eigenen Intention entgegen - der Ebene des naiven Realismus entzieht. - Die räumlichen Vorstellungen des Rechts sind mit den natürlich-anschaulichen Vorstellungen nicht ohne weiteres zu identifizieren, Weltbegreifens, die das juristische Denken allenthalben kennzeichnen. In der "Folgenbe30 31

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andererseits geht es zu weit, einen spezifischen Begriff der "Rechtszeit" zu entwickeln, bevor nicht der "natürliche" Zeitbegriff präzisiert ist. Soweit es um den Kausalbegriff geht, der als Element gewisser Tatbestände in allen Teilen der Rechtsordnung vorkommt, vernachlässigt der Jurist "meist die individuelle Eigenart des Falles ... zu Gunsten seiner allgemeinen Bedeutung: Nur ars Körperverletzung, Tötung, Sachbeschädigung usw. ist der Kausalzusammenhang dem Juristen wichtig, nicht als Verletzung gerade dieser Person oder ihrer Sache" 37. Engisch genügt der Umstand, daß hier "konkrete Ereignisse" kausal miteinander verknüpft sind, um eine "Verwandtschaft" der juristischen Betrachtung mit der Historie anzunehmen und einen spezifisch juristischen Kausalitätsbegriff abzulehnen. Daß zumindest die aus Billigkeitsgründen haftungsrechtlich erfolgende "Einschränkung" der Kausalität im Gedanken der Adäquanz ausschließlich ins Weltbild juristischer Dogmatik gehört, wird von Engisch ebensowenig erwähnt wie andere juristische Nuancierungen des Kausalitätsbegriffs. Die von ihm postulierte Substitution des "juristischen" durch das "natürlich-soziale" Weltbild erscheint auch in diesem Bereich nicht haltbar. Der Sachbegriffnebst seinen Derivaten (Herstellung, Beschädigung usw.) ist bei Engisch erst gar nicht juristisch zu begreifen, sondern kann nur so gedeutet werden, daß "er in engster Berührung mit der natürlichen Sach- und Dingvorstellung steht" 38 • Grenzfälle wie der ins Meer geworfene goldene Becher, der in Freiheit gesetzte Kanarienvogel führen über die Berührung der angeblich "natürlichen Sachvorstellung" doch wieder zu einer wohl juristisch zu nennenden Perspektive: daß nämlich jede durch Einwirkung auf die Sache selbst geschehende dauernde Ausschließung des Menschen vom Gebrauch einer Sache nach Engisch die Sachqualität aufheben kann 39 • Und selbst eine so genuin juristische Kategorie wie die des subjektiven Rechts - verstanden als die von der Rechtsordnung verliehene Willensmacht - läßt ihre Einordnung in das "natürlich-soziale Weltbild" bei Engisch als möglich erscheinen --.. :. - nur bedürfen die begrifflichen Merkmale eben einiger Umformungen, bis diese Operation gelingt40 ; Engisch versucht erst gar nicht, sondern sieht davon ab, diese Prozedur - auf die man hätte gespannt sein können - zu beschreiben. wie schon der sozialräumlich geprägte Raumbegriff des Raumordnungsrechts zeigt. Anders ebd., S. 62. 37 Ebd., S. 140. 38 Ebd., S. 162. Die mit der Innehabung einer Sache sich ergebende Frage, ob der Besitz ein Recht sei, hat in den juristischen Auffassungen im Laufe der Rechtsgeschichte gewechselt. Es war erkenntnistheroretisch höchst schwierig, einen Besitz für möglich zu erklären, der mehr als nur eine äußere Erscheinung darstellt: Verwandlung einer Tatsache in ein Recht. Vgl. dazu instruktiv H. Hattenhauer. Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, München 1982, S. 41-46. 39 Die Auffassung ist nicht unbestritten; vgl. Engisch. Weltbild (FN 3), S. 161. 40 Vgl. ebd., S. 142. Zu den von einem naiven Realismus nicht einlösbaren Vollzügen gehören auch die "interpretativ", insbesondere "teleologisch" orientierten Akte des rücksichtigung" wird die Realität überschritten, das Begreifen wird" vernünftig". Vgl. im

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Vollends scheitert der naiv-realistische Ansatz bei der Einbringung der "Erfahrung" in die bei Juristen immer schon "rechtlich" gesteuerte Perzeption der äußeren Welt. Soweit Sachverhalte und ihre Bestandteile aufgrund "gesicherten Erfahrungswissens" festgestellt werden, wird den "Gesetzen der Erfahrung" rechtliche Normqualität beigelegt. 41 . Einer der heikelsten Punkte, meinte denn schon Alfred ManigJc42, läge bei der Beurteilung von Tatsachen nach allgemeiner oder besonderer Lebenserfahrung darin, ihr den "richtigen Ort" als Tat- oder Rechtsfrage zuzuweisen: Da jede Rechtsnorm bei Gebrauch eines Begriffes, der nicht definiert wird, oder bei Verwendung einer Klausel ohne legale Sinnbestimmung implizit auf Erfahrungsurteile verweist, sind Erfahrungssätze als zum Inhalt der Norm gehörend anzusehen. Sie haben die Eigenschaft von bindenden Auslegungsregeln. So erweist sich denn die Kennzeichnung der juristischen Weltsicht als "naiver Realismus" in dieser Allgemeinheit als eine ebenso unhaltbare Zuspitzung, wie dies für naturalistische, psychologistische oder ausschließlich normativistisch orientierte Deutungen juristischer Sichtweisen zutrifft. Erst der Reduktionismus Engischs macht die Weitsicht des Juristen zu einer naiv-realistischen und damit letztlich unkritischen Weltauslegung, die sie in dieser Art nicht ist. Der Blick des Juristen durch die hochdifferenzierte Struktur der dogmatisch bearbeiteten Normprogramme auf die Normbereiche konstituiert ein interaktionistisches Verhältnis zwischen Normprogramm und Normbereich. Dieser ist ein Konstituens sachbestimmter rechtlicher Normativität und keine Summe von lediglich natürlich-sozialen Tatsachen und Sachverhalten der sozialen Welt, sondern ein "als realmöglich formulierter Komplex aus der Realität gewonnener Strukturelemente, die in aller Regel schon traditionell rechtlich geformt oder mitgeformt erscheinen"43. Das im juristischen Weltbild angelegte Wahmehmungs- und Reflexions potential bezieht sich in dem hier betrachteten Sinne auf die Strukturen der Wirklichkeit in einer Weise, daß es diese zum Bestandteil rechtlicher Normativität macht. Dieser Prozeß ist zweckbestimmt; er enthält kognitive und volitive Elemente und greift vor allem auf "Werte" im Sinne institutionell wirksamer Wertauffassungen zuruck 44 • übrigen auch A. Troller. Rekonstruktion und Rechtswirklichkeit, in: RECHTSTHEORIE 11 (1980), S. 137fT. 41 Vgl. nur etwa BGHZ 12,22 (25). 42 Die Revisibilität der Auslegung von Willenserklärungen, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. IV, Berlin-Leipzig 1929, S. 94-210. 43 F. Müller, Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, Berlin 1966, S. 187. 44 Zur Wertgebundenheit der Sachverhaltsfeststellung vgl. R. Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Basel-Stuttgart 1969, S. 72 m. w. N.; ders .• Rechtsgefühl und Ordnungsbedürfnis, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985), S. 158-172 (165).

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Der "Sinn" eines Lebens- und Sozialverhältnisses wird dabei von einem oft unbewußt bleibenden Vorverständnis geleitet, dessen Wertgesichtspunkte aus der Fülle der empirischen Gegebenheiten erst im Relevanzspektrum des juristischen Weltbildes die profane Sachwelt als eine rechtlich beobachtbare Struktur herstellen, die die Beliebigkeit der Anschauungsweisen auf die nun rechtsbezogene Natur der Verhältnisse einschränkt. Was hiernach die Betrachtung von Wirklichkeit durch das Objektiv des juristischen Weltbildes von der naivrealistischen Perzeption der begegnenden Welt unterscheidet, ist dies: Die Sachverhalte, die ja letztlich Gegenstand eines juristisch-subsumtiven Urteils sein sollen, werden in aller Regel bereits wertbestimmt aufgenommen und sind damit das Ergebnis einer sinnbezogenen Betrachtung; nur ein zumindest potentiell sinn bezogen-relevantes Geschehen erheischt überhaupt die Aufmerksamkeit des Juristen. In diesem Sinne ist auch schon die Perzeption selbst eine ,juristische". Die quaestio iuris wird zum Maß der quaestio facti, die sich ihrerseits in jene zurückprojiziert. V. Konstruktion und Kritik In den beiden zentralen Bereichen juristischen Weltbegreifens, der Normgewinnung und der Faktenfeststellung, ist dem überkommenen juristischen Weltbild zufolge der begründungsphilosophische Denkstil manifest. Dieser Denkstil wirkt problemabschneidend, weil er dogmatisch ist; er entzieht das Dogmatisierte dem Zugriff kritischer Erkenntnis. In diesem Sinne leitet das juristische Weltbild dazu an, als sicheren Hafen auszugeben, was in Wahrheit die offene See ist. In dieser Tradition erweist sich die Rechtswissenschaft als mit ihrem Weltbild vergesellschaftet. In den Selbstzwängen der Weltbildhaftigkeit setzt die Rechtswissenschaft ihrem Erkenntnisfortschritt von vornherein Schranken. Sie steht daher vor der Frage, welche Konsequenz sie aus der nicht verwertbaren - Tatsache ziehen will, daß sowohl normative (praktische) wie nicht-normative (empirische) Aussagen prinzipiell fallibel sind und damit die (methodisch) "sichere Basis" letzter Erkenntnisse und letzter Werte entfällt. Sie kann - wie ich an anderer Stelle4S zu zeigen versucht habe - ihren begründungsphilosophischen Denkstil durch das Verfahren der "kritischen Prüfung" ersetzen. Dieser Konzeption zufolge müssen sich die jeweils "ersten" Schritte ebenso wie alle anderen Schritte einer Wissenschaft in kritischer Prüfung bewähren. Die darin gegebene Möglichkeit der Annäherung an eine strengere Rationalität auf dem Wege über eine rechtfertigungsfreie, systematische Kritik ist für die juristische Dogmatik wie für alle Rechtswissenschaft in gleicher Weise relevant. Die Idee der kritischen Prüfung kann als die Grundlage sowohl der theoretischen wie der praktischen Vernunft der Rechtswissenschaft angesehen werden.

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Die Unterschiede zwischen beiden Aussagearten führen dazu, daß jeweils andere Bezugsgrößen bei der Kritik erheblich werden. Während für Sachaussagen die Frage ihrer Wahrheit gestellt werden kann, sind praktische Aussagen nicht oder nur in einem metaphorischen Sinne auf ihre Wahrheit überprüfbar 46 • Sie bewähren sich im Hinblick aufmetaethische Prinzipien, die als grundsätzlich revidierbare Vorschläge zu betrachten sind, nachdem andere Unternehmenetwa Naturrecht und Diskurs - die Wahrheit der Prämissen nicht zwingend haben etablieren können. Die Idee der Kritik bestimmt freilich nicht selbst die Inhaltlichkeit der metaethischen Prinzipien, ebensowenig wie Wahrheitskriterien bereits durch diese Konzeption bestimmt werden. Wenn man also ein metaethisches Kriterium für die Bewährung ethischer Systeme festlegt, handelt es sich - dessen muß man sich bewußt bleiben - lediglich um eine kritisierbare Entscheidung. Eine solche Entscheidung ist modifizierbar. Der Rekurs auf die Prinzipien der "totalen" Vernunft, um daran die "Vernünftigkeit" der Entscheidung zu überprüfen, setzt nur ein (neues) Begründungsverfahren in Gang, das selbst das Basisproblem zu lösen hätte, dies objektiv aber nicht zu leisten vermag. Hier bleibt in dieser Welt das Verfahren der kritischen Prüfung. Das "Positive" scheint dabei in der Durchführung der Kritikjenseits der Methode zu entstehen; es ist vor aller Kritik vorausgesetzt und wird durch sie wieder sichtbar. In diesem Sinne ist Kritik immer mehr, als sie sagt. 46 Im Bereich der Wertungen und Normen kann es zwar eine kritische Diskussion ebenso wie im Bereich der Sachaussagen geben, aber zum objektiven Test der Erfahrung gibt es kein Gegenstück. Dieser Umstand resultiert aus der Sein/Sollen-Unterscheidung. Ebensowenig gibt es zu der relativen intersubjektiven Einheitlichkeit des für die empirische Erkenntnis relevanten menschlichen Erkenntnisapparats, insbesondere der Perzeptionsorgane, ein Pendant für den Bereich der Wertungen und Normen. "Praktische" ErkeQ ntnis ist also ausgeschlossen. Hier bleibt die Möglichkeit der kritischen Diskussion. Diese kann freilich ein Explikat des "Inhalts" der Bewertung oder der Norm nicht erbringen; sie beschränkt sich regelmäßig auf logische Analyse und auf die Untersuchung der Realisierbarkeit. Die Auflösung eines Dissenses zu divergierenden praktischen Fragen kann etwa dadurch versucht werden, daß mehr faktische Information beigebracht wird oder die zugrunde liegenden Wertprämissen analysiert werden. Diese dürfen jedoch nicht im Sinne einer Leerformel abgeschwächt werden, weil auf diese Weise kein echter Konsens zustande kommen kann. Wenn auch bei der kritischen Diskussion von praktischen Fragen die Wissensbestände der Wissenschaft nur indirekt eine Rolle spielen, ist diese Diskus~ion doch als "rationale" möglich. In der Diskussion des Wahrheitsproblems empfiehlt es sich, die Frage des Wahrheitsbegriffs von der Frage der Feststellungsmethoden und dem Problem einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit des Wahrheitsanspruchs klar zu unterscheiden. Konsens kann keine Feststellungsmethode für die Wahrheit einer deskriptiven Aussage oder für die rechtliche Geltung einer Norm sein, weil eine deskriptive Aussage wahr sein kann bzw. eine Norm rechtliche oder moralische Geltung haben kann, ohne daß diese Aussage für wahr gehalten wird bzw. ohne daß diese Norm soziale Geltung hat. Diese Unterscheidung geht bei den Vertretern der Diskurs- bzw. Konsenstheorie verloren. Vgl. zu weiteren Einzelheiten in diesen Fragen O. Weinberger. Logische Analyse als Basis der juristischen Argumentation, in: W. Krawietz/R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, Berlin 1983, S. 159-232 (188).

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Die Rechtswissenschaft und ihr inhärentes Weltbild werden sich darauf befragen lassen müssen, ob sie die Konsequenzen werden ignorieren können, die der Strukturwandel des Denkens, wie er in anderen Bereichen des Wissens längst zu registrieren ist, für das Problem des Rechts und seiner Fundierung im Gefolge hat. Ihre Jahrtausende alte Denkstruktur behauptete sich in dem Maße, in dem sie erfolgreich war. Sie wird fragwürdig und ideologisch, wenn sie sich gegenüber einem konsequenten Kritizismus nicht mehr zu behaupten vermag.

VI. Recht als Bewußtseinsphänomen oder Widerspiegelung der Gesellschaft

24 Festgabe für Alois Trailer

Notizen zur Relation zwischen objektiven und juristischen Gesetzen Von Karl A. Mollnau, Berlin (DDR)

I. Es gehört zu den rechtstheoretischen und rechtshistorischen Trivialerkenntnissen, daß Recht ein Maßstab für die Regelung und Bewertung menschlichen Verhaltens ist. Wer wessen Verhalten wie und wann regeln soll bzw. regeln kann oder auch muß - das ist allerdings ein Fragenkomplex, der durchaus nicht trivial ist. Das Gegenteil ist der Fall: es sind dies Fragen der geistigen Kontroversen auch in unserer Zeit, die Bestandteil und Reflexion der Widersprüchlichkeit unserer Epoche und der in ihr existierenden entgegengesetzten Gesellschaftssysteme sind. Genauso wenig trivial und ebenso umstritten ist die Frage, nach welchem Maß, nach welchen Kriterien Recht geschaffen werden sollte, bevor es selbst als Maß verwendet werden kann. Freilich, für diejenigen Strömungen des zeitgenössischen Rechtsdenkens, die das Recht aus sich selbst heraus legitimieren, also das Verhältnis von Legitimität und Legalität umkehren, ist das keine Frage. Diese Strömungen fragen nur nach innerrechtlichen Beziehungen, nach Relationen zwischen Normen oder nach solchen zwischen Normen und Urteilen usw. So richtig und wichtig die eine oder andere Erkenntnis ist, die auf diese Weise gewonnen wurde, sie bleibt letztlich in der Luft hängen, weil sie von ihren eigenen wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen inhaltlich nicht bestimmbar ist. Um das Recht als maßbestimmte und maßgebende Erscheinung überhaupt in den Blick zu bekommen, muß man seinen geschichtlichen Ursachen sowie seinen ökonomischen, politischen, kulturellen und ideologischen, gegebenenfalls auch religiösen Entstehungs-, Existenz-, Entwicklungs- und Wirkungsbedingungen nachgehen. Eine solche Betrachtungsweise gehört zum ABC der marxistischen Rechtstheorie, die sich als eine dialektische und materialistische versteht. Für sie ist letztlich die Legalität nur historisch legitimierbar. Die Relationen zwischen objektiv historischem und juristischem Gesetz sind deshalb in dieser theoretischen Sicht von grundlegender Bedeutung. Als Moment der Geschichte reflektiert das Recht geschichtliche Prozesse, greift aber auch in sie ein. Es ist also nicht nur passiver Reflex der Geschichte. So gibt es Forderungen der Geschichte an das Recht, aber auch Forderungen des Rechts an die Gesellschaft. 24·

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Hier darf nichts idealisiert werden. In der Realität gibt es ein mehr oder weniger großes Spannungsverhältnis zwischen der Gesellschafts- und Rechtsentwicklung. Die Übereinstimmung zwischen dem gesetzmäßigen Geschichtsprozeß und der Rechtsentwicklung ist praktisch immer nur eine mehr oder weniger temporäre. Jedoch ist ein Mindestmaß an Übereinstimmung des Rechts mit den historischen Gesetzen eine Voraussetzung für einen dauerhaften Bestand bestimmter Rechtssysteme. Innerhalb der Relation historisches / juristisches Gesetz ist letztlich das historische Gesetz das stärkere. Verschiedene Aspekte lassen sich in den Beziehungen zwischen historischen und juristischen Gesetzen unterscheiden: Erstens geht es darum, bei der Erzeugung des Rechts die historischen Gesetze zugrunde zu legen, das Recht also gewissermaßen unter Beachtung und Zugrundelegung der historischen Gesetze zu konstruieren. Zweitens wirkt das Recht bei der Durchsetzung und Ausnutzung historischer Gesetze mit. Hier haben wir es mit der Einwirkung des Rechts auf den Geschichtsprozeß zu tun. Diese Einwirkung kann förderlich, restriktiv oder auch neutral sein. Drittens sind die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung Bewertungsmaßstab für die Rechtssysteme und ihre Entwicklung. Unter objektiven Gesetzen sind dabei allgemeine wesentliche und notwendige Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Erscheinungen zu verstehen. Sie sind Resultate menschlichen Handelns und wirken zugleich als Invarianten gegenüber menschlichem Handeln. Sie sind Resultate des menschlichen Handelns insofern, als sie im Ergebnis des Handeins voraufgegangener Generationen entstanden; Invarianten des menschlichen Handeins sind sie insofern, als jede Generation, jeder Mensch immer nur unter vorgefundenen und auf ihn überkommenen Bedingungen handeln kann. Objektive Gesetze wirken immer nur der Tendenz nach. Die Gesetzmäßigkeit der Gesellschaftsentwicklung darf daher auch nicht als absolute Vorausbestimmtheit der Geschichte aufgefaßt werden. Indem der Marxismus das Recht nicht nur als einen Maßstab des Verhaltens hinnimmt, sondern auch nach dem Maßstab des Rechts fragt, steht er in einer großen rechtsphilosophischen Tradition, die weit in die Antike zurückreichtl.

11. Die Relation objektives Gesetz - juristisches Gesetz ist eines der Basis- und Kardinalprobleme der marxistischen Rechtskonzeption, denn das Recht ist in 1 Vgl. hierzu: Reimar Müller, Antike Konzeptionen von der Historizität des Rechts, in: Kar! A. Mollnau (Hrsg.), Von der Geschichtlichkeit des Rechts, Beiträge zum XII. Weltkongreß der IVR, Berlin 1985, S. 94fT.

Notizen zur Relation zwischen objektiven und juristischen Gesetzen

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seiner Existenz, Funktion und Entwicklung ein notwendiges Element der Gesellschaft, die sich selbst nach objektiven Gesetzen entwickelt. Ob es um den sozialen Inhalt des Rechts oder um die Wechselbeziehung zwischen Recht und Macht geht, ob die Gerechtigkeit einzelner Rechtstypen bewertet werden soll oder nach den Gründen der Verbindlichkeit, der Geltung und gesellschaftlichen Wirksamkeit von Recht gefragt wird, keine rechtswissenschaftliche Fragestellung von grundlagentheoretischem Rang kann ohne explizite Bezugnahme zur Relation objektives Gesetz - Recht beantwortet werden. Daß diese Relation in der marxistisch-leninistischen Rechtswissenschaft einen solchen Stellenwert einnimmt, ist die Folge der dialektisch-materialistischen Einsicht in den gesetzmäßigen Charakter der Gesellschaft und ihrer Geschichte sowie in die historisch-gesellschaftliche Natur des Rechts. Recht ist nicht nur schlechthin eingebettet in Gesellschaft, sondern ist Teil von Gesellschaft. Es ist sozial Bewirktes und sozial Bewirkendes zugleich. Konsequenterweise entwarfen deshalb auch Marx und Engels ihre Rechtstheorie als integralen Bestandteil ihrer Gesellschaftstheorie 2 , wobei sie progressive Elemente der Hegeischen Rechtsphilosophie kritisch aufhoben l Marxistische Rechtstheorie nähert sich der Analyse und Bewertung von Rechtssystemen grundsätzlich von der Position aus, ob und inwieweit sie mit der historischen Gesetzlichkeit konform gehen oder ob dies nicht der Fall ist. Diese Position gilt auch für die Analyse der Rechtssysteme in den sozialistischen Staaten.

m. In der sozialistischen Gesellschaft, die bewußt gestaltet wird und die nach einem Wort von Engels 4 einen vernünftig organisierten Gesellschaftsstatus anstrebt, sind die Wechselbeziehungen zwischen objektiven Gesetzen und Recht, vor allem ihre bewußte Ausnutzbarkeit, Kardinalprobleme der rechtswissenschaftlichen Arbeit, denen beträchtliche rechtspolitische Tragweite zukommt. Das Recht kann in der sozialistischen Gesellschaft seinen Beitrag zur vernünftigen Organisation dieser Gesellschaft nur dann leisten, wenn es selbst als Resultat und Mittel der bewußten Ausnutzung objektiver sozialer Gesetze produziert und reproduziert, gestaltet und genutzt wird. Dies wiederum schließt die Bewertungsfähigkeit und Bewertungsbedürftigkeit des sozialistischen 2 Vgl. hierzu: Imre Szabb, Karl Marx und das Recht, Berlin 1981; P. J. Nedbailo, Einführung in die allgemeine Theorie des Staates und Rechts, Berlin 1972, S. 59 fT. l Siehe: G. W. F. Regel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hrsg. v. H. Klenner, Berlin 1981, S. 604 fT. (Anhang des Herausgebers). 4 MEW, Bd.2, S. 540,544.

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Rechts am Maßstab objektiver Gesetze ein; in diesem Sinne sind objektive Gesetze Vorgegebenheiten für den sozialistischen Staat und seine Rechtspolitik. Sie können von ihm weder überlistet, noch manipuliert werden. Wenn wir von bewußter Ausnutzung objektiver Gesetze mit Hilfe des Rechts sprechen, dann meinen wir dies nicht im voluntaristischen Sinne; sondern vom Ansatz her ist sie genauso zu betrachten wie die bewußte Ausnutzung von Naturgesetzen in der Produktion und Technik. Marx' Bemerkung, wonach das Recht nicht höher sein könne als der Entwicklungsstand der Ökonomie und die dadurch bedingte KulturentwicklungS , weist übrigens in diese Richtung. Wobei - und dies sei mehr nebenbei bemerkt - diese Passage oft nur verkürzt zur Kenntnis genommen wird und alles nur linear auf die Ökonomie zurückgeführt wird. Es ist hier nicht möglich, die ganze Problematik auch nur annähernd darzustellen, die abgearbeitet werden muß, um dem Postulat genüge zu tun, das sozialistische Recht als Resultat und Mittel der Ausnutzung objektiver sozialer Gesetze zu produzieren und zu reproduzieren, zu gestalten und zu nutzen. Doch in der Realität erweist sich ein Problem als sehr entscheidend. Es ist dies die Tatsache, herausfinden zu müssen, welche gesellschaftlichen Verhältnisse unter einer konkreten Raum-Zeit-Bedingung der rechtlichen Regelung wirklich bedürfen und wie sie ihrer Natur nach angemessen rechtlich zu regeln sind. Die Realität zeigt nun, daß der Kreis der rechtlich regelungsnotwendigen und regelungsbedürftigen Verhältnisse in der sozialistischen Gesellschaft und bei ihrer Fortentwicklung weder unveränderlich noch im Abnehmen begriffen ist. Mehr noch: Mit fortschreitender Entwicklung des Sozialismus werden dem Recht neue Wirkungsbereiche erschlossen. So ist gegenwärtig beispielsweise in verschiedenen sozialistischen Ländern zu beobachten, wie immer stärker auf rechtliche Regelungsmechanismen zurückgegriffen wird, um optimalere Verbindungen zwischen zentraler staatlicher Wirtschaftsleitung und eigenverantwortlicher Wirtschaftstätigkeit der Betriebe herzustellen. Ein anderer Bereich der Bedeutungszunahme des Rechts in der sozialistischen Gesellschaft steht im Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Revolution und ihrer Steuerung in solchen Bahnen, die der humanen Zielsetzung der sozialistischen Gesellschaft angemessen sind. Die tendenzielle Bedeutungszunahme des Rechts in den gegenwärtigen sozialistischen Gesellschaften zeigt sich auch in der zunehmenden Rolle, die juristische Verträge im Alltagsleben spielen. Die Veränderlichkeit des Kreises der rechtlich regelungsbedürftigen Verhältnisse verleiht der Ausnutzung objektiver Gesetze mit Hilfe des Rechts in der sozialistischen Gesellschaft eine spezifisch-historische Dimension.

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MEW, Bd. 19, S. 20.

Notizen zur Relation zwischen objektiven und juristischen Gesetzen

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Eine Zäsur in der Historizität der Ausnutzung objektiver Gesetze mit Hilfe juristischer Gesetze tritt in der sozialistischen Gesellschaft mit dem Zeitpunkt ein, wenn sich diese Gesellschaft auf ihren eigenen Grundlagen zu entwickeln beginnt 6 . Also jene Etappe hinter sich gebracht hat, die - einer Wendung von Marx zufolge - mit all den Muttermalen des Kapitalismus behaftet ist, aus dessen Schoß sie kroch 7 • IV.

Die Ursachen und Gründe für die Existenz des Rechts und für dessen tendenzielle Bedeutungszunahme bei der bewußten Ausnutzung objektiver Gesetze während der langen Periode, in der sich die sozialistische Gesellschaft auf ihren eigenen Grundlagen entwickelt, ergeben sich zuvörderst aus dem Stand der Produktivkraftentwicklung und der daraus resultierenden dialektischen Widersprüchlichkeit von sozialer Gleichheit und Ungleichheits. Das sozialistische Recht wird so lange ein unentbehrliches und notwendiges Mittel zur Anwendung und Beherrschung der objektiven Gesetze bleiben, solange der dialektische Widerspruch zwischen sozialer Gleichheit und Ungleichheit nicht vollständig gelöst ist. Was die konkrete Bewegung dieses Widerspruches angeht, so darf nicht aus dem Auge verloren werden, daß die sozialistischen Gesellschaften im Wettbewerb mit dem Kapitalismus stehen und über den Weltmarkt, die internationale Arbeitsteilung u. a. Sphären in enger ökonomischer, politischer, wissenschaftlich-technischer und kultureller Wechselwirkung mit ihm stehen. Auch müssen die Lasten der Verteidigung erwähnt werden, die der Sozialismus sich aufzuerlegen gezwungen ist. Dieses Ergebnis unserer Überlegungen stimmt mit Marx' unverkürzt verstandenen Grundauffassungen über die Voraussetzungen überein, bei deren Vorhandensein das Recht als spezifische gesellschaftliche Erscheinung seine Daseinsberechtigung überhaupt verloren hat. Er schreibt: "In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist, nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden, nachdem der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen 9 ." 6 Die These von der Entwicklung des Sozialismus auf seinen eigenen Grundlagen hat das Sozialismusbild präzisiert; sie hat zugleich eine Reihe von Konsequenzen für die marxistische Gesellschaftstheorie (vgl.: Anatoli Jegorow/Otto Reinhold. Die sozialistische Gesellschaft der Gegenwart, Berlin 1984, bes. S. 41 ff.). 7 MEW, Bd. 19, S. 20. 8 Näheres hierzu: E. Hahn/A. Kosing, Dialektik des Sozialismus, Berlin 1981, S. 203ff. 9 MEW, Bd. 19, S. 21.

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Aus dem Umstand, daß die bewußte Ausnutzung objektiver Gesetze mit Hilfe des sozialistischen Rechts selbst ein historischer Vorgang ist und demzufolge als Erfahrungs- und Erkenntnisprozeß aufzufassen ist, folgt zweierlei: -

-

Einmal muß das rechtliche Regelungsinstrumentarium ständig entsprechend dem Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung, den bei der bewußten Ausnutzung objektiver Gesetze mit Hilfe des Rechts gesammelten Erfahrungen sowie dem Erkenntnisstand über die Existenz objektiver Gesetze und ihrer Wirkungsbedingungen fortentwickelt werden. Zum anderen müssen die rechtswissenschaftlichen Reflexionen über die Ausnutzung objektiver Gesetze mit Hilfe des Rechts auf der Basis verallgemeinerungsfahiger Erfahrungen unter Beachtung der Ergebnisse der philosophischen Gesetzestheorie sowie einschlägiger Erkenntnis anderer Wissenschaftsdisziplinen fortlaufend vervollkommnet werden.

Abschließend drei Schlußfolgerungen: 1. Die Ausnutzung objektiver Gesetze mit Hilfe des sozialistischen Rechts ist immer erreichter Zustand und ungelöste Aufgabe zugleich. Ein Widerspruch, der in der Sache selbst liegt und so lange vorhanden sein wird, solange das sozialistische Recht selbst existiert. So wie der Sozialismus ein sich entwickelnder Gesellschaftsorganismus ist, so ist sein Recht selbst Moment der Geschichte, bedarf es ständiger Vervollkommnungen, um der Geschichte gerecht zu werden. Daraus folgt: de lege ferenda-Überlegungen bilden einen Eckpfeiler, auf dem rechtspolitisch und theoretisch das sozialistische Recht ruht. 2. Die Historizität der Wechselbeziehungen zwischen objektiven Gesetzen und sozialistischem Recht tritt um so mehr ins Bewußtsein, je deutlicher die historisch langfristige Dauer wird, die nötig ist, um die inneren Potenzen der sozialistischen Gesellschaft voll zur Geltung bringen zu können. Es darf angenommen werden, daß die Ausnutzung objektiver Gesetze mit Hilfe des sozialistischen Rechts über verschiedene qualitative Niveaustufen vor sich gehen wird. 3. Die Historizität der Wechselbeziehungen zwischen objektiven Gesetzen und sozialistischem Recht kann letztlich ihre rechtstheoretisch gültige Verallgemeinerung nur auf der Ebene des sozialistischen Rechtstyps finden. Basis dieser Verallgemeinerung sind die Erfahrungen, die mit dem einzelnen nationalen Rechtssystem des sozialistischen Rechtstyps bei der Beherrschung objektiver Gesetze gesammelt werden, wobei jene theoretischen Verallgemeinerungen, die sich als allgemeingültig erweisen, bei der Gestaltung der einzelnen nationalen Rechtssysteme anzuwenden sind. In dieser Sicht wird es kaum möglich sein, einzelne nationale Rechtssysteme als Prototypen optimaler Beherrschung objektiver Gesetze mit Hilfe rechtlicher Mittel ansehen zu können. Als hypothetisches Komprimat dieser Überlegungen darf festgelegt werden: Das sozialistische Recht hat die Periode seiner klassischen Gestalt noch vor sich.

Das Troller'sche Modell der Erkenntnis und die sowjetmarxistische Widerspiegelungstheorie Aspekte eines Theorienvergleichs zur juristischen Erkenntnis Von Walter Ott und Peter Higi, Zürich In seinem Beitrag zum Weltkongreß für Rechts- und Sozialphilosophie in Basel (1979) unterzog Alois Troller seine "selbstverständliche juristische Erkenntnismethode" (phänomenologie) einem Vergleich mit der marxistisch'leninistischen (sowjetmarxistischen) Widerspiegelungstheorie 1 • Seine' Ausführungen schloß er dort mit der Feststellung, daß eine prinzipielle methodische Übereinstimmung zwischen diesen beiden erkenntnistheoretischen Modellen bestehe. Die Übereinstimmung lasse sich auf die menschliche Erkenntnismöglichkeit zurückführen und sei "zwingend vorgegeben"2. Einschränkend fügte Troller allerdings an, die gleichartige Methode verhindere u. U. eine völlige Verschiedenheit im Ergebnis der phänomenologischen Erkenntnis und der Widerspiegelung nicht. An dieser Stelle soll nun den Ursachen nachgegangen werden, welche zu einer solchen Verschiedenheit führen können. Es wird dabei vorausgesetzt, daß die methodische Gleichartigkeit im Grundsatz gegeben ist und für die Abweichungen im Resultat hauptsächlich das "philosophische Umfeld" verantwortlich zeichnet, in dem die zwei erkenntnistheoretischen Konzeptionen eingebettet sind. Zuerst wird hier deshalb das Gemeinsame in der Methode kurz dargelegt. Anschließend sind einige Thesen vorzustellen, welche dem "phänomenologischen Modell der selbstverständlichen Methode" und der "Widerspiegelungstheorie" unterlegt sind und diese trennen 3 • 1 Der Beitrag trägt den Titel "Erkenntnistheoretische Parallele von Widerspiegelungstheorie und Phänomenologie im praktischen Rechtsdenken"; veröffentlicht in ARSP Supplementa Vol. I Part 3 (1983), S. 51-66. Zum Begriff "Sowjetmarxismus": Diese Bezeichnung des Marxismus-Leninismus wurde von W. Leonhard, Die Dreispaltung des Kommunismus. Ursprung und Entwicklung des Sowjetmarxismus, Maoismus und Reformkommunismus, DüsseldorfjWien 1970, geprägt und wird auch von anderen Autoren verwendet, da er die Spezifik des heute existierenden Marxismus-Leninismus besser zum Ausdruck bringt. Vgl. dazu ebd., S. 13 f. 2 Troller (FN 1), S. 64. 3 Diesem Aufsatz liegen, neben der bereits erwähnten, noch folgende Arbeiten Trollers zugrunde: Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft, Frankfurt/Main u. Berlin 1965; Die Begegnung von Philosophie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft, BaseljStuttgart 1971; Grundriß einer selbstverständlichen juristischen Methode und

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I. Gemeinsamkeiten 1. Ausgangslage

Ausgangspunkt der phänomenologischen Betrachtung und der Widerspiegelung ist die vom Menschen wahrnehmbare soziale Wirklichkeit. Beide Modelle erfassen dabei die gesellschaftliche Realität als strukturierte Einheit. Strukturen sind sinnvolle gesellschaftliche Funktionsgruppen: Troller nennt sie "rechtsbedeutsame Zustände und Vorgänge", im Sowjetmarxismus spricht man von (rechtlich relevanten) "gesellschaftlichen Verhältnissen". Instrument der Erkenntnis ist übereinstimmend das Bewußtsein des erkennenden Individuums als Ensemble individueller Erkenntnis, Erfahrung, Intuition sowie kollektiven Wissens und kollektiver Perspektive. Zur letzteren gehören insbesonders die Sprache und die gesellschaftlichen Anschauungen (bei Troller das Vorverständnis, im Sowjetmarxismus das kollektive Bewußtsein). 2. Erkennen

Troller definiert das Erkennen als ein Erfassen des Objekts in seinem Wesen. Der gleiche Gedanke beherrscht die widerspiegelungstheoretische Zielsetzung, ein Objekt müsse - soll es erkannt werden - vollständig und allseitig widerspiegelt werden. Nach Kerimow besteht die Aufgabe darin, "in das Innere dieser Erscheinungen vorzudringen, ihr Wesen, ihren Inhalt und ihre Erscheinungsformen zu bestimmen ... "4.

Das Wesen eines Objekts wird über einen aktiven Prozeß des Bewußtseins erfaßt - auch darin stimmen die zwei Konzeptionen überein: Im individuellen Bewußtsein wird ein Bild der sozialen Wirklichkeit (realer Zustände und Geschehnisse) unter Einfluß der individuellen Erfahrung und der kollektiven Perspektive entworfen und zu Handlungsabläufen und Zuständen geformt. Im Ergebnis erhalten wir sprachlich fixierte, bildhaft im Bewußtsein wahrgenommene Handlungsabläufe und Beziehungen wie sie existieren, existieren könnten Rechtsphilosophie, Basel/ Stuttgart 1975; Heutige Strömungen der Rechtsphilosophie, in: SJZ 75 (1979), S. 373-381; Rechtskonstruktion und Rechtswirklichkeit, in: RECHTSTHEORIE 11 (1980), S. 137-150. Für die Ausführungen zur Widerspiegelungstheorie wurden hauptsächlich diejenigen Werke marxistischer Autoren herbeigezogen, auf die sich Troller in seinem Vortrag in Basel (1979) stützte (siehe FN 1), S. 54 u. 65; daneben aber auch: Autorenkollektiv, Erkenntnis und Wahrheit, Berlin-DDR 1983; Z. Abdildin, Die dialektisch-logischen Prinzipien einer wissenschaftlichen Theoriebildung, in: Wiss. Ztschr. K.-Marx-Univ. Leipzig, Ges.- u. sprachwiss. R. 33 (1984), S. 116-125; E. Albrecht, Zu Grundfragen in den Beziehungen von marxistisch-leninistischer Weltanschauung und Methodologie in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften, in: Greifswalder Universitätsreden NF 33, Greifswald 1975. Weitere Quellen werden an gegebener Stelle zitiert. 4 D. A. Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts (dt. Übersetzung Berlin-DDR 1977), S. 49.

Das Troller'sche Modell der Erkenntnis

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oder existieren sollen (z. B. Verhalten von Vertragsparteien, Vertragsentwürfe, Normen). 3. Ergebnis Troller nennt das Resultat der phänomenologischen Betrachtung ein "Bewußtseinsbild". Im Marxismus findet sich ein Pendant in der Bezeichnung "Widerspiegelung" s.

Bewußtseinsbild und Widerspiegelung sind genuin subjektiv, interessegebunden, denn Erkennen ist primär eine individuelle Bewußtseins tätigkeit. Ihre Wahrheit im Sinne einer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist folglich nicht direkt gegeben, sondern über eine Phase der kritischen Überprüfung und, falls notwendig, über eine Ergänzung oder Änderung erreichbar. Gemeinsam ist den zwei Ergebnissen überdies, daß sie nicht einfach eine ideelle Reproduktion der sozialen Wirklichkeit beinhalten. Beide weisen bildhaft über das, was ist, hinaus auf das Künftige, noch nicht Realisierte. In der Widerspiegelungstheorie wird die Widerspiegelung daher auch als Vorwegnahme künftigen Verhaltens bezeichnet (oder: die Erkenntnis sei geeignet, sog. "Handlungsanweisungen" zu begründen)6. Bei Troller finden sich analoge Formulierungen 7 • 4. Denkweg

Zur Gewinnung (wahrer) juristischer Erkenntnis sehen die Widerspiegelungstheorie und das Troller'sche Modell folgende gedankliche Schritte als unabdingbaren Denkweg und sichern uns die Übereinstimmung ihres Denkweges mit dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisweg zu: a) Zuerst wird im Bewußtsein das Bild der wahrzunehmenden gesellschaftlichen Wirklichkeit vom erkennenden Subjekt, unter dem Einfluß seiner individuellen und kollektiven Perspektive sowie seines Vorverständnisses und der Sprache, aktiv gebildet 8 •

Troller (FN 1), S. 56, 64. So D. Wittich, Über Gegenstand und Methoden der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie, 2. Aufl. Berlin-DDR, S. 13f. Einen Hinweis in dem Sinne, daß jede Erkenntnis auch die Voraussehbarkeit der weiteren Entwicklung des Erkenntnisobjektes zu beinhalten habe, findet sich bei Kerimow (FN 4), S. 49: "Die Aufgabe besteht darin, in das Innere dieser Erscheinungen vorzudringen ... und auf dieser Grundlage ... den Weg ihrer weiteren Entwicklung vorauszusehen." 7 Troller (FN 1), S. 58f.; ders., Rechtskonstruktion und Rechtswirklichkeit (FN 3), S. 138; ders., Grundriß (FN 3), S. 19. 8 Troller (FN 1), S. 63. Ähnlich schreibt Kerimow (FN 4), S. 45: "Die juristische Erkenntnis beginnt ihren langen und komplizierten Weg mit der Widerspiegelung der rechtlichen Wirklichkeit. Das ist keine einfache, mechanische und fotografische Abbildung." 5

6

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b) Aufgrund dieser Vorstellung wird das Erkenntnisziel gesetzt (Forschungsziel)9. c) Auf die Zielsetzung folgt in Grundzügen das Erschaffen eines Verhaltensmodells, das zum Ziel führen soll 10 • d) Es folgt eine kritische Überprüfung dieses Verhaltensmodells anhand der Wirklichkeit ll . e) Zuletzt wird das Verhaltensmodell (die Handlungsanweisung) bewertet l2 •

D. Unterschiede 1. Erkenntnistheoretische Prämisse

Beiden Modellen ist die Prämisse unterlegt, die Welt sei erkennbar. Man kann sie daher als erkenntnistheoretisch-realistische Konzeptionen bezeichnen 13. aa) Troller nimmt jedoch diese Prämisse im Gegensatz zur Widerspiegelungstheorie insofern nicht als fraglos gesichert hin, als seine selbstverständliche Methodik des Erkennens darauf ausgerichtet ist, Gelegenheit für Reflexionen über die menschliche Erkenntnisfähigkeit und -möglichkeit zu verschaffen. Anlaß der Troller'schen Erkenntnismethode ist mithin die Bewußtseinserhellung l4 : Der Erkennende soll sich über sein Erkennen Rechenschaft ablegen, es kritisch überprüfen. Das Denken soll wieder zu seinem Ausgangspunkt, zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zurückkehren und diese zu seinem Maßstab nehmen. bb) Die sowjetmarxistische Widerspiegelungstheorie nimmt die erkenntnistheoretische Prämisse nicht nur fraglos hin. Sie benutzt jene überdies als Ausgangspunkt einer materialistischen Erklärung des Erkennens und des Bewußtseins: -

Erkenntnis könne der Mensch nur gewinnen, weil sein Gehirn (als hoch organisierte Materie) über die Widerspiegelungsfähigkeit verfüge; es handle

9 Vgl. Kerimow (FN 4), S. 266. Troller (FN 1), S. 53 setzt diesen Schritt stillschweigend voraus. 10 Troller (FN 1), S. 58. In diesem Sinn zu verstehen Wittich (FN 6), S. 60: "Die durch den gesellschaftlichen Erkenntnisprozeß ... erreichten Resultate ... dienen der Festlegung von Handlungsabläufen, die a) das angestrebte Ziel überhaupt erreichbar werden lassen oder b) es in einer möglichst optimalen Weise erreichen lassen." 11 Troller (FN 1), S. 64. Im Sowjetmarxismus fallen Überprüfung und Bewertung (5. Schritt) allerdings zusammen: Vgl. die so zu verstehenden Äußerungen zum Rechtsschöpfungsprozeß von W. Grahn, Vom gesellschaftlichen Sein zum rechtlichen Sollen Methodische Aspekte und Ansichten, in: ARSP Supplementa Vol. I Part 2 (1982), S. 253 f. 12 Troller (FN 1), S. 63; Wittich (FN 6), S. 60; Grahn (FN 11), S. 254. 13 TroHer charakterisiert seine Methode seit einigen Jahren denn auch als "kritischen Rechtsrealismus". Ders., Rechtskonstruktion und Rechtswirklichkeit (FN 3), S. 137. 14 Ebd., S. 150.

Das Troller'sche Modell der Erkenntnis

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sich dabei um eine spezifische Eigenschaft der hochorganisierten Materie, die jedoch in anderer, der Empfindung nicht unähnlicher Form, der ganzen Materie zuzurechnen sei 15. -

Sitz des Bewußtseins sei das menschliche Gehirn. Diese Tatsache erkläre das Bewußtsein, das Ideelle, als materiell gebunden. Das Bewußtsein konstituiere sich erst über die Widerspiegelungsfähigkeit der Materie, und die Widerspiegelung, das ideelle Abbild objektiver Realität, könne folglich nur in dieser materiellen Gebundenheit richtig verstanden werden.

Mit ihrem Versuch, das Bewußtsein zu begründen, steht die Widerspiegelungstheorie in schroffem Gegensatz zu Troller, der solches den "spekulativen Theorien" überläßt l6 • Die Gründe für die sich hier offenbarende sowjetmarxistische Erklärungshaltung findet man in der dialektisch-materialistischen Grundlage des Sowjetmarxismus. Die materielle Dialektik erhebt den Anspruch, die vollständigste, allseitigste und tiefste Entwicklungslehre zu sein, deren Gesetze nicht nur Gesetze der Natur, sondern auch der Erkenntnis, des Denkens und der Gesellschaft seien l7 • Dies impliziert, daß die marxistische Theorie mit Hilfe der dialektischen Gesetze in der Lage zu sein glaubt, die gesamte Welt erklären zu können (und erklären zu müssen). Erkenntnistheorie in diesem Kontext tendiert folglich gar nicht nach einer Bewußtseinserhellung. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, zu allen Problemen der Erkenntnis die dialektisch-materialistische Erklärung zu liefern. Fordert also die Methode zur selbstverständlichen juristischen Erkenntnis ein kritisches, stets auch den Erkenntnisweg (Denkweg) überprüfendes Erkennen, so schließt das sowjetmarxistische Modell ein derartiges Vorgehen von vornherein mit ihrer Erklärungsintention aus. 2. Erkenntnisgegenstand

Gegenstand der juristischen Erkenntnis ist die soziale Wirklichkeit, eingeschränkt auf den Blickwinkel der rechtlichen Relevanz. aa) Troller begreift die soziale Wirklichkeit als real existierendes Geflecht menschlicher Beziehungen, welche durch den menschlichen Willen geprägt sind und denen Tun und Haben der Menschen zugrunde liegen. Die menschlichen Beziehungen sind Bestandteil eines komplexen sozialen Geflechts, einer örtlich 15 T. Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie (dt. Übersetzung Berlin-DDR 1973) S. 72f. zitiert diesen Leninschen Gedanken ausdrücklich und führt dessen Berechtigung weiter aus. 16 Trailer, Grundriß (FN 3), S. 48. 17 Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR u. a. (Hrsg.), Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie (dt. Übersetzung, 2. Aufl. BerlinDDR 1972), S. 118f.

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und zeitlich abgegrenzten menschlichen Gemeinschaft, der Gesellschaft. Die Gesellschaft ordnet sich selbst in einem unaufhörlichen Wandel durch die sie begründenden Individuen. Gewisse Ordnungsstrukturen sind jedoch in ihrem Wesen von diesem Wandel relativ unberührt. In der Rechtsordnung manifestieren sie sich in allgemeinen, überall gültigen Rechtsprinzipien (Tausch, Kauf; Familie, Ehe; gesellschaftliche Kompetenzzuteilung). Die Ursachen der steten Wandlung der sozialen Wirklichkeit sieht Troller im allgemeinen Zwang des Daseienden, sein Dasein immerfort zu gestalten. Die Grenzen des Wandels erblickt er in der Naturgesetzlichkeit 18 . Der Erkenntnisgegenstand wird im phänomenologischen Modell allerdings zweifach eingeschränkt, nämlich durch die menschliche Erkenntnismöglichkeit und den juristischen Blickwinkel: "Niemand kann diese komplexe Wirklichkeit als Ganzes erfassen und denken. Das Erkennen begreift nur Teile. Wer die Wirklichkeit sieht, nimmt, sofern er bewußt hinblickt, funktional zusammengehörende Erscheinungen, Sinngebilde wahr. Er schaut nicht bloß hin, er sieht intentional. Je nach dem Erkenntnisziel wird das gleiche Objekt als verschiedenes Sinngebilde wahrgenommen .... Der Jurist sieht als Rechtsdenker die soziale Wirklichkeit aufgeteilt in rechtlich bedeutsame Zustände und Vorgänge"19. bb) Die Umschreibung des Erkenntnisgegenstandes im Sowjetmarxismus ist nur vor dem Hintergrund des dialektischen und des historischen Materialismus verständlich, wobei insbesondere der Basis-Überbaulehre grundlegende Bedeutung zukommt. Gegenstand der juristischen Erkenntnis ist das in "gesellschaftliche Verhältnisse" strukturierte "gesellschaftliche Sein"; der Begriff "gesellschaftliche Verhältnisse" aber entstammt der Basis-Überbaulehre. Die Hauptthese der Basis-Überbaulehre postuliert, daß die ökonomische Struktur (Basis, Produktionsweise) die politische, juristische, psychologische und ideologische Struktur (Überbau) einer Gesellschaft letztlich bestimme. Das Wort "letztlich" ist dahingehend zu verstehen, daß die eine Produktionsweise bestimmenden Produktionsverhältnisse (z. B. Eigentumsstrukturen) für einen bestimmten Typus von Gesellschaft verantwortlich sind (z. B. Privateigentum für die kapitalistische Gesellschaftsformation). Denn neben der Produktionsweise beeinflussen auch noch "andere materielle Verhältnisse" den Überbau (z. B. elementare Verhältnisse wie die Familie oder der Bezug von Gesellschaft zu Natur) und bestimmen gleicherweise wie die Produktionsverhältnisse Recht, Psychologie, Ideologie und Politik. Ihre Beeinflussung des Überbaus begründet jedoch keine Gesellschaftstypen. Die Bestimmung des Überbaus durch die ökonomische Struktur und die anderen materiellen Verhältnisse 20 wird im Sowjetmarxismus als WiderspiegeVgl. Troller, Grundriß (FN 3), S. 101. Troller (FN 1), S. 56. Als Beispiel für Sinngebilde nennt Troller (ebd.) einen Kaufvertrag und das Ausfüllen eines Checks. 18 19

Das Trol1er'sche Model1 der Erkenntnis

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lungsrelation aufgefaßt; d. h.: Über das menschliche Bewußtsein werden den materiellen Verhältnissen entsprechende ideologische, politische, juristische etc. Verhältnisse geschaffen. Für die Adäquatheit der Überbauverhältnisse und der materiellen Verhältnisse sorgt die Interessenstruktur des Bewußtseins der Klasse, welche die Gesellschaft beherrscht. Die Interessenstruktur wiederum ist gekennzeichnet durch die Interessenlage. Charakteristisch für die Interessenlage der herrschenden Klasse ist das Beharren auf den bestehenden ökonomischen Strukturen, weil diese der Klasse die Herrschaft erst ermöglichten. Genau umgekehrt stellt sich die Interessenlage der beherrschten Klassen dar. Grundlegende gesellschaftliche Wandlungen sind mithin nur über eine Änderung der Herrschaftsverhältnisse, d. h. durch den Klassenkampf erreichbar - denn so gewiß wie das kompromißlose Festhalten am Bestehenden seitens der herrschenden ist der unbeugsame Wille der beherrschten Klasse, die Verhältnisse zu ändern. Der Klassenkampfwird somit zum subjektiven Motor gesellschaftlicher 20 Die hier stets wiederkehrende Unterscheidung zwischen materiel1en und ideel1en Verhältnissen verlangt nach einer kurzen Definition der Begriffe "materiell" und "ideell": "Materie" bezeichnet alles unabhängig und außerhalb vom Bewußtsein objektiv-real Existierende. Demgegenüber bezeichnet das Wort "ideell" alle jene Erscheinungen der Welt, die vom Bewußtsein abhängig existieren, d. h. durch das die Materie widerspiegelnde Bewußtsein hervorgebracht werden. "Materie" ist sog. strukturel1 inhomogen und benennt eine philosophische Kategorie, die physikalische, biologische und gesel1schaftlieh-soziale Materie umfaßt [vgl. dazu Institut (FN 17), S. 68 -75; H. Koreh, Die Materieauffassung der marxistisch-leninistischen Philosophie. Berlin-DDR 1980, S. 3353. Zur Substanzlosigkeit der Kategorie Materie siehe auch H. Hörz, Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften (2. Aufl. Berlin-DDR 1976), S. 225ff.). "Materie" meint mithin nicht eine Ursubstanz, aus der sich die gesamte Welt herausgebildet hat, sondern die al1 gemeinste Ebene (Grundlage) dialektischer Beweg~ng und Entwicklung. Die Unabhängigkeit des Materiellen vom Bewußtsein wird aus folgenden Gründen für bewiesen betrachtet: Der Mensch vollzieht nicht al1e Handlungen bewußt, und auch bei bewußt vollzogenen Handlungen sind nicht alle Folgen voraussehbar; gewisse Prozesse vollziehen sich, ohne daß der einzelne lenkenden Einfluß auf sie nehmen könnte [diese kurze Erklärung der Unabhängigkeit ergibt sich aus den weitläufigen Ausführungen in Institut (FN 17), S. 263 ff.). Das "Ideel1e" ist über die Widerspiegelung materiel1 erklärbar und in seinem Gehalt von der Materie abhängig (Primat der Materie). Überdies ist das Bewußtsein ein Produkt (eine Eigenschaft) der Materie und insofern materiell, als Materie nur Materie/Materielles zu erzeugen vermag, wie nachstehende Ausführungen belegen: "Niemals und nirgends hat in der Welt etwas existiert und wird in der Welt etwas existieren, was nicht Materie in ihrer Bewegung oder von dieser hervorgebracht worden wäre. Darin besteht die Einheit der Welt. Die Welt ist materiel1. Sie ist einheitlich, ewig und unendlich [Institut (FN 17), S. 94)." Das Zusammenfügen der erkenntnistheoretischen Trennung von Bewußtsein und Materie mit dem materialistischen Monismus führt al1erdings zu einer logischen Inkongruenz der Lehre, die auch von Marxisten empfunden wird. Mit folgendem Gedankengang wird sie beispielsweise vom Ungarn T. Földesi aufgezeigt und kritisiert: Sei das Bewußtsein eine Eigenschaft der Materie und die Materie eine bewußtseinsunabhängige Realität, dann müsse die Materie eine von den Eigenschaften der Materie unabhängige, objektive Realität sein (sinngemäß zit. bei T. Hanak, Die marxistische Philosophie und Soziologie in Ungarn, Stuttgart 1976, S. 113).

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Walter Ott und Peter Higi

Veränderungen, bis eine Gesellschaft klassenlos ist. Auf jener Entwicklungsstufe, also bereits im entwickelten Sozialismus (erste Phase des Kommunismus) ersetzen andere materielle und ideelle Kräfte den Klassenkampf als "Lokomotor" der gesellschaftlichen Veränderung. Vor allem dem Bewußtsein kommt erhöhte Bedeutung ZU21. Den Erkenntnisgegenstand strukturierende "gesellschaftliche Verhältnisse" sind bei dieser theoretischen Situation folglich sowohl materielle (nicht nur ökonomische) als auch ideelle gesellschaftliche Verhältnisse. Zur Verdeutlichung dieser Umschreibung seien hier noch einige Beispiele angeführt: -

Materielle gesellschaftliche Verhältnisse sind etwa die Beziehungen der Menschen zur Natur (Natur als Wirtschaftsressource) oder die Produktionsverhältnisse (Eigentum an Produktionsmitteln) und die Verhältnisse zwischen Produktion und Konsumtion (Kauf, Tausch, Miete).

-

Elementare Verhältnisse außerhalb der Produktion sind Familie oder Verwandtschaft Ideelle Verhältnisse bezeichnen Beziehungen zwischen Bürgern und Staat, Staat und Partei oder Kompetenzzuteilungen an Staatsorgane usw.

-

Für die juristische Erkenntnis von grundlegender Bedeutung sind die materiellen Verhältnisse, kommt doch dem Materiellen gegenüber dem Ideellen der Primat ZU 22 • Das heißt: Über das Bewußtsein wird der Inhalt des Ideellen primär durch das Materielle bestimmt; der Inhalt des Rechts beispielsweise folgt jenem der materiellen Verhältnisse, obgleich es sich nur vermittels gesellschaftlicher Institutionen bilden und verwirklichen kann. 3. Wahrheit und Richtigkeit der Erkenntnis

aa) Der Weg zur wahren Erkenntnis erfordert im phänomenologischen Modell von Troller das Durchlaufen zweier Phasen: Kritisches Überprüfen des eigenen Erkenntnisweges und intersubjektive Verständigung über das Resultat. Jegliches Erkennen ereignet sich nach Troller im individuellen Bewußtsein. In letzter Konsequenz bleibt jeder Erkennende daher im Gefängnis seines Bewußtseins eingeschlossen, obgleich das individuelle Bewußtsein kollektive Inhalte in Gestalt des Vorverständnisses und der Interessen besitzt. Bewußtseinsbilder sind also immer subjektiv und ihre individuelle Befangenheit läßt sich nur durch die Verständigung unter den Individuen überwinden. In der Phase der Erkenntniskritik hat demgemäß der Erkennende die Quellen seiner Bewußtseinsbilder anhand der Mitteilung anderer Individuen zu prüfen. 21 Vgl. E. Nasarenko, Sozialistisches Rechtsbewußtsein und Rechtsschöpfung (dt. Übersetzung Berlin-DDR 1974), S. 36. Ausführlich zur Basis-Überbaulehre Institut (FN 17), S. 317fT. 22 H. Klenner, Sein und Sollen in der Rechtswissenschaft, in: ARSP Beiheft NF 6 (1970), S. 145f.

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Gleichfalls muß er sich der Frage unterziehen, ob und wieweit sich jene Bilder zu einem Gesamtbild des zu erkennenden Sinngebildes zusammenfügen. Auch hierin ist er auf die Mitteilungen anderer angewiesen. In der zweiten Phase gilt es zu prüfen, ob das Ergebnis der kritischen Überprüfung des Erkenntnisvorganges über die intersubjektive Verständigung als wahr und richtig zu gelten hat. Wahrheit ist bei Troller absolut definiert und besteht in der Übereinstimmung von Wirklichkeit und Vorstellung. Richtigkeit hingegen liegt in der Angepaßtheit des Mittels an das zu erstrebende Ziel. Bei der Rechtsordnung ist das Richtige in der Verwirklichung jener Modelle zu sehen, die dem Individuum und der Gesellschaft gerecht werden. Der Wahrheitsprüfung sind nach Troller zwei Grenzen gesetzt: Wahrheit erfordert zuerst übereinstimmende Aussagen der erkennenden Individuen, welche abhängig sind von der übereinstimmenden Auswahl der Sinngebilde durch die erkennenden Individuen und die gleichgeformte Art der individuellen Denkprozesse. Die Überprüfung dieser Bedingung setzt entsprechende Verständigung voraus. Die zweite Grenze liegt in der beschränkten Erkenntnis- und Mitteilungsfähigkeit der Menschen. Troller erachtet realistischerweise das Erlangen der Wahrheit nur bei begrenzten Sinngebilden der sozialen Wirklichkeit für möglich. Juristische Erkenntnis hingegen hat sich mit einem möglichst großen Konsens unter den erkennenden Individuen zu bescheiden (relative Wahrheit), sind doch die ihre zugrunde liegenden Sinngebilde komplexer Natur. Von diesem Grundsatz ist auch die Richtigkeit betroffen, denn es gilt, die Angepaßtheit eines Mittels ebenfalls zu erkennen. "In einer Gemeinschaft gilt das als wahr, was die Mehrheit anerkennt, wenn ihre Mitglieder nicht bereit sind, die Ungewißheit hinzunehmen 23 ." Dies gilt auch für die Gerechtigkeit: Eine Zuteilung gilt als gerecht, solange die Mehrheit von ihrer Richtigkeit überzeugt ist 24 • bb) Die sowjetmarxistische Widerspiegelungstheorie baut ihre Wahrheitslehre vordergründig auf dem gleichen, absoluten Wahrheitsbegriffwie Troller auf. Sie bezieht diesen Wahrheitsbegriff aber nicht auf individuelle Erkenntnisse, sondern auf das gesamte gesellschaftliche Wissen. Daneben postuliert sie die "objektive Wahrheit" (unabhängig vom Subjekt bestehendes wahres Wissen), welche zur absoluten Wahrheit führen soll: Der Mensch ist fähig, die objektive Realität zu widerspiegeln, d. h. zu erkennen, was außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein existiert. Sein Wissen, aus Abbildern (Widerspiegelungen) objektiv-real existierender Gegenstände zusammengesetzt, enthält trotz der Subjektivität des Widerspiegelungsprozesses immer ein Stück des Objektiv-Realen 25 • 23

24 2S

Troller, Grundriß (FN 3), S. 94. Ebd., S. 109. Institut (FN 17), S. 198.

25 Festgabe für Alois Troller

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Zwei Punkte gilt es aus dieser Argumentation hervorzuheben. Erstens: Jede Widerspiegelung der Realität (Abbild) setzt sich (offensichtlich) aus einem objektiven und einem subjektiven Teil zusammen. Der subjektive Teil findet dabei seinen Ursprung in der Bewußtseinsaktivität, der unabdingbaren Erkenntnisvoraussetzung. Er kann folglich nie aus der Individualerkenntnis eliminiert werden. Individuelle Erkenntnis muß dann aber immer relativ wahr sein, nie absolut. Zweitens: Der Weg zur absoluten Wahrheit führt nur über die Elimination der subjektiven Komponente. Dazu bedarf es eines Kriteriums. Dem objektiven Anspruch der Wahrheitsdefinition entsprechend, darf dieses Kriterium keine subjektiven Züge aufweisen, weshalb eine "intersubjektive Verständigung" ausgeschlossen ist 26 • Jenem Anspruch zu genügen scheint dagegen die "gesellschaftliche Praxis", denn in ihr "wird die Objektivität des Wissens zur sinnlichen Gewißheit"27. "Dadurch, daß der Mensch gelernt hat, die Kernenergie in der Industrie, in der Landwirtschaft und in der Medizin anzuwenden, beweist er die objektive Wahrheit der physikalischen Vorstellung vom Aufbau des Atoms 28 ." Und auf diesen Beweis kommt es nach Marx in erster Linie an. Genau besehen zerfällt mit diesem Kriterium der sowjetmarxistische Wahrheitsbegriff in zwei Komponenten: in die gegenständlich-konkrete (sinnliche) und in die theoretisch-abstrakte Wahrheit. Dem abstrakten Aspekt in Form der absoluten Wahrheit (wie eingangs definiert) kommt dabei gewissermaßen Leitbildfunktion zu, dem konkreten hingegen gesellschaftliche Relevanz. Die Wahrheit des Wissens in der sowjetmarxistischen Wahrheitsfindung können wir daher wie folgt umschreiben: Wahr ist Wissen dann, wenn es sich in der gesellschaftlichen Praxis bewährt, denn die Anzahl der objektiv wahren Elemente im angewandten Wissen überwiegt offenbar. Soll dieser Wahrheitsbegriff erkenntnismäßig ergiebig angewandt werden können, muß man allerdings den Begriff "Bewährung" präzisieren. Im Sowjetmarxismus geschieht dies mit Hilfe der "Parteilichkeit". Die Parteilichkeit ist ein bewußt angewandtes theoretisch-methodisches Prinzip, beinhaltet einen Rückgriff auf den historischen Materialismus und erhebt die proletarische, d. h. marxistisch-leninistische Philosophie und Weltanschauung zur einzigen wissenschaftlichen Lehre der Gegenwart. Sie besagt, daß einzig richtig und objektiv wahr ist, was die Interessen der (historisch gesehen) fortschrittlichsten Klasse wiedergibt und fördert 29 . Wahr ist mit anderen Vgl. H. Klenner, Rechtsphilosophie in der Krise, Berlin-DDR 1976, S. 80f. Institut (FN 17), S. 204. In diesem Sinne ausführlich Wittich, in: Autorenkollektiv (FN 3), S. 52fT. 28 Institut (FN 17), S. 204. 29 Ebd., S. 39. Dazu auch: Albrecht (FN 3), S. 9; Pawlow (FN 15), S. 399 und ausführlich S. 507 fT. Zum Wesen der Parteilichkeit im allgemeinen: M. Buhr / G. Klaus, Philosophisches Wörterbuch (10. Aufl., Leipzig 1974) Bd. 2, S. 912fT. Zu Stellung und Aufgabe der Partei siehe überdies Nasarenko (FN 21), S. 46fT. 26 27

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3'ö/

Worten jedes Wissen, daß sich im Sinne jener Klasse und ihrer politischen Avantgarde - der Partei 30 - bewährt. Es ist einsichtig, daß dieser historisch motivierten Präzisierung der Bewährung keine positive, "wahrheitserzeugende" Wirkung zukommt. Sie besitzt jedoch den Vorteil, negativ, abgrenzend, das Unwahre festzustellen. Angesichts der zentralen Bedeutung der "Parteilichkeit" für die sowjetmarxistische Lehre drängt sich noch ein kurzer Blick auf ihre theoretische Herleitung auf. Der Begriff (bzw. das Prinzip) der Parteilichkeit fußt auf der These, daß bereits dann, "wenn die Frage nach den Beziehungen von Sein und Bewußtsein gestellt wird, ... die Frage nach der Herkunft und dem Platz des Menschen in der Welt aufgeworfen wird"31. Diese Frage aber bezieht den Fragenden in die Fragestellung mit ein und verlangt von ihm den Bezug einer Position, von der aus er notwendigerweise sämtliche weiteren Fragen, Probleme usw. angeht (im gesellschaftlichen Kontext bedeutet Parteilichkeit deshalb einen Wesenszug, der allen Formen gesellschaftlichen Bewußtseins eigen ist; unter den Bedingungen der Klassengesellschaft ist sie Ausdruck des Klassencharakters und der Klasseninteressen). Allein, nicht jede Position - letztlich reduzieren sich die Positionen auf die materialistische und idealistische - ist gerechtfertigt, nicht jedes aus der Position gefolgerte Prinzip der Parteilichkeit ist richtig. Gerechtfertigt ist einzig die Position der fortschrittlichsten Klasse, der Arbeiterklasse und ihrer politischen Avantgarde, der kommunistischen Partei. Begründet wird diese Richtigkeit mit den Thesen des historischen Materialismus, welche besagen, daß die Gesellschaftsentwicklung tendenziell in die Richtung der klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft verlaufe. Diese objektiv-real gegebene Tendenz vermag sich aber nur vermittels eines sie richtig erfassenden Bewußtseins und den jenem Bewußtsein entsprechenden Handlungen durchzusetzen. Wer sich also, wie die Arbeiterklasse, das Wissen um die historische Tendenz als bewußtes Prinzip des Denkens und Handelns zu eigen macht, handelt nicht nur klug, sondern auch richtig: "Was der Geschichte gerecht wird. wird auch dem Menschen gerecht" 32 . Daß die sowjetmarxistische Geschichtslehre für sich allein nicht in der Lage ist, diese historische Tendenz als zwingend vorgegeben zu beweisen, beeinträchtigt die Fundierung und den Richtigkeitsanspruch der marxistischen Parteilichkeit in den Augen ihrer Vertreter keineswegs. Ebensowenig scheinen sie die sich aus dem dialektisch-materialistischen und historistischen Thesengebäude ergebende Konsequenz als störend zu empfinden, die Wahrheit der Erkenntnis der objektiv-real existierenden historischen Tendenz setze gerade das Wissen um die Tendenz in Form des Wahrheitsmaßstabes voraus. Jedem Versuch, die GültigInstitut (FN 17), S. 39. Pawlow (FN 15), S. 341. 32 Klenner (FN 22), S. 147. Zu gleichen Schlüssen, aber in anderem Kontext, gelangt A. Kulenkampff, Rechtspositivismus und marxistische Rechtstheorie, in: ARSP 63 (1977), S. 358f. 30 31

25"

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Walter Ott und Peter Higi

keit der Parteilichkeitsauffassung aus ihrer Sicht auch nur mit leisem Zweifel zu überziehen, halten sie vielmehr apodiktisch und in LENINschen Worten entgegen: "Die Verurteilung ... der Parteilichkeit ... ist schon offensichtliche Parteilichkeit 33 " - wenn auch falsche.

III. Abschließende Bemerkung Es fehlt hier Raum, die historische Begründung der Parteilichkeit auszuführen und deren (schon angesprochene) mangelnde Theorieimmanenz nachzuweisen. Ebenso konnte nicht auf weitere Gemeinsamkeiten und Unterschiede der hier untersuchten Konzeptionen eingegangen werden, z. B. auf Übereinstimmungen oder Differenzen im Dialektikverständnis, in den Thesen zum kollektiven Bewußtsein oder dem Grundsatz, die Seinserkenntnis sei Grundlage des Sollens. Die Gegenüberstellung hat aber in den angesprochenen Punkten versucht, jene Bemerkung von A. Troller etwas zu erhellen, die Widerspiegelungstheorie unterscheide sich von seiner Methode zur kritischen Erkenntnis insbesondere beim Werten des Erkannten, weil die möglichen Ergebnisse des dialektischmaterialistischen Erkenntnisweges dem ideologisch-politischen Axiom untergeordnet würden 34 • Ebenso konnte angedeutet werden, daß diese Unterordnung ihre direkte Ursache nicht in einem Mangel an konsequentem Durchdenken der Methode findet, sondern in der philosophischen Begründung der Widerspiegelungstheorie.

33 34

Zit. nach Buhr / Klaus (FN 29), S. 913. Troller, Heutige Strömungen der Rechtsphilosophie (FN 3), S. 380.

Formalismus und neue Transzendentalphilosophie Von Johannes Strangas, Komotini Alois Troller, dem die vorliegende Studie gewidmet ist, schrieb aufS. 120/121 seines im Jahre 1971 erschienenen Buches "Die Begegnung von Philosophie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft": "... Schelers und Hartmanns phänomenologische materiale Wertethik öffnet den Rechtsbeflissenen nicht die Augen, damit sie jene Ordnung sehen, die sie beruhigt als die wirkliche Rechtsordnungjeweilen verkünden können. Diese beiden Denker haben jedoch die Werte als Phänomene sehen gelehrt. Damit haben sie den Weg zur ontologisch-phänomenologischen Erkenntnis der Werte geöffnet. Sie haben den Juristen von der nominalistischen Sittenlehre Kants gelöst." Dabei verweist Troller aufScheler, der in seinem Buch über den Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik bemerkt: "Ein Apriorismus im Sinne Kants muß notwendig dazu führen, die apriorischen Sätze und Begriffe mit den bloßen Zeichen für sie zu verwechseln. Sind doch jene Sätze durch keinerlei Anschauungsgehalt mehr zu erfüllen."

Der Nominalismus, den somit Troller im Rahmen seiner in Anlehnung an Schelers und Hartmanns phänomenologische materiale Wertethik entwickelten praktisch-philosophischen Position Kant vorwirft, stellt nichts vom Formalis-

mus, der seitens Schelers und Hartmanns Kant vorgeworfen wird, Verschiedenes dar. Zwischen ihnen besteht nämlich lediglich ein Unterschied in der Betrachtungsweise ein und derselben Sache: Wenn die apriorischen Sätze und Begriffe mit den bloßen Zeichen für sie verwechselt werden, so bedeutet dies zugleich, daß der notwendige Inhalt der genannten Sätze und Begriffe übersehen bzw. außer acht gelassen wird - womit diese gerade zu "reinen Formen", d. h. zu bloßen Rahmen, die durch beliebige Inhalte ausfüll bar sind, entarten und insofern dem Vorwurf des Formalismus unterliegen. Das Durch-beliebige-Inhalte-ausfüllbar-Sein der angeblich apriorischen Begriffe bzw. Sätze ist zwar als Symptom des Formalismus unbestreitbar. Aber es bildet eben nur das Symptom, nicht den Grund der "Krankheit". Und der Grund der "Krankheit" muß auch deswegen ermittelt werden, weil von dieser Ermittlung auch das Schicksal der phänomenologischen materialen Wertethik abhängig ist: die phänomenologische materiale Wertethik weist unüberwindliche Schwächen auf, auf die ich bereits in meiner Arbeit über die Billigkeit und deren systematischen Ort! hingewiesen habe, und die ich unten sub III (mit 1 Strangas, Die Billigkeit und ihr Standort im Rechtssystem (Hamburger Diss. iur. 1975), 1976, S. 166f.

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Johannes Strangas

einigen Ergänzungen) zusammenfassend darstelle; und sie könnte daher die Berechtigung, als eigenständige bzw. universale Theorie des Ethischen "weiterzuleben", wenn überhaupt, dann nur darauf stützen, daß die transzendentalphilosophische Ethik, nämlich die Ethik Kants, durch Formalismus gekennzeichnet, mithin durch größere Schwächen belastet ist; sollte sich also entweder erweisen, daß Kants Ethik nicht formalistisch ist, oder, daß sich der Formalismus im Rahmen einer revidierten, einwandfreien Transzendentalphilosophie vermeiden läßt, dann wäre der phänomenologischen materialen Wertethik die genannte Berechtigung abzusprechen 2 • Gerade diese Problemsituation bringen auch die drei Komponenten des Titels der vorliegenden Studie - "Formalismus", "Transzendentalphilosophie" und "neu" - in Verbindung miteinander sowie mit dem Titel der Festschrift ("Formalismus und Phänomenologie") zum Ausdruck: es wird hierbei die Frage nach dem Formalismus (sowohl in seinen Symptomen als auch in seinem Grunde) thematisiert; aber nicht in abstracto, sondern in Beziehung zur Transzendentalphilosophie; und auch nicht nur in Beziehung zur überkommenen, sondern auch in Beziehung zu einer etwa aufzustellenden revidierten Transzendentalphilosophie; und außerdem nicht als eine - etwa möglichst vollständig zu klärende - Hauptfrage, sondern als Vorfrage bezüglich des weiteren Schicksals der phänomenologischen materialen Wertethik bzw. der in Anlehnung an dieselbe entwickelten praktisch-philosophischen Positionen. Der Titel der vorliegenden Studie scheint freilich prima facie enger als deren Inhalt zu sein, weil in den vorangegangenen Ausführungen bzw. in einem großen Teil der folgenden Ausführungen nicht von Transzendentalphilosophie im allgemeinen, sondern lediglich von transzendentaler praktischer Philosophie die Rede ist; dennoch hängt diese nur scheinbare Einschränkung des Themas mit meiner Auffassung des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Philosophie zueinander bzw. damit zusammen, daß diese Auffassung - der zwanglosen Gedankenreihe zufolge - erst unten sub IV zur Sprache kommt.

I. Das dahingehende Symptom, daß Sätze bzw. Begriffe, die angeblich apriorischer Natur sind, durch beliebige Inhalte ausgefüllt bzw. für durch beliebige Inhalte ausfüllbar gehalten werden, vermag für sich allein nicht, den Formalismus gegenüber verwandten Erscheinungen abzugrenzen. Denn man kennt auch 2 Die phänomenologische materiale Wertethik wäre dann nämlich auch wenn sie ihre Prämissen teilweise modifizieren würde (indem sie etwa - wie dies z. B. bei Zippelius. Wertungsprobleme im System der Grundrechte, 1962, S. 111 f.; Das Wesen des Rechts, 1969 2 , S. 104 f. der Fall ist - die Berufung auf eine absolut invariable Wertrangordnung aufgeben würde) - als eigenständige bzw. universale Theorie des Ethischen nicht mehr zu retten. Sie könnte freilich u. U. im Rahmen einer anderen (tatsächlich eigenständigen bzw. universalen) Theorie des Ethischen aufgehoben und aufbewahrt werden (zum letzteren siehe unten sub V).

Fonnalismus und neue Transzendentalphilosophie

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einen anderen Fall, in dem Sätze bzw. Begriffe, welchen apriorische Natur zugesprochen wird, durch verschiedene bzw. wandelbare Inhalte ausgefüllt werden und dennoch niemand auf den Gedanken kommt, die derartige Ausfüllung als Zeichen von Formalismus zu bewerten. Gemeint ist nämlich der - im Rahmen der Juristischen Methodenlehre weitgehend diskutierte - Fall der "Ausfüllung" der sog. wertausfüllungsbedürftigen Begriffe und insb. der Generalklauseln. Für diejenigen, die - wie z. B. Engisch 3 - den Unterschied zwischen Generalklausel einerseits und festem Tatbestand (im Sinne von Canaris 4 ) bzw. Kasuistik andererseits als einen relativen, d. h. bloß quantitativen Unterschied konzipieren, besteht kaum eine Möglichkeit, die Zuflucht zu den Generalklauseln 5 vom Formalismus zu unterscheiden 6 • Folgt man dagegen der von mir in einer Studie über den Begriff der Kasuistik' entwickelten Auffassung, dergemäß die Unterscheidung zwischen Generalklausel und festem Tatbestand bzw. Kasuistik stichhaltigerweise als ein Unterfall der Unterscheidung zwischen rein apriorischer und angewandter Erkenntnis 8 anzusehen ist und das, was üblicherweise als "Ausfüllung" der Generalklauseln bezeichnet wird, eine Hinwendung vom Bereich der rein apriorischen Erkenntnis zu demjenigen der angewandten Erkenntnis darstellt, dann läßt sich die gegenseitige Abgrenzung von Formalismus und Zuflucht zu den Generalklauseln dahingehend erzielen, daß die den Formalismus kennzeichnende "Ausfüllung" der apriorischen Sätze bzw. Begriffe durch beliebige Inhalte den Bereich der rein apriorischen Erkenntnis betrifft. Und in der Tat bezieht sich z. B. auch der von Sehe/er gegen Kants Ethik erhobene Formalismus-Vorwurf nicht etwa auf die Tatsache, daß Kant die apriorischen Sätze seiner Ethik zu konkretisieren bzw. auf konkrete Fälle anzuwenden (mithin mit Inhalten, die jenseits des Bereichs der rein apriorischen Erkenntnis liegen, zu "verbinden") versuchte, sondern gerade auf die Tatsache, daß Kant - nach Schelers Meinung - als apriorische Sätze "reine Formen", d.h. bloße Rahmen, die durch beliebige Inhalte ausfüllbar sind, konzipierte. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1975 6 , S. 120. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969 t, S. 75 ff., 1983 2 S.75ff. 5 Um den Titel der bekannten Schrift von Hedemann (1933) zu benutzen. 6 Ja, es ist in dieser Richtung z. B. bezeichnend, daß Engisch, der gerade - wie bereits im Text erwähnt wurde - die Meinung, daß der Unterschied zwischen Generalklausel und Kasuistik ein relativer, d.i. bloß quantitativer sei, vertritt, auch den Fonnalismus als etwas, welches quantitativer Abstufung zugänglich ist, konzipiert, indem er an anderer Stelle (Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 210) etwa die Behauptung aufstellt, daß die Methode von Kant nicht so fonnal sei. 7 Strangas, Der Begriff der Kasuistik in der Rechts- und Moralphilosophie, in: Studi in onore di Arnaldo Biscardi, III, 1982, S. 51 f., 55 f. 8 Zur Unterscheidung zwischen rein apriorischer und angewandter Erkenntnis siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1787 2 , S. 3; Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1798 2 , S. III/IV, aber auch Strangas, Kritik der kantischen Rechtsphilosophie (im Druck), sub IV 11 und 14. 3

4

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Die somit gewonnene Feststellung, daß sich, kritisch betrachtet, der Unterschied zwischen Zuflucht zu den Generalklauseln und Formalismus auf einen Unterschied hinsichtlich des erkenntnistheoretischen systematischen Ortes der beliebigen bzw. wandelbaren Inhalte, durch die die apriorischen Sätze bzw. Begriffe ausgefüllt werden, reduziert, trägt in entscheidender Weise zur Klärung der eigentlichen Natur des Formalismus bei, und zwar auf dem Wege des folgenden Gedankenganges: Im Bereich der angewandten Erkenntnis können angesichts der Tatsache, daß - um mit Kant 9 zu sprechen - "für die Urteilskraft nicht immer wiederum Regeln gegeben werden können, wonach sie sich in der Subsumtion zu richten habe (weil das ins Unendliche gehen würde)", den apriorischen Sätzen bzw. Begriffen nichts mehr als beliebige oder zumindest wandelbare Inhalte zugesprochen werden, wogegen sich im Bereich der rein apriorischen Erkenntnis Inhalte ableiten (nämlich transzendental deduzieren) lassen, die den apriorischen Sätzen bzw. Begriffen notwendig zukommen und daher eine Ausfüllung dieser Sätze bzw. Begriffe durch beliebige Inhalte geradezu ausschließen; und der üblicherweise für das Kennzeichen des Formalismus gehaltene, darin bestehende Umstand, daß die apriorischen Sätze bzw. Begriffe in einer Weise konzipiert werden, die deren Ausfüllung durch beliebige Inhalte ermöglicht, erweist sich somit als ein nur oberflächlicher bzw. einseitiger Aspekt der Tatsache, daß im Falle des Formalismus die apriorischen Sätze bzw. Begriffe ihrer notwendigen Inhalte beraubt werden; jedem der ihrer notwendigen Inhalte beraubten Sätze bzw. Begriffe bleibt aber als eigener Gehalt nichts mehr übrig als eine rein formalphilosophische - d. h. rein logische - Funktion, nämlich die bloße Funktion des apriorischen Satzes bzw. Begriffs als Maßstab des entsprechenden materialphilosophischen 10 Bereiches überhaupt; folglich besteht das Hauptcharakteristikum des Formalismus in dem ihm zugrundeliegenden Fehler der l1Staßacrt~ et~ liAAO 'YEVO~, und zwar der l1Staßacrt~ von einem materialphilosophischen 'YEVO~ zum 'YEVO~ der Logik. Da andererseits die Prinzipien der Logik ihrer Natur nach für sich allein nicht imstande sind, einen materialphilosophischen Bereich zu prinzipiieren (nämlich zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen der Richtigkeit einer solchen Prinzipiierung darstellen), impliziert die genannte l1Staßacrt~ zum 'YEVO~ der Logik eine l1Staßacrt~ zu einem beliebigen anderen - d. h. von dem in Wahrheit zuständigen 'YEVO~ verschiedenen - materialphilosophischen 'YEVO~. Diese letztere l1Staßacrt~ kann nun entweder "versteckt" bzw. unbewußt bleiben - wie z. B. im Falle des von Henke/li aufgestellten Begriffs einer generalisieren9 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Berlinische Monatsschrift, 1793, S. 201. 10 Zur Unterscheidung zwischen Formalphilosophie (= Logik) und Materialphilosophie siehe Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 17862 , S. III. 11 Henkel, Recht und Individualität, 1958, S.16f., 44f.; ders., Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964 1 , S. 320f., 1977 2 , S. 417f. - In ausdrücklichem Anschluß an Henkel Canaris (FN 4), S.17 32 , Engisch (FN 6), S.182.

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den Gerechtigkeit bzw. Methode 12 - oder aber explizit sein, nämlich dahin gehen, daß das andere (d.i. das von dem in Wahrheit zuständigen YEVOr, verschiedene) materialphilosophische YEVOr, nicht mit dem "Gewand" des eigentlich dem zuständigen materialphilosophischen YEVOr, entsprechenden, aber des eigenen notwendigen Inhalts auf Grund des Formalismus eben beraubten apriorischen Satzes bzw. Begriffs, sondern direkt als etwas Zusätzliches auftritt, während der derartige Satz bzw. Begriff sich auf eine bloße logische Funktion beschränkt und daher grundsätzlich jeglichem materialphilosophischem Inhalt zugänglich ist. Als charakteristisches, ja klassisches Beispiel für die durch eine explizite llEtaßacrtr, zu einem anderen materialphilosophischen YEVOr, gekennzeichnete Erscheinungsart des Formalismus ist der von Aristoteles geerbte Gerechtigkeitsbegriff zu erwähnen, bezüglich dessen zutreffend bemerkt wurde 13 , daß die ihn kennzeichnende Ergänzung einer rein formalistischen Vernunftethik durch eine materiale Wertordnung beispielhaft geworden ist für alle spätere Naturrechtsethik, die einerseits auf formalen Vernunftprinzipien aufbaut, diese aber verbindet mit materialen Forderungen ganz anderen Ursprungs. Aus der obigen kritischen Analyse des Begriffs des Formalismus geht zugleich hervor, daß eine philosophische Theorie gerade dann als nicht-formalistisch zu bewerten ist, wenn sie an dem einschlägigen YEVOr, festhält, nämlich die apriorischen Sätze bzw. Begriffe nicht der Inhalte beraubt, die ihnen notwendig zukommen (es sei denn, daß es ihr zu beweisen gelingt, daß die rein apriorische Ableitung von Inhalten, die den für rein apriorisch gehaltenen Begriffen notwendig zukämen, schlechthin unmöglich ist - in welchem Falle das Operieren mit apriorischen Sätzen bzw. Begriffen keine materialphilosophische Erkenntnis erbringt, und folglich als einziger Modus der Erwerbung materialphilosophischer Erkenntnis, wenn überhaupt, dann die Gewinnung apriorischer, d. h. allgemeingültiger, Inhalte auf dem Wege einer Art reiner Anschauung - d. i. im Grunde der von der phänomenologischen materialen Wertethik propagierte Erkenntnismodus - übrig bliebe). Die apriorischen Sätze bzw. Begriffe stellen aber, soweit sie mit den ihnen notwendig zukommenden Inhalten "ausgefüllt" sind, gerade die (wahren) Möglichkeitsbedingungen der Richtigkeit der konkreten Erkenntnisse des einschlägigen materialphilosophischen YEVOr, 14, nämlich das Bestimmende (in der Terminologie Kants 1S ; den Bestimmungsgrund), dar; und daraus ersieht man, daß die nicht-formalistischen philosophiVgl. Strangas, Die Billigkeit und ihr Standort im Rechtssystem, S. 81 f. Von Flückiger, Geschichte des Naturrechts, 1,1954, S. 185. Zustimmend Kl. Oehler, Thomas von Aquin als Interpret der aristotelischen Ethik, in: ders., Antike Philosophie und byzantinisches Mittelalter, 1969, S. 315f. 14 Eine Analyse des Begriffs der Möglichkeitsbedingungen der Richtigkeit konkreter Erkenntnisse habe ich an anderer Stelle (Strangas, Über das Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft, 1985, S. 16f.) vorgenommen. IS Vgl. z. B. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, S. 38, 40, 48. 12

13

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sehen Theorien gerade dadurch gekennzeichnet sind, daß sie den durch sie aufgestellten apriorischen Sätzen bzw. Begriffen eine bestimmende Funktion zuschreiben. Im Falle derartiger Theorien fällt also die "Form" bzw. das "Formale" - das sind die apriorischen Sätze bzw. Begriffe - mit dem (materialphilosophisch) Bestimmenden zusammen, wogegen im Falle der formalistischen philosophischen Theorien der "Form" bzw. dem "Formalen" die ihr bzw. ihm notwendig zukommenden materialphilosophischen Inhalte jedenfalls als solche (nämlich als notwendig zukommende Inhalte) fehlen, und eben deshalb das Abstellen auf die "Form" bzw. auf das "Formale", d.h. deren bzw. dessen Behandlung auch als Maßstab der materialphilosophischen Bestimmung, auf einen ,,-ismus" (d.h. auf eine Übertreibung), nämlich auf den Formalismus hinausläuft. 11. Fragt man sich nun, ob Kants Ethik 16 durch Formalismus gekennzeichnet ist, so kann auf diese Frage keine einheitliche, d. h. alle Äußerungen bzw. alle praktisch-philosophischen 17 Schriften Kants abdeckende Antwort gegeben werden. Eine ausführliche Untersuchung, die ich an anderer Stelle 18 vorgenommen habe, ergab nämlich, daß Kants kritische Ethik (d. h. die kantische Ethik in ihrer kritischen Periode 19 ) zwei Phasen aufweist20 • In der ersten dieser Phasen, 16 Zwischen dem durch den Terminus "praktische Philosophie" und dem durch den Terminus "Ethik" (wie dieser in der vorliegenden Studie verwendet ist - dazu siehe insb. auch unten FN 29 -) Ausgedrückten besteht ein Unterschied in der Betrachtungsweise ein und desselben Gegenstandes. Dieser Gegenstand, der kein anderer als der InbegrifT der Möglichkeitsbedingungen ethischer Richtigkeit ist, kann nämlich entweder aus der Perspektive der Eigenschaft seiner als Erkenntnisobjekts oder aus der Perspektive seines Inhalts betrachtet werden. Im ersteren Fall erscheint er als ein Objekt rein apriorischer Erkenntnis und verdient daher den Namen "praktische Philosophie"; im letzteren Fall hingegen erscheint er als ein InbegrifTvon Sätzen, die die ethische Normierung beinhalten, und verdient daher den Namen "Ethik". Wenn nun der Fehler, der eine bestimmte Konzeption von Möglichkeitsbedingungen ethischer Richtigkeit belastet, auf der "Ebene" der einen der beiden Perspektiven, aus denen nach dem soeben Dargestellten diese Möglichkeitsbedingungen betrachtet werden können, leichter bzw. präziser ausgedrückt werden kann als auf der "Ebene" der anderen dieser Perspektiven, so ist in bezug auf den genannten Fehler die "Ebene" jener Perspektive vorzuziehen. Dies ist denn auch bei dem im Text mit Bezug auf den Formalismus gemachten Gebrauch des Terminus "Ethik" der Fall. 17 Zum in der vorliegenden Studie gemachten Gebrauch des Terminus "praktische Philosophie" bzw. "praktisch-philosophisch" siehe die unmittelbar vorangehende FN 16. 18 Strangas, Kritik der kantischen Rechtsphilosophie, sub IV 6. 19 In diesem Zusammenhang interessiert nicht, wo genau die Grenze zwischen der kritischen und der vorkritischen Periode der Ethik Kants zu ziehen ist. Zu diesem Problem siehe einerseits Menzel, Eine Vorlesung Kants über die Ethik, 1928, S. 328 und D. Henrich, Der BegrifT der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Festschrift für Gadamer, 1960, S. 100fT. und andererseits Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants, 1961, S. 373f., 379f., 383f., 387f., 393 sowie ferner Busch, Die Entstehung

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der gerade die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" und die "Kritik der praktischen Vernunft" zuzuordnen sind, ist die kantische Ethik nicht durch Fonnalismus gekennzeichnet, wogegen sie in der zweiten Phase, der gerade die "Metaphysik der Sitten" zuzuordnen ist, durch Fonnalismus belastet ist. Der Übergang von der ersten zur zweiten Phase wird von Kant stillschweigend vollzogen und ist an der Ersetzung des in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"21 zur begriffssystematischen Erfassung der Natur bzw. Funktion der besonderen moralischen Gebote verwendeten Begriffs der "Imperative der Pflicht", die aus dem "einigen" (von Kant einige Zeilen später auch als "allgemein" bezeichneten 22 ) kategorischen Imperativ, "als aus ihrem Prinzip, abgeleitet werden können", mit dem in der "Metaphysik der Sitten"23 zur begriffssystematischen Erfassung der Natur bzw. Funktion derselben Gebote verwendeten Begriff der "Tugendpflichten" qua "Zwecke, die zugleich Pflicht sind", zu erkennen. Kant hat dabei 24 die Tugendpflichten insb. von den übrigen moralischen Pflichten - z. B. von der Pflicht, nicht bloß pflichtmäßig, sondern pflichtmäßig aus Pflicht zu handeln - unterschieden und diese seine Unterscheidung als eine Unterscheidung zwischen etwas "Materialem" und etwas "Fonnalem" charakterisiert. Die derartige Charakterisierung bildet den Schlüssel für die Klärung der Gründe des soeben erwähnten Übergangs: Die die Ausführungen der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" durchziehende Intention bzw. Vorstellung Kants beinhaltete die Bejahung der Möglichkeit, daß aus dem Begriff des "einigen" (d. i. des allgemeinen) kategorischen Imperativs die Begriffe der einzelnen (besonderen) Imperative der Pflicht der kritischen Rechtsphilosophie Kants, 1979, S. 70ff., 93f., 101 f. Der Vollständigkeit bzw. Exaktheit halber ist jedenfalls hierbei zu erwähnen, daß im Falle der kantischen Rechtsphilosophie der wissenschaftliche Streit bezüglich der Grenzziehung zwischen kritischer und unkritischer Periode auch die radikale Form des Streits darüber, ob überhaupt von einer kritischen Periode der kantischen Rechtsphilosophie die Rede sein könne, angenommen hat, und daß er primär durch den wissenschaftlichen Streit darüber bedingt bzw. "durchzogen" ist, was als das Kriterium des Kritischen bzw. als der Maßstab des Kritizismus zu gelten hat (vgl. etwa Oberer, Zur Frühgeschichte der kantischen Rechtslehre, in: Kant-Studien 64 (1973), S. 94f. aber auch Strangas, Kritik der kantischen Rechtsphilosophie, sub IV 13, FN 35). 20 Die Verkennung der Grundverschiedenheit dieser beiden Phasen der kantischen Ethik hat gerade zur Folge, daß die von den verschiedenen Autoren an Kants Ethik geübte Kritik, wenn überhaupt, dann nur auf die eine der beiden Phasen dieser Ethik zutreffen könnte; so z. B. Hegels Kritik an der kantischen Ethik (vgl. zum letzteren Strangas, Kritik der kantischen Rechtsphilosophie, sub IV 6). 21 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 2 , S. 52f. In der Kant-Literatur werden die "Imperative der Pflicht" auch als "besondere kategorische Imperative" bzw. "particular categorical imperatives" charakterisiert. Vgl. z. B. Broad, Five types of Ethical Theory, 1962 6 , S. 120; Hill, The Hypothetical Imperative, in: The Philosophical Review 82 (1973), S. 429ff., 444. 22 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 2 , S. 52. 23 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre 1797, S. 8ff. 24 Ebd., S. 8.

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abgeleitet werden, und mithin daß die Begriffe der letzteren Imperative rein apriorisch gewonnen werden. Die apriorische Einteilung der Pflichten - auf Grund deren ja gerade eine solche Gewinnung der genannten Begriffe zustandekäme - hatte Kant aber auf die "Metaphysik der Sitten" verschoben 25 • Und somit hat er sich in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" noch nicht des Umstandes vergewissert, daß er die Begriffe der einzelnen Imperative der Pflicht aus dem Begriff des "einigen" kategorischen Imperativs nicht deduzieren könnte - welcher Umstand seinen Grund darin hat, daß für jede apriorische Einteilung außer dem Gegebensein eines einzuteilenden rein apriorischen Begriffs das Gegebensein eines in seinem Begriff ebenfalls rein apriorisch bestimmten Kriteriums, mithin zwei rein apriorische Begriffe vorausgesetzt sind 26, während Kant eigentlich nur über einen rein apriorischen Grundbegriffverfügte, nämlich über den Begriff der Freiheit, der aus dem Begriff des mittels der sittlichen Einsicht "erfahrenen", im ("einigen") kategorischen Imperativ zum Ausdruck kommenden Sollens abzuleiten ist 27 - . Die Vorstellung, daß auf der Basis seines Begriffsinstrumentariums die Begriffe der einzelnen Imperative der Pflicht aus dem Begriff des "einigen" kategorischen Imperativs abzuleiten sind und daher unter den Begriff des "Formalen" qua Bestimmenden fallen, mußte Kant indessen verlassen, als er in der "Metaphysik der Sitten" mit dem Problem der Einteilung der Pflichten konfrontiert war. Und er versuchte, den Begriffen der einzelnen besonderen moralischen Gebote - nunmehr statt "Imperative der Pflicht" "Tugendpflichten" genannt - die apriorische Natur durch Betreten des Feldes des "Materialen" zu sichern. Dies tat er nämlich, indem er 28 den Begriff von Zwecken, zu denen die sinnlichen Neigungen verleiten, und gegen die sich die Vernunft wehrt, zum Ausgangspunkt bzw. Fundament der Konstruktion seiner - revidierten - Theorie des Moralischen bzw. des Ethischen machte und behauptete, daß anders als die Rechtslehre, die es gerade bloß mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit (durch die Zusammenstimmung mit sich selbst, wenn ihre Maxime zum allgemeinen Gesetz gemacht worden sei) zu tun habe, die MoraP9 noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür), einen 2S Vgl. in dieser Hinsicht charakteristisch "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"2, S. 52 Anmerkung: "Man muß hier wohl merken, daß ich die Einteilung der Pflichten für eine künftige Metaphysik der Sitten mir gänzlich vorbehalte, ... ". 26 Wäre nur der einzuteilende Begriff rein apriorischer Natur, so könnte auf Grund des nicht rein apriorischen Einteilungskriteriums keine Einteilung jenes Begriffs, sondern, wenn überhaupt, dann nur eine Teilung des Umfanges desselben, d. h. eine Aufzählung von in diesem Umfang fallenden Fällen vorgenommen werden. Wäre ferner nur das Einteilungskriterium rein apriorischer Natur, so könnte eigentlich nicht von einer - und zwar apriorischen - Einteilung, sondern nur davon die Rede sein, daß der empirische Begriff (etwa der Begriff des Menschen) bzw. ein Teil des Umfanges desselben (etwa der Mensch nur von einem Zeitpunkt der Geschichte an bzw. nur in dem Maße, in dem durch ein Paar von Menschen kein Monstrum erzeugt wird) unter den Begriff des rein apriorischen Kriteriums zu subsumieren ist oder nicht zu subsumieren ist. 27 Vgl. unten sub IV. 28 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S. 4.

Formalismus und neue Transzendentalphilosophie

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Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv~notwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt werde, an die Hand gebe, und daß die Verbindlichkeit, außer dem formalen Bestimmungsgrunde der Willkür (wie das Recht dergleichen enthalte), noch einen materialen (nämlich einen Zweck, der dem Zweck aus sinnlichen Antrieben entgegengesetzt werden könne) zu haben, nicht zur Rechtslehre, sondern zur Moral gehören würde. An dieser Behauptung Kants wird der Formalismus, der die zweite Phase seiner kritischen Ethik kennzeichnet, geradezu offenkundig. Denn einerseits impliziert der Umstand, daß der Ausdruck "Materie" bzw. "material", der von Kant sonst zur Bezeichnung des Bestimmbaren benutzt wird 30 im Rahmen der Rede stehenden Behauptung als sprachliches Gewand eines· Bestimmenden - nämlich des "materialen Bestimmungsgrundes" - auftritt, gerade die U ntauglichkeit dessen, was von Kant als das "Formale" charakterisiert wird, als hinreichender Bestimmungsgrund zu dienen; und andererseits ist an dem Umstand, daß das ,,.formale" im Falle der in Rede stehenden Behauptung - wie übrigens auch im Falle des oben erwähnten kantischen Beispiels einer nicht zu den Tugendpflichten gehörenden moralischen Pflicht -, kritisch betrachtet, nichts mehr als die Selbstidentität des einschlägigen praktischen Prinzips als Beurteilungsmaßstabs ausdrückt, gerade die Unfähigkeit des derartigen "Formalen" zu erkennen, als materialphilosophischer Bestimmungsgrund überhaupt zu gelten. Zum Zwecke der Herstellung eines vollständigen Bildes des Formalismus der zweiten Phase von Kants kritischer Ethik bzw. der Unterscheidung zwischen den beiden Phasen dieser Ethik überhaupt sollte allerdings noch Folgendes angemerkt werden: -

Der Gebrauch des Ausdrucks "Form" bzw. "fotmal" in zweifacher Bedeutung, welcher Gebrauch, wie die vorangegangenen Ausführungen zeigten, die praktisch-philosophischen Schriften Kants kennzeichnet, stellt nicht etwa das Produkt einer Erfindung Kants bzw. eine Eigenart von dessen Philosophieren, sondern vielmehr das Überleben eines Doppelsinns dar, den das deutsche Wort "Form" vom lateinischen Wort "forma", von dem es herkommt, geerbt hat 31 (und zu dessen Charakterisierung von Lazzaro 32 das Paar der Termini "forma formans" und "forma formata" vorgeschlagen wurde 33).

29 Kant spricht an dieser Stelle nicht von "Moral", sondern von "Ethik". In der vorliegenden Studie wird aber "ethisch" als Oberbegriff für "moralisch" und "rechtlich" verwendet; und daher wird der terminologischen Einheitlichkeit halber im Text bei der Anführung der in Rede stehenden kantischen Stelle nicht der Terminus "Ethik", sondern der Terminus "Moral" benutzt. 30 Vgl. etwa "Kritik der reinen Vernunft"2, S. 322, "Kritik der praktischen Vernunft", S.4O, 48, 5i. 31 Zur Geschichte der Entstehung dieses Doppelsinns des Wortes "forma" siehe etwa Lazzaro. Sul diritto come forma, in: Rivista internazionale di filosofia dei diritto, 1962, S.638f. 32 Ebd., S. 639.

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Durch Formalismus sind nicht nur kantische Bestimmungen von Begriffen, die ihren Ort in der praktischen Philosophie haben, sondern auch kantische Bestimmungen von Begriffen, die ihren Ort in der theoretischen Philosophie haben, belastet, z. B. Kants Charakterisierung des Raums und der Zeit als "reiner Formen sinnlicher Anschauung"34.

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Zwischen den beiden in Rede stehenden Phasen der kantischen Ethik ist nicht etwa eine Trennungslinie in dem Sinne zu ziehen, daß das Paar der Termini "material" und "formal" in jeder der beiden Phasen ausnahmslos in der diese Phase kennzeichnenden Bedeutung verwendet sei. Denn z. B. taucht in der "Kritik der praktischen Vernunft"35 die Charakterisierung des moralischen Gesetzes als "materialen, aber objektiven Bestimmungsgrundes" (welche Charakterisierung an die in der "Metaphysik der Sitten" enthaltene, oben erwähnte Charakterisierung der Zwecke, die zugleich Pflicht sind, als "materialer Bestimmungsgründe" erinnert); und umgekehrt wird in der "Metaphysik der Sitten" der Terminus "material", indem z. B. die "in der Erfahrung vorkommenden Fälle" als "Materiales" charakterisiert werden 36 , auch in der Bedeutung desselben als "bestimmbar" verwendet.

III.

Unter Bezugnahme auf die oben sub I gemachte Unterscheidung zwischen den beiden Gestalten des Formalismus bleibt es noch zu klären, unter welche dieser beiden Gestalten der die zweite Phase von Kants kritischer Ethik kennzeichnende Formalismus zu subsumieren ist. Und die Antwort auf diese Frage ist kompliziert. Denn zwar ist man insofern, als Kant nach dem soeben Dargestellten in der "Metaphysik der Sitten" dem "formalen Bestimmungsgrunde" ausdrücklich einen "materialen Bestimmungsgrund" zur Seite stellt, geneigt, den die in Rede stehende Phase der kantischen Ethik belastenden Formalismus als einen Formalismus mit expliziter IlEtaßuO't