Aus Gottes Gnade leben und die Welt gestalten: Beiträge zur methodistischen Theologie 3846903056, 9783846903049, 9783846903063, 9783846903056

Der Methodismus hat sich seit dem 18. Jahrhundert dynamisch entwickelt und vielfältig verändert. Das Grundmuster bleibt

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Aus Gottes Gnade leben und die Welt gestalten: Beiträge zur methodistischen Theologie
 3846903056, 9783846903049, 9783846903063, 9783846903056

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Aus Gottes Gnade leben und die Welt gestalten: Beiträge zur methodistischen Theologie
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Aus Gottes Gnade leben und die Welt gestalten: Beiträge zur methodistischen Theologie

Christoph Raedel

Reutlinger Theologische Studien Herausgegeben von Achim Härtner, Michael Nausner und Christoph Raedel in Verbindung mit der Theologischen Hochschule Reutlingen und der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland

Band 10

Christoph Raedel Aus Gottes Gnade leben und die Welt gestalten Beiträge zur methodistischen Theologie

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

Für den Umschlag wurde ein Foto von Alex Staroseltsev © 2018 Shutterstock ID 17242291 verwendet. Bibeltexte folgen, soweit nicht anders gekennzeichnet, der Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBookAusgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/3846903056. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2018 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Alessandro Casagrande Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: Basta Werbeagentur GmbH, Göttingen Druck: Digital Print Group, Nürnberg ISBN: 978-3-8469-0304-9 (Print), 978-3-8469-0306-3 (eBook)

Für Geoffrey Wainwright, väterlichen Freund und geistreichen Mentor

Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................ 9 „Secret things belong to God“ Zur Geschichte und Rezeption der mysteriösen Vorkommnisse im Wesley-Pfarrhaus (1716/17) ............................................................... 13 Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert zwischen Aufklärung und Erweckung Eine Untersuchung zu Jesse Jäckel (1820–1895), Prediger der Evangelischen Gemeinschaft............................................................. 43 Die Autorität der Bibel Impulse der Theologie John Wesleys ...................................................... 75 Kinder und Kirche Die ekklesiologische Bestimmung des kirchlichen Status getaufter Kinder in der Bischöflichen Methodistenkirche des 19. Jahrhunderts ............................................................................ 103 Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge ........................ 125 Gemeinschaft in Glaube und Dienst Kirchengliedschaft als Gestalt verbindlicher Christusnachfolge ............... 157 Das Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde Reflexionen zur freikirchlichen Identitätssuche aus methodistischer Perspektive ................................................................. 185 „Die Zeichen der Zeit erkennen“ Spekulative Eschatologie im deutschsprachigen Methodismus 1835 bis 1914 ...................................................................................... 201 Von den Heiligungsbewegungen zur Entstehung der Pfingstkirchen Theologiegeschichtliche Aspekte .......................................................... 231 Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung in Deutschland.......................................................................................... 249

Inhaltsverzeichnis

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„A Heart Strangely Warmed“ Erweckung des Herzens als methodistisches Leitmotiv einer „evangelikalen“ Theologie........................................................... 279 Zwischen Patriotismus und Pazifismus Krieg und Frieden in der Perspektive methodistischer Kirchen ............... 313 John Wesley im Zeitalter der Globalisierung............................................. 355 „Konkurrenz belebt das Geschäft“? Zur protestantischen Vielfalt in freikirchlicher Sicht............................... 373 Veröffentlichungsnachweis ....................................................................... 403 Register Personenregister .................................................................................. 404 Bibelstellenregister .............................................................................. 410

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort Gottes Gnade ist in der reformatorischen Theologie vor allem als Gunst verstanden worden, als Gottes den Sünder rechtfertigendes Urteil. In der methodistischen Theologie meint Gnade Gunst und Gabe, nämlich die Gabe eines neuen, veränderten Lebens in Jesus Christus. Wer von Gott verändert worden ist, der möchte Teil einer Gemeinschaft, der Kirche, sein, aber doch daran mitwirken, dass diese Welt verändert wird. Wer sich auf diese erneuernde Gnade, Gottes Gegenwart, einlässt, der lässt sich auf einen Weg rufen, der folgt Jesus Christus nach, der dieser Weg ist. Traditionell ist dieses Unterwegssein als Heiligung bezeichnet worden, im Methodismus häufig als Heiligung des Herzens und des Lebens, also die innere wie äußere Gestalt des Christenlebens umfassend. Was Heiligung meint, was Nachfolge bezeichnet, das muss in unsere heutige Sprache übersetzt werden. Es braucht ein offenes und verständiges Herz, um zu begreifen, dass es dabei nicht einfach um eine innige Jesus-Beziehung geht, die für Menschen im sozialen Umfeld spürbar wird, sondern dass Jesus Christus als Herr über alles seine Geschichte in allen Bereichen und auf allen Ebenen des Miteinanders in Familie, Gemeinde und Gesellschaft schreibt. Daher ist es nach methodistischem Verständnis nie beliebig gewesen, was verbindliches Christsein im Bereich der persönlichen Lebensführung sowie in den Verantwortungsbereichen, in die ein Christ gestellt ist, bedeutet. Die „Sozialen Grundsätze“ der Evangelisch-methodistischen Kirche – aber auch das nicht endende Ringen dieser Kirche um die darin ausgesprochenen Bewertungen – lassen diesen Anspruch an verbindliches Christsein erkennen. Die Gnade Gottes soll Gestalt gewinnen, das kann nicht irgendeine, das muss eine dem Wort Gottes gemäße Gestalt sein. Doch was genau heißt das im Blick auf z. B. Militäreinsätze, Lohngerechtigkeit oder die menschliche Sexualität? Sich mit solchen und verwandten Fragen zu beschäftigen, bedeutet unvermeidlich, sich mit der Geschichte und der Gegenwart auseinanderzusetzen. Es bedeutet, in historischer Perspektive Entwicklungen auszuleuchten, den Wandel der Problemstellungen nachzuzeichnen und nach den Impulsen für gegenwärtige Diskussionen zu fragen. Die Frage nach der schriftgemäßen Gestaltwerdung der Gnade Gottes schließt immer auch das Nachdenken über die Autorität der Bibel – auch im Verhältnis zu Tradition, Vernunft und Erfahrung – sowie über die Bedeutung von Kirche und Gemeinde für den Weg der Christus-Nachfolge ein. Damit sind auch systematische Kategorien aufgerufen, an denen zu prüfen ist, wo Grund und Grenze authentisch schriftgemäßer Lebensgestalt liegen.

Vorwort

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Meine Perspektive auf diese Fragen ist dabei auch Spiegel biographischer Entwicklungen und theologischer Erfahrungen. Als 2004 meine Dissertation zur Theologie des deutschsprachigen (inkl. deutsch-amerikanischen) Methodismus im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurde, lagen mehrere Jahre intensiver Beschäftigung mit Themen methodistischer Theologie hinter mir. Geweckt worden war mein Interesse daran während eines Studienjahrs in Cambridge, wo ich Wesleys Predigten für mich entdeckte, die mich seitdem begleiten. Zum Ende meiner Dissertation hin zeichnete sich zwar ab, dass ich auch weiterhin wissenschaftlich arbeiten würde, doch war noch nicht abzusehen, in welchem institutionellen Rahmen das der Fall sein würde. Während meiner mehr als achtjährigen Lehrtätigkeit am CVJM-Kolleg und dann der CVJM-Hochschule in Kassel fand meine Beschäftigung mit methodistischer Theologie und Geschichte ihren Raum zunächst in der Studiengemeinschaft für Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK), dann zunehmend im Verein für Freikirchenforschung. Einige der hier wiederveröffentlichten Aufsätze sind aus Vorträgen erwachsen, die ich in dieser Zeit gehalten habe oder sie sind ursprünglich Beiträge für Themenbände sowie Festschriften. Ordnet man die hier zusammengestellten Aufsätze in zeitlicher Folge, dann zeigt sich eine Verlagerung meines Arbeitsschwerpunkts. In den ersten Jahren nach Abschluss der Dissertation habe ich zunächst einige Themen vertieft, die sich im Rahmen meiner Dissertation nicht hinreichend ausarbeiten ließen. Der Schwerpunkt lag daher in Einzelstudien zur Theologiegeschichte des Methodismus im 19. Jahrhundert, wobei überwiegend, jedoch nicht ausschließlich, die Bischöfliche Methodistenkirche Beachtung fand. Im Laufe der Jahre kristallisierte sich, meiner Lehraufgabe in Kassel entsprechend, die Theologische Ethik als neuer Arbeitsschwerpunkt heraus. Diese Entwicklung schlägt sich in Beiträgen dieses Bandes nieder, die sich mit Fragen der Globalisierung oder der Friedensethik auseinandersetzen. Zu den Entwicklungen der zurückliegenden Jahre gehört auch, dass meine Beschäftigung mit dem Methodismus immer stärker in den Kontext der Freikirchenforschung insgesamt einrückte. Mein vornehmliches Interesse galt in diesem Zusammenhang den Verbindungen, die historisch und theologisch zwischen dem erwecklichen Methodismus einerseits und pfingstlich-charismatischen Strömungen andererseits bestehen. Mir scheint, dass es für die Zukunft des kirchlich verfassten Methodismus eine (Über-)Lebensfrage ist, das Verhältnis zu diesen dynamischen, global an Bedeutung gewinnenden Strömungen zu klären. Jedenfalls leben – bewusst oder unbewusst – Impulse wesleyanischer Theologie und Glaubenspraxis in diesen Bewegungen fort.

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Vorwort

Der vorliegende Band enthält auch zwei bislang unveröffentlichte Vorträge, die ich für den Druck bearbeitet und erweitert habe. Der erste dieser Beiträge fragt nach Impulsen der Theologie John Wesleys für das Verständnis der Autorität der Bibel. Ich hoffe, es gelingt mir zu zeigen, dass Wesley uns Nachgeborenen in dieser Frage auch dann wegweisende Impulse vermitteln kann, wenn wir ihm nicht unkritisch in jedem Aspekt seiner Überzeugungen zu folgen vermögen. Der Abstand der Jahrhunderte lässt sich nicht ausblenden – allein: Gott bleibt derselbe. Im zweiten hier erstveröffentlichten Aufsatz geht es um eine freikirchliche Perspektive auf die protestantische Vielfalt. Die hier vorgelegten religionsphilosophischen, religionssoziologischen und schließlich theologischen Reflexionen verstehen sich auch als ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch, das Methodisten von jeher wichtig war, wenn auch mein Ökumene-Verständnis viel stärker auf das Ringen um die gemeinsame Bezeugung der Wahrheit als auf die Suche nach institutioneller Vereinigung gerichtet ist. Spätestens an dieser Stelle kommt nun der Mann ins Spiel, dem ich dieses Buch in großer Dankbarkeit widme: Geoffrey Wainwright, viele Jahre Professor für Systematische Theologie an der Divinity School der Duke University (Durham/North Carolina), väterlicher Freund und theologischer Mentor, obwohl er formal betrachtet nie mein Lehrer war. Meine erste literarische Begegnung mit G. Wainwright kam durch die Lektüre seines Buches „Doxology“ zustande, gewissermaßen eine Systematische Theologie aus der Perspektive des (liturgischen) Gotteslobs. Für Wainwright ist das liturgische Leben der Kirche ein Geschenk Gottes, eine Einladung, die Gnade Gottes wirken und sie im Leben des Gottesvolkes Gestalt werden zu lassen. An die persönlichen Begegnungen mit Geoffrey denke ich gerne zurück, beeindruckte er doch mit immenser Literaturkenntnis, theologischem Weitblick und einer mit herzhaft britischem Humor gewürzten persönlichen Wärme. Obwohl ich manche seiner Anschauungen nicht teile (Wainwright hat das Ziel einer auch äußerlich sichtbaren Einheit der einen Kirche Jesu Christi nie aufgegeben), habe ich viel von ihm lernen dürfen. So ist der Titel dieses Buches, mit dem ein Leitmotiv der hier versammelten Texte aufgenommen wird, auch eine Frucht mancher Gespräche mit Geoffrey Wainwright. Aus der Gnade zu leben heißt nicht, für sich genießen und behalten zu wollen, was Gott schenkt, sondern selbst ein überfließendes Gefäß der Gnade zu sein im Dienst für Gott in dieser Welt, die Gottes Eigentum ist. Aus Gottes Gnade zu leben und die Welt zu gestalten sind die zwei Flügel, die den Glauben in Bewegung halten. Dabei scheint mir heute wichtiger denn je hinzuzufügen, dass damit ein Glaube gemeint ist, der in der Gemeinschaft des Gottesvolkes überliefert wird und den niemand für

Vorwort

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sich allein haben und leben kann. Es ist auch kein Glaube, der in sich selbst Bestand haben könnte, sondern der seine Kraft aus der Bindung an den dreieinigen Gott empfängt. Genauer gesagt: Der Glaube ist eine Lebensbewegung in der Nachfolge Jesu Christi und der Kraft des Heiligen Geistes. Christus braucht, wie Sören Kierkegaard ganz treffend gesagt hat, keine Bewunderer, sondern Nachfolger. Es ist mein Wunsch, dass die Aufsätze dieses Bandes über alle intellektuelle Anregung und Einladung zum Gespräch hinaus dazu beitragen, dass Christen methodistischer (und anderer) Tradition den Weg der ChristusNachfolge gewisser, freudiger und leidenschaftlicher gehen und erfahren, dass Gott zu seinem Wort steht, uns seinen Sohn schenkt und mit seinem Geist ausrüstet. Ich empfinde es als Privileg, dies in meiner täglichen Arbeit an der Freien Theologischen Hochschule Gießen erleben und als von Gott geschenkte Frucht meiner Arbeit ernten zu dürfen. Dass ich in diesem interdenominationellen Rahmen die Möglichkeit habe, Seminare zur Theologie John Wesleys anbieten zu können, freut mich und stellt mir immer wieder neu vor Augen, dass Wesleys Erbe über den Methodismus hinaus seine Bedeutung entfalten kann. Die Veröffentlichung dieses Buches ist durch Geldgeber ermöglicht worden, von denen einige bereits genannt wurden. Namentlich danke ich dem Arbeitskreis für evangelikale Theologie (AfeT), der Freien Theologischen Hochschule Gießen (FTH), der Studiengemeinschaft für Geschichte der EmK, dem Verein für Freikirchenforschung (VFF) sowie dem Institut für Ethik & Werte (Gießen) für namhafte Druckkostenzuschüsse. Abschließend möchte ich meinem Assistenten Alessandro Casagrande danken, ohne den dieses Buch nicht das Licht der Welt erblickt hätte. Herr Casagrande hat während seiner Zeit als Assistent insgesamt drei Bücher von mir satztechnisch fertiggestellt und dabei eine für mich bewundernswerte Umsicht und Genauigkeit an den Tag gelegt. Für diese mir unverzichtbare Unterstützung bin ich ihm von Herzen dankbar. Unsere wunderbare Zusammenarbeit verstehe ich als Zeichen einer tieferen Wahrheit: dass nämlich auch im Raum der Wissenschaft gilt, dass wir einander mit den Gaben dienen dürfen, die Gott uns geschenkt hat.

Christoph Raedel Gießen am 2. Februar 2018, dem Tag der Darstellung des Herrn

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Vorwort

„Secret things belong to God“ Zur Geschichte und Rezeption der mysteriösen Vorkommnisse im Wesley-Pfarrhaus (1716/17) 1 Einleitung Die wissenschaftliche Beschäftigung mit esoterischen Strömungen und okkulten Phänomenen hat Helmut Obst, dem dieser Beitrag gewidmet ist, auf eine Reihe von „seltsamen Geschichten“ stoßen lassen, die er in Buchform einem weiten Leserkreis zugänglich gemacht hat.1 Der Sammelband dieser „seltsamen Geschichten“ enthält unter anderem einen Bericht über mysteriöse Vorkommnisse im Pfarrhaus Samuel Wesleys (1662–1735), dem Vater des Begründers der methodistischen Bewegung, John Wesley (1703–1791).2 Die von der Wesleyfamilie auf übernatürliche Einwirkung zurückgeführten „Spukphänome“ sind für die Spiritismusforschung zum einen deshalb von wissenschaftlichem Interesse, weil sie zu den nach historisch-kritischen Maßstäben am besten bezeugten Geschehnissen ihrer Art gehören, sie verdienen zum anderen unsere kritische Aufmerksamkeit deshalb, weil die Geschehnisse von Epworth in verschiedenen Kreisen überliefert, interpretiert und in den eigenen Deutungshorizont integriert worden sind.3 Auf den folgenden Seiten werde ich erstens die Überlieferung der „Spukphänomene“ im Pfarrhaus von Epworth kritisch sichten und dabei die Qualität der historischen Quellen evaluieren, zweitens die verschiedenen Deutungen der Phänome im Zeitraum von 1784 bis circa 1970 vorstellen und nach Interpretationsansätzen systematisieren sowie abschließend die Diskussion mit einigen wenigen Überlegungen weiterzuführen versuchen. 1

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Vgl. Obst, Leberecht Helmut, Seltsame Geschichten aus fünf Jahrhunderten. Von Goldmachern und ihren Tinkturen, von Träumen und Vorahnungen, von Spuk und Spukhäusern, von Geistern und Offenbarungen, Berlin 1991. Vgl. ebd. [wie Anm. 1], S. 174–176. Die Untersuchung der Rezeption der Epworth-Phänomene ist mir wesentlich erleichtert worden durch die umfangreiche Bibliographie von Michael Goss; vgl. Poltergeists. An Annotated Bibliography of Works in English, circa 1880–1975, Metuchen (New Jersey)/London 1979. Bei der Literaturbeschaffung bin ich maßgeblich durch Samuel Hammond von der Bibliothek der Duke University Durham (North Carolina) unterstützt worden, dem ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. Dem Center for Studies in the Wesleyan Tradition der Duke Divinity School danke ich für die Möglichkeit eines vierwöchigen Forschungsaufenthalts, der neben anderem auch die Erarbeitung und Fertigstellung dieses Aufsatzes ermöglichte.

Einleitung

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2 Gegenstand und historische Glaubwürdigkeit der „Epworth“-Überlieferung Im Jahr 1695 wurde Samuel Wesley, anglikanischer Pfarrer mit OxfordExamen, mit der Verantwortung für die Pfarrei Epworth betraut, einer in tiefer Abgeschiedenheit auf der Insel Axholme im Nordosten Englands gelegenen Ortschaft.4 Sein ungezügeltes Temperament und der ethische Rigorismus seiner Predigten ließen Samuel Wesley und seine Familie wiederholt zum Objekt gemeiner und gefährlicher Angriffe der Dorfbewohner werden, die offensichtlich von der Hoffnung genährt waren, der Pfarrer möge den Kampf aufgeben und schlussendlich verschwinden.5 Die hier zu untersuchenden Vorgänge fallen in die Zeit zwischen Dezember 1716 und Frühjahr 1717.6 Die in Epworth anwesende Wesley-Familie bestand zu dieser Zeit aus Samuel Wesley, seiner Frau Susanna sowie ihren Töchtern Mehetabel (genannt Hetty), Susanna (genannt Suky), Emilia (Emily), Molly, Nancy, Martha (Patty) und Keziah (Ketty); dazu wohnten der Diener Robert (Robin) Brown und eine Dienstmagd im Haus. Die Söhne des Pfarrers, Samuel (jun.), John und Charles, hielten sich in London auf 7 – ein Umstand, dem wir die zeitnahe briefliche Dokumentation der Vorgänge verdanken. Die die mysteriösen Geschehnisse des Winters 1716/17 dokumentierenden Quellen lassen sich in drei Gruppen einteilen, wobei die Qualität der Quellen von der ersten zur dritten Gruppe hin abnimmt.8 Die frühesten und

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W. H. Fitchetts knappe Darstellung vermittelt einen Eindruck von der Rauheit und Abgeschiedenheit des Ortes: „The flat, melancholy fenlands, pricked with thin lines of pollard willows and alders, and seamed with dikes through which the sluggish waters crept – dikes which in winter became mere ribbons of ice – all this made a desolate landscape, over which, in winter, the bitter south-east winds raged. Here and there a distant church spire showed like the point of a spear against the sky-line; a low cluster of village roofs, a solitary farmhouse, gave a sharper accent to the desolation of the scene“, Wesley and His Century. A Study in Spiritual Forces, New York/Cincinnati 1925, S. 33. Es wird berichtet, dass die Bewohner die Milchkühe des Pfarrers quälten, seine Aussaat zerstörten und möglicherweise auch das Pfarrhaus anzündeten; vgl. ebd. [wie Anm. 4], S. 27f. Nicht ganz sicher scheint mehr zu bestimmen, ob die Ereignisse auf den Winter 1715/16 oder 1716/17 datieren. Für erstere Variante entscheidet sich Southey, Robert, The Life of John Wesley, New York [1847], S. 64, durchgesetzt hat sich allerdings die zweite Datierungsvariante. Samuel arbeitete als Lehrer an der Westminster School, die zu dieser Zeit sein jüngerer Bruder Charles (geb. 1706) besuchte. John Wesley selbst, damals 13 Jahre, war Schüler der Charterhouse School in London. Meine Einteilung entspricht der von Andrew Hill 1917 vorgenommenen Kategorisierung; vgl. Introduction. In: The Epworth Phenomena. To which are appended certain

„Secret things belong to God“

historisch zuverlässigsten Zeugen der Ereignisse finden wir in den während oder unmittelbar nach den Geschehnissen abgefassten Aufzeichnungen, bei denen es sich vor allem um an Samuel (jun.) in London gerichtete Briefe verschiedener Familienmitglieder und um einen Tagebuchbericht des Pfarrers handelt. Eine zweite Gruppe von Textzeugen stellen die 1726 von John Wesley erbetenen Berichte seiner Mutter, der Schwestern Emily, Molly, Suky und Nancy, ferner des als Zeuge hinzugezogenen Pfarrers von Haxey, Rev. Hoole, und des Dieners Robert Brown dar.9 In eine dritte Kategorie ist John Wesleys 1784 im Arminian Magazine veröffentlicher Bericht der Geschehnisse einzuordnen.10 Wesleys Bericht aus dem Jahr 1784 kann als Versuch gewertet werden, die literarisch disparaten Zeugnisse der frühen Jahre in eine interessante, gut lesbare Geschichte umzuformen,11 die den Leser im Glauben an die unsichtbare Welt bestärken und ihn für den in dieser Welt sich vollziehenden geistlichen Kampf sensibilisieren soll. Die literarische Durchgestaltung des Textes und seine erkennbare Zweckbestimmung machen Wesleys Bericht als historisch zuverlässige Quelle unbrauchbar. Anders verhält es sich mit den auf Bitte John Wesleys 1726 abgefassten Berichten. Angesichts des zwischen den Ereignissen und der Abfassung dieser Berichte liegenden Zeitabstandes muss zwar mit Erinnerungsfehlern sowie phantasievollen Zuwächsen im Blick auf die ursprünglichen Geschehnisse gerechnet werden, doch erhalten die Berichte ihre Glaubwürdigkeit maßgeblich von der Tatsache ihrer weitgehenden Übereinstimmung mit den Aufzeichnun12 gen aus dem Jahr 1717 her. Letztere Aufzeichnungen sind zeitnah und (bei den Briefen) mit der Absicht der Information eines nahen Familienangehörigen verfasst und dürfen als grundsätzlich zuverlässige Darstellungen des Geschehenen gelten, wobei auch hier wiederum die Übereinstimmung der Berichte verschiedener Personen den Ausschlag für das Urteil gibt.13 Die

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Psychic Experiences recorded by John Wesley in the pages of his Journal, collated by Dudley Wright, London 1917, S. xi–xii. John Wesley nennt 1784 das Jahr 1720 als Datum für die Erhebung dieser Berichte; doch sind die Berichte selber auf das Jahr 1726 datiert, sodass hier wohl ein Gedächtnisfehler vorliegt. V. H. H. Green stellt es so dar, dass Wesley bei seinem Besuch in Epworth 1720 den Fall sorgfältig untersuchte und dann 1726 mit allen erreichbaren Zeugen „diskutierte“[?], The Young Mr. Wesley. A Study of John Wesley and Oxford, London 1961, S. 58. The Arminian Magazine 7 (1784), S. 548–550.606–608.654–656. Wesley erreicht dies unter anderem dadurch, dass er die Ereignisse in eine historisch wohl kaum zutreffende strikte chronologische Ordnung bringt. Als wenig glaubwürdig sollen im Folgenden nur solche Elemente der Darstellungen von 1726 bewertet werden, die in den Zeugnissen von 1717 keinerlei Anhalt haben. Eine andere Einteilung nimmt Frank Podmore (und ihm folgend Trevor Hall) vor, der den höchsten Evidenzcharakter den Aufzeichnungen von 1717 nur insoweit zubilligt, als

Gegenstand und historische Glaubwürdigkeit der „Epworth“-Überlieferung

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Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1717 sowie die Berichte von 1726, die zum Teil als Manuskripte erhalten sind,14 wurden 1791 von dem – im Übrigen jeder übernatürlichen Erklärung der Phänomene abgeneigten – Philosophen Joseph Priestley veröffentlicht,15 wobei ein Abgleich mit den Originalmanuskripten lediglich einige wenige, zudem marginale Abschreibefehler ergibt.16 Alle späteren Textwiedergaben folgen Priestley.17 Ausgehend von einer solchermaßen historisch-kritischen Beurteilung der Quellen ergibt sich folgendes Bild der mysteriösen Ereignissen in Epworth im Winter 1716/17: Am 1. Dezember des Jahres 1716 vernimmt die Magd an der (in den Garten führenden) Tür des Esszimmers Geräusche wie das Stöhnen eines im Sterben liegenden Menschen, was sie zutiefst erschreckt. Wenige Tage später hören mehrere Familienmitglieder Klopfgeräusche an verschiedenen Stellen des Hauses. Für gewöhnlich wird ein Dreitakt geklopft, allerdings kann der „Geist“ auch ihm vorgegebene Klopftakte nachahmen. Das Klopfen ist an der Zimmerdecke, unter den Dielen, vor allem aber an den Betten der Kinder zu hören. Pfarrer Wesley bemerkt als Einziger zunächst nichts, was in den anderen Personen die Vermutung weckt, die Geräusche seien Zeichen seines bevorstehenden Todes. Erst als die Geräusche heftiger und lauter werden, informiert die Familie Samuel sen., der die Geräusche von nun an (ab dem 21. Dezember) auch hören

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sie Selbsterlebtes berichten. Hinweise in den Aufzeichnungen auf Erlebnisse dritter Personen hält er für deutlich weniger glaubwürdig, auch – bzw. gerade dann –, wenn sie 1726 in den Berichten dieser dritten Personen als Selbsterlebtes geschildert werden; vgl. Podmore, Frank, Modern Spiritualism, Bd. 1, London 1902, S. 32ff; Hall, Trevor, New Light on Old Ghosts, London 1965, S. 18. Einige davon in der Duke University Library Durham (North Carolina). Priestley, Joseph (Hrsg.), Original Letters by The Rev. John Wesley, And His Friends, Illustrative of His Early History, with Other Curious Papers, Communicated by The late Rev. S. Badcock. To Which is Prefixed, An Address to the Methodists, Birmingham 1791. Vgl. auch Wallace, Charles (Hrsg.), Susanna Wesley. The Complete Writings, New York/Oxford 1997, S. 84–91. Ich zitiere im Folgenden nach Southey, Robert, The Life of John Wesley; and Rise and Progression of Methodism. With Notes by the Late Samuel Taylor Coleridge, and Remarks of the Life and Character of John Wesley, by the Late Alexander Knox, hrsg. Charles C. Southey, Second American Edition, with Notes, etc., by the Rev. Daniel Curray, 2 Bde., Bd. 1, New York [1847], S. 412–435. Für einen anderen Abdruck der Manuskripte vgl. Clarke, Adam, Memoirs of the Wesley Family; Collected Principally from Original Documents, 2. Aufl. New York 1851, S. 202–232; für weitere Nachdrucke vgl. Wright, Epworth [wie Anm. 8], S. 6–59; Sitwell, Sacheverell, Poltergeists. An Introduction and Examination followed by Chosen Instances, New York 1959, S. 157– 188. John Wesleys Bericht aus dem Jahr 1784 ist zudem zugänglich in Heitzenrater, Richard P., The Elusive Mr. Wesley. John Wesley His Own Biographer, 2. Aufl. Nashville 2003, S. 47–51.

„Secret things belong to God“

kann. Da verschiedene Familienmitglieder und die Angestellten von Furcht ergriffen sind, zudem auch weiterhin ein Zusammenhang zwischen den Geräuschen und dem Tod eines nahen Angehörigen vermutet wird, soll Samuel mit dem Geist sprechen. Doch bleiben seine wiederholten Aufforderungen an den „Geist“, etwas Verständliches zu sagen, ohne Erwiderung; immerhin folgt auf die Aufforderung hin, dreimal zu klopfen, falls Samuel jun. in London etwas zugestoßen sei, kein weiteres Klopfen.18 Die Intensität der Geräusche nimmt gleichwohl erkennbar zu, nachdem Susanna Wesley, der Vermutung folgend, hier seien Ratten am Werk, ein Horn in den Räumen des Hauses blasen lässt. Von nun an treten die Geräusche nicht nur tagsüber, sondern – mit erkennbarer Regelmäßigkeit – auch nachts auf, wobei sich der Beginn der Klopfphänomene zwischen neun und zehn Uhr abends mit einem Geräusch ankündigt, das dem Klang ähnelt, wie er beim Drehen einer Winde (so Emily) bzw. einer Windmühle in Windrichtung (so Samuel sen.) oder beim Hobeln von Dielen (Rev. Hoole) entsteht. Besonders heftig wird das Klopfen – Emily (geb. 1691) beschreibt es als „hollow, and loud, so that no one 19 of us could ever imitate [it]“ – während der Familiengebete, insbesondere beim Gebet für den König – was an einen wunden Punkt in der Beziehung der Eheleute Wesley erinnert.20 Es sind vor allem die täglichen Morgen- und 18

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Die Sorge um Samuels Befinden wich endgültig, als schließlich ein Brief von ihm eintraf. Susanna neigte im Folgenden dazu, die Geräusche als Zeichen für den Tod ihres für die East India Company arbeitenden Bruders zu vermuten; vgl. Southey, The Life [wie Anm. 17], S. 413 (Brief vom 12. Januar 1717). Ein möglicher weiterer Hinweis auf diesbezügliche Überlegungen findet sich in „Sister Nancy’s Account to Jack“ vom 10. September [1726], wo es heißt: „Whenever they began to mention Mr. S. it presently began to knock, and continued to do so till they changed the discourse“, ebd., S. 429. Die Vermutung, S. meine Susannas Bruder Samuel Annesley in Indien, findet sich bei Stevenson, George, Memorials of the Wesley Family, New York/Cincinnati/London 1876, S. 323. Southey, The Life [wie Anm. 17], S. 419 (Letter from Miss Emily to her brother Samuel, undatiert [1717]). Während Samuel Wesley den regierenden König William III. (von Oranien) als legitimen Throninhaber ansah, hielt seine Frau Susanna daran fest, dass James aus dem Haus der Stuarts einzig rechtmäßiger König sei. In Anbetracht der Weigerung Susannas, ihr Amen zum Gebet des Gatten für den König zu sagen, ließ sich Samuel 1701 zu dem Eid hinreißen, nie wieder mit seiner Frau zusammenzusein, worauf er das Haus Richtung London verließ, um erst nach cirka einem Jahr – ungefähr zeitgleich mit der zwischen beiden Eheleuten unstrittigen Thronbesteigung von Königin Anne, einer Stuart – wieder zurückzukehren. John Wesley vermutete später einen Zusammenhang zwischen den Spukphänomenen und dem unvorsichtigen Eid seines Vaters: „I fear his vow was not forgotten before God“, ebd. [wie Anm. 17], S. 433 (John Wesleys Bericht im Arminian Magazine 1784).

Gegenstand und historische Glaubwürdigkeit der „Epworth“-Überlieferung

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Abendgebete, bei denen „all the family has heard it together, in the same room, at the same time“.21 Aber auch andere als Klopfgeräusche werden von einzelnen Familienmitgliedern gehört. Als Samuel und Susanna Wesley, in Sorge um die Kinder, deren Zimmer von heftigem Klopfen erschüttert werden, die Treppe des Hauses hinuntergehen, klingt es, als ob jemand einen Sack voller Geld zu den Füßen Susannas ausleert,22 und unmittelbar danach, als ob jemand die unter der Treppe befindlichen leeren Flaschen zerschmettert (tatsächlich sind sie unversehrt). Ein ähnliches Geräusch vernimmt auch Emily.23 Die Klopfgeräusche erweisen sich als besonders heftig in den Zimmern der Kinder, wobei der „Geist“, dem Emily den Namen „Old Jeffrey“ gibt,24 es vornehmlich auf die zu dieser Zeit neunzehnjährige Hetty abgesehen hat. Dagegen bleibt das Arbeitszimmer des Pfarrers von Geräuschen verschont, bis Samuel das unsichtbare Wesen auffordert, seine Kinder in Ruhe zu lassen und sich ihm selber in seinem Arbeitszimmer zu stellen. Insgesamt dreimal, so berichtet Samuel Wesley, wird er von unsichtbarer Hand aufs Heftigste gestoßen, einmal gegen die Ecke seines Schreibtischs, ein anderes Mal gegen die Tür einer Kammer, beim dritten Mal gegen den Türrahmen 25 seines Arbeitszimmers. Auch Emily misst ihre Kräfte mit der unsichtbaren Macht an einer Tür, die schließlich jedoch mit Gewalt gegen sie gestoßen wird. Auch Türklinken und das Küchengeschirr werden von unsichtbarer Hand bewegt, allerdings berichtet lediglich Suky (geb. 1695) in einem vermutlich von 1717 stammenden Brief davon, dass – offensichtlich vor den Augen mehrerer Personen – das Schneidebrett ihres Vaters auf dem Tisch tanzte, ohne dass jemand den Tisch bewegte.26 Schließlich hören Susanna 21 22

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Ebd. [wie Anm. 17], S. 414 (Letter from Mrs. [Susanna] Wesley to her son Samuel, 25. oder 27. Januar 1717). Sohn Samuel in London zeigt praktischen Sinn, wenn er auf diesen Bericht hin zurückfragt: „Have you dug in the place where the money seemed poured at your feet?“, ebd. [wie Anm. 17], S. 417 (Letter from Mr. S. Wesley to his Mother, 12. Februar [1717]). Vgl. ebd. [wie Anm. 17], S. 419 (Letter from Miss Emily Wesley to her brother Samuel, undatiert [1717]). Vgl. ebd. [wie Anm. 17], S. 419 (Letter from Miss Emily Wesley to her brother Samuel). Nach John Wesleys Darstellung bezog sich der Name auf einen früheren Bewohner des Hauses, der im Haus gestorben war; vgl. ebd., S. 434 (Wesleys Bericht im Arminian Magazine). Vgl. ebd. [wie Anm. 17], S. 423 (Samuel Wesleys „Account of Noises and Disturbances in my House“, Dezember und Januar 1716 [möglicherweise ist diese Angabe Anlass der Verwirrung über das genaue Jahr]). Vgl. ebd. [wie Anm. 17], S. 420 (Letter from Miss Susanna Wesley to her brother Samuel, 27. März [1717]).

„Secret things belong to God“

(Suky), Hetty und Molly bei unterschiedlichen Gelegenheiten Geräusche, als ob eine unsichtbare Person um sie herumschleiche.27 Etwas schwieriger zu bewerten sind die – weil einzigen – Hinweise auf visuelle Phänomene während dieser Zeit. 1717 berichtet Emily, dass etwas wie ein Dachs – allerdings ohne erkennbaren Kopf – einmal von der Mutter und zweimal von Robin Brown gesehen wurde,28 während Pfarrer Wesley in seinem Tagebuchbericht dieser Zeit erwähnt, Robin Brown habe, als er abends allein in der Küche saß, etwas wie einen Hasen, nur etwas kleiner, hervorkommen und sich vor ihm drehen sehen: „Its ears lay flat upon its neck, and its little scut stood straight up“.29 Diese Angaben werden durch Robin Brown 1726 im Wesentlichen bestätigt.30 Was immer Brown erlebt haben mag, in jedem Fall hat er die Geschichte sofort weitererzählt; ob dabei aus dem Dachs ein Hase wurde oder umgekehrt, ob er gar zwei Erlebnisse berichtete, lässt sich nicht mehr feststellen. Für ein Urteil bezüglich der Glaubwürdigkeit der Überlieferung von Susannas Begegnung mit dem „Dachs“ hängt vieles von der Gewichtung der Tatsache ab, dass keine der uns von Susanna selbst vorliegenden Aufzeichnungen einen Hinweis auf dieses Vorkommnis enthält. Ein sicheres Urteil scheint mir nicht möglich.31 Deutlich ist jedenfalls, dass die mysteriösen Ereignisse Ende Dezember 1716 aufhörten, nach dem 24. Januar 1717 jedoch vor allem das Klopfen während des Familiengebets wieder einsetzte, bis die Geräusche schließlich leiser wurden (es klang, als wenn sie sich entfernten) und schließlich ganz aufhörten.

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Susanna schreibt: „I heard something walk by my bedside, like a man in a long nightgown“, ebd. [wie Anm. 17], S. 416 (Letter from Miss Susanna Wesley to her brother Samuel, 24. Januar [1717]. Und Molly berichtet 1726: „The door seemed to open, though it was still shut, and somebody walked in a night-gown trailing upon the ground (nothing appearing), and seemed to go leasurely round me“, ebd., 428 (My sister Molly’s Acount to Jack [John], 27. August [1726]). Zu Hettys Erlebnis vgl. ebd., S. 419 (Letter from Miss Emily Wesley to her brother Samuel). Vgl. ebd. [wie Anm. 17], S. 420 (Letter from Miss Emily Wesley to her brother Samuel). Vgl. ebd. [wie Anm. 17], S. 424 (Samuel Wesleys „Account of Noises and Disturbances in my House“, Januar 1716). Vgl. ebd. [wie Anm. 17], S. 431 (Robin Brown’s Account to Jack as recorded by Samuel Wesley). Das Gleiche gilt, allerdings mit einer schon deutlich negativeren Beurteilung, für Nancys Darstellung, wonach mehrere Schwestern zum Kartenspielen beisammensaßen, als sich das Bett, auf dem Nancy saß, mit ihr emporgehoben wurde, was sich wiederholte, nachdem die Schwestern die aufgeregte Nancy davon überzeugt hatten, sich wieder hinzusetzen. Dieses Erlebnis mehrerer Personen wird allein von Nancy und auch erst im Jahr 1726 bezeugt; vgl. ebd. [wie Anm. 17], S. 429 (Sister Nancy’s Account to Jack [as recorded bei Samuel Wesley, jun.], 10. September [1726]).

Gegenstand und historische Glaubwürdigkeit der „Epworth“-Überlieferung

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Nicht unerheblich für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Darstellungen ist die Frage, welche Stellung die Wesleys den erwähnten Phänomenen gegenüber einnahmen. Während eine übernatürliche Ursache für die Wesleys grundsätzlich im Bereich des Denkbaren und Möglichen lag, zielte ihr unmittelbares Bemühen darauf, nach möglichen natürlichen Ursachen der Geschehnisse zu suchen. Wie schon erwähnt, war Susanna Wesley zunächst davon überzeugt, dass sich Ratten oder Wiesel im Haus aufhielten und traf die damals gängigen entsprechenden Gegenmaßnahmen. Für den Fall, dass Personen von außerhalb des Haushalts ihre Hände im Spiel hatten, wurde eine Dogge angeschafft (die allerdings nach anfänglichem Kläffen vor 32 „Old Jeffrey“ zurückschreckt). Die Diener scheiden Susanna zufolge als Verursacher aus, weil sie zum einen die größte Furcht zeigten33 (bei gutem schauspielerischem Talent kein wirklich überzeugendes Argument), zum anderen, weil die Geräusche mehrfach in ihrer beider Gegenwart auftraten (was schwerer wiegt). Samuel Wesley dagegen hatte anfänglich vor allem seine eigenen Kinder als Verursacher im Blick. Als er in die mysteriösen Vorkommnisse eingeweiht wurde, so berichtet Emily, [h]e smiled, and gave no answer, but was more careful than usual, from that time, to see us in bed, imagining it to be some of us young women, that sat 34 up late, and made the noise.

Obwohl die Suche nach natürlichen Ursachen erst nachließ, als die Familie sich mehr oder weniger an die Geräusche gewöhnt hatte, legten die Wesleys die Hypothese einer übernatürlichen Einwirkung nie außer Reichweite, wobei dieser Erklärungsansatz für sie zwei Aspekte aufweist: da ist zum einen die göttliche Providenz, die die Frage nach den hinter der göttlichen Zulassung dieser Widerfahrnisse stehenden Absicht Gottes aufwirft – eine Frage, auf die die Beteiligten jedoch keine Antwort finden;35 da ist zum

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Dabei ist durchaus möglich, dass der Hund nicht nur gegen sichtbare, sondern auch gegen unsichtbare Feinde zum Einsatz kommen sollte. Hunde wurden jedenfalls wegen ihres feinen Hör- und Geruchssinns auch von Geisterjägern eingesetzt, obwohl es zahlreiche Berichte davon gibt, dass Hunde von Spukphänomenen erschreckt wurden; vgl. Somerlott, Robert, Modern Occultism, o.O. 1971, S. 197. „[T]he maid particularly was in such a panic, that she was almost incapable of all business, nor durst ever go from one room to another, or stay by herself a minute after it began to be dark“, Southey, The Life [wie Anm. 17], S. 415 (Letter from Mrs. Wesley to her son Samuel, 25. oder 27. Januar 1717). Ebd. [wie Anm. 17], S. 419 (Letter from Miss Emily Wesley to her brother Samuel). Samuel jun. vermutet, die Ereignisse seien Mahnung, sich auf eine ernsthafte Erkrankung vorzubereiten (vgl. ebd. [wie Anm. 17], S. 414), Susanna stimmt dem zu, findet aber zu keiner letzten Gewissheit: „Whatever may be the design of Providence in permitting the-

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anderen die satanische Macht, die sich in den beschriebenen Manifestationen Gehör verschafft, wie vor allem Samuel Wesley deutlich macht, wenn er die sein Haus heimsuchende unsichtbare Macht als „deaf and dumb devil“ bezeichnet.36 Aus beiden Aspekten folgt für die Wesleys der Versuch, mit der unsichtbaren Macht in Kontakt zu treten – mit dem Ziel, die hinter den Phänomenen stehenden Absichten erkennen zu können.

3 Grundtypen der Interpretation der „Epworth“-Phänomene Wer die Deutungs- und Rezeptionsgeschichte der „Epworth“-Ereignisse nachzeichnet, durchmisst dabei Abschnitte neuzeitlicher Geschichte, die von tiefgreifenden Veränderungen geprägt waren. Die Grundrichtung der die Zeit seit 1700 bestimmenden Entwicklung zeichnete sich bereits zu John Wesleys Lebzeiten ab. Das theologische Spektrum innerhalb der Kirche von England erweiterte sich maßgeblich um deistische Stimmen, die an Einfluss gewinnen sollten, das Newtonsche Weltbild erwies sich als Herausforderung und zugleich als Einladung an Theologie und Kirche, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Zeit in den eigenen Vorstellungshorizont zu integrieren, die Industrialisierung schritt voran und brachte neue Arbeitsplätze, aber auch größere Armut, hervor. Von Interesse für den vorliegenden Sachzusammenhang ist vor allem die Frage, in welcher Weise sich im 18. und 19. Jahrhundert der Glaube an eine unsichtbare Sphäre und innerweltliche Wirklichkeit des Übernatürlichen entwickelte. Die Tatsache, dass die Neuzeit auch in dieser Hinsicht vor allem durch komplexe Pluralisierungsprozesse gekennzeichnet ist, lässt einlinige Erklärungsansätze, wie den von der Überwindung des „Aberglaubens“ durch die Wissenschaft (welche Wissenschaft eigentlich?), als Reduktionen von deutlich vielschichtigeren Entwick37 lungen erscheinen. Folglich überrascht es nicht, auch im Blick auf die Deutung der „Epworth“-Phänomene eine Vielzahl an Erklärungsmustern zu entdecken, die sich zeitlich überlappen, teilweise im Ansatz berühren und auch nicht in jedem Fall wechselseitig ausschließen. Die Vielzahl der Erklärungsansätze, wie sie in methodistischen, spiritualistischen, psychologischen

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se things, I can not say. Secret things belong to God; but I entirely agree with you, that it is our wisdom and duty to prepare seriously for all events“, ebd., S. 415f. Ebd. [wie Anm. 17], S. 425 und öfter. Vgl. Sharpe, James, Instruments of Darkness. Witchcraft in England 1550–1750, London 1996, S. 244; Ian Bostridge, Witchcraft repealed. In: Barry, Jonathan/Hester, Marianne/Roberts, Gareth (Hrsg.), Witchcraft in early modern Europe, Cambridge 1996, S. 309–334.

Grundtypen der Interpretation der „Epworth“-Phänomene

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und anderen Veröffentlichungen begegnet, ist von mir im Folgenden auf fünf Grundtypen zurückgeführt worden, wobei im Einzelnen hier und dort noch einmal weitergehend unterschieden werden muss. Es handelt sich um den skeptizistischen, den physikalischen, den psychologischen, den spiritistischen und den christlich-spiritualistischen Erklärungsansatz. Die fünf Grundtypen sollen, anhand ihrer wichtigsten Vertreter knapp vorgestellt, auf ihre Vorzüge und Schwächen hin untersucht werden, wobei insbesondere der von John Wesley vertretene Ansatz in den geistesgeschichtlichen und theologischen Problemhorizont eingeordnet werden soll. 3.1 Der skeptizistische Grundtyp der Interpretation Ich nenne den ersten Grundtyp den skeptizistischen, nicht weil er sich jeder supranaturalistischen Erklärung gegenüber skeptisch verhält, sondern weil er dem Wahrnehmungsvermögen der Beteiligten überhaupt misstraut und die beschriebenen Phänomene auf willentliche menschliche Täuschung zurückführt. Es wird also konkret zu plausibilisieren versucht, dass hinter den von den Angehörigen des Wesley-Haushalts beschriebenen Phänomenen eine einzelne Person bzw. eine Gruppe von Personen steht, die mit der Erzeugung der Phänomene eine bestimmte Absicht verband und deren Strategie offenkundig darin bestand, den wahren Verursacher der Ereignisse im Dunkeln zu lassen. Die Anwendung des skeptizistischen Erklärungsansatzes auf den Einzelfall führt allerdings nicht notwendig zur Übereinstimmung im Ergebnis, denn in der Regel – und das ist im Fall „Epworth“ nicht anders – sind es eine ganze Reihe von Personen, die den Verdacht auf sich ziehen, die verborgenen Drahtzieher hinter den in Frage stehenden Ereignissen zu sein. Im Fall der „Epworth“-Phänomene sind es konkret drei Personen bzw. Personengruppen, die der bewussten Täuschung beschuldigt worden sind. Joseph Priestley (1733–1796) veröffentlichte 1791, also im Todesjahr John Wesleys, nicht nur als erster die ihm von Reverend Badcock übergebenen Familienbriefe der Wesleys, unter denen sich auch die auf die Ereignisse des Winters 1716/17 Bezug nehmenden Briefe und Aufzeichnungen befanden, er stellt vielmehr bereits im Vorwort des Buches die These auf, das Dienstpersonal sei als der wahrscheinlichste Urheber der Vorkommnisse anzusehen. Für seine These selbst hat Priestley nur einen einzigen Satz üb38 rig; mehr Raum gibt er der für ihn axiomatischen Überzeugung, dass jede

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„What appears most probable at this distance of time, in the present case, is that it was a trick of the servants, assisted by some of the neighbors, and that nothing was meant by it,

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übernatürliche Einwirkung auf den menschlichen Geist ausgeschlossen ist.39 Ein übernatürlicher Erklärungsansatz scheidet daher schon von vornherein aus, woran auch die gute Bezeugung der Ereignisse40 und der aufrichtige Charakter des – wie Priestley klagt, leider – zum „Enthusiasmus“ neigenden John Wesleys nichts zu ändern vermögen.41 Priestleys Verzicht auf jegliche Begründung für seine Schuldzuweisung und die seinen weltanschaulichen Voraussetzungen einwohnende Wirklichkeitsreduktion nehmen seiner Behauptung die notwendige tragfähige Plausibilität.42 Priestleys skeptizistisches Statement bedeutete jedoch nicht das Ende für diesen Erklärungsansatz, sondern dürfte eher als der Auftakt für die Entwicklung eines jegliche metaphysische Erklärung zurückweisenden Argumentationsschemas gelten. Was wechselte, waren lediglich die als Verursacher der „Epworth“-Phänomene in Verdacht stehenden Personen. Im Abstand von gut einhundert Jahren fanden zwei skeptizistische Theorien Widerhall, aber auch Widerstand. Beide Theorien entstanden in den Reihen der 1882 in England gegründeten renommierten Society for Psychical Research (SPR), die sich die Untersuchung „paranormaler“ Phänomene auf solider wissenschaftlicher Grundlage zur Aufgabe gemacht hatte und auf der gemeinsamen Basis der Beachtung wissenschaftlicher Grundregeln Vertreter unterschiedlicher weltanschaulicher Überzeugungen vereinte. Zum entschieden „skeptizistischen“ Flügel der SPR gehörte Frank Podmore (1856–1910), Sohn eines anglikanischen Geistlichen, dessen ganzes Bemühen darauf zielte, die 43 natürlichen Ursachen paranormaler Phänomene nachzuweisen. Podmore schloss sich ab 1899 der 1866 bereits von George Salmon vorgetragenen

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besides puzzling the family, and amusing themselves“, Priestley, Letters [wie Anm. 15], S. xiv. Vgl. ebd. [wie Anm. 15], S. ix. Priestley verweist auf seine diesbezügliche Argumentation in der Schrift Discourse on super-natural Influence. Dies, so Priestley, „is perhabs the best authenticated, and the best told story of the kind, that is any where extant“, ebd. [wie Anm. 15], S. xii. Wesley, so schreibt Priestley, „appears to have been unquestionably an honest man, whose sole object it was to secure his own salvation, and promote that of others, though he will appear to have been strongly tinctured with enthusiasm, from the effect of false notions of religion very early imbibed“, ebd. [wie Anm. 15], S. iv. Zu Priestleys Überzeugungen vgl. Erwin Hiebert, The Integration of Revealed Religion and Scientific Materialism in the Thought of Joseph Priestley. In: Kieft, Lester /Willeford, Bennett (Hrsg.), Joseph Priestley. Scientist, Theologian, and Metaphysician. A Symposium Celebrating the Two Hundreth Anniversary of the Discovery of the Oxygen by Joseph Priestley in 1774, London 1980, S. 27–61. Zu Frank Podmore und seiner Mitarbeit in der SPR vgl. Oppenheim, Janet, The other world. Spiritualism and psychical research in England, 1850–1914, Cambridge 1985.

Grundtypen der Interpretation der „Epworth“-Phänomene

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Auffassung an,44 Hetty Wesley, die zum Zeitpunkt der Ereignisse neunzehnjährige Tochter der Eheleute Samuel und Susanna Wesley, stecke hinter den mysteriösen Vorkommnissen im Pfarrhaus von Epworth.45 Podmore zweifelt zunächst die prinzipielle Glaubwürdigkeit der „Epworth“-Überlieferung an und kommt auf der Basis einer kritischen historischen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass schlicht die Beweise dafür fehlten, in Epworth habe sich etwas auf natürlichem Wege Unerklärliches ereignet.46 Viel Phantasie sei bei der Abfassung der Berichte im Spiel gewesen; in dem wenigen, was in den frühesten Berichten von 1717 als selbsterlebt geschildert wird, reduziere sich das paranormale Element auf ein Minimum.47 Für die nach solcherart kritischer Prüfung noch verbleibenden ungewöhnlichen Phänomene ergibt sich Podmore zufolge, dass Hetty sie verursachte, genauer noch: „that she caused them deliberately: and that she caused them by the exertion of her proper muscular powers, without assistance from disembodied spirits […] or other supernormal supplement“.48 Podmores umfangreiche Untersuchungen paranormaler Phänomene ergaben, dass hinter jeder Poltergeistgeschichte ein „naughty little girl“ stecke, und als dieses kleine ungezogene Mädchen identifiziert er im „Epworth“-Fall die neunzehnjährige Hetty. Er verweist zum einen ganz allgemein auf Beweise, die zeigten, dass in einigen

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Salmon, Provost des Trinity College Dublin/Irland, veröffentlichte seine Überlegungen im Fortnightly Review 3 (1865/66), S. 72ff. Leider war mir diese Ausgabe der Zeitschrift nicht zugänglich. Vgl. Frank Podmore, Clairvoyance and Poltergeist. In: Journal of the Society for Psychical Research 9 (1899/1900), S. 37–45, bes. 40ff; ders., Spiritualism [wie Anm. 13], S. 32–43. Dabei legt Podmore den Beweis-Begriff extrem hoch an: „We have … no evidence (and by ,no evidence‘ I mean no good evidence: and by ,good evidence‘ I mean evidence from competent witnesses, at first hand, and written down within a few hours [sic!!] of the events) for anything having been done which could not have been done by a girl or a boy of slightly more than avarage naughtiness“, Journal of the Society for Psychical Research 9 (1899/1900), S. 94. „[T]he Wesley case indicates pretty clearly that the main reason for the apparently inexplicable element in these narratives is the defect of the evidence. When we have only second-hand accounts, or accounts written down months or years after the events, [ …] or accounts from uneducated or irresponsible persons […], we find an abundance of marvellous incidents; when, as here, we have almost contemporary accounts at first hand from sober-minded witnesses, the statement of the marvellous is reduced to a minimum. But the peculiarly instructive feature of the Wesley case is that we can see how the witnesses, whilst in the earlier letters they narrate of their own personal experience only comparatively tame and uninteresting episodes, allow their imaginations to embellish the experiences of other members of the household; and that the same embellishments, nine years later, are incorporated in the first-hand accounts as genuine items of personal experience“, Spiritualism [wie Anm. 13], S. 39f. Journal of the Society for Psychical Research 9 (1899/1900), S. 94.

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Fällen Kinder getrickst haben, zum anderen auf die den Berichten nach erkennbar besondere Verbindung zwischen Hetty und dem Auftreten der Phänomene.49 Vor diesem Hintergrund sei sehr zu bedauern, dass uns von Hetty kein Bericht der Geschehnisse vorliege.50 Kaum eine andere der im Blick auf die „Epworth“-Ereignisse vorgebrachten Theorien hat eine vergleichbar anhaltende und kritische Resonanz gefunden, was weniger mit der Theorie selber als mit der Prominenz ihres Urhebers und dessen publizistischem Eifer zu tun haben dürfte.51 So gelangt Harry Price zu dem knappen Urteil: „That girls have tricked is undeniable, but these cases are few compared with those in which girls have not tricked“.52 Auf Kritik stießen auch Podmores radikale Zweifel an der Glaubwürdigkeit der die Geschehnisse berichtenden Zeugen53 sowie seine moralisch abwertende Beurteilung Hettys, die ihn dazu bringe, sie der Urheberschaft der Vorkommnisse zu beschuldigen. Weiter wird kritisch darauf hingewiesen, wie unwahrscheinlich es sei, dass ein oder mehrere Kinder bzw. Jugendliche ihr Interesse an solchen Streichen über Monate hinweg aufrecht zu erhalten vermögen.54 Die zwei stärksten Einwände gegen Podmores Theorie haben in der publizierten Auseinandersetzung jedoch keinen Niederschlag gefunden.

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Vgl. die Belege in Journal of the Society for Psychical Research 9 (1899/1900), S. 44f. Für Salmon galt das Fehlen eines Berichts aus der Feder von Hetty als weiteres Indiz für ihre Urheberschaft. Demgegenüber hat Harry Price mit Recht darauf hingewiesen, dass Hetty anderen Berichten zufolge einen Brief schrieb, der aber offenkundig nicht erhalten ist; vgl. Poltergeist over England. Three Centuries of Mischievous Ghosts, London 1945, S. 109. Price bezieht sich auf Susanna (Suky) Wesleys Brief an ihren Bruder Samuel vom 27. März [1717], in dem es heißt: „I should farther satisfy you concerning the disturbances, but it is needless, because my sisters Emilia and Hetty write so particularly about it“, Southey, The Life [wie Anm. 17], S. 420. Allerdings gibt es zwei Wesley-Biographien methodistischer Autoren, die vorsichtig Sympathien für Salmons bzw. Podmores Theorie erkennen lassen; vgl. Telford, John, The Life of John Wesley, London 1899, S. 32; Green, Richard, John Wesley, Evangelist, London 1905, S. 39f. Vgl. auch Somerlott, Occultism [wie Anm. 32], S. 206: „In the long run it may be more rational to admit the existence of little known powers than to cling to the improbability that there is always a naughty child, thousands of mistaken witnesses, and deceit by men who have little to gain by lying and much to lose“. Vgl. Andrew Wallace, Mr. Podmore on Clairvoyance and Poltergeists. In: Journal of the Society for Psychical Research 9 (1899/1900), S. 22–30. Zum „Epworth“-Fall schreibt er: „Here again we find exceptionally good contemporary records by various members of the Wesley family, all far above the average in intelligence and freedom from superstition“, ebd., S. 25. Vgl. Hole, Christina, Haunted England. A Survey of English Ghost-Lore, London 1950, S. 168f.

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Zum einen ist auf einen logischen Widerspruch in Podmores Argumentation aufmerksam zu machen. Podmore begründet seine These wesentlich damit, dass die Quellen eine besondere Verbindung zwischen dem Auftreten der Phänome und Hetty belegten. Allerdings erfüllt kein einziger der von ihm hierfür angeführten Belege das von ihm selbst entschieden zur Geltung gebrachte Kriterium historischer Glaubwürdigkeit, da sämtliche Zitate, die diese Verbindung indizieren, Ausführungen dritter Personen und damit a priori unglaubwürdig sind.55 Nach Podmores eigenen Untersuchungstandards gibt es somit kein einziges historisch glaubwürdiges Zeugnis für eine besondere Verbindung zwischen Hetty und den ungewöhnlichen Vorgängen im Pfarrhaus! In der Sache selbst ist Podmores These mit der Tatsache zu konfrontieren, dass ein von Adam Clarke, einem Vertrauten der Wesley-Familie, veröffentlichter, aber in der gesamten Rezeptionsgeschichte nahezu durchgängig ignorierter,56 Brief Emily Wesleys belegt, dass „Old Jeffrey“ sie, Emily, noch um 1750 belästigte57 – also genau jenes Mitglied der Wesley-Familie, das dem „Geist“ seinen Namen gab. Eine den Verdacht auf Urheberschaft begründende besondere Verbindung der Phänome zu Hetty lässt sich im Licht dieses Briefes kaum behaupten; selbst ohne diesen Brief wäre die Quellenlage nicht so eindeutig, wie Podmore es darstellt.58 Auch Trevor Hall gehörte dem jeder supranaturalen Erklärung gegenüber skeptischen Lager der SPR an und suchte wie schon Podmore die Ursachen der „Epworth“-Phänomene im Bereich des Natürlichen aufzuspü-

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Die entsprechenden Hinweise stammen von Suky, Emily und John Wesley, wobei Podmore nicht davor zurückschreckt, als Beleg seiner These John Wesleys Bericht aus dem Jahr 1784 anzuführen, der weder nach Podmores noch nach den von mir angelegten Maßstäben historischer Kritik als verlässliche Darstellung zu bewerten ist! Ein Hinweis auf den Brief findet sich beim methodistischen Wesley-Biographen Telford, The Life [wie Anm. 51], S. 32. Doch auch Telford hält den Brief für keiner Würdigung wert. In dem auf den 16. Februar 1750 datierten Brief, Clarke nach eigener Aussage im Original vorliegend, heißt es wörtlich: „I want most sadly to see you, and talk some hours with you, as in times past. Some things are too hard for me; these I want you to solve. One doctrine of yours, and of many more, namely: no happiness can be found in any or all things in this world; that, as I have sixteen years of my own experience which lie flatly against it, I want to talk with you about it. Another thing is, that wonderful thing, called by us Jeffrey. You won’t laugh at me for being superstitious, if I tell you how certainly something calls on me against any extraordinary new affliction; but so little is known of the invisible world, that I, at least, am not able to judge whether it be a friendly or an evil spirit. I shall be glad to know from where you live – where you may be found…“, Memoirs [wie Anm. 17], S. 233. Podmores Argumentationsweise müsste mindestens auch Nancy in Verdacht bringen; vgl. Andrew Lang, The Wesley Ghost. In: Contemporary Review 68 (1895), S. 288–298.

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ren.59 Sein Vorgehen entspricht im Wesentlichen dem Podmores, allerdings kommt er zu einem anderen Ergebnis als dieser. Hall teilt Podmores Zweifel an der historischen Glaubwürdigkeit der „Epworth“-Überlieferung und stellt fest, dass sich die Vorkommnisse dem historischen Kern der Berichte nach auf einige ziemlich gewöhnliche auditive Phänomene reduzieren. Alle Schilderungen, die über das 1717 in der ersten Person Beschriebene hinausgehen, erwiesen sich als phantasievolle Zuwächse unterschiedlicher Überlieferungsstufen, die ihren Grund maßgeblich darin hätten, dass die WesleyTöchter intelligent, phantasiebegabt und vor allem von nahezu tödlicher 60 Langeweile geplagt waren. Die wenigen glaubwürdig überlieferten Geräusche, davon ist Hall überzeugt, lassen sich auf natürliche Ursachen außerhab des Hauses zurückführen. Das von verschiedenen Personen als Geräusch wie beim Drehen einer Windmühle beschriebene Geräusch bringt Hall mit zwei tatsächlich in der Nähe des Pfarrhauses nachweisbaren Windmühlen in Verbindung.61 Hall macht weiterhin darauf aufmerksam, dass die glaubwürdig bezeugten Geräusche überwiegend von außen kamen und nimmt an, dass die von den Wesleys als innerhalb des Hauses wahrgenommenen Geräusche lediglich falsch lokalisiert wurden. Folgt man dieser Überlegung, dann ergibt sich Hall zufolge als wahrscheinlichstes Szenario der Versuch einiger Bewohner von Epworth, durch eine Serie sichtbarer und unsichtbarer Angriffe den Pfarrer aus dem Ort zu vertreiben. Diese Überlegung plausibilisiert Hall mit Zitaten aus den zahlreich vorhandenen Belegen für die 62 Feindseligkeit der Epworther gegen Samuel Wesley und dessen Familie. Das zeitlich relativ klar abgrenzbare Auftreten der mysteriösen Vorkommnisse lässt Hall zufolge am ehesten die Interpretation zu, that the short outbreak of phenomena at Epworth was the final item in a pattern of connected incidents contrived by Wesley’s vindictive parishioners, with the object of frightening his children and making his life so unbearable that he would be forced to relinquish his appointment as Rector and leave the district.63

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Vgl. Hall, Light [wie Anm. 13], S. 14–25. Vgl. ebd. [wie Anm. 13], S. 18. Nach eigener Darstellung hat Hall die Überreste dieser zwei Windmühlen in Epworth selber in Augenschein genommen. Er verweist zudem auf das Deckblatt von Mordaunt Burrows’ Buch Epworth. The Home of the Wesleys, das das Bild einer „Windmühle in der Nähe des Pfarrhauses von Epworth“ zeigt; vgl. ebd. [wie Anm. 13], S. 19. Als Pfarrer Samuel Wesley … ins Schuldgefängnis geworfen wird, schreibt er an den Erzbischof: „One of my biggest concerns was my being forced to leave my poor lambs in the midst of so many wolves“, ebd. [wie Anm. 13], S. 21. Ebd. [wie Anm. 13], S. 22. Hall will nicht ausschließen, dass der Hausdiener Robin Brown mit den Verschwörern in Verbindung stand. Erst im Anschluss an dieses Fazit,

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Das Ende der Geschehnisse bedeutete dann das Aufgeben weiterer Versuche, das Ziel seiner Vertreibung zu erreichen.64 Halls Theorie bezieht ihre Stärke zum einen aus der kritischen Auswertung der Quellen, zum anderen aus der unabweisbaren Evidenz für das feindselige Verhältnis zwischen Pfarrer und Gemeinde. Anzuerkennen ist Halls Bemühen, sein mit Bedacht vorgetragenes Urteil am Gegenstand der Untersuchung, und nicht a priori durch weltanschauliche Vorentscheidungen, zu gewinnen. Allerdings arbeitet Hall mit einer Reihe von Zusatzhypothesen, die unzureichend begründet sind, sein abschließendes Urteil aber maßgeblich mitbestimmen. Verzichtet man auf Belege dafür, dass die von Hall identifizierten zwei Windmühlen in der Nähe des Pfarrhauses tatsäch65 lich schon 1716 standen, dann spricht gerade die Nähe der Windmühlen zum Pfarrhaus gegen den von Hall vermuteten Zusammenhang. Für die Wesley-Familie, die weder Zeit noch Kraft scheute, jede erkennbare natürliche Ursache auszuschließen, wäre es ein Leichtes gewesen, einen möglichen Zusammenhang zu den Windmühlen herzustellen, zumal das entsprechende Geräusch regelmäßig zwischen neun und zehn Uhr abends zu hören war. Hall unterstellt zudem, dass einerseits alle Mitglieder des Haushalts die Außengeräusche korrekt lokalisierten, dass sie sich andererseits alle über die innerhalb des Hauses auftretenden Geräusche irrten. Dies aber ist reine Spekulation, die in den Quellen keinen Anhalt findet. Halls These steht und fällt schließlich mit der Frage, ob die Feindseligkeiten gegen die Wesleys 66 tatsächlich 1717 endeten. Dies aber ist keinesfalls sicher. Im unmittelbaren Vergleich besitzt Halls Theorie gleichwohl eine solidere Basis als Priestleys und Podmores Erklärungen.

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doch sicherlich im Sinne eines weiteren Belegs, zitiert Hall einen bei Adam Clarke (s. u.) abgedruckten Brief, der den Versuch einer hausfremden Person bezeugt, über die Wasserleitung in das Haus einzudringen und dabei von der Magd entdeckt und mit einer Axt möglicherweise tödlich verletzt wurde; vgl. ebd., S. 22. Adam Clarke selber druckte den Brief ohne weiteren Kommentar und lediglich mit dem Hinweis versehen, dass der Brief zwar durch glaubwürdige Personen übermittelt wurde, eine authentische Quelle sich jedoch nicht hat herausfinden lassen; vgl. Clarke, Memoirs [wie Anm. 17], S. 234. Hall stellt diese Unsicherheit in Rechnung, wenn er den Brief lediglich als weiteren, für das Urteil nicht ausschlaggebenden Beleg anführt. Hall, Light [wie Anm. 13], S. 23. Das Bild, auf das Hall verweist, ist ein Foto und beweist, wenn überhaupt, lediglich, dass in den 1930er Jahren eine Windmühle in der Nähe des Pfarrhauses stand. Vgl. Rack, Henry, Reasonable Enthusiast. John Wesley and the Rise of Methodism, 2. Aufl. Nashville 1992, S. 569 Anm. 3. Rack verweist für bis in die Jahre 1718/19 dauernde Angriffe auf ein unveröffentlichtes Manuskript von Alan Keighley.

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3.2 Der physikalische Grundtyp der Interpretation Der zweite hier zu nennende Grundtyp ist der physikalische, hier so bezeichnet, weil er die Ursachen nicht im Bereich menschlicher Bewusstseinsleistungen, sondern im Bereich allgemein geltender physikalischer Gesetzmäßigkeiten sucht. Auch diese Theorie ist – und zwar im Jahr 1955 – durch einen mit der Society for Psychical Research verbundenen Wissenschaftler entwickelt worden, nämlich durch G. W. Lambert. Nach Jahrzehnten des Versuchs, psychologische Faktoren als ursächlich für sogenannte „Poltergeist“Phänomene auszuweisen, muss Lambert zufolge ganz neu begonnen werden, und zwar unter Anerkennung der Tatsache, „that there is no positive evidence 67 that the phenomena in question are due to any kind of psychic agency.“ Die Untersuchung von 54 ausgewählten „Poltergeist“-Geschichten lässt seines Erachtens vielmehr physikalische Ursachen vermuten, die mit dem natürlichen Element Wasser in Verbindung stehen müssen. Für diese These verweist Lambert auf statistische Signifikanzen hinsichtlich der Nähe von „Spukhäusern“ zum Meer einerseits und dem Winter als bevorzugter Jahreszeit andererseits. So ereigneten sich fast die Hälfte der 54 von ihm untersuchten Fälle an Orten, die weniger als drei Meilen vom Meer bzw. von unter Einfluss des Gezeitenwechsels stehenden Gewässern entfernt liegen; 27 von 33 Fällen, in denen sich das Datum feststellen ließ, begannen in der feuchten bzw. winterlichen Jahreszeit. Die einzige Kraft, die das vermag, ist Lambert zufolge Wasser, „and as the water has never been seen actually ,at work‘, it must be moving in an unsuspected subterranean stream underneath the building that 68 is effected“. Diese unterirdischen Ströme ergössen ihr Wasser normalerweise in Oberflächengewässer, die oberhalb oder auch unterhalb des Meeresspiegels liegen, sofern es sich nicht um das Meer selber handelt. Seien diese Ausgänge blockiert und drücken große Wassermassen (z. B. infolge von starken Niederschlägen) nach unten, dann entlade sich der Druck entlang der Wände der unterirdischen Ströme gelegentlich mit solcher Heftigkeit, dass davon ganze Häuser bewegt würden. Steige der unterirdische Wasserspiegel durch kontinuierlichen Regen an, dann genüge schon ein kurzer, aber heftiger Regenschauer, um die in den „Poltergeist“-Geschichten beschriebenen Phänomene zu erzeugen. Entsprechende Wetterbedingungen kennzeichnen eher die winterlich-feuchte Jahreszeit. Ein fester zeitlicher Zusammenhang zwischen Regenwetter und „Poltergeist“-Phänomenen ließe sich jedoch nicht zeigen, da die Dauer bis zum Eintreten der durch das 67 68

G. W. Lambert, Poltergeists. A Physical Theory. In: Journal of the Society for Psychical Research 38 (1955), S. 49–71. Ebd. [wie Anm. 67], S. 51.

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Wasser ausgelösten Effekte von der Durchlässigkeit der Gesteinsschichten in der jeweiligen Gegend abhängig sei. Allerdings ist nach Lambert zu erwarten, dass die hydraulischen Effekte unterirdisch angestauten Wassers in Meeresnähe mit einer gewissen Periodizität auftreten, da hier die Wirkung der Gezeiten hinzukommt. Mit spürbaren Oberflächenwirkungen sei jedoch nur dann zu rechnen, wenn der Wasserhochstand des Meeres mit heftigen Regenfällen zusammentrifft. Obwohl Lambert zur Exemplifizierung seiner Theorie andere Fälle als Epworth heranzieht, soll hier zumindest vermerkt werden, dass die „Epworth“-Phänomene zumindest die von Lambert genannte jahreszeitliche Signifikanz aufweisen, insofern die dortigen Geschehnisse in der Tat Anfang Dezember begannen (allerdings zwischen Ende Dezember und 69 Ende Januar ausblieben). Eine Reihe denkbarer Einwände vorwegnehmend, geht Lambert direkt auf die Geschehnisse in Epworth ein. Müssten nicht, so ließe sich kritisch fragen, die Erdbewegungen für den Menschen wahrnehmbar sein, wenn sich das ganze Haus bewegt? Dies sollte nach Lambert der Fall sein, doch würden die Beteiligten oft durch ihre Wahrnehmung getäuscht. So berichtet Samuel Wesley, er sei insgesamt dreimal von unsichtbarer Hand gestoßen worden (s. o.), tatsächlich jedoch bewegten sich die Gegenstände auf ihn zu.70 Lambert lässt auch das Argument nicht gelten, derartige Erschütterungen müssten Schäden am Haus hinterlassen; Erlebnisse aus der Zeit des 2. Weltkrieges zeigten, dass dies nicht unbedingt der Fall sein müsse. Am Ende seiner Ausführungen bleibt Lambert gleichwohl zurückhaltend mit absoluten Wertungen. Er gesteht zu, dass sich nicht alle Fälle mit der vorgetragenen Theorie erklären ließen: „The resources of Nature in this field cannot be covered by a single generalization“.71 Zudem schließe die Wirksamkeit primärer physikalischer Faktoren nicht die Wirkung sekundärer psychologischer Faktoren aus.72

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Vom Meer liegt Epworth deutlich weiter als drei Meilen entfernt. Den Namen „Isle of Axholme“ verdankte die Gegend um Epworth dem Umstand, dass es sich hier weitgehend um Marschland handelte und Epworth daher in der feuchten Jahreszeit fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten war. „His mind rejected the idea that the desk, the door, and the door-frame were moving towards him, and not he towards them, and invented the invisible power to account for lurches for which he knew he was not responsible“, ebd. [wie Anm. 67], S. 60. Ebd. [wie Anm. 67], S. 64. Konkret stellt er fest, dass zum Beispiel die wabernde Flugbewegung von Objekten nicht dem physikalischen Vorgang selbst, sondern der Wahrnehmung des Beobachters geschuldet ist, der sich mit dem Boden, auf dem er steht, auf und ab bewegt; vgl. ebd. [wie Anm. 67], S. 62.

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Auch Lambert versucht eine Theorie zu entwickeln, die sich zwar aus den von ihm mitgebrachten weltanschaulichen Überzeugungen ergibt, vor allem aber dem empirischen Befund gerecht zu werden versucht. Um den von ihm herausgearbeiteten Überlegungen Nachdruck zu verleihen, müssten die vorgetragenen Ergebnisse sich in einer Untersuchung mit deutlich breiterer Datenbasis bestätigt werden. Gleichwohl sind die aufgezeigten statistischen Signifikanzen nicht von der Hand zu weisen. Zu fragen wäre allerdings, warum Lambert sich so einseitig auf die physikalische Wirkung des Wassers festlegt. Nicht einmal die Hälfte der untersuchten Orte liegt weniger als drei Meilen vom Meer entfernt, während sich eine sehr klare Signifikanz im Hinblick auf winterlich-feuchtes Wetter zeigen lässt. Was aber Orte im Binnen- und im Küstenland während der Winterzeit verbindet, ist der niedrige Stand der Sonne – ein Umstand, der in einer „physikalischen“ Theorie vielleicht der Betrachtung wert wäre. Vor allem aber wirft Lamberts Theorie die Frage auf, warum die von ihm beschriebenen natürlichen Prozesse die als Spuk wahrgenommenen Phänomene auf einen konkreten Ort bezogen nur als die absolute Ausnahme und nicht mit größerer Häufigkeit bewirken. 3.3 Der psychologische Grundtyp der Interpretation Während Lambert mögliche psychologische Faktoren in ihrer theoretischen Wertigkeit als sekundär einstufte, ohne sie damit auszuschließen, rücken die auf der Ebene des menschlichen Bewusstseins (oder auch Unterbewusstseins) wirkenden Faktoren im psychologischen Grundtyp der Interpretation in den Vordergrund. Auch hier sind andere, zum Beispiel physikalische Faktoren, nicht ausgeschlossen – Täuschung und Betrug schon gar nicht –, als entscheidend für den Erklärungsansatz wird jedoch das psychologisch zu entschlüsselnde menschliche Wahrnehmungsvermögen erachtet. Vernachlässigt man hier die neuropathologische Erklärung von Samuel Taylor Cole73 ridge, dann ist es vor allem die auf Hereward Carrington zurückgehende – von mir so bezeichnete – Adoleszenztheorie, beschrieben unter anderem von Harry Price (1881–1949) in seinem 1945 erschienenen Buch Poltergeist 73

Die 1820 in erster Auflage erschienene Wesley-Biographie Robert Southeys wurde nach dessen Tod von seinem Sohn Charles Cutbert Southey, der zeitweilig mit Coleridge befreundet war, herausgegeben. Dabei wurden unter den Text Anmerkungen von Coleridge gesetzt, die an entsprechender Stelle dessen Überzeugung erkennen lassen, dass sich die „Epworth“-Phänomene am überzeugendsten durch eine ansteckende Nervenkrankheit erklären lassen, wofür er auf die zeitversetzte und unterschiedlich beschriebene Wahrnehmung der Beteiligten verweist; vgl. Southey, The Life [wie Anm. 17], S. 64.

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over England, die unsere Aufmerksamkeit verdient. Der Begriff „Poltergeist“, im Deutschen bereits bei Luther nachweisbar, fand erst Mitte des 19. Jahrhunderts Eingang in die englische Sprache74 und wurde auf paranormale Phänomene angewendet, die folgende Kennzeichen aufweisen: a) Klopfgeräusche oder andere Geräusche ohne erkennbare natürliche Ursache, b) unkontrollierte Bewegungen kleinerer Objekte, auch entgegen den Gesetzen der Schwerkraft, c) Verschwinden kleiner Objekte und späteres Wiederauffinden derselben an unerwarteten versteckten Plätzen, d) gelegentliche größere Unglücke, wie zum Beispiel Brandstiftung.75 Im Übrigen scheinen Poltergeister eine besondere Affinität zu Geistlichen bzw. Pfarrhäusern zu haben.76 Die wissenschaftliche Verwendung des Begriffs „Poltergeist“ präjudizierte keine bestimmte Auffassung bezüglich der Verursachung der Phänomene, wenn diese auch in der Regel als intrapsychisch induziert aufgefasst wurden.77 Vielmehr schien der Begriff geeignet, solche Phänomene zusammenzufassen, die für gewöhnlich nicht bösartig oder gefährlich, sondern am ehesten noch ärgerlich und von der Art sind, wie kleine Kinder sie zeigen, wenn sie Erwachsene zu ärgern versuchen.78 Bei der im ganzen vorsichtigen Deutung des von ihm aufbereiteten Materials zu Poltergeistphänomenen hebt Harry Price vor allem auf die seines Erachtens wissenschaftlich erhärtete Verbindung zwischen Poltergeistphänomenen und der Gegenwart frühpubertierender Mädchen ab,79 die von Poltergeistern gegenüber Jungen im Verhältnis 95:5 bevorzugt würden. Nicht zufällig seien im 16. und 17. Jahrhundert vor allem (zumeist junge) Frauen der Hexerei beschuldigt worden. Im Unterschied zu Podmore, der den bereits von ihm erkannten Zusammenhang auf bewusste Täuschung zurückführte, vermutete Price einen (entwicklungs)psychologischen Zusammenhang zwischen Poltergeist-Phänomenen und jungen Frauen – ein Zusammenhang, der letzteren eben keinesfalls bewusst

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Harry Price verweist auf die Verwendung des Wortes in Catherine Crowes Buch The Night-Side auf Nature; or, Ghosts and Ghost-Seers (1848). Eine breite Anwendung fand das Wort nach Price jedoch erst in den späten 1920er Jahren. Vgl. Artikel Poltergeist. In: Robbins, Rossell Hope, The Encyclopedia of Witchcraft and Demonology, New York 1959, S. 388–390. Vgl. Somerlott, Occultism [wie Anm. 32], S. 171ff. So ebd. [wie Anm. 32], S. 222: „The theory of a secondary personality that is somehow discarnate yet potent fully accounts for all the more sensational ,hauntings‘“. Vgl. Poltergeist [wie Anm. 75], S. 390. Andrew Tackaburry macht darauf aufmerksam, dass Poltergeister sich in der Regel hören, aber kaum sehen lassen, „reversing the maxim that children should be seen but not heard“, Famous Ghosts, Phantoms, and Poltergeist for the Millions, New York 1967, S. 59. Zum Folgenden vgl. vor allem das Kapitel „Can we explain the Poltergeist“ in seinem Buch Poltergeist over England [wie Anm. 50].

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sein muss, um wirksam zu werden. Price zufolge muss es im frühpubertierenden Mädchen etwas geben, was diese zu einem „Poltergeist-attractor“ macht, und dieses „etwas“ ist unterschiedlichen Studien zufolge die sexuelle Reifung. Die im Körper des heranwachsenden Mädchens freigesetzten sexuellen Energien, so erklärte Hereward Carrington den Zusammenhang, instead of taking their normal course, were somehow turned into another channel, at such times, and were externalised beyond the limits of the body – producing the manifestations in question. The spontaneous outburst of these phenomena seems to be associated with the awakening of the sex energies at 80 that time which find this curious method of externalisation.

Andere Untersuchungen zeigten, so Price, dass die Affinität der betroffenen Frau zu Poltergeistphänomenen mit dem Ausgang der Pubertät, gelegentlich auch mit dem Verlust der Virginität, endet. Price, der den Ereignissen in Epworth in seinem Buch ein eigenes Kapitel widmete, war weise genug, seine Theorie im Blick auf Hetty Wesley nicht zur Anwendung zu bringen. Ein bereits neunzehnjähriges Mädchen lässt sich nicht ohne Weiteres in diese Theorie einbauen.81 Den Schritt von der allgemeinen Theorie zur konkreten Anwendung auf die Geschehnisse in Epworth vollzog erst – relativ zeitgleich – Sacheverell Sitwell, der im Übrigen die Theorie noch um eine Facette erweiterte. Sitwell nimmt an, dass nicht nur der kritische Lebensabschnitt der frühen Pubertät, sondern auch die Zeit einer Schwangerschaft „bevorzugte Spielfelder“ des Poltergeists sind. Sitwell scheint davon auszugehen, dass Hetty zum Zeitpunkt der Geschehnisse möglicherweise erst dreizehn Jahre alt war, sich zumindest ihr Alter nicht genau feststellen 82 ließe (was keinesfalls zutrifft), dass fernerhin Susanna Wesley, die Frau des Pfarrers, zu eben dieser Zeit schwanger gewesen sei (was nicht der Fall war) und gelangt so zu dem Schluss, dass the mother and daughter [Hetty] together were responsible for these extraordinary happenings. Not as deliberate accomplices, but in subconscious intention, working in with each other, without surface knowledge.83

Sitwell geht sogar noch einen Schritt weiter, als es die von Price vertretene Adoleszenztheorie verlangt. Er hält es für möglich, dass Hetty nicht nur das 80 81

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Carrington, Hereward, The Story of Psychic Science, London 1930, S. 146. Price verzichtet auf eine Deutung der „Epworth“-Phänomene, lässt allerdings erkennen, dass er die christlich-spiritualistische Erklärung der Wesleys, also die Annahme, hier seien Geister oder gar der Teufel am Werk, für nicht mehr zeitgemäß hält. Unsicher sind lediglich Tag und Monat, nicht jedoch ihr Geburtsjahr; vgl. Stevenson, Memorials [wie Anm. 18], S. 298. Sitwell, Poltergeists [wie Anm. 17], S. 82.

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Medium des Poltergeistes war, sondern der Poltergeist selber – was immer das genau heißen mag –, insofern in ihr die Erfahrungen der zeitweiligen Trennung der Eltern 1701/02 nachwirkten – ein Erklärungsansatz, der in hohem Maße spekulativ ist und zudem, wie angedeutet, auf fehlerhaften Datierungen beruht.84 Der Erklärungsansatz von Harry Price weist eine ganze Reihe von Vorzügen auf. Er unterscheidet konsequent zwischen empirischen und nichtempirischen Wirkungszusammenhängen. Die Ursache von Poltergeistphänomenen ist Price zufolge mit empirisch arbeitenden wissenschaftlichen Methoden nicht erfassbar (auch wenn er Zweifel an der Wirksamkeit von Geistern durchblicken lässt). Was sich empirisch ausweisen lässt, sind Wirkungszusammenhänge zwischen Poltergeistphänomenen und bestimmten Medien. Die (entwicklungs-)psychologische Theorie von Price vermag eine große Fülle empirischen Materials zu erklären, wobei Prices Zurückhaltung, im Fall Epworth ein Medium zu identifizieren, eher für seine Theorie als 85 gegen sie spricht. Vor allem überzeugt an Prices Theorie ihre Anschlussfähigkeit für andere Erklärungsansätze, die er positiv aufzunehmen bereit ist.86 3.4 Der spiritistische Grundtyp der Interpretation Von allen bislang vorgestellten Erklärungsansätzen unterscheidet sich der spiritistische Interpretationstyp dadurch, dass er die Ursache von Poltergeistphänomenen im supranaturalen Bereich sucht, das Übernatürliche bzw. 84

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Sitwell vermutet, dass Hetty das zum Zeitpunkt der Trennung (s. o. Anmerkung 20) von Susanna Wesley ausgetragene Kind war und sich die Erfahrung der Trennung von der Mutter auf das ungeborene Kind übertrug. Diese Vermutung steht jedoch im Widerspruch zu der Behauptung, Hettys Alter lasse sich nicht sicher feststellen. Sitwells ungenaue bzw. rätselhafte Datierung von Hettys Geburt sowie seine Darstellung, wonach die Kinder dem von Mitgliedern des Haushalts gesehenen kleinen Tier (also dem Dachs oder dem Hasen) den Namen „Old Jeffrey“ gaben (ebd. [wie Anm. 17], S. 85.90), legen nahe, dass Sitwell die Quellen nicht gründlich genug studiert hat. Immerhin lebten 1716/17 sieben Töchter im Hause der Wesleys, und da sich nicht alle Geburtsdaten sicher eruieren lassen, ist die Anwesenheit eines sich im Alter der Frühpubertät befindlichen Mädchens nicht ausgeschlossen. Allerdings verzichtet Price mit Recht auf solcherart ungesicherte Spekulationen. So hält Price unterschiedliche Quellen, aus denen der Poltergeist seine Energie bezieht, für möglich. Neben dem pubertierenden Mädchen nennt er den Energiegewinn, wie er durch das Abkühlen von Luft bzw. anderen Körpern oder beim Ablegen eines Gegenstandes auf einem niedrigeren Niveau entsteht. Ferner zieht er John Layards These in Erwägung, wonach „Poltergeists are not chance phenomena but have a definite purpose, and […] this purpose, like all psychological phenomena (…) is a curative one, having for its object the resolution of a psychological conflict“, John Layard, Psi Phenomena and Poltergeists. In: Proceedings of the Society for Psychical Research 47 (1944), S. 237–247.

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Paranormale aber nicht durch ein Glaubenscredo gegen kritische Einwände zu „immunisieren“ versucht, sondern dem Bereich wissenschaftlicher Erforschung und Erklärung zuordnet. Die Grundannahme des Spiritismus besteht in der Überzeugung, dass dem irdischen Leben ein bewusstes Fortexistieren in geistigen Sphären folgt, von denen aus der Kontakt mit den auf der Erde lebenden Menschen möglich ist. Der Nachweis (und die Praktik) des Kommunizierens von Geistern diesseits und jenseits des Todes, in der Regel ermöglicht durch Medien, steht im Zentrum spiritistischen Interesses. Obwohl zwischen dem nach eigenem Bekenntnis christlichen und dem 87 nichtchristlichen Spiritismus unterschieden werden muss, ist hier nur der „christliche“ Spiritismus von Interesse, denn das Interesse an den „Epworth“Phänomenen beschränkte sich innerhalb des Spiritismus auf diese Kreise. Die Berichte über die Geschehnisse in Epworth erfreuten sich großer Beliebtheit und wurden wiederholt in spiritistischen Zeitschriften abgedruckt.88 Obwohl die Berichte kaum ausführlich kommentiert oder interpretiert werden, wird die Grundrichtung der spiritistischen Interpretation deutlich. Weil Samuel Wesley nicht die (erst 1848 durch die Fox-Schwestern) entdeckten Methoden der Kommunikation mit den Geistern kannte,89 scheiterte der – den Berichten zufolge mehrfache! – Versuch der Kontaktaufnahme. Vermerkt wird auch das relative Desinteresse der Wesleys, das Wesen des sie heimsuchenden „Geistes“ zu verstehen.90 Als der eigentliche Anknüpfungspunkt für das spiritistische Interesse an der Geschichte erweist sich die – nur durch genaues Quellenstudium zugängliche und daher selbst von Spiritisten zumeist übersehene – Überlegung Susanna Wesleys, die Phänomene könnten in Verbindung mit dem möglichen Tod ihres in Indien lebenden Bruders stehen. Für diese These spräche der zeitweilige Charakter der ungewöhnlichen Vorkommnisse, denn da die Wesleys offensichtlich nicht über die zur Kontaktaufnahme mit dem in der Ferne Verstorbenen notwendigen Kenntnisse verfügten, scheint klar, dass 87 88

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Vgl. Oppenheim, The other world [wie Anm. 43], S. 59–110. Vgl. The Epworth Ghost. In: Light 13 (1893), S. 381; T. M. Jarris, Some Old-Time Ghost Stories. In: Light 44 (1924), S. 482f.; John Wesley’s Own Story of the Psychic Rappings in his Home. In: Psychic News (8. Januar 1944), S. 6f. Vgl. weiter C. A. Paige, Methodism’s Most Famous Ghost. In: True Mystic Science 1 (1939), S. 146.162f.; Ralph Shirley, The Wesley Family and the Epworth Phenomena. In: Light 63 (1943), S. 369f.374. Vgl. Weisberg, Barbara,Talking to the Dead. Kate and Maggie Fox and the Rise of Spiritualism, San Francisco 2004. „And we wonder what meaning people like the Wesleys attached to a ghost. There was clearly no hesitation in accepting its presence, and it seems certain that no serious attempt was made to investigate its nature. To them it was apparently a ghost, and there was an end of it“, The Epworth Ghost [wie Anm. 88], S. 381.

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dieser den Versuch nach einiger Zeit verzweifelt aufgab, so dass auch die Phänomene aufhörten.91 Eine umfassende kritische Würdigung des spiritistischen Erklärungsansatzes ist hier weder möglich noch notwendig. Es genügt, festzustellen, dass Spiritisten die Geschehnisse in Epworth als Teil der Vorgeschichte des modernen Spiritismus betrachten. Spiritisten machen geltend, dass es für die Kontaktaufnahme mit den Geistern Verstorbener nicht nur der Überzeugung von einer Fortexistenz der Verstorbenen bedarf, sondern auch des Wissens um die richtige Weise des Kommunizierens mit ihnen. Obwohl der spiritistische Grundtyp der Interpretation sich von den zuvor genannten Erklärungsansätzen dadurch unterscheidet, dass er die Ursache paranormaler Phänomene im (zwar wissenschaftlich beweisbaren, aber doch) übernatürlichen Bereich sucht, teilt er mit diesen Ansätzen eine gewisse apriorische Reduktion, insofern er psychologische oder physikalische Erklärungen ausschließt, vor allem aber dadurch, dass er die sich in den Manifestationen vernehmbare geistige Welt auf die Geister verstorbener Menschen eingrenzt und andere Möglichkeiten, wie das Wirken von Engeln und Dämonen, nicht in Betracht zieht. 3.5 Der christlich-spiritualistische Grundtyp der Interpretation Der von der Wesley-Familie selbst sowie vor allem von den frühesten methodistischen Wesley-Biographen vertretene Erklärungsansatz lässt sich am ehesten dem christlich-spiritualistischen Grundtyp der Interpretation zuordnen. Als christlich-spiritualistisch bezeichne ich eine Auffassung, die den Bereich des Natürlich-Sichtbaren umgeben und durchdrungen sieht von einer zwar geschaffenen, aber für gewöhnlich unsichtbaren Welt, in der geistige Aktzentren guten und bösen Wesens (Engel und Dämonen) sowie die der Leiblichkeit entnommenen, der Auferstehung und des Endgerichts harrenden Menschen unter der Herrschaft Gottes leben und wirken, was die grundsätzliche Möglichkeit ihrer Einwirkung auf den natürlich-sichtbaren Schöpfungsbereich einschließt. In diesen Grundannahmen unterscheidet sich die christlich-spiritualistische Weltsicht von der eines radikalen Monotheismus, der zwar am Glauben an den dreieinen Gott festhält, das biblische Zeugnis von den himmlischen „Mächten oder Gewalten“ (Kol 1,16) jedoch ablehnt. Im Verhältnis zu den bislang vorgestellten Grundtypen zeichnet sich der christlich-spiritualistische Erklärungsansatz vor allem durch seine starke Integrationsfähigkeit aus. Die Wirksamkeit psychologischer, physika91

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Shirley, The Wesley Family [wie Anm. 88], S. 374.

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lischer und anderer denkbarer Faktoren wird nicht a priori ausgeschlossen, wobei der skeptizistische Ansatz in Gestalt der Selbstkritik integriert wird: vieles ist vorstellbar, aber nicht alles ist sicher bestimmbar. Die hier in Umrissen skizzierte christlich-spiritualistische Weltsicht entspricht in ihren Grundzügen dem, was als der via media Anglicana bezeichnet werden kann, dem Samuel und später auch John Wesley folgten. Danach hat im Blick auf die unsichtbare Welt zu gelten: „to believe too little was atheism, too much was superstition“.92 Die Plausibilitätsstruktur dieses Ansatzes ergibt sich aus seiner Synthese von traditioneller Offenheit für das Übernatürliche und Unsichtbare sowie der modernen Skepsis gegenüber irrationalen Ableitungen und der Suche nach empirischer Begründung. Als „reasonable enthusiast“ (Henry Rack) war Wesley beides zugleich: „a philosophical sceptic“ und „a God-intoxicated man“.93 Mag sein lebenslanges Interesse an mysteriösen Vorkommnissen wie Geistererscheinungen, Wundern und Hexerei94 auch durch die Geschehnisse in Epworth 1716/17 verstärkt worden sein, als das wirklich treibende, hinter diesem Interesse stehende Motiv lässt sich bei Wesley, wie auch bei anderen anglikanischen Theologen seiner Zeit, das Bemühen erkennen, der Ausbreitung des Deismus zu wehren und das spiritualistische Weltbild der Bibel als unaufgebbares Offenbarungselement zu verteidigen: „the giving up witchcraft is, in effect, giving up the Bible“,95 und ein einziger glaubwürdig bezeugter Bericht über die Kommunikation zwischen Menschen und Geistern genüge, um die Festung des Deismus, Atheismus und Materialismus zum Einsturz zu bringen. Warum also, so fragt Wesley, sollten wir uns diese Waffe aus der Hand schlagen lassen?96 Wesley befand sich mit dieser Position inmitten der geisti-

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Vgl. Roy Porter, Witchcraft and Magic in Enlightenment, Romantic and Liberal Thought. In: Ankarloo, Bengt/Clark, Stuart (Hrsg.), Witchcraft and Magic in Europe. The Eighteenth and Nineteenth Centuries, Philadelphia 1999, S. 199. Collier, Frank, John Wesley among the Scientists, New York/Cincinnati/Chicago 1928, S. 286. Vgl. Ward, W. Reginald/Heitzenrater, Richard P. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 21: Journal and Diaries IV, Nashville 1992, S. 114ff–118.337.429–433, 467f; diess. (Hrsg), Bd. 22: Journal and Diaries V, Nashville 1993, S. 7.52f.96.135–146.237f.351.352ff.; diess. (Hrsg.) Bd. 23: Journal and Diaries VI, Nashville 1995, S. 103.108f.302–303f.426f.; diess. (Hrsg.), Bd. 24: Journals and Diaries VII, Nashville 2003, S. 69f.91f. John Wesley, Journal, 25. May 1768. In: Ward/Heitzenrater, WJW, Bd. 22 [wie Anm. 94], S. 135. Ebd. [wie Anm. 95]. Wesley liegt damit ganz auf der von dem anglikanischen Theologen Joseph Glanville (1636–1680) vorgezeichneten Linie; vgl. Sharpe, Instruments [wie Anm. 37], S. 235–255, bes. 244ff.

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gen Auseinandersetzungen seiner Zeit,97 die – wie die neuere Forschung gezeigt hat – viel zu komplex waren, als dass man die Überwindung des Hexenglaubens einlinig als Sieg der Vernunft über den Aberglauben oder der Wissenschaft über die Theologie interpretieren könnte,98 wobei Ian Bostridge vor allem auf eine stärkere Unterscheidung von Hexenverfolgung und Hexenglauben gedrängt und den politischen Kontext der Auseinandersetzungen um das offizielle Ende der Hexenverfolgung in England 1736 hervorgehoben hat.99 Wesleys Auffassung gegenüber dem Geheimnisvollen verortet ihn im Lager jener Theologen des 18. Jahrhunderts, die James Sharpe zutreffend so beschreibt: They saw no tension between their scientific work and their religious beliefs. Indeed, many of them, as they increased their knowledge of the universe, felt increasing awe as they deepened their comprehension of God’s creation. Scientifically, they were attached to what has been described as a ,moderate empiricism‘, to the notion that what might be termed ,moral‘ probability judgements were as likely to indicate the truth as were mathematical or what we would term ,scientific‘ ones. Above all, as was appropriate as the knowledge of the physical world increased in the later seventeenth century, they maintained a flexible and open-minded approach in which nothing, least of all the type of evidence of the spirit world advanced by Glanville and More, was rejected out of hand.100

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wie die Wesleys mit nahezu skeptischer Rationalität nach den natürlichen Ursachen der Phänomene suchen und zugleich supranaturale Deutungen von einem Angriff des Teufels bis hin zu Hexerei nicht auszuschließen bereit waren.101 John Wesley selbst war sich der Spannungen bewusst, die ein solcherart „synthetischer“ 97

Die ganze Wesley-Familie scheint am geistigen Ringen der Zeit teilgenommen zu haben. Dem ältesten Sohn Samuel Wesley zufolge können solch sonderliche Erscheinungen zwar Ungläubige nicht überzeugen, wohl aber diejenigen, die glauben, in ihrer Überzeugung bestärken; vgl. Southey, The Life [wie Anm. 17], S. 414. Und Emily Wesley schreibt 1717: „I am so far from being superstitious, that I was too much inclined to infidelity, so that I heartily rejoice at having such an opportunity of convincing myself, past doubt or scruple, of the existence of some beings besides those we see“, ebd., S. 418. 98 Vgl. Sharpe, Instruments [wie Anm. 37], S. 244–248; vgl. weiter Porter, Witchcraft [wie Anm. 92], S. 198. 99 Vgl. Bostridge, Ian, Witchcraft and Its Transformations C.1650–C.1750, Oxford 1997. 100 Sharpe, Instruments [wie Anm. 37], S. 248. 101 Der Verdacht auf Hexerei wurde 1717 konkret von Emily Wesley geäußert: „I believe it to be witchcraft, for these reasons. Above a year since, there was a disturbance at a town house near us, that was undoubtly witches; and if so near, why may they not reach us?“, Southey, The Life [wie Anm. 17], S. 420 (Letter from Miss Emily Wesley to her brother Samuel Wesley).

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Zugang mit sich brachte: „How hard is it to keep the middle way! Not to believe too little, or too much“.102 In Reaktion vor allem auf den Skeptizismus Priestleys insistierten die frühesten methodistischen Wesley-Biographen auf eine übernatürliche Deutung. So hält zwar Robert Southey die Dachs- bzw. Hasenerscheinungen für zweifelhaft, doch beeinträchtigten diese phantasievollen Zusätze „unwissender Personen“ nicht die Glaubwürdigkeit anderer Teile der Berichte, die auf dem Zeugnis „vieler intelligenter Zeugen“ beruhten.103 Southey lässt keinen Zweifel daran, dass es in der Bewertung dieser Geschehnisse letztlich um die Alternative von Glaube oder Unglaube geht: it would be end sufficient if sometimes one of those unhappy persons, who looking through the dim glass of infidelity, see nothing beyond this life, and the narrow sphere of mortal existence, should, from the well established truth of one such story (trifling and objectless as it might otherwise appear), be led to a conclusion that there are more things in heaven and earth than are dreamt of in their philosophy.104

Der bereits oben erwähnte Adam Clarke (1760–1832) fügt in seine Darstellung den Brief ein, aus dem die mindestens bis 1750 andauernde Verfolgung Emily Wesleys durch „Old Jeffrey“ hervorgeht, unterdrückt aber auch das Schreiben nicht, das den Versuch einer Person belegt, über die Wasserversorgung unbemerkt in das Pfarrhaus einzudringen.105 Priestley gegenüber hebt Clarke zum einen die Glaubwürdigkeit der Zeugen hervor und macht zum anderen auf vergleichbare (darunter selbst erlebte) Fälle aufmerksam. Unter allen vorgeschlagenen Deutungen hält Clark die von Susanna Wesley für am wahrscheinlichsten: vermutlich seien die Phänomene tatsächlich als Hinweise auf den Tod ihres Bruders in Indien zu verstehen; zumindest verschwand ihr Bruder plötzlich, ohne jemals wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben.106 Diese Neigung, sich klar auf eine übernatürlich-spiritualistische Deutung festzulegen, lässt sich bei den methodistischen Wesley-Biographen nach Southey und Clarke nicht mehr nachweisen. Zwar werden die Akzente unterschiedlich gesetzt, angefangen vom Festhalten an einer zumindest

102 John Wesley, Journal, 10. Dezember 1764. In: Ward/Heitzenrater, WJW, Bd. 21 [wie Anm. 94], S. 496. 103 Southey, The Life [wie Anm. 17], S. 67. 104 Ebd. [wie Anm. 17], S. 68. 105 Vgl. Clarke, Memoirs [wie Anm. 17], S. 232ff. 106 Vgl. ebd. [wie Anm. 17], S. 234.

Grundtypen der Interpretation der „Epworth“-Phänomene

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theoretischen Gültigkeit der spiritualistischen Deutung107 über expliziten Agnostizismus in dieser Frage108 bis hin zu deutlich erkennbarer Skepsis;109 der allen Darstellungen gemeinsame Zug besteht in dem Hinweis darauf, dass die Geschehnisse in Epworth einen tiefen Eindruck auf John machten und ihn zu einem lebenslangen Interesse am Geheimnisvollen disponierten.110 Hinter den meisten Darstellungen steht das Bemühen, den Anschluss an die wissenschaftliche, vor allem aber an die kritische theologische Diskussion zu wahren. Die Welt der Engel und Dämonen verschwindet, die Struktur der unsichtbaren Welt reduziert sich auf das Wesen und die Wirksamkeit Gott, wobei seine Möglichkeiten der unvermittelten Einwirkung auf die sichtbare Schöpfung mit zunehmender Zurückhaltung artikuliert werden.

4 Schlussüberlegungen Unsere Untersuchung hat zum einen ergeben, dass auch eine kritische historische Prüfung der „Epworth“-Überlieferung auf eine Reihe auch aus anderen Fällen bekannter „mysteriöser“ Phänomene führt. Dem Urteil verschiedener Autoren gerade auch neuerer Zeit, dass die Vorkommnisse in Epworth im Winter 1716/17 zu den am besten bezeugten ihrer Art gehören, kann zugestimmt werden. Aus der insgesamt sicheren Überlieferungslage folgt jedoch – unter den Bedingungen des neuzeitlichen Pluralismus kaum überraschend – keine Übereinstimmung, was die Erklärung der Phänomene selber angeht. Im Blick auf die fünf vorgestellten Grundtypen der Interpretation – den skeptizistischen, den psychologischen, den physikalischen, den spiritistischen und den christlich-spiritualistischen – hat sich keine streng historische Reihenfolge feststellen lassen, da die meisten Theorieansätze bis ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder Anhänger gefunden haben. Der Schwerpunkt der Darstellung lag daher auf einer systematischen Darstellung der Interpretationen. Dabei hat sich der skeptizistische Grundtyp der Interpretation mit seiner apriorischen Ablehnung alles Übernatürlichen als nicht 107 Vgl. Lunn, Arnold, John Wesley, London 1929, S. 40; Green, Mr. Wesley [wie Anm. 9], S. 55–59. 108 Vgl. Vulliamy, C. E., John Wesley, London 1931, S. 14. 109 Vgl. McConnell, Francis, John Wesley, London 1939, S. 15: „There is something pathetically tragic in that John, and his mother for that matter, seemed to bolster up their faith in the supernatural by these wretched noises“. 110 Neben den vorstehend genannten Biographien vgl. Tyerman, Luke, The Life and Times of the Rev. John Wesley, Founder of the Methodists, London 1876, S. 24; Green, Richard, John Wesley, London 1881, S. 25; ders., Evangelist [wie Anm. 51], S. 37f.; Haddal, Ingvar, John Wesley. A Biography, London 1961, S. 25.

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nur methodisch, sondern ontologisch reduktionistisch erwiesen. Die stärkste Integrationskraft weist dagegen der – in der Gegenwart zu sehr vernachlässigte – christlich-spiritualistische Interpretationsansatz auf, da er auf der Grundlage einer Verbindung von biblisch-theologisch verantworteter Offenheit für das „Mysteriöse“ und wissenschaftlich begründeter methodischrationaler Skepsis psychologische und physikalische Erklärungen aufzunehmen vermag, ohne den Interpretationshorizont einer antagonistisch strukturierten (d. h. Dämonen und Engel unter der souveränen Herrschaft Gottes einschließenden) unsichtbaren Welt zu verlassen. Dass dieser Ansatz über die Einsichten zum Beispiel John Wesleys hinaus weiterentwickelt werden 111 muss, unterliegt dabei keinem Zweifel. Im Ausblick auf die weitere Diskussion übernatürlicher bzw. paranormaler Phänomene möchte ich abschließend auf zwei Punkte hinweisen. Mir scheint es erstens eine Verengung der Perspektive, wenn das anhaltende Interesse insbesondere John Wesleys für das „Mysteriöse“ wesentlich auf die Ereignisse von Epworth zurückgeführt wird. Ich habe mit besonderer Bedacht den geistesgeschichtlichen Kontext seiner Auffassungen skizziert, um zu zeigen, dass sich Wesleys Weg, der sicherlich durch bestimmte Erfahrungen geprägt wurde, eher von weltanschaulich-hermeneutischen Grundentscheidungen her verstehen lässt, die – das ist nicht zu übersehen – heute unter noch stärkerem Plausibilisierungsdruck stehen, als das im 18. Jahrhundert der Fall war. Umso mehr sollte in der Auseinandersetzung mit parapsychologischen Phänomenen die Einsicht leitend bleiben, dass eine „aufgeklärte“ Theologie mit einem auf das rational Begreifbare reduzierten und um die mythische Wirklichkeit transzendenter Phänomene verkürzten Weltbild kein ernst zu nehmender Gesprächspartner sein wird. Sie hat vielmehr die gestufte, komplexe Wirklichkeit als Sphäre der Wirksamkeit Gottes anzuerkennen und die Auslegung des biblischen Zeugnisses nicht für die Widerlegung, sondern für die geistliche Unterscheidung paranormaler Phänomene in 112 Anspruch zu nehmen. Die Zeugnisse der „Epworth“-Phänomene konfrontieren zweitens mit der seelsorglichen Dimension, die jeder Überzeugung an eine unsichtbare Welt und vor allem der Annahme eines Fortlebens nach dem Tod einwohnt. Von einer christlich-spiritualistischen Einstellung aus kann ein Einwirken unsichtbarer Mächte auf den Raum menschlicher Erfahrungswirklichkeit 111 Vgl. die historische Darstellung der Entwicklung in der Anglikanischen Kirche im frühen 20. Jahrhundert von Kollar, Rene, Searching for Raymond. Anglicanism, Spiritualism, and Bereavement between the Two World Wars, Lanham 2000. 112 Vgl. Benz, Ernst, Parapsychologie und Religion. Erfahrungen mit übersinnlichen Kräften, Freiburg i. Br. 1993, bes. S. 9–45.

Schlussüberlegungen

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nie gänzlich ausgeschlossen werden. Die Frage nach dem Sinn solcher Widerfahrnisse ist legitim, doch enthält das biblische Zeugnis keine Verheißung, dass uns der Sinn dieser Widerfahrnisse mit letzter Gewissheit, wenn überhaupt, erschlossen wird. Entschieden gewarnt wird dagegen in der Bibel vor dem Versuch, von Seiten des Menschen, direkt oder durch ein Medium, Kontakt zur „jenseitigen“ Welt aufzunehmen. Der christliche Glaube unterscheidet sich vom Spiritismus also vor allem darin, dass Begegnungen mit „jenseitigen“ Mächten ertragen, manchmal sogar erlitten (vgl. Emily 113 Wesley), niemals jedoch gesucht oder gepflegt werden. Der christlichen Theologie erwächst hier stets aufs Neue die Aufgabe, einen auch seelsorglich verantwortbaren Weg zwischen Skeptizismus und Enthusiasmus aufzuzeigen und paranormale Phänomene kritisch, d. h. unterscheidend in den christlichen Schöpfungs- und Erlösungsglauben zu integrieren.

113 So auch Köberle, Adolf, demzufolge es ein „qualitativer Unterschied [ist], ob Kundmachungen aus dem Jenseits, seien sie tröstlich-hilfreicher oder bedrängender Art, ohne unser Zutun geschehen oder ob wir gewaltsam in die uns verborgen gehaltene unsichtbare Welt einzudringen versuchen“, Universalismus der christlichen Botschaft. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Darmstadt 1978, S. 143.

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Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert zwischen Aufklärung und Erweckung Eine Untersuchung zu Jesse Jäckel (1820–1895), Prediger der Evangelischen Gemeinschaft 1 Weichenstellungen: Neuzeitliches Denken in Pietismus und Aufklärung des 18. Jahrhunderts Das Wesen des Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts ist nur einseitig erfasst, sieht man in ihm allein eine Reaktion auf die – in der Forschung schon länger nicht mehr generell behauptete – Erstarrung der Orthodoxie. Denn es ist nicht zu übersehen, inwieweit der Pietismus selbst zu einem Wegbereiter des modernen, neuzeitlichen Denkens geworden ist. In dieser Perspektive ergeben sich dann auch strukturelle und phänomenologische Gemeinsamkeiten zwischen Pietismus und Aufklärung, z. B. hinsichtlich der Betonung des Individuums und seiner moralischen Verantwortlichkeit, wenngleich damit auch wiederum grundsätzliche Differenzen, z. B. in der Frage nach der sün1 digen Grundbestimmung des Menschen, verbunden sind. Ansätze eines modern-neuzeitlichen Denkens im Pietismus hat Martin Schmidt an sechs Punkten entfaltet.2 Die moderne Denkweise des Pietismus zeigt sich danach erstens in ihrer teleologischen Betrachtung der christlichen Existenz. Der Pietismus ist geschichtsoptimistisch, und zwar sowohl auf der Ebene der individuellen als auch der kosmischen Zukunftsschau. Im Pietismus vollzieht sich zweitens eine Ethisierung des Glaubensbegriffs. Die Aufmerksamkeit gilt nun in stärkerem Maße den Früchten des Glaubens, womit der Glaube ein stark aktualistisches bzw. praktisches Moment erhält. Ferner wird die Betonung des menschlichen Willens zu einer Grundbestimmung der Anthropologie. Als drittes Kennzeichen des Pietismus ist die bestimmende Rolle der Erfahrung zu nennen. Sie wird allgemein-historisch in der Entwicklung des Wissenschaftsbetriebes greifbar. Der religiös bestimmten Erfahrung geht es jedoch vor allem darum, das Wirken Gottes in der persönlichen wie in der allgemeinen Geschichte aufzuweisen. Dabei zeigt sich die

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Vgl. Martin Schmidt, Art. Aufklärung II. Theologisch. In: TRE 4, S. 594–608; vgl. weiter Schicketanz, Peter, Der Pietismus von 1675 bis 1800, Leipzig 2001, S. 15. Vgl. Martin Schmidt, Der Pietismus und das moderne Denken. In: Aland, Kurt (Hrsg.), Pietismus und moderne Welt, Witten 1974, S. 9–74.

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Vorstellung von der göttlichen Führung als ein viele biographische Darstellungen bestimmendes Motiv. Viertens ist auf den Toleranzgedanken zu verweisen, der sich in erster Linie gegen die wechselseitige konfessionelle „Verketzerung“ wendet. Damit kommt es hier zwar zu einer De-Konfessionalisierung des Dogmenbestandes, nicht jedoch zur Relativierung der biblischen Lehre. Der Toleranzbegriff ist dem Gemeinschafts-, nicht dem Wahrheitsverständnis zugeordnet; er beschreibt also das Verhältnis zum Anderen, nicht das zur Wahrheit. Ein fünftes Kennzeichen des Pietismus ist nach Schmidt das Bewusstsein für die Trennung von Kirche und Staat. Schließlich ist auf den geistigen, sozialen und kulturellen „Gestaltungswillen“ des Pietismus zu verweisen. Der Heilige Geist wird als eine weltverändernde Macht aufgefasst, die notwendigerweise in die Auseinandersetzung mit anderen Mächten der Weltgestaltung führt. Während dem deutschen Pietismus im Hinblick auf das neuzeitliche Denken, mithin das der Aufklärung, eine eher wegbereitende Bedeutung zu3 kommt, stand die englische Erweckungsbewegung des 18. Jahrhunderts bereits in einer lebendigen Wechselwirkung zum Aufklärungsdenken ihrer Zeit, wie verschiedentlich gezeigt worden ist.4 David W. Bebbington hat diesen Nachweis im Hinblick auf sechs Kriterien geführt, wobei sich in der Struktur weitgehende Übereinstimmungen mit den Beobachtungen Martin Schmidts zum Pietismus ergeben. Deutlicher als Schmidt fragt Bebbington jedoch nach dem direkten Verhältnis von Aufklärung und Erweckung. Um Wiederholungen zu vermeiden, seien hier nur einige Konkretisierungen und Akzentuierungen der Untersuchung Bebbingtons genannt. So nimmt der Aufklärung und Erweckung verbindende Geschichtsoptimismus im angelsächsischen Sprachraum die relativ feste Gestalt einer eschatologischen Konzeption an: des Postmillenniarismus. Danach wird die Kirche Jesu Christi, beflügelt von machtvollen Ausgießungen des Heiligen Geistes, die Welt für das Evangelium gewinnen und so die Vollendung des Reiches 3

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Vgl. Rack, Henry, Reasonable Enthusiast. John Wesley and the Rise of Methodism, 2. Aufl. Nashville 1992; John Walsh, „Methodism“ and the Origins of English-Speaking Evangelicalism. In: Noll, Mark A./Bebbington, David W./Rawlyk, George A. (Hrsg.), Evangelicalism. Comparative Studies of Popular Protestantism in North America, the British Isles and Beyond, 1700–1900, New York/Oxford 1994, S. 19–37. Vgl. W. R. Ward, The Relations of Enlightenment and Religious Revival in Central Europe and in the English-speaking World. In: Baker, Derek (Hrsg.), Reform and Reformation. England and the Continent, 1500–1750, Oxford 1979, S. 281–305; David W. Bebbington, Evangelical Christianity and the Enlightenment. In: Eden, Martyn/Wells, David F (Hrsg.), The Gospel in the Modern World. A Tribute to John Stott, Leicester/Downers Grove 1991, S. 66–78; vgl. auch Ulrich Gäbler, „Erweckung“ – Historische Einordnung und theologische Charakterisierung. In: ders., „Auferstehungszeit“. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts, München 1991, S. 162–186.

Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert

Gottes heraufführen. Dessen vollendete irdische Gestalt ist das Millennium, das mit der persönlichen Wiederkunft Christi zum Abschluss kommt.5 Den Toleranzgedanken ordnet Bebbington in den umfassenderen Zusammenhang evangelikaler Reformbestrebungen ein, zu denen er auch die Antisklaverei- und die Temperenzbewegung zählt. Schließlich sieht er in den Erweckungsbewegungen einen aufklärerischen Pragmatismus am Werk, der sich z. B. in Wesleys Entscheidung zeigt, auch außerhalb geweihter Kirchgebäude, also auch im Freien, zu predigen. Pragmatismus ist hier nicht mit Willkür zu verwechseln, denn wo immer Wesley sich über die anglikanische Kirchenverfassung hinwegsetzt, geschieht dies im Dienst der Ausbreitung 6 eines lebendigen Christentums. Obwohl sich aus den Untersuchungen Schmidts auf der einen und Bebbingtons auf der anderen Seite bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen deutschem Pietismus und englischer Erweckungsbewegung im 18. Jahrhundert ergeben, lassen sich auch unterschiedliche Orientierungen beider Bewegungen ausmachen. So scheint es, dass die englische Erweckungsbewegung stärker als der Pietismus in Deutschland auf die von der Aufklärung aufgeworfenen erkenntnistheoretischen Fragestellungen einzugehen bereit war, wenn auch immer unter Beachtung der „praktischen“ Bedeutung solcher Fragestellungen. Dabei konnten sich gerade aus dem unterschiedlichen praktischen Interesse Konflikte ergeben. Man werfe nur einen Blick auf die in Aufklärung und Erweckung gleichermaßen virulenten epistemologischen Fragestellungen: Wie geschieht Erkenntnis? Und welche Gewissheit bietet Erkenntnis? Auf die religiöse Erfahrung bezogen waren dies Fragen, die z. B. John Wesley, den Begründer der methodistischen Bewegung im 18. Jahr7 hundert beschäftigten. Wesley stimmte mit John Locke in der Ablehnung eingeborener Ideen überein, bezweifelte aber, dass Erkenntnis letztlich das Resultat von Verstandesreflexion ist. Vielmehr gelangte er unter dem Einfluss des anglikanischen Bischofs Peter Browne zu der Überzeugung, dass Erkenntnis allein auf sinnlicher Wahrnehmung beruhe. Dieser strenge Empirismus führte freilich bei Browne zu der Konsequenz, dass eine unmittelbare Erkenntnis bzw. Erfahrung des seinem Wesen nach übersinnlichen Got5 6 7

Vgl. Richard Bauckham, Art. Chiliasmus. IV. Reformation und Neuzeit. In: TRE 7, S. 737–745. Zum Verhältnis Wesleys zur Anglikanischen Kirche vgl. Baker, Frank, John Wesley and the Church of England, London 1970. Vgl. Brantley, Richard E., Locke, Wesley, and the Method of English Romanticism, Gainesville 1984; Matthews, Rex Dale, „Religion and Reason Joined“. A Study in the Theology of John Wesley, unveröffentl. Dissertation, Harvard University, Cambridge/Ma. 1986.

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tes nicht möglich sei. Wesley vermied diese Konsequenz, indem er lehrte, dass es neben den äußeren Sinnen auch einen inneren Sinn „spiritual sense“ gebe. Durch den Glauben erweckt wird der geistliche Sinn zum Ort der Gotteserfahrung.8 Anders ließ sich auf dem Grund, den Lockes kritische Erkenntnistheorie gelegt hatte, die von Wesley vertretene religiöse Gewissheit („assurance“) epistemologisch nicht sichern. Man wird also bei aller Übereinstimmung die englische Erweckungsbewegung des 18. Jahrhunderts und den deutschen Pietismus dieser Zeit nicht ohne Weiteres als analoge Phänomene auffassen können.9 Tatsächlich zeigte der Pietismus noch stärker die Anzeichen einer Reaktion auf die Orthodoxie, während sich die englische Erweckung bereits mehr in Wechselwirkung mit der Aufklärung befand. Beide, Pietismus und Erweckung, verbindet jedoch mit der Aufklärung ihrer Zeit ein gemeinsames Interesse am menschlichen Freiheitsbewusstsein sowie eine ethisierende Tendenz in religiösen Fragestellungen. Für die englische Erweckungsbewegung kommt ein verstärktes Interesse an der Bestimmung des Verhältnisses von Offenbarung und Vernunft hinzu. Zugleich sind materiale dogmatische Divergenzen der erwecklichen Bewegungen gegenüber der Aufklärung, beispielsweise in der Sünden- und der Erlösungslehre, nicht zu übersehen. Wenn wir uns mit Jesse Jäckel einem deutsch-amerikanischen Theologen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuwenden wollen, dann scheint es notwendig, zumindest im Ansatz zu skizzieren, welche Entwicklung die erwecklichen Bewegungen beiderseits des Atlantiks im Kontext neuzeitlich-aufgeklärten Denkens im 19. Jahrhundert nehmen.

2 Das Verhältnis von Aufklärung und Erweckung im 19. Jahrhundert Das weithin positiv bestimmte Verhältnis von Aufklärung und Erweckung in Amerika ist in grundlegender Weise von der geschichtlichen Tatsache bestimmt, dass die Aufklärung auf Seiten der amerikanischen Revolution, somit für Fortschritt und Freiheit, stand.10 Das Denken der Aufklärung 8 9

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Vgl. Cunningham, Joseph W., John Wesley’s Pneumatology. Perceptable Inspiration, Surray 2014, S. 55–78. Gäbler, „Erweckung“ [wie Anm. 4], S. 165 geht noch weiter, wenn er mit Blick auf das 19. Jahrhundert feststellt: „Der angelsächsische Revivalism hat keine wirkliche Parallele in Deutschland oder in Frankreich“. So Marsden, George M., Understanding Fundamentalism and Evangelicalism, Grand Rapids 1991, S. 128.

Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert

erfüllte wichtige Funktionen in der Begründung der Legitimität einer Loslösung von der britischen Krone und beim Aufbau einer von moralischen und religiösen Grundsätzen bestimmten Staatsordnung.11 Dazu kommt die religiöse Offenheit der amerikanischen Aufklärung. Obwohl nicht gänzlich frei von Stimmen, die einen religiösen Skeptizismus artikulierten, wie z. B. Thomas Paine (1737–1809), bewies die amerikanische Aufklärung eine in religiöser Hinsicht moderate Ausrichtung. Mehr noch, unter den Bedingungen einer nach Selbstbehauptung und Fortschritt strebenden Gesellschaft sollte gerade sie das gedankliche Rüstzeug liefern, um die Ideale eines, wie man meinte, „orthodoxen“, an den Traditionen der Väter orientierten Glaubens unter den Bedingungen neuzeitlicher Subjektivität und Rationalität begründet zu verteidigen, ohne sich der äußeren Macht der gerade abgeworfenen europäischen Autoritäten bedienen zu müssen. Das geistige Grundgerüst dieses von nahezu allen erwecklichen Gruppen Amerikas im 19. Jahrhundert rezipierten und wiederholt adaptierten Denkens bildete die „ScottishCommon-Sense“-Philosophie. Obwohl ihrem Wesen nach selbst Ausdruck aufgeklärten Denkens, richtete sich diese auf die schottischen Gelehrten Francis Hutcheson (1694–1746) und Thomas Reid (1710–1796) zurückge12 hende Philosophie ursprünglich gegen den Skeptizismus David Humes. Im Kontext der amerikanischen Erweckung sollte diese moderate Aufklärungsphilosophie vor allem eine apologetische Wirksamkeit entfalten. Die Grundprinzipien der schottischen „Common-Sense“-Philosophie seien hier kurz skizziert. Erstens hatte Thomas Reid gegenüber der skeptizistischen Haltung Humes die Überzeugung verteidigt, dass im Erkenntnisvorgang die äußere Wirklichkeit direkt, und nicht vermittels zwischengeschalteter Vorstellungen oder Ideen, auf das menschliche Bewusstsein einwirkt. Folglich erkennt der Mensch die Welt so, wie sie ist. Die Korrespondenz von objektiver Wirklichkeit und subjektiver Wahrnehmung sicherte Reid, zweitens, mit der Annahme universaler angeborener Ideen („innate ideas“). Bei diesen angeborenen Ideen handelt es sich um für die Erkenntnisfähigkeit des Menschen konstitutive Prinzipien, deren Wahrheit selbstevident ist und deren Gegenteil anzunehmen absurd wäre. Zu ihnen zählt Reid u. a. die Überzeugung von der Wahrnehmungsfähigkeit unserer Sinne. Andere „CommonSense“-Philosophen nach Reid betrachteten auch die Existenz Gottes als selbst-evidentes Prinzip, ein für erweckliche Protestanten der damaligen

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Vgl. Noll, Mark A., A History of Christianity in the United States and Canada, Grand Rapids 1992, S. 154ff. Vgl. Sydney E. Ahlstrom, The Scottish Philosophy and American Theology. In: Church History 24 (1955), S. 257ff.

Das Verhältnis von Aufklärung und Erweckung im 19. Jahrhundert

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Zeit höchst attraktiver Gedanke. Die angeborenen Ideen vorausgesetzt, schien ein sicherer Erkenntniszugriff auf alle Wirklichkeitsbereiche möglich. Anders gesagt, die Prinzipien der moralischen Welt waren mit ebensolcher Gewissheit zu erkennen wie die der physikalischen Welt. Für alle diese Bereiche meinte man sich der induktiven Methode Francis Bacons bedienen zu können, die auf die Anordnung von Tatsachen abhob und ohne menschliche Hypothesen auszukommen meinte. Auf diese Weise fügten sich die Tatsachen zu einem Weltbild, das in seiner kausal-teleologischen Struktur eigentlich keinen Raum für begründeten Atheismus ließ. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wenn Sydney Ahlstrom die schottische Aufklärungsphilosophie als „apologetische Philosophie per excellence“ 13 bezeichnet. Sie bot erstens die Möglichkeit, die Bibel als Dokument göttlicher Tatsachen aufzufassen und sie den auf anderen Wegen gewonnenen Erkenntnissen zur Seite oder, wenn notwendig, auch gegenüber zu stellen. Bibel und Naturwissenschaft konnten als Offenbarungen Gottes nicht in Widerspruch zueinander treten.14 Der Glaube hatte, so hoffte man, eine feste Grundlage. In den Worten Mark Nolls: With Scottish common sense to assist them, Protestant leaders expressed new optimism about the ability of all human minds to be drawn to the faith by logically compelling arguments. They worked diligently constructing appeals to neutral reason, grounded in universal moral sense and in science, in order to prove the existence of God, the need for public morality, and the divine character of Scripture.15

Zum Zweiten ließ sich der Appell an den „gesunden Menschenverstand“, verbunden mit der Überzeugung von der objektiv möglichen Erkennbarkeit der Welt, gut kommunizieren.16 Dem „Common-Sense“-Denken inhärierte, so gesehen, ein demokratischer Impuls, der den einfachen Mann, die einfache Frau von der Autoritätsstellung einer akademisch-philosophischen Zunft befreite. Drittens, und etwas konkreter, entsprach die Betonung des freien Willens der pragmatischen Tendenz des erwecklichen Protestantismus in Amerika. Die vielfältigen äußeren Formen des Rufs zur (wiederholten) Entscheidung sind dabei nur die Außenseite einer von einem optimistischen Menschen- und Gnadenverständnis getragenen Heilslehre, die, wenngleich mit unterschiedlichen Nuancen, dem amerikanischen Protestantismus sein Gepräge gab. 13 14 15 16

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Ebd. [wie Anm, 12], S. 267. Vgl. Marsden, Fundamentalism [wie Anm. 10], S. 134. Noll, History [wie Anm. 11], S. 157. So Ahlstrom, Philosophy [wie Anm. 12], S. 268.

Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert

Mark Noll hat zu Recht darauf hingewiesen, dass „Common-Sense“Philosophie und das Denken der erwecklichen Protestanten in Amerika im 19. Jahrhundert nicht einfach gleichgesetzt werden können. Denn bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die schottische Aufklärungsphilosophie den Evangelikalen in den Vereinigten Staaten weniger konkrete theologische Überzeugungen lieferte als vielmehr deren Erkenntnisgründe, sie also v. a. die rationale Begründungsstruktur für den zuvor bereits vorhandenen Glauben formte.17 Man wird daher weniger nach expliziten (literarischen) Abhängigkeiten suchen dürfen als vielmehr im Einzelfall, wie im Folgenden im Hinblick auf Jesse Jäckel, nach ihrem Verhältnis zu einer bereits tief ins (christlich-erweckliche) Bewusstsein eingesenkten Geistestradition fragen dürfen. Dies gilt umso mehr, als der amerikanische Bürgerkrieg, der 1865 endete, in vielerlei und nicht zuletzt geistesgeschichtlicher Hinsicht eine neue Zeitperiode einleitete. Es sollte zum Wesen dieser neuen Zeit gehören, dass die von den Evangelikalen verinnerlichten Prinzipien der moderaten Aufklärung in wachsendem Maße an Plausibilität verloren. Die immer neu aufbrechenden Gräben zwischen einer weithin wörtlich verstandenen Bibel und den Einsichten der an Präzision gewinnenden Natur- und Geschichtswissenschaften ließen auch unter den Evangelikalen ein Problembewusstsein wachsen, das viele Fragen, freilich auch immer wieder Antworten, produzierte. Dabei scheint es, dass solcherart weiterführende Überlegungen bei den Presbyterianern, die anfänglich die Rezeption des schottischen Aufklärungsdenkens am stärksten vorangetrieben hatten, auch als Erstes eine reflektierte und begründete Gestalt annahmen. Dagegen führte Jesse Jäckel, dessen Wirksamkeit erst seit den 1870er Jahren literarische Spuren hinterlassen hat, das Programm des früheren evangelikalen Protestantismus weithin ungebrochen weiter. Unter einem anderen Vorzeichen stand das Verhältnis von Aufklärung und Erweckung am Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Während im Unterschied zur französischen die deutsche Aufklärung anfänglich ein 18 moderates Gepräge trug, hatte am Ausgang des 18. Jahrhunderts ein rationalistischer Geist die Vorherrschaft erlangt. Die Gewichte hatten sich deutlich in Richtung einer grundsätzlichen Offenbarungskritik verschoben. Aus der anfänglich mehr apologetischen Bestimmung des Verhältnisses von Offenbarung und Vernunft war ein kritisches Prinzip geworden, von dem her 17 18

Mark A. Noll, Common Sense Traditions and American Evangelical Thought. In: American Quarterly 37 (1985), S. 226. Vgl. Klaus Scholder, Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland. In: Aland, Kurt u. a. (Hrsg.), Geist und Geschichte der Reformation. Festgabe Hanns Rückert zum 65. Geburtstag (AKG 38), Berlin 1966, S. 460–486.

Das Verhältnis von Aufklärung und Erweckung im 19. Jahrhundert

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der biblische Offenbarungsgehalt auf seine Entsprechung zu vernünftigen Einsichten reduziert wurde. Aus der „biblizistisch“ motivierten Kritik an der Vorherrschaft des Dogmas über die Bibel und der damit verbundenen Konzentration auf die Bibel hatte sich eine historisch-kritische Untersuchung der biblischen Überlieferung und in der Folge eine weitreichende Kritik zentraler Topoi der Dogmatik entwickelt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen setzten viele erweckliche Christen im 19. Jahrhundert die deutsche Aufklärung pauschal mit dem (theologischen) Rationalismus 19 ihrer Zeit in eins. Sie waren als oftmals unbewusstermaßen „aufgeklärte“ Erweckte zwar zu einer Kritik der theologischen Prinzipienlehre bereit, nicht jedoch dazu, den weithin unverändert im tradierten Sinne interpretierten Dogmenbestand aufzugeben. So hielten sie einerseits die Betonung der Subjekthaftigkeit des Menschen, also seiner moralischen Freiheit und Verantwortlichkeit, fest. Anderseits wurde diese moralische Subjektivität von der objektiven Voraussetzung einer in der Bibel gegebenen Tatsachenoffenbarung Gottes her normiert. 20 Zu den Ausgangsbedingungen für die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts in Deutschland gehört ferner die Ablösung des Supranaturalismus durch die Erweckungstheologie unter dem Einfluss Schleiermachers und der Romantik. Der Supranaturalismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte den erkenntnistheoretischen Ansatz der „Kritiken“ Kants aufgegriffen und ihn gegen den Rationalismus gewendet.21 Kants Nachweis, dass die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz Gottes den Erkenntnisbereich der theoretischen Vernunft überschreite, eine rationale Metaphysik mithin unmöglich sei, wurde von Theologen wie Gottlob Christian Storr (1746–1805)22 als Befreiungsschlag empfunden. Nach Storrs Überzeugung hatte Kant durch die Aufhebung des (vermeintlich) metaphysischen Wissens tatsächlich Raum für den Glauben geschaffen. Dazu kam für Storr, dass die Ideenlehre der praktischen Vernunft Kants die Abhängigkeit der Moral von der Religion und damit die Notwendigkeit der subjektiven Religion sicherte.

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Vgl. Gäbler, „Erweckung“ [wie Anm. 4], S. 163f. Jung, Martin H., Der Protestantismus in Deutschland von 1815 bis 1870, Leipzig 2000, S. 64f wiegt Vor- und Nachteile eines singularischen oder pluralischen Gebrauchs des Begriffs „Erweckungsbewegung“ ab, entscheidet sich dann aber für den Plural. Vgl. Pannenberg, Wolfhart, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen 1997, S. 43. Zu Storr vgl. Karl Heinz Hinfurtner, Biblischer Supranaturalismus. Gottlob Christian Storr. In: Graf, Friedrich Wilhelm (Hrsg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1: Aufklärung – Idealismus – Vormärz, Gütersloh 1990, S. 113–127.

Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert

Im Anschluss an Schleiermacher, dessen religionsphilosophische Konzeption freilich in erwecklichen Kreisen nie vollständig rezipiert wurde, überwindet die Erweckungstheologie, wie sie exemplarisch bei ihrem Theologen August Tholuck (1799–1877) greifbar wird,23 diesen Ansatz des Supranaturalismus. Gleichwohl tritt sie mit ihrer antirationalistischen Stoßrichtung in einer gewissen Weise auch das Erbe des Supranaturalismus an. Zugleich aber zeigt sie sich – gegen Kant und den Idealismus – von Schleiermachers Ansatz beeinflusst, der die Religion auf das subjektive Gefühl gründete und ihr damit im Gegenüber zur Metaphysik und Moral einen eigenständigen Platz sicherte. So gewinnt der Glaube bei Tholuck seine Gewissheit nicht aus der Demonstration logischer Schlüsse oder dem Aufweis der Notwendigkeit der Idee Gottes für die Begründung der Ethik, sondern aus der inneren Erfahrung der Wirklichkeit Gottes, die sich in der Begegnung mit dem Wort Gottes erschließt. Denn eine prinzipielle Empfänglichkeit für das Gute, einen „Anknüpfungspunkt“ für das Wirken Got24 tes, besitzt auch der gefallene Mensch noch. Die Offenbarung Gottes beweist ihren objektiven Wahrheitsgehalt, indem sie den sittlichen Selbstwiderspruch des Menschen heilt.25 Das Gottesbewusstsein wird aufgenommen in das fromme Selbstbewusstsein des Menschen, m. a. W., Gottes- und Selbsterfahrung koinzidieren. Obwohl der innere Erfahrungsbeweis nicht zu überbieten ist, wird jedoch auch der geschichtliche Nachweis der Glaubwürdigkeit der biblischen Schriften, wie gerade auch Tholucks Auseinandersetzung mit der radikalen Evangelienkritik des David Friedrich Strauß zeigt, nicht aufgegeben.26 Wenn man auch bei Tholuck von einer Überordnung der Erfahrung über die Bibel nicht ohne Weiteres sprechen kann,27 so bleibt der Begriff der 23

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Vgl. Gunter Wenz, „Geh Du in Dich, mein Guido“. August Tholuck als Theologe der Erweckungsbewegung. In: PuN 27 (2001), S. 68–80; ders., Ergriffen von Gott. Zinzendorf, Schleiermacher und Tholuck, München 2000, S. 157–175. Vgl. Tholuck, F. A. G., Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: Die wahre Weihe des Zweiflers, 8. Aufl. Gotha 1862, S. 145ff. Zum Ganzen vgl. Axt-Piscalar, Christine, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996, S. 6–25; Wenz, Gunter, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 1, München 1984, S. 401ff. Vgl. z. B. Tholuck, F. A. G., Die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte, zugleich eine Kritik am Leben Jesu von Strauß für theologische und nichttheologische Leser dargestellt, Hamburg 1837. Vgl. Rohls, Jan, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 419f. Gunter Wenz spricht in diesem Zusammenhang von einer „dogmatischen Zweideutigkeit“, die sich aus Tholucks Überzeugung

Das Verhältnis von Aufklärung und Erweckung im 19. Jahrhundert

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Erfahrung doch grundlegend für die Erweckungstheologie über Tholuck hinaus. Hier liegt dann auch die Ursache für die Distanzierung von Kant – zumindest im Hinblick auf dessen Erkenntnistheorie – und die Anknüpfung an Schleiermacher. Der Erweckung geht es um die unmittelbare Gotteserfahrung, mit einem Wort: um Gewissheit. Das Anliegen ist hier also kein anderes als z. B. bei Wesley und letztlich bei Luther. Religiöse Gewissheit aber war mit Kants Abweisung der Möglichkeit transzendentaler Erkenntnis nicht zu gewinnen. Dagegen war mit dem religiösen Gefühl bzw. der religiösen Erfahrung ein Anknüpfungspunkt für das über den Sündenfall hinausreichende unmittelbarere Einwirken Gottes auf das Bewusstsein des Menschen gefunden. Dieser Ansatz findet seine umfassendste Gestalt in der Erfahrungstheologie des Erlanger Systematikers Franz Hermann Reinhold Frank (1827–1894), der das gesamte Gebiet der Dogmatik und Ethik von der Erfahrung her abschreitet. Im Zentrum steht auch hier die Frage nach 28 der Gewissheit der Erfahrung, wobei Frank davon ausgeht, dass die Gewissheit der Erfahrung ein reales Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, genauer das Affiziertsein des Subjekts durch das Objekt voraussetzt,29 und darin eine deutsche Entsprechung zum amerikanischen „Common-Sense“Denken bietet. Damit ist implizit aber bereits gesagt, dass die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts auch einen Neueinsatz gegenüber Schleiermacher darstellen. Dies zeigt sich in materialer Hinsicht in der zentralen Stellung, die jetzt der „Lehre von der Sünde und vom Versöhner“ zukommt. Indem alle Bereiche der Dogmatik und Ethik von einem soteriologischen Ansatz her betrachtet werden, wird zugleich die bei Schleiermacher empfundene Vorherrschaft der Philosophie überwunden. Obwohl also die Erweckung in Deutschland neben dem älteren Pietismus sowohl vom Idealismus als auch der Romantik angeregt ist, trägt sie letztlich doch einen deutlich „antithetischen Charakter“, der sie zugleich wieder von allen diesen geistigen Richtungen abhebt. Dies zeigt sich maßgeblich in der programmatischen Absicht, gerade unter den Bedingungen neuzeitlicher Subjektivität die biblischreformatorische Lehre mit möglichst nur geringen Modifikationen zu be-

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von der Koinzidenz von Gottes- und Selbsterkenntnis ergebe, vgl. Erweckte Theologie. Friedrich August Gottreu Tholuck. In: Graf, Profile, Bd. 1 [wie Anm. 22], S. 256. Vgl. auch den Titel seines Buches: Frank, F. H. R., System der christlichen Gewißheit, 2 Bde., Erlangen 1870/73. Vgl. Hüttenhoff, Michael, Erkenntnistheorie und Dogmatik. Das erkenntnistheoretische Problem der Theologie bei I. A. Dorner, Fr. H. R. Frank und R. A. Lipsius, Bielefeld 1991.

Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert

wahren. Inwieweit dies tatsächlich, und nicht nur in der erwecklichen Selbstwahrnehmung, gelang, muss im jeweiligen Einzelfall geprüft werden. Ein nichttheologischer Faktor hat schließlich die deutschen Erweckungsbewegungen nachhaltig geprägt. Gemeint ist die französische Revolution und die mit den Befreiungskriegen verbundenen Erschütterungen der Nation. Die Vergötzung der Vernunft hatte deren widergöttliches Wesen enthüllt, die Abgründigkeit menschlichen Wollens und Tuns lag offen zutage. Der unerschütterliche Fortschrittsoptimismus der Aufklärung schien desavouiert. Das Einwirken dieser politischen Faktoren auf die Erweckten sollte seine theologischen Spuren hinterlassen. Denn während das 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten die Blütezeit des zutiefst optimistischen und sich zudem mit einem amerikanischen Sendungsbewusstsein verbindenden Postmillenniarismus wurde, der am Ende des 19. Jahrhunderts in den erweckten Gruppen 30 weithin durch den Darbysmus abgelöst und ansonsten weithin säkularisiert 31 wurde, konnten die erweckten Kreise Deutschlands die Perspektive einer ungetrübten Zukunftshoffnung nie in diesem Ausmaß wiedergewinnen. Obwohl in Detailfragen der Endzeitdeutung durchaus divergent, setzte sich hier eine vom Prämillenniarismus bestimmte Geschichts- und Endzeitsicht weitgehend durch.32 Die Zukunft erscheint hier in einem ambivalenten Licht. Das Gute wie das Böse, so wird hier angenommen, reifen immer mehr aus. Der Fortschritt vollzieht sich daher im verschlungenen Miteinander des aufstrebenden Guten und des immer tiefer fallenden Bösen. So führt diese Entwicklung zur wachsenden Verschärfung der Widersprüche von Gut und Böse.33 Auch die Kirche ist hier nicht ausgenommen. Diesen Überzeugungen entspricht in gesellschaftspolitischer Hinsicht eine konservativ-restaurative Grundhaltung.34 Die Bedeutung des Staates wurde aber gerade nicht enthusi30 31

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Vgl. Sandeen, Ernest R., The Roots of Fundamentalism. British and American Millenarianism, 1800–1930, Chicago/London 1970, S. 59ff. Vgl. Jean B. Quandt, Religion and Social Thought. The Secularization of Postmillennialism. In: American Quarterly 25 (1873), S. 390–409; James H. Moorhead, The Erosion of Postmillennialism in American Religious Thought, 1865–1925. In: Church History 53 (1984), S. 61–77. Vgl. Stephan Holthaus, Prämillenniarismus in Deutschland. Historische Anmerkungen zur Eschatologie der Erweckten im 19. und 20. Jahrhundert. In: Jahrbuch Pietismus und Neuzeit 20 (1994), S. 191–211. Vgl. Pfleiderer, J. G., Evangelische Glaubens- und Sittenlehre für höhere Schulen sowie zum Selbstunterricht, Bonn 1885, S. 184–186. Pfleiderer spricht von einer der Wiederkunft Christi vorhergehenden „Periode der Ausreifung des Guten und des Bösen“. Abweichende Auffassungen zeigen sich allerdings bei den sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland ausbreitenden Freikirchen, die sich natürlicherweise für eine Überwindung des Staatskirchensystems und die Durchsetzung religiöser Freiheiten einsetzten.

Das Verhältnis von Aufklärung und Erweckung im 19. Jahrhundert

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astisch überhöht, auch wenn es immer wieder Wellen des Patriotismus, insbesondere im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen, gab. Der gesellschaftspolitische Konservatismus war vielmehr Ausdruck einer antirevolutionären Grundhaltung, die sich mit der Revolution von 1848 in Deutschland bestätigt fühlte. Aufgeklärtes Denken zeigt sich also im Kontext sowohl der amerikanischen als auch der deutschen Erweckungsbewegungen. Die „aufgeklärte Erweckung“ ist nichts anderes als das Bemühen, ein an der Gottesoffenbarung ausgerichtetes sittliches Leben unter den Bedingungen neuzeitlichen Subjektbewusstseins zu realisieren und in der Auseinandersetzung mit offenbarungsfeindlichen Haltungen wie Rationalismus und Materialismus zu bewähren. Dabei soll auch unter Rückgriff auf Vernunftgründe das Offenbarungsansehen der Heiligen Schrift sowie die Möglichkeit unbedingter Gotteserfahrung und damit christlicher Gewissheit gesichert werden. Die Erfahrung gewinnt über ihre allgemeine Erkenntnisfunktion hinaus den Charakter des primären Mediums der Heilsaneignung. Bei grundsätzlicher positiver Einstellung gegenüber dem Erkenntnisvermögen der Vernunft zeigt sich in der deutschen Erweckungstheologie eine im Vergleich zum amerikanischen Protestantismus kritischere Haltung zur Vernunft, wenngleich durch deren Subordination unter die Offenbarung dem Gebrauch der Vernunft übereinstimmend eine primär apologetische Funktion zugewiesen ist. Unterschiede ergeben sich vor allem infolge der vom erwecklichen Protestantismus Deutschlands abgelehnten Revolutionen, die hier ein weniger optimistisches, meist ambivalentes Geschichtsverständnis bedingen. Der von Optimismus und nationalem Sendungsbewusstsein getragene amerikanische Evangelikalismus entwickelt eine im Vergleich größere Gestaltungskraft sowohl in geistiger wie auch in praktischer Hinsicht.

3 Jesse Jäckel und die Evangelische Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten Die vorstehenden Überlegungen sollen nun im Hinblick auf Jesse Jäckel konkretisiert werden, der als deutsch-amerikanischer Theologe sozusagen am Schnittpunkt zweier Sprach- und Kulturkreise stand. Jesse Jäckel gehörte zur Evangelischen Gemeinschaft, einer Kirche, die sich nach einem früheren Zusammenschluss mit der Kirche der Vereinigten Brüder in Christo 1968 auf Weltebene mit der (Bischöflichen) Methodistenkirche zur United Methodist Church vereinigte. Die Anfänge der Evangelischen Gemeinschaft in

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Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert

den Vereinigten Staaten35 gehen auf Jakob Albrecht (1759–1808) zurück.36 Er war der Sohn deutscher Einwanderer aus der Pfalz. Nach seiner Bekehrung im Alter von 32 Jahren schloss er sich der Methodistenkirche an. Ab 1796 predigte er den Deutschen in Pennsylvania, Maryland und Virginia. Da jedoch der erste Bischof der Methodist Episcopal Church in Amerika, Francis Asbury, einen innerhalb der Kirche eigenständig arbeitenden Missionszweig für die deutschsprachigen Einwanderer als nicht notwendig erachtete,37 entstand in den Jahren nach 1800 schrittweise eine eigenständige Gemeinschaft, die rasch Züge einer organisierten Kirche annahm.38 Seit 1816 nannte sie sich „Evangelische Gemeinschaft“ (EG). In Kirche und Lehre orientierte sich die EG zunächst eng an den bischöflichen Methodisten, widmete sich aber ganz der Mission unter den in Amerika siedelnden Deutschen. 1850 begann die Evangelische Gemeinschaft mit der Mission in Deutschland, die schließlich auch hier, schwerpunktmäßig in Württemberg, zum Aufbau kirchlicher Strukturen führte.39 Die Geschichte der Evangelischen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war von zahlenmäßigem Aufschwung und wachsendem kirchlichen Engagement in vielen Bereichen geprägt, zugleich aber auch von internen Spannungen, die schließlich 1894 zur Spaltung der Kirche führten. Die innerkirchlichen Spannungen erwuchsen aus einer im Jahr 1857 begonnenen lang anhaltenden Kontroverse über das Verständnis der Lehre von der „Christlichen Vollkommenheit“. Theologische Auseinandersetzungen dürften allerdings nicht die maßgebliche Ursache für die letztlich erfolgte Spaltung gewesen sein. Hier spielten auch Fragen des Verständnisses der Kirchenordnung sowie Differenzen zwischen den mittlerweile „amerikanisierten“ (und daher zumeist englischsprachigen) 35

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Vgl. Arthur Core, Die Evangelische Vereinigte Brüderkirche in den Vereinigten Staaten von Amerika (Evangelical United Brethren Church); in Deutschland: Evangelische Gemeinschaft. In: Steckel, Karl/Sommer, C. Ernst (Hrsg.), Geschichte der Evangelischmethodistischen Kirche, Stuttgart 1982, S. 59ff. Zur Biographie vgl. Voigt, Karl Heinz, Jacob Albecht. Ein Ziegelbrenner wird Bischof, Stuttgart 1997. Umstritten war also nicht die Frage, ob auf Deutsch gepredigt werden solle, sondern der Status eines ausschließlich deutschsprachigen Werkes innerhalb der Methodist Episcopal Church; vgl. Paul F. Blankenship, Bishop Asbury and the Germans. In: Methodist History 4 (1966), S. 5–13; Donald K. Gorrell, „Ride A Circuit or Let it Alone”. Early Practices that Kept the United Brethren, Albright People and Methodists Apart. In: Methodist History 25 (1986), S. 4–16; Edward F. Ohms, The Language Problem in the Evangelical Association. In: Methodist History 24 (1987), S. 222–238. Vgl. Eller, Paul H., These Evangelical United Brethren, Dayton 1957, S. 59ff. Vgl. Paul Wüthrich, Die Evangelische Gemeinschaft im deutschsprachigen Europa. In: Steckel/Sommer, Evangelisch-methodistischen Kirche [wie Anm. 35], S. 149ff.

Jesse Jäckel und die Evangelische Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten

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Nachkommen deutscher Einwanderer und den noch fest im deutschen Kulturkreis verwurzelten Einwanderern in erster Generation eine Rolle.40 Im Umfeld dieser Entwicklungen wirkte auch Jesse Jäckel,41 Bruder des etwas bekannteren Bischofs Ruben Jäckel.42 Jesse Jäckel wurde am 15. Februar 1820 geboren. Im Alter von 13 Jahren erlebte er eine Bekehrung, später folgte er dem Ruf in den Predigerdienst der Evangelischen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten. Über die Stationen seiner theologischen Ausbildung ist nichts bekannt. Bekannt ist dagegen, dass (wenn auch nicht wann) er den Segen der gänzlichen Heiligung erlangte.43 Als Prediger diente er ab 1853 verschiedenen Gemeinden der Ostpennsylvanien-Konferenz, 1876 wechselte er in die neugegründete Atlantik-Konferenz.44 In jungen Jahren musste Jäckel den Verlust seiner zwei ältesten Kinder beklagen.45 Er wurde einer der maßgeblichen Förderer der Missionsarbeit der Evangelischen Gemeinschaft im Osten Pennsylvanias.46 Für das dortige Gebiet wurde er schließlich zum Superintendenten berufen; 1863, 1871 und 1875 wählte ihn die Generalkonferenz zu ihrem Sekretär (Geschäftsführer).47 In den angedeuteten Auseinandersetzungen um die Heiligungslehre gehörte Jäckel zur Gruppe um Bischof Escher, der die Interessen der „deutschen“ Kirchenglieder in Pennsylvania gegenüber den bereits stärker „amerikanisierten“ Kräften in der Kirche ver-

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So das Fazit von Schwab, Ralph Kendall, The History of the Doctrine of Christian Perfection in the Evangelical Association, Menasha 1922, S. 89; vgl. weiter Terry M. Heisey, Immigration as a Factor in the Division of the Evangelical Association. In: Methodist History 19 (1980), S. 41–57. Zur Biographie vgl. Der Christliche Botschafter (3. Dezember 1895), 777 und ebd. (17. Dezember 1895), S. 801f. Andere als die leider nicht erschöpfenden biographischen Angaben des Nachrufs waren leider nicht zu ermitteln. In englischsprachigen Publikationen der Evangelischen Gemeinschaft findet sich für gewöhnlich die Schreibung Yeackel statt Jäckel. Ruben Jäckel verfasste eine zweibändige Geschichte der Evangelischen Gemeinschaft; Bd. 1, Cleveland 1890/1894 (dt./engl.); Bd. 2, Cleveland 1895 (dt. und engl.). Das Buch wurde auch vom Verlag der Evangelischen Gemeinschaft in Stuttgart verlegt. Nach dem Zeugnis von Bischof Eschers Nachruf. Vgl. Breyfogel, S. C., Landmarks of the Evangelical Association, Reading 1888, S. 406. „[D]a stand ich nun und überblickte, einerseits den Zustand meiner Familie, andererseits die Verhältnisse der Gemeinde … – mit welchen Empfindungen, ist schwer zu beschreiben. – Unbegreiflich sind die Gerichte des Herrn, und unerforschlich seine Wege“, Jesse Jäckel, Philadelphia Station, Ostp. Conf. Schwerer Anfang. Dunkle Wolken. Bessere Zeiten. Gott mit uns. Abschied. In: Der Christliche Botschafter (13. Februar 1858), S. 30. Jesse Jäckel berichtet im Christlichen Botschafter in größeren Abständen vom Vorankommen der dortigen Arbeit; vgl. Die Ostpenn. Conferenz – ihre Aufgabe in unserem einheimischen Missionsfeld (3. Juli 1858). Vgl. Albright, Raymond W., A History of the Evangelical Church, Harrisburg 1942, S. 457.

Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert

trat und sich in der Heiligungslehre um eine klare Orientierung an John Wesley bemühte.48 Jäckel verstarb am Danksagungstag des Jahres 1895, nachdem er längere Zeit an den Folgen eines schweren Schlaganfalls gelitten hatte. In seinem Nachruf bezeichnete Bischof Escher ihn als Prediger von „ruhiger, aber dabei doch strebsamer Gemüthsart, klarem Verstand, festem Willen, heiterem Ernst und starkem Selbstgefühl und Rechtssinn“.49 Zwar sei er weder ein „Volksmann“ noch ein „glänzender Redner“ gewesen, doch waren seine Predigten „klar, rein, lauter, vollständig nach ,dem Vorbild der heilsamen Worte‘ des Buches Gottes“.50

4 Erweckte Aufklärung – von der Vernunft des Glaubens Wenn wir feststellten, dass die aufklärerische Komponente der Erweckung eine primär apologetische Funktion erfüllte, dann bestätigt sich diese Beobachtung im Hinblick auf Jesse Jäckel. So stellte er in einem Artikel mit dem Titel „Religion und Unglaube – die Probe“51 den objektiven Charakter einer Prüfung des christlichen Glaubens für einen jeden, auch den ungläubigen Menschen, heraus. Er berichtet von einer Mutter, die auf dem Sterbelager um die Gnade Gottes ringt und diese – in dem qualvollen Bewusstsein, „daß ihre Zeit nur kurz sei, und daß sie an der Pforte des Himmels stehe“ – schließlich erlangt. Zeuge dieses Geschehens ist auch „ein mit gutem Verstande begabter, junger Mann“, ein „offener Rationalist“, den diese Szene im Tiefsten trifft: „Wenn es einen solchen Kampf kostet – sagte er – dann thut es Noth, daß man in gesunden Tagen anfängt!“ In den Mittelpunkt seiner an diese Begebenheit anknüpfenden Bemerkungen stellt Jäckel hier nicht die Vertiefung der „geistlichen Güter“, nach denen sich die Mutter auf dem Sterbebett sehnt. Vielmehr thematisiert er die erkenntnistheoretische

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Zum Thema der deutschen Auswanderung in die Vereinigten Staaten vgl. David Luebke, German Exodus. Historical Perspectives on the Nineteenth-Century Emigration. In: Yearbook of German-American Studies 20 (1985), S. 1–17; James M. Bergquist, German Communities in American Cities. An Interpretation of the Nineteenth-Century Experience. In: Journal of American Ethnic History (Fall 1984), S. 9–30. Zur Bedeutung religiöser Migrationsprozesse für verschiedene Landes- und Freikirchen vgl. das Jahrbuch Freikirchenforschung 5 (1995) mit seinen Einzelbeiträgen zum Thema. Johann Jakob Escher, Bruder Jesse Jäckel. In: Der Christliche Botschafter (17. Dezember 1895), S. 801. Ebd. [wie Anm. 49]. Jesse Jäckel, Religion und Unglaube – Die Probe. In: Der Christliche Botschafter (17. Juli 1858).

Erweckte Aufklärung – von der Vernunft des Glaubens

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Qualität des Geschehens, dessen Zeuge der junge Mann gerade geworden war und kommentiert: Thatsachen, lieber Leser! Thatsachen, die Realitäten des Todes und der Ewigkeit verkündend, decken auf eine unbestreitbare Weise das Gehaltlose des Unglaubens auf; während sie andererseits ebenso klar das Erhabene und Göttliche der christlichen Religion bestätigen.52

Die Rede ist hier von Tatsachen der Erfahrung, die sich für Jäckel ihrem Wesen nach als „unbestreitbar“ erweisen und deshalb die Anerkennung eines jeden vernünftigen Menschen – und ein „vernünftiger“ Mensch möchte der Rationalist ja wohl sein – fordern. So decken diese Tatsachen die Unwirklichkeit des Unglaubens auf, bestätigen zugleich aber „klar“ den Wirklichkeitsbezug des christlichen Glaubens. Wie nun wird die Wirkung dieser Sterbebettszene auf den jungen Rationalisten geschildert? Er zieht seine Schlüsse aus dem Geschehen, ohne dass hier eine sofortige Hinwendung zum lebendigen Glauben erkennbar ist. Hier deutet sich eine erkenntnistheoretische Dialektik an, die im Glaubensbegriff deutlich wird und letzten Endes theologisch bestimmt ist. Denn Tatsachen, die unbestreitbar die Anerkennung durch das erkennende Subjekt fordern, können immer nur zu einem historischen Glauben führen, der diese Tatsachen in ihrer Wirkung zur Kenntnis nimmt. Dagegen bleibt der lebendige Glaube, die fiducia, als vertrauensvolle, willentliche Hingabe an Christus, die freie, allerdings durch Gottes vorlaufende Gnade ermöglichte Tat des Menschen. Die geschilderte Sterbebettszene macht nach Jäckel deutlich, dass die christliche Religion auch von gesunder und ehrlicher Kritik nichts zu befürchten habe, verläßt man jedoch nunmehr eine solche Sterbendszene mit der Ueberzeugung, daß es nicht an der Zeit sei, die Sache der Religion weiter kritisch zu behandeln, sondern daß es das Beste sei, sich deren Vorschriften auf’s Demüthigste zu unterwerfen und allen Ernstes dem erhabenen Ziele, welches dieselbe vorhält, nachzujagen, um somit das ewige Leben zu ergreifen.53

Es sind drei Punkte, die der Verfasser damit anspricht. Zunächst ergibt sich gerade aus der Gründung der christlichen Religion in der objektiven Realität, die als Schöpfung die Setzung eines persönlichen Gottes ist, dass der Glaube die Kritik nicht zu fürchten hat. Wichtig ist hier freilich die nähere Bestimmung der Kritik als eine „gesunde und ehrliche“ Kritik. Jäckels Formulierung gibt zutreffend ein Grundmuster der Apologetik im 19. Jahrhundert wieder. Danach kann gesunde und ehrliche Kritik nur zu einem 52 53

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Ebd. [wie Anm. 51] (Hervorhebung im Original). Ebd. [wie Anm. 51].

Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert

schärferen Herausarbeiten der Wahrheit führen und wird daher letzten Endes die eigene Position, die ja grundsätzlich der Wahrheit entspricht, stützen. Sollte sich diese Übereinstimmung nicht erzielen lassen, dann liegt das Problem beim Kritiker. Vermutlich ist sein Blick für die Wahrheit getrübt, weil er in der Sünde, der Ichsucht, lebt, und insofern der Wahrheit gegenüber voreingenommen, weil er sein „gottloses“ Leben zu rechtfertigen sucht. Dann aber ist er „krank“ und bedarf der Erneuerung durch den Heiligen Geist, der auch sein Erkenntnisvermögen durchdringen wird. Unglaube wird in diesem Verständnis also nicht mit der paradoxen Gestalt von Gottes Handeln oder der Nichterkennbarkeit der von Gott gestifteten Heilstatsachen erklärt, sondern damit, dass der Ungläubige sich willentlich der Heilsgabe Gottes verschließt. Der Selbstausschluss des Menschen vom Heil – eine göttliche Prädestination zum Verderben wird nicht bemüht – ist gewissermaßen das Grundübel des Sünders, die Wurzelsünde, die der Heilung bedarf. Wesentlicher aber ist Jäckel hier, dass der Weg zum lebendigen Glauben, und damit zum Kern der christlichen Religion beschritten wird. Bei diesem Schritt hat die Kritik des Verstandes nichts auszurichten. Gefordert ist vielmehr der Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes. Bekehrung und Wiedergeburt sind also nicht nach rationalen Kriterien aufzulösen. Hier ist schlicht Vertrauen, hier sind Wille und Herz gefragt. Wo aber der Weg beschrieben wird, da muss auch vom Ziel die Rede sein, was Jäckel nun drittens tut. Ohne sie ausdrücklich zu nennen, scheint Jäckel hier auf die christliche Vollkommenheit anzuspielen, der jeder „nachjagen“ soll (Hebr 12,14). Heiligung ist hier nach Jäckel die Mitteilung des göttlichen, ewigen Lebens, das der Christ im Glauben ergreift. Die Apologetik hat damit den Weg für die Erkenntnis des Heils geebnet. Hier erst ist sie am Ziel. Der Vernunft kommt also auch eine selbstkritische Funktion zu, insofern der Christ den Punkt zu erkennen und anzuerkennen hat, an dem seine Reflexion zu einem Ende zu kommen und er sich demütig der göttlichen Autorität zu unterwerfen hat. Mit dieser Feststellung ist nun noch keine Antithese von Glaube und Vernunft konstruiert, von der bei Jäckel keine 54 Rede sein kann. In seinem Aufsatz „Philosophie der Religion“ verwahrt er sich sogar ausdrücklich dagegen, einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Religion und der Philosophie aufzubauen: Nein, Religion und Vernunft sind beide Gaben ein und derselben Hand unseres himmlischen Vaters, und es wäre in Betracht dieser Thatsache doch 54

Jesse Jäckel, Philosophie der Religion. In: Der Christliche Botschafter (10. Dezember 1873).

Erweckte Aufklärung – von der Vernunft des Glaubens

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sonderbar, für einen Theologen anzunehmen, daß beide im Gegensatz zueinander ständen.55

Die Religion, die sich durch der Erfahrung zugängliche Tatsachen empfiehlt, fordert durchaus eine Unterwerfung der gegen Gott gerichteten Vernunft unter die Offenbarung. Die Vernunft wird damit zwar einerseits erniedrigt, andererseits jedoch gerade durch die Unterwerfung zu ihrem göttlichen Adel emporgehoben. Ausgerichtet auf die Wahrheit, auf Gott, ist sie nämlich befähigt, denkend die Inhalte der Offenbarung zu explizieren.56 Sie bedient sich dazu bestimmter Begriffe, z. B. in der Beschreibung des Wesens Gottes. Die Vernunft erschließt Analogien der geistigen und der natürlichen Welt. Sie erhellt die Notwendigkeit gewisser Offenbarungsinhalte, so z. B. die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes. Der erkenntnistheoretische Primat der biblischen Offenbarung bleibt in alledem dadurch gewahrt, dass der rationale Erweis der Schriftwahrheiten, der von der reinen Vernunft aus gedacht einen „Gottesstandpunkt“ implizieren muss, dem durch den Glauben bestimmten Subjekt zugeordnet wird: „credo, ut intelligam“. Dieses glaubende Subjekt steht aber nicht über Gott, sondern vollzieht auch den Akt des Denkens im Gehorsam gegen Gott. Wie bestimmt Jäckel nun den Glauben im Gegenüber zum Denken der Philosophie? Zunächst wird Religion – nach einer wenn auch irrigen Etymologie – von Jäckel verstanden als „Wiederverbindung des Menschen mit 57 Gott“. Impliziert ist hier – sachlich wiederum zutreffend – eine ursprüngliche Verbindung von Gott und Mensch, die (durch die Sünde) unterbrochen wurde und folglich der Wiederherstellung bedarf. Diese Wiederherstellung wird von Gott auf die Bedingungen von Buße und Glaube hin angeboten. Der Glaube wird – im Anschluss an Hebr 11,1 – bestimmt als eine gewisse Zuversicht, „kraft deren man nicht zweifelt an dem, was man nicht sieht“. Der Glaube aber erfordert „vorerst ein Zeugnis; dann genügende und befriedigende Gründe für die Wahrhaftigkeit des Zeugnisses; und letztens ein klares 58 Verständnis desselben“. All dies wirkt der Heilige Geist Gottes, der sich innerlich dem Menschen bezeugt, indem er ihm die Heilsgüter darbietet, nach denen in der Buße ein Verlangen erwacht ist, d. h., indem er den sittlichen Selbstwiderspruch des Menschen heilt. Das Ergreifen der Heilsgüter aber ist nicht Aufgabe des Verstandes, sondern des Herzens. Allerdings ist der Verstand nicht gänzlich passiv, denn er muss das Herz für die Annahme 55 56 57 58

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Ebd. [wie Anm. 54]. Vgl. ebd. [wie Anm. 54]. Ebd. [wie Anm. 54]. Ebd. [wie Anm. 54] (Hervorhebungen im Original).

Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert

des Heils freigeben, er muss sich Gott unterwerfen. Da die Erlösungssehnsucht des Herzens „durch nichts Vergängliches und Sichtbares ersetzt und gestillt“ werden kann, wird die Annahme des von Gottes Geist dargebotenen Heils nun selbst zur „vernünftigsten“ Tat, die überhaupt denkbar ist. Der Mensch kommt in Verbindung mit der höchsten Vernunft. In dieser Lebensverbindung mit Gott gewinnt der Mensch Anteil an der göttlichen Natur, denn Gott teilt „seine Natur mit“.59 Auch hier werden die Grundfragen der Erkenntnistheorie in letzter Konsequenz auf die biblische Heilslehre zurückgeführt. Überblickt man das Ganze, so besitzt die Vernunft Vermögen in zweierlei Hinsicht. Sie kann, wie wir am Anfang sahen, zur Offenbarung hinführen und sie kann von der Offenbarung ausgehen. Ihre Aufgabe, zur Offenbarung hinzuführen, an die die christliche Apologetik anknüpft, ist für die Vernunft eine nur implikative und begrenzte. Sie ist implikativ, da Gott ihrer vielfältigen Befähigungen zum Trotz einfältige Konzentration auf das „eine, was not tut“, fordert: die Entscheidung für und die Unterwerfung unter die Offenbarung. Sie ist begrenzt, da sie angesichts dieser Erfahrung des „unbestreitbaren“ Anspruchs Gottes die Grenzen ihres Erkenntnisvermögens erkennen muss. Zur eigentlichen Bestimmung findet die Vernunft erst, sofern sie reflektierend von der Offenbarung ausgeht. In dieser Aufgabe ist sie explikativ und entgrenzt. Sie ist explikativ, da sie sich nun im Licht und unter Anleitung der Offenbarung ihrer ursprünglichen und eigentlichen Bestimmung gemäß entfalten kann, sie ist entgrenzt, weil sie in der Verbindung mit der göttlichen Vernunft menschliche Einsicht zu transzendieren vermag. Nun ist die christliche Religion aber nicht so sehr eine theoretische Größe als vielmehr eine moralische Macht. So definiert Jäckel die „Uebung des Guten“ als Frucht, letztlich als Essenz der christlichen Religion. Mit anderen Worten, das Wesen der Religion ist ein „Leben beständiger Liebe zu 60 Gott und dem Nächsten“. Bedingung und Ermöglichung einer solchen Religion der Liebe ist der Glaube an Gott in der Gestalt vom Vertrauen getragener Hingabe an Jesus Christus. Glaube ist Nicht-Zweifeln und tätiges Ergreifen. Das philosophische Denken jedoch ist seinem Wesen nach Zweifel und damit Zaudern vor dem letzten, dem notwendigen Schritt. Bleibt das Denken der Spekulation und Reflexion verhaftet, so schreitet der Glaube fort zur Tat der Liebe. Hier begegnet uns das erweckungstheologi-

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In diesem Punkt besteht eine Nähe der wesleyanischen zur ostkirchlichen Lehrtradition; Randy L. Maddox, John Wesley and Eastern Orthodoxy. Influences, Convergences, and Differences. In: Asbury Theological Journal 45/2 (1990), S. 29–53. Der Christliche Botschafter (17. Dezember 1873).

Erweckte Aufklärung – von der Vernunft des Glaubens

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sche Motiv der Aufhebung des Wissens in die Tat, theologisch gesprochen, der Rekurs auf den Glauben, der in der Liebe tätig ist (Gal 5,6). In diesem Sinne haben wir Jäckel zu verstehen, wenn er seinen Aufsatz zur Religionsphilosophie mit dem Zitat schließt: „Religion ist die Vollkommenheit aller Philosophie“.61 Die auf dem Weg apologetischen Bemühens versuchte „Aufklärung“ des Menschen dient damit auch bei Jäckel in letzter Konsequenz dem Ruf zum Glauben. Indem auf dem Feld des Denkens der Weg zum Heil gebahnt wird, wird auch hier die soteriologische Grundrichtung des erwecklichen Protestantismus deutlich.

5 Aufgeklärte Erweckung – Heiligung und Heilsgeschichte 5.1 Die Heiligung Während Jäckel im Laufe der Jahre seines Predigerdienstes eine Anzahl von Aufsätzen zu unterschiedlichen Themen veröffentlichte, blieb es bei der Abfassung lediglich eines Buches, und es war – wie aus dem Vorwort hervorgeht – kein Zufall, dass sich dieses Buch mit der Lehre von der „christlichen Vollkommenheit“ beschäftigte.62 Das Buch dürfte innerhalb der Evangelischen Gemeinschaft und vermutlich auch darüber hinaus weite Verbreitung erfahren haben, handelte es sich doch um eines der ganz wenigen Bücher aus dem Verlag der Evangelischen Gemeinschaft zur Heiligungslehre, die auf beiden Seiten des Atlantiks verlegt wurden.63 Hintergrund seiner Buchveröffentlichung waren einerseits die Auseinandersetzungen um das Verständnis der Heiligungslehre und andererseits das mit dem Aufkommen der Heiligungsbewegung,64 deren Beginn Jäckel auf 61 62

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Der Christliche Botschafter (24. Dezember 1873). Jäckel, Jesse, Die Heiligung des Menschen nach dem Alten und Neuen Testament, Umfassend: Bedürfnis, Anbahnung, Vermittlung, Vollendung und Endziel der Heiligung, Cleveland 1885/Stuttgart 1886. Aus dem Bereich der Monographien mit heiligungstheologischer Thematik trifft dies nur noch zu auf Orwig, W. W., Die Heilsfülle. Heiligung und Heilsfülle nach Maßgabe der Heiligen Schrift, Cleveland 1872/Nürtingen 1873. Zur weiteren Einordnung vgl. Michel Weyer, The Holiness Tradition in German-Speaking Methodism. In: Asbury Theological Journal 50/51 (Fall 1995/Spring 1996), S. 197–210. Zur amerikanischen Heiligungsbewegung vgl. Dieter, Melvin E., The Holiness Revival of the Nineteenth Century, 2. Aufl. Lanham/London 1996. Zur Heiligungsbewegung in Deutschland vgl. Stephan Holthaus, Heil, Heilung, Heiligung – Zur Geschichte der deutschen Heiligungsbewegung (1875–1909). In: Jahrbuch für evangelikale Theologie 11

Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert

das Jahr 1867 datiert,65 verbundene erhöhte Interesse an der Thematik. Gründen möchte Jäckel seine Ausführungen allerdings auf das gründliche Studium der Heiligen Schrift. Obwohl sich Jäckel in seiner Darstellung der Heiligungslehre um eine weitgehende Orientierung an John Wesley bemüht, geht es ihm gleichwohl nicht um eine Repristination von dessen Heiligungslehre. Vielmehr bemüht sich Jäckel, die für ihn biblische Lehre von der Heiligung unter den Bedingungen und Fragestellungen des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Dafür orientiert er sich an zwei einflussreichen, gleichwohl nichtmethodistischen Autoren. 66 Erkennbar ist erstens der Einfluss von Johann Heinrich Kurtz (1809–1890), der ab 1849 als Professor der Kirchengeschichte, später dann des Alten Testaments in Dorpat lehrte und ein wiederholt aufgelegtes Lehrbuch der Heiligen Geschichte verfasst hatte.67 Das Buch wurde auch in der Predigerausbildung der Evangelischen Gemeinschaft verwendet. Die Ausführungen der Heiligen Geschichte waren von einem „biblischen Realismus“ bestimmt, der von der positiven Geschichtlichkeit der biblischen Offenbarung ausging. Der Anlage des Buches lag das Verständnis von „heiliger Geschichte“ zugrunde. Darunter verstand Kurtz „diejenige Geschichte, welche aus dem Zusammenwirken göttlicher und kreatürlicher Thätigkeit hervorgeht“.68 Gerade diese Betonung eines (heils-)geschichtlichen „Synergismus“ machte das Buch vermutlich auch für wesleyanisch geprägte Theologen attraktiv. Jedenfalls orientiert sich der Aufriss des Buches von Jäckel deutlich an der Heiligen Geschichte von Kurtz. Jäckel entfaltet die Gliederung des Buches bereits in dessen Titel: „Bedürfnis, Anbahnung, Vermittlung, Vollendung und Endziel der Heiligung“.69 Da bei Kurtz die Vollendung der Heiligung erst in der himmlischen Herrlichkeit erreicht ist, muss Jäckel hier eine zusätzliche Differenzierung vornehmen. Denn für ihn ist die Vollendung der Heiligung, eben die „christliche Vollkommenheit“, bereits eine irdische

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(1997), S. 142–174; Voigt, Karl Heinz, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre Auswirkungen auf die zwischenkirchlichen Beziehungen, Wuppertal 1996. Vgl. Jäckel, Heiligung [wie Anm. 62], S. V. 3 Vgl. Nathanael Bonwetsch, Art. Kurtz, Johann Heinrich. In: RE 11, S. 187–190. Kurtz, Johann Heinrich, Lehrbuch der Heiligen Geschichte, 1. Aufl. Königsberg 1843, zahlreiche weitere Auflagen (mir liegt die 18. rev. Aufl. Leipzig 1895 vor). Ebd. [wie Anm. 67], S. 1. Vgl. die Gliederung bei ebd. [wie Anm. 67]: Erste Abteilung. Die Vorbereitung und Anbahnung des Heils; Zweite Abteilung. Die Ausführung, Aneignung und Vollendung des Heils.

Aufgeklärte Erweckung – Heiligung und Heilsgeschichte

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Möglichkeit; was dann noch aussteht, ist das „Endziel“, die verewigte Gemeinschaft mit Gott. Bereits bei Kurtz fällt der milde christlich-theosophische Einschlag seines Buches auf. Für diese Geistesströmung, deren Einfluss auf die erweckliche Theologie im 19. Jahrhundert noch weithin unerforscht ist, scheint Jäckel erhebliche Sympathien besessen zu haben. Dies zeigt sich in seiner starken und expliziten Bezugnahme auf die Christliche Ethik (1. Aufl. 1864)70 des evangelischen Pfarrers Theodor Culmann (1824–1863). Culmann war ein Schüler des Erlanger Philosophen Emil August von Schaden und wirkte als Pfarrer in Kaiserslautern, Freckenfeld bei Bergzabern und Speyer.71 Als Schüler von Schadens empfing Culmann die Gedanken der christlichen Theosophie Jacob Böhmes nicht über den schwäbisch-theosophischen Pietismus, wie er sich bei Michael Hahn und Friedrich Christoph Oetinger findet,72 sondern über die Vertreter der Böhme-Renaissance in der Romantik, zu deren Vertretern neben von Schaden auch der katholische Religionsphilosoph Franz von Baader zählte.73 Um zu verdeutlichen, inwiefern Jäckel sich um eine unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts „aufgeklärte“ Darstellung der Heiligung bemühte, soll nun speziell nach den Einflüssen Culmanns auf das Denken Jäckels gefragt werden.74 Jäckel bezieht sich an zwei entscheidenden Punkten seines Buches auf Culmann, wobei er auf die Übernahme von mehr spekulativen theosophischen Überlegungen meistens verzichtet.75 Er setzt ein mit der Entfaltung der anthropologischen Voraussetzungen seiner Theologie. Dabei wird das Wesen des Menschen von dessen Gottebenbildlichkeit her bestimmt. Im Anschluss 70 71

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Culmann, Philipp Theodor, Die christliche Ethik, Stuttgart 1864. Zu den biographischen Angaben vgl. den Lebensabriss in der 5. Aufl. ebd. von 1927, S. XI-XVI; Helmut Burkhardt, Art. Culmann, Philipp Theodor. In: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde 1, Wuppertal/Zürich 1992, S. 396. Vgl. Heinrich Bornkamm, Pietistische Mittler zwischen Jakob Böhme und dem deutschen Idealismus. In: ders. (Hrsg.), Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Festschrift für Martin Schmidt (AGP 14), Göttingen 1975, S. 139–154. Vgl. Lütgert, Wilhelm, Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende. Zweiter Teil: Idealismus und Erweckungsbewegung im Kampf und Bund, Gütersloh 1923, S. 27ff.108ff. Formal fällt auf, dass Jäckel, im Gegensatz zu anderen durchweg in Anmerkungen genannten oder zitierten Autoren, Culmann durchgängig im laufenden Text erwähnt, der Erwähnung seines Namens häufig sogar Attribute hinzufügt: „Der berühmte Ethiker Culmann“ (Heiligung [wie Anm. 62], S. 9; vgl. 20) oder der „selige P. T. Culmann“ (ebd., S. 140). Aber er gibt doch Culmanns Auffassung wieder, die Sprachverwirrung zu Babel habe auch die Sprachwerkzeuge und Gesichtsbildung der Menschen verändert, vgl. ebd. [wie Anm. 62], S. 20.

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an Culmann stellt Jäckel fest, dass „dieses Gottähnliche in einer bei dem Menschen eigentümlichen, d.i. Gott gleichen Beschaffenheit des sich bewußten persönlichen Ich“ besteht, also „in jener Fundamentalkonstruktion, welche bei Gott und Mensch völlig identisch ist“.76 Er stimmt auch darin mit Culmann überein, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen „offenbar nicht eine im Schöpfungsakt fertig vollendete“ war, worauf Anlage und Trieb des Menschen zur Selbstentwicklung und Selbstbetätigung hindeuteten.77 Die Grundbestimmungen der Anthropologie Jäckels sind damit bereits ausgesprochen. Einmal gilt, dass der von Gott erschaffene Mensch zu weiterer Entwicklung bestimmt war und ist. Konstitutiv dafür ist sein Vermögen sittlicher Selbsttätigkeit, die Ausdruck der ihm verliehenen Freiheit ist. Der Mensch ist ein im Verhältnis zu Gott selbstbestimmtes Wesen. Was aber heißt all dies angesichts des Sündenfalls, wie ihn die Bibel beschreibt? Mit dem Nachgeben gegenüber der teuflischen Versuchung ist der Mensch nach Jäckels Überzeugung tief gefallen. In quantitativer Hinsicht kann hier von einer totalen Verderbnis des Menschen gesprochen werden: 78 Alle Menschen sind unter der Sünde versklavt. In qualitativer Hinsicht lässt sich diese Aussage dagegen nicht machen, denn durch die Sünde, so Jäckel, verliert der Mensch zwar das sittliche Ebenbild Gottes, nicht jedoch seine kreatürliche Personenwürde, „denn dieselbe ist, kraft seiner persönlichen Wesensähnlichkeit mit Gott, in Gott selbst tief begründet“.79 So ergibt sich als Konsequenz zweierlei: einmal die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, dann aber auch seine Erlösungsfähigkeit.

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Ebd. [wie Anm. 62], S. 9 (Hervorhebung im Original). Jäckel ist in seiner Zitation nicht ganz korrekt, denn bei Culmann meint „Gott“ an diesem Punkt die „Vaterhypostase“, da Culmann „die Dreiheit der [göttlichen] Personen in einer genetischen Reihenfolge“ denkt. Das heißt, die Vollendung des Menschen im Urstand entspricht dem vollkommenen Wesen der als „uranfänglich“ zu denkenden Vaterhypostase. Diese Vollendung ist jedoch der Entwicklung fähig, ein Vorgang, der im Menschen der Gestaltwerdung von Christus und dem Heiligen Geist entspricht. Daher kann Culmann, Ethik [wie Anm. 70], S. 12 sagen (Hervorhebung im Original): „Es ist demgemäß der Mensch Bild Gottes, weil ihm dieselbe Vaterhypostase eingepflanzt wurde, welche in dem überweltlichen trinitarischen Gott als Uranfängliches zu denken ist.“ Jäckel, Heiligung [wie Anm. 62], S. 10. Ebd. [wie Anm. 62], S. 15f.: „Forthin ist der Verstand voll Finsternis und hält Lüge für Wahrheit und Wahrheit für Lüge. Der Wille, selbst geknechtet, steht im Bund mit dem Satan und in Empörung gegen den Allerhöchsten. Das Gemüt mit seinen verschiedenartigen Kräften neigt sich mit der ganzen Gewalt derselben zum Bösen hin und von Gott und dem Guten weg; und die natürlichen Begierden brennen gleichsam in Lust, das Verbotene zu vollbringen“. Ebd. [wie Anm. 62], S. 11.

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Von Culmann übernimmt Jäckel ferner den Begriff der „Assimilierung“. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass „Gott die persönliche Gottesfülle zu einem Nichtpersönlichen herabsetzt“, damit „der Mensch durch treues Assimilieren des Nichtpersönlichen zu dessen Persönlichkeitskern vordringen und die Gabe zum Geber wieder aufsteigern“ möge.80 Beispiel eines solchen Assimilierungsmediums, das auch Jäckel erwähnt (S. 10), sind die Bäume des Paradieses, von denen zu essen dem Menschen befohlen war, wodurch er die „ewigen Lebenskräfte“ assimilierte. Der Gedanke erinnert an die in 2Petr 1,4 angedeutete Teilhabe des Menschen an der göttlichen Natur. Allerdings übernimmt Jäckel die Assimilierungsvorstellung Culmanns nur in modifizierter Form, da er offenbar mit dessen nichtpersönlicher Mittlersubstanz nicht recht glücklich ist.81 Zwar behält er Culmanns Gedanken bei, dass das Genießen Gottes die Assimilierung bzw. Aneignung des Genossenen, also der göttlichen Natur, zur Folge hat und darin das Wesen der Gemeinschaft des Menschen mit Gott, schlechthin das Wesen der Religion, beschrieben ist.82 Jedoch setzt er an die Stelle der unpersönlichen Mittlersubstanz Christus als den persönlichen Mittler des Assimilierungsvorgangs ein, dessen Objekt nun offenbar der Vater selbst ist. In der Summe ergibt sich für Jäckel ein trinitarisches Schema des Heiligungswerkes, demzufolge dem Vater der Ratschluss der Heiligung, dem Sohn die Vermittlung derselben und dem Heiligen Geist das Werk der Heiligung selbst zugeschrieben wird.83 Dass Jäckel den Assimilierungsvorgang nur personal, also durch die Person des Christus, vermittelt sehen möchte, hat Konsequenzen für die Beurteilung des Abendmahls. Denn da für Culmann Christus, „wie er sich in der Kirche darbietet“,84 das Objekt der Assimilierung ist, nimmt das Abendmahl im Assimilierungsvorgang eine besondere Stellung ein. Es ist „Ein Leib und Blut werden mit dem Herrn, wie wir bereits ein Geist mit ihm werden“.85 Diese substantielle Bestimmung geht dem in der Sakramentslehre eher reformiert denkenden Methodisten Jäckel dann doch zu weit. Allerdings schafft er es auch nicht, wie noch Wesley, einen Mittelweg zu gehen: einerseits die substantiellen Interpretationen der römisch-katholischen, lutheri80 81

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Culmann, Ethik [wie Anm. 70], S. 23. Bei ebd. [wie Anm. 70], S. 235 wird durch diesen göttlichen Wesensausfluss das Subjekt der Assimilierung, also der Mensch, mit dem Objekt der Assimilierung, Christus, „wie er sich in der Kirche darbietet“, vermittelt. Vgl. Jäckel, Heiligung [wie Anm. 62], S. 141. Vgl. ebd. [wie Anm. 62], S. 95–99 und 141. Culmann, Ethik [wie Anm. 70], S. 235. Vgl. ebd. [wie Anm. 70], S. 273f.

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schen und hier lutherisch-theosophischen Sakramentologie abzuweisen und andererseits gleichwohl das Abendmahl als ein für das Wachsen in der Heiligung notwendiges und regelmäßig zu gebrauchendes Gnadenmittel anzusehen.86 So sind bei Jäckel zur Förderung der Heiligung nur noch die Gnadenmittel maßgeblich, die ein magisch-sakramentales Missverständnis weitgehend ausschließen: das Forschen in der Schrift,87 das Lesen anderer guter Schriften,88 der Umgang mit geheiligten Personen89, das Gebet,90 die Selbstprüfung91 sowie das Fasten und Kasteien.92 Was in seiner Aufzählung fehlt, ist – das Abendmahl. 5.2 Die Heilsgeschichte Der heilsgeschichtliche Grundzug, der bereits den Aufriss seines Buches zur Heiligungsthematik bestimmt, tritt deutlicher noch in einem Aufsatz mit dem Titel „Christus und Belial“ zu Tage, den Jäckel 1894, also kurz vor Ende seines Lebens, beginnt, aber nicht mehr zu vollenden vermag.93 Bemerkenswert ist, dass Jäckel sich in diesem Aufsatz der theosophischen Spekulation weiter öffnet als er es zuvor getan hatte. Den Ausgangspunkt bildet die Frage nach dem ursächlichen Grund der Heilsgeschichte überhaupt. Jäckel sieht diesen Grund in der Tatsache, daß lange vor der Erschaffung des Menschen in dem Gebiete der Unsichtbarkeit, oder im Himmel, eine furchtbar große Empörung ausgebrochen, der ein Kampf folgte, der hinsichtlich der Anführer desselben, wie an Großartigkeit, Länge und Dauer, plötzlich eingetretenen Wendungen, sammt folgenschweren Resultaten, alle menschlichen Begriffe weit übersteigt.94

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Vgl. Knight, Henry H. III., The Presence of God in the Christian Life. John Wesley and the Means of Grace, Lanham/London 1992, S. 130–148. Vgl. Jäckel, Heiligung [wie Anm. 62], S. 180–182. Vgl. ebd. [wie Anm. 62], S. 182–84. Vgl. ebd. [wie Anm. 62], S. 184–86. Vgl. ebd. [wie Anm. 62], S. 186–89. Vgl. ebd. [wie Anm. 62], S. 189–90. Vgl. ebd. [wie Anm. 62], S. 190–92. Der Aufsatz erschien, verteilt über mehrere Ausgaben, in der Zweimonatlichen Zeitschrift für Theologie und Kirche: Jäckel, Christus und Belial. Großer Kampf und herrlicher Sieg Christi. In: ebd. 15 (1894), S. 413–420; ebd. 16 (1895), S. 15–22.91–95.172–178.250–258.325– 330.403–408; ebd. 17 (1896), S. 12–21.96–102.161–163.241–244.321–325.401–406. Es handelt sich dabei um eine von deutschamerikanischen Theologen verschiedener protestantischer Denominationen herausgegebenen theologischen Zeitschrift, die nicht mit der bis heute fortgesetzten Zeitschrift für Theologie und Kirche (ZThK) verwechselt werden darf. Jäckel, Christus (1894) [wie Anm. 93], S. 414.

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Exegetisch liegt dieser Annahme die Auffassung zugrunde, dass zwischen Gen 1,1 und 1,2 eine große Kluft zu denken ist, die im Text lediglich angedeutet sei, ohne die Einzelheiten dieses himmlischen Geschehens zu überliefern. Der apologetische Gewinn dieser als „Restitutionshypothese“ bezeichneten Auslegung von Gen 195 liegt in der Gewinnung einer variabel langen Zeitspanne, wie sie die geologische Wissenschaft verlangt. In den Einzelheiten folgt Jäckel hier weitgehend Kurtz. Danach schuf Gott zunächst eine Welt von niederen Engeln und Engelfürsten, die ihrerseits Christus als dem von Gott eingesetzten König über alles Erschaffene untertan waren. Sie besaßen himmlische Behausungen und waren mit einem freien Willen ausgestattet. Luzifer, „der vornehmsten Fürsten einer“ (Dan 10,13)96, nutzte diese von Gott gewährte Freiheit, sich gegen den über ihn eingesetzten König, also gegen Christus, zu erheben, indem er sich in offener Empörung selbst an die Stelle Gottes zu setzen trachtete. Wenn Christus den Satan als einen Lügner von Anfang an bezeichnete (Joh 8,44), so sieht Jäckel darin als erste Stufe des Ungehorsams den Zweifel, ob „dieser Sohn nicht auch blos eine erschaffene Creatur ist“.97 Dem Zweifel als Keim des Unglaubens folgt die Verweigerung der Anbetung bzw. des Gehorsams und schließlich das offene Aufbegehren durch das „sich Selbstsetzen an Gottes Statt“. Eine Entsprechung zu dieser stufenweisen Entfaltung der Sünde sieht Jäckel dann beim Fall des ersten Menschenpaares. Damit ist die Szene gesetzt für den großen Kampf zwischen „Christus und Belial“, der fortan die Geschichte der Schöpfung bestimmt. Über den ersten großen Kampf beider Mächte lässt sich – wir bewegen uns immer noch zwischen Gen 1,1 und 1,2 – nichts Gewisses sagen. Mit Gewissheit, so Jäckel, wissen wir lediglich um das Resultat der ersten, für Christus siegreichen Auseinandersetzung. Es ist die ewige Verstoßung des aufrührerischen Fürsten aus seiner Behausung und die Bindung „mit Ketten der Finsternis“ (2Petr 2,4), damit dieser zukünftig keine Störung in den himmlischen Re98 gionen mehr verursachen kann. Doch entfaltet er seine gottfeindliche Wirkung bis zum Endgericht in der Erdsphäre, wobei er in unterschiedlicher Gestalt in Erscheinung tritt. Mit der Verstoßung Luzifers aus dem Reich des 95

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Vgl. dazu Zöckler, Otto, Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft mit besondrer Rücksicht auf Schöpfungsgeschichte, Bd. 2: Von Newton und Leibniz bis zur Gegenwart, Gütersloh 1879, S. 510–537. In Dan 10,13 ist allerdings nicht von Luzifer, sondern vom „Erzengel“ Michael die Rede. Jäckel will vermutlich sagen, dass Luzifer eine vornehme himmlische Stellung, der des Michael vergleichbar, einnahm. Jäckel, Christus (1894) [wie Anm. 93], S. 418. Jäckel, Christus (1895) [wie Anm. 93], S. 17.

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Lichts wurde nach Jäckels Vorstellung auch dessen Behausung dunkel. Anhaltspunkt dafür ist ihm Gen 1,2. Denn unmöglich könne Gott die Erde „wüst und leer“ erschaffen haben, dies sei vielmehr das Resultat des Falls Satans aus den himmlischen Sphären. Der Schöpfungsbericht von Gen 1 ist folglich der Bericht einer Neuschöpfung, nicht einer Urschöpfung – daher der Begriff „Restitutions“-Hypothese. Eine Analogie zu dieser protologischen sieht Jäckel in der eschatologischen Neuschaffung der Welt, die ebenfalls als Folge der Sünde notwendig sein wird. Auf die Verwüstung der Erde antwortet Gott mit der Erschaffung des ersten Menschenpaares und dessen Einsetzung in den Garten Eden, von dem aus sich die Menschen sukzessive die ganze Erde untertan machen oder, anders ausgedrückt, sie der Herrschaft des Satans wieder entreißen sollten. Gott unterscheidet den Menschen von den Tieren durch Vernunftbegabung, von den Engeln durch das Vermögen der Fortpflanzung. Des Menschen wertvollstes Privileg besteht jedoch in dem ihm gewährten Zugang zu den göttlichen Lebenskräften: dem Menschen dargereicht zunächst in koncentrierter und gesteigerter Form in dem „Baum des Lebens“ zu seiner geistigen Entwicklung und zur graduellen Verklärung seines Leibes zur himmlischen Herrlichkeit, wie auch überhaupt zur allmählichen Verklärung der Erde, nach ihrer Art, ins Himmlische, 99 durch den Menschen, als Herrn derselben.

Der Satan antwortet auf diesen Schachzug Gottes mit dem Plan der Verführung des Menschen zum Ungehorsam Gott gegenüber. Er sagt sich: Der Mensch ist ein mit freiem Willen begabtes Wesen, wie alle vernünftigen Geschöpfe das sind und um ihrer Selbstentwicklung willen sein müssen; so vermag denn derselbe auch, wenn nicht seine Entwicklung, deren er beides fähig und bedürftig ist, aufzuhalten, so doch deren Richtung selbst zu bestimmen.100

Der Satan – in Gestalt der Schlange – setzt nun beim äußerlichen Vorgang des Essens an, der ja das göttlich Gute vermitteln soll. Sollte nicht, so denkt Satan sich, das Böse auf gleiche Weise Eingang in den Menschen finden können? Und tatsächlich öffnet sich der Mensch der satanischen Mixtur aus Wahrheit und Lüge, und damit der Sünde. Dass Gott auch diesen Angriff des Satans auf seine Ehre geschehen ließ, liegt nach Jäckel in der wesenhaften Selbstbestimmung des Menschen begründet, dessen „Vermögen, sich selbst zu bestimmen, auch die Möglichkeit ein[schloss], sich gottwidrig zu be99 Ebd. (1895) [wie Anm. 93], S. 21f. 100 Ebd. (1895) [wie Anm. 93], S. 92 (Hervorhebung im Original).

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stimmen“101 – ist anders die Vollendung des Menschen in Herrlichkeit doch nicht zu erreichen. Allerdings zeugt der Sündenfall erst des Engelfürsten und dann des Menschenpaares zwei unterschiedliche Konsequenzen. Was Luzifers Fall kennzeichnet, ist der – von Jäckel nicht näher bestimmte – Akt der Erzeugung der Sünde in sich selbst, wodurch Luzifer zur „personifizierten Lüge“ und damit zum Teufel wird. Mit dieser radikalen Veränderung seines Wesens büßt der Engelfürst für Zeit und Ewigkeit seine Erlösungsfähigkeit ein. Im Unterschied dazu hat zwar auch der Mensch gegen die klare Anordnung Gottes verstoßen und damit schwerste Schuld auf sich geladen, doch 102 ist er einer Verführung erlegen, was ihm seine Erlösungsfähigkeit bewahrt. Mit dem Erscheinen des Menschen auf der Bühne der Weltgeschichte tritt also ein dritter sich selbst bestimmender Wille in das Ringen von „Christus und Belial“ (vgl. 2Kor 6,15) ein. Der Wille des Menschen, so Jäckel, wird „im Verlauf dieses Kampfes von der größten Bedeutung sein, ja gar bezüglich des Endresultats desselben maßgebend sein“.103 Die „Logik“ dieser Konstellation sieht Jäckel darin, dass Gott, da der Teufel seinen Angriff auf Gottes Ehre durch den Menschen geführt hatte, des Teufels Macht auch durch den Menschen, nämlich durch den einen Gott-Menschen, Jesus Christus, zu besiegen habe. Obwohl Gott mit dem Abfall des Engelfürsten Luzifer ein mächtiger Gegenspieler entgegentritt, stellt sich angesichts der Allmacht Gottes die Frage, warum dieser den Kampf nicht mit einem Paukenschlag sofort beendet, sondern es zu einem Jahrtausende währenden Kampf kommen lässt. Die Notwendigkeit einer fortschreitenden Entwicklung des Erlösungswerkes ergibt sich für Jäckel aus dem Wesen des Schöpfungsaktes einerseits, des menschlichen Sündenfalls anderseits. Da Gott den Menschen mit einem freien Willen erschuf, kann er diesen Willen auch im Vollzug des göttlich initiierten Heilsplanes nicht ignorieren. Der Mensch, der sich frei gegen Gott und für die Sünde entschied, kann unmöglich zum Heil gezwungen werden. Dazu kommt ein weiterer im Schöpfungsakt angelegter Grund. Gott hat die aus seiner Hand hervorgehenden selbstbewussten Kreaturen (also Engel und Menschen) nicht im Status der Vollendung, sondern im 101 Ebd. (1895) [wie Anm. 93], S. 95. 102 Ebd. (1895) [wie Anm. 93], S. 95. Sehr klar formuliert findet sich dieser Gedanke bei Kurtz: „Der Mensch hatte die Sünde nicht (wie der Satan) aus freien Stücken in sich selbst erzeugt, sie war ihm vielmehr von außen durch Verführung (der er freilich hätte widerstehen können und sollen) aufgedrungen worden. Sein ganzes Wesen war zwar von der Sünde durchdrungen und vergiftet, aber nicht selbst Sünde geworden“; Lehrbuch [wie Anm. 67], S. 23 (Hervorhebungen im Original). 103 Jäckel, Christus (1895) [wie Anm. 93], S. 173.

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Status der vollendeten Potentialität geschaffen, die auf freie Selbsttätigkeit und Selbstentwicklung hin angelegt ist.104 Mit dem freien Willen, der seinem Wesen nach zwar auch gegen Gott gerichtet werden kann, ist der Mensch auf die ihn vervollkommnende Assimilierung der göttlichen Lebenskräfte hin angelegt.105 Der stufenweisen Entfaltung göttlichen Lebens entspricht analog die mit der Wahl der Sünde verbundene stufenweise Entfaltung der Sünde.106 Nach Jäckel kann aber ein Endgericht über irgend ein vernünftiges Wesen erst dann stattfinden […], wann, in Folge seiner Selbstbestimmung und gemäß derselben das Innere desselben, nach dessen Tiefe und Umfang, gleichsam durch völlige Ausreifung durch die That in die Erscheinung getreten ist. … Für das Böse in ihnen, das 107 nicht zur That geworden, war die Zeit des Gerichts noch nicht da.

Dieser Gedanke entspricht laut Jäckel der Gerechtigkeit Gottes, die sich „vor den Augen aller vernünftigen Geschöpfe (den Teufel und seine Engel eingeschlossen)“ zu erweisen hat und folglich nicht nach der Gesinnung allein, sondern nach Gesinnung und Tat urteilen muss. Nun ist die Rede vom freien Willen des Menschen angesichts der Schöpfungstat Gottes einsichtig. Doch wie bestimmt Jäckel die Folgen, die sich für die menschliche Willensfreiheit aus dem Sündenfall ergeben? Nach Jäckel wurde der Mensch durch die Abwendung von Gott „der Sünde Knecht“, und „hat das Sündengift ihn also durchdrungen und verdorben, daß er alles Vermögen zu einer Willensentscheidung gegen die Sünde und für das 108 Gute, d. i. das Gute zu wollen, gänzlich verloren hat“. So liegt die Dauer und Dramatik der Heilsgeschichte nicht in der List und Tücke des Teufels begründet, sondern in der „tiefe[n] Verdorbenheit und Verkehrtheit des menschlichen Herzens durch die Sünde“.109 Die Erlösung des Menschen von der Sünde aber ist die Absicht und das Ziel Gottes.110 Allerdings muss der 104 Jäckel, Christus (1894) [wie Anm. 94], S. 417. 105 Bei Kurtz besteht schon das Wesen Gottes selbst in einer ewigen und notwendigen „Selbstentfaltung der Einheit des göttlichen Wesens zur Dreiheit der Personen“. Subjekt (der Vater) und Objekt (der Sohn) der Selbstentfaltung Gottes liegen für Kurtz in Gott selbst. Die geschichtliche Entwicklung des Heils ist danach von der übergeschichtlichen Selbstentfaltung Gottes zu unterscheiden, wenn auch beides nicht voneinander zu trennen ist. 106 Jäckel verzichtet jedoch auf die tief theosophische Entfaltung der Lasterstufen (Das Ignorieren Gottes, Die Gottesscheu, Der Gotteshaß), wie wir sie bei Culmann, Ethik [wie Anm. 70], S. 382–429 finden. 107 Jäckel, Christus (1895) [wie Anm. 93], S. 18 (Hervorhebung im Original). 108 Ebd. (1895) [wie Anm. 93], S. 176 (Hervorhebung im Original). 109 Ebd. (1895) [wie Anm. 93], S. 326. 110 Vgl. ebd. (1896) [wie Anm. 93], S. 98 sowie ebd. (1895) [wie Anm. 93], S. 173.

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Verlust des Willensvermögens durch den Sündenfall nach Jäckel näher bestimmt werden, denn „[n]icht das demselben gegebene freie Willensvermögen an sich verlor er durch die Sünde, sondern die Kraft zum rechten Gebrauch derselben“.111 Die Kraft, das Gute zu wollen, vermag nur Gott selbst dem Menschen mitzuteilen. Gott teilt sie dem Menschen aufgrund des Versöhnungswerkes Christi mit, das offenbar in einem „ewigen Jetzt“ und damit als für Zeit und Ewigkeit gültig gedacht ist. Aufgrund des Versöhnungswerkes Christi fließt jedem Menschen ein Maß an vorlaufender Gnade zu, die ihn zur Annahme des göttlichen Heilsangebotes befähigt. Auf diese Weise gelingt es Jäckel, der hier klar an die Lehre Wesleys anschließt, die allem vorlaufende Wirksamkeit der göttlichen Gnade und die Mitwirkung des Menschen zum Heil miteinander zu vermitteln. Indem Jäckel das Erlösungswerk Christi in das „ewige Jetzt“ verlegt, kann er dessen Wirksamkeit auch auf die Menschen vor der Menschwer112 dung des Gottessohnes beziehen. Allerdings gerät er mit dieser These, die sich ebenfalls schon bei Wesley findet,113 in Spannung zu der sowohl von Kurtz als auch von Culmann vertretenen Auffassung von einer sukzessiven und damit im Zeitmodus gedachten Ausfaltung der göttlichen Trinität – man denke an die Entsprechung von vollendeter Potentialität des Menschen auf der einen und Gottes auf der anderen Seite. Bei Jäckel impliziert die Vorstellung von der Wirksamkeit des Sühnewerkes Christi im „ewigen Heute“ ein Verständnis von Ewigkeit als Zeitlosigkeit.114 Dagegen verlangt die theosophische Konzeption der Gotteslehre, wie wir sie bei Kurtz finden, ein anders geartetes Verhältnis von Zeit und Ewigkeit: Die Zeit hört nicht auf Zeit zu sein. […] Aber durch die Vereinigung mit der Ewigkeit nimmt die Zeit an allen Attributen der Ewigkeit teil, wie die 111 Ebd. (1895) [wie Anm. 93], S. 176. 112 „Und da diese Hingabe des Sohnes, den ,Willen‘ des Vaters zu thun –, zugleich im ewigen Heute geschah, und durch ewige Rechtskraft besiegelt war, so konnte auch der Herr gleich im ,Anfang‘ unbeschadet der göttlichen Gerechtigkeit, und Heiligkeit sich dem sündigen Menschen wieder in Gnaden nahen, und demselben alles Nöthige zu seiner Errettung von der Sünde und Vollendung in der Herrlichkeit darreichen“, ebd. (1895) [wie Anm. 93], S. 250 (Hervorhebung im Original). 113 Vgl. Naglee, David Ingersoll, From Everlasting to Everlasting. John Wesley on Eternity and Time, New York 1991. 114 Vgl. auch Jäckel, Heiligung [wie Anm. 62], S. 255. Er begründet dies mit Offb 10,5 (gemeint ist wohl V. 6b), eine Stelle, die aber auch von den Vertretern eines Verständnisses der Ewigkeit als endloser Zeit für ihre Exegese beansprucht wurde. Ferner sieht Jäckel in der These vom „ewigen Jetzt“, in dem Gott existiert, offenbar auch die logische Möglichkeit, die Vorstellung vom freien Willen des Menschen mit der vom Vorherwissen Gottes, an dem er zugleich festhält, harmonisieren zu können; vgl. ebd., Christus (1896) [wie Anm. 93], S. 12.

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Menschheit Christi seit der Erhöhung zur Rechten des Vaters an allen Attributen der mit ihr persönlich verbundenen Gottheit des Sohnes teilnimmt.115

Für Jäckel scheint klar zu sein, dass es legitim ist, sich für den Aufweis der Wahrheit und Aktualität der biblischen Offenbarung auf das die Gegenwart bestimmende Wahrheitsbewusstsein zu beziehen, ohne freilich die Aufgabe der kritischen Beurteilung aufzugeben. Dieses Vorgehen zeigt sich in Jäckels Betonung der Subjektivität des Menschen, also seiner moralischen Freiheit und Verantwortlichkeit, und im Gedanken einer moralischen Höherentwicklung des Gläubigen. Jäckel scheint ferner davon überzeugt zu sein, dass die Begriffs- und Vorstellungswelt der christlichen Theosophie eine Hilfe zur Interpretation der biblischen Offenbarung darstellt. Grundlegend ist für ihn schließlich das Schema der Heilsgeschichte, das bei Jäckel auf einer „realistischen“ Deutung auch der biblischen Urgeschichte beruht. So erweist er sich als „aufgeklärter“, nicht als repristinierender Erweckungstheologe.

6 Fazit Während der erweckliche Protestantismus in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts mit der Rezeption der moderat-aufklärerischen „Common-Sense“-Philosophie zu einer prinzipiell hohen Wertschätzung der Vernunft gelangt und deren apologetischem Gebrauch für die Verteidigung und Ausbreitung des Evangeliums eine unbefangen hohe Bedeutung beimisst, zeigen sich in der Erweckungstheologie Deutschlands bereits am Beginn des 19. Jahrhunderts infolge der starken Stellung des (kirchlichen) Rationalismus und infolge der durch die französische Revolution ausgelösten Erschütterungen kritischere, wenn auch nicht grundsätzlich ablehnende Einstellungen zum Erkenntnisvermögen der Vernunft. Allerdings treten dabei Selbstwahrnehmung und praktisch-theologische Wirksamkeit doch etwas auseinander. Denn in der eigenen Selbstwahrnehmung sieht man sich klar als Überwinder und Antipode einer von Rationalismus und Ver116 nunftreligion bestimmten Epoche. Und tatsächlich handelt es sich bei den Erweckungsbewegungen in Deutschland um Gegenbewegungen zu Aufklärung und Rationalismus, jedoch um Gegenbewegungen, die „vieles mit den von ihnen bekämpften Geistesströmungen gemein hatten“.117 Dies zu erken-

115 Kurtz, Lehrbuch [wie Anm. 67], S. 329. 116 Vgl. Gäbler, „Erweckung“ [wie Anm. 4], S. 163f. 117 Jung, Protestantismus [wie Anm. 20], S. 65. Ähnlich Max Geiger, Das Problem der Erweckungstheologie. In: Theologische Literaturzeitung 14 (1958), S. 430–450.

Fazit

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nen, hatten die Erweckten Deutschlands aber offenbar Schwierigkeiten, größere Schwierigkeiten jedenfalls als die amerikanischen Evangelikalen, die freilich in einem anderen Kontext agierten. Dabei zeigen sich Übereinstimmungen zwischen Aufklärung und Erweckung, wie wir gesehen haben, u. a. in dem Bemühen, ethische Normen und religiöse Überzeugungen auf „vernünftigem“ Weg zu begründen. Beide Geistesrichtungen tragen die Signatur gemeinsamer neuzeitlicher Denkstrukturen. Als Geistesrichtungen jedoch sind Aufklärung und Erweckung – und im Horizont der Entwicklungen des 19. Jahrhunderts durchaus zu Recht – dann auch wieder deutlich voneinander unterschieden. Denn es sind bei übereinstimmenden Denkstrukturen konträre Denkrichtungen, die in Aufklärung und Erweckung zur Konzentration auf die Bibel gegenüber der Dogmatik führen. Nimmt man allein das gegen die Vorherrschaft formaler Dogmen gerichtete „biblizistische“ Grundmotiv, das anfänglich sowohl die Aufklärung als auch die Erweckung bestimmt. Der „Biblizismus“ der Aufklärung ist skeptizistisch, insofern er eine undogmatische, freie Kirche erstrebt. Der „Biblizismus“ der Erweckung dagegen ist „primitivistisch“, insofern er eine biblisch grundierte, apostolische Kirche ersehnt. Beiden Spielarten des Biblizismus korreliert dann auch eine letztlich konträre Sicht vom Offenbarungs- und Autoritätscharakter der Bibel. Es überrascht vor dem Hintergrund der Entwicklungen des 19. Jahrhunderts nicht, dass sich die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts im Bemühen um dogmatische Festigung wieder dem konfessionellen Denken annäherten, eine Ent118 wicklung übrigens, die sich auch in den Freikirchen zeigte. An Jesse Jäckel bestätigen sich die vorgetragenen Überlegungen. Das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft wird von ihm unter den Bedingungen neuzeitlicher Subjektivität bestimmt, wobei die positive Würdigung der Vernunft in der Einsicht gipfelt, dass die kritische Vernunft erst in der Selbstkritik zur höchsten Selbstreflexion gelangt. Geistige Impulse der Neuzeit, wie insbesondere die sittliche Selbsttätigkeit des Menschen, werden – im Kontext der eigenen theologischen Tradition – aufgenommen und im Sinne einer „erweckten Aufklärung“ apologetisch fruchtbar gemacht. Dabei wird Jäckels Programm andersherum als „aufgeklärte Erweckung“ daran erkennbar, dass die unter apologetischer Blickrichtung und konkret unter Aufnahme christlich-theosophischer Gedanken gewonnene Aktualisierung der biblischen Wahrheiten stets zur Erlösungslehre hinführt, deren zentrale theologische Bedeutung nicht in Frage gestellt wird. 118 Vgl. für die Evangelische Gemeinschaft z. B. Jäckel, Ruben, Unsere Kirchenordnung als Glaubenslehre und Bekenntniß, Cleveland 1899.

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Die Autorität der Bibel Impulse der Theologie John Wesleys 1 Einleitung Wesleys Beschreibung seiner selbst als homo unius libri, als Mann eines Buches, nämlich der Bibel, ist bekannt.1 Tatsächlich verbrachte Wesley täglich viele Stunden damit, biblische Texte zu studieren und über sie zu predigen. Er hatte die Bibel in einer Weise verinnerlicht, die es ihm erlaubte, aus der Fülle biblischer Texte zu schöpfen. In seinen uns überlieferten Predigten zitiert Wesley aus allen biblischen Büchern mit Ausnahme von Ruth, Obadja und 3 Johannes,2 wobei die Bezugnahmen auf das Neue Testament deutlich überwiegen. Für Wesley war die Bibel Quelle und Norm der Wahrheit. An dieser Überzeugung hielt er ungebrochen fest, während ein religionskritischer Rationalismus dieses Zutrauen zur Bibel bereits zu erschüttern begann. Wesley steht mit seiner Sicht auf die Bibel an einer Schwelle: Die Bibel ist für Wesley und viele seiner Zeitgenossen die Linse, die es ihnen erlaubt, die Wahrheit zu erfassen, also mittels der Schrift zu sehen. Für immer mehr seiner Zeitgenossen jedoch ist die Bibel ein Gegenstand, der selbst einer kritischen Untersuchung bedarf. Was haben wir unter diesen Voraussetzungen von Wesley zu erwarten? Wir werden von ihm keine Antworten auf Fragen erwarten dürfen, die sich ihm noch nicht stellten. Die Kritik biblischer Überzeugungen und weltbildlicher Voraussetzungen sollte ihre volle Kraft erst nach Wesley, vor allem im 19. Jahrhundert, entfalten. Wir können davon ausgehen, dass Wesley einige ihm kirchlich überlieferte Antworten auf die Frage nach der Autorität der Bibel gibt – was nicht bedeutet, dass sie schon dadurch heute überholt sind. Zu beachten ist jedoch, dass Wesley sie unter Voraussetzungen gibt, die nicht die unserer Zeit sind. Doch bleibt die Zuversicht, dass Wesley Ant1

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Wesley, John, Die 53 Lehrpredigten. Übersetzt und hrsg. von Manfred Marquardt (Methodistische Quellentexte 1), 2. Aufl. Göttingen 2016, S. 19. Wesley konnte auch schreiben: „The Bible is my standard of language as well as sentiment. I endevour not only to think but to speak as the oracles of God”, To John Newton, April 1, 1766. In: Telford, John (Hrsg.), The Letters of John Wesley, Vol. V.: February 28, 1766, to December 9, 1772, London 1931, S. 8. Vgl. Jones, Scott J., John Wesley’s Conception and Use of Scripture, Nashville 1995, S. 155.

Einleitung

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worten gibt, die mit seiner Lebenszeit nicht schon vergangen sind und von daher für uns weder von Interesse noch Belang wären. Die Wirkung, die Wesleys Verkündigung hatte, und die Bewegung, die er auslöste, legen nahe, Wesley als einen ernst zu nehmenden theologischen Gesprächspartner in Fragen der Bibel und des Bibelverständnisses zu konsultieren. Im Folgenden werden wir bei Wesleys Überlegungen einsetzen, jedoch nicht bei ihnen stehen bleiben. Dabei soll es konkret darum gehen, welche Autorität der Bibel zukommt (2), in welchem Verhältnis sie zu anderen Autoritäten steht (3), von welchen Auslegungsregeln wir uns leiten lassen sollten (4) und was dies für die kirchliche Praxis bedeutet (5).

2 Die Autorität der Bibel In der Überschrift werden das Buch der Bibel und das Konzept Autorität in einen engen Zusammenhang gebracht. Die Bibel, so ist hier vorausgesetzt, ist nicht irgendein Buch, sondern Heilige Schrift, die Anspruch auf das Leben des Lesers erhebt. Doch wie lässt sich eine solche Autorität etablieren? Ist sie aus der Beobachterperspektive zu erkennen, ja anzuerkennen? Oder wird sie zur Autorität für den, der sich ihr im Glauben an Jesus Christus unterstellt? Und wenn letzteres geschieht, geht es dann nicht vielmehr um die Autorität der Person Jesu Christi als um die eines Buches, der Bibel? Wir müssen zunächst Wesleys historischen Ort beachten. Wesley entwickelt keine Schriftlehre in der Absicht, in ihr zu sagen, was zuvor von noch niemandem gesagt worden ist. Vielmehr entwickelt und entfaltet er seine Auffassung von der Autorität der Bibel in einem ekklesialen Kontext. Er ist Pfarrer der Kirche von England, vertraut mit den Homilien seiner Kirche, in denen Wesleys eigene Praxis, Lehrpredigten als Bezugspunkt methodistischer Lehre und Verkündigung zu drucken, vorgebildet ist. Von der Autorität der Bibel zu sprechen bedeutet für Wesley in erster Linie, der Kirche bzw. der methodistischen Bewegung Rechenschaft von den Grundlagen des ihr anvertrauten Glaubens zu geben. Diese Vergewisserung hinsichtlich der Quelle und Norm des Glaubens ist nicht identisch mit dem Glaubensakt, der seinem Wesen nach fiducia, Vertrauen auf Gott in Jesus Christus, ist, doch lässt sich der Glaubensakt auch nicht von den Glaubensgrundlagen lösen. Denn die Stimme des guten Hirten, Jesus Christus, wird in der Schrift vernehmbar und nur durch sie auch als Anrede des Menschen durch Gott identifizierbar.

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Die Autorität der Bibel

Treten wir einen Schritt zurück und fragen, was Autorität auszeichnet, also welche Elemente das damit bezeichnete Konzept impliziert.3 Es lassen sich (mindestens) drei konstitutive Merkmale angeben. Das erste ist Macht, also das Vermögen, durch Überzeugung oder Zwang diejenigen zu beeinflussen, über die Macht ausgeübt wird. Wie die Bibel Macht ausübt, wird sich nicht unabhängig von der Botschaft, die sie enthält, bestimmen lassen. Legt man die Verkündigung Jesu zugrunde, dann handelt es sich um die gewinnende Macht der heiligen Liebe Gottes. Es geht also um den Verzicht auf Zwang (Liebe), nicht jedoch um eine Liebe, der das Verhalten der adressierten Menschen gleichgültig sein könnte (Heiligkeit). Ein zweites Element ist die Legitimation, also die Frage danach, welches gesellschaftliche Arrangement oder auch welche moralische Ordnung eine Autorität legitimiert. Wir kennen Übereinkünfte, die durch Vertrag oder Gewohnheit zustande kommen, z. B. die Weisungsbefugnis eines Vorgesetzten gegenüber seinen Untergebenen. Wir kennen die Legitimation elterlicher Autorität aufgrund der Tatsache, dass Kinder zu diesen Eltern gehören und es keine Instanz gibt, die enger mit ihnen verbunden ist. Allerdings kennen wir auch Beispiele dafür, dass der Staat mit seiner Autorität in das Beziehungsgefüge der Familie eingreift, z. B. um die Kinder vor Missbrauch oder Vernachlässigung zu schützen. Die Autorität der Bibel hat ihre Legitimation im Handeln des Gottes, der dieser Welt ihre moralische Ordnung eingeschrieben hat, und der sich in machtvollen Taten bis hin zu seiner Menschwerdung selbst mitgeteilt hat. So ist es die Autorität des dreieinigen Gottes, die sich im Buch der Bibel Gehör und Geltung verschafft. Das dritte Element des Konzepts Autorität ist die Rezeption. Die Behauptung von Autorität bleibt leer, wenn ihr Anspruch nicht anerkannt wird. Besteht, wie wir gesagt haben, die Macht der Bibel in der gewinnenden Kraft der heiligen Liebe Gottes, dann muss diesem Machtanspruch auf Seiten der Rezipienten ein Maß an Freiheit entsprechen, also das Vermögen, sich diesem Anspruch zu verschließen sowie die vom Heiligen Geist gewirkte Befähigung, sich dieser Autorität zu unterstellen. Nimmt man das Verhältnis zwischen Gott als Schöpfer, der Bibel als seiner Wortoffenbarung (deren Charakter wir uns noch näher ansehen müssen) und dem Menschen als Geschöpf genauer in den Blick, dann wird über diesen Gehorsamsakt noch Genaueres zu sagen sein: Nach biblischem Zeugnis ist der Mensch nicht einfach wie alle anderen Geschöpfe durch ein mächtiges Schöpferwort 3

Zum Folgenden vgl. Douglas M. Koskela, A Wesleyan Understanding of the Authority of Scripture. In: Green, Joel B./Watson, David F. (Hrsg.), Wesley, Wesleyans, and Reading Bible as Scripture, Waco 2012, S. 133–146, bes. 136f.

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ins Dasein gerufen, also das von Gott ausgesprochene Wesen, sondern im Unterschied zu ihnen zugleich das von Gott angesprochene Geschöpf, zu dem sich Gott in ein kommunikatives Verhältnis gesetzt hat, weshalb der Mensch als Gottes Ebenbild bezeichnet wird. Wenn dies so ist, dann wird die Anerkennung der Autorität der Schrift nicht das Ende, sondern den Auftakt zu einer kommunikativen Beziehung markieren, weshalb es nicht um einen blinden Gehorsam gehen kann. Im Gegenteil, es geht um einen Gehorsam, der wirklich sehend macht: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, […] werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,31–32). Wie lässt sich Wesleys Verständnis von Schriftautorität mit diesem Konzept verbinden? Wir stellen zunächst fest, dass Wesley die Macht der Bibel auf zwei unterschiedliche Weisen zu etablieren sucht. Wir könnten von einem ontologischen und einem soteriologischen Begründungsgang sprechen. Wesley erläutert also an verschiedenen Stellen, worin seiner Überzeugung – und das heißt für ihn: dem biblischen Selbstanspruch – nach das Wesen bzw. der Charakter der Bibel besteht (ontologische Begründung). Hier begegnen uns vertraute Begriffe und Argumentationsstränge, wie Wesley sie seinerseits in der reformatorischen Theologie (auch der seiner Kirche von England) bereits vorgefunden hatte. Danacsh ist die Bibel geoffenbartes Gotteswort, inspirierte Schrift geworden durch Menschen, die vom Geist Gottes angetrieben waren, weshalb die Bibel teilhat an der Unfehlbarkeit Gottes. Dabei folgte Wesley keiner strikten Diktattheorie (die er lediglich für einige als Diktat ausgewiesene Texte annahm), sondern rechnete mit einer Lenkung der Umstände im Sinne der speziellen göttlichen Vorsehung, um seine Offenbarung Schrift werden zu lassen. Dabei bedeutet „Wort Gottes“ nicht, dass der menschliche Anteil aus der Schriftwerdung der Kundgabe Gottes ausgeschieden werden muss. Im Gegenteil: Gottes Inspiration vollzieht sich auf eine Weise, die den Autor seiner natürlichen 4 Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht beraubt, sondern sich ihrer bedient. Weil für Wesley die Schrift an der Hoheit Gottes teilhat, hebt er ihre wesentliche Vorzugswürdigkeit hervor, die im Prinzip dieser Logik folgt: (1) Die Bibel ist Urkunde Gottes. (2) Gott ist allwissend und ohne Falsch. (3) Daher ist auch die Schrift ohne Fehler.5 Natürlich ist die Schrift nicht lediglich frei von Fehlern, sie ist – ins Positive gewendet – vollkommen wahr und vertrauenswürdig. Wesley kann zur näheren Erläuterung dieser Aussa4 5

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Vgl. Wesley, John, Explanatory Notes Upon the New Testament, Nachdruck London 2000, S. 631 (zu 1 Kor 14,32). Vgl. Jones, Conception [wie Anm. 2], S. 24.

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gen die bereits bei den Reformatoren etablierten Kriterien der Allgenügsamkeit (sufficentia), Klarheit (claritas) und Übereinstimmung (consistentia) der Schrift heranziehen. Damit schließt sich Wesley in diesem Begründungsgang eng an die Reformatoren und die reformatorische Orthodoxie an. Der soteriologische Begründungsweg hebt auf das tatsächliche Vermögen der Schrift ab, sich als die Kraft der Erneuerung des Sünders in die Gemeinschaft mit Gott zu erweisen. In diesem Verständnis wird die Autorität der Schrift neben dem, was sie ist (s. o.), in dem begründet, was Gott durch sie tut. Worum es dabei geht, hat Wesley im Vorwort zu seinen Lehrpredigten deutlich zum Ausdruck gebracht, wenn er schreibt: Nur eins will ich wissen: den Weg zum Himmel, wie ich jenes selige Ufer sicher erreiche. Gott selbst hat sich herabgelassen, um diesen Weg zu lehren. Genau deshalb kam er vom Himmel. Er hat es in ein Buch geschrieben. Oh, gib mir dieses Buch! Um jeden Preis: Gib mir das Buch Gottes!6

Die Schrift erschließt damit den Zugang zum dreieinigen Gott als Quelle und Kraft der Versöhnung und Erneuerung. In ihr wird der Leser nicht nur informiert, sondern transformiert. Als Medium der Verwandlung ist die Bibel, wie Wesley in Anlehnung an 2Tim 3,16–17 schreibt, „nützlich zur Belehrung, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes vollkommen sei und für alle guten Werke ausgerüstet“.7 Anders gesagt: Sie ist ein Gnadenmittel, ja: das Gnadenmittel, sie tut also nicht nur Gottes Willen kund, sondern gibt Anteil an seiner Gnade und legt den Grund für den Glauben an Jesus Christus.8 Für Wesley verlaufen diese beiden Begründungswege konvergent, d. h. sie verweisen aufeinander und bilden keinen Widerspruch. Anders gesagt: Wesley stützt die Autorität der Bibel auf zwei Säulen, nämlich mit Erwägungen zur Wirklichkeit (was sie ist) und zur Wirksamkeit des Wortes Gottes (was sie tut). Fragen wir in kritischer Reflexion danach, ob sich diese Verbindung als tragfähig erweist. Denn es wird nicht genügen, Wesley ohne jeden Vorbehalt zu folgen, denn das hieße, sein Anliegen zu verkennen. In diesem Sinne formuliert dann auch William Abraham: „We honor him [Wesley] best by discarding his errors and by developing his insight in ways that best serve the

6 7 8

Wesley, Lehrpredigten [wie Anm. 1], S. 18f. (Vorwort). John Wesley, Die Gnadenmittel (Predigt 16), § III.8. In: ders., Lehrpredigten [wie Anm. 1], S. 230. Vgl. ebd. [wie Anm. 7], § III.7, S. 229.

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truth of the gospel and the glory of God in the salvation of souls today“.9 Wo aber könnte Wesleys Irrtum liegen, und wo sind die für uns auch weiterhin wegweisenden Einsichten zu finden? Abraham selbst sieht das grundlegende Problem von Wesleys Schriftlehre darin, dass Wesleys ontologischer Begründungsweg den soteriologischen Skopus der Schrift verdrängt und das Interesse ungebührlich auf erkenntnistheoretische Fragen lenkt. Das aber bedeutet, dass wir zuerst erkenntnistheoretisch bestimmen müssten, was mit Konzepten wie Offenbarung, Inspiration, Unfehlbarkeit usw. gemeint ist und erst dann auf das hören könnten, was die Bibel hinsichtlich des Heils der Welt zu sagen hat. Damit ist überhaupt noch nicht bestritten, dass die Bibel Gott offenbart in Gestalt inspirierter Schrift, die unfehlbar ist. Doch was genau damit gesagt ist, lässt sich nicht a priori bestimmen, sondern erst von der Art und Weise her, wie und wozu Gott sein Wort gebraucht, nämlich als ein Gnadenmittel der Rettung und Veränderung, erwirkt durch die Sen10 dung und den Weg Jesu Christi. Die Bibel von ihrer soteriologischen Wirksamkeit her zu verstehen eröffnet den – von Wesley sehr wohl auch beschrittenen – Weg, Jesus Christus als das menschgewordene Gotteswort so in das Verständnis der Bibel als Wort Gottes zu integrieren, dass hier kein Konkurrenzverhältnis entsteht. Wesley bezieht sich auf ein Wort Jesu in Joh 5,39, wenn er sagt, die Schrift solle zu dem Zweck erforscht werden, dass die Menschen an ihn, den Gottessohn, glauben, denn von ihm zeugt die Heilige Schrift.11 Gottes Geschichte mit den Menschen findet in der Sendung des Sohnes seinen Gipfelpunkt und bildet darin den Schlüssel, der die Schrift im Ganzen erschließt. Allerdings ist es dafür nötig, deutlicher als Wesley zwischen Offenbarung und Inspiration, und damit zwischen geoffenbartem Wort Gottes und biblischem Kanon, zu unterscheiden.12 Eine solche, im Ganzen hilfreiche Unterscheidung findet sich in der methodistischen Tradition zuerst bei dem deutschamerikanischen Theologen Wilhelm Nast (1807–1899), der damit das Ansehen der Schrift bewahren und kritische Einwände gegen die Verlässlichkeit der Bibel abwehren will.13 Nast zufolge hat man herkömmlich 9 10 11 12 13

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William J. Abraham, Scripture and Divine Revelation. In: Green/Watson, Wesley [wie Anm. 3], S. 117–132, hier 131. Abraham hat seinen Ansatz näher ausgeführt in: Canon and Criterion in Christian Theology from the Fathers to Feminism, Oxford 1998. Wesley, Gnadenmittel [wie Anm. 7], § III.7, S. 229. Vgl. dazu auch William J. Abraham, Inspiration in the Classical Wesleyan Tradition. In: Kinghorn, Kenneth C. (Hrsg.), A Celebration of Ministry, Wilmore 1982, S. 33–47. Nasts theologische Konzeption ist breiter und im Kontext seines Kirchenzweiges entfaltet in: Raedel, Christoph, Methodistische Theologie im 19. Jahrhundert. Der deutschsprachige Zweig der Bischöflichen Methodistenkirche, Göttingen 2004.

Die Autorität der Bibel

unter dem Ausdruck göttliche Offenbarung „die Mittheilung fertiger religiöser Verstandeserkenntnisse in der Form von Lehrsätzen [verstanden], und zwar eine unmittelbare innere Mittheilung durch eine gewisse mechanische oder magische Eingießung“.14 Das Problem daran ist die Reduktion von Offenbarung auf ein Mitteilungsgeschehen, während es sich bei Offenbarung um diejenigen – wie wir heute sagen würden – „Sprechakte“ Gottes handelt, die ob ihres übernatürlichen Charakters aus dem jedem Menschen zugänglichen Geschichtszusammenhang herausragen, ohne sich aus ihm zu lösen (weil die gesamte Geschichte unter Gottes Vorsehung steht). Die Inspiration bezieht sich demgegenüber „auf die Fähigkeit eines menschlichen Individuums, eine geschehene göttliche Offenbarung dem Willen Gottes gemäß wieder auszu15 sprechen, sey es mündlich oder schriftlich“. Anders gesagt: Zur äußeren geschichtlichen Manifestation Gottes musste, damit es eine Heilige Schrift gibt, eine innere Erleuchtung hinzukommen, also die Inspiration, die einem Menschen die Offenbarung Gottes recht zu erfassen und wiederzugeben erlaubt. Doch was ist damit gewonnen? Die Unterscheidung von Offenbarung und Inspiration ermöglicht es, den Beziehungscharakter des Konzepts Autorität stärker zur Geltung zu bringen. Der Heilige Geist ist Gottes Gegenwart beim Menschen und es ist die Einwohnung des Gottesgeistes im Gläubigen, durch die der Glaubende im Vertrauen Zugang zu den großen Taten Gottes findet. Für Nast steht außer Frage, dass die biblischen Autoren ein Amt „besonderer, eigenthümlicher Art“ ausfüllten „und zur Erfüllung derselben empfingen sie besondere und ei16 genthümliche Gaben“. Aber es ist derselbe Geist, der durch die Zeiten hindurch die Annahme des seligmachenden Wortes, also seine Rezeption, ermöglichte. Gottes dem Menschen unverfügbare Offenbarung ist damit von deren Empfang beim Menschen unterschieden, zugleich aber auf sie ausgerichtet. Das zeigt sich für Nast daran, dass „der Heilige Geist, der sie [die Schrift] eingegeben hat, eine unmittelbare Überzeugung von ihrer göttlichen Wahrheit in der Seele wirket“.17 Wenn der Heilige Geist Gemeinschaft herstellt zwischen Gott, der sich offenbart hat, und den Menschen, die in besonderem Amte (wie die Apostel) oder vermittelt durch ihr Zeugnis die Geschichte hindurch sein Wort aufnehmen, dann bedeutet dies zugleich eine Konzentration im Schriftver14

15 16 17

Nast, Wilhelm, Kritisch-praktischer Commentar über das Neue Testament, Erster Band: Die Evangelien von Matthäus und Markus nebst einer allgemeinen Einleitung, Cincinnati/Bremen 1860, S. 110. Ebd. [wie Anm. 14]. Ebd. [wie Anm. 14], S. 123. Ebd. [wie Anm. 14], S. 124.

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ständnis auf das Wesentliche, nämlich auf das, „was uns zu unserem Heil zu wissen nöthig ist“,18 denn das innere Zeugnis des Geistes erstreckt sich auf die von Gott offenbarten, auf die Erlösung des Menschen bezogenen Wahrheiten. Wenn Nast von der Bibel als „unfehlbar“ spricht, dann meint er, wie sein Werk im Ganzen hinlänglich belegt, eben dies: dass die Bibel unfehlbar den ihr von Gott beigelegten Zweck erfüllt, nämlich Menschen um Christi willen selig zu machen. Damit ist jede Sachkritik am offenbarten Heilswillen ausgeschlossen, nicht jedoch das Bemühen um ein tieferes Verständnis derjenigen Überlieferungsmotive, die für Gottes Selbstmitteilung in einer bestimmten Kultur sowie deren Denkvoraussetzungen stehen. Man wird auch, was das Bekenntnis zur Göttlichkeit der biblischen Schriften angeht, einen Schritt weiter als Wesley gehen müssen. Denn für Wesley zeigt sich ihre Göttlichkeit darin, dass sie in möglichst geringer Brechung durch die Menschlichkeit der Verfasser an den Attributen Gottes teilhat. Ist Gott allwissend, so ist es die Schrift; ist Gott ohne Lüge, so irrt auch die Schrift nicht. Die Angriffe des Rationalismus auf die Bibel haben Wesley eher darin bestärkt, diese Linie durchzuhalten. Dem ist nicht mit den Argumenten zu widersprechen, die seitens der Bibelkritik gegen die Glaubwürdigkeit der Bibel vorgebracht worden sind, sondern aus genuin offenbarungstheologischen Gründen. Denn wenn die Autorität Gottes sich in der gewinnenden Kraft seiner heiligen Liebe erweist, dann steht eher zu erwarten, dass die Schrift, die sein Wort bezeugt, einen den Menschen gewinnenden und nicht ihn bezwingend überwältigenden Eindruck macht. Adolf Schlatter hat diesen Punkt sehr gut erfasst, wenn er formuliert: Gott will uns in der Schrift etwas anderes zeigen als seine Macht.19 […] Läge uns in der fehlerlosen Richtigkeit der Bibel ein Meisterstück der göttlichen Macht vor Augen, so wären wir dadurch noch nicht zum Glauben ermächtigt und berufen. [Denn] Gottes Macht beugt uns und stellt uns in die Ferne und deckt die Kluft auf zwischen ihm und uns. Der Grund zum Glauben wird dadurch gelegt, dass die Gnade Gottes sich zu uns herablässt und uns zu ihm erhebt.20

Er nimmt damit den Gedanken Hamanns von Gottes Herablassung in die Schrift auf, und es ist dieser eminent soteriologische Aspekt, der in der Schriftlehre zur Geltung gebracht zu werden verdient: Die Hoheit Gottes drückt uns in den Staub, die Niedrigkeit der Schrift, in der uns Gott begeg18 19 20

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Ebd. [wie Anm. 14], S. 124. Schlatter, Adolf, Die Bibel verstehen. Aufsätze zur biblischen Hermeneutik, hrsg. v. Werner Neuer, Gießen 2002, S. 118 (meine Hervorhebung). Ebd. [wie Anm. 19], S. 123 (meine Hervorhebung).

Die Autorität der Bibel

net, erhebt den Menschen und führt ihn in die Gemeinschaft mit Gott, der in Jesus Christus die Kluft überbrückt hat. Schlatter fügt sofort – und wäre darin ganz mit Wesley einig – hinzu, dass diese Niedrigkeit freilich nicht der Kraft entbehrt.21 Denn der Glaube entsteht, wenn sich ein Mensch der Niedrigkeitsgestalt der Schrift nicht verschließt und sie kraft des Heiligen Geist zum Vehikel für Gottes Gnadenwirken wird. Auch hier geht es nicht darum, zuerst eine Theorie der Erkenntnis zu entwickeln, sondern das Verständnis der Schrift von der Erlösungslehre her bestimmen zu lassen, sie also als Gnadenmittel der Erlösung des Menschen anzuerkennen.22 Und doch steht auch der epistemologische Beweisgang (wie wir den ontologischen präziser nennen können) für eine wichtige Einsicht. Nach Wesley ist es nicht gleichgültig, wie sich ein Mensch dem Studium der Schrift nähert. Zwar bedarf es keiner ausgeführten Erkenntnistheorie, wohl aber der prinzipiellen Offenheit dafür, dass Gott in der Geschichte wirkt und sich damit auch in von Menschen verfassten Texten vernehmbar macht, um der soteriologischen Wirksamkeit der Bibel gewiss zu werden. Der Hinweis auf diese (vorhandene oder fehlende) Offenheit hat insofern eine kritische Funktion, mit ihr ist noch keine ganze Dogmatik gesetzt. Es war der – übrigens mit Schlatters Schriften vertraute – Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI., der die Bibelwissenschaft zur weltanschaulichen Selbstbescheidung rief, weil sie sonst die Wirklichkeit nicht erhellt, sondern sie verstellt. Ratzinger schreibt: Demgemäß darf die Exegese auch nicht mit einer fertigen Philosophie an die Auslegung des Textes herantreten, nicht mit dem Diktat eines sogenannten modernen oder `naturwissenschaftlichen´ Weltbildes, welches festlegt, was es geben und was es nicht geben darf. Er darf nicht a priori ausschließen, daß Gott in Menschenworten als er selbst in der Welt sprechen könne; er darf nicht ausschließen, daß Gott als er selbst in der Geschichte wirken und in sie eintreten könne, so unwahrscheinlich ihm dies auch erscheinen mag.23

21 22

23

Vgl. ebd. [wie Anm. 19]. Bei Adolf Schlatter geschieht das, indem er in seiner Dogmatik die Autorität der Schrift nicht durch Prolegomena bestimmt, sondern unter der Lehre von den Gnadenmitteln, zur Geltung gebracht wird; vgl. Das Christliche Dogma, 2. Aufl. Stuttgart 1923, S. 364– 380. Joseph Ratzinger, Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute. In: ders. (Hrsg.), Schriftauslegung im Widerstreit (QD 117), Freiburg i. Br. 1989, S. 15–44, hier 36. Für die entsprechende Kritik Schlatters vgl. sein Buch Atheistische Methoden in der Theologie, hrsg. v. Heinzpeter Hempelmann, Wuppertal 1985, S. 5–21.

Die Autorität der Bibel

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Die prinzipielle Offenheit dafür, dass ein Text erst von einer Wirklichkeit jenseits seiner selbst, ja dieser Welt, einleuchtet, ist Bedingung dafür, religiöse Texte überhaupt angemessen verstehen zu können. William Abraham stellt fest: [I]t is simply silly to assume that the only proper way to read scripture is as functional atheists. We are entitled to deploy the best theological insights we can muster in reading a sacred text; we are not reading mathematical material or merely great literature.24

Wenn Wesley also die Autorität der Bibel sowohl erkenntnistheoretisch als auch soteriologisch zu begründen suchte, dann kommen doch beide Begründungswege nicht auf gleicher Höhe zu stehen. Der Vorrang gebührt der soteriologischen Begründung, insofern sie den „roten Faden“ der Schrift, Gottes Heilshandeln in der Geschichte, bereits aufzunehmen in der Lage ist und ihn nicht zunächst zurückstellen muss. Dennoch bringt der epistemologische Begründungsgang erkenntniskritisch zur Geltung, dass kein Mensch voraussetzungslos an die Bibel herantritt, sondern stets Teil einer Geschichte ist, die selbstverständlich auch dort in die Beschäftigung mit der Bibel einfließt, wenn diese nicht als Medium der Wahrheitserkenntnis in Anspruch genommen, sondern selbst zum Gegenstand kritischer Untersuchung gemacht wird.

3 Die Bibel im Verhältnis zu anderen Autoritäten Methodisten, die intensiver nach dem Ort der Bibel in der Begründung theologischer Urteile fragen, wird das „Quadrilateral“ schon einmal begegnet sein. Danach sollen für Wesley Schrift, Tradition, Erfahrung und Vernunft die vier „Quellen und Kriterien“ theologischer Urteile gewesen sein.25 Doch verzichte ich hier bewusst auf den Zusatz „Wesleyan“, denn Wesley hat mit einer solchen kriteriologischen Zusammenstellung nicht gearbeitet, auch wenn vor allem im Gefolge Albert Outlers versucht worden ist, sie harmonisch in Wesleys Denken einzuzeichnen.26 Wesley, so kann dann 24 25

26

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Abraham, Scripture [wie Anm. 9], S. 120. So heißt es im Book of Discipline bzw. der deutschen Übersetzung unter der Überschrift „Unser theologischer Auftrag“. In: Lehre, Verfassung und Ordnung der Evangelischmethodistischen Kirche, Ausgabe 2000, Stuttgart 2000, S. 45. „Wesley never used the term, nor explicitly conjoined its four components in any discription of his theological method“, Maddox, Randy L., Responsible Grace. John Wesley’s Practical Theology, Nashville 1994, S. 36. Als für Wesleys theologisches Denken konzeptionell grundlegend wird das “Wesleyan Quadrilateral” jedoch von Don Thorsen be-

Die Autorität der Bibel

formuliert werden, sei überzeugt gewesen, „dass der lebendige Kern des christlichen Glaubens in der Bibel offenbart, von der Tradition erhellt, in persönlicher Erfahrung zum Leben erweckt und mit Hilfe des Verstandes gefestigt wird“.27 Allerdings ist überzeugend dargelegt worden, dass für Wesley die Väterüberlieferung der ersten vier Jahrhunderte sowie die Lehrgrundlagen der Kirche von England konstitutive, wenn auch nicht der Bibel gleich zu stellende Kriterien theologischen Urteilens waren, während er über die „Tradition“ im weiteren Sinne negativ urteilt.28 Es führt daher in die Irre, wenn ein weit gefasstes, erst im 19. Jahrhundert etabliertes Konzept von „Tradition“ in Wesleys Zeit transponiert wird. Wenn Wesley das „sola scriptura“ der Reformation gut anglikanisch als „prima scriptura“ aufgefasst hat, dann ist dies vor allem im Gegenüber zu den altkirchlichen Lehrentscheidungen und den Bekenntnistexten der Kirche von England gemeint. An keiner Stelle erweckt Wesley den Eindruck, als könnte die Bibel mit der Erfahrung und der Vernunft unter dem Vorzeichen „Quellen“ zusammengefasst werden. Wie sollte das auch gehen? Hat der christliche Glaube etwa mehrere Quellen? Insbesondere in der Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Erfahrung wirkt sich ein anachronistischer Sprachgebrauch aus, der unterstellt, wir könnten diese Ausdrücke ohne nähere Kenntnisse ihres Gebrauchs bei Wesley mit dem unsrigen identifizieren. Rebekka Miles hat überzeugend dargelegt, dass für Wesley, der darin aristotelischer Erkenntnistheorie folgte, die Vernunft keine Erkenntnisquelle 29 war, sondern instrumentelle Bedeutung hatte. Die Vernunft an sich ist Wesley zufolge blind, ihre Aufgabe ist es, die auf dem Weg der Erfahrung gewonnenen Sinneseindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten. Anders gesagt: Die Vernunft bezeichnet das Vermögen, die Eindrücke zu verstehen,

27 28

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gründet, vgl. The Wesleyan Quadrilateral: Scripture, Tradition, Reason, & Experience as a Model of Evangelical Theology, Nachdruck Edgemead 2005; vgl. auch Gunter, Stephen u. a. (Hrsg.), Wesley and the Quadrilateral. Renewing the Conversation, Nashville 1997. Lehre, Verfassung und Ordnung der EmK [wie Anm. 25], S. 45. Vgl. Campbell, Ted A., John Wesley and Christian Antiquity. Religious Vision and Cultural Change, Nashville 1991. Dem schließt sich Scott Jones an, vgl. Conception [wie Anm. 2], S. 63f. Rebekka Miles, The Instrumental Role of Reason. In: Stephen, Quadrilateral [wie Anm. 26], S. 77–106. Die umfassendste Studie zu Wesleys Verständnis von Vernunft – und Erfahrung – verdanken wir Matthews, Rex Dale, „Religion and Reason Joined“. A Study in the Theology of John Wesley, unveröffentlichte PhD thesis Cambridge (MA) 1986.

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die die Erfahrung ihr vorlegt, sie ist also auf die Sinne angewiesen.30 Allerdings ist Wesley kein strenger Empirist, wie David Hume es war, und er ging auch nicht, wie Immanuel Kant es tat, von der innerweltlichen Unerkennbarkeit Gottes aus. Kant nämlich erklärte Gott zu einem Postulat der praktischen Vernunft: Gott kann nicht erkannt, er muss aber gedacht werden. Anders Wesley: Er erweiterte die empiristische Erkenntnislehre um die Annahme innerer, geistlicher Sinne. Diese geistlichen Sinne sind in jedem Menschen vorhanden, allerdings sind sie in der gefallenen Natur des Sünders zunächst verschlossen. Erst durch den Glauben werden sie für die Erkenntnis Gottes geöffnet. Wesleys bekannteste Illustration dafür ist die – seiner Zeit überlieferte – Geschichte von einer Kröte, die über ein Jahrhundert in einem hohlen Baumstamm ausharrte und dort natürlich nichts sehen konnte. Erst als der Baum gefällt wurde, traf sie das Licht und die Kröte konnte 31 sehen. In dem Moment, wenn ein Mensch zum Glauben kommt, „[t]he Sun of righteousness appears, and shines upon his soul, showing him the light of the glory of God in the face of Jesus Christ“.32 Die Vernunft vermag also nichts aus sich selbst heraus, sie ist auf Eindrücke angewiesen. Sie können aus der Schöpfung stammen, allerdings führen diese Eindrücke nur zu einer allgemeinen Ahnung Gottes und der Einsicht in grundsätzliche moralische Normen. Ohne Glauben kann ein Mensch wissen, dass Gott existiert, er kann aber Gott nicht kennen und folglich auch nicht lieben. In den Worten von Rebekka Miles: „reason reflecting on creation and experience may get us part of the way, but it never gets us to the 33 heart of religion”. Der Glaube, der die inneren Sinne aufschließt, entzündet sich allein an der Heiligen Schrift. Die Vernunft ist dazu da, das Schriftzeugnis zu verstehen und zu kommunizieren, aber die Zuordnung ist bei Wesley eindeutig: Die Bibel ist die Quelle der Gottes-, genauer: der Heilserkenntnis, die Vernunft ist das Medium, in dem die biblischen Texte verstanden und angeeignet werden. So findet die Vernunft zu ihrer Gott gegebenen Bestimmung, wenn sie das Zeugnis der Bibel annimmt und zu verstehen sucht: „Is it not reason

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Wesley folgte Aristoteles auch in der näheren Bestimmung der Vernunftfunktionen, bei denen beide nach „Wahrnehmen“ und „Urteilen“ unterscheiden. Wesley betont ferner das Weiterdenken dessen, was beurteilt wurde; vgl. John Wesley, The Case of Reason Impartially Considered (Sermon 70), § I.2. In: Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 2: Sermons II, Nashville 1985, S. 590. John Wesley, On Living Without God (Sermon 130), §§ 1ff. In: Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 4: Sermons IV, Nashville 1987, S. 169–171. Ebd. [wie Anm. 31], § 9, S. 172. Miles, Role [wie Anm. 29], S. 96.

Die Autorität der Bibel

(assisted by the Holy Ghost) which enables us to understand what the Holy Scriptures declare“?34 Die Vernunft genießt bei Wesley also nicht nur für Fragen des alltäglichen Lebens, sondern auch für das Erfassen der Glaubenswahrheiten ein hohes Ansehen, wobei sie dafür die Hilfe des Heiligen Geistes braucht. Den Wert der Vernunft erkennt nach Wesley, wer sich der Grenzen der Vernunft bewusst ist. Sie zu erkennen, führt in eine heilsame Resignation, denn die begrenzte Einsicht der Vernunft, ihr Fehlen, Tasten und Suchen erinnert den Menschen daran, ganz auf Gott angewiesen zu sein und bringt ihn dazu, Gott noch tiefer zu vertrauen. Obwohl für Wesley somit die Vernunft ohne Offenbarung nicht zur heilsamen, rettenden Gotteserkenntnis gelangen kann, folgt er mit dem Mainstream anglikanischer Theologie einer optimistischen Sicht auf die menschliche Vernunft. Hat der Sündenfall sie in Mitleidenschaft gezogen, so hat er sie doch nicht zerstört. Erkenntnistheoretisch soll für Wesley der Bezug zur Vernunft den prinzipiell allen Menschen zugänglichen Evidenzcharakter göttlichen Geschichtshandelns untermauern, von dem Wesley ausgeht. Die Wahrheit, wonach Gott Schöpfer, Erhalter und Richter aller Menschen ist, konnte Wesley noch als prinzipiell jedem Menschen einsichtig gelten. Diese Zuversicht ist uns freilich durch die nähere Kenntnis unterschiedlicher Kulturen und die weltanschauliche Pluralisierung der westli35 chen Gesellschaften nachhaltig erschüttert worden. Im Blick auf die Systematische Theologie der Gegenwart ist Wesleys Anliegen, die Vernünftigkeit des Glaubens und die Evidenz göttlicher Selbstbezeugung in der Geschichte auszuweisen, wohl am stärksten und ausdrücklichsten bei Wolfhart Pannenberg aufbewahrt. Pannenberg geht von einer im Gottesbegriff grundgelegten Einheit der Wirklichkeit aus, die von der Bibel her als Geschichte erschlossen wird, d. h. als ein immer neues Geschehen, das zur Zukunft hin offen ist, auf unvorhersehbare Möglichkeiten zuläuft und erst von der letzten Zukunft, vom Ende her, in seinem Sinn verständlich wird.36

Dieses dem Ganzen der Geschichte seinen Sinn offenbarende Ende hat sich nach Pannenberg in der Auferweckung Jesu von den Toten vorweg ereignet, wobei die historische Tatsache der leiblichen Auferweckung Jesu für Pannenberg konstitutiv ist. Ihm ist wichtig, dass der Glaube in Gottes Geschichtstaten einen ihm vorausliegenden Grund hat, denn „Glaube als reines 34 35 36

Wesley, Case [wie Anm. 30], § I.6, S. 592. So auch Miles, Role [wie Anm. 29], S. 100ff. Pannenberg, Wolfhart, Glaube und Wirklichkeit. Kleine Beiträge zum christlichen Denken, München 1975, S. 20.

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Wagnis wäre blinde Vertrauensseligkeit“.37 Wenn auch eine einzelne Erfahrung mit der Macht Gottes noch nicht von der Gottheit des Gottes Israels und Vaters Jesu Christi zu überführen vermag, so sprechen die Gott offenbarenden Geschehnisse des Lebens Jesu, wo sie in den Zusammenhang, dem sie von Haus aus zugehören, wahrgenommen werden, [nämlich] im Zusammenhang der Geschichte Israels […], 38 deutlich ihre eigene Sprache, ohne daß man noch etwas hinzutun müßte.

Es muss also nicht noch eine Erleuchtung des Heiligen Geistes hinzutreten, um zu verstehen, dass der Gott Israels hier handelt. Ohne die Vorzüge und Schwierigkeiten dieses Ansatzes hier ausführen zu können, soll doch festgehalten werden, dass auch Pannenberg die Einheit der Wirklichkeit in der Gottes Handeln in der Geschichte vernehmenden Vernunft ausweisen möchte. Dieses hohe Zutrauen zur Vernunft, wie es auch Wesleys Verständnis kennzeichnet, ist mit dem Anbrechen der Postmoderne erschüttert worden. Der Appell an die Vernunft ruft nun regelmäßig die Rückfrage hervor: „Wessen Vernunft?“, womit das gesteigerte Bewusstsein für die Standortgebundenheit der Vernunft sowie ihre Anfälligkeit für die Inanspruchnahme zugunsten von erkenntnisleitenden Interessen sowie für die Sicherung bestehender Machtverhältnisse ausgedrückt ist. Blicken wir auf Wesleys Verständnis der Vernunft und ihres Gebrauchs, so stellt sich im 21. Jahrhundert die – nur auf den ersten Blick überraschende – Einsicht ein, dass das Vermögen der Vernunft philosophisch heute überwiegend kritischer beurteilt wird als Wesley es im Anschluss an John Locke und andere tat. Zwar kann auch heute, vor allem für den Bereich der lebensweltlichen Vollzüge, nicht auf den alle Perspektiven einenden Vernunftrekurs verzichtet werden (wie es auch z. B. keine Mathematik einzelner Gruppen gibt), doch tendenziell hat sich für anspruchsvolle, also weltanschaulich dichte Wirklichkeitsbeschreibungen eine – gerade auch den Bedingungen der Möglichkeit der eigenen Sichtweise gegenüber – kritischere Auffassung vom Vermögen der Vernunft durchgesetzt. Dies ist gerade angesichts auch innerkirchlicher Pluralisierungsprozesse stärker bewusst zu halten, denn die kaum reflektierte Verhaftung an die eigenen geschichtlichen Erkenntnisvoraussetzungen findet sich nicht nur bei solchen („frommen“) Christen, die den faktischen Vorrang aus Gründen des Glaubens kritisieren, sondern auch bei denen (den „kritischen“ Christen), die die Vernunft gerne auf ihrer Seite wähnen. 37 38

88

Ebd. [wie Anm. 36], S. 89. Ebd. [wie Anm. 36], S. 85.

Die Autorität der Bibel

Auch in Sachen Erfahrung haben wir es mit einer veränderten Sachlage und einem gewandelten Sprachgebrauch zu tun. Von der Erfahrung war bereits im Zusammenhang mit Wesleys Verständnis der Vernunft die Rede, weil diese auf empirische Sinneseindrücke angewiesen ist. Dabei ist hinreichend deutlich geworden, wie Wesley, vor allem im Anschluss an John Locke, sein Verständnis von Erkenntnis profiliert. Allerdings gibt es, schon angedeutet im Hinweis auf die „inneren Sinne“, eine spezifisch christliche Erfahrung, und genau sie ist für uns von Interesse, wenn wir das Verhältnis der Erfahrung zur Bibel näher bestimmen wollen. Mit der christlichen (Heils-)Erfahrung ist hierbei die den (Beinahe-)Gläubigen spezifische Erfahrung der vorlaufenden, überführenden, rechtfertigenden bzw. heiligenden Gnade Gottes gemeint. Es ist wichtig zu verstehen, dass das primäre Subjekt dieser Erfahrung der Heilige Geist, der sich beim Menschen zur Erfahrung bringt. Die Vorstellung, wonach ein Mensch eine ganz subjektive Erfahrung – quasi produktiv – „macht“, führt jedoch in die Irre. Nach Wesley ist die Heilserfahrung ein Widerfahrnis, das seinen das individuelle Erlebnis überschreitenden Einigungsmoment in der Zuwendung der Gnade Gottes hat. Wesley kann daher in seinen Schriften zwar die eigene sowie die Erfahrung anderer Christen zur Illustration dessen verwenden, was Gott im Herzen eines Menschen tut, sein theologisches Interesse zielt jedoch darauf, zu zeigen, dass der christliche Glaube keine Sache kalter Zustimmung zu Lehrsätzen, sondern eine Angelegenheit des Herzens ist. Gewissheit des Glaubens, so versteht Wesley Röm 8,16, gibt es nicht ohne die Erfahrung des diese Gewissheit begründenden Handelns Gottes. Wesley schreibt: I now am assured that these things are so: I experience them in my own breast. What Christianity (considered as a doctrine) promised, is accomplished in my soul. And Christianity, considered as an inward principle, is the completion of all those promises. It is holiness and happiness, the image of God impressed on a created spirit; a fountain of peace and love springing up into everlasting life.39

Die christliche Heilserfahrung ist die Vergegenwärtigung des fortschreitenden Gnadenwirkens Gottes in dem, der sich diesem Wirken nicht verschließt. Wesley hebt hervor, dass die Lehre der Schrift, wonach der Heilige Geist den Gläubigen vergewissert, ein Kind Gottes zu sein, nicht die Erfah-

39

John Wesley, Letter to Revd. Dr. Conyers Middleton. In: Jackson, Thomas (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 10, S. 75.

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rung einzelner sei, sondern „einer großen Menge, die niemand zählen kann“.40 Er führt aus: Dies wird nicht nur durch die Erfahrung der Kinder Gottes bestätigt – Tausende von ihnen können erklären, dass sie nichts von der Gunst Gottes ihnen gegenüber wussten, bis sie ihnen durch seinen Geist direkt bezeugt wurde –, sondern auch von allen, die der Sünde überführt sind und spüren, dass der 41 Zorn Gottes auf ihnen ruht.

Die Bibel verheißt, was Gott dem Menschen, der ihn sucht, schenken möchte; die Erfahrung bestätigt, dass Gott seine Verheißung wahr macht. Kriterium der Glaubenswahrheit ist die Erfahrung nur, insofern sie die Heilswahrheiten der Schrift bestätigt, während sie sich dem Wort der Bibel unterzuordnen und von ihr zu korrigieren lassen hat, wenn Schrift und Erfahrung nicht übereinstimmen. So bilden Glaube – verstanden als die von Vertrauen getragene Beziehung zu Gott – und Erfahrung bei Wesley einen Sachzusammenhang: Der Glaube bedarf des Widerfahrnisses der Zuwendung Gottes, also der Erfahrung von Vergebung und Wiedergeburt durch Jesus Christus und der Ein42 wohnung des Heiligen Geistes. In der näheren Zuordnung, zu der Wesley schließlich gelangt, bedeutet dies, dass the particular understanding of faith as one’s personal spiritual experience of God’s grace and mercy becomes the foundation for faith as fiducia, one’s `sure trust and confidence´ of salvation, and for faith as fides, one’s rational assent to the truth of divine revelation. In short, it becomes the basis for all knowledge 43 of God.

Diese Erfahrung widerfährt einer einzelnen Person, die darin auch unvertretbar ist, doch widerfährt sie ihr in einem ekklesialen Kontext, in dem diese Erfahrung in der Kraft des Heiligen Geistes verheißen, entfacht und genährt wird. Dieser Kontext ist nicht nachgängig zur Erfahrung und insofern kontigent, sondern er ist für sie konstitutiv. Randy Maddox fasst Wesleys Erfahrungsbegriff daher korrekt zusammen, wenn er sagt: „Wesley’s appeal to experience in doctrinal decisions was typically to an

40 41 42

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John Wesley, Das Zeugnis des Geistes II (Predigt 11), § III.6 (ein Schriftzitat aus Off 7,9). In. ders., Lehrpredigten [wie Anm. 1], S. 158. Ebd. [wie Anm. 40], § III.7, S. 159. Vgl. Rex D. Matthews, „With the Eyes of Faith“. Spiritual Experience and the Knowledge of God in the Theology of John Wesley. In: Runyon, Theodore (Hrsg.), Wesleyan Theology Today. A Bicentennial Consultation, Nashville 1985, S. 406-415. Ebd. [wie Anm. 42], 411.

Die Autorität der Bibel

external, long-term, communal reality“,44 bezog sich also nicht auf jede beliebige Erfahrung einzelner Christen.45 Dieser theozentrische Begriff von christlicher Gotteserfahrung ist in der Brechung durch die Bewusstseinstheologie Schleiermachers nicht durchgehalten, sondern radikal auf das glaubende Subjekt hingewendet worden. Die Erfahrung, bei Schleiermacher als das Gefühl, „schlechthin abhängig“ zu sein bezeichnet,46 wird im Selbstbewusstsein des Menschen (jedes Menschen!) lokalisiert, der in der im zeitlichen Dasein empfundenen Dialektik von Freiheit und Selbsttätigkeit (also auf andere einwirken zu können und zugleich durch andere bedingt zu sein) auf eine letzte, „schlechthinnige“ Abhängigkeit stößt, und „eben das in diesem Selbstbewusstsein mit gesezte Woher unseres empfänglichen und selbstthätigen Daseins durch den Ausdrukk Gott bezeichnet“.47 Auch wenn Schleiermacher alles daran setzt, das christlich fromme Selbstbewusstsein auf die in Christus geschehene Erlösung zu beziehen, wird hier die Subjektivität des frommen Gefühls zum Konstrukteur und letztlich auch Kontrolleur dessen, was sich von Gott sagen – oder auch nicht sagen lässt. Von anderen theologischen Voraussetzungen herkommend hat Matthias Zeindler demgegenüber die Gotteserfahrung erneut vom Primat der Wirklichkeit Gottes her interpretiert. Er möchte also „an der fundamentalen 48 Transzendenz Gottes gegenüber menschlicher Erfahrung“ festhalten. Weil Gott dem Menschen in der Weise entzogen ist, dass Gott nicht wie das sonstige Wirkliche wahrgenommen werden kann, muss Gott sich offenbaren, und das heißt, dass Gott „in menschlicher Erfahrungswirklichkeit seine transzendente Wirklichkeit erfahrbar macht“.49 Zeindler spricht bewusst nicht davon, dass der Mensch eine Gotteserfahrung macht, sondern formuliert, dass Gott menschlich erfahrbar wird, „indem er sich selbst bei Menschen zur Erfahrung bringt“. Dabei hebt er die für jede, damit auch für die christliche, Gotteserfahrung konstitutive Sozialität der Erfahrung hervor, denn Erfahrungen bedürfen der Deutung mittels eines Symbolsystems, das in Symbolisierungsgemeinschaften überliefert wird. So ist auch die christli44 45

46 47 48 49

Maddox, Grace [wie Anm. 26], S. 46. Maddox ergänzt: „[His appeal to experience] took a more conscious constructive role only where he believed that Scripture was silent or inconclusive on an issue”, ebd. [wie Anm. 42]. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, 2. Aufl. (1830/31), hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008, S. 32 (§ 4 Leitsatz). Ebd. [wie Anm. 46], S. 39 (§ 4.4.). Zeindler, Matthias, Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde. Eine systematischtheologische Untersuchung, Stuttgart 2001, S. 64. Ebd. [wie Anm. 48], S. 65.

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che Gemeinde eine Erfahrungsgemeinschaft, die symbolsprachliche Mittel bereithält, die eigene – individuelle – Erfahrung so mitzuteilen, dass die persönliche Perspektive mit dem gemeinschaftlich geteilten Symbolhorizont vermittelt wird. Für ihn ist daher der ekklesiologische Zugang der angemessene Weg, von christlicher Gotteserfahrung zu reden, die Gemeinde ist Bedingung der Möglichkeit christlich symbolisierter Gotteserfahrung. Doch wie lassen sich in die soziale Verfasstheit der Gotteserfahrung ihre Partikularität und damit auch ihre Strittigkeit integrieren? Zeindler schlägt hier einen gänzlich anderen Weg als Schleiermacher ein, einen Weg, den zu gehen sich die neuere evangelische Theologie überwiegend schwertut. Er bindet nämlich die menschliche Erfahrung an die ihr vorausliegende transzendente Wirklichkeit Gottes als ihr Kriterium zurück und stellt von daher fest: Die Theologie kann nicht „jede Erfahrung, die Gotteserfahrung zu sein beansprucht, […] als eine Erfahrung des von ihr bezeugten Gottes gelten 50 lassen“. Sie hat folglich die Aufgabe, Erfahrungen „auf ihre Berechtigung hin zu prüfen“.51 Die Notwendigkeit einer diakritischen Wahrnehmung von Erfahrungen hat mit dem Verblendungszusammenhang zu tun, in den die Sünde den Menschen stellt. Der sündige Mensch schließt die Wirklichkeit Gottes aus seiner Welterfahrung aus, er macht die „Nicht-Erfahrung“ der Liebe Gottes, wobei noch stärker als das bei Zeindler geschieht zu betonen wäre, dass es auch religiöse Formen der Gott verfehlenden Erfahrung gibt.52 Der Glaube ist damit in einen Streit um die Wirklichkeit involviert, der eine Prüfung von Erfahrungen am Zeugnis der Bibel unerlässlich macht. Wird darauf verzichtet, zerfällt letztlich die in der Wirklichkeit Gottes gesetzte Einheit partikular christlicher Erfahrung und es setzt sich die sündige Macht der Vereinzelung der je eigenen Erfahrung durch. Damit aber ist das Gegenteil von dem erreicht, was die Erfahrung nach Wesley leisten soll: den Einzelnen der Zuwendung Gottes gewiss und damit vom Streben nach Selbstdurchsetzung frei zu machen. In der kirchlichen Diskussion, vor allem über sexualethische Fragen, begegnet der Erfahrungsbegriff vornehmlich in dieser zur Vereinzelung tendierenden Gestalt. Der Rekurs auf die persönliche Erfahrung – im Modus von: „Ich habe das so erfahren“ – meint dann nicht den Modus der Vergewisserung des sich in der Bibel bezeugenden und sein Handeln deutenden Gottes, sondern dient eher der Immunisierung der eigenen Position gegen jeden Einspruch, der, weil er sich auf eine Erfahrung bezieht, als Angriff auf 50 51 52

Ebd. [wie Anm. 48], S. 144. Ebd. [wie Anm. 48]. Vgl. ebd. [wie Anm. 48], S. 178.

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die Person aufgefasst wird. Verständlich wird dies erst, wenn die Erfahrung postmodern auf ein Verständnis von Authentizität hin radikalisiert wird,53 bei dem die einer Position verweigerte Anerkennung gleich immer schon als Missachtung der Person in ihrer Identität aufgefasst wird und so die diskursiven Spielräume zu Fragen, die einem Menschen „unter die Haut“ gehen, immer kleiner werden. Demgegenüber erinnert William Abraham an die argumentationslogisch wichtige – im Übrigen auf Hans Reichenbach zurückgehende – Unterscheidung zwischen dem Kontext der Entdeckung und dem Kontext der Rechtfertigung.54 Die Erfahrung in ihrer unhintergehbaren Subjektivitätsstruktur erweist ihre erkenntnisfördernde Funktion darin, dass sie neue Problemzusammenhänge aufdeckt und zu Fragen nötigt, die von den bis dato eingenommenen Perspektiven aus offenbar nicht einsehbar waren. Im Kontext der Rechtfertigung dagegen kann die Erfahrung nicht gegen den Aussagesinn der biblischen Texte positioniert werden, sondern sie muss immer wieder in den biblischen Text einkehren und sich ggf. von ihm auch bekehren lassen. Fassen wir zusammen: Obwohl Wesley nirgends auch nur ansatzweise von einem Quadrilateral spricht, wonach Schrift, Tradition, Erfahrung und Vernunft unter einen gemeinsamen Begriff wie „Normen“ (Plural?) oder „Kriterien“ gefasst würden, weiß er um die Frage, wie sich die Bibel als – normatives – Gnadenmittel zu den anderen Instanzen urteilender theologischer Arbeit verhalten. Wie wir im Blick auf Vernunft und Erfahrung sahen, ist jede dieser Instanzen leistungsfähig und nötig, sofern sie im Verhältnis zur Schrift(autorität) angemessen verortet wird. Für Wesley steht außer Zweifel, dass die christliche Lehre aus der Heiligen Schrift begründet – und mittels der Vernunft erhellt – werden muss. Die Erfahrung eröffnet den Zugang zur persönlichen Vergewisserung des von der Schrift verheißenen und bezeugten Heils in Jesus Christus. Die Kirchenväter und die Lehrgrundlagen der Kirche von England haben – das sei hier summarisch ergänzt – demgegenüber die schwächste Autorität, insofern sie sich in der Übereinstimmung mit dem Schriftzeugnis zu legitimieren haben und dabei keine modal eigenständige Erkenntnisfunktion geltend machen können.

53 54

Vgl. Taylor, Charles, The Ethics of Authenticity, Cambridge (Ma.)/London 1991. Vgl. Abraham, Scripture [wie Anm. 9], S. 121.

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4 Die Bibel verstehen – Auslegungsregeln im Anschluss an Wesley Wenn wir uns den Regeln zuwenden, die Wesley für das Auslegen der Bibel empfiehlt, dann geht es ihm auch darin nicht einfach um Belehrung (die freilich in der Ausbildung von Pfarrern bzw. Predigern unverzichtbar ist), sondern darum, die verändernde Kraft Gottes, die im Studium der Schrift zugänglich wird, erfahrbar werden zu lassen. Das Auslegungsziel ist also, dass Gottes Gnade im Leben von Menschen, von Gemeinschaften, Gestalt gewinnt. Und dies ist – im Sinne einer hermeneutischen Spirale – zugleich der Kontext, in dem sich das Verstehen der Schrift vollziehen soll. Das wird deutlich, wenn Wesley im Vorwort zu seinen Lehrpredigten formuliert: „Du hast gesagt: ‚Wenn jemand deinen Willen tun will, der wird erkennen.‘ 55 Ich will deinen Willen tun, lass mich erkennen!“ In einem Wort zusammengefasst, ist Gottes Wille unsere Heiligung: „Sein Wille ist es, dass wir innerlich und äußerlich heilig sein sollen, dass wir in jeder Weise und in dem höchsten uns möglichen Maß gut sein und gut handeln sollen. So stehen wir auf festem Grund“.56 Erkennen und Tun sind damit auch hier ganz auf Gottes Heilshandeln am Menschen bezogen. Für Wesley entspricht der Bibel ein Auslegungsprinzip, das diesen Faden des Handelns Gottes aufnimmt und sich von ihm her bestimmen lässt. Wesley findet dieses Anliegen im Neuen Testament selbst bereits angelegt, und bezieht sich dafür auf den von Paulus in Röm 12,6 gebrauchten Ausdruck „dem Glauben gemäß“, im griechischen Text: κατά τήν αναλογίαν τής πίστεως. Die Auslegung der Schrift gemäß der „analogia fidei“ interpretiert Wesley als „according to that grand scheme of doctrine which is delivered therein, touching original sin, justification by 57 faith, and present, inward salvation“. Und er fährt hinsichtlich der Auslegung fort: Every article [of faith], therefore, concerning which there is any question should be determined by this rule; every doubtful scripture interpreted according to the grand truths which run through the whole.58

Anders gesagt: Die Auslegung der Bibel muss sich an den Heilswahrheiten ausrichten, die als roter Faden die ganze Bibel Alten und Neuen Testaments 55 56 57 58

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Wesley, Lehrpredigten [wie Anm. 1], 19 (Vorwort). John Wesley, Das Wesen des Fanatismus (Predigt 37), § 23. In: ders., Lehrpredigten [wie Anm. 1], S. 531. Wesley, Notes [wie Anm. 4], S. 569. Ebd. [wie Anm. 4], S. 569f.

Die Autorität der Bibel

durchziehen und ihr ihre theologische Einheit geben. Wesley bringt seine eigene Auslegung, wie sie in den Lehrpredigten vorliegt, dann auch formal in Übereinstimmung mit diesem Prinzip. Legt man die von Wesley gewählte Anordnung der (zunächst 44) Lehrpredigten zugrunde, dann sind sie „arranged as a manual of Christian teaching for new believers. Thus they move naturally from how to become a Christian, to being a Christian, to remaining a Christian“.59 Die chronologische Anordnung, wie sie in der historischkritischen Bicentennial Edition bevorzugt wurde, verdunkelt diese soteriologische, der „Analogie des Glaubens“ entsprechende Ausrichtung. Wesley hat die von ihm vertretenen Auslegungsregeln nicht explizit zusammengestellt. Sie finden sich, eingewoben in seinen Schriftgebrauch, über seine Schriften hinweg verteilt, lassen allerdings gleichwohl einen Zusammenhang erkennen, der es erlaubt, sie als Regeln zusammenzustellen. Ich folge hier der von Scott Jones gewählten Aufstellung.60 Bleibe nahe am Sprachgebrauch der Bibel. Diese Regel impliziert nur eine minimalistische Hermeneutik, sie legt nahe, dass wir, um die Wahrheiten der Bibel zu erläutern, nicht eigene, sondern die von den biblischen Autoren verwendeten Ausdrücke verwenden sollen. Die Einwände dagegen, wie sie sich schon übersetzungstheoretisch erheben lassen, liegen auf der Hand. Wesley bestreitet auch gar nicht, dass sich der Gebrauch von Wörtern verändert. Das entscheidende Argument für diese Regel ist ihm, dass sich in sprachlicher Hinsicht manches über die Jahrhunderte verändert haben mag, nicht jedoch die Situation des Menschen vor Gott. Das von einem Ausdruck (wie Sünde, Wiedergeburt etc.) Bezeichnete hat sich also nicht verändert, daher, so Wesley, solle man besser bei diesen Begriffen bleiben. Das soll die Auslegung der Schrift durch Erklärung biblischer mittels heutiger Ausdrücke nicht unterbinden, jedoch daran erinnern, dass die biblischen Texte inspiriert (und unfehlbar) sind, während die Auslegung eine auf diese Texte bezogene menschliche, darum fehlbare Aktivität ist. Halte dich an den Literalsinn, es sei denn er widerspricht einer anderen (klaren) Schriftaussage oder impliziert eine Absurdität. Der Literalsinn (bzw. wörtliche Sinn) meint zu Wesleys Zeit den gewöhnlichen, offensichtlichen Wortsinn. „The plain meaning of Scripture“ entspricht ihrem weiten Adressatenkreis, nämlich einfachen Männern und Frauen. Wesley lehnt die mittelalterliche Lehre vom mehrfachen Schriftsinn ebenso ab wie die Vorstellung, es brauche ein Lehramt, das den Sinn der Schrift aufzuschließen autorisiert ist. Die 59 60

Abraham, Scripture [wie Anm. 9], S. 130. Vgl. Jones, Conception [wie Anm. 2], S. 110ff. Für eine knappere Zusammenstellung vgl. ders., The Rule of Scripture. In: Stephen, Quadrilateral [wei Anm. 26], S. 39-61.

Die Bibel verstehen – Auslegungsregeln im Anschluss an Wesley

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Bibel ist in ihrem auf die Substanz des Glaubens bezogenen Kerngehalt für jeden Gläubigen verständlich, davon ist Wesley überzeugt. Zugleich kennt Wesley einen geistlichen bzw. figurativen Schriftsinn, der für ihn an solchen Stellen von Bedeutung ist, wo durch ein wörtliches Verständnis ein Widerspruch innerhalb der Bibel oder gar eine Absurdität entstehen würde. Für absurd hält Wesley z. B. die Vorstellung, Gott hätte von Ewigkeit her das Schicksal eines Menschen „beschlossen“ (Röm 8,28), weshalb er den Ausdruck allgemeiner als Hinweis auf Gottes Vorherwissen und seine unwandelbare Weisheit interpretiert. Auch widersprüchlich klingende Aussagen innerhalb der paulinischen Briefe (z. B. über das Verbleiben von Sünde im Glaubenden) werden so ausgelegt, dass der vermeintliche Widerspruch gelöst wird. Lege den Text unter Berücksichtigung seines literarischen Kontextes aus. Wesley hat gerne Belegtexte für seine Auffassungen angegeben. Er weist jedoch auch darauf hin, dass der wirkliche Aussagesinn einer Textstelle sich nur unter Berücksichtigung des Kontextes ermitteln lässt. Als Umfeld versteht Wesley dabei die direkt vorangehenden und nachfolgenden Verse, aber auch Verweisstellen, die den gleichen Sachverhalt ansprechen. In letzter Konsequenz ist die gesamte Bibel der literarische Kontext jeder einzelnen Schriftstelle. Lege die Schrift durch die Schrift aus gemäß der Analogie des Glaubens und durch parallele Textpassagen. Wesley folgt der Einsicht der Reformatoren, wonach 61 die Bibel sich selbst auslegt. Dabei kommt die bereits eingeführte „Analogie des Glaubens“, wie Wesley sie versteht, zum Tragen. Im Zweifelsfall sind die „dunkleren“ Textstellen von den „helleren“ her zu interpretieren, wobei „heller“ solche Stellen sind, die dem Tenor der ganzen Schrift, was wir als den durchlaufenden „roten Faden“ bezeichnet hatten, entspricht. Interpretiere Gebote als verborgene Verheißungen. Diese Regel nimmt die von Luther stark gemachte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium auf. Für Wesley bringt diese Regel die theologisch enge Verbindung von Rechtfertigung und Heiligung zur Geltung: Gott handelt in der Rechtfertigung für uns, in der Heiligung in und durch uns, daher dürfen Vergebung und neues Leben, Evangelium und Gebot in der Auslegung nicht auseinandergerissen werden. Ein sprechendes Beispiel für Wesleys Auslegungspraxis sind seine Ausführungen zu Mt 5,17, wo er schreibt: Ja, dieselben Worte sind, von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachtet, Teil des Gesetzes wie des Evangeliums. Werden sie als Gebote aufgefasst, so sind sie Teil des Gesetzes; versteht man sie als Verheißungen, gehören sie zum 61

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So explizit in John Wesley, The New Creation (Sermon 64), § 2. In: Outler, WJW, Vol. 2 [wie Anm. 30], S. 501.

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Evangelium. Wird etwa der Satz ‚Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen‘, als Gebot aufgefasst, ist er ein Teil des Gesetzes. Betrachtet man ihn als Verheißung, ist er ein wesentlicher Teil des Evangeliums. Das Evangelium ist ja nichts anderes als die Gebote des Gesetzes in der Gestalt der Verheißung. Demzufolge sind die Armut des Geistes, die Reinheit des Herzens und was sonst im heiligen Gesetz Gottes geboten wird, nichts anderes als viele große und kostbare Verheißungen, wenn man sie im Licht des Evange62 liums betrachtet.

Wesley folgt in der Zuordnung von Gesetz und Evangelium eher dem reformierten Gebrauch und bereitet auf eine Weise ein Verständnis vor, das Jahrhunderte später in Karl Barths Theologie Ausdruck finden sollte.63 Achte angemessen auf Textsignale, die über den Text hinausweisen. Wesley meint damit, dass zum einen Texte, die erkennbar nicht wörtlich verstanden werden wollen, auch nicht so ausgelegt werden sollten (Gleichnisse, Bildreden, Visionen etc.). Zum anderen sind hier aber auch Regeln gemeint wie die Beachtung synekdochetischer Redeweise, wenn also ein Teil das Ganze bezeichnet (Gott sein „Herz“ geben meint, sich ihm ganz hingeben) oder dialogischer Sequenzen (Wesley versteht Röm 7,7–25 so, dass Paulus hier nicht mit eigener Stimme spricht). Bemühe dich, den Text auf der Grundlage der verlässlichsten Handschriften zu prüfen und in der besten zur Verfügung stehenden Übersetzung zu verwenden. Wesley ist mit den Anfängen der Textkritik, wie sie sich bei J. A. Bengel (1687–1752) finden, vertraut und weiß um die Schwierigkeiten der Überlieferung mancher Textabschnitte. Wesley ist auch bereit anzuerkennen, dass es bessere und schlechtere Übersetzungen gibt, wobei ihm keine Übersetzungstheorie vor Augen steht, sondern das oben bereits erwähnte Anliegen, die klare Botschaft der Bibel Menschen unterschiedlicher Bildungsvoraussetzungen nahezubringen. Wesleys Auslegungsregeln, die er selbst nie für Methodisten „kanonisiert“ hat, sind Ausweis seines authentischen Bemühens, in der Hinwendung zur Schrift erfahrbar werden zu lassen, worauf es der Bibel ankommt: dass Gott spricht, und dass sein Wort schöpferisches, neu schaffendes Wort ist. Von dieser wiederum soteriologischen Absicht her sind Wesleys hermeneutische Regeln zu lesen und zu würdigen. Ihre ungebrochene Übertragung auf die Gegenwart ist jedoch nicht möglich. Zwar können wir nur darüber mutmaßen, wie Wesley sich zur Verfeinerung und Spezialisierung 62 63

John Wesley, Über die Bergpredigt unseres Herrn V (Predigt 25),§ II.2. In: ders., Lehrpredigten [wie Anm. 1], S. 361. Vgl. Barth, Karl, Evangelium und Gesetz (1935). In: ders., Rechtfertigung und Recht, Christengemeinde und Bürgergemeinde, Evangelium und Gesetz, Zürich 1998.

Die Bibel verstehen – Auslegungsregeln im Anschluss an Wesley

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der Auslegungsmethodik gestellt hätte, für uns besteht jedenfalls nicht die Möglichkeit, an den diesbezüglichen Entwicklungen vorüberzugehen. Gerade eine kritische Würdigung der aufgeführten Regeln lässt die Leistungskraft einiger von ihnen umso stärker hervortreten. Hier ist insbesondere Regel 5, wonach Gebote als verborgene Verheißungen zu lesen sind, besonders wertvoll, weil darin der innere Zusammenhang des Handelns Gottes zu Tage tritt. Die eigenen, gerade auch ekklesialen Voraussetzungen seiner Bibelauslegung scheinen Wesley jedoch nicht bewusst gewesen zu sein (oder er gestand sie sich nicht ein). Der „einfache Sinn“ („plain sense“) der Schrift ist für ihn ohne Weiteres identisch mit den Leitmotiven methodistischer Theologie. „It is a problem for later Wesleyans“, schreibt Scott Jones, „that he [Wesley] never gives an explanation for why his version of the analogy of 64 faith is the correct understanding of the main theme of the Bible”. Ihm schien sein Verständnis selbstevident, wie auch der wiederholte Rekurs auf die Vernunft nahelegt. Insbesondere calvinistische Bibelausleger schienen Wesley schlichtweg verblendet. Doch so einfach war und ist es nicht. In seiner Untersuchung zu Wesleys Schriftgebrauch fasst Donald Bullen Wesleys Verwendung der Bibel in den Kontroversen mit calvinistischen Zeitgenossen so zusammen: Wesley selectively used the text of the Bible and Anglican documents to establish his position. Sometimes, as can be seen in the case of Romans 8,29, he simply ignored the plain meaning of the words. Other times he explains away any Calvinist interpretation that might be seen in them. […] Wesley came to his views influenced by his family upbringing in Epworth Rectory and by his reading at Oxford, not just the Aldersgate experience of 1738. His biblical interpretation was that of an eighteenth-century High-Church Arminian Anglican.65

Mit dieser Feststellung ist nicht über die Sachgemäßheit der einen oder der anderen Auffassung entschieden. Es ist auch nicht in relativistischer Resignation gesagt, dass jeder Mensch halt ein Kind seiner Zeit ist und es daher keine Wahrheit, sondern nur unendlich viele Wahrheitsverständnisse gibt. Im Gegenteil: Dass Gott sich in der Geschichte offenbart, sich ein Volk erwählt und seinen Sohn, „geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan“ (Gal 4,4), gesandt hat, nimmt der Perspektivität menschlichen Erkennens die Peinlichkeit, die eine von apriorischen Verstandesprinzipien 64 65

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Jones, Rule [wie Anm. 60], S. 58. Bullen, Donald A., A Man of One Book? John Wesley’s Interpretation and Use of the Bible, Milton Keynes 2007, S. 176.

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ausgehende Erkenntnistheorie darin sehen muss. Verbindet man die kritischen Einwände, die gegen moderne Wahrheitskonzeptionen vorgebracht wurden, mit Wesleys ureigenem Anliegen, dann ergibt sich ein Bild, das deutlich zuversichtlicher stimmt. Wissend um die Bedingungen menschlichen Erkennens und die Standortgebundenheit unseres Denkens muss die Bibel (besser) zu verstehen bedeuten, mit unseren Modellen von dem, was sie sagt, immer wieder am biblischen Text Maß zu nehmen, bei ihm einzukehren und, ja, sich im Text zu beheimaten, um von ihm in einer das gesamte Leben bestimmenden Weise verändert zu werden. Wesley hat Recht: Im Auslegen der Bibel ist die Bibel selbst die Autorität, der sich die Ausleger zu fügen haben. Bibelkritik heißt dann recht verstanden nicht, die Bibel in dem, was sie sagt, in Frage zu stellen, sondern sich von den biblischen Texten als Ausleger in Frage stellen zu lassen. Das mag für methodistische Ausleger bedeuten, Wesley in manchen Punkten angesichts bestätigter exegetischer Einsichten nicht länger folgen zu können. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass Wesley, was den „roten Faden“ der Bibel angeht, ins Schwarze getroffen hat. Die Erkenntnis, dass Schöpfung, Fall, Bund, die Sendung Jesu, seine Kreuzigung und Auferstehung sowie die Entstehung der Kirche die Akte des göttlichen Dramas sind, das die biblischen Texte bezeugen und an dem Anteil zu erhalten sie ermögli66 chen, ist kein methodistisches Monopol. Sicherlich, diese Theodramatik auf die Ebene von Erfahrungslehren zu transponieren, gibt der Beschreibung eine besondere Note, eine Note freilich, die dem in der Bibel bezeugten Verhältnis von Gott und Mensch nicht fremd ist. Daher scheint mir ein Verständnis der Bibel, das Gottes Handeln in der Geschichte, die Wirksamkeit seiner zuvorkommenden, überführenden, rechtfertigenden und heiligenden Gnade herausarbeitet, Gottes im Wort vernehmbares Reden auf authentische Weise zur Geltung zu bringen.

5 Folgerungen für die kirchliche Praxis Wir haben uns mit Wesleys Verständnis von der Autorität der Bibel auseinandergesetzt, und sind dabei wertschätzend, aber nicht unkritisch vorgegangen. In kritischer Sympathie gegenüber Wesley wird es möglich, Impulse seiner Theologie auch über die Jahrhunderte hinweg fruchtbar werden zu lassen. Ich möchte abschließend vier solcher Impulse andeuten. 66

Vgl. N. T. Wright, How Can the Bible Be Authoritative?. In: Vox Evangelica 21 (1991), S. 7–32.

Folgerungen für die kirchliche Praxis

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Vertrauen wagen: Wesleys Verständnis wie auch sein Gebrauch der Bibel sind von dem Vertrauen getragen, dass die Bibel Wort des lebendigen Gottes ist, dass der dreieinige Gott Suchenden und Glaubenden im Gnadenmittel der Heiligen Schrift begegnet und Leben verändert. Die Frage nach der Autorität der Bibel ist daher nicht rein akademischer Natur, sie ist für die Kirche eine Lebens-, sie ist die Überlebensfrage. Zweihundert Jahre nach Wesley sollten wir eigentlich wissen, dass jeder Versuch, anderen Autoritäten als der Bibel, verstanden als Medium des Redens Gottes, hörig zu werden oder sie nur in den von uns festgelegten „Teilen“ für autoritativ zu erachten, dem geistlichen Leben der Kirche den Lebensnerv nimmt. Die Kirche Jesu Christi lebt aus dem Hören auf die Schrift und im Vertrauen darauf, dass ihr darin die Stimme des guten Hirten begegnet, dem die Gemeinde folgen soll. Der Blick über den westeuropäischen Tellerrand hinaus erweist auf eindrückliche Weise, dass Gott seine Kirche, auch die methodistische, baut, wo sie aus der Anhänglichkeit an sein Wort lebt und sich im Vertrauen auf die Zuverlässigkeit der Schrift dazu befreien lässt, auch gegen Widerstände am Zeugnis der Schrift festzuhalten. In Demut lernen: Mit der Auslegung der Bibel werden wir nicht fertig, weil sie uns zu Jesus Christus weist, der Gottes Wort in Person ist. Christus erkennen bedeutet, sich durch den Heiligen Geist im Medium der Schrift in eine immer tiefere Beziehung zu ihm bringen zu lassen. Dabei ist die Bibelauslegung eine diskursive Praxis, die von der kritischen Prüfung der eigenen Erkenntnisvoraussetzungen nicht absehen kann und deshalb für die Korrektur durch andere offen ist. Wesley schreibt im Vorwort zu den Lehrpredigten: „Aber worin auch immer ich mich geirrt habe – ich bin offen dafür, mich überzeugen zu lassen. Ich wünsche aufrichtig, eines Besseren belehrt 67 zu werden“. Das Übungs- und Bewährungsfeld einer in dieser Weise demütigen Hermeneutik ist der Lebenszusammenhang der christlichen Gemeinde. Zum Gehorsam befreit leben: Die hermeneutischen Fragen der Gegenwart sind komplex und teilweise äußerst kompliziert. Nicht jeder muss sich der Hermeneutik als wissenschaftlicher Disziplin stellen, doch der Strittigkeit des Bibelverständnisses können Christen heute kaum aus dem Weg gehen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass wir für die wenigsten Fragen, deren Klärung wir von der Bibel her erwarten, ein vollkommenes Verstehen brauchen, bevor wir gehorchen könnten. Der Diskurs darf nicht zum Ersatz für das Gehorchen werden, denn wie schon Mark Twain feststellte, bereiten uns in der Regel nicht die Bibeltexte, die wir nicht verstehen, Schwierigkeiten, 67

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Wesley, Lehrpredigten [wie Anm. 1], S. 19 (Vorwort).

Die Autorität der Bibel

sondern diejenigen, die wir verstehen. Der Disput kann zum Ersatz werden, um dem offenbarten Willen Gottes auszuweichen. Solche Ausweichmanöver mögen in der Angst (vielleicht auch der in Anschauung gewonnenen Erfahrung) gründen, dass Gottes Wort verknechtet. Tatsächlich aber werden Christen zum Gehorsam des Glaubens befreit. Denn die Freiheit der Kinder Gottes besteht nicht darin, tun und lassen zu können, was man möchte, sondern darin, sich vorbehaltlos Jesus Christus anvertrauen zu können und ihm nachzufolgen. In Bonhoeffers Worten: „Nur der Glaubende ist gehor68 sam, und nur der Gehorsame glaubt“.

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Bonhoeffer, Dietrich, Nachfolge (DBW 4), München 1989, S. 52.

Folgerungen für die kirchliche Praxis

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Kinder und Kirche Die ekklesiologische Bestimmung des kirchlichen Status getaufter Kinder in der Bischöflichen Methodistenkirche des 19. Jahrhunderts 1 Ekklesiologischer Pragmatismus und der Vorrang der Erlösung als Integral methodistischer Identität In einem vor dem Oxford Institute of Methodist Theological Studies gehaltenen Vortrag hat Albert C. Outler 1962 die Frage gestellt, ob denn Methodisten überhaupt eine Lehre von der Kirche, gemeint ist hier: von ihrer eigenen Kirche, haben. Outler selbst beantwortete diese Frage am Beginn seiner Ausführungen mit nicht zu überhörender Ironie: Ein „Ja“, so Outler, wäre zuviel gesagt, ein „Nein“ wiederum zuwenig, ein „Gewissermaßen“ käme, bei aller Vieldeutigkeit, der Wahrheit am nächsten.1 „Gewissermaßen“ – das bedeutet, dass die zur Kirche gewordene methodistische Bewegung einen ekklesiologischen Pragmatismus pflegte, der freilich kein Selbstzweck war, sondern intrumentelle Bedeutung hatte und hat. Der ekklesiologische Pragmatismus hat eine dem Ruf in die Christus-Nachfolge dienende Funktion, bildete doch bereits bei John Wesley die via salutis das Herzstück der Theologie.2 Das ekklesiologische Erbe, das Wesley v. a. dem britischen Methodismus hinterließ, war der Idee nach voraussetzungsreich und in der Praxis anspruchsvoll. So changierte Wesleys Ekklesiologie zwischen einem historisch-ontologischen Verständnis von Kirche, indem er die anglikanische Lehre aufnimmt, und einem mehr funktionalen Verständnis, von dem her der Charakter der methodistischen Gemeinschaften bestimmt wurde.3 In der Praxis suchte Wesley eine methodistische Identität auszubilden, der ein „dual ecclesial belonging“ zugrunde lag,4 also die gleichzeitige Zugehörigkeit zur etablierten (in England: Anglikanischen) Kirche und zur methodisti1

2 3 4

Albert C. Outler, Do Methodists Have a Doctrine of the Church? In: Oden, Thomas C./Longden, Leicester R. (Hrsg.), The Wesleyan Theological Heritage. Essays of Albert C. Outler, Grand Rapids 1991, S. 212. Vgl. Collins, Kenneth J., The Scripture Way of Salvation. The Heart of John Wesley’s Theology, Nashville 1997. Vgl. Carter, David, Love Bade Me Welcome. A British Methodist Perspective on the Church, Peterborough 2002, S. 7. Ebd. [wie Anm. 3], S. 17.

Ekklesiologischer Pragmatismus und der Vorrang der Erlösung

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schen Society. Mit John Wesleys Tod 1791, in den unabhängig gewordenenen Vereinigten Staaten von Amerika bereits ab 1784, zerbrach dieser von Wesley aufrechterhaltene Spannungsbogen jedoch mehr oder weniger rasch. Die methodistische Bewegung wurde zur Kirche, genauer: mündete in die Entstehung mehrerer methodistischer Kirchen. Wenn im Folgenden gezeigt werden soll, dass für das methodistische Verständnis von Kirche, ihrem Grund und Auftrag, wie er auch in der Bestimmung des Verhältnisses der (getauften) Kinder zur Kirche Ausdruck findet, im 19. Jahrhundert ein ekklesiologischer Pragmatismus kennzeichnend war, dann ist damit nicht gemeint, dass ekklesiologische Fragen kein Interesse fanden, was keinesfalls zutreffend wäre. Die Frage ist vielmehr: Von welchem Ende her werden die Fragen des Kirchenverständnisses diskutiert und entschieden? Und hier gibt es erkennbar nur die Antwort: von der kirchlichen Praxis her, nicht von einem sei es biblischen, sei es wesleyanischen Grundsatz her. Man könnte es noch zugespitzter formulieren: Für die ersten hundert Jahre nach Wesleys Tod kann als Faustregel gelten, dass nicht primär Fragen der Lehre, sondern der Kirchenordnung zu inneren Spannungen und mehrfachen Spaltungen führten. In Großbritannien waren dies vorrangig divergierende Auffassungen über die Beteiligung von Laien, also Nichtordinierten, an der Kirchenleitung und die Befugnisse der „Con5 ference“. Auch die 1784 in Baltimore ins Leben gerufene Methodist Episcopal Church (deutsch: Bischöfliche Methodistenkirche) gab sich bezeichnenderweise ein Buch, das auf der alle vier Jahre stattfindenden Generalkonferenz Gegenstand von Beratungen war und Änderungen erfuhr: The Doctrine and Discipline of the Methodist Episcopal Church. Die „Discipline“, also die Kirchenordnung, erwies sich als das Feld, auf dem soziologische und theologische Entwicklungen greifbar wurden und auf dem zahlreiche Auseinandersetzungen geführt wurden, die auch auf dem amerikanischen Kontinent mehrfach zur Bildung neuer methodistischer Kirchen führte, die häufig mit einem erneuerten bzw. erhöhten Heiligungsethos an den Start gingen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Ludwig Sigismund Jacoby (1813–1874), für die 1849 in Deutschland beginnende Missionsarbeit ein Handbuch herausgab, in dem einer von insgesamt vier Teilen 6 dem „Kirchenregiment“ der Methodistenkirche gewidmet ist. Fragen der Kirchenordnung blieben von einer nahezu dogmatischen Bedeutung für die 5 6

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Vgl. Brake, George Thompson, Policy and Politics in British Methodism, 1932–82, London o. J. [1984], S. 1–13. Vgl. Jacoby, Ludwig S., Handbuch des Methodismus, enthaltend die Geschichte, Lehre, das Kirchenregiment und eigenthümliche Gebräuche desselben, 2. Aufl. Bremen 1855 (1. Aufl. 1853).

Kinder und Kirche

Methodistenkirche – weil sie jedoch der Mission der Kirche zu dienen haben, sind sie nie als Selbstzweck aufgefasst worden. Insofern hat die These vom ekklesiologischen Pragmatismus Bestand. Ein wachsendes Unbehagen gegenüber den zahlreichen ungeklärten ekklesiologischen Begründungsfragen lässt sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dann bereits sowohl im englischsprachigen als auch im mittlerweile entstandenen deutschsprachigen Kirchenzweig, erkennen. Die Gründe für diese Entwicklung liegen, vor allem was den englischsprachigen bischöflichen Methodismus betrifft, in der allmählichen Etablierung der Methodistenkirche. Dieser sich seit den 1870er Jahren verstärkende Prozess des Übergangs von einer – soziologisch gesprochen – Sekte zur sich etablierenden Kirche lässt sich an drei für unseren Zusammenhang wichtigen Beobachtungen festmachen. Erstens ist hier auf das vor allem den englischsprachigen Kirchenzweig kennzeichnende Nachlassen der Verbindlichkeit des Klassenbesuchs zu verweisen. Das „Versäumen“ der Klasse, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts häufiger Grund disziplinarischer Maßnahmen, wird nun in wachsendem Maße zumindest toleriert. Insbesondere gegenüber den zu relativem Wohlstand gelangten methodistischen Kirchengliedern, deren Gebefreudigkeit sich in der Stiftung von karitativen Einrichtungen und imposanten Kirchengebäuden erkennen ließ, schien die Durchsetzung einer an strikten äußeren Normen orientierten Kirchenzucht kaum noch durchsetzbar. Gleichwohl wird die für den Charakter der Methodistenkirche konstitutive Bedeutung der verbindlichen Klassenzugehörigkeit in den beginnenden ekklesiologi7 schen Überlegungen noch nicht aufgegeben. Letztere sind damit von Anfang an mit dem Makel behaftet, zumindest in Teilbereichen hinter der kirchlichen Lebenswirklichkeit zurückzubleiben. Die beginnende Reflexion ekklesiologischer Fragen ergibt sich vor dem Hintergrund wachsender kirchlicher Etablierung zweitens aus einer veränderten missiologischen Orientierung. Waren die unter dem Vorzeichen anhaltender Erweckungen stehenden ersten Jahrzehnte kirchlicher Existenz primär vom Bekehrungswachstum als dem von „außen“ her erfolgten Anschluss der Bekehrten an die Methodistenkirche bestimmt, so entsteht nun in wachsendem Maße ein Bewusstsein für die Pflege des eigenen Nachwuchses. Die Verantwortung von Kirche und Familie für die getauften Kinder der Kirchenglieder gerät deutlicher als zuvor in den Blick, auch wenn die Fürsorge für die geistliche Entwicklung der Kinder zweifellos 7

Vgl. Bischof Janes, E. S., Ansprache an Klaßführer. Aus dem Englischen, Bremen o. J. [1863].

Ekklesiologischer Pragmatismus und der Vorrang der Erlösung

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bereits ein Anliegen Wesleys war. Aber eine Verschiebung der Akzente ist doch nicht zu übersehen. Bereits 1855 analysierte Wilhelm Nast die sich abzeichnenden Entwicklungen. Indem der Methodismus anfangs, so Nast, die Erlösungslehre ganz in den Vordergrund seiner Verkündigung gestellt und sich hinsichtlich der Taufe auf die Widerlegung der Taufwiedergeburtslehre konzentriert habe, wuchs er unter Umständen auf, welche einer Ausführung der kirchlichen Verpflichtungen gegen das getaufte Kind sehr ungünstig waren … Seine Wirksamkeit bezog sich fast ausschließlich auf die Erwachsenen, sein Zweck war, in denen, welche schon dem Bekenntnisse nach Christen waren und die Wahrheiten des Evangeliums kannten, das geistliche Leben zu erwecken. Als Reiseprediger, als Missionare und Evangelisten hatten die Methodistenprediger erst erwachsene Sünder zu erwecken und zu bekehren und aus ihnen Gemeinden zu bilden. Die Kinder dieser Bekehrten zu Christen heranzubilden, war natürlich ein späteres Werk, dessen ganze Wichtigkeit sie Anfangs um so weniger würdigen konnten, da sie überall um sich her die in den Kirchen getauften und erzogenen Kinder ohne wahre Religion aufwachsen sahen.8

Die religiöse Entwicklung der Kinder gläubiger Eltern aber, so mussten auch erwecklich geprägte Methodisten eingestehen, folgte oft anderen Gesetzmäßigkeiten als die Erwachsener. So kam es im Kontext einer streng kirchlichen Sozialisation häufig nicht mehr zu einer als krisenhaft erlebten Bekehrungs- bzw. Wiedergeburtserfahrung, ohne dass sich dem Betreffenden ein wirklich christlicher Charakter und Wandel bestreiten ließe. Die traditionellen Schemata insbesondere der amerikanischen Erweckungstheologie hatten jedoch die Krisis immer stärker als den Entwicklungsgedanken betont, auch wenn letzterer keineswegs fehlte. Gerade das erhöhte Interesse für die geistliche Betreuung des kirchlichen Nachwuchses aber musste die ungeklärten ekklesiologischen Fragen wieder auf den Tisch bringen. Schließlich ist der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzeichnende Rekurs auf ekklesiologische Fragen Ausdruck der insgesamt erkennbaren Tendenz zur theologischen Systembildung. An den neu entstehenden theologischen Seminaren machte sich der Bedarf an systematisch-theologischen Lehrmitteln bemerkbar. Die Zahl der methodistischen Theologen war nicht mehr ohne Weiteres deckungsgleich mit der Anzahl der im Dienst der Methodistenkirche stehenden Pastoren. Vielmehr kam es zur Entstehung eines methodistischen Lehrapparats, der mit wachsender Eigenständigkeit forschte, lehrte und publizierte. Auch ekklesiologische Fragen fanden 8

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Wilhelm Nast, Das Verhältniß getaufter Kinder zur Kirche. In: Der Christliche Apologete 17 (1855), S. 57.

Kinder und Kirche

die Aufmerksamkeit der Theologen. Dabei kam dem gerade erwähnten Interesse für die religiöse Entwicklung der getauften Kinder methodistischer Kirchenglieder besondere Bedeutung zu. Die auch innerhalb des amerikanischen Methodismus wirkungsreichste theoretische Beschreibung der religiösen Entwicklung getaufter Kinder stammte von dem kongregationalistischen Theologen Horace Bushnell, Verfasser des erstmals 1847 und dann in zahlreichen (erweiterten) Auflagen erschienenen Buches Christian Nurture. Bushnell hielt an der Kindertaufe fest, lehnte die Lehre von der Taufwiedergeburt der Kinder jedoch ab. Für Bushnell standen Kindertaufe und religiöse Erziehung in einem grundsätzlichen Zuordnungszusammenhang. Dieser gründet in der „organischen“ Verbindung, wie sie nach Bushnell zwischen 9 den Charakteren von Eltern und Kindern besteht. Danach ist das Kind durch die Taufe kein Christ in sich selbst, sondern ist dies nur in der organischen Verbindung mit seinen Eltern.10 Bushnell hält es für das Grundübel der religiösen Erziehung, das Kind zunächst von seiner Sündhaftigkeit zu überzeugen, um es dann von diesem Zustand aus zu einer krisenhaften Bekehrungserfahrung zu führen. Dieser Auffassung setzte Bushnell sein eigenes Entwicklungskonzept entgegen. Danach entwickelt sich das unter dem religiösen Einfluss seiner Eltern stehende Kind nicht zum Christen, sondern als Christ. Dabei betont Bushnell gegenüber der kognitiven stärker die affektive Seite der Erziehung. Die Notwendigkeit einer krisenhaften Bekehrung im Alter der moralischen Verantwortlichkeit lehnt Bushnell ab, da es nicht plausibel sei, anzunehmen, ein junger Mensch werde „at some certain moment, a complete moral agent, which a moment before he was 11 not“ . Die religiöse Entwicklung eines jungen Menschen vollziehe sich vielmehr so allmählich, dass dieser sich nicht einer Zeit erinnern könne, in der er nicht religiös gewesen sei.12 Die Attraktivität dieser Überzeugungen Bushnells für Methodisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand zunächst darin, dass sie der Erfahrung vieler Methodisten der „zweiten“ und „dritten“ Generation entsprach. Die theologische Nähe Bushnells ergab sich vor allem aus dessen Festhalten an der Kindertaufe, der Zurückweisung der Taufwiedergeburtslehre, seiner abgeschwächten Auffassung von der nicht gänzlich verneinten Erbsündenlehre und dem behaupteten Zusammenhang von Kindertaufe und religiöser Erziehung. Im deutschsprachi9 10 11 12

Bushnell, Horace, Christian Nurture, Cleveland 1994 [Neudruck der Ausgabe von 1861], S. 26. „[Infant baptism] sees the child in the parent, counts him presumptively a believer and a Christian, and, with the parents, baptises him also“, ebd. [wie Anm. 9], S. 40. Ebd. [wie Anm. 9], S. 30. Vgl. ebd. [wie Anm. 9], S. 25.

Ekklesiologischer Pragmatismus und der Vorrang der Erlösung

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gen Kirchenzweig zeigten sich allerdings ungeachtet der grundsätzlichen Zustimmung zu Bushnells Überlegungen deutliche Vorbehalte gegenüber der Abwertung einer bewussten Bekehrungs- und Wiedergeburtserfahrung. Mit diesen Hinweisen ist die Szene gesetzt für eine Darstellung der ekklesiologischen Bestimmung des Status getaufter Kinder im bischöflichen Methodismus des 19. Jahrhunderts. Im Folgenden soll die Entwicklung nachgezeichnet werden, wie sie sich aus den Kirchenordnungen der Methodist Episcopal Church im 19. Jahrhundert ergibt. Dabei sollen außerdem die diese Entwicklung begleitenden Diskussionen innerhalb des deutschsprachigen Kirchenzweiges berücksichtigt werden.

2 Das Verhältnis getaufter Kinder zur Kirche als ein Bewährungsfeld methodistischer Ekklesiologie Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnenden Überlegungen sowie die daraus folgenden Bestimmungen der Kirchenordnung hinsichtlich des Status der getauften Kinder in der Methodistenkirche setzen die Tatsache der Kindertaufe voraus. Die Bedeutung der Taufe ist im Methodismus des 19. Jahrhunderts weithin mit Rückgriff auf die bundestheologische Interpretation der calvinistischen Tradition formuliert worden.13 Danach werden zunächst die Sakramente allgemein als solche heiligen Handlungen bezeichnet, welche von Christo selbst bei der Stiftung des neuen Bundes als gewisse Zeichen und sichtbare Unterpfänder 14 der von Gott verheißenen Gnade eingesetzt sind.

Indem die Taufe als Zeichen des Neuen Bundes die Beschneidung ersetzt, stellt sie diejenige sakramentale Handlung dar, „durch welche wir in die sichtbare Kirche aufgenommen werden“.15 Aus dem weiten Feld der Tauftheologie sind im vorliegenden Zusammenhang zwei Aspekte von Bedeutung. Erstens ist auf den Bundescharakter der Taufe zu verweisen, der den Grundzusammenhang von Kindertaufe und religiöser Erziehung begründet. Danach ist die Taufe Zeichen eines zwischen zwei moralisch verantwortlichen Partnern geschlossenen Bundes. In diesem Bund verheißt Gott – auf die Bedingungen von Buße und Glauben hin – die Reinigung von den 13

14 15

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Ausgangspunkt bei Calvin ist die Inst. IV,16,3ff. Für den historischen Kontext vgl. Spierling, Karen E., Infant Baptism in Reformation Geneva. The Shaping of a Community, 1536–1564, Burlington 2005. Sulzberger, Arnold, Christliche Glaubenslehre, 2. Aufl. Bremen o. J. [1878], S. 676. Ebd. [wie Anm. 14], S. 681.

Kinder und Kirche

Sünden durch den Heiligen Geist in der Erfahrung von Rechtfertigung und Wiedergeburt. Auf Seiten des Menschen tritt zum Zeitpunkt der Kindertaufe jedoch nicht der Täufling selbst, sondern seine Eltern treten in den Bund ein. Sie verpflichten sich jedoch nicht stellvertretend für den unmündigen Täufling zu Buße und Glauben – der Gedanke des stellvertretenden Glaubens wird vielmehr ausdrücklich abgelehnt –, sondern zur christlichen Erziehung des Kindes, mit dem Ziel, dieses zur Erfüllung seiner sich aus der Taufe ergebenden Bundesverpflichtungen zu befähigen. Damit ist ein tauftheologisch unauflöslicher Zusammenhang zwischen Kindertaufe und christlicher Erziehung konstituiert, freilich um den Preis der Annahme, dass sich der Täufling unter den Verheißungen, aber auch unter den Verpflichtungen eines Bundes vorfindet, der über, aber – strenggenommen – nicht mit ihm geschlossen worden ist. Dieser Sachverhalt ist von methodistischen Theologen durchaus gesehen, jedoch unter Hinweis auf den analogen Charakter der Beschneidung im Alten Bund sowie auf die Bezeichnung des vorlaufenden Wirkens der Gnade Gottes in der Taufe verteidigt worden. Nach ekklesiologischer Präzisierung verlangte zweitens die tauftheologische Überzeugung von der Aufnahme der Kinder durch die Taufe in die sichtbare Kirche. Bis in die Gegenwart ist es dieser Punkt, der die theologische crux einer Freiwilligkeitskirche mit Kindertaufe darstellt. Theologisch nicht weiter reflektiert, in der kirchlichen Praxis aber übereinstimmend vorausgesetzt, kennzeichnet den bischöflichen Methodismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts folgendes Konstrukt: Durch die Taufe erhält das Kind (gläubiger Eltern!) Teil an der Gemeinschaft des Neuen Bundes und wird in die sichtbare Kirche aufgenommen. Es erhält Zugang zu allen von der Kirche verwalteten Gnadenmitteln und steht so unter dem besonderen Einfluss der Gnadenwirkungen. Ist die altersbedingte Voraussetzung moralischer Mündigkeit gegeben, kann der Täufling durch Bekehrung und Wiedergeburt Aufnahme in die unsichtbare Kirche finden. Jetzt erst kann er Mitglied der Methodistenkirche als eines konkreten Zweiges der sichtbaren Kirche auf Erden werden. Dies geschieht, indem das Kind geistig mündig geworden aus freier, lebendiger Glaubensüberzeugung sich persönlich verpflichtet, die Bedingungen des Gnadenbundes erfüllen zu wollen und sich nach vollendeter Probezeit vor der Gemeinde zum Taufbunde, sowie zur Lehre und Ordnung der betreffenden Kirche bekennt.16

16

Ebd. [wie Anm. 14], S. 693. Der Satz ist eine Paraphrase der entsprechenden Bestimmung in der Kirchenordnung.

Das Verhältnis getaufter Kinder zur Kirche

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Die ekklesiologische Problematik sticht sofort ins Auge. Durch die Taufe wird das Kind gläubiger Eltern Glied der sichtbaren Kirche, ohne jedoch einem bestimmten Zweig der sichtbaren Kirche anzugehören. Als entscheidend galt jedoch, dass der Täufling damit unter den prägenden Einfluss einer bestimmten Kirche, im konkreten Zusammenhang, der Methodistenkirche, geriet. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich im Vorfeld der Generalkonferenz 1856 eine Diskussion über die Feststellung einer vollgültigen Mitgliedschaft der Kinder in der Methodistenkirche. Im Zusammenhang dieser Diskussion setzte sich auch Nast dafür ein, daß der Grundsatz der Gliedschaft der getauften Kinder förmlich von der Kirche in ihrer Lehr- und Zuchtordnung anerkannt, und die zur praktischen Ausführung dieses Grundsatzes nöthigen Maaßregeln von der General17 Conferenz getroffen werden möchten.

Für Nast stellt es einen logischen Selbstwiderspruch dar, jemand [durch Taufe] in die sichtbare Kirche Christi aufzunehmen, und dennoch dem so Aufgenommenen kein Recht der Gliedschaft in irgend einem Zweige der christlichen Kirche zuzugestehen […] Was in keinem einzelnen Theile des Ganzen zu finden ist, kann auch nicht in dem Ganzen vorhanden seyn.18

Die Anerkennung einer Mitgliedschaft der getauften Kinder zur Methodistenkirche ist für Nast die notwendige Voraussetzung für das Praktizieren der Kindertaufe. Allerdings lässt er keinen Zweifel daran, dass sich der Täufling mit Erreichen der moralischen Mündigkeit zur Mitgliedschaft in dem konkreten Zweig der sichtbaren Kirche, in dem er getauft wurde, und zur Erfüllung der sich aus dem Taufbund ergebenden Verpflichtungen bekennen muss. Getaufte Kinder der Methodistenkirche sind nach Nast damit noch nicht als Methodisten „vereinnahmt“, sie sind weder im Vollsinn gläubig noch wiedergeboren durch den Heiligen Geist, und doch sind sie seines Erachtens Glieder der Methodistenkirche mit dem Vorrecht des Zugangs zu den kirchlichen Gnadenmitteln. Mit seiner Auffassung sieht Nast einerseits den Grundsatz berücksichtigt, dass eine Mitgliedschaft in der sichtbaren Kirche nicht ohne die konkrete Zugehörigkeit zu einem Teil dieser Kirche denkbar ist, andererseits jedoch auch den Grundsatz der Freiwilligkeit im Hinblick

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Nast, Verhältniß [wie Anm. 8], S. 57. Ebd. [wie Anm. 8].

Kinder und Kirche

auf die Zugehörigkeit zur Kirche, genauer: zu einer bestimmten Denomination.19 Die von Nast geforderte Kindergliedschaft, zu deren näherer Ausgestaltung er sich in diesem Zusammenhang nicht äußert, hat logisch eine veränderte Entscheidungsstruktur zur Folge. Für einen Menschen, der durch Bekehrung von „außen“ mit der Methodistenkirche in Berührung kommt, stellt sich die Entscheidung: Bitte um Aufnahme in die Kirche oder nicht. Für die getauften Kinder methodistischer Kirchenglieder lautet die Frage dagegen: Verbleiben in der Kirche oder nicht. Die parallele kirchliche Existenz zweier unterschiedlicher Entscheidungsstrukturen erschien Nast weder theologisch noch praktisch problematisch. Im Hintergrund stand dabei die bereits erwähnte bundestheologische Interpretation von Taufe und Gliedschaft, bei der weitreichende Analogien zwischen Altem und Neuem Bund gezogen wurden. Danach stellte sich auch für den beschnittenen jüdischen Jüngling lediglich die Frage des Verbleibs im oder der Trennung vom Gottesvolk, wogegen sich ein Nichtisraelit durch Beschneidung dem Gottesvolk anschließen konnte. Die Generalkonferenz 1856 fasste keinen Beschluss zur Einführung einer wie auch immer gearteten Kindergliedschaft. Doch wurde dem Anliegen mit der erstmaligen Aufnahme eines Abschnitts „Of Baptized Children“ in 20 die Kirchenordnung entsprochen. Die Berechtigung der Taufe von Kindern wurde mit den unbedingten Wirkungen des Versöhnungswerkes Christi begründet, aufgrund derer Kinder Glieder des Reiches Gottes seien. Mit Blick auf die sachliche Zusammengehörigkeit von Kindertaufe und religiöser Unterweisung wurde zudem die an die Eltern gerichtete Erwartung zur Erziehung der Kinder im Geiste des Wortes Gottes ausgesprochen. Über das formale Verhältnis der getauften Kinder zur Kirche finden sich zwei nähere Bestimmungen. Zum einen wird festgestellt, dass die getauften

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In diesem Sinne äußerte sich später auch J. Wanner: „Es ist gegen unsere Grundsätze, zu unsern Kindern zu sagen: Ihr seid Methodisten und müsset Methodisten bleiben, weil wir Eltern es sind. Nein, jedes Kind soll wählen, selbst denken, selbst nach Ueberzeugung für sich handeln, wir können und sollen nicht für sie handeln, wählen, denken, glauben, sondern sie selbst müssen es thun“. Das Verhältniß unserer Kinder zur Kirche. In: Der Christliche Apologete 39 (1877), S. 18 (Hervorhebung im Original). The Doctrines and Discipline of the Methodist Episcopal Church 1856, S. 31: „Quest. 1. Are all young children entitled to Baptism? Answ. We hold that all children, by virtue of the unconditional benefits of the atonement, are members of the kingdom of God, and, therefore, graciously entitled to baptism; but as infant baptism contemplates a course of religious instruction and discipline, it is expected of all parents or guardians who present their children for baptism, that they use all diligence in bringing them up in conformity to the word of God, and they should be solemnly admonished of this obligation, and earnestly exhorted to faithfulness therein.“

Das Verhältnis getaufter Kinder zur Kirche

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Kinder in einer sichtbaren Bundesbeziehung zu Gott stehen, zum anderen, dass sie der besonderen Fürsorge und Aufsicht der Kirche unterstehen.21 Als Glieder der Methodistenkirche werden sie jedoch nicht bezeichnet. Für die deutsch-amerikanischen Methodisten interpretierte 1857 Ludwig Mulfinger die Beschlüsse der Generalkonferenz.22 Nach Mulfingers Darstellung lassen sich im Verhältnis getaufter Kinder zur Kirche drei aufeinanderfolgende Stufen erkennen. Die erste bezeichnete er als die „einführende Stufe“. Sie beginnt mit der Taufe und wird durch elterliche Unterweisung, Sonntagsschul- und kirchlichen Unterricht fortgeführt. Nach Mulfingers Einschätzung wird bereits auf der „einführenden Stufe“ deutlich, dass getaufte Kinder nicht länger wie „Heidenkinder“ der Welt angehören, sondern in den Schoß der Kirche aufgenommen sind. Als unter der Fürsorge der Kirche stehende Kinder sind sie angehalten, alle Gnadenmittel – außer dem Abendmahl – zu benutzen. Alle getauften Kinder sind zudem in einem Register zu vermerken. Die zweite Stufe, so Mulfinger, beginnt mit der Aufnahme in die Probegliedschaft, und zwar dann, wenn sie ein hinreichendes Alter erreicht haben, um die Verbindlichkeiten der Religion zu verstehen, und genügend Beweis von ihrem Verlangen, dem 23 zukünftigen Zorn zu entfliehen und von Sünden erlöst zu werden, geben,

wie er in Anlehnung an die Kirchenordnung formulierte. Wichtig ist, dass die Kinder zunächst also noch nicht einmal den Status eines Probeglieds besitzen, den sie erst mit Eintritt in das – nicht näher spezifizierte – Alter moralischer Mündigkeit erhalten können. Damit macht die Kirchenordnung von 1856 implizit deutlich, dass bereits die Aufnahme als Kirchenglied auf Probe eine bewusste und freie Entscheidung voraussetzt. Dabei gilt auch im Hinblick auf die getauften Kinder der eigenen Kirche die „einzige Bedingung“ der Allgemeinen Regeln, also ein aufrichtiges Verlangen nach Erlösung. Die dritte Stufe wird mit der Aufnahme in volle Verbindung realisiert. Diesbezüglich unterscheidet die Kirchenordnung von 1856 jedoch wiederum zwischen den in der Methodistenkirche getauften Anwärtern einerseits und den von „außen“ hinzubekehrten (getauften oder ungetauften) Anwärtern auf volle Gliedschaft andererseits. Während letztere die 1856 noch nicht in der Kirchenordnung fixierten, aber bereits „üblichen Fragen“, die sich auf Lehre und Ordnung der Kirche bezogen, zu beantworten hatten, kam bei den in der Methodistenkirche als Kind getauften Bewerbern 21 22 23

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Vgl. ebd. [wie Anm. 20], S. 32. Ludwig Mulfinger, Neue Regel hinsichtlich getaufter Kinder. In: Der Christliche Apologete 19 (1857), S. 30. Ebd. [wie Anm. 22].

Kinder und Kirche

die Bekräftigung des Taufbundes hinzu. Die Erfüllung der sich aus der Taufe ergebenden Bundesverpflichtungen der Eltern mündet damit in das öffentliche Bekenntnis des nun moralisch verantwortlichen Täuflings in die Übernahme seiner Bundespflichten ein. Noch mehrere Jahre lang setzte sich Nast für die Einführung einer Art Kindergliedschaft ein. Dass darin das lutherische Erbe seiner theologischen Ausbildung Ausdruck findet, darf vermutet werden, ausdrücklichen Bezug auf die Praxis in den lutherischen Kirchen nimmt er jedoch nicht. Vielmehr verweist er auf den in der britischen Methodistenkirche vorgebrachten Vorschlag, eine Art „Confirmation“ einzuführen. Dabei würde den Jugendlichen nicht die Frage vorgelegt, ob sie in die Kirche aufgenommen werden, sondern ob sie in ihr bleiben wollten. Als Zeitpunkt wird das Alter von ca. 14 Jahren vorgeschlagen. Für Nast bleibt weiterhin unverständlich, wie im bischöflichen Methodismus von der Aufnahme getaufter Kinder in die Kirche gesprochen werden könne, wenn diese bereits durch die Taufe Glieder 24 der Kirche geworden seien. Unverändert gültig bleibt für Nast jedoch – im Unterschied zur erwähnten Überzeugung Bushnells –, dass die mit der Taufe verbundene elterliche Erziehung und kirchliche Unterweisung das Ziel haben müsse, die Kinder von ihrer Sündhaftigkeit und der Notwendigkeit der Vergebung durch Christus zu überzeugen. Der Gedanke der religiösen Krisis ist ungeachtet der Einsicht in das fortschreitende Moment der religiösen Entwicklung der Heranwachsenden nicht aufgegeben. Die Generalkonferenz von 1856 hatte eine Kommission zur liturgischen Reform der Kirche eingesetzt, Ausdruck eines in dieser Zeit auch aufgrund sozialer Aufstiegsbewegungen der Mitglieder wachsenden liturgischen Bewusstseins. Feste wie Gliederaufnahmen und Kircheinweihungen sollten in ihrem Ablauf stärker liturgisch strukturiert und gesamtkirchlich vereinheitlicht werden. Es zeichnete sich ab, dass die Generalkonferenz 1864 maßgebliche Beschlüsse zur liturgischen Reform fassen würde. Im Vorfeld dieser Generalkonferenz entwickelte sich im deutsch-amerikanischen Methodismus eine Auseinandersetzung um die Praxis der Gliederaufnahme von Gemeindekindern, womit Jugendliche 24

Nast, Verhältniß [wie Anm. 8], S. 182f. (Hervorhebung im Original): „Werden unsere Kinder wirklich Glieder der Kirche durch die Taufe? Wenn so, werden sie später als Glieder der Kirche anerkannt? Wenn nicht, zu welcher Zeit hören sie auf Glieder der Kirche zu seyn? Dies sind Fragen, welche wir unserer Kinder halben zu antworten verpflichtet sind. Indem wir die Kinder, ohne sie zu fragen, in die Kirche durch die Taufe aufgenommen haben, ist es auch unsere Pflicht, sie zur rechten Zeit zu fragen, ob sie Glieder der Kirche bleiben wollen.“ Nast zitiert hier aus einem Artikel des London Watchman, dem Organ der Wesleyanischen Methodisten in England.

Das Verhältnis getaufter Kinder zur Kirche

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im Alter von etwa 13 bis 16 Jahren gemeint waren. In der Diskussion standen sich die Vertreter eines Konversionsschemas und die eines Konfirmationsschemas gegenüber. Während erstere den Entscheidungscharakter des Glaubens gegenüber liturgisch aufgewerteten Passageriten zur Geltung bringen wollten, sahen sich letztere dem Vorwurf ausgesetzt, die landeskirchliche Konfirmationspraxis in die Methodistenkirche einführen zu wollen.25 Sichtbar wurden die Differenzen am praktischen Vorgehen. So verband Alois Löbenstein, bekannt als einer der begabtesten Katecheten26 des deutsch-amerikanischen Methodismus, den Abschluss des Katechismusunterrichts mit einer „Vorstellung“ der Jugendlichen vor der Gemeinde, die unter anderem eine „Einsegnung“ und ein „Gelübde“ einschloss, sowie mit der erstmaligen Abendmahlsteilnahme.27 Die wenigen Informationen, die wir über Löbensteins Aufnahmepraxis besitzen, lassen mehr Fragen offen, als sie beantworten. So ist nicht deutlich, welche ekklesiologische Bedeutung dem erwähnten Gelübde zukommt. Es scheint, als ob Löbenstein den Abschluss des kirchlichen Unterrichts mit der Aufnahme in die volle Kirchengliedschaft verband; denkbar ist, da die Erwähnung der erstmaligen Zulassung zum Abendmahl hier nicht klärend wirkt, auch die jahrgangsweise Aufnahme in die Probegliedschaft. Unklar bleibt ferner vor diesem Hintergrund, inwieweit die von Löbenstein im Hinblick auf das 28 Gelübde gestellte Frage die „üblichen Fragen“ zu Ordnung und Lehre der Methodistenkirche ergänzte oder ersetzte. Von anderen Predigern des deutsch-amerikanischen Kirchenzweiges wurde Löbenstein vorgeworfen, praktisch die „Confirmation“ eingeführt zu haben.29 Verwiesen wurde auf die Gefahr bei der (jahrgangsweisen) Konfirmation, den Jugendlichen ein voreiliges, nicht ihrem religiösen Erfahrungsstand entsprechendes Gelübde abzuverlangen, zumal die erstmalige Teilnahme am Abendmahl einen besonderen Reiz ausübe. Die Methodistenkirche, so Georg Haas, dringe auf Bekehrung. Bekehrung aber sei etwas 25 26 27 28

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Vgl. auch Pritzlaff, Paul, Weckstimmen. Betrachtungen zur Beförderung wahren Christentums, Bremen/Zürich o. J. [1891], S. 46ff. „Katechet“ meint hier kein kirchliches Amt, sondern die Tätigkeit des Predigers, die Lehre der Kirche zum Zweck der Unterweisung der Kirchenglieder zu vermitteln. Alois Löbenstein, Das Verhältniß unserer Kinder zur Kirche. In: Der Christliche Apologete 26 (1864), S. 30. Löbenstein, Verhältniß [wie Anm. 27], S. 41 stellte nach eigenem Bekunden die folgende zu bejahende Frage: „Versprechet ihr, in der Gegenwart Gottes und dieser Gemeinde, die Gnade des Herrn Jesus ernstlich zu suchen, und wenn sie euch geschenkt worden ist, wollt ihr dann dem Heilande treulich und rechtschaffen dienen?“ Georg Haas, Das Verhältniß unserer Kinder zur Kirche noch einmal. In: Der Christliche Apologete 26 (1864), S. 53.

Kinder und Kirche

anderes als das im Rahmen einer „Ceremonie“ abgelegte Gelübde.30 Löbenstein sah weder die Rechtmäßigkeit noch den geistlichen Nutzen seines Vorgehens durch die Kritik widerlegt. Seinen Kritikern hielt er entgegen: „Haben Hunderte ihr [Konfirmations]Gelübde gebrochen, so haben Hunderte bekannt, daß sie in der Confirmation die ersten, tiefen, erweckenden, religiösen Eindrücke empfangen haben.“31 Die Generalkonferenz 1864 überarbeitete den Abschnitt der Kirchenordnung „Of Baptized Children“ und bemühte sich dabei, die offiziellen kirchlichen Vorgaben zu präzisieren. Nach Maßgabe der Kirchenordnung von 1864 sollten die getauften Kinder im Alter von 10 Jahren oder früher in eigenen Klassen zusammengefasst werden. In den wöchentlichen Klassenstunden sollten sie über den Charakter der Taufe und die sich aus ihr ergebenden Verpflichtungen sowie über die Wahrheiten des christlichen Glaubens instruiert, zum Gebrauch der Gnadenmittel angeregt sowie ermutigt 32 werden „to an immediate consecration of their hearts and lives to God“ . Die Generalkonferenz stellte ferner klar, dass die Klassen für getaufte Kinder auch ungetauften Kindern offenstehen müssten. Weiterhin wurde der Passus bezüglich der Aufnahme getaufter Kinder in die Probegliedschaft um den Hinweis ergänzt, dass diese Aufnahme nur mit deren ausdrücklicher Zustimmung („with their consent“) zu erfolgen habe. Die Aufnahme in volle Gliedschaft nach Ablauf der regulären Probezeit von sechs Monaten setzte unverändert die Beantwortung der nun auch in der Kirchenordnung fixierten Fragen zu Lehre und Ordnung der Methodistenkirche sowie die Bekräftigung des Taufbundes voraus. Aus den Beschlüssen von 1864 lassen sich im historischen Kontext wichtige Erkenntnisse gewinnen. Zunächst bekommt das seit 1856 zu führende Register der getauften Kinder erstmals eine erkennbare ekklesiologische Funktion. Aus den auf dieser Liste verzeichneten Kindern waren eigenständige Klassen zu bilden, die zur persönlichen Heilserfahrung führen und auf die Aufnahme in die volle Gliedschaft der Kirche vorbereiten sollten. Mit diesem Beschluss ließ sich den besonderen religiösen Entwicklungsbedingungen der methodistisch sozialisierten Jugendlichen (im Unterschied zu den von „außen“ hinzu Bekehrten) besser entsprechen. Die von der Generalkonferenz verabschiedete Textfassung enthielt ferner zwei Hinweise auf Tendenzen, die offenbar als problematisch empfunden wurden. Zum einen ist hier die ausdrückliche Öffnung der Kinderklassen auch für nichtgetaufte Kinder zu nennen, die man als Ent30 31 32

Vgl. ebd. [wie Anm. 29], S. 73. Löbenstein, Verhältniß [wie Anm. 27], S. 57. The Doctrines and Discipline of the Methodist Episcopal Church 1864, S. 39f.

Das Verhältnis getaufter Kinder zur Kirche

115

wertung der Kindertaufe interpretieren kann. Tatsächlich gibt es Indizien für eine teilweise Vernachlässigung der Kindertaufe im englischsprachigen bischöflichen Methodismus.33 Dieser Umstand wurde auf der Generalkonferenz 1864 jedoch nicht Gegenstand von Kritik und Ermahnung, sondern er wurde mit der gewählten Formulierung sogar implizit in Rechnung gestellt. Zum anderen lässt die Erinnerung der Generalkonferenz an den unbedingt freiwilligen Charakter der Aufnahme in die Probegliedschaft erkennen, dass eine jahrgangsweise Aufnahme der Gemeindejugendlichen bereits hier und da praktiziert wurde. Für die deutschsprachigen Methodisten unterstrichen die Generalkonferenzbeschlüsse zwar die bisherige Linie, wonach getaufte Kinder einerseits unter der Fürsorge und Aufsicht der Kirche sowie ihrer Eltern stehen, sie aber andererseits noch nicht im vollen Sinne Christen sind: „dieses werden sie erst durch ihre persönliche Uebergabe an den Herrn durch die Erneue34 rung ihres Herzens.“ Ungeklärt blieb im Einzelnen jedoch weiterhin die Frage, ob die so unterrichteten und erzogenen Kinder, wenn sie ihr Herz dem Herrn gegeben haben oder doch von ganzem Herzen willig sind, die wahre Herzens-Religion zu suchen – auf dieselbe Weise, wie die Erwachsenen, oder auf eine besondere Weise in die Kirche aufgenommen werden35

sollen. Eine im Grundsatz unterschiedslose Konfirmation aller Gemeindejugendlichen eines Jahrgangs wollten – in Abgrenzung zu Löbenstein – auch die meisten Befürworter einer stärker zeremoniellen Aufnahmefeier innerhalb des deutschsprachigen Methodismus nicht. Die entsprechende geistliche Reife des Kindes vorausgesetzt, so z. B. Fr. Kopp, sollten jedoch der feierliche Abschluss des kirchlichen Unterrichts, die öffentliche Prüfung der Schüler und die Aufnahme in volle Verbindung in einem Gottesdienst erfolgen. Kopp begründet dieses Vorgehen in erster Linie mit der sich daraus ergebenden Aufwertung des kirchlichen Unterrichts. Kopp hält es durchaus 33

34 35

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Wichtige Zeugnisse dafür sind die wiederholten kritischen Warnungen deutschamerikanischer Methodisten an die Adresse der englischsprachigen Geschwister. Auf der Generalkonferenz 1880 wurde über die Delegierten der zwischenzeitlich gebildeten Westlich Deutschen Konferenz (in den USA) sogar der Antrag eingebracht, die Formulierung der Kirchenordnung im Blick auf die Beibehaltung der Kindertaufe zu verschärfen. Vgl. Journal of the General Conference of the Methodist Episcopal Church, New York/Cincinnati 1880, S. 148. Fr. Kopp, Das Verhältniß unserer Kinder zur Kirche. In: Der Christliche Apologete 26 (1864), S. 65. Ebd. [wie Anm. 34].

Kinder und Kirche

für möglich, das Geschehen dieses Gottesdienstes als „Confirmation“ zu bezeichnen, vorausgesetzt, der Taufbund wird von dem zu konfirmierenden Jugendlichen auch wirklich innerlich erneuert. Vermutlich, so Kopp, werde sich jedoch der Begriff „Prüfung“ durchsetzen. Er sieht freilich auch die sich aus der engen Verbindung von Prüfung und Gliederaufnahme ergebende Gefahr. So müsse sichergestellt werden, dass nicht das Maß des Auswendiglernens über die Aufnahme in die Kirche entscheide. Nicht die Kenntnis der „Heilswahrheiten“, sondern die persönliche Heilserfahrung begründe die 36 Zugehörigkeit zur Kirche. Nur so kann nach Kopp verhindert werden, dass ein „fleischgesinnter Haufen in unsere Kirche aufgenommen wird“.37 Die Entscheidung darüber, welche Kinder im unmittelbaren Anschluss an die Prüfung in die Kirche aufgenommen werden, sollte der Prediger auf die Empfehlung der Klassführer-Versammlung hin treffen. Für günstig hält Kopp das Alter von ungefähr 14 Jahren, jedoch sei – abhängig vom geistlichen Entwicklungsstand des Jugendlichen – ein früherer oder späterer Zeitpunkt denkbar. Kopps Vorschlag ist in mehrfacher Weise bemerkenswert. Kopp geht einerseits davon aus, dass die unterschiedliche religiöse Entwicklung der Kinder eine streng jahrgangsweise Aufnahme in die Kirchengliedschaft ausschließt, er scheint andererseits davon überzeugt, dass die religiöse Entwicklung von unter dem Einfluss der Kirche stehenden Kindern im Alter von durchschnittlich 14 Jahren einen Punkt erreicht hat, an dem es sich nahelegt, das christliche Bekenntnis durch Bekräftigung des Taufbundes und Aufnahme in die Kirche festzumachen. Indem Kopp die Gliederaufnahme mit dem Abschluss des kirchlichen Unterrichts verbinden möchte, sucht er der subjektiven Glaubensentwicklung einen liturgisch situierten Anhaltspunkt zu geben. Ferner bringt Kopps Vorschlag gegenüber den einsetzenden Tendenzen zur Pastorenkirche die Kompetenz und Autorität der Klassführer zur Geltung – womit sein Vorschlag sich gegen den damals bereits einsetzenden Strom der Zeit stemmt, der das verbindliche System der Klassenzugehörigkeit hinwegspülen sollte. Obwohl er die Notwendigkeit der Heilserfahrung gegenüber der bloßen Kenntnis der Heilstatsachen hervorhebt, macht er gleichwohl die den deutschsprachigen Methodismus kennzeichnende

36

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Ebd. [wie Anm. 34]: „Daher sollte kein Kind unter unserer Aufsicht, das auch sehr viel auswendig gelernt und gute Begriffe von den Heilswahrheiten hat, das nicht wenigstens erweckt und heilsverlangend sich nach der Gnade Gottes sehnt und ein ernstes Verlangen an den Tag legt, sein ganzes Leben Gott zu weihen, zum heiligen Abendmahl zugelassen werden.“ Ebd. [wie Anm. 34].

Das Verhältnis getaufter Kinder zur Kirche

117

grundlegende Bedeutung des Katechismusunterrichts deutlich.38 Nach Überzeugung der deutschsprachigen Methodisten sollte ein mehrjähriger Katechismusunterricht für alle in der Kirche getauften Kinder konstitutiver Bestandteil des von der Kirchenordnung geforderten „Systems fortlaufender religiöser Belehrung“ sein.39 Der Versuch deutsch-amerikanischer Delegierter bei der Generalkonferenz 1864, die Verbindlichkeit der Unterweisung im Katechismus für die Gesamtkirche festschreiben zu lassen, scheiterte zwar, doch regelten die deutschsprachigen Konferenzen die Frage in eigener Zuständigkeit. So beschloss die Jährliche Missionskonferenz Deutschland/Schweiz 1870 die Einführung eines „regelmäßigen systematischen Religionsunterrichts“, der drei Unterrichtsjahre umfassen und auf den von Wilhelm Nast 1868 verfassten Katechismen beruhen sollte.40 Der Unterricht endete im dritten Jahr mit einer Prüfung der Kinder vor der Gemeinde. In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts verabschiedete die Generalkonferenz weitergehende Modifizierungen des Aufnahmeprozesses getaufter Kinder in die Kirche. So wurde beschlossen, dass getaufte Kinder unter der in den Allgemeinen Regeln genannten Voraussetzung, also der Sehnsucht nach Erlösung, ohne Probezeit in volle Verbindung aufgenommen werden können. Damit war einheitlich geregelt, dass die Zugehörigkeit zu einer Kinderklasse die Teilnahme an einer „normalen“ Klasse als Probeglied ersetzte. Im deutschsprachigen Methodismus setzte sich nun für die getauf41 ten Kinder der Begriff „Kirchenkinder“ durch. Zugleich zeigte sich deutlich eine im deutschsprachigen Kirchenzweig geübte Besonderheit. Wäh38

39

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Der Hinweis auf die Bedeutung des Katechismusunterrichts erfolgt im zeitlichen Zusammenhang mit dem damals wohl in Vorbereitung befindlichen, m. W. 1868 erstmalig veröffentlichten Katechismus Wilhelm Nasts. Formal lehnt sich Nast an Luthers Katechismus an, wenn er einen größeren und einen kleineren Katechismus veröffentlichte. Inhaltlich setzt er jedoch dezidiert methodistische Akzente; vgl. Der Größere Katechismus für die deutschen Gemeinden der Bisch. Methodistenkirche. Mit Genehmigung der Generalkonferenz herausgegeben, Cincinnati o. J.; Der Kleinere Katechismus, für die deutschen Gemeinden der Bisch. Methodistenkirche. Mit Genehmigung der Generalkonferenz herausgegeben, Cincinnati o. J. Mit Blick auf die im englischsprachigen Methodismus vorherrschende Praxis der Sonntagschule stellt G. H. Hiller, Die Aufgabe der Kirche im Staat. In: Der Christliche Apologete 41 (1879), S. 121 fest: „Die Belehrungen in der Sonntagschule und der Eltern sollen den katechetischen Unterricht ergänzen, aber nicht ersetzen.“ Der Unterricht sah seit 1872 im ersten Jahr die Behandlung der Calwer Biblischen Geschichte vor, im zweiten Jahr die des Großen Katechismus von Wilhelm Nast „der Hauptsache nach“, im dritten Jahr „eine gründliche Wiederholung des großen Katechismus von Nast“. Verhandlungen der 17. Sitzung der Jährlichen Missionskonferenz von Deutschland und der Schweiz, Bremen 1872, S. 22. Vgl. Clemens A. Achard, Das Verhältniß unserer getauften Kinder zur Kirche. In: Der Christliche Apologete 50 (1888), S. 49.

Kinder und Kirche

rend im englischsprachigen bischöflichen Methodismus Kinder nach erfolgter Teilnahme an einer Kinderklasse im Alter von ca. 10 Jahren auf zumeist wenig zeremonielle Weise in die volle Gliedschaft der Kirche aufgenommen wurden, hatten die 13- bis 16-jährigen Kinder einer deutschsprachigen Methodistengemeinde zunächst einen dreijährigen Katechismusunterricht zu besuchen. Die öffentliche Prüfung zum Abschluss des kirchlichen Unterrichts konnte mit der Aufnahme in die volle Gliedschaft der Kirche verbunden werden,42 wobei in der formalen Durchführung dieses auch als „Einsegnung“ bezeichneten Gottesdienstes offenbar keine Einheitlichkeit erreicht wurde.43 Insgesamt scheint sich um diese Zeit die Auffassung durchzusetzen, dass spätestens im jugendlichen Alter von den unter der Fürsorge und Aufsicht der Kirche stehenden getauften Kindern eine Entscheidung erwartet werden dürfe. Dahinter steht die Überzeugung, dass sich die moralische Mündigkeit auch in einer konkreten religiösen Entscheidung zu manifestieren habe, sei es für oder gegen den Glauben, genauer noch: das im Taufbund angebotene Heil. Ein angemessener konkreter Zeitpunkt für eine solche Entscheidung ist nach Clemens Achard, dem damaligen Direktor des Predigerseminars in Frankfurt am Main, der Abschluss des kirchlichen Unterrichts. Dieser sollte in jedem Fall zu einem veränderten Status des Jugendlichen in der Gemeinde führen. Nun kein „Kirchenkind“ mehr, sollte er – seinem geistlichen Entwicklungsstand gemäß – a) in volle Verbindung aufgenommen, b) aus der Gemeinde entlassen oder c) in die Liste der Probeglieder übertragen werden. Achard versprach sich von dieser Praxis, dass „Manches unserer

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43

So schreibt Nippert, Ludwig, Beweise für den göttlichen Ursprung der heiligen Schrift und Leitfaden zur christlichen Glaubens- und Sittenlehre, Bremen/Cincinnati 1881, S. 150f.: „Nach gehörigem, gründlichen Unterricht und vorausgesetzt, daß solche Kinder ein Verlangen haben, selig zu werden, sollten sie vor der Gemeinde feierlich geprüft werden, ihren Taufbund bekräftigen und unter Gebet und Fürbitte in die Kirche aufgenommen werden als vollberechtigte Mitglieder.“ Man beachte bei dieser faktisch jahrgangsweisen Aufnahmeprozedur den weiterhin bestehenden erfahrungstheologischen Vorbehalt. So schreibt Pritzlaff, Weckstimmen [wie Anm. 25], S. 51f.: „Die äußere Ceremonie bei dem Entlassungsakt ist den Predigern nicht vorgeschrieben. Während alle in ihrer Ansprache sich bemühen, dem Kinde den Herrn Jesum als einzigen Heiland anzupreisen, es vor der verführerischen Welt zu warnen, übergeben einige, während sie dem Kinde die rechte Hand reichen, demselben zum Andenken und zum fleißigen Gebrauch eine schöne Bibel; andere gehen weiter und lassen das Kind vor den Altar knieen und sprechen, während sie die Hände auf das Haupt des Kindes legen, den Segen des Herrn, oder den apostolischen Segensspruch.“ Außerdem merkt Pritzlaff an, dass letztere Praxis aus „übergroßer Aengstlichkeit“ von einigen Konferenzmitgliedern mißbilligt wird, verteidigt diesen Stimmen gegenüber jedoch das Handauflegen als urchristlichen Brauch.

Das Verhältnis getaufter Kinder zur Kirche

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Kinder, das auf halbem Wege steht, zu einem heilsamen Entschluß angetrieben [wird] und unserer Kirche erhalten“ bleibt.44 Auch bei diesem Vorschlag Achards zeigt sich, ungeachtet des genannten erfahrungstheologischen Vorbehalts, die Tendenz, die Frage der Aufnahme bzw. Nichtaufnahme in volle Kirchengliedschaft zumindest regulär mit dem Abschluss des kirchlichen Unterrichts zu verbinden. Zugleich treten die unverändert bestehenden ekklesiologischen Ambivalenzen deutlich zu Tage, wenn Achard unter Möglichkeit b) von der „Entlassung“ aus der Gemeinde spricht. Welchen Sinn besitzt ein solcher Ausdruck angesichts der eindeutigen Nichtmitgliedschaft der Kirchenkinder in der Methodistenkirche? Entlassung ist nur aus einem bis dato bestehenden Verhältnis möglich. Zu denken wäre daher entweder – theologisch problematisch – an die Entlassung aus dem Taufbund oder – weniger spektakulär – an die ersatz- und folgenlose Streichung aus dem Verzeichnis der Kirchenkinder. Die aus heutiger Sicht folgenschwerste Option in Achards Vorschlag stellt freilich Möglichkeit c), die Übernahme eines Kindes in die Liste der Probeglieder, dar. Denn hier ist, von Achard zweifellos unbeabsichtigt, bereits der Keim gelegt für ein dauerhaftes Probeverhältnis entscheidungsunwilliger Kirchenkinder (in Deutschland gegenwärtig „Kirchenangehörige“ genannt). Denn sofern die zumeist auf ethische Verfehlungen zielenden disziplinarischen Bestimmungen der Kirchenordnung nicht griffen – und das taten sie zumindest im englischsprachigen Methodismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts bei nachlassendem Interesse an der Kirchenzucht immer weniger –, bestand kaum eine Möglichkeit, ein „Kirchenkind auf Dauer“ zu einer wie auch immer ausgerichteten Entscheidung zu bewegen. Der allmähliche Zerfall der Klassenstruktur nahm den geistlichen Entwicklungs- oder gerade auch Stagnationsprozessen ein zentrales Medium der Begleitung und Ermahnung. So konnte es im 20. Jahrhundert dann schließlich dazu kommen, dass das Verbleiben im – durch die Taufe „geheiligten“(?) – „Vorhof“ der Kirche zu einem zwar gelegentlich beklagten, aber in wachsendem Maße doch als normal akzeptierten, zumindest aber tolerierten Zustand werden konnte.

3 Fazit Fassen wir unsere Beobachtungen zusammen. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt einsetzende ekklesiologische Reflexion führte unter den konkreten Bedingungen einer sich zunehmend auch aus dem 44

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Achard, Verhältniß [wie Anm. 41], S. 49.

Kinder und Kirche

eigenen Nachwuchs regenerierenden Kirche zu einer deutlicheren Wahrnehmung des ungeklärten Status der in die Kirche hineingetauften Kinder. Von offizieller Seite ist dabei die Praxis der Kinder-, genauer: der Säuglingstaufe, zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt worden. Während Wesleys spannungsreiche, weil um Loyalität zur Kirche von England bemühte und auf die Notwendigkeit einer bewussten Wiedergeburt drängende Tauftheologie schnell in Vergessenheit geraten zu sein scheint, blieb die im Verhältnis von Säuglingstaufe und Bekehrung liegende Spannung allgegenwärtig. In entschiedener Abgrenzung von der Taufwiedergeburtslehre des Luthertums bot sich die bundestheologische Deutung der Kindertaufe an, um das im Konversionsschema unabdingbare persönliche Bekenntnis zu Gottes in der Taufe gegebenem Ja mit der Praxis der Säuglingstaufe zu verbinden. Zu einer ekklesiologisch plausiblen Klärung des Status der getauften Kinder führte das jedoch nicht. Vielmehr herrschte noch am Ende des 19. Jahrhunderts die Auffassung vor, dass Kinder durch die Taufe Glieder der Gemeinde des Neuen Bundes, also der allgemeinen Kirche Jesu Christi, werden, ohne dabei jedoch Glieder eines bestimmten Zweiges der sichtbaren Kirche Jesu Christi auf Erden zu sein. Glieder der Methodistenkirche würden sie erst durch die persönliche Glaubensentscheidung, die mit Blick auf die Taufe als Bestätigung des Taufbundes verstanden wurde. In theologischer Hinsicht schien lediglich klar, dass getaufte Kinder gläubiger Eltern nicht mehr zur „Welt“, sondern (in einem allgemeinen Sinne) zur Kirche gehören und auf diese Weise unter dem segensvollen Einfluss der kirchlichen Gnadenmittel stehen. Es bestätigt sich damit in allem Wandel der Ordnungen und Interpretationen, dass der Methodismus einen soteriologisch, d. h. auf die persönliche Annahme des Heils ausgerichteten, ekklesiologischen Pragmatismus pflegt. Es ist dieser Pragmatismus, nicht eine überzeugend ausgearbeitete Lehre von der Kirche, die es erlaubt, den Charakter einer kindertaufenden Freiwilligkeitskirche zu bewahren. Dieser Charakter ist, auch das haben wir gesehen, nur um den Preis der Inkaufnahme gravierender theologischer Spannungsmomente zu haben – Spannungen, die jedoch in Zeiten von Erweckung, Wachstum und Ausbreitung kaum ins Gewicht fallen und erst dann als Problem zu Tage treten, wenn sich die Aufmerksamkeit der Kirche mangels missionarischen „Erfolgs“ stärker auf sich selbst richtet. Nicht zu übersehen ist, dass es vor dem Hintergrund dieser im Grundsätzlichen ambivalenten ekklesiologischen Bestimmungen zum Ende des 19. Jahrhunderts hin zu einer wachsenden Wahrnehmung der getauften Kinder kommt. So fand die sich als Konsequenz aus dem taufenden Handeln der Kirche ergebende besondere Fürsorge und Aufsicht der Kirche über

Fazit

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die getauften Kinder auf der Ebene der Kirchenordnung ihren Ausdruck in der Einführung eines gesonderten Verzeichnisses der getauften Kinder (1856) und der Bildung besonderer Klassen für Kinder (1864). Gegenstand der kirchlichen Unterweisung der Kirchenkinder sollte gerade auch die Notwendigkeit sein, sich in einer persönlichen Glaubensentscheidung zu dem in der Taufe geschlossenen Bund zu bekennen. Dabei wurde es offenbar für sinnvoll und richtig gehalten, das Kind bzw. den Jugendlichen zeitlich konkret zu einer solchen Glaubensentscheidung zu ermutigen. Mit dieser war dann auch die Voraussetzung für die Aufnahme in die volle Kirchengliedschaft gegeben. Als gängiger Zeitpunkt für die Aufnahme in die Kirche setzte sich im englischsprachigen bischöflichen Methodismus der Abschluss der Kinderklasse durch, im deutschsprachigen Methodismus die „Einsegnung“ als Abschluss des Katechismusunterrichts. Inwieweit der wiederholt angemahnte erfahrungstheologische Vorbehalt, also Anzeichen einer wirklichen Bekehrung oder zumindest Erweckung, wie die Allgemeinen Regeln sie spezifizieren, in der Praxis zur Wirkung kam, wird sich im Nachhinein generalisierend kaum sagen lassen. Hier hing vieles von den Pastoren und – in abnehmendem Maße – den Klassführern ab. Die Bischöfliche Methodistenkirche verdankt ihrem deutschsprachigen Kirchenzweig, und hier dem maßgeblichen Einfluss Wilhelm Nasts, den Impuls einer geordneten katechetischen Unterweisung der Gemeindejugend. Dieser Impuls zielte keineswegs darauf, den erweckungstheologischen Primat des Konversionsschemas zu unterlaufen, sondern sollte diesem ein solides lehrmäßiges Fundament geben, wie es in der lutherischen wie reformierten Tradition für wichtig gehalten wurde. Damit leistete Nast ungewollt gleichwohl einen Beitrag dazu, das als Konkurrenz zum Konversionsschema verstandene Konfirmationsschema zu stärken. Denn die Prüfung des erworbenen Katechismuswissens vor der Gemeinde legitimiert eine jahrgangsweise, von der persönlichen Heilserfahrung absehende liturgische Feier ungleich stärker als das im Konversionsschema möglich wäre. Die Segnungshandlung zum Abschluss des Katechismusunterrichts (später „Einsegnung“ genannt) gewann, wenn man von der Wende zum 20. Jahrhundert weiter nach vorn schaut, funktional, d. h. religionssoziologisch betrachtet, die Bedeutung eines Passageritus, wie er für das Alter von 14 Jahren weithin nachgefragt wird, ekklesiologisch aber blieb und bleibt er bedeutungslos, insofern er – zumindest in der Evangelisch-methodistischen Kirche – nicht mit einem Statuswechsel des Jugendlichen verbunden ist. In seiner Untersuchung zum Verständnis von Kirchengliedschaft in der methodistischen Tradition schreibt Frederick Norwood:

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Kinder und Kirche

If the Methodist heritage means anything for the doctrine of the Church, it means the expression of this tension between ecclesia and ecclesiola, between the institution that would cover and seek to redeem all society, the whole world, and the community of faith bound together in the love of God and 45 brother.

Aufs Ganze gesehen scheint mir, dass damit der Entstehungszusammenhang der methodistischen Kirche in einen Begründungszusammenhang überführt wird: Aus den kontingenten historischen Entstehungsbedingungen der methodistischen Bewegung (eine Bewegung in der Kirche [von England]) wird ein ekklesiologisches Modell, das zur Bedingung der Möglichkeit methodistischen Kircheseins überhaupt erklärt wird. Nur so lässt sich die hoch ambivalente Praxis einer Säuglinge taufenden Freiwilligkeitskirche aufrechterhalten und fernab der Realität sogar als ökumenischer Brückenbau interpretieren. Eine überzeugende ekklesiologische Begründung dieser Praxis scheint mir nicht möglich. Auf sie zu verzichten, ist allerdings nicht unbedingt ein Eingeständnis eigenen Unvermögens, vielmehr ließe sich die Not zur Tugend machen, indem der dienende Charakter des ekklesiologischen Pragmatismus, der den Methodismus ohnehin seit seiner Entstehung kennzeichnet, neu ins Bewusstsein gerufen wird: Wie immer Fragen der Taufe, der Mitgliedschaft etc. geregelt werden, sie haben dem Auftrag der Kirche zu dienen, in Bewegung zu bleiben zu den Menschen, deren Heil darin liegt, im Glauben Jesus Christus nachzufolgen und mitzubauen an seinem Reich. Der Versuch, die historische Etappe, Kirche und Bewegung zugleich zu sein, auf Dauer zu stellen, muss eine Kirche überfordern. Wichtiger ist es, als Kirche, die wir nun einmal sind, in Bewegung zu bleiben als solche Menschen, die auf dem Weg in die Erneuerung in das Ebenbild Jesu Christi sind, indem sie sich vom Bösen abwenden und vom Verlangen tragen lassen, vollkommen von Gottes Liebe erfüllt zu werden. Nur auf diesem Weg kommt auch die Kirche ans Ziel.

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Norwood, Frederick A., Church Membership in the Methodist Tradition, Nashville 1958, S. 117.

Fazit

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Das Abendmahl als Gnadenmittel der ChristusNachfolge 1 Wir feiern Abendmahl – Beobachtungen zu Entwicklungen im 20. Jahrhundert Wer evangelisch-methodistische Christen nach der Bedeutung des Abendmahls für ihr persönliches geistliches Leben fragt, wird sehr unterschiedliche Antworten erhalten. Bereits bei einer stichprobenartigen Umfrage kann sich ein breites Spektrum ergeben – von der Einschätzung „Das Abendmahl hat in meiner persönlichen Frömmigkeit keinen Platz“ bis hin zu der Aussage „Ich habe das Bedürfnis, das Abendmahl möglichst häufig zu feiern“ reicht die erstaunliche Bandbreite der Äußerungen, wobei auch ähnliche Haltungen durchaus unterschiedlich motiviert sein können. Dazu kommt, dass hinter der Vorliebe für eine bestimmte Praxis bzw. Form der Abendmahlsfeier oft unterschiedliche sakramentaltheologische Überzeugungen stehen, die in den Gemeinden selten ausgesprochen oder gar diskutiert werden. Dagegen dürfte der äußere Rahmen, also die liturgische Gestaltung und die gottesdienstliche Atmosphäre, oft ausschlaggebend für das persönliche und gemeinschaftliche Erleben sein. Wo das Abendmahl innerhalb von Gemeinden zu anhaltenden Diskussionen oder gar schmerzhaften Auseinandersetzungen führt, da haben diese sich zumeist weniger an der theologischen Beurteilung, als vielmehr am konkreten Erleben der Abendmahlsfeier entzündet. Konflikte können Indikatoren sich verändernder, oder auch lediglich sich ausdifferenzierender Einstellungen und Erwartungshaltungen sein. Und in der Tat lassen sich bei einer Betrachtungsweise, die über den eigenen Erfahrungshorizont hinausgeht, bestimmte Entwicklungstendenzen ausmachen, 1 die hier lediglich im Hinblick auf Deutschland benannt werden sollen. Zu erkennen ist erstens, dass eine – wenn auch langsam – wachsende Anzahl von EmK-Gemeinden das Abendmahl häufiger als viermal pro Jahr feiert. Auch wo das Abendmahl nicht z. B. einmal monatlich gefeiert wird, werden zumindest die kirchlichen Hochfeste im Jahreskreis mit einem Abendmahlsgottesdienst begangen. Auch auf Freizeiten, Mitarbeiterversammlungen (Distriktstreffen etc.) scheint sich das Abendmahl wieder stärker als Bestand1

Zur liturgischen Entwicklung im weltweiten Methodismus vgl. David Tripp, Die Situation des Gottesdienstes in den methodistischen Kirchen. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 32 (1989), S. 183–197, bes. 193f.

Wir feiern Abendmahl

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teil des (geistlichen) Programms etabliert zu haben. Gerade die steigende Zahl von Abendmahlsfeiern lässt nun zweitens auch erkennen, dass die „Neuentdeckung“ des Abendmahls innerhalb der EmK nicht notwendigerweise mit einer Vorliebe für traditionell-liturgische Formen verbunden ist. So scheint es, dass die Ordnung für einen „Gottesdienst mit Abendmahl in wesleyanischer Form“, wie sie sich seit 1994 in Feiern und Bekennen sowie im 2002 eingeführten Gesangbuch findet,2 in den Gemeinden nicht hat Fuß fassen können. Bevorzugt werden die in der Tendenz kürzeren, sozusagen „ökonomischen“ Ordnungen, was darin begründet sein mag, dass einige der Gemeinden, die zu einer häufigeren Feier des Abendmahls übergehen, den „klassischen“ Gottesdienst noch um weitere Elemente erweitern, wie z. B. die „Zeit der Gemeinschaft“ oder eine Anbetungszeit. Möchte man Rücksicht auf die durchschnittlichen Zeiterwartungen der Gottesdienstbesucher nehmen, verbietet sich eine der Natur der Sache nach umfangreichere traditionelle Abendmahlsordnung meist schon aus praktischen Erwägungen. Eine Ausnahme im Hinblick auf die Rezeption traditioneller wesleyanischer Gottesdienstformen dürfte der Bundeserneuerungsgottesdienst am Beginn eines neuen Jahres sein, der, verbunden mit dem Abendmahl, nach meinem 3 Eindruck in einer wachsenden Zahl von Gemeinden gefeiert wird. Erkennbar ist drittens das Bemühen, das in den EmK-Gemeinden gefeierte Abendmahl als „offenes“ Abendmahl zu profilieren. Gemeint ist damit nicht allein die Einladung an die Kinder, am Abendmahl teilzunehmen, sondern die grundsätzlich offene Einladung an alle Besucher des Gottesdienstes, zum Tisch des Herrn zu kommen, ohne Rücksicht auf Kirchenzugehörigkeit, Glaube und Taufe. Insgesamt lässt sich also ein wachsendes Interesse an der Feier des Abendmahls erkennen, wobei dieses Interesse oft zunächst von einzelnen, entweder von Pastorinnen bzw. Pastoren oder von Laien, artikuliert wird. Nicht immer bringen Veränderungen bei der Abendmahlspraxis den Willen der Mehrheit in einer Gemeinde zum Ausdruck; manchmal sind sie eher das Resultat einer aktuell bestehenden Konstellation im Gemeindevorstand, in der Gottesdienstarbeitsgruppe etc. Und irgendwie sträubt sich unser geistliches Empfinden auch dagegen, die Sakramentspraxis quasi zur Abstimmung freizugeben. Diese Einsicht verweist jedoch um so dringlicher auf die Notwendigkeit der mit geistlicher Besinnung verbundenen theologischen Ar-

2 3

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Vgl. EmK (Hrsg.), Feiern und Bekennen. Ordnungen, Gebete und Bekenntnisse für den Gottesdienst in der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart 1994, Nr. 907. Zudem lassen sich bei Abendmahlsfeiern, die nicht im Sonntagsgottesdienst stattfinden, liturgische Einflüsse z. B. aus der Taizé-Bewegung beobachten.

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

beit. Erst von ihr her erschließt sich die Fülle wie auch die innere Balance der verschiedenen Dimensionen des Abendmahls. Im Folgenden soll – ausgehend von Überlegungen John Wesleys – das Abendmahl in seinem Charakter als Gnadenmittel entfaltet werde. Dabei ist erstens zu fragen, was genau mit dem Begriff „Gnade“ im Kontext der Soteriologie Wesleys gemeint ist. Zweitens soll geklärt werden, welche Funktion den Gnadenmitteln für ein Leben in der Christus-Nachfolge zukommt. Diese Überlegungen sollen drittens im Hinblick auf das Abendmahl konkretisiert werden, woran sich, viertens, Anfragen an und Anregungen für unser Verständnis sowie unsere Praxis des Abendmahls anschließen.

2 Die verändernde Kraft der Gnade Wenn wir das Abendmahl als ein Gnadenmittel verstehen wollen, dann ist es notwendig, sich zunächst den Begriff der Gnade bei Wesley zu vergegenwärtigen. Für Wesleys Soteriologie, also seine Lehre vom Heilsweg, ist der Begriff Gnade von grundlegender Bedeutung. Nach Wesley kann von Gott nicht anders gesprochen werden, als dass von seiner gnädigen Zuwendung zur Welt gesprochen wird. Gnade bezeichnet die von seinem Liebeswillen bestimmte machtvolle Gegenwart Gottes in dieser Welt, „the active power presence of God“.4 In einem umfassenden Sinne steht der Begriff der Gnade damit für ein Beziehungsgeschehen, nämlich für die Beziehung, die Gott auch zu der gegen ihn rebellierenden Welt unterhält. Diese Beziehung erweist sich als Gnade zunächst darin, dass sie allen Bemühungen des Menschen um Gottes Zuwendung und Gunst vorangeht. Wesley spricht von der „zuvorkommenden“ Gnade („prevenient grace“), die den Menschen dazu befähigt, auf den Anruf Gottes zu antworten und mehr Gnade zu empfangen. Wesley ist überzeugt, dass kein Mensch ohne ein gewisses Maß an Gnade ist, dass also eine von Gott her begründete Beziehung des Menschen 5 zu ihm immer schon besteht. Obwohl für Wesley das Bezogensein auf Gott immer schon zum Menschsein dazugehört, handelt es sich dabei nicht um eine „natürliche“ Eigenschaft, sondern um eine Wirkung des die gesamte 4

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Richard P. Heitzenrater, God with us. Grace and the Spiritual Senses in John Wesley’s Theology. In: Johnston, Robert K./Jones, L. Gregory/Wilson, Jonathan R. (Hrsg.), Grace Upon Grace. Essays in Honor of Thomas A. Langford, Nashville 1999, S. 92. „For allowing that all the souls of men are dead in sin by nature, this excuses none, seeing there is no man that is in a state of mere nature; there is no man, unless he has quenched the Spirit, that is wholly void of the grace of God“, John Wesley, On Working Out Our Own Salvation (Sermon 85), § III.4. In: Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 3: Sermons III, Nashville 1986, S. 207.

Die verändernde Kraft der Gnade

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Geschichte umgreifenden Versöhnungswerk Christi. Anders als die Reformatoren spricht Wesley nicht von einer Rest-Imago, die den Sündenfall überdauert habe, sondern begründet Gottes zuvorkommendes Gnadenwirken christologisch. Zunächst bezeichnet der Gedanke der zuvorkommenden Gnade die Unentschuldbarkeit des Menschen angesichts der Möglichkeit, auf Gottes Wirken aufmerksam zu werden und sich ihm zu öffnen. Kein Mensch bleibt von Gott getrennt, weil er keine Gnade empfangen hat, sondern weil er die Gnade, die er hat, nicht gebraucht.6 Der Begriff der Gnade beschreibt sozusagen die „Gleichzeitigkeit“ Gottes mit meinem Leben. Gottes Gnade ist frei für alle und frei in allen. Damit besitzt der Begriff der Gnade erstens eine universale Dimension. Die Gnade hat Wesley zufolge zweitens eine dynamische Dimension. Wenn ein Mensch sich der Gnade Gottes bewusst öffnet, dann wird dadurch ein kraftvoller dynamischer Prozess in Gang gesetzt, in welchem die Gnade mehr und mehr Gestalt in seinem Leben gewinnt. In einem weiteren Sinne steht die vorlaufende Gnade daher für die ersten Regungen göttlichen Lebens in der Seele des Menschen, also für das erwachende Bewusstsein, sich von Gott entfernt zu haben, und für den zunächst noch zaghaften Wunsch, sich Gott zuzuwenden. Wesley kann in diesen Regungen des Bewusstseins das menschliche Gewissen am Werk sehen, doch legt er Wert auf die Feststellung, dass das Gewissen nicht im eigentlichen Sinne ein natürliches Vermögen ist, sondern eine die natürliche Ausstattung des Men7 schen überragende übernatürliche Gabe Gottes. Wo ein Mensch sich für den Anruf Gottes öffnet, tut er dies nicht aus eigenem Vermögen, sondern infolge des Wirkens der göttlichen Gnade. Die ihrem Wesen nach dynamische Gegenwart Gottes drängt danach, alle Bereiche des Lebens zu durchdringen und zu bestimmen. Sofern sich der Mensch diesem „Ziehen“ der Gnade nicht widersetzt, vollzieht sich – verstanden als Wirkung der überführenden Gnade – eine Lebenswende, die Wesley als Buße bezeichnet. Diese Umkehr zu Gott schließt das Bewusstsein meiner Gottesferne und das Vertrauen auf Christus als den von Gott gesandten Erlöser ein. Von aller Selbsttäuschung und Selbstgerechtigkeit befreit, erfährt sich der Mensch als von Gottes Gnade gerechtfertigt und geheiligt. Es kommt zu einem radikalen Neubeginn des Lebens. Nach Wesleys Definition werden wir durch die Rechtfertigung von der Schuld der Sünde, durch die (in der Wiedergeburt beginnende) Heiligung von der Macht und schließlich der Wurzel der Sünde 6 7

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Vgl. ebd. [wie Anm. 5]. Vgl. John Wesley, On Conscience (Sermon 105), § I.9. In: Outler, WJW, Vol. 3 [wie Anm. 5], S. 482.

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

befreit. Die Rechtfertigung erneuert uns in die Gunst, die Heiligung in das Ebenbild Gottes.8 Die übernatürliche Dynamik der Gnade Gottes entspricht, wie Wesley wiederholt illustriert, der natürlichen Wachstumsdynamik im organischen Bereich. So kann er von der Gnade als einem Senfkorn sprechen, das aus unscheinbaren Anfängen zu einem großen Baum wird. Theologisch ausgedrückt führt das Wachsen in der Gnade zur Wiederherstellung des göttlichen Ebenbildes im Menschen. Das „normale“ Christenleben ist ein Leben, das in Gesinnung und Wandel dem Vorbild des Gottessohnes Jesus Christus entspricht.9 Die dynamische Wirksamkeit der Gnade übergeht den Menschen nicht, sondern nimmt ihn in dieses Erneuerungsgeschehen mit hinein. Aus Gnade teilt sich Gott dem Menschen in seinem liebenden Wesen mit. In seiner Liebe aber sehnt sich Gott nach der Antwort des Glaubens. Gottes Gnade ist daher, drittens, verantwortete Gnade. Das Wirken der Gnade macht menschliches Tun nicht überflüssig – im Gegenteil: sie sucht die Antwort des Menschen, weil sie den Menschen zu dieser Antwort, dem Vertrauen auf Christus, befähigt. Ein vom Geschenk der Gnade bestimmtes Leben ist folglich ein von der Verantwortung gegenüber Gott und dem Mitmenschen geprägtes Leben. Wesley begründet die Fähigkeit des Menschen, in eine den Ruf Gottes aufnehmende Beziehung zu treten, konsequent vom Begriff der (zuvorkommenden) Gnade her, sodass der Vorwurf, eine pelagianische Sicht von der Erlösung zu vertreten, bei ihm ins Leere läuft. Seine eigene Position entfaltet Wesley unter Hinweis auf Philipper 2,12–13. Danach ist die Errettung und Erneuerung eines Menschen schon deshalb nicht dessen eigenes Verdienst, weil Gott sowohl das Wollen als auch das Vollbringen im Menschen wirkt – und zwar zu seinem, Gottes, Wohlgefallen. Wo der Mensch in das Wirken der Gnade einstimmt, da wird Gott, nicht der Mensch ver10 herrlicht. Wesley formuliert zwei Leitsätze, mit denen er seine grundsätzliche Überzeugung markiert. Danach gilt erstens: „God worketh in you; therefore you can work“.11 Wesley erinnert in diesem Zusammenhang an die Auferweckung des Lazarus. Für den verstorbenen Lazarus gab es keine natürliche Möglichkeit mehr, dem Anruf Jesu „Komm heraus“ zu folgen. Seine Auferweckung war vielmehr Wirkung des von göttlicher Kraft erfüllten Wortes Jesu, das Macht auch über den Tod hat. In gleicher Weise gilt für 8 9

10 11

Vgl. Wesley, Salvation, § II.1 [wie Anm. 5], S. 204. Vgl. Marquardt, Manfred, Imago Christi als Leitbild der Heiligung. In: Härle, Wilfried u. a. (Hrsg.), Unsere Welt – Gottes Schöpfung. Festschrift E. Wölfel, Marburg 1992, S. 235–250. Vgl. Wesley, Salvation, § I.1 [wie Anm. 5], S. 202. Vgl. ebd., § III 3 [wie Anm. 5], S. 206 (meine Hervorhebung).

Die verändernde Kraft der Gnade

129

jeden Menschen, dass es für ihn unmöglich ist, selbst aus seinen Sünden „herauszukommen“, es sei denn, Jesus selbst ruft die für Gottes Gegenwart toten Seelen ins Leben hinein.12 Zweitens gilt nach Wesley: „God worketh in you; therefore you must work“.13 Den Einwirkungen der Gnade durch den Heiligen Geist sollen auf Seiten des Menschen die Auswirkungen der Gnade in Werken der Liebe entsprechen. Das neue im Glauben geführte Leben stirbt ab, wo ihm kein Raum zur Entfaltung gegeben wird. Dieses Entfalten eines von Christus bestimmten Lebens aber ist zuallererst ein „Lebenszeichen“ Gottes. Die Gnade bewirkt also gleichermaßen Befähigung wie Beauftragung zu einem Leben im Einklang mit Gott. Fassen wir zusammen: Nach Wesley bezeichnet die Gnade die aktive und machtvolle Gegenwart Gottes in dieser Welt. Gottes Gegenwart ist allumfassend, insofern sie keinen Menschen übergeht, sie ist ihrem Charakter nach zutiefst dynamisch, insofern sie den in Sünde und Schuld verstrickten Menschen durch Erweckung, Buße, Rechtfertigung und Heiligung in das Ebenbild des Sohnes Jesus Christus erneuert, sie ist verantwortete Gnade, insofern sie dieses Erneuerungsgeschehen nicht ohne die Mitwirkung des Menschen vollzieht, sondern ihn im Glauben an Christus zum Mitwirken befähigt und aufruft.

3 Die Gnadenmittel gebrauchen: Gott begegnen – für Gott leben Als Wesley 1739 um einige Ratschläge für Menschen gebeten wurde, die sich nach Erlösung sehnten, verfasste er einen Text, der wenige Jahre später unter der Bezeichnung „Die Eigenart, Gestalt und Allgemeinen Regeln des Gemeinschaftsbundes“,14 kurz „Allgemeine Regeln“ genannt, die Grundlage verbindlicher Nachfolge in den methodistischen Klassen werden sollte. Die Klassen waren keine Gemeinschaften wiedergeborener Christen, sondern eine Gemeinschaft solcher Personen, „die die Form der Frömmigkeit

12 13 14

130

Vgl. ebd., § III.3 [wie Anm. 5], S. 207. Ebd., § III.7 [wie Anm. 5], S. 208 (Hervorhebung im Original). So die auf der Grundlage der historisch-kritischen Wesley-Ausgabe erstellte deutsche Übersetzung Friedemann Burkhardts, vgl. Wie Wasser in der Wüste. Geistlich wachsen mit den Lebensregeln John Wesleys, Stuttgart 2001, S. 104. Für den englischen Text vgl. Davis, Rupert E. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 9: The Methodist Societies. History, Nature and Design, Nashville 1989, S. 69–73.

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

besitzen und der Kraft derselben teilhaftig zu werden suchen“.15 Diese Formulierung bezieht sich auf Menschen, die Gottes sie ihrer Sündhaftigkeit überführende Gnade erfahren haben und nach der Erfahrung der rechtfertigenden Gnade verlangen. Anders gesagt: Sie sind zur Einsicht in die Vergeblichkeit ihres bisherigen Lebensweges gelangt und wollen ihr Leben zukünftig an Gottes Willen ausrichten. Sie erleben das ganze Ausmaß ihrer inneren Kraftlosigkeit und können daher nicht länger auf ihr eigenes Können vertrauen. Von der Sehnsucht bestimmt, die Kraft Gottes in noch stärkerem Maße zu erfahren, vertrauen sie auf Christus, der durch den Heiligen Geistes die erneuerte Form ihres Lebens mit bleibender Kraft zu erfüllen und sie von Grund auf zu erneuern vermag. Wesleys Formulierung der „Allgemeinen Regeln“ lässt erkennen, dass die Inanspruchnahme der Gnadenmittel das Leben des Menschen von den ersten Regungen des Glaubens bis hin zum Ziel eines ganz von der Liebe durchdrungenen Lebens bestimmt. So nennt er in den „Allgemeinen Regeln“ drei Kennzeichen eines vom Verlangen nach der Rechtfertigung bestimmten Lebens: erstens Meiden des Bösen, zweitens Tun des Guten und drittens den Gebrauch aller von Gott verordneten Gnadenmittel. Als Beispiele für das Tun des Guten erwähnt er das Speisen der Hungrigen, Bekleiden der Nackten und Besuchen der Kranken und Gefangenen. Als Gnadenmittel nennt er den öffentlichen Gottesdienst, das Hören des Wortes Gottes, das Abendmahl, das Gebet, das Forschen in der Schrift, Fasten und Enthaltsamkeit. Ganz ähnlich führt Wesley in einer Predigt die Frage an: „Aber worin bestehen die guten Werke, die du als zur Heiligung nötig bezeichnest?“, um darauf zu antworten: Zunächst in allen Werken der Frömmigkeit: die öffentliche Gebetsandacht, das Gebet in der Familie und in unserer Kammer, der Empfang des Abendmahls, das Forschen in der Schrift durch Zuhören, Lesen und Meditieren, Zeiten des Fastens und der Enthaltsamkeit […]. Zweitens in allen Werken der Barmherzigkeit für Leib und Seele der Menschen: Hungrige speisen, Nackte kleiden, Fremde beherbergen, Gefangene, Kranke und andere Leidende besuchen […]. Dies ist die Umkehr, dies sind die ihr gemäßen Früchte, die für die ganze Heiligung nötig sind.16

Bei aller inhaltlichen Übereinstimmung, die sich im Einzelnen ergibt, zeigt sich ein deutlicher formaler Unterschied. Offenbar kann Wesley den Begriff 15

16

Burkhardts, Wasser [wie Anm. 14], S. 105. Vgl. David L. Watson, Aldersgate Street and the General Rules. The Form and Power of Methodist Discipleship. In: Maddox, Randy L. (Hrsg.), Aldersgate Reconsidered, Nashville 1990, S. 33–47. John Wesley, Der schriftgemäße Weg zum Heil (Predigt 43), § III.9–10. In: ders., Die 53 Lehrpredigten. Übersetzt und hrsg. von Manfred Marquardt (Methodistische Quellentexte 1), 2. Aufl. Göttingen 2016, S. 617.

Die Gnadenmittel gebrauchen

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der Gnadenmittel in einem engeren und in einem weiteren Sinn verwenden.17 Im engeren Sinn bezieht sich der Begriff Gnadenmittel auf Zeichen, Worte und Handlungen, die in direkter Weise die gelebte Beziehung des Menschen zu Gott, kurz: seine Frömmigkeit, prägen.18 In einem weiteren Sinne lassen sich die Gnadenmittel dann jedoch unterscheiden in „Übungen der Frömmigkeit“ und „Übungen der Barmherzigkeit“. Letztere prägen den Umgang eines Christen mit seinem Nächsten. Sie sind – mittelbar – Gottesdienst, insofern die von Gott empfangene Liebe im Tun des Guten gelebt und so als Lobopfer wieder vor Gott gebracht wird. Folgt man dieser zweiten, weiteren Definition der Gnadenmittel, dann ergibt sich folgendes Bild: Gnade meint nach Wesley die lebendige Gegenwart Gottes im Leben eines Menschen. Die Gnadenmittel ihrerseits sind die Lebensadern für die Mitteilung der Gegenwart Gottes und geben dem Leben aus Glauben seine unverwechselbare Gestalt dadurch, dass die in Jesus Christus offenbarte Liebe Gottes in Werken der Frömmigkeit und Barmherzigkeit erkennbar wird. Was heißt dies nun genauer? Seiner bekannten Definition nach versteht Wesley unter Gnadenmitteln „äußere Zeichen, die von Gott eingesetzt und als die üblichen Wege bestimmt sind, auf denen er den Menschen zuvorkommende, rechtfertigende 19 und heiligende Gnade zukommen lässt“. Als die „üblichen“ Wege, auf denen Gott dem Menschen begegnet, verweisen die Gnadenmittel sowohl auf die Freiheit und Souveränität als auch auf die Verlässlichkeit und Treue Gottes. Ausdruck der Souveränität Gottes sind sie, weil er sie selbst als „Gefäße der Gegenwart Gottes“ eingesetzt hat.20 Ausdruck seiner Treue sind sie, weil Gott zusagt, dem Menschen auf diesen Wegen tatsächlich zu begegnen. Dass sich die Gnadenmittel als „Kanäle der Gnade“ erweisen, liegt daher weder in ihrem rechten Vollzug noch in einer wie auch immer gearteten Würdigkeit des Empfängers begründet, sondern in der Treue Gottes. 17

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Zu weiteren möglichen Kategorisierungen vgl. Knight, Henry H. III., The Presence of God in the Christian Life. John Wesley and the Means of Grace, Lanham/London 1992, S. 5. Wie Ole Borgen ermittelt hat, werden an mindestens 68 Stellen in Wesleys Gesamtwerk zwei oder mehr Gnadenmittel genannt. Dabei ergibt sich nach der Häufigkeit der Nennungen diese Reihenfolge: Gebet, Abendmahl, Lesen oder Hören des Wortes Gottes, Fasten, christliches Konferieren (verstanden als ein an geistlicher Ermutigung, Korrektur und Rechenschaftslegung orientiertes Gespräch); vgl. John Wesley on the the Sacraments, Nashville/New York 1972, S. 106. John Wesley, Die Gnadenmittel (Predigt 16), § II.1. In: ders., Lehrpredigten [wie Anm. 16], S. 225. Klaiber, Walter, Dienen und sich dienen lassen – vom Gebrauch der Gnadenmittel, Stuttgart 1986, S. 5.

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

Wesleys Definition besagt, dass im Gebrauch der Gnadenmittel „vorlaufende, rechtfertigende und heiligende Gnade“ mitgeteilt wird. Der historische Kontext der Predigt lässt erkennen, dass Wesley sich mit dieser Formulierung gegen die Auffassung einiger Herrnhuter wendet, derzufolge der Gebrauch der Gnadenmittel an das Vorhandensein des rechtfertigenden Glaubens gebunden ist. Die Herrnhuter vertraten die Überzeugung, dass, wer sich nach der Rechtfertigung durch den Glauben sehnt, in der Stille auf Gottes Eingreifen warten und sich von den Gnadenmitteln, deren „ungläubiger“ Gebrauch Werkgerechtigkeit und folglich Sünde sei, fernhalten solle. Dieser Position gegenüber machte Wesley geltend, dass die Gnadenmittel nicht erst die heiligende, sondern bereits die zuvorkommende und rechtfertigende Gnade mitteilen, dass sie nicht allein den rettenden Glauben selbst, sondern bereits das Verlangen nach ihm zu stärken vermögen. Um Wesleys Standpunkt nachvollziehen zu können, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf seine Erkenntnistheorie zu werfen. Wesley knüpfte in erkenntnistheoretischer Hinsicht an die empiristische Tradition an, derzufolge Erkenntnis nicht angeborenen Ideen entstammt, sondern durch Eindrücke auf die Sinne des Menschen entsteht. Er wendete diese Überzeugung auf den religiösen Bereich an und gelangte so zu der Auffassung, dass geistliche Wirklichkeiten durch geistliche Sinnesorgane 21 (spiritual senses) wahrgenommen werden. In Analogie zu den natürlichen Sinnesorganen spricht Wesley von den „Augen unseres Verständnisses“ bzw. von den „Augen der Seele“. Sie sind das Wahrnehmungsorgan für die geistliche Welt, mithin für die göttliche Gnade. Für Wesley steht fest, dass die geistlichen Sinne des Menschen erst durch das Wirken des Heiligen Geistes in der (mit der Rechtfertigung verbundenen) Wiedergeburt geöffnet werden. Die Wahrnehmung des nicht Wiedergeborenen einerseits und des Wiedergeborenen andererseits kontrastiert Wesley, indem er das Empfindungsvermögen des ungeborenen mit dem des geborenen Kindes vergleicht: Das ungeborene Kind lebt zwar wie alles Lebendige von der Luft; aber es empfindet weder diese, noch sonst irgendetwas, es sei denn auf sehr dumpfe und unvollkommene Weise. Es hört wenig, wenn überhaupt, da die Organe des Gehörs noch verschlossen sind. Es sieht nichts, denn seine Augen sind fest verschlossen, und es ist von Finsternis umgeben. […] Sobald aber das Kind in die Welt hineingeboren ist, ändert sich seine Existenzweise völlig. Jetzt empfindet es die Luft, die es umgibt […]. Seine Augen sind jetzt geöffnet und

21

Zu den „spiritual senses“ vgl. Runyon, Theodore, Die neue Schöpfung. John Wesleys Theologie heute, aus dem Amerikanischen von Manfred Marquardt, Göttingen 2005, S. 85–94.74–81; Heitzenrater, God [wie Anm. 4], S. 99ff.

Die Gnadenmittel gebrauchen

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nehmen das Licht wahr […]. Seine Ohren sind erschlossen, und Laute von unbegrenzter Mannigfaltigkeit stürmen hinein.22

Für den Menschen, der nicht wiedergeboren ist, gilt in entsprechender Weise, dass er zwar von Gott umgeben ist, ihn aber nicht wahrnimmt. Er spürt weder den göttlichen Lebensatem noch hat er Verständnis für göttliche Dinge. Doch sobald der Heilige Geist ihm die geistlichen Sinne öffnet, empfindet er die „eindeutige Verbindung mit der unsichtbaren Welt“. Er erkennt die vergebende Liebe Gottes und vernimmt die Stimme des guten Hirten. Diese innere Wahrnehmung bezieht Wesley auf die Gnadenmittel, wenn er davon spricht, dass die Wiedergeborenen im Gebrauch der Gnadenmittel einen so unmittelbaren Zugang zu ihm [silc.: Gott] finden, wie er sich nicht in Worte fassen lässt. Sie sehen ihn gleichsam von Angesicht zu Angesicht und ‚reden mit ihm, wie ein Mann mit seinem Freunde redet‘.23

Wenn Wesley an anderer Stelle den Glauben als das „Auge der Seele“ bezeichnet,24 dann ist deutlich, dass mit der Rede vom geistlichen Sinn der Glaube gemeint ist, durch den der Mensch die göttliche Gnade empfängt. Der Glaube stellt sich für Wesley in einem allgemeinen Sinne dar als ein […] göttliche[r] ‚Beweis‘ und eine göttliche ‚Gewißheit‘ […] ‚dessen, was man nicht sieht‘ […]. Es schließt sowohl eine übernatürliche Evidenz Gottes und der göttlichen Dinge ein, als auch eine Art geistlichen Lichts, das in der Seele aufleuchtet, als auch eine übernatürliche Sicht oder Wahrnehmung ihrer.25

In konkreterem Sinne bezieht sich der Glaube auf die innere Gewissheit der mir durch Christus zuteil gewordenen Erlösung. Die Wahrnehmung der göttlichen Gnade in den Gnadenmitteln setzt folglich den Glauben, oder, anders gesagt, die in der Wiedergeburt gewirkte Öffnung der geistlichen Sinne voraus. Wie aber kann Wesley dann davon sprechen, dass die Gnadenmittel nicht erst den durch Gottes Geist geschenkten lebendigen Glauben, sondern bereits das Verlangen nach diesem Glauben stärken? Wesley löst die darin liegende Spannung nicht in erkenntnistheoretischer, wohl aber in soteriologischer Hinsicht auf. Für ihn ist ei-

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John Wesley, Das große Vorrecht der Wiedergeborenen (Predigt 19), § I.3-5. In: ders., Lehrpredigten [wie Anm. 16], S. 26–53, hier 48f. (Hervorhebungen im Original). John Wesley, Über die Bergpredigt unseres Herrn III (Predigt 23), § I.8. In: ders., Lehrpredigten [wie Anm. 16], S. 327. Vgl. Cragg, Gerald R. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 11: The Appeals to Men of Reason and Religion and Certain Related Open Letters, Nashville 1975, S. 46. Wesley, Weg, § II.1 [wie Anm. 16], S. 613.829.

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

nerseits die Wiedergeburt der große Wendepunkt im Leben eines Menschen, an dem er zu geistlicher Einsicht und umfassender Erneuerung seines Lebens gelangt.26 Die Wahrnehmung der Gegenwart Gottes wird erst dadurch möglich, dass Gott die im Menschen verschlossen liegenden geistlichen Sinne öffnet. Doch verwendet Wesley andererseits den Begriff des Glaubens in einem engen und einem weiteren Sinne. Während also für ihn die geistlichen Sinne entweder geöffnet sind oder nicht, kann er zugleich von „degrees“ (Graden) und „species“ (Arten) des Glaubens sprechen und stellt damit eine Verbindung zwischen dem geistlichen Stand der erst Erweckten und der Gerechtfertigten her. Dennoch verschwimmt der Glaubensbegriff nicht ins Unbestimmte: Während der Gerechtfertigte auf Christus blickt und ihm vertraut, blickt der Glaube des noch nicht Gerechtfertigten auf die eigene Sündhaftigkeit und sehnt sich nach Erlösung von ihr. Anders gesagt: Der Heilige Geist bereitet den Menschen auf das Eingehen in das Reich Gottes dadurch vor, dass er den geistlichen Grauschleier zu durchdringen beginnt, indem er den Menschen zunächst mit der Realität seiner finsteren Neigungen sowie bösen Worte und Taten konfrontiert. Wesley sagt weiter: Souls that are thus convinced feel they are so fast in prison that they cannot get forth. They feel themselves at once altogether sinful, altogether guilty, and altogether helpless. But all this conviction implies a species of faith, being ‚an evidence of things not seen‘ – nor indeed to be seen or known, till God 27 reveals them unto us.

Die der Einsicht in unsere Verderbtheit zugrundeliegende Wahrnehmung ist für Wesley bereits ein beginnender Glaube, der freilich erst in der Erfahrung lebendiger Glaubensgewissheit zum Ziel kommt. Wesley bezeichnet diesen vorläufigen Glauben als „Glaube eines Knechts“, der mit der Erweckung und Buße einhergeht. Aus dieser weiten Fassung des Glaubensbegriffs ergibt sich für Wesley – im Gegensatz zu den Herrnhutern – die Konsequenz, dass jeder, der seine eigene Hilflosigkeit erkannt hat und nach der in Christus angebotenen Erlösung verlangt, eingeladen ist, die Gnadenmittel in Anspruch zu nehmen. Denn auch der anfängliche, noch schwache Glaube ist Glaube genug, um Gottes Gnade zu empfangen. Aus diesem Grund konzipiert Wesley die methodistischen Klassen nicht als Gemeinschaft der Wiedergeborenen, sondern als Gemeinschaft aller, die sich vom Bösen abkehren 26 27

Nach dem heutigen Stand der Pränatalforschung würde sich das Bild des heranwachsenden Embryos freilich für eine Überwindung dieser Kluft anbieten. John Wesley, On the Discoveries of Faith (Predigt 117), § 12. In: Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 4: Sermons IV, Nashville 1987, S. 35.

Die Gnadenmittel gebrauchen

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und die nach Erlösung verlangen.28 Legt man Wesleys „erweitertes“ Glaubensverständnis zu Grunde, dann wird deutlich, dass die frühe methodistische Gemeinschaft weiterhin „Gemeinschaft der Glaubenden“ war. Deutlich wird dann auch, dass mit der Öffnung der Gemeinschaften für Menschen, die nach dem Heil verlangen, die Grenzen der methodistischen Gemeinschaft – und sukzessive der methodistischen Kirchen – nicht ins Konturlose zerfließen. Denn tatsächlich zog Wesley die Grenze deutlich schärfer als das heute bewusst ist. Ein Blick auf die „Allgemeinen Regeln“ genügt, um dies zu erkennen. Danach setzt die Aufnahme in die methodistische Gemeinschaft nicht die Zustimmung zu bestimmten Grundtexten voraus – einer Bedingung, der lediglich die in Verbindung mit Wesley stehenden Prediger unterlagen. Die einzige Bedingung für die Aufnahme in die methodistischen Gemeinschaften war vielmehr „ein Verlangen, dem zukünftigen Zorn zu entflie29 hen (Mt 3,7) und von Sünden gerettet zu werden (Mt 1,21)“. Dieses Verlangen, theologisch ein Ausdruck der Erweckung bzw. Umkehr zu Gott, kann Wesley zufolge jedoch nicht verborgen bleiben. Weil die Umkehr des Menschen zu Gott nicht eigene Leistung, sondern Wirkung der „überführenden Gnade“ ist, ist der Mensch in die Verantwortung dieser ihm zugewendeten Gnade gestellt. Folglich kann Wesley formulieren: „Aber wo immer dieses [Verlangen] wirklich im Herzen wohnt, wird es durch seine Früchte sichtbar werden“.30 Wenn Gottes Gnade verantwortete Gnade ist, dann kann die von Gottes Geist geweckte Sehnsucht nach Erlösung nicht ohne eine dieser Sehnsucht entsprechende Lebensführung bleiben. Die methodistischen Klassen dienten der Einübung einer solchen Lebensführung, indem sie zur gegenseitigen Verantwortung für die empfangene Gnade anleiteten und ermutigten.31 Die sich unter dem Eindruck der Gnade Gottes erneuernde Lebensführung manifestiert sich im Gebrauch der Gnadenmittel. Weil Gottes Wesen Liebe ist, bewirkt Gottes Gnade im Menschen eine Erneuerung des ganzen Daseins. Wesley spricht in diesem Zusammenhang von „Affekten“ bzw. „Neigungen“ („tempers“), die nur in der lebendigen Beziehung zu Gott bestehen können und der beständigen Erneuerung durch die Gnade bedür-

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Vgl. Richard Steele, „Inwardly Persuaded“: Religion of the Heart in Early British Methodism. In: ders. (Hrsg.), „Heart Religion“ in the Methodist Tradition and Related Movements (Pietist and Wesleyan studies 12), Lanham/London 2001, S. 33–66, bes. 42ff. Burkhardt, Wasser [wie Anm. 14], S. 106. Ebd. [wie Anm. 14]. Vgl. Watson, David L., The Early Methodist Class Meeting. Its Origins and Significance, rev. edition Nashville 1992.

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

fen.32 Die Gnadenmittel bereiten gewissermaßen den geistlichen Nährboden für das gesunde Wachstum eines Christen (bzw. „Beinahe-Christen“). Auffallend ist für Wesley die Entsprechung von geistlicher Stärkung und natürlichem Essen. So wie das gesunde Wachstum des Körpers eine vielfältige Ernährung voraussetzt, so braucht das geistliche Leben den Gebrauch einer Vielzahl an Gnadenmitteln. Nur so erschließt sich der in den Gnadenmitteln gegenwärtige Gott in seiner ganzen Identität.33 Für Wesley ist also gerade das Zusammenwirken der Gnadenmittel von grundlegender Bedeutung für die Ausbildung eines gesunden geistlichen Lebens. Aus diesem Grunde betont er, dass z. B. dem Forschen in der Schrift das Gebet sowohl vorhergehen als auch nachfolgen sollte, dass freies und liturgisches Gebet einander ergänzen sollten, dass Wortverkündigung und Abendmahl einander zugeordnet sind. Vor allem aber hält Wesley die Balance von „Übungen der Frömmigkeit“ und „Übungen der Barmherzigkeit“ für im geistlichen Sinne lebenswichtig. In seiner Predigt über den Eifer rückt 34 Wesley letztere sogar näher als erstere an die Gottesliebe heran. Denn durch die Werke der Barmherzigkeit wird auch für den notleidenden Nächsten Gottes Zuwendung erfahrbar. Um eine kategorische Einstufung der guten Werke geht es Wesley jedoch nicht, betont er doch, dass den Werken der Barmherzigkeit der Vorzug vor denen der Frömmigkeit einzuräumen ist, wenn beide in Konflikt miteinander geraten.35 Das aber dürfte bei Weitem nicht der Regelfall sein. Ob Wesley ausdrücklich von den „Übungen der Barmherzigkeit“ spricht oder mehr allgemein vom Halten der Gebote Gottes und der Selbstverleugnung, immer geht es um den relationalen Charakter der durch Gottes Gnade Gestalt gewinnenden Affekte. Die Liebe lebt in den Beziehungen, von denen sie wiederum getragen wird – in der Beziehung zu Gott wie auch in der Beziehung zum Nächsten. Während es den ersten Methodisten unmittelbar einleuchtete, dass sich die „Übungen der Frömmigkeit“ wie Bibelstudium und Gebet, als Gnadenmittel erweisen, war es schon für sie damals deutlich schwieriger, diesen Gedanken auch auf die „Übungen der Barmherzigkeit“ anzuwenden. Wesley selbst hatte hier freilich keine Zweifel: Wo ich meinen Nächsten die 32

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In Anlehnung an Gal 6,22 nennt Wesley als christliche Affekte Geduld, Freundlichkeit, Barmherzigkeit, Güte, Treue und Keuschheit. Vgl. Kenneth J. Collins, John Wesley’s Topography of the Heart. Dispositions, Tempers, and Affections. In: Methodist History 36/3 (1998), S. 162–175. Vgl. Knight, Presence [wie Anm. 17], S. 11. Vgl. John Wesley, On Zeal (Sermon 92), § II.5. In: Outler, WJW, Vol. 3 [wie Anm. 5], S. 313. Ebd. [wie Anm. 34], S. 314.

Die Gnadenmittel gebrauchen

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Liebe Gottes an Leib und Seele spüren lasse, führt dies nicht nur ihn näher zu Gott, sondern erweist sich auch an mir in mehrfacher Weise als Segen. Zum Ersten kommt im Tun des Guten der Gott gebührende Dank zum Ausdruck. Zum Zweiten wächst im Tun das Guten die Beziehung zu einem Menschen, der mir zuvor fremd war. Zum Dritten stärken die „Übungen der Barmherzigkeit“ den christlichen Charakter, also Eigenschaften wie Bescheidenheit, Geduld, Sanftmut und Mitleid mit den Bedrängten.36 Indem Wesley die Gnadenmittel in das Bild christlicher Nachfolge einzeichnet, gelingt es ihm, den Charakter der Gnade als „verantworteter“ Gnade hervorzuheben. Wer durch den Glauben realen Anteil an der Liebe Gottes bekommt, dessen Leben steht unter der Signatur des Doppelgebotes der Liebe. Es bleibt, mit Blick auf den Gebrauch der Gnadenmittel, noch einmal auf die dynamische Dimension der Gnade zu verweisen. Im Gebrauch der Gnadenmittel wird der Mensch, sofern er sich dem „Ziehen“ des Geistes nicht widersetzt, in die innere Dynamik der Wirklichkeit des gnädigen Gottes hineingenommen. Wesleys Hinweis auf die Mitteilung vorlaufender, rechtfertigender und heiligender Gnade ist also keine katalogische Aufzäh37 lung, die gewissermaßen eine Menüauswahl ermöglicht. Wie im Reich der Natur so gibt es auch im Reich der Gnade nur Wachstum oder Absterben. Es geht Wesley darum, deutlich zu machen, dass Gott uns in der Begegnung mit ihm immer gerade das gibt, was wir in unserer Lebenssituation und zu dieser Zeit brauchen – es geht um Gottes „Gleichzeitigkeit“ mit meinem Leben. Ziel der Zuwendung Gottes ist jedoch nicht das Stillen vordergründig empfundener Bedürfnisse, sondern die Erfahrung, dass Jesus Christus 36

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„And while you minister to others, how many blessings may redound into your own bosom! Hereby your natural levity may be destroyed, your fondness for trifles cued, yor wrong tempers corrected, your evil habits weakened, until they are rooted out. And you will be prepared to adorn the doctrine of God your Saviour in every future scene of your life“, John Wesley, On Visiting the Sick (Sermon 98), § III.8 In: Outler, WJW, Vol. 3 [wie Anm. 5], S. 397. Der Gedanke der Mitteilung „zuvorkommender“ Gnade durch die Gnadenmittel ist nicht ohne Probleme, wenn die Gnadenmittel nicht aus sich selbst heraus wirksam sind, sondern Gottes Gnade mitteilen, nach der es den Menschen verlangen muss. Eine Möglichkeit, dieses Problem aufzulösen, besteht darin, den Terminus „zuvorkommende Gnade“ in striktem Sinn als das von Gott in jeden Menschen hineingelegte Vermögen zu verstehen, sich dem Anruf Gottes zu öffnen. Diese Interpretation erweist sich dadurch als unmöglich, dass etwas, das – menschlichem Tun zuvorkommend – bereits dem Menschen als Geschöpf Gottes eigen ist ist, ihm nicht erst durch den Gebrauch der Gnadenmittel zugeeignet werden kann. Daher empfiehlt es sich, „zuvorkommende Gnade“ hier ein einem weiten Sinne „as including all grace prior to, and preparatory for, the ‚proper Christian salvation‘“ zu verstehen. So Borgen, Sacraments [wie Anm. 18], S. 196.

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

mein – wie Wesley wörtlich sagt – „Prophet, Priester und König“ ist. Der Dynamik der Gnade entspricht auf Seiten des Menschen eine Regung, die Wesley mit dem Begriff „Verlangen“ („desire“) bezeichnet. Es liegt im Wesen des Verlangens, stets über das bislang Realisierte hinauszuweisen. Das irdische Ziel des Wirkens der Gnade ist für Wesley die Wiederherstellung des göttlichen Ebenbildes im Menschen. Wesley wusste jene Menschen, die sich nach der Erlösung sehnten, damit zu trösten, dass sie nicht länger unter dem Zorn Gottes stehen und in einem bestimmten Maße bereits von Gott akzeptiert sind. Und doch ermahnte er diese Menschen eindringlich dazu, sich mit allen Mitteln nach dem rechtfertigenden Glauben, dem „Glauben 38 eines Kindes Gottes“, auszustrecken. Der Endzweck der Gnade ist die Verwirklichung der vollkommenen Liebe Gottes im Menschen, ein Leben gemäß der Gesinnung und dem Wandel Jesu Christi. Fassen wir zusammen: In den Gnadenmitteln begegnet uns der lebendige Gott, dessen Gegenwart unser Leben von Grund auf erneuert und in Dienst nimmt. Weil Gott selbst die Liebe ist, erneuert uns die im Glauben empfangene göttliche Gnade zu einem Leben, das von der Wirklichkeit der Liebe zu Gott und dem Nächsten bestimmt ist. Die Gegenwart Gottes im Leben eines Christen zeigt sich in den christlichen Affekten (Gehorsam, Barmherzigkeit, Geduld etc.), die durch die „Übungen der Frömmigkeit“ und die „Übungen der Barmherzigkeit“ sowohl ausgebildet als auch gestärkt werden. In letzter Konsequenz zielt der Gebrauch der Gnadenmittel auf die Wiederherstellung des göttlichen Ebenbildes in einem vollkommen von der Liebe geprägten Leben. Das Verlangen danach wird im Empfang der Gnadenmittel genährt. Weil diese Sehnsucht eine das innere wie das äußere Leben bestimmende Grundhaltung ist, darum gehört ein Leben der Christus-Nachfolge, d. h. des Glaubensgehorsams, in den verbindlichen Kontext einer Gemeinschaft, die sich der Gnade Gottes verantwortlich weiß.

4 Das Abendmahl als Gnadenmittel – Christus mit allen Sinnen schmecken Wesleys Verständnis der Gnade sowie der Gnadenmittel ist hier so umfassend entwickelt worden, um erkennbar werden zu lassen, dass das Abendmahl seinem Wesen und seiner Funktion nach in den weiten Kontext der 38

„Exhort him to press on by all possible means, till he passes ‚from faith to faith‘; from the faith of a servant to the faith of a son, from the spirit of bondage unto fear, to the spirit of childlike love“, Wesley, Discoveries, § 14 [wie Anm. 27], S. 35.

Das Abendmahl als Gnadenmittel

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Gnadenmittel gehört, die gleichermaßen Zugänge zu den göttlichen Ressourcen geistlichen Lebens wie auch Ausdruck dieses Lebens sind. Im Folgenden ist zu fragen, wie Wesley sein Verständnis der Gnadenmittel konkret auf das Abendmahl anwendet. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei wiederum der Frage nach der Funktion des Abendmahls im Zusammenhang eines Lebens in Gemeinschaft mit Gott. Ausgehend von einer grundsätzlich trinitarischen Perspektive ergibt sich für Wesley, dass im Abendmahl Christus selbst gegenwärtig ist. Gnade bezeichnet auch hier die Gegenwart Gottes, der sich in der Feier des Abendmahls durch seinen Heiligen Geist bezeugt: To every faithful soul appear, and show thy real presence here.39

Mit der Verwendung des Begriffs „real presence“ geht es Wesley nicht um ein Ausfechten kontroverser Abendmahlsdeutungen. Für ihn wie für die Mehrheit der anglikanischen Theologen seiner Zeit sind Zeichen und bezeichnete Sache zwar zu unterscheiden, dürfen jedoch nicht getrennt werden: Gottes Geist „be-lebt“ das Zeichen, sodass das Zeichen über sich selbst hinaus weist auf das Bezeichnete, nämlich Christus, den es als die Quelle der Gnade vergegenwärtigt.40 Die Elemente Brot und Wein sind nicht in sich selbst die Quelle, aus der das göttliche Leben quillt, doch werden sie Kraft des Heiligen Geistes für jeden zu Gnadenmitteln, der sie im Glauben empfängt. Der Mitteilung göttlicher Gnade entspricht auch hier das gläubige Empfangen auf Seiten des Menschen. Für Wesley, der hier auf eine Abhandlung Daniel Brevints zurückgreift, vollzieht sich im Abendmahl eine doppelte Bewegung der Hingabe: Here we are in a special manner invited to offer up to God our souls, our bodies, and whatever we can give; and God offers to us the Body and Blood of 41 His Son, and all the other blessings which we need to receive.

Weniger die Reihenfolge dieser Aussage ist für die Interpretation maßgeblich, als vielmehr die Tatsache, dass das Abendmahl eine wechselseitige Liebesbezeugung zwischen Gott und den Menschen darstellt. Dabei meint Bezeugung jedoch kein rein gedankliches Mitteilungsgeschehen, sondern eine sich in existentieller Tiefe vollziehende personale Begegnung. Wie ist

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Rattenbury, Ernest J., The Eucharistic Hymns of John and Charles Wesley, London 1948, S. 232. Vgl. Borgen, Sacraments [wie Anm. 18], S. 57. Rattenbury, Hymns [wie Anm. 39], S. 176 (Hervorhebungen im Original).

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

die sich im Abendmahl vollziehende doppelte Bewegung der Hingabe bzw. Liebe zu verstehen? Betrachtet man zunächst die Hingabe Gottes im Abendmahl, dann wird uns hier das Leben und Sterben Jesu Christi als dasjenige Geschehen erschlossen, an dem die Identität Gottes als Liebe einsichtig wird. Die Worte und Handlungen des Abendmahls führen in die Gegenwart des menschgewordenen Gottessohnes, der in einzigartiger Weise Gehorsam gegenüber dem Vater gelebt hat. Die durch Christus am Kreuz vollbrachte Erlösung öffnet jedem Menschen den Weg zum vollen Heil: What God to us in Him hath given, Pardon and holiness and heaven?42

Die aus der Erlösung sich ergebenden Segnungen bezeichnet Wesley mit „pardon and holiness and heaven“. Im Abendmahl geschieht also Vergebung der Sünden, Erneuerung zu einem Leben der Heiligung und Vergewisserung der Gabe des ewigen Lebens. Der Gedanke der Sündenvergebung wurzelt für Wesley im Leiden und Sterben des Gottessohnes. Wenn er dabei das Abendmahl immer wieder als Gedenken („memorial“) an Christi Tod bezeichnet, dann meint er damit doch nie, dass es im Abendmahl lediglich zur Erinnerung an ein räumlich und zeitlich fernes Geschehen kommt. Vielmehr wird, wer immer das Abendmahl im Glauben empfängt, so existentiell in das Kreuzesgeschehen hineingenommen, dass er – wie Ole Borgen bemerkt – Raum und Zeit transzendiert und sich sozusagen am Fuße 43 des Kreuzes auf Golgatha wiederfindet: Crucified before our eyes Faith discerns the dying God, Dying that our souls might live, Gasping at His death, Forgive!44

Für Wesley ist die Vergebung der Sünden, verstanden als Befreiung von der Schuld der Sünde, jedoch immer aufs Engste mit der Befreiung von der Macht der Sünde verbunden, sodass er hinsichtlich der Wirkungen des Herrnmahls von einer „double cure“ sprechen kann.45 In der Absicht Gottes, so Wesley, bereitet die Vergebung der Sünden den Weg für die mit der 42 43 44 45

Ebd. [wie Anm. 39], S. 236. Vgl. Borgen, Sacraments [wie Anm. 18], S. 91. Rattenbury, Hymns [wie Anm. 39], S. 200. “Let the water and the blood, From Thy riven side that flowed, Be of sin the double cure, Cleanse me from its guilt and power”, zit. nach ebd. [wie Anm. 39], S. 38.

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Wiedergeburt beginnende Erneuerung des Herzens, durch die der Glaubende Anteil an der göttlichen Natur erhält. Wo das Abendmahl im Glauben empfangen wird, da reinigt und erneuert der Heilige Geist das Herz: The sin-atoning blood apply, And let the water sanctify, Pardon and holiness impart, Sprinkle and purify our heart. Wash out the last remains of sin, And make our inmost nature clean.46

Im Abendmahl erfährt der Glaubende ein gegenwärtiges Heil. Die Verheißung eines neuen Herzens wird zur persönlichen Erfahrung. Doch obgleich damit die Herrlichkeit schon anbricht, steht die Vollendung der Gottesgemeinschaft noch aus. Daher weist die Feier des Abendmahls als ein eschatologisches Geschehen über Raum und Zeit hinaus auf die vollendete Gemeinschaft mit Gott im Himmel. Das hier und jetzt gefeierte Abendmahl ist somit nicht etwas der Sache, sondern lediglich dem Grade nach anderes als das himmlische Mahl. Our spirits drink a fresh supply, And eat the bread so freely given, Till borne on eagle’s wings we fly, 47 And banquet with our Lord in heaven.

Wesley hat in starkem Maße empfunden, dass im Abendmahl die Himmel und Erde umschließende Gemeinschaft der Heiligen sichtbar wird. Zum einen beginnt der Himmel bereits auf der Erde, wo Menschen ihr Leben ganz von der Liebe Gottes bestimmen lassen, zum anderen weckt die Erfahrung der Raum und Zeit überschreitenden Gemeinschaft mit den vollendeten Heiligen die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat. Im irdischen Lobpreis vollzieht sich nicht das immer neue Anstimmen eines Liedes zum Lobe Gottes, sondern das fortwährende Einstimmen in den Gesang der vollendeten Gemeinde. Im Abendmahl schenkt sich Gott also in einer solchen Weise, dass wir in Brot und Wein der durch Christi Sterben erwirkten Erlösung im Glauben teilhaftig werden. In der Kraft des Heiligen Geistes bewirkt Gottes liebende Hingabe Befreiung von Schuld, Erneuerung des Herzens und Belebung der Hoffnung auf die himmlische Vollendung des ewigen Lebens. Im Abendmahl wird Gemeinschaft mit Christus wie auch Gemeinschaft mit dem Leib 46 47

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Ebd. [wie Anm. 39], S. 205. Ebd. [wie Anm. 39], S. 204.

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Christi als der Gemeinschaft der Glaubenden erfahrbar. Der besondere Rang des Abendmahls unter den Gnadenmitteln ergibt sich dabei aus der Tatsache, dass es hier zu einer korrespondierenden Wahrnehmung der natürlichen und der geistlichen Sinne kommt: im Genuss der irdischen Gaben von Brot und Wein wird die Gegenwart des erhöhten Herrn Jesus Christus erfahrbar.48 Im Abendmahl vollzieht sich nun aber auch die Hingabe des Menschen an Gott. Henry Knight findet bei Wesley drei miteinander verbundene Momente dieser Hingabe an Gott.49 Wenn sich der Abendmahlsteilnehmer, wie oben gesagt wurde, innerlich am Fuße des Kreuzes wiederfindet, dann erlebt er zunächst ganz existentiell den Tod Jesu als durch seine eigene Sünde verursacht: „Our sins have slain the Prince of peace“. Aus dieser bestürzenden Erfahrung erwächst sodann die Bereitschaft, unsere Sünde, für die Christus in den Tod ging, selbst in den Tod zu geben. Dieses Geschehen zeigt sich schließlich in positiver Hinsicht als die im Glauben an Christus vollzogene Hingabe des eigenen Lebens im Dienst für Gott. Obwohl also die Hingabe des Lebens die Erlösung nicht erwirken kann, ist sie doch not50 wendig, um die Erlösung zu empfangen. In Wesleys Interpretation ergibt sich eine unauflösliche Verknüpfung der Abendmahlsfeier mit einem Leben in der Christus-Nachfolge. Zunächst ist die im Abendmahl erfahrbare Erneuerung immer zugleich Ermächtigung zu geistlichem Leben. Geistliches Leben aber spiegelt die Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Ausgestoßenen, Verachteten und Armen in Taten der Barmherzigkeit wieder. Gottes Zuwendung zum Menschen, wie sie im Sakrament erfahrbar ist, wird in der Zuwendung des Menschen zu seinem Nächsten (be)greifbar. Die in der Abendmahlsliturgie zur Sprache gebrachte Bereitschaft, die Gnade Gottes im Gehorsam des Glaubens zu bewähren, ihr als „gelebte“ Gnade eine hier und jetzt erkennbare Gestalt zu geben, steht zeichenhaft für die das Leben insgesamt bestimmende Bereitschaft zur – wie Wesley es formulierte – Selbstverleugnung und Kreuzesnachfolge. Beide Begriffe verweisen bei Wesley nicht auf Weltflucht oder Zerknirschung. Im Gegenteil, Wesley war davon überzeugt, dass allein Heiligung das höchste 48

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Vgl. Knight, Presence [wie Anm. 17], S. 131. Folglich kann Wesley – im Anschluss an Brevint – natürliche und geistliche Speisung in Analogie zueinander setzen: „And as bread and wine keep up our natural life, so doth our Lord Jesus, by a continual supply of strength and grace, represented by bread and wine, sustain our spiritual life which He hath procured by His Cross“, Rattenbury, Hymns [wie Anm. 39], S. 180 (Hervorhebungen im Original). Vgl. Knight, Presence [wie Anm. 17], S. 146f. Vgl. Rattenbury, Hymns [wie Anm. 39], S. 188.

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Glück („happiness“) des Menschen ist, dass der Glaubende dieses Glück nicht in der Trennung von, sondern gerade in der Zuwendung zur Welt findet. Was dies konkret heißt, zeigen wiederum die „Allgemeinen Regeln“, in denen Wesley – unmittelbar vor dem Hinweis auf die Gnadenmittel (der Frömmigkeit) – vom Tun des Guten redet, die er, wie wir sahen, als Übungen der Barmherzigkeit verstand. So erweisen sich die Hingabe an Gott im Sakrament und die Hingabe an den Nächsten in Taten der Liebe als die zwei Pole einer Ellipse, die den Horizont der universalen Gnade Gottes, d. h. seiner Hingabe an diese Welt, beschreibt. Wesleys war in seiner Lehre vom Menschen freilich realistisch genug um zu wissen, dass Enthusiasmus auf der einen und Gesetzlichkeit auf der anderen Seite die Gefahren sind, die diese Ellipse zu zerstören drohen. Ein Leben der Hingabe, der Liebe zu Gott und dem Nächsten, braucht deshalb den Kontext der Gemeinschaft, in der die Gnade verantwortet wird. Wesley betont die organische Verbindung von Abendmahl und Nachfolge bzw. Glaubensgehorsam zusätzlich dadurch, dass er von der Verpflichtung zur „constant communion“ spricht, wobei er sich gegen eine Verwechslung der Begriffe „constant“ (beständig) und „frequent“ (oft) wehrt. In der „beständigen“ Teilnahme am Abendmahl kommt für ihn sowohl der das gesamte Leben umgreifende Gehorsam gegenüber dem Gebot Christi als auch die Einsicht in die fortwährende Abhängigkeit der Glaubenden von Gottes Gnade zum Ausdruck. Dennoch möchte Wesley die Begriffe „beständig“ und „oft“ nicht als Gegensatzpaar auffassen. Denn Gehorsam gegenüber dem Gebot Christi heißt, so oft zu kommunizieren wie dies möglich ist. Was möglich sein sollte, hat Wesley der 1784 sich organisierenden amerikanischen Methodistenkirche explizit mit auf den Weg gegeben, als er schrieb: „The Eucharist should be celebrated, the table of the Lord spread, on every 51 Lord’s Day“. Maßgeblich für diese Vorgabe war ihm dabei in historischer

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White, James F. (Hrsg.), The Sunday Service of the Methodists in North America, Akron 1991, S. III. Wichtig scheint mir die sich hierin aussprechende liturgische und theologische Grundentscheidung. Nicht zu übersehen sind freilich die Schwierigkeiten, mit denen sich, historisch betrachtet, die amerikanischen Methodisten angesichts der Haltung Wesleys konfrontiert sahen. Über Jahre hinweg hatte Wesley darauf insistiert, dass die Methodisten in den amerikanischen Kolonien faktisch auf das Abendmahl verzichten, weil er die Verwaltung der Sakramente an die – nicht in ausreichender Zahl vorhandenen – ordinierten Geistlichen band. Ohne dass sich dieser Sachverhalt nach 1784 von heute auf morgen grundsätzlich änderte, gab er in dann in seinem Sunday Service den wöchentlichen Predigt- und Abendmahlsgottesdienst als Normalform vor. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Wesleys liturgische Formulare sich nie wirklich durchsetzen konnten.

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Hinsicht die Praxis der ersten Christen,52 in theologischer Hinsicht wiederum die Einsicht in den Charakter des Abendmahls als Gnadenmittel, which of his infinite mercy he hath given for this very end: that through this means we may be assisted to attain those blessings which he hath prepared for 53 us; that we may obtain holiness on earth and everlasting glory in heaven.

Wesleys Verständnis des Abendmahls ist noch in zwei Richtungen zu vertiefen. Zum einen wendete sich Wesley in seiner Auseinandersetzung mit den Herrnhutern gegen die Auffassung, das Abendmahl sei ausschließlich ein Gnadenmittel zum Wachstum in der Heiligung. Dagegen sah er das Abendmahl auch als „converting odinance“, in dem Menschen, die vom Verlangen nach Erlösung bestimmt sind, die rechtfertigende Gnade erfahren können.54 Obwohl Wesley diese Menschen gelegentlich als „unbelievers“ (Ungläubige) bezeichnet, geht er davon aus, dass bereits das Verlangen nach Erlösung Ausdruck von Glauben (freilich erst vom „Glauben eines Knechts“) ist, der sich nach Befreiung von der Sünde sehnt. Daher sagt er: „And if you believe Christ died for guilty, helpless sinners, than eat that bread and drink of that cup“.55 Im Sinne des oben entfalteten Verständnisses vom Glauben als geistlicher Sinn für die Wahrnehmung der Gnade Gottes bindet Wesley also auch die Teilnahme am Abendmahl an den Glauben, genauer: an ein Maß an Glauben, dessen sichtbares Zeichen eine erneuerte Lebenshaltung, die Früchte der Buße, sind. Folglich ist es missverständlich, wenn im Zusammenhang mit Wesleys Praxis vom „offenen Abendmahl“ gesprochen wird.56 Zweifellos war seine Praxis offener als die der mit ihm bekannten Herrnhuter. Doch der eigentlich charakteristische Zug seiner Überzeugung bestand darin, dass Wesley – in Übereinstimmung mit der liturgischen Tradition seiner Kirche – die Teilnahme am Abendmahl ekklesiologisch an die verbindliche Zugehörigkeit zu einer christlichen Gemeinschaft und soteriologisch an den Glauben band, wobei er, wie wir gesehen haben, in diesen Begriff den zur Umkehr entschlossenen Glauben des „Bei-

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John Wesley, The Duty of Constant Communion (Sermon 101), § II.4. In: Outler, WJW, Vol. 3 [wie Anm. 5], S. 430. Ebd, § II.5 [wie Anm. 52], S. 432. Vgl. John Wesley, Journal 28 (28. Juni 1740). In: Ward, Reginald/Heitzenrater, Richard P. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 19: Journal and Diaries II, Nashville 1990, S. 159. Telford, John (Hrsg.), The Letters of John Wesley, Bd. 6, London 1931, S. 124. Zur historisch ungerechtfertigten Verwendung dieser Redewendung vgl. John C. Bowmer, A Converting Ordinance and the Open Table. In: Proceedings of the Wesleyan Historical Society 34 (1964), S. 109–113.

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nahe-Christen“ einschloss. Die theologisch durchaus scharf gezogene Grenze verläuft für Wesley folglich dort, wo ein Mensch is convinced of his sins (repents) and has a measure of faith; to the extent that he assents to the doctrine that Christ died for sinners and desires and believes that the fulness of faith may be received at the Lord’s table. The inveterate, impenitent sinner Wesley flatly rejects.57

Da Wesley überzeugt war, dass aufrichtiges Verlangen nach Gott nicht ohne erkennbare Früchte bleibt, konnte er über die verbindliche Ordnung der Klassen, genauer: durch die vierteljährliche Ausgabe von „class tickets“, den Zugang zum Abendmahl relativ klar eingrenzen. Obwohl Wesley seine theologischen Prinzipien zumeist konsequent umsetzte, bewahrte er sich doch zeitlebens eine seelsorglich motivierte Freiheit, die Ausnahmen zuließ und die Bewegung so vor rigider Gesetzlichkeit bewahrte. Nirgends jedoch lässt er den Eindruck entstehen, dass der theologisch grundsätzliche Zu58 sammenhang von Abendmahl und Nachfolge verdunkelt werden dürfe. Wenn dem, der voller Verlangen an den Tisch des Herrn tritt, die rechtfertigende Gnade verheißen wird, dann kann die Erfahrung der – mit der Rechtfertigung verbundenen – Wiedergeburt nicht Bedingung für die Teilnahme am Abendmahl sein. Doch setzt der Empfang der Rechtfertigungsgnade notwendig eine Haltung voraus, welche die Annahme dieses Geschenks von Seiten des Menschen her ermöglicht. Für Wesley ist dies „a sense of our state, of our utter sinfulness and helplessness; every one who knows he is fit for hell being just fit to come to Christ, in this as well as all 59 other ways of his appointment.” Die Schärfe des Ausdrucks sollte nicht den Blick dafür verstellen, worum es Wesley geht, nämlich um eine schonungslose Selbstprüfung vor Gott, die den Bußfertigen dazu führt, alle Selbstbehauptung aufzugeben und ganz auf Christus zu vertrauen. Beide Vorgänge – die Aufgabe alles Selbstvertrauens und das Vertrauen auf die erlösende Macht Christi – fallen im Glauben zusammen und werden so zu zwei Seiten einer Medaille. Daher kann Wesley gleich im Anschluss an die gerade zitierten Sätze auch feststellen, dass das Empfinden der eigenen Sündhaftigkeit und Hilflosigkeit nie ohne ein aufrichtiges Verlangen („desire“) nach umfassender Heiligung vorkomme. Diese Einschätzung bestätigt Wesley, wenn er 57 58

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Borgen, Sacraments [wie Anm. 18], S. 200. Ausdrücklich stellt Wesley fest, dass die Gnadenmittel „were never designed as a refuge to impenitent sinners, but only for the comfort of those that repent“, The Notes upon the Old Testament. In: Schoenhals, G. Roger (Hrsg.), Wesley's Notes on the Bible, Grand Rapids 1987 (Kommentar zu 1Sam 4,10). Wesley, Journal 28 [wie Anm. 54], S. 361f.

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in seiner Lehrpredigt „Die Gnadenmittel“ ausführt: „Nur ‚prüfe sich der Mensch (zuerst) selbst‘, ob er Wesen und Sinn dieser heiligen Handlung versteht und ob er wirklich begehrt, dem Tode Christi gleichgestaltet zu werden“.60 Das Wesen der nach Wesleys Überzeugung für eine ordnungsgemäße Abendmahlsfeier unverzichtbaren Selbstprüfung ist daher allenfalls zur Hälfte erfasst, wenn gesagt wird, dass zur Teilnahme am Abendmahl keine andere Würdigkeit erforderlich ist „als das Wissen um unsere Unwürdigkeit“.61 Anders ausgedrückt: Wer sich im Angesicht Gottes seiner eigenen Schuld ehrlich stellt, dem leuchtet bereits etwas von der ChristusVerheißung auf. Deshalb wird die Einsicht in die eigene Unwürdigkeit vom aufbrechenden Verlangen nach Vergebung und Heilung durch Christus begleitet.62 Als das entscheidende Motiv für die Teilnahme am Abendmahl ergibt sich daher das Verlangen, voll Vertrauen, aber mit leeren Händen, vor den zu kommen, der bereitwillig aus der Fülle der Gnade gibt, um sich zu einem Leben aus der Vergebung und im Gehorsam des Glaubens stärken zu lassen.63 60 61

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Wesley, Gnadenmittel [wie Anm. 19], S. 300. Wir feiern Abendmahl. Eine Arbeitshilfe für die Gemeinde, hrsg. im Auftrag des Kirchenvorstands vom Ständigen Ausschuß für Theologie und Predigtamt der Evangelischmethodistischen Kirche, Stuttgart 1980, S. 15. Vgl. Berufen – Beschenkt – Beauftragt. Das evangelisch-methodistische Verständnis von Kirche, hrsg. von der Theologischen Kommission des Europäischen Rates der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart/Zürich 1991, S. 29. Danach liegt die „Würdigkeit“ der Abendmahlsteilnehmer in „ihrer Bedürftigkeit und ihrem Verlangen, sich von Christus beschenken zu lassen“. Mit Michael Nausner, Gebrochenheit und Erneuerung der Schöpfung. Das Abendmahl als theologische Basis sozialer Gerechtigkeit. In: Ökumenische Rundschau 61 (2012), S. 440–456 stimme ich darin überein, dass das Abendmahl die „eucharistische Vision“ (ebd., S. 447) einer in Gottes Gerechtigkeit und Frieden erneuerten Schöpfung impliziert und räume ein, dass Engführungen in der Heiligungslehre die kosmische Dimension von Gottes Handeln im erwecklichen Methodismus in den Hintergrund haben treten lassen. Meines Erachtens schließt die Konzentration auf die im Abendmahl erfahrbare persönliche Erneuerung (denn hier liegt die „Mitte“) die Hinordnung dieser Erneuerung auf den Horizont der kosmisch verstandenen neuen Schöpfung jedoch nicht aus. Allerdings führt die von Nausner vertretene These von der „sakramentalen Durchlässigkeit“ der Kirche zur Welt bei ihm dazu, dass Gottes spezifisches Handeln in der und durch die Kirche Jesu Christi deutlich hinter Gottes – von mir nicht bestrittenes – Handeln in der Schöpfung zurücktritt. Nausner befürtwortet die Ausweitung des Abendmahls „zu einem gesellschaftlich relevanten offenen, ja öffentlichen Mahl“ (ebd., S. 448), was einschließt, dass es keine Bedingungen für die Teilnahme daran gibt (vgl. ebd., S. 443). Verweist das Abendmahl so verstanden auf „Christi Präsenz“ in der Schöpfung, bleibt die soteriologische und ekklesiologische Funktion der Feier jedoch unterbestimmt. Die wechselseitige Durchdringung von Kirche und Welt lässt vergessen, dass Jesus Christus an seinen Tisch in der Kirche als Gemeinschaft des Gottesvolkes einlädt, die ihrerseits ein Gnadenmittel für die Welt ist

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Leider hat die Konzentration auf Wesleys – in einer sehr konkreten historischen Situation verankerte – Verteidigung des Abendmahls als „bekehrendes“ Gnadenmittel den seine Überzeugungen durchgehend bestimmenden Hauptzweck des Abendmahls weithin an den Rand gedrängt. Primärer Zweck des Abendmahls – wie der Gnadenmittel überhaupt – ist die Stärkung des in der Kraft der Liebe Gottes geführten Lebens in der Heiligung. Sie ist Wegzehrung in der Christus-Nachfolge. Der Schwerpunkt, so auch Harald Lindström, „liegt auf der Heiligung, nicht auf dem Wohlgefallen 64 Gottes und der Vergebung“. Das Wesleys Denken bestimmende Ziel der Teilnahme am Abendmahl ist die Erneuerung des Menschen zu einem Leben in vollkommener Liebe: We here Thy utmost power shall prove Thy utmost power of perfect love.65

Diese Liebe ist nicht abstrakt, sondern sichtbar, nicht schöngeistig, sondern „handgreiflich“ konkret. Vollkommene Liebe vermeidet geistliche Übersättigung, weil sie im Tun des Guten weitergibt, was sie selbst im Sakrament empfangen hat; sie entgeht aber auch dem geistlichen Hungertod, weil sie sich im Abendmahl stärken lässt für den Dienst der Barmherzigkeit in dieser Welt.

5 Abendmahl feiern in „wesleyanischer Form“? In einem 1999 für das General Board of Discipleship verfassten Bericht gibt Gayle Falton zwei Beobachtungen hinsichtlich der Abendmahlspraxis in der Evangelisch-methodistischen Kirche (der Vereinigten Staaten) wieder. Sie verweist erstens auf das tiefe Bedürfnis der Gemeindeglieder der Kirche nach einer auf umfassenderem Verständnis und bedeutungsvollerer Praxis basierenden eucharistischen Spiritualität. Sie gibt zweitens die Beobachtung wieder, dass gleichwohl in den Gemeinden Abendmahl und christliche

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und insofern von ihr unterscheidbar bleiben muss. Auch praktisch-theologisch kann ich nicht erkennen, dass das Abendmahl als liturgische Feier der geeignete Ort ist, um die Verbundenheit mit allen auszudrücken, die für eine gerechte Welt einstehen. Der Einsatz für Gerechtigkeit ist für verschiedene Begründungen offen und es leuchtet nicht ein, warum das Abendmahl nicht eine dem christlichen Glauben spezifische Quelle sein darf, das im Bewusstsein gefeiert wird, dass sich Nichtchristen auf andere Quellen für ihr Engagement beziehen. Lindström, Harald, Wesley und die Heiligung, 2. Aufl. Stuttgart 1982, S. 82; vgl. weiter Borgen, Sacraments [wie Anm. 18], S. 202. Rattenbury, Hymns [wie Anm. 39], S. 205.

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

Jüngerschaft kaum miteinander in Verbindung gebracht werden.66 Im Lichte der oben entwickelten Auffassung Wesleys von Abendmahl und Nachfolge ist der zuletzt benannte Punkt, der nach meinem subjektiven Eindruck auch die deutsche Situation beschreibt, von gravierender theologischer Problematik. Im Folgenden soll auf einen von vermutlich mehreren Ursachenkomplexen eingegangen werden und Wege zu einer Überwindung dieser Malaise mehr angedeutet als ausgeführt werden. In seiner Untersuchung zum Thema Sacraments and Discipleship67 hat Mark Stamm zu Recht darauf hingewiesen, dass die offizielle kirchliche Ordnung einerseits und die durchschnittliche gemeindliche Praxis der Abendmahlsfeier andererseits in der Evangelisch-methodistischen Kirche in erheblichem Maße voneinander abweichen. Da Stamm sich in concreto auf die lehrmäßigen und liturgischen Texte der United Methodist Church in den Vereinigten Staaten bezieht, scheint mir sinnvoll, für unseren Zusammenhang die Ordnungen der Zentralkonferenz Deutschland heranzuziehen. Die größte Differenz dürfte sich im Hinblick auf die Einladung zum Abendmahl ergeben. Wer Abendmahlsgottesdienste einer Evangelischmethodistischen Kirche besucht, wird – in sprachlich freier Variation – Formulierungen vernehmen, die in der Sache übereinstimmend zum Ausdruck bringen, dass jeder und jede zum Abendmahl eingeladen ist. Um den bedingungslos offenen Charakter dieser Einladung zu unterstreichen, wird – oft in einer nicht wenig problematischen „Kreativität“ – mehr oder weniger klar ausgeführt, welche Voraussetzungen für eine Teilnahme gerade nicht bestehen: weder Taufe noch Kirchenzugehörigkeit noch der persönliche Glaube seien notwendig, um zum Tisch des Herrn zu kommen. Die von mir selbst gehörte Einladung: „Alle dürfen kommen, Glaube spielt keine Rolle“ ist zwar im Wortlaut zugespitzter als andere Formulierungen, bringt die vorhandene Tendenz aber gut zum Ausdruck. Inhaltlich ist diese Praxis vor allem deshalb problematisch, weil sie Wesleys oben entfalteten Begriff der Gnade sowie der Gnadenmittel verzerrt; eine offenkundige formale Schwierigkeit liegt darin, dass diese Praxis nicht von den offiziellen Texten der EmK gedeckt ist. Eine noch vergleichsweise geringe Spannung besteht gegenüber der einschlägigen Regelung, wie sie sich in der Kirchenordnung (§ 409) findet:

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Feltons Bericht ist unveröffentlicht, ist jedoch von Don Saliers eingesehen worden, der die genannten Punkte zitiert in Taste and See. Sacramental Renewal among United Methodists. In: Quarterly Review 22 (2002), S. 229. Stamm, Mark, Sacraments and Discipleship, Nashville 2001, bes. S. 67–87.

Abendmahl feiern in „wesleyanischer Form“?

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Zum Abendmahl eingeladen sind Kirchenglieder und Kirchenangehörige, darüberhinaus alle, die über die Bedeutung dieses Sakraments hinreichend 68 unterrichtet worden sind.

Die Formulierung lässt offen, in welcher Weise die Unterrichtung über den Sinn des Sakraments erfolgt sein muss (reicht ein kurzer Hinweis am Beginn des Gottesdienstes?). Bis vor wenigen Jahrzehnten galt es als unbestritten, dass der Begriff der Unterweisung sich auf den kirchlichen Unterricht bzw. dessen Äquivalente in anderen Kirchen bezieht. Mit der Einladung an Kinder jeden Alters ist dieser Deutung jedoch der Boden entzogen. Tatsache bleibt, dass die Kirchenordnung den Kreis der Abendmahlsteilnehmer in einer nicht ganz eindeutig zu interpretierenden Weise einschränkt und darin formale Bedingungen für eine Teilnahme am Abendmahl nennt. Der Blick in die Agende ergibt ein in dieser Hinsicht ähnliches Bild. Einleitend wird die Bedeutung des Abendmahls entfaltet, wobei das Abendmahl als „Feier der Gemeinschaft der Glaubenden mit ihrem Herrn“ 69 bezeichnet wird. Die nachstehenden, sich auf die Einladung zum Abendmahl beziehenden Ausführungen lassen erkennen, dass der Begriff der „Glaubenden“ hier in dem von Wesley vertretenen weiteren Sinn aufgefasst wird. Konkret bedeutet dies der Agende zufolge, „daß nicht nur Bekehrte, Glaubende [jetzt verstanden im engeren Sinne] oder Glieder der eigenen Kirche zur Mahlfeier zugelassen sind, sondern jeder, der die Vergebung sucht und das aufrichtige Verlangen hat, an der Tischgemeinschaft Jesu Christi teilzunehmen“.70 Erkennbar ist, dass das „offene“ Abendmahl keinesfalls ein bedingungslos offenes Abendmahl ist. Dies zeigt sich auch in der Aufnahme zweier Fragen, die „während des Gottesdienstes sinngemäß in Erinnerung gebracht“ und der Sache nach der Selbstprüfung dienen sollen. Wer teilnimmt, sollte zwei Fragen mit Ja beantworten können: Lebe ich, soweit es an mir liegt, mit allen Menschen in Frieden, und suche ich aufrichtig Frieden und Aussöhnung? Will ich in Gemeinschaft mit Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn, leben, und suche ich aufrichtig nach Stärkung meines Glaubens?

Die für Wesleys Verständnis des Abendmahls zentrale Bedeutung der „Selbstprüfung“ ist also in der Agende präsent – die liturgische Praxis be68 69 70

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Lehre, Verfassung und Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche. Ausgabe 1993, Stuttgart 1993, S. 165. Agende, Stuttgart 1991, S. 90. Ebd. [wie Anm. 69].

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

gegnet jedoch zumeist in deutlich verblasster Gestalt, nimmt man diese Fragen zum Maßstab.71 Insgesamt lässt sich feststellen, dass der von Mark Stamm für den amerikanischen Bereich erhobene Befund sich auf deutschem Boden bestätigt: Während die offiziellen Texte der Kirche theologische und liturgische Kriterien für die Feier des Abendmahls vorgeben, feiern die Gemeinden ein bedingungslos offenes Abendmahl. Demgegenüber können wir von Wesley erstens lernen, dass eine freie Einladung gerade nicht bedingungslos ist. Wesley illustriert diesen Gedanken folgendermaßen: Ein Mensch bietet dir frei eine Summe von Geld an – unter der Bedingung, dass du deine Hand ausstreckst, um dieses Geld zu 72 empfangen. Die von einem Teilnehmer des Abendmahls verlangte Würdigkeit liegt also in seiner aufrichtigen Bereitschaft, Gottes Wirken an sich geschehen zu lassen. Die unerlässliche Selbstprüfung schärft den Sinn dafür, wie sehr ich auf Gottes Vergebung angewiesen bin und seinen erneuernden Geist brauche. Weil unser Unfriede und unsere Ungerechtigkeit den umfassenden Schalom Gottes für diese Welt zerbrechen, deshalb ist die Feier des Abendmahls der Ort, an dem die Sehnsucht nach und das Geschenk der Versöhnung sehr konkret erfahrbar werden sollte. Ist dies in der Praxis tatsächlich der Fall? Gibt es, wo solche Versöhnung im Vorfeld des Gottesdienstes geschah, Gelegenheit, dies zur Ehre Gottes mitzuteilen? Nehmen die zur Abendmahlsfeier hinführenden Gebete Bereiche des Gemeindelebens auf, die als „Zankapfel“ zahlreicher Gremiensitzungen und Hintergrundgespräche das Klima vergiften und so die Ausbreitung des Friedens Gottes behindern? Sind wir in der Selbstprüfung vor Gott offen, uns sehr konkret Verantwortung für Unrecht in unserem Umfeld, in dieser Welt überhaupt, aufzeigen zu lassen? Und nicht zuletzt: Bietet der Abendmahlsgottesdienst den Raum, Versöhnung z. B. durch Gesten erfahrbar werden zu lassen, mehr noch: den Blick nach vorne zu richten, mit Gottes erfahrbarem Wirken zu rechnen, in bewusster Hingabe an Gott neue Schritte im Glauben zu tun? Ein bedingungslos offenes Abendmahl verspielt das Angebot Gottes, aus der Selbstprüfung zum Angebot der Versöhnung hindurchzudringen und so den Schalom Gottes für sich selbst und andere erfahrbar werden zu lassen. Wo die Offenheit für Gottes vergebende und verändernde Kraft fehlt, wird die Teilnahme am Abendmahl zum Zeichen der Selbstermächtigung, der zum Verlust der Gemeinschaft führt. Schließ-

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Auch hier sei aus der eigenen Erfahrung eine Einladung zum Abendmahl zitiert: „Zum Abendmahl eingeladen sind alle, die das Sündenbekenntnis mitsprechen. Aber auch wer es nicht mitspricht, ist eingeladen“. Vgl. Telford, Letters [wie Anm. 55], London 1931, S. 247.

Abendmahl feiern in „wesleyanischer Form“?

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lich ist nicht zu übersehen: Das bedingungslos offene Abendmahl schafft selbst eine – vom Evangelium nun aber nicht gedeckte – Bedingung: es verlangt die Bereitschaft, das Abendmahl in einer Gemeinschaft zu feiern, in der das Menschliche verbindet, Gottes Wort von Sünde und Gnade aber nicht mehr scheiden, unterscheiden, darf. Was Menschen an Schuld mitbringen, verschwindet damit aber nicht, sie wird, weil nicht benannt und bereut, auch nicht überwunden, sondern unter unter dem Leitmotiv der Inklusion aller konserviert – ob dies bewusst oder unbewusst, vorsätzlich oder fahrlässig geschieht, ist dabei zweitrangig. Von Wesley können wir zweitens lernen, dem Wirken Gottes im Abendmahl neu zu vertrauen. Die Fehlfokussierung auf das offene Abendmahl hat dazu geführt, dass relativ viel von den Bedingungen gesprochen wird, die – in negativer Hinsicht – für eine Teilnahme nicht vorausgesetzt werden. Im Unterschied dazu wird relativ wenig davon gesprochen, was wir – positiv gewendet – vom Empfang des Abendmahls erwarten dürfen. Dazu hat sicherlich auch beigetragen, dass der bei Wesley noch streng theologisch gefüllte Begriff des „seekers“, des Suchenden, heute weithin soziologisch gefüllt wird: der Weg wird zum Ziel, die Verheißung des Evangeliums zur 73 diffusen Erwartungshaltung. Doch verdienen es die weiter oben unter den Stichworten „pardon and holiness and heaven“ angedeuteten Gedanken, tief ins Bewusstsein der versammelten Gemeinde eingepflanzt zu werden. Eine – dazu bislang kaum genutzte – Möglichkeit bieten die im Abendmahlsgottesdienst gehaltenen Predigten, die ein tieferes Verständnis dessen, was im Abendmahl geschieht, nicht länger fraglos voraussetzen, sondern in respektvoller, aber zeitgemäßer Redeweise entfalten sollten.74 In besonderer Weise sind zudem die von Charles Wesley komponierten – in ihrer Mehrzahl jedoch nur auf Englisch vorliegenden – Lieder geeignet, biblische Lehre in lebendiger Weise zu erfassen. Zu bedenken wäre schließlich die im amerikanischen Methodismus des 19. Jahrhunderts sich entwickelnde Praxis einer eng verbundenen Feier von Abendmahl und Agapemahl. Dabei bietet die Agape-Feier Gelegenheit, von geistlichen Erfahrungen zu sprechen, die nicht zuletzt im Zusammenhang des Abendmahls gemacht wurden.75 Drittens ist von Wesley zu lernen, dass die im Abendmahl empfangene Gnade als verantwortete Gnade die Einbindung in verbindlich gelebte Ge73

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Nach Geoffrey Wainwright wird auf diese Weise der unentschiedene, der „BeinaheChrist“ zum eigentlichen authentischen Zeugnis des Glaubens, vgl. Methodists in Dialog, Nashville 1995, S. 227. Vgl. die diesbezügliche Anregung in der Agende [wie Anm. 69], S. 91. Vgl. Renders, Helmut, Einen anderen Himmel erbitten wir nicht. Urchristliche Agapen und methodistische Liebesfeste, Stuttgart 2001.

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

meinschaft braucht. Das Abendmahl ist kein Angebot neben anderen, für das man sich unter den Bedingungen der Multi-Options-Gesellschaft entscheiden könnte – vergleichbar dem Auswählen an der Käsetheke des Supermarktes. Vielmehr ist der „Kelch, den wir segnen“, die „Gemeinschaft des Blutes Christi“ und das „Brot, das wir brechen“ die „Gemeinschaft des Leibes Christi“ (1Kor 10,16). Diese Gemeinschaft ist nur in gebrochener Gestalt sichtbar. Mit den geistlichen Sinnen ist jedoch erfahrbar, dass der dreieinige Gott gegenwärtig ist. Dabei gilt, dass sich geistliche Erfahrungen ihre Strukturen suchen und dieser Strukturen auch bedürfen. Dass sich der Methodismus – nicht aus theologischem Vorsatz, sondern im Zuge soziologischer Umbrüche – seiner Klassenstruktur „entledigt“ hat, ist eine Beobachtung, deren Tragweite für das Leben unserer Kirche bislang noch nicht aufgearbeitet ist. Zumindest die Gefahr einer Fragmentierung des geistlichen Lebens liegt auf der Hand. Wesley dagegen war überzeugt, dass die erfahrene Liebe Gottes zu einem in umfassendem Sinne von der Liebe bestimmten Leben führt. Dafür verwendet er den – oft missverstandenen Begriff – „christliche Vollkommenheit“. Wesleys Anfrage an die Wirklichkeit unseres Lebens könnte konkreter nicht sein: Kann ich, der ich im Abendmahl geistlich gesättigt worden bin, am hungernden Bettler achtlos vorübergehen? Kann ich, der ich Frieden mit Gott gefunden habe, zum Kampf für meine berufliche Karriere antreten? Oder umgekehrt: Darf ich, weil ich in meinem Dienst für Asylbewerber ganz und gar aufgehe, das Gebet, das Bibelstudium vernachlässigen, es quasi anderen überlassen? Wesley plädiert nachdrücklich für ein Leben, das aus „einem Guss“ ist. Die innere Balance eines von Gottes Liebe bestimmten Lebens zu halten, dafür, so war Wesley überzeugt, kann man nun freilich kein geistlicher Einzelkämpfer bleiben, sondern braucht die verbindliche Gemeinschaft. Wenn das Abendmahl nun aber nicht Ersatz für, sondern Ausdruck beständiger Nachfolge ist, dann fällt noch einmal ein anderes Licht auf die Frage der Häufigkeit der Abendmahlsfeier. Dass für Wesley der Wort- und Sakramentsgottesdienst den sonntäglichen Normfall darstellt, ist bereits erwähnt worden. Aber welche EmK-Gemeinde könnte von sich behaupten, zumindest der Weisung unserer Kirchenordnung zu entsprechen, in der es 76 heißt: „Das Abendmahl soll möglichst häufig gefeiert werden“. Es scheint wenig möglich zu sein in unseren Gemeinden. Jedenfalls fällt auf, dass die 76

Der unmittelbar nachfolgende Satz lautet: „Die Bezirkskonferenz oder der Gemeindevorstand legen mit dem Pastor/der Pastorin Zahl und Termine der Abendmahlsgottesdienste fest“. Freilich ist dieser Satz eine Ausführungsbestimmung und keine Aufhebung des ersten Satzes; Lehre, Ordnung und Verfassung der Evangelisch-methodistischen Kirche, S. 165.

Abendmahl feiern in „wesleyanischer Form“?

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Frage der Häufigkeit des Abendmahls kaum vom theologischen Verständnis her, sondern fast ausnahmslos von praktischen Erwägungen her diskutiert wird.77 Vielleicht wäre uns schließlich auch damit gedient, Wesley etwas stärker als einen Mann der Kirche ernst zu nehmen, als anglikanischen Theologen, dem liturgische Traditionen wert und teuer waren (solange sie dem Anliegen geistlicher Erneuerung nicht im Wege standen). Es muss daher zumindest diskutiert werden, welche Gründe für, welche gegen eine Zulassung nicht unterwiesener Kinder zum Abendmahl sprechen.78 Liturgisch weitaus problematischer scheint jedoch die – infolge der Feier eines bedingungslos offenen Abendmahls – gänzliche Auflösung des theologischen Zusammenhangs von Taufe und Abendmahl. Die Öffnung des Abendmahls für die Teilnahme Ungetaufter bedeutet weniger eine Wertschätzung von Menschen, die – aus sehr unterschiedlichen Gründen – (noch) nicht getauft sind, als vielmehr eine bedenkliche Abwertung der Taufe. Wenn gelehrt wird, dass das Abendmahl Gemeinschaft mit dem auferstandenen Christus in der Kraft des Heiligen Geistes ist, warum – so könnten ungetaufte Teilnehmer fragen – bedarf es dann noch der Taufe. Was fügt sie der eucharistischen Gemeinschaft noch hinzu? Sicherlich ist Geoffrey Wainwright zuzustimmen, wenn er sagt, dass diese Auffassung seelsorglich begründete Ausnahmen einer Zulassung Ungetaufter zum Abendmahl nicht ausschließt, was jedoch stets mit dem ausdrücklichen Hinweis auf das Angebot der Taufe 77

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Zum ganzen vgl. David Tripp, How Often Should United Methodists Commune? In: Quarterly Review 22 (2002), S. 273–285; White, James F., Sacraments as God’s Self Giving, Nashville 1983, S. 61–65. James White hat die wesentlichen für eine Zulassung von Kindern sprechenden Argumente zusammengetragen, wobei er darauf verzichtet, der biblischen Überlieferung Antworten im Blick auf liturgische Entwicklungen zu entnehmen, die für die Verfasser überhaupt noch nicht im Blick waren; vgl. Sacraments [wie Anm. 77], S. 65–69. Dagegen ist die von Siegfried Reissing vorgelegte Argumentation kaum geeignet, die Diskussion mit wirklichen Einsichten zu befruchten. So versucht er „die neutestamentlichen Wurzeln des Abendmahls“ unter vollständigem Ausblenden der einschlägigen paulinischen Texte freizulegen. Er verweist lediglich auf die Praxis Jesu, wobei er als allgemeine Begründung die Kindersegnung, in konkreter Hinsicht dann die Mahlzeiten Jesu mit seinen Jüngern sowie mit „Sündern“ und schließlich die Speisungswunder nennt. Allerdings scheint er zu übersehen, dass bei der Kindersegnung kein Bezug zu einer Mahlzeit hergestellt wird, bei den Jünger- und Sündermahlen Kinder nicht im Blick sind und schließlich die Speisungswunder zentral den Aspekt der Sättigung thematisieren, wogegen das Abendmahl, wie wir es heute feiern, gerade kein Sättigungsmahl ist. Reissing gesteht im Folgenden zu, dass Wesleys Abendmahlsverständnis für eine Zulassung von Kindern nicht in Anspruch genommen werden kann – um genau dies dann doch zu tun: vgl. Abendmahl mit Kindern. Arbeitshilfe und Gottesdienstentwürfe, hrsg. v. Kinderwerk der Evangelischmethodistischen Kirche, Stuttgart 1995, S. 5–22.

Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge

verbunden werden sollte. Für mangelndes liturgisches sowie ekklesiologisches Bewusstsein spricht auch die faktische Möglichkeit, regelmäßig am Abendmahl teilzunehmen und sich gleichzeitig dauerhaft von der verbindlichen Mitgliedschaft fernzuhalten.79 Wer sich sonntags mit seiner Teilnahme am Abendmahl zur „Gemeinschaft des Leibes Christi“ bekennt, sollte sich der Aufnahme in die Gliedschaft der Kirche nicht auf Dauer widersetzen. Welches Bild von Christsein entsteht, wenn Menschen einerseits die Mittel der Gnade gebrauchen und sich andererseits nicht verbindlich zur Kirche als „Gemeinschaft der Gnade“80 halten wollen?81 Sollten wir also das Abendmahl nach „wesleyanischer Form“ feiern, wofür uns in Feiern und Bekennen immerhin eine Vorlage gegeben ist? Mir scheint die Intention Wesleys vor allem dann getroffen, wenn wir das Abendmahl zwar nicht in den Formen, dafür umso mehr im Sinne Wesleys feiern, was freilich nur eine Etappe in dem Bemühen sein kann, das Abendmahl immer mehr im Sinne seines Stifters Jesus Christus zu feiern. Dabei dürfte die wesleyanische Tradition uns in erster Linie den Weg zu einem ganzheitlichen, „vollkommenen“ Christsein aufzeigen, in dem die Liebe Gottes erkennbar Gestalt gewinnt durch ein Glaubensleben, das in „Übungen der Frömmigkeit“ und „Übungen der Barmherzigkeit“ ganz auf die Gnade Gottes vertraut.

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Dies gilt in erster Linie für Personen, die keiner Kirche als engagierte bzw. Vollmitglieder angehören, nicht für Glieder anderer Kirchen, die – aus beruflichen, familiären oder anderen Gründen – auch längerfristig gastweise an Abendmahlsfeiern der EmK teilnehmen. So der Titel des von der Gemeinsamen Lutherisch-methodistischen Kommission 1984 als Ergebnis eines bilateralen Dialogs erstellten Berichts. Auch hier bedeutet das Kapitulieren vor dieser Praxis eine faktische Abwertung des Akts der Gliederaufnahme.

Abendmahl feiern in „wesleyanischer Form“?

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Gemeinschaft in Glaube und Dienst Kirchengliedschaft als Gestalt verbindlicher 1 Christusnachfolge 1 Verbindliche Kirchengliedschaft – ein „Dauerbrenner“ mit Aktualität Freikirchen sind, ob sie es nun wollen oder nicht, in einem gewissen Sinne „erfolgsorientierte Kirchen“.2 Darüber kann weder der theologisch legitime Hinweis auf die „kleine Herde“ (Lk 12,32) noch der redliche Zuruf, nicht immer nur auf die (sinkenden) Gliederzahlen zu blicken, hinwegtäuschen. Freikirchen leben – theologisch korrekt gesagt – von der Gnade Gottes wie andere Kirchen auch; empirisch realisiert sich Gemeinde nach freikirchlichem Verständnis jedoch ganz konkret erst dort, wo sich eine Gemeinschaft von Glaubenden im Namen des dreieinigen Gottes versammelt und zum Dienst in der Welt aussenden lässt. Das quantitative wie qualitative Ausmaß, in dem sich Mitglieder am Leben der Kirche beteiligen, begegnet implizit oder explizit in nahezu jeder Bilanz der verschiedenen kirchlichen Dienstbereiche. Ohne das konkrete Engagement der Mitglieder, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht, ist Freikirche nicht zu haben. Legt man dieses stark am Begriff der Gemeinschaft orientierte Kirchenverständnis zugrunde, dann wundert es nicht, dass der Blick auf die Zahlen in der mehr als 150-jährigen Geschichte des deutschen Methodismus ein 3 ständiger Begleiter war. Immerhin ging es – zumindest auf der empirischen Ebene – um die Lebens- bzw. Überlebensfähigkeit der Kirche. Über diesen Zeitraum von mehr als 150 Jahren gab es Phasen des Wachstums und der Abnahme, euphorische ebenso wie kritische Perioden. Entsprechend unterschiedlich gestaltete sich der Umgang mit den Zahlen, der immer auch 1

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Überarbeitete Fassung eines Referats auf der Konferenz der Herrnhuter Brüdergemeinen in Deutschland in Gelnhausen am 5. April 2002. Auf Wunsch der einladenden Konferenz widme ich der Problematik der Motivation des Nachwuchses besondere Aufmerksamkeit. So zu Recht Niethammer, Hans-Martin, Kirchenmitgliedschaft in der Freikirche. Kirchensoziologische Studie aufgrund einer empirischen Befragung unter Methodisten, Göttingen 1995, S. 335. Was die geschichtliche Entwicklung angeht, beziehe ich mich im Folgenden lediglich auf die Bischöfliche Methodistenkirche als einen Zweig des deutschen Methodismus vor 1968.

Verbindliche Kirchengliedschaft

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Ausweis eines gewissen Verständnisses von Kirchenmitgliedschaft war. Zweierlei fällt auf. Zum Ersten gingen die Methodisten im 19. Jahrhundert recht unbefangen mit dem Begriff „Erfolg“ um. Erfolg in der Ausbreitung der Kirche, dem quantitativen Wachstum der Arbeitsbereiche und dem geistlichen Wachstum der Glieder waren die erklärten Ziele kirchlichen Wirkens, das ja nichts anderes sein sollte als Arbeit am Aufbau des Reiches Gottes. Wirkliche Erfolgseuphorie hat sich im deutschen Methodismus jedoch vermutlich nie eingestellt, denn nach wenigen Jahrzehnten wurde die ernüchternde Einschätzung unvermeidlich, dass eine mit amerikanischen 4 Verhältnissen vergleichbare Ausbreitung in Europa nicht zu erreichen sei. Zwar erlebten die methodistischen Kirchen nach beiden Weltkriegen signifikante Zuwächse, aufs Ganze gesehen vermochte jedoch selbst die nach 1945 zunehmende ökumenische Akzeptanz ihre gesellschaftliche Marginalstellung nicht zu überwinden. Nicht allein der Begriff, sondern die Kategorie „Erfolg“ als solche wurde beiseitegelegt. Bedenklich erscheint dabei aus heutiger Sicht nicht so sehr das Aufgeben des „Erfolges“ zugunsten eines biblischeren Verständnisses von „Frucht“, als vielmehr die allgemeine Binnenorientierung, die mit dem Nachlassen des missionarischen Eifers um sich griff. Aber noch etwas anderes fällt auf. Auch die steigenden Mitgliederzahlen der methodistischen Frühzeit in Deutschland wurden nicht unkritisch als Indikatoren einer sich gesund entwickelnden Kirche aufgefasst. Überblickt man die ersten Jahrgänge der Wächterstimmen, der für die Prediger der Bischöflichen Methodistenkirche bestimmten Zeitschrift, so finden sich bereits damals Artikel, in denen gegenüber den in einzelnen Gemeinden hohen Aufnahmezahlen Bedenken angemeldet wurden. Im Zentrum der Kritik stand einmal die – in verschiedenen Biographien auch belegte – laxe Handhabung des seit 1864 von der Kirchenordnung vorgeschriebenen Aufnahmerituals. So wurden am Ende einer Evangelisationsveranstaltung Personen, die zur „Glaubensentscheidung“ nach vorn gekommen waren, durch Handschlag des Predigers in die Kirche aufgenommen – z. T. begriffen die „Mit5 glieder“ das erst im Nachhinein. Kritisiert wurde vor diesem Hintergrund konkret, dass aus der mit der frühen methodistischen Verkündigung oft ein4

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Vgl. z. B. G. Bruns, Aus welchen Ursachen haben wir an manchen Plätzen unseren Einfluß verloren und was können wir thun, um denselben wieder zu gewinnen? In: Wächterstimmen 3 (1873), S. 108–112. Belege für diese Praxis, jedoch ohne die im Licht der damals geltenden kirchlichen Bestimmungen notwendige kritische Würdigung, finden sich bei Voigt, Karl Heinz, Kirche mit Gemeinden aus Glaubenden und Suchenden. Wer kann Kirchenglied in der Evangelisch-methodistischen Kirche werden?, Stuttgart 1998, S. 39ff.

Gemeinschaft in Glaube und Dienst

hergehenden religiösen Begeisterung zu schnell die bewusste Bejahung einer verbindlichen Kirchenzugehörigkeit abgeleitet werde.6 Das Resultat dieser seelsorgerlich unvorsichtigen Vorgehensweise sah man in einer bereits in den ersten methodistischen Gemeinden vorhandenen Gruppe inaktiver Kirchenglieder, vor allem aber in einer hohen Mitglieder-Fluktuation. Unübersichtlich wird die Lage jedoch erst dadurch, dass zeitgleich auch über zu geringe Gliederzuwächse geklagt wurde. Der scheinbare Widerspruch löst sich jedoch auf, sobald man erkennt, dass diesen gegensätzlichen Bewertungen unterschiedliche Maßstäbe zugrunde lagen. Zu viele Glieder gab es angesichts der Tatsache, dass nicht alle einmal aufgenommenen Personen eine dauerhafte engagierte Zugehörigkeit zur Kirche durchhielten. Dabei ging es primär um die Zuwächse von „außen“. Zu wenig Mitglieder gab es, legt man die Zahl der in methodistischen Gemeinden vollzogenen Kindertaufen und Einsegnungen zugrunde. Bereits in der zweiten methodistischen Generation begannen die Klagen darüber, dass es nicht in befriedigendem Maße gelinge, die von klein auf methodistisch sozialisierten Kin7 der für die eigene Kirche zu gewinnen. Auch dieses Problem ist also nicht neu. Zieht man die von Hans-Martin Niethammer erarbeiteten Befunde und Analysen heran, dann wird deutlich, dass sich die Evangelisch-methodistische Kirche heute in verschärftem Maße mit letzterem Problem konfrontiert sieht.8 Zwar sind die Zuwächse „von außen“ nicht so überwältigend, dass sie die altersdemographisch bedingt hohen Abgänge durch Tod kompensieren könnten, doch überstieg nach Niethammers Erhebung bei den in die Kirche aufgenommenen Gliedern im Jahr 1990 der Anteil der Glieder mit nichtmethodistischem Familienhintergrund bereits leicht den Anteil der aus methodistischen Familien stammenden Glieder. In diesem Sinne kann man die EmK nicht einmal mehr undifferenziert als „Nachwuchskirche“ bezeichnen,9 denn die Motivierung des eigenen Nachwuchses scheint ein Problem ersten Ranges zu sein. Als Fazit ergibt sich an dieser Stelle erstens, dass der oft als Kind der Postmoderne gescholtene Mangel an dauerhafter Verbindlichkeit keinesfalls 6 7 8 9

Vgl. G. Göß, Wie können wir einen so starken Mitgliederwechsel, wie ihn unsere Statistik in den letzten Jahren aufweist, vermeiden? In: Wächterstimmen 12 (1882), S. 82. Vgl. z. B. H. Welti, Ursachen so weniger Bekehrungen unter den Sonntagsschülern. In: Wächterstimmen 18 (1888), S. 137–140. Niethammer, Kirchenmitgliedschaft [wie Anm. 2], S. 136–157. Niethammer zufolge gibt es keinen Anlass für die Behauptung, „die EmK rekrutiere sich zunehmend nur noch aus dem eigenen Nachwuchs und könne keine wirklich neuen Glieder mehr dazugewinnen“, ebd. [wie Anm. 2], S. 144.

Verbindliche Kirchengliedschaft

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ein neues Phänomen ist. Es ist nicht so, dass sich der Himmel über uns erst seit den letzten dreißig Jahren verdunkelt. Man wird nicht vergessen dürfen, dass das freikirchliche Konzept einer christlichen Entscheidungsreligion, die sich durch eine bewusste Annahme des Glaubens und ein verbindliches Leben in der Christus-Nachfolge auszeichnet, noch in keiner Gesellschaft mehrheitsfähig war. Zweitens fördert unser kurzer historischer Rückblick zu Tage, dass allein der Blick auf die Zahlen weder die Probleme korrekt indiziert noch geradewegs zur Lösung der sich hinter den Gliederzahlen verbergenden Probleme führt. Gerade deshalb ist es notwendig, abseits der Zahlen zu einem vertieften Verständnis von Kirchengliedschaft im Methodismus zu gelangen. Dabei lassen wir uns von dem in dieser Hinsicht grundlegenden 10 Verständnis von „verantworteter Gnade“ bei John Wesley leiten, fragen dann nach der ekklesiologischen Bedeutung (und Berechtigung) des Rituals zur Gliederaufnahme, skizzieren einige Anregungen, Unentschlossene in die verbindliche Gemeinschaft der Kirche einzuladen, und werfen abschließend einen Blick auf die Bedingungen, unter denen sich Verbindlichkeit heute zu bewähren hat.

2 Verbindliche Mitgliedschaft als Ausdruck verantworteter Gnade Nach Wesley kann von Gott nicht anders gesprochen werden, als dass von seiner Gnade gesprochen wird.11 Denn Gnade bezeichnet die Wirkungen der göttlichen Liebesmacht, die – weil sie ihrem Wesen nach Liebe ist – den Menschen nicht in den Willen Gottes zwingt, sondern ihn zur Antwort der Liebe beruft und befreit. In einem umfassenden Sinne meint Gnade die Gegenwart Gottes in dieser Welt – in Schöpfung und Erhaltung der Welt, in der Geschichte ebenso wie in der Erfahrung der Vorsehung.12 In einem engeren Sinn bedeutet Gnade dann aber das Wirken des Heiligen Geistes im Leben eines Menschen, der sich im Glauben der Liebe Gottes öffnet und so 10

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Im englischen Sprachraum hat Randy L. Maddox den entsprechenden Ausdruck „Responsible Grace“ geprägt; vgl. sein gleichnamiges Buch: ders., Responsible Grace, Nashville 1994. Eine Konkordanz des Begriffs „Gnade“ in den 53 Lehrpredigten hat George Lawton zusammengestellt; vgl. Grace in Wesley’s Fifty-three Sermons, Proceedings of the Wesley Historical Society 42 (1980), S. 112–115. Richard Heitzenrater spricht von der Gnade als „the active power presence of God“, vgl. God with us. Grace and the Spiritual Senses in John Wesley’s Theology. In: Johnston, Robert K./Jones, L. Gregory /Wilson, Jonathan R. (Hrgs.), Grace Upon Grace. Essays in Honor of Thomas A. Langford, Nashville 1999, S. 92.

Gemeinschaft in Glaube und Dienst

die Vergebung der Sünden und die Erneuerung zu einem heiligen Leben empfängt. Für unseren Zusammenhang sind drei Implikate der Gnadenlehre Wesleys von Bedeutung. Erstens kommt Gottes Gnade jedem menschlichen Bemühen zuvor. Wesley verwendet den Begriff „vorlaufende“ Gnade, um auszudrücken, dass die Initiative zu einer heilvollen Beziehung zwischen Gott und Mensch immer von Gott ausgeht. Zum einen entlastet es, zu wissen, dass Gottes Weg mit einem Menschen nicht erst von diesem geschaffen werden muss, sondern Gott durch Christus dazu einlädt, diesen Weg zu gehen. Zum anderen stellt das vorlaufende Gnadenangebot Gottes jedoch den Menschen in die Verantwortung, sich zu diesem Angebot zu verhalten – durch Zustimmung oder Ablehnung. Gottes „gnädige“ Gegenwart stellt den Menschen in eine Verantwortung für sein Leben, die nicht von ihm genommen wird und die letztlich über Heil oder Unheil entscheidet. Gottes Gnade macht den Menschen sozusagen „unentschuldbar“, wenn er Gottes Liebe zurückweist. Damit ist bereits angedeutet, dass zweitens Gottes Gnadenwirken das Mitwirken des Menschen nicht aufhebt, sondern überhaupt erst ermöglicht. Das Leben in der Gemeinschaft mit Christus fordert den Einsatz aller Kraft, die Gottes Geist im Glaubenden wirkt. Wesley formulierte diese Einsicht in zwei Thesen: „First, God worketh in you; therefore you can work.“ Und weiter: „Secondly, God worketh in you; therefore you must work […] other13 wise he will cease working.“ Der hier prägnant zum Ausdruck gebrachte Gedanke der „verantworteten“ Gnade findet seine Begründung in der paulinischen Vorstellung, dass wir uns mit „Furcht und Zittern“ um unsere Erlösung bemühen sollen, gerade weil Gott es ist, der beides in uns wirkt, das Wollen und das Vollbringen (Phil 2,12–13). Wenn Gnade Gottes unverdiente Zuwendung und bleibende Gegenwart meint, impliziert dies drittens, dass die Gnade ein Beziehungsgeflecht konstituiert, denn Gottes Gegenwart ist wesenhaft relational, „beziehungsweise“. Gottes Gnade gewinnt zunächst in einer Gottesbeziehung Gestalt, denn das vom Geist Gottes berührte Herz wendet sich Gott zu und erwartet Heil und Leben von ihm. Die von Gott empfangene Liebe sucht nun aber auch Wege zu den Mitmenschen, denen diese Liebe in gleicher Weise gilt. So entsteht ein Beziehungsnetz, dessen Wesen die Liebe ist. Gnade schafft Gemeinschaft. Die Gemeinschaft wiederum ermöglicht es, in der Liebe zu wachsen und vor Fehlorientierungen bewahrt bzw. in Verfehlungen korrigiert zu 13

John Wesley, On Working Out Our Own Salvation (Sermon 85), § III. 3.7. In: Outler, Albert C. (Hrgs.), The Works of John Wesley, Vol. 3: Sermons III, Nashville 1986, S. 206.208 (erste Hervorhebung von mir).

Verbindliche Mitgliedschaft als Ausdruck verantworteter Gnade

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werden. Wesley hat diesen Aspekt der verbindlichen Gemeinschaft mit der Schaffung von Kleingruppen innerhalb der methodistischen Gemeinschaft realisiert. Sie waren seines Erachtens unerlässlich für ein in jeder Hinsicht wachsendes und reifendes Glaubensleben. Wesley war davon überzeugt, dass der souveräne Gott sich in seiner Gnade an einen Heilsweg bindet, auf dem er sich vom Menschen finden lässt und ihm persönlich begegnet. So verstand Wesley die Gnadenmittel als verlässliche Begegnungspunkte, als „Gefäße der Gegenwart Gottes“,14 in denen Gott erfahren werden kann. Die Gnadenmittel geben dem Leben in der Christusnachfolge seine erkennbare Gestalt.15 Weil die Nachfolge aber sowohl die Beziehung zu Gott als auch die Beziehung zum Nächsten umfasst, kennt Wesley zum einen „Gnadenmittel der Frömmigkeit“ (Gebet, Abendmahl, Wort Gottes, Fasten etc.), zum anderen „Gnadenmittel der Barmherzigkeit“ (Hungrige speisen, Nackte bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen). Der Gebrauch dieser Gnadenmittel gibt der Gegenwart Gottes wachsenden Raum, ist aber zugleich sichtbarer Ausdruck dafür, dass hier Gottes Gnade zum Heil der Welt wirkt. Was heißt all dies für ein methodistisches Verständnis von Kirchengliedschaft? Ohne den folgenden Ausführungen vorzugreifen, ist dreierlei deutlich. Die Zugehörigkeit zur Kirche verdankt sich erstens dem „gnädigen“ Eingreifen Gottes im Leben eines Menschen, das ihn zum Kind Gottes 16 macht und zum Leben in der Christus-Nachfolge befreit. Die Aufnahme in die Kirche ist daher kein formaler Akt, sondern die öffentliche Bezeugung einer im Glauben wurzelnden persönlichen Erfahrung. Diese Erfahrung schließt das Moment der Entscheidung nicht aus, sondern ermöglicht diese Entscheidung erst – eine Entscheidung, die auf ein Bekenntnis des Glaubens zielt.

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Klaiber, Walter, Dienen und sich dienen lassen – vom Gebrauch der Gnadenmittel, Stuttgart 1986, S. 5. Wesleys Definition der Gnadenmittel findet sich in Die Gnadenmittel (Predigt 16). In: Wesley, John, Die 53 Lehrpredigten. Übersetzt und hrsg. von Manfred Marquardt (Methodistische Quellentexte 1), 2. Aufl. Göttingen 2016, S. 223–238. Zum Ganzen vgl. die hervorragende Studie von Knight, Henry H. III., The Presence of God in the Christian Life. John Wesley and the Means of Grace, London 1992. Rudolf Thaut weist der freien Glaubensentscheidung ihren sachlich richtigen Ort an, wenn er schreibt: „Die freiwillige Entscheidung, die für die Gliedschaft in der Gemeinde Jesu Christi konstitutiv ist, kann und darf nur im Zusammenhang mit der Freiheit gesehen werden, die der heilige Geist wirkt, wenn der Mensch vom Anruf getroffen wird und im Glauben Antwort gibt“, Der theologische Beitrag der Freikirchen. In: Motel, Hans Beat (Hrsg.), Glieder an einem Leib. Die Freikirchen in Selbstdarstellungen, Konstanz 1975, S. 27f.

Gemeinschaft in Glaube und Dienst

Die in der Zugehörigkeit zur Kirche sich konkretisierende Teilhabe am Leib Christi erschließt zweitens die beziehungsreiche Gegenwart Gottes. Kirchengliedschaft ist daher nicht lediglich ein Status, sondern Ausweis der Offenheit für das Wirken der göttlichen Gnade, für das Gestaltwerden des Glaubens in Liebe. Passive Zugehörigkeit ist folglich theologisch gesagt eine unmögliche Möglichkeit. Schließlich knüpft die Gnade, weil sie ihrem Wesen nach Liebe ist, Beziehungen, die sich im Gemeinschaftsleben verwirklichen. Ohne die konkrete Gemeinschaft, in der die Liebe Gestalt gewinnt, aber auch die Gefährdungen dieser Liebe benannt und aufgearbeitet werden können, verdorrt das geistliche Leben. Daher impliziert die Teilhabe am Leib Christi nach Wesley die Zugehörigkeit zu einer verbindlichen Kleingruppe im weiteren Rahmen einer Kirche (ecclesiola in ecclesia).

3 Der Schritt in die Verbindlichkeit: Aufnahme in die Gliedschaft der Kirche Nun ist nicht zu übersehen, dass der Methodismus (nicht nur) in Deutschland weit von der insbesondere mit dem letzten Punkt bezeichneten Realität entfernt ist. Der Methodismus seit Wesley hat eine Fülle an Veränderungen durchlebt, die nicht ohne Auswirkung auf das methodistische Verständnis von Kirchengliedschaft blieben. Dabei bedeutet der Niedergang der verbindlichen Kleingruppen („Klassen“) einen massiven Einschnitt in die bislang kaum schlüssig ausgearbeitete methodistische Ekklesiologie. An dieser Stelle ist es nicht notwendig, auf die Ursachen für den Niedergang der 17 „Klassen“ sowie auf mögliche und bereits praktizierte Wege zu einer neuen Verbindlichkeit einzugehen.18 Vielmehr ist zu fragen, was der Verlust der 17

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Vgl. Charles Edwin White, The Decline of the Class Meeting. In: Methodist History 40 (2002), S. 207–215; Karl Zehrer, Die Klassen Wesleys müssen wieder her? In: Theologie für die Praxis 15/2 (1989), 16–27; Watson, David L., The Early Methodist Class Meeting. Its Origins and Significance, Nashville 1992, S. 145–148. Vgl. dazu vor allem die Bücher von Watson, David L., Covenant Discipleship. Christian Formation through Mutual Accountability, Nashville 1996; Forming Christian Disciples. The Role of Covenant Discipleship and Class Leaders in the Congregation, Nashville 1995; Class Leaders. Recovering a Tradition, Nashville 1995; auf deutsch erschienen: ders., Wenn zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind. Verantwortliche Nachfolge in der Gemeinde, Zürich 1984; vgl. weiter Dieter Sackmann, Wesleys Klassen. Ein Modell für verbindliche Gemeinschaft vom Evangelium her. In: Theologie für die Praxis 16/1 (1990), S. 10–25; Handerson, Michael, John Wesley’s Class Meeting. A Model for Making Disciples, Nappanee 1997.

Der Schritt in die Verbindlichkeit

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verbindlichen Kleingruppe für die methodistische Wirklichkeit von Kirchengliedschaft bedeutet. Zunächst gilt es daran zu erinnern, dass Wesleys Ekklesiologie sich auf eine – zumindest dem Wunsche Wesleys nach – innerhalb der Anglikanischen Kirche wirkende Gemeinschaftsbewegung bezog.19 Nimmt man die von Wesley für die methodistischen Gemeinschaften verfassten „Allgemeinen Regeln“ zur Hand, dann erfährt man, dass von denen, die in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollen, „als erstes nur erwartet [wird], dass sie ein Verlangen haben, dem zukünftigen Zorn zu entfliehen und von Sünden erlöst zu werden“20. Dieses Verlangen aber, so Wesley weiter, wird, wenn es von Herzen kommt, „sich durch seine Früchte offenbaren“. Was genau dies heißt, entfaltete Wesley dann unter den Stichpunkten „Böses meiden“, „Gutes tun“ und „die Gnadenmittel gebrauchen“. Die „Allgemeinen Regeln“ sind die ekklesiologische Konkretion von Wesleys Verständnis der „verantworteten“ bzw. „gelebten“ Gnade. Wo das Einwirken der Gnade erwartet wird, da bleibt dies nicht ohne sichtbare Auswirkung, die Wesley mit dem Neuen Testament als „Frucht“ bezeichnet. Für Wesley stand die „gelebte“ Gnade als Lebensprinzip methodistischer Gemeinschaft im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Das Aufnahmeritual trat hinter diesem Insistieren auf die Kontinuität der Christus-Nachfolge deutlich zurück. Der Form nach begann die Mitgliedschaft in der methodistischen Gemeinschaft mit der Aushändigung eines class ticket, die entweder auf Empfehlung eines Mitglieds oder nach mehrmaliger probeweiser Teil21 nahme an der Klasse erfolgte. Damit wollte Wesley nicht ein bestimmtes Aufnahmeritual festschreiben, zumal er alles tat, um den Eindruck zu vermeiden, er etabliere eine vom Anglikanismus unabhängige Kirche. Vor allem ist nicht zu vergessen, dass dem recht informellen Charakter der Aufnahme in die Gemeinschaft der nicht mehr zu unterbietende informelle Charakter des Ausschlusses aus der Gemeinschaft entsprach. Zum Ausschluss eines von der Liste gestrichenen Mitglieds kam es schlicht dadurch,

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Zu Wesleys Kirchenverständnis insgesamt vgl. Baker, Frank, John Wesley and the Church of England, London 1970. Baker verweist allerdings zu Recht auf die ekklesiologische Ambivalenz, die sich bei Wesley aus dem Konkurrieren zweier Sichtweisen von Kirche ergab. Vgl. weiter Carter, David, Love Bade Me Welcome. A British Methodist Perspective on the Church, Peterborough 2002, Kap. 1. Lehre, Verfassung und Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche, Ausgabe 2000, S. 42. Detaillierte Ausführungen zur Mitgliedschaft in den methodistischen Gemeinschaften finden sich bei Norwood, Frederick A., Church Membership in the Methodist Tradition, Nashville 1958.

Gemeinschaft in Glaube und Dienst

dass nach Ablauf des nur ein Vierteljahr gültigen class ticket kein neues ausgehändigt wurde.22 Es ist von daher verständlich, dass der sich im 19. Jahrhundert mehr oder weniger schrittweise vollziehende Übergang der methodistischen Bewegung zu einer eigenständigen Kirche eine Formalisierung des Aufnahmerituals mit sich brachte.23 Es entwickelte sich eine Art „Gemeinschaftskirche“,24 die eine Balance herzustellen versuchte zwischen einem Aufnahmeritual, das die Teilhabe am Leib Christi erkennbar werden lässt, und der kontinuierlichen Gemeinschaftspflege, deren Nukleus weiterhin die „Klassen“ blieben, deren weiterer Rahmen dagegen die connexio der methodistischen Kirche war. Das Bekenntnis des Glaubens bei der Aufnahme in die Kirche und das Zeugnis gelebter Gnade im Alltag wurden somit als komplementäre Pole der Christus-Gemeinschaft aufgefasst.25 Der Niedergang der verbindlichen Kleingruppenstruktur schuf eine sich allmählich durchsetzende neue Lebenswirklichkeit der Kirche, die sich auch im Verständnis der Kirchengliedschaft zeigte. Der eine Pol der ChristusGemeinschaft, das in der Kleingruppe verantwortete Zeugnis im Alltag gelebter Gnade, verlor damit seine bislang fundamentale Bedeutung. Damit ist freilich nicht das Ende christlicher Nachfolge gemeint, sondern das Aufgeben von deren struktureller Verankerung im Leben der Kirche, die sich für Wesley noch notwendig aus dem neutestamentlichen Verständnis der Gnade ergeben hatte. Die zunächst emotionale, dann später auch theologische Distanz gegenüber traditionellen Formen der Unterweisung und Zurechtweisung nahm zu, das Moment der christlichen Freiheit wurde dagegen in neuer Weise betont. Man wird nicht verkennen dürfen, dass sich in diesen Entwicklungen eine aus heutiger Sicht verständliche Reaktion auf geistliche Prägemuster 22

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„Whenever it is needful to exclude any disorderly member out of the society, it is done in the most quiet and inoffensive manner – only by not renewing his ticket at the quarterly visitation”, John Wesley, On God’s Vineyard (Sermon 107), § III.3. In: Outler, WJW, Vol. 3 [wie Anm. 13], S. 512. Vgl. Harmon, Nolan B., The Rites and Rituals of Episcopal Methodism, Nashville 1926, S. 53ff. Theophil Spörri hat diesen Ansatz ekklesiologisch fruchtbar gemacht; vgl. Die Lehre von der Kirche, Zürich 1947. Dabei bleibt zu beachten: „Grundlage der Gliederaufnahme ist nicht eine – Menschen unmögliche – Prüfung des Glaubens, sondern der in der Taufe und im Bekenntnis des Glaubenden sichtbar und hörbar gewordene und von der Gemeinde als glaubwürdig bestätigte Empfang des in Christus geschenkten Heils“, Berufen – Beschenkt – Beauftragt. Das evangelisch-methodistische Verständnis von Kirche, hrsg. von der Theologischen Kommission des Europäischen Rates der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart/Zürich 1991, S. 25.

Der Schritt in die Verbindlichkeit

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aussprach, die wir heute oft als Gesetzlichkeit bezeichnen. Für die äußere Gestaltung der Kirchengliedschaft hatte diese Entwicklung jedoch nachhaltige Konsequenzen. Aus dem faktischen Zurücktreten des einen Pols ergab sich in der Folge eine stärkere Betonung des anderen Pols, nämlich des formalisierten Aufnahmerituals. Im Zentrum der Feier zur Gliederaufnahme steht dabei die „Befragung“ des Bewerbers für die Kirchengliedschaft. Gestellt werden insgesamt fünf Fragen: Bekennst du dich zu Jesus Christus als deinem Herrn und Erlöser und nimmst du das Heil an, das dir im Evangelium zugesagt ist? Entsagst du dem Bösen und vertraust du allein auf die Gnade Gottes? Willst du Jesus Christus nachfolgen und dein Leben unter der Leitung des Heiligen Geistes verantwortlich gestalten? Erkennst du die Bibel als die von Gott gegebene Grundlage deines Glaubens und Lebens an? Willst du dich zur Evangelisch-methodistischen Kirche halten? Willst du mit der Gemeinde regelmäßig zusammenkommen? Willst du dich deiner Berufung gemäß am Dienst der Gemeinde beteiligen durch deine Fürbitte, deine 26 Mitarbeit und deine regelmäßigen Gaben?

Zu den genannten Fragen wäre eine Vielzahl an Beobachtungen möglich. So fällt auf, dass die Fragen zwar eine trinitarische Theologie implizieren, ein ausdrückliches Bekenntnis zum trinitarischen Gottesglauben jedoch nicht gefordert wird. Dies entspricht der christologisch-soteriologischen Akzentuierung methodistischer Theologie.27 Die Bibel wird der Sache nach richtig, der Formulierung nach eher vage als „Grundlage“ christlichen Glaubens und Lebens bezeichnet. Hermeneutisch strittige Konzepte wie „Gottes Wort“, „Zeugnis der Offenbarung“ etc. werden zugunsten der funktionalen Bedeutung der Bibel als „Gnadenmittel“ vermieden. Theologisch signifikant ist die Formulierung in der ersten Frage, in der Bezug genommen wird auf die Annahme des Heils, „das dir im Evangelium zugesagt ist“. Zu erwarten wäre eine Formulierung, die den zwischen (Kin26 27

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Agende, Stuttgart 1991, S. 75f. Die Kirchenordnung Ausgabe 2000 (§ 108) weicht im Wortlaut zweier Fragen leicht von der Formulierung in der Agende ab. In der methodistischen Theologie und Liturgik der Gegenwart ist eine stärkere Aufnahme trinitätstheologischer Aspekte jedoch nicht zu übersehen; vgl. die zahlreichen Veröffentlichungen von Geoffrey Wainwright, vor allem The Doctrine of the Trinity. Where the Church Stands or Falls. In: Interpretation 45 (1991), S. 117–132; ders., Wesley’s Trinitarian Hermeneutics. In: Wesleyan Theological Journal 36/1 (2001), S. 7–30. Für Freikirchler bahnbrechend bleibt Volf, Miroslav, Trinität und Gemeinschaft. Eine ökumenische Ekklesiologie, Mainz/Neukirchen-Vluyn 1996.

Gemeinschaft in Glaube und Dienst

der-)Taufe und Gliederaufnahme bestehenden Zusammenhang verdeutlicht. Denn die Taufe ist nach vorherrschender methodistischer Auffassung „Unterpfand und wirksames Zeichen dafür, daß Gottes Heilshandeln dem Getauften ganz persönlich gilt“.28 Sie ist damit auf das „glaubende Ja des Menschen ausgerichtet, der gern für sich gelten läßt, was Gott für ihn getan hat“29. Taufe und Gliederaufnahme „gehören demnach grundsätzlich als ein Geschehen zusammen, auch wenn sie – wie bei der Taufe von Kindern – zeitlich auseinanderliegen“30. Von dieser Auffassung her wäre es konsequent, von dem Heil zu sprechen, das in der Taufe persönlich zugesagt wurde. Der Grund, warum diese Formulierung keinen Eingang in die Fragen gefunden hat, ist relativ einfach zu erkennen. Die genannten fünf Fragen werden gleichermaßen an Bewerber gerichtet, deren Kindertaufe hinter ihnen liegt, als auch an ungetaufte Bewerber, die auf Beantwortung dieser Fragen hin erst jetzt getauft und dabei in die Gliedschaft der Kirche aufgenommen werden. Die Abrenuntion in Frage 2 erinnert an diesen Taufkontext. Die Aufnahmefragen müssen also den Spagat leisten, die in der EmK praktizier31 ten „zwei Weisen“ der einen Taufe verbinden zu müssen, was offensichtlich nicht ganz einfach ist. Für das methodistische Verständnis von Kirchengliedschaft ist an dieser Stelle zweierlei von Bedeutung. Erstens verbinden die Fragen die dogmatische mit der ethischen Seite des Christseins. Auf das Bekenntnis zu Christus als Herr und Erlöser folgt die Bereitschaftserklärung, Christus unter Anleitung des Heiligen Geistes nachzufolgen. Die ethische Seite dieser Bereitschaft wird dann konkret im Hinblick auf die Teilnahme am kirchlichen Leben abgefragt, wobei sehr konkret Fürbitte, Mitarbeit und regelmäßige Gaben genannt werden. Die Fragen lassen keinen Zweifel daran, dass Christsein in der Form, wie es in der Evangelisch-methodistischen Kirche praktiziert wird bzw. werden sollte, einen hohen Grad an Verbindlichkeit 32 einschließt. Der Anspruch, ein Leben nach Maßgabe des neutestamentlichen Zeugnisses führen zu wollen, wird hier sprachlich sehr gut greifbar. Allerdings ist zweitens nicht zu übersehen, dass das Moment der Verbindlichkeit sich hier gewissermaßen auf einen Punkt hin, nämlich den der Auf28

29 30 31 32

Klaiber, Walter, Die eine Taufe. Überlegungen zu Taufverständnis und Taufpraxis der Evangelisch-methodistischen Kirche und ihre biblische Begründung, Stuttgart 1987, S. 17. Klaiber, Walter/Marquardt, Manfred, Gelebte Gnade. Grundriß einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart 1993, S. 323. Agende [wie Anm. 26], S. 59. Ebd. [wie Anm. 26]. Vgl. Klaiber/Marquardt, Gnade [wie Anm. 29], S. 319–322.

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nahme in die Kirche, verdichtet. Zwar beziehen sich die anlässlich der Aufnahme gestellten Fragen ingressiv auf die in diesem Moment formal beginnende verbindliche Gliedschaft, doch fehlt die kirchliche Struktur der Kleingruppen, die zur bleibenden Verbindlichkeit ermutigt, befähigt, herausfordert oder ermahnt. Die Permanenz der frühmethodistischen Verbindlichkeitsstrukturen weicht damit einer Punktualität des Bekenntnisses, wobei der Aufnahmeakt eine theologisch hochbedeutende Stellung gewinnt.33 Das Bemühen um eine stärkere Balance der beiden Pole, Bekenntnis zu Christus und den Bedingungen der Nachfolge einerseits sowie Begleitung und Stärkung auf dem Weg der Nachfolge in verbindlichen Kleingruppen andererseits, wird bei diesen Beobachtungen einsetzen müssen. Dabei dürfte sich der Versuch, die verlorene Pol-Balance durch Heruntersetzen der theologischen Stellung des Aufnahmerituals aufzulösen, als Sackgasse erweisen. Zum einen würde auf diese Weise der Begriff der „verantworteten“ Gnade weiter ausgehöhlt, zum anderen würde die EmK als Entscheidungskirche ohne Entscheidungscharakter auf dem religiösen Markt ein „Produkt“ anbieten, für das zwischen dem für „distanzierte Mitgliedschaft“ offenen Betreuungsmodell Landeskirche einerseits und der auf verbindliches Christsein orientierten Entscheidungsstruktur der „klassischen“ und neueren Freikirchen andererseits weder Raum noch Nachfrage besteht. Dagegen weist die Stärkung verbindlicher Kleingruppenstrukturen einen Weg in die Zukunft, der biblisch-theologisch verantwortbar ist, wertvolle Elemente methodistischer Ekklesiologie aufgreift und dabei soziologische Einsichten zur Geltung 34 bringt. Wie sieht es nun aber mit dem Schritt in die verbindliche Gemeinschaft der Kirche konkret aus? Hans-Martin Niethammer hat in seiner kirchensoziologischen Untersuchung dargelegt, dass die Rekrutierung des Nachwuchses aus den eigenen Reihen ein unübersehbares Problem darstellt. Dies zeigt sich an der Schere, die sich zunehmend zwischen der Zahl der Einsegnungen einerseits und der in die Gliedschaft der Kirche aufgenommenen Jugendlichen aus der „zweiten“ methodistischen Generation andererseits 35 auftut. Hier zeigen sich „Motivationsprobleme unter dem eigenen Nachwuchs“36. Wenn es aus dieser Gruppe heraus zur Entscheidung kommt, sich 33 34

35 36

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Vgl. Niethammer, Kirchenmitgliedschaft [wie Anm. 2], S. 359. Vgl. Snyder, Howard, Signs of the Spirit. How God Reshapes the Church, Eugene 1997; ders., Die Gemeinschaft des Gottesvolkes. Reich Gottes und Gemeinde Jesu, Witten 1979; Hunter, George G., Kirche an Hecken und Zäunen. 9 Modelle einer Kirche für Distanzierte, Asslar 1996, S. 111–162. Vgl. Niethammer, Kirchenmitgliedschaft [wie Anm. 2], S. 336ff. Ebd. [wie Anm. 2], S. 340.

Gemeinschaft in Glaube und Dienst

in die EmK aufnehmen zu lassen, dann zumeist im zweiten Lebensjahrzehnt. Ca. 85% der dem eigenen Nachwuchs entstammenden EmK-Mitglieder werden bis zum 19. Lebensjahr aufgenommen, nur 2% sind bei der Gliederaufnahme über 30 Jahre.37 Ganz anders sieht die Altersverteilung bei den Zugängen von „außen“ aus. Hier zeigt sich eine stärkere Gleichverteilung über die Lebensjahrzehnte hinweg.38 Methodisten der zweiten Generation vollziehen ihre Entscheidung über Aufnahme oder Nichtaufnahme in die Kirche also ganz mehrheitlich in einer sowohl entwicklungspsychologisch als auch lebensperspektivisch kritischen Umbruchphase. Bei Methodisten der ersten Generation steht hinter dem Schritt in die Kirchengliedschaft dagegen eine lebensgeschichtlich zumeist kontingente Begegnung mit dem Evangelium bzw. mit dessen „Zeugen“. Aus der hier nur skizzierten Lage ergeben sich zwei Konsequenzen. Zum einen führen insgesamt niedrige Aufnahmezahlen im Gegenüber zu zahlenmäßig hohen Abgängen durch Tod zu einem – zwar prozentual geringen, weil bereits Jahrzehnte andauernd, aber signifikanten – Rückgang der Gliederzahlen. Dazu kommt ein psychologisches Moment. Hält man sich weniger die absoluten Aufnahmezahlen pro Jahr in Deutschland als vielmehr die Erfahrungswirklichkeit einzelner Gemeinden vor Auge, dann zeigt sich, dass 39 – wie eine Erhebung in der Norddeutschen Jährlichen Konferenz ergab – manche Gemeinden bzw. Gemeindebezirke über Jahre hinweg nie die Aufnahme eines Kirchengliedes erlebt haben. Die Lebenswirklichkeit von Gemeinden kann in dieser Hinsicht als sehr frustrierend erfahren werden. Dennoch scheint mir die zweite sich aus dem skizzierten Befund ergebende Konsequenz dramatischer, was ihre Bedeutung für das Verständnis von Kirchengliedschaft betrifft. Die sich zwischen Taufe/Einsegnung einerseits und Aufnahme in die Kirchengliedschaft andererseits beim Nachwuchs öffnende Schere trägt maßgeblich zum zahlenmäßigen Wachstum der Gruppe der Kirchenangehörigen bei. Dass diese Entwicklung möglich wurde, hängt mit der faktischen Umwandlung der Stellung des (als Kind getauften) Probeglieds von einem temporären in einen zeitlich unbefristeten Status bereits im 19. Jahrhundert zusammen. In der Praxis kann sich folgendes Bild eines süddeutschen Gemeindebezirks ergeben: Neben 223 Kirchengliedern gibt es 136 Kirchenangehörige, davon 93 Erwachsene. Die Frage, warum 37 38

39

Vgl. ebd. [wie Anm. 2], S. 139f. 19% der von „außen“ kommenden Glieder sind zum Zeitpunkt der Gliederaufnahme bis zu 19 Jahre alt, 33% bis zu 29 Jahre, 23% bis zu 39 Jahre und 14% bis zu 49 Jahre alt; vgl. ebd. [wie Anm. 2], S. 140. Vgl. Berichtsheft zur 10. Tagung vom 18.–23. Juni 2002 in Delmenhorst, hrsg. auf Anordnung der Jährlichen Konferenz, S. 17–153.

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diese 93 Erwachsenen nicht den Schritt in die Gliedschaft der Kirche vollziehen, lässt sich im Moment nicht wirklich fundiert beantworten. Denn in seiner groß angelegten Untersuchung hat Hans-Martin Niethammer Kirchenglieder untersucht, also jene Erwachsenen, die sich in die Kirche aufnehmen lassen haben. Wie aber steht es um die (fehlende) Motivation derer, die sich zu diesem Schritt bislang nicht entschlossen haben? Es ist diese Gruppe, die unser brennendes Interesse verdient. Jedenfalls dürfte die Umwidmung der Kirchenangehörigen in „getaufte“ Glieder (im Unterschied zu den „bekennenden“ Gliedern) zumindest unterschwellig den Eindruck verstärken, dass die EmK zwei theologisch gleichwertige Formen der Kirchengliedschaft kennt. Zwar lässt schon der Begriff „Kirchenangehörige“ keinerlei transitive Bestimmung – im Sinne eines „Katechumenats“ – mehr erkennen, die Tendenz zur Etablierung einer zweiten Gruppe von „Mitgliedern“ liegt jedoch quer zu jeder ekklesiologischen 40 Systematik. Vor allem scheint mir schon aus theologischen Gründen, die sich an der sittlichen Freiheit und religiösen Reife eines Erwachsenen festmachen lassen, eine konsequente Unterscheidung zwischen Kindern und volljährigen Erwachsenen in der Gruppe der wie auch immer bezeichneten „Kirchenangehörigen“ notwendig.

40

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Ich verkenne nicht, dass Knierim, Rolf, Entwurf eines methodistischen Selbstverständnisses, Zürich 1960, S. 27.29 den Versuch unternommen hat, eine solche Systematik zu entwerfen. Er spricht ausdrücklich von einer Kirchengliedschaft im doppelten Sinne: „im Sinne der Gabe und im Sinne der Annahme“, wobei erstere durch die Kindertaufe, letztere durch das Bekenntnis des Glaubens und die Gliederaufnahme konstituiert wird. Beide Formen der Doppelmitgliedschaft – und darauf kommt es mir hier an – möchte Knierim nicht im Sinne einer zeitlichen Abfolge, sondern in „ihrem bleibenden Aufeinanderbezogensein“ verstehen. Tatsächlich ist die zeitliche Abfolge der beiden Formen jedoch konstitutiv für das von Knierim entwickelte Konzept der Doppelmitgliedschaft. Denn bei der Taufe eines Erwachsenen, die stets mit der Aufnahme in die Kirchengliedschaft verbunden ist, kommt die von Knierim behauptete Vorstellung von Doppelmitgliedschaft überhaupt nicht zu Bewusstsein, weil sie auch keinerlei theologisch oder gar empirisch greifbare Gestalt besitzt. Man wird durch Glaubenstaufe und Bekenntnis „einfach“ Mitglied. Dagegen folgen Kindertaufe und Gliederaufnahme immer in einer zeitlich definierten Reihenfolge aufeinander. Knierims Konstruktion scheint mir notgedrungen in den Begriff der Mitgliedschaft eingetragen und wird von ihm m. E. auch nicht überzeugend biblisch-theologisch begründet.

Gemeinschaft in Glaube und Dienst

4 Der Schritt auf die Unverbindlichen zu: Kirche als Gemeinschaft der Gnade bauen Tappen wir also völlig im Dunkeln, wenn wir Schritte auf die „Unverbindlichen“ zu machen wollen? Dabei ist der Begriff „Unverbindliche“ hier zunächst rein deskriptiv gebraucht, insofern diese Personen sich noch nicht im Vollsinn mit der Kirche „verbunden“ haben. Die Dunkelheit lichtet sich m. E. in dem Maße, in dem wir die Erfahrungswirklichkeit in unseren Gemeinden in den Blick nehmen. Dabei gilt weiterhin die Ausgangsvermutung, dass wir es bei den Unentschlossenen mit einer soziologisch heterogenen Gruppe zu tun haben. Die fünf nun folgenden Anregungen gelten daher für unterschiedliche Segmente dieser Gruppe in unterschiedlichem Maße. 4.1 Kirche als Gemeinschaft der Gnade bauen Eine Einladung sollte möglichst präzise benennen, wozu eingeladen wird. Das erwarten wir ganz zu Recht. Auch „Außenstehende“, oder etwas genauer: Menschen am Rande der Gemeinde, haben ein Recht darauf, zu erfahren, in was für eine Gemeinschaft sie eingeladen werden. Dies setzt einerseits Kontaktflächen für Erfahrungsgewinne voraus, andererseits aber auch ein erkennbares Selbstverständnis, eine Identität der Gruppe, die – aus theologisch-geistlichen Motiven, wie ich hoffe – um einen Menschen wirbt. Kirche als Gemeinschaft der Gnade bauen, heißt daher zunächst einmal, die Bausteine zu kennen, die dieser Gemeinschaft ihre unverwechselbare Identität, und das heißt hoffentlich zugleich: ihren einladenden Charakter, geben. Wesley hat wiederholt solche für das Fortbestehen des Methodismus essentiellen Bausteine benannt. In immer wieder leicht veränderten Wendun41 gen zählt er „doctrine“, „discipline“ und „spirit“ dazu. Der erste Punkt erinnert an die Notwendigkeit von Überzeugungen. Es gibt keine methodistische Identität ohne Überzeugungen, wenn sich diese bei Wesley auch nicht auf ein bis in alle Einzelheiten ausgearbeitetes dogmatisches System bezogen, sondern auf den soteriologischen Kerngehalt der biblischen Offenbarung. Die analogia fidei, der sich durch die Bibel ziehende „rote Faden“,

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„I AM not afraid that the people called Methodists should ever cease to exist either in Europe or America. But I am afraid, lest they should only exist as a dead sect, having the form of religion without the power. And this undoubtedly will be the case, unless they hold fast both the doctrine, spirit, and discipline with which they first set out”; Davies, Rupert E. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 9: The Methodist Societies. History, Nature, and Design, Nashville 1989, S. 527.

Der Schritt auf die Unverbindlichen zu

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waren die Erfahrungslehren, also Erbsünde, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Heilsgewissheit, Heiligung und Vollkommenheit. Die den Methodismus tragende Überzeugung ist also die Gewissheit, dass Gott, wie er sich in Christus offenbart und fortwährend im Geist bezeugt, Menschen von der Schuld, der Macht und dem Wesen der Sünde befreit und in das Ebenbild Gottes erneuert in einer Welt, die dazu bestimmt ist, neue Schöpfung zu werden. Der Begriff „discipline“ macht deutlich, dass jede Lehre, um mit Leben erfüllt zu werden, einer äußeren Ordnung bedarf. So wie die gewaltige Energie eines Flusses für uns erst nutzbar wird, wenn sie transformiert und über das Stromnetz in die Steckdose geleitet wird, so wird uns die Kraft des Heiligen Geistes zugänglich in den Ordnungen, die zu einer von Christus bestimmten alltäglichen Lebensführung anleiten. Die seinerzeit wichtigsten hatte Wesley in den „Allgemei42 nen Regeln“ niedergelegt. Doch Lehren und Regeln nutzen nichts, wenn sie nicht im Menschen auf eine Kraftquelle stoßen, die zu einem solcherart konturierten Leben befähigt. Wesley spricht in diesem Zusammenhang von der Erfahrung der Erlösung, aber auch von der Gegenwart des Geistes Gottes, der die hierfür nötige Kraft freisetzt.43 Bausteine methodistischer Identität sind nach Wesley also Überzeugungen, die dem Evangelium entsprechen, Strukturen, die einer Umsetzung des Evangeliums dienen, und eine Praxis, durch die das Evangelium in dieser Welt sichtbare Gestalt gewinnt. Es sind Bausteine, die sich als Gnadenmittel erweisen, Gemeinschaft der Gnade zu bauen. 4.2 Mitgliedschaft für engagierte Kirchenangehörige attraktiv machen Meine erste Anregung weist darauf hin, dass eine Einladung, seine Verbindung mit der Kirche im Glauben begründet festzumachen, auch den Einladenden verändert – durch Reflexion, Korrektur und Erneuerung. Die zweite Anregung verlässt den Raum der Kirche immer noch nicht wirklich, denn uns geht es jetzt um engagierte Kirchenangehörige, d. h. um Menschen, die sich aus lebendiger Glaubensmotivation heraus mit ihren Gaben und Fähigkeiten in den Dienst der Kirche einbringen und am Leben der Gemeinde teilhaben. Aus unterschiedlichen Gründen zögern sie jedoch mit dem Schritt, sich in die Kirche aufnehmen zu lassen. In einem ersten Schritt

42 43

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Vgl. auch Helmut Nausner, Die Bedeutung der Allgemeinen Regeln John Wesleys. Eine Interpretation. In: Mitteilungen 9 (Okt. 1988), S. 4–23. Wesley konnte den genannten Dreiklang unterschiedlich akzentuieren; vgl. ders., Vineyard [wie Anm. 22], S. 503–517.

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sollte geprüft werden, welche praktischen Gründe für eine Aufnahme in die Kirche sprechen. Dabei lassen sich sogleich zwei gegensätzliche Tendenzen feststellen, die den Wert der Kirchengliedschaft gleichermaßen verschleiern. Zum einen ist hinzuweisen auf die Gestaltung der Gemeinde durch eine Vielzahl von informellen Arbeitskreisen und Initiativen, in denen Kirchenmitgliedschaft ausdrücklich keine Voraussetzung zur Mitarbeit ist. So wertvoll diese Offenheit als transitives, also einladendes Moment ist, so „fatal“ ist der entstehende Eindruck: Hier kann ich etwas mit meinem Einfluss bewegen, ohne wirklich dazuzugehören. Warum dann endgültig festlegen? Einen gleichgerichteten Effekt hat ein exklusiv-hierarchisches Modell der Gemeindeführung. Bis in Details der gemeindlichen Praxis hinein werden Entscheidungen von einem exklusiven Kreis „bewährter“ Leiter getroffen, in den es kein Hineinkommen zu geben scheint. Der Eindruck: Hier haben die Mitglieder ja ohnehin nichts zu sagen. Warum dann Mitglied werden? Der Ausweg scheint mir ein Gemeindemodell zu sein, in dem transparente Entscheidungsstrukturen zu einer breiten Beteiligung, damit aber auch höheren Verantwortung der Mitglieder in Zeugnis und Dienst führen. Wie solche Strukturen im Einzelnen aussehen, wird nicht ohne Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse zu entscheiden sein. Zugrunde liegt ihnen jedoch die Vorstellung, dass Gemeindeleitung in erster Linie der Befähigung, Motivation und Stärkung der Mitarbeiter dient, nicht der Verwaltung eines Mitarbeiterpools. Bereits für Paulus bestand die Aufgabe der Leitungsdienste (Apostel, Propheten, Hirten und Lehrer) darin, dass „die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes“, damit der Leib Christi erbaut werde (Eph 4,12). Ein solches Verständnis stärkt die Eigenverantwortung aller Mitarbeitenden und schafft Verbindlichkeit bei gleichzeitiger Offenheit für noch Unentschlossene, an die das Signal ergeht: „Wie ungern verzichten wir auf euch“. Verbleibt man auf dieser praktisch-theologischen Ebene, wird man sich den Vorwurf einhandeln, Kirchenmitgliedschaft sei offensichtlich nichts anderes als die formale Voraussetzung einer stimmfähigen Mitarbeit. Dass dem nicht so ist, machen die Aufnahmefragen in großer Klarheit deutlich. Ihr theologischer Sachgehalt macht es notwendig, auch den zweiten Schritt, das Darlegen der theologischen Gründe für eine verbindliche Mitgliedschaft, zu gehen. Denn die Beantwortung der Aufnahmefragen ist ein Schritt, der in geistlicher Reflexion und auf der Basis theologischer Grundinformation vollzogen werden sollte. Man wird daher zunächst biblisch-theologisch der Frage nachgehen müssen, was gemeint ist, wenn Paulus die Gemeinde als

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„Christi Leib“ (1Kor 12,27)44 und „Gottes Tempel“ (1Kor 3,16) bezeichnet, oder wenn der 1. Petrusbrief die Christen als „das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk“ bezeichnet (2,9). Man wird von hier aus weiterfragen, was diese biblischen Metaphern für die Wirklichkeit der Kirche Jesu Christi heute bedeuten. Dietrich Bonhoeffer hat das, wie er es nennt, „strukturelle Miteinander“ und „Füreinander der Glieder“, wie es sich aus der Vorstellung von Kirche als „Leib Christi“ ergibt, sehr schön anhand der Begriffe Glaube und Liebe entfaltet: Glaube ist das glaubende Verhalten zu Gott und seiner Herrschaft; ist das Empfangen dieser Herrschaft für mich selber. Liebe ist das glaubende Verhalten zum anderen; ist Empfangen der Herrschaft Gottes für den anderen. Glaube und Liebe sind die Strukturgestalten der Gemeinde (vertikal und horizontal). Sie sind getrennte Funktionen einer Wirklichkeit. Glaube ist Einheit, Liebe ist Gemeinschaft.45

Der Herrschaftswechsel, von dem bereits Paulus in Röm 6 spricht, gewinnt äußerlich nicht zuletzt in der Eingliederung in den Leib Christi sichtbare Gestalt. Dies bedeutet nun gerade keine Abschottung von der Welt, sondern ist Voraussetzung für die überzeugende Bezeugung des universalen Heilswillens Gottes. In Pannenbergs Worten: Die christliche Kirche bezeugt als eschatologische Gemeinde den über sie hinausgehenden, auf die ganze Menschheit gerichteten Heilswillen Gottes in Christus, und sie bezeugt ihn gerade dadurch, daß die Glaubenden in ihr zur in Christus begründeten Gemeinschaft zusammengefaßt werden.46

Wer daher aus einer bewussten Glaubensentscheidung nicht auch die Konsequenz einer bewussten Teilhabe am Leib Christi zieht, verdunkelt die Absicht Gottes, wenn die Zeit erfüllt ist, „dass alles zusammengefasst [d. h. unter seiner Herrschaft vereint] würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist" (Eph 1,10). 4.3 Taufe als Band der Liebe knüpfen Die soweit genannten Punkte dürften bestenfalls solche Kirchenangehörigen tangieren, die regelmäßigen Kontakt zu einer Gemeinde haben, sogar in ihr mitarbeiten, ohne den Schritt in die Kirchengliedschaft zu wagen. Was 44 45 46

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Vgl. Walter, Matthias, Gemeinde als Leib Christi. Untersuchungen zum Corpus Paulinum und zu den „Apostolischen Vätern“, Göttingen 2001. Bonhoeffer, Dietrich, Das Wesen der Kirche. Aus Hörernachschriften zusammengestellt und herausgegeben von Otto Dudzus, München 1971, S. 61 (Hervorhebung von mir). Pannenberg, Wolfhart, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, S. 495.

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ist aber nun mit Kirchenangehörigen, die keine Verbindung (mehr) zu ihrer Kirche haben? Zunächst ist daran zu erinnern, dass sie eine Verbindung zu ihrer Kirche haben: die an ihnen als Kind vollzogene Taufe. Unabhängig davon, welche soteriologische oder ekklesiologische Bedeutung der Kindertaufe zugesprochen wird, Tatsache ist, dass die methodistische Taufpraxis ein festes Band zwischen (unmündigem) Täufling und der Gemeinde schon dadurch knüpft, dass sie die Gemeinde als kollektiven Taufpaten in Anspruch nimmt.47 Dabei vernimmt die Gemeinde explizit ihren Auftrag, „[den Täufling] durch Wort und Beispiel im Glauben an Jesus Christus zu unterweisen, für ihn/sie zu beten und ihn/sie auf seinem/ihrem Weg zu begleiten“48. Es liegt auf der Hand, dass diese gemeinschaftliche Verpflichtung nur dann nicht dem kollektiven Vergessen anheimfällt, wenn das durch die Taufe geknüpfte Band sehr konkret sichtbar gemacht wird. Theologisches Leitmotiv wird die Liebe Gottes sein, die gerade denen gilt, die am Rand (auch der Gemeinde) stehen und in die Gemeinschaft mit Christus eingeladen werden sollen. Auf der praktisch-theologischen Ebene bieten sich Programme zur Begleitung getaufter Kinder in den ersten Lebensjahren an, wie z. B. das „trip trap“-Programm, das auf dem Versand – besser noch der persönlichen Übergabe – eines Pakets mit altersgerecht zugeschnittenen Materialien zur christlichen Erziehung beruht. Mir scheint das Verheißungsvolle dieses Programms darin zu liegen, dass das Überbringen der Pakete an die Eltern des Täuflings implizit die „Geh-Struktur“ einer missionarischen Kirche widerspiegelt. Nicht noch mehr Gemeindeprogramm, das an den „Randsiedlern“ vorbeigeht, sondern ein bewusstes zu ihnen Hingehen. Meines Erachtens gehört gerade zur Begleitung getaufter Kinder die bewusste Tauferinnerung. Vermutlich aus – einer durchaus verständlichen – Angst vor einer sakramentalistischen Überhöhung der Taufe ist diese Überlegung in der deutschen EmK bislang kaum auf Resonanz 49 gestoßen. Es ist hier nicht der Raum für weitergehende praktisch-theologische Überlegungen. Wichtig scheint mir allerdings die religionspsychologisch relevante und ekklesiologisch grundlegende Frage, ob das Erreichen der religiösen Mündigkeit etwas im Verhältnis der Kirche zum getauften Kir-

47 48 49

Vgl. Agende [wie Anm. 26], S. 59. Ebd. [wie Anm. 26], S. 64. Der Gedanke der Tauferinnerung ist freilich im Bundeserneuerungsgottesdienst impliziert, kommt nach meiner Erfahrung jedoch kaum zur Sprache; vgl. ebd. [wie Anm. 26], S. 79.

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chenangehörigen verändert.50 Mindestens zwei Beobachtungen sprechen dafür. Zunächst impliziert die prinzipielle Verknüpfung von elterlichem Taufbegehren für das Kind einerseits und der Verpflichtung der Eltern sowie der gesamten Gemeinde auf eine christliche Erziehung andererseits, dass Gottes Gegenwart in von der Gnade strukturierten Kontexten – wie Familie und Kirche – erfahrbar wird. Obwohl mit dieser Einsicht das Wirken Gottes auf anderen Wegen nicht ausgeschlossen ist – und theologisch betrachtet um der Freiheit Gottes willen auch gar nicht ausgeschlossen werden kann –, tauft die Evangelisch-methodistische Kirche Kinder nur, „wenn die christliche Unterweisung des Täuflings zu erwarten ist und die Eltern die feste 51 Absicht bekunden, ihr Kind im christlichen Glauben zu erziehen“ . Aus der hier postulierten Überzeugung, dass Taufe und Unterweisung wie die zwei Seiten einer Medaille zusammengehören, ergibt sich folgerichtig die Einsicht, dass das Heraustreten aus dem primären Sozialisationsfeld der elterlichen Familie auch einen veränderten ekklesiologischen Status zur Folge haben muss. Dies gilt nicht nur dann, wenn ein religionsmündig gewordener Täufling – gewissermaßen natürlicherweise – das Sozialisationsfeld der Familie verlässt, sondern gerade auch dann, wenn er – was die Taufe eben nicht magisch verhindert – das Sozialisationsfeld der Gemeinde meidet. Damit ist bereits die zweite einschlägige Beobachtung angedeutet. Die Taufe zielt auf die bewusste Entscheidung des Menschen, sein Leben von der in der Taufe zugesprochenen Gnade her bestimmen zu lassen und in Gemeinschaft mit Christus zu leben. Zielt die Taufe ihrem soteriologischen Gehalt nach auf ein Ja des Täuflings, so bleibt doch festzuhalten, dass der Taufakt dieses Ja nicht ex opere operato herbeiführt und es deshalb – formal gesehen – auf eine Entscheidung überhaupt ankommt. Mit der Rede von der Glaubensentscheidung des sittlich mündigen Täuflings, die in der Regel mit der Aufnahme in die Gliedschaft der Kirche einhergeht, ist freilich nicht behauptet, das Glaubensleben des Täuflings beginne erst in „reifem“ Alter. Es ist heute weithin unbestritten, dass bereits Kinder ihrer Entwicklungsstufe adäquate Glaubensschritte zu tun vermögen, sowohl was das Verstehen als

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Mündigkeit bezeichnet hier die Fähigkeit und Bereitschaft, „als sozial-sittlichpersönliches Wesen“ verantwortlich zu handeln, ist also Ausdruck der moralischen Selbstbestimmung eines Menschen; vgl. Langeveld, Martinus, Einführung in die theoretische Pädagogik, Stuttgart 1969, S. 79. Die individuelle religiöse Mündigkeit lässt sich nicht wie für den Gesetzgeber auf das Erreichen des 14. Lebensjahres fixieren, sondern kann durchaus als Prozess verstanden werden, der sich innerhalb eines bestimmten Zeitfensters vollzieht. Agende [wie Anm. 26], S. 59.

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auch was die Handlungsorientierung angeht.52 Dennoch schließt erst die mündig vollzogene Glaubensentscheidung die explizite Bereitschaft zur Übernahme von sehr konkret definierter Gemeinschaftsverantwortung ein, wie sie sich aus der bewussten Annahme des Taufbundes ergibt. Diese Dimension der Glaubensentscheidung ist folgerichtig in den bei Aufnahme in die Gliedschaft der Kirche zu beantwortenden Fragen thematisiert. Ausgehend von diesen Überlegungen stellt sich sehr konkret die Frage, ob von einem erwachsenen Menschen erwartet werden kann, sich innerhalb eines durchaus großzügig bemessenen Zeitfensters, sagen wir: bis Vollendung des 21. Lebensjahres, in seinem Verhältnis zur Kirche zu erklären. Wie erwähnt, hatten sich 85% der aus dem Nachwuchs stammenden Mitglieder bis zum 19. Lebensjahr in die Kirche aufnehmen lassen. Das Zeitfenster schließt sich also auch empirisch ungefähr am Beginn des 3. Lebensjahrzehnts. Ekklesiologisch könnte es mit der Aufnahme in die Kirchenglied53 schaft oder die Aufnahme in den Freundeskreis der Kirche enden. Dabei wiegen die sich möglicherweise in der Praxis ergebenden Bedenken deutlich geringer als das theologische Problem, einen Weg finden zu müssen, der das unwiderruflich bestehende Band der Taufe erkennbar bleiben lässt.54 Die Begleitung inaktiver Kirchenangehöriger schließt idealerweise also beides ein: das geduldige, liebevolle Nachgehen, aber auch die Ermutigung zu einer Entscheidung hinsichtlich des kirchlichen Status, einer Entscheidung, die ja nicht End-, sondern Wegstation ist. 4.4 Einstellungen und Erwartungen der Randsiedler erforschen Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass gerade die Gruppe der inaktiven Kirchenangehörigen, deren Erfahrungen, Einstellungen und Bedürfnisse uns am meisten interessieren müssten, kaum erforscht ist. Der Mangel an statistisch erhobenem Wissen kann jedoch neu die Notwendigkeit vor Au52

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Vgl. Bridger, Francis, Wie Kinder glauben. Entwicklungsstufen und Glaubensschritte. Wachstum ohne Manipulation, 3. Aufl. Winterthur/Marienheide 2003. Bridger bezieht neben den Überlegungen James Fowlers vor allem die Konzeption der religiösen Entwicklung nach John Westerhoff ein; vgl. Westerhoff, John, Will Our Children Have Faith?, New York 1976, bes. S. 91–103. In methodistischer Tradition hat sich J. W. E. Sommer mit der religiösen Entwicklung, und dabei auch konkret mit der Frage von „Kinderbekehrungen“, beschäftigt; vgl. Wege zur Kinderseele, Frankfurt am Main 1962, bes. S. 67–112. So auch Borgen, Ole, Taufe, Konfirmation und Mitgliedschaft in methodistischem Verständnis, hrsg. vom Rat der methodistischen Zentralkonferenzen in Europa, o. O., o. J. [1970], S. 52. Diese Überlegung hat Prof. Dr. Manfred Marquardt im persönlichen Gespräch geäußert.

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gen stellen, den Kontakt zum Einzelnen zu suchen. Im Angesicht dauerhafter Passivität erwachsener Kirchenangehöriger (und jetzt auch: Mitglieder) könnte man ein Ziel solcher Bemühungen folgendermaßen formulieren: Wenn ihr unsere (hoffentlich begründeten) Erwartungen ständig zurückweist, dann wollen wir zumindest immer wieder eure Erwartungen an uns hören. Auch diese Seite der Begleitung der „Unverbindlichen“ sollte, über den Dienst Einzelner hinaus, strukturaler Bestandteil der Gemeindearbeit werden. Einerseits sendet die Gemeinde damit das (hoffentlich ernst gemeinte) Signal aus: Ihr seid uns wichtig! Ihr fehlt uns! Vielleicht ergibt sich im Einzelfall sogar ein Gesprächsprozess. Andererseits markiert das Einholen (und sorgfältige Prüfen) von Erwartungshaltungen gegebenenfalls den Tiefpunkt denkbarer Passivität, denn wer nicht einmal mehr bereit ist, Erwartungen zu formulieren, ist nicht wirklich am Kontakt zur Gemeinde interessiert. Eine Beendigung des Mitgliedschaftsstatus wäre kein Akt der Lieblosigkeit, sondern der Ehrlichkeit. Diese Ehrlichkeit schließt allerdings auch einen unverstellten Blick auf die Situation und das Außenbild der Gemeinde ein. Dass eine einzelne Gemeinde in einer pluralisierten Lebenswelt nicht den Erwartungen aller entsprechen kann, versteht sich von selbst. Welchen Erwartungen sie entsprechen kann, weiß eine Gemeinde allerdings erst, wenn sie sich kritisch wahrnimmt und bewusst an einem Profil, Leitlinien oder einer Gemeindevision arbeitet. Die bewusste Selbstwahrnehmung eröffnet dann auch die Freiheit, um angesichts gänzlich anderer Erwartungen gegebenenfalls eine andere Gemeinde bzw. Kirche zu empfehlen. 4.5 Gemeinden gründen Die Anregung, neue Gemeinden zu gründen, mag in diesem Zusammenhang überraschen. Tatsächlich jedoch ermöglicht dieser Schritt nicht nur das Zugehen auf bislang vom Evangelium unerreichte Menschen, sondern als Synergieeffekt oft auch die Aktivierung bzw. Reaktivierung verschütteten Mitarbeiterpotentials. Aufbruchphasen ermöglichen es in einem ungleich stärkeren Maße, als dies in länger bestehenden Gemeinden der Fall ist, ungebremst kreativ zu werden, die Gedanken auch einmal unkontrolliert schweifen zu lassen, Fehler zu machen, ohne dass es sofort zum ultimativen Zerbruch des Projekts kommt. Gemeinsames Engagement schafft enge Kontaktfelder, eine gemeinsame Vision schweißt zusammen. Neue Strukturen brechen sich Bahn und bislang Unerprobtes nimmt Gestalt an. Natürlich entsteht auch hier keine ideale, sondern einfach eine neue Gemeinde. Dass enge persönliche Beziehungen Spannungen hervorrufen, ist genauso

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bekannt wie die Tatsache, dass die Dynamik junger Gemeinden nach den ersten Jahren abnimmt. Aber all dies spricht nicht dagegen, neue EmKGemeinden zu gründen.

5 Auf dem Weg der Verbindlichkeit – der Kirche treu bleiben Es gehört nicht zu den Problemen der EmK, dass ihr die Mitglieder (und Angehörigen) durch Austritt verloren gingen. Das größere Problem scheint darin zu bestehen, dass der Erwartung einer auf Dauer angelegten verbindlichen Mitgliedschaft teilweise mit Skepsis oder sogar Ablehnung begegnet wird. Die kürzlich im Rahmen einer Diskussion zur Gemeindearbeit in veränderter Berufs- und Freizeitwelt heftig debattierte Frage, ob wir am Ideal des treuen Gottesdienstbesuchers festhalten sollten, belegt die sich auch in der Kirche vollziehende Ausdifferenzierung der Positionen.55 Vor allem von Seiten derer, die – mit soziologischen, seltener mit theologischen Argumenten – gegen dieses Ideal opponieren, wird häufig darauf hingewiesen, dass sich die Zeiten geändert hätten. Allerdings muss doch zurückgefragt werden, was genau sich an den Zeiten geändert hat. Ich wage noch einmal einen Blick auf die ersten zwanzig Jahrgänge der Wächterstimmen (1870–1890) und fasse die Gründe zusammen, die man damals für die mangelnde Verbindlichkeit des eigenen Nachwuch56 ses fand. Zunächst entdeckte man, dass Jugendliche Formen von Unterhaltung und Vergnügen suchen, zu denen die Älteren – aus geistlicher Überzeugung oder auch altersbedingt – keinen Zugang fanden. Verwiesen wird weiterhin auf die wachsende Mobilität der Jugendlichen, denn schon im 19. Jahrhundert war es nicht ungewöhnlich, den elterlichen Wohnsitz z. B. für eine Ausbildung verlassen zu müssen. Häufig, so wurde beklagt, sei am neuen Wohnort keine methodistische Gemeinde vorhanden und der Kontakt gehe verloren. In Rechnung gestellt wurde ferner der glaubenskritische Einfluss der öffentlichen Meinung, und es gehört nicht viel dazu, in diesen Faktor auch das Problem des „peer pressure“, also des prägenden Einflusses Gleichaltriger, hineinzulesen. Außerdem wird auf die mangelnde geistliche 55 56

Vgl. podium 40 (2002), S. 5–8 sowie die Leserbriefe in den folgenden Ausgaben. Vgl. „Welche Gefahren sind mit dem Streben, unsere Kinder für unsere Kirche zu sichern, verbunden. Und wie kann solches erreicht werden, ohne daß wir jenen Gefahren erliegen?“ In: Wächterstimmen 1 (1870), S. 15-20; C. H. Doering, „Welche Mittel können wir anwenden, die Kinder unserer Glieder unserer Kirche zu erhalten?“ In: Wächterstimmen 6 (1876), S. 67–71; H. Welti, „Ursachen so weniger Bekehrungen unter unseren Sonntagsschülern“. In: Wächterstimmen 18 (1888), S. 137–140.

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Prägekraft des Elternhauses verwiesen. Dieser Mangel schien häufig die Folge gegensätzlicher Sozialisationsimpulse zu sein, wenn sich z. B. die Mutter bewusst der Methodistenkirche angeschlossen hatte und der Vater dagegen polemisierte. Schließlich wird selbstkritisch das in vielen Gemeinden fehlende Verständnis für Kinder genannt. Kinder sollten gesehen, aber nicht gehört werden. Überblickt man diese Aufzählung, dann empfindet man unwillkürlich eine gewisse „Gleichzeitigkeit“. Natürlich haben sich Probleme verschoben, verändert, verschärft – oder auch entschärft, z. B. was die kirchliche Wahrnehmung von Kindern angeht. Unbestrittenermaßen stellt gerade die Auflösung der konfessionellen Sozialmilieus, die ja Ausdruck tief greifender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ist, einen massiven soziologischen Einschnitt im religiösen Selbstvollzug der beiden großen Konfessionen dar. Aber im soziologischen Sinne „moderne“ Verhältnisse, die sich nach Franz Xaver Kaufmann dadurch auszeichnen, dass ihre Änderbarkeit und damit 57 Vergänglichkeit immer schon in ihrer Definition mitgedacht wird, herrschen nicht erst seit den Umbrüchen der späten 1960er Jahre. Methodisten erlebten ihren Glaubensvollzug auch innerhalb der früher bestehenden konfessionellen Milieus als Kontrastverhalten und sahen z. B. in der Tatsache, dass bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts 13–15% aller evangelischen Landeskirchler regelmäßig den Gottesdienst besuchten (im Unterschied zu durchschnittlich gut 3% heute), keinen Anlass zum Jubel, sondern Ansporn zu missionarisch-diakonischer Arbeit, um auch die übrigen 85% nominell evangelischen Christen mit dem Evangelium in Berührung zu bringen. Freiwilligkeitskirchliche Identität ist unaufhebbar mit dem Moment der Verbindlichkeit verwoben. In einer postchristlichen Gesellschaft wirkt der Anspruch verbindlich gelebten Christseins freilich doppelt ärgerlich, denn er wird nicht allein gegenüber einer säkularisierten Umwelt, sondern (zumindest implizit) immer auch gegenüber einer sich selbst säkularisierenden Volkskirche vorgetragen. Überblickt man den Zeitraum der mehr als 150-jährigen Präsenz methodistischer Gemeinden in Deutschland, dann ergeben sich die mit den Modernisierungsprozessen der Gegenwart verbundenen Herausforderungen an die kirchliche Arbeit der EmK weniger aus den Veränderungen der Lebenswelt. Im Gegenteil, Freikirchen sind ohne bestimmte neuzeitliche Wandlungsprozesse kaum denkbar – ich nenne hier nur das für die Ausbreitung des Methodismus in Europa wichtige Stichwort „Mission durch Mig57

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Kaufmann, Franz Xaver, Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen 1989, S. 46.

Gemeinschaft in Glaube und Dienst

ration“. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, dass sich innerkirchlich die Lebens- und Glaubensweisen immer stärker pluralisieren und es dabei häufig zu einer nur noch „partiellen Identifikation“ (D. Seeber) mit der befreienden Botschaft des Evangeliums kommt. Der Anspruch des Evangeliums soll hier, und darin liegt das Problem, mit dem als gleichgewichtig oder gar höher bewerteten Anspruch eines selbstbestimmten Lebensentwurfs vermittelt werden. Es ist dabei vor allem der formale Modus der Übernahme von Werten, der hier einer Neujustierung unterworfen wurde, insofern das eigene Gewissen zur wenn nicht einzigen, so doch letztgültigen 58 Entscheidungs- und Bewertungsinstanz wird, wobei hier nun – anders als noch z. B. bei Luther oder den freikirchlichen Dissenters – nicht mehr das im Wort Gottes „gebundene“ Gewissen gemeint ist. Den für diese Grundorientierung in der sozialwissenschaftlichen Forschung verwendeten Begriff der „Selbstreferenz“ hat Franz Xaver Kaufmann durch eine geringfügige Lautveränderung in „Selbstreverenz“ umgedeutet, womit er diesen Modus der Selbstbezüglichkeit als eine „neue Form der Religiosität“ deuten möchte.59 Man wird hier, ohne Beschuldigungen aussprechen zu wollen, zumindest von einer subtilen Gefahr sprechen können. Der „moderne“ Trend, Partnerschaften, aber eben auch Mitgliedschaften de facto auf Zeit einzugehen,60 lässt sich mit der Einladung des Evangeliums, in der bedingungslosen (und damit auch in zeitlicher Hinsicht vorbehaltlosen) Hingabe an Jesus Christus zur wirklichen Freiheit durchzustoßen (Joh 8,36), nicht ohne Weiteres vermitteln. Dass die Einladung in die Nachfolge einen „radikalen“ Anspruch impliziert, ist offenkundig. Dass diese Einladung aber mit der Verheißung verbunden ist, durch Glauben an der Treue und Verbindlichkeit Gottes teilhaben zu dürfen, erst dies verleiht der Einladung eine befreiende Radikalität. Es kann unmöglich darum gehen, dem Lockruf in eine verklärte Vergangenheit zu folgen, sondern allein darum, sich im Wandel der Zeit immer wieder neu der Frage zu stellen, in welcher Weise den befreienden Bindekräften des Evangeliums Raum gegeben werden kann. Um es hier nur an einem konkreten Punkt festzumachen: In welcher Weise könnten Kirche und Gemeinde dem Trend zu projektbezogenem, zeitlich begrenztem Engagement entsprechen, ohne dabei den vorbehaltlos umfassenden Anspruch des Evangeliums zu fragmentieren und so zu relativieren? Eine Kirchenmit58 59 60

Vgl. Kaufmann, Religion und Modernität [wie Anm. 57], S. 168ff. Ebd. [wie Anm. 57], S. 170. Zur Bedeutung von Individualisierungsprozessen für die Kirche vgl. Huber, Wolfgang, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, S. 86–96.

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gliedschaft „auf Zeit“ verbietet sich aus grundsätzlichen theologischen Erwägungen, denn die Kirchengliedschaft ist kein „Projekt“, sondern die ekklesiologisch konkrete Gestaltwerdung einer Glaubenserfahrung, die im öffentlichen Bekenntnis des Glaubens an Jesus Christus als Herrn und Erlöser, der vorbehaltlosen Absage an das Böse und der erklärten Bereitschaft zur Christus-Nachfolge bezeugt wird. Eine Kirchengliedschaft „auf Zeit“ kann es daher genauso wenig geben wie eine Hingabe an Jesus Christus mit Rückzugsklausel. Raum für strukturelle Innovation ist jedoch unterhalb dieser Ebene, was z. B. die Gestaltung kirchlicher Dienste angeht. Man bedenke etwa die Überlegung, Dienste in der Gemeinde jeweils für den Zeitraum 61 eines Jahres zu vergeben. Leider ziehen viele Gemeinden diese Überlegung mit Blick auf die angespannte Mitarbeitersituation erst gar nicht in Betracht, weil sie froh sind, die wichtigsten Dienste abdecken zu können, und ihnen nur zu hoffen bleibt, dass niemand unerwartet ausfällt oder „abspringt“. Tatsächlich könnte die zeitlich begrenzte Dienstübernahme, die sinnvollerweise mit einer Mitarbeitersegnung im Gottesdienst eingeleitet werden sollte, Unentschlossene ermutigen, Experimentierfreudige zum Zuge kommen lassen und gleichzeitig die Möglichkeit der Kontinuität wahren, denn der jährliche Wechsel der Dienstbereiche von Mitarbeitern wird durch diese Praxis genauso wenig zur Regel werden wie der jährliche Wechsel in der Dienstzuweisung des Pastors auf einen Gemeindebezirk. Damit die strukturelle Vitalität und Dynamik einer modernen Ansprüchen gegenüber offenen Kirche nicht zu Konturlosigkeit führt, bedarf es einer gleichzeitigen inhaltlichen Profilierung. Dieser Profilierungsprozess dürfte sich angesichts der innerkirchlichen Pluralität als kein ganz einfacher Weg erweisen, doch scheint sich seit einigen Jahren wieder stärker die Einsicht durchzusetzen, dass der Brennpunkt methodistischen Selbstverständnisses und Ausdruck der „historischen Mission“ des Methodismus die Erneuerung des Menschen in das Ebenbild Gottes und damit die Hingabe an Gott für den Dienst in der Welt ist, nichts anderes also, als Wesley mit dem 62 Begriff Heiligung bezeichnete. Dieser Begriff ist in Lehre und Verkündigung stets aufs Neue zu profilieren und – wichtiger noch – zu leben.63

61 62 63

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Vgl. Mathison, John Ed, Tried & True. Eleven Principles of Church Growth from Frazer United Methodist Church, Nashville 1992, S. 73-87. Mit Blick auf die im Book of Discipline niedergelegte methodistische Lehre hat dies Scott J. Jones dargelegt; vgl. United Methodist Doctrine. The Extreme Center, Nashville 2002. Nach wie vor überzeugend in der Analyse ist Lindström, Harald, Wesley und die Heiligung. Mit einem Vorwort von Carl Ernst Sommer, Stuttgart 1982. Eine in der Sprache zeitgemäße, in der Sache jedoch herausfordernde Predigtreihe zum Thema Heiligung

Gemeinschaft in Glaube und Dienst

Treue zur Kirche bezeichnet damit eine sichtbare Facette der Treue gegenüber dem Herrn der Kirche. Er beruft uns zum Glauben, er befähigt zum Dienst; er baut Gemeinschaft des Heiligen Geistes (2Kor 13,13). Folglich gehört die Mitgliedschaft in der Kirche zur sichtbaren Gestalt der vom Heiligen Geist ermöglichten verbindlichen Christus-Nachfolge.

bietet David Wilkinson in seinem Buch A Holiness of the Heart. When God Invades Your Private Life, London 2000.

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Das Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde Reflexionen zur freikirchlichen Identitätssuche aus methodistischer Perspektive 1 Einleitung 1896 veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller Harold Frederic seinen Roman The Damnation of Theron Ware.1 Protagonist der Handlung ist der methodistische Pastor Theron Ware, dem sein Bischof im ausgehenden 19. Jahrhundert einen ländlichen Gemeindebezirk im US-Bundesstaat New York zuweist. Die Gemeinde steht für ein Ethos, das die erwecklichen Wurzeln des Methodismus durch die gesellschaftlichen Umbrüche der Zeit hindurch zu bewahren sucht und Gleiches auch von ihrem Pastor, immerhin ein begabter junger Prediger, erwartet. Theron Ware jedoch macht Bekanntschaft mit Father Forbes, dem freigeistigen römisch-katholischen Priester des Ortes, sowie mit der ebenso bezaubernden wie wohlhabenden jungen Celia Maddon, die ihn – wie sie es versteht – aus der Verknechtung des jüdischen Geistes in die Freiheit des griechischen Geisteslebens führen möchte, während Ware, sich seiner Ehefrau zunehmend entfremdend, Celia in blinder Liebe verfällt und immer tiefer in den Strudel von Haltlosigkeit und Heuchelei hineingezogen wird. Der Roman liest sich wie die Illustration zu einer Sozialgeschichte des – nicht nur – amerikanischen Erweckungschristentums. Prägnant zeichnet der Autor nach, wie sich eine Gemeinschaft aus der vom Feuer der Erweckung getragenen Opposition gegenüber der sündigen Welt in Richtung einer gesellschaftlich anerkannten Kirche entwickelt. Dieser Prozess vollzieht sich durch weitreichende innere Spannungen und Verwerfungen hindurch. Theron Wares Landgemeinde sucht von den gesellschaftlichen Umbrüchen unberührt zu bleiben, während der Pastor der Gemeinde sich im Verborgenen den Einsichten der religionsgeschichtlichen Schule und den ästhetischen Verlockungen der weltlichen Kunst, mithin des leibhaftigen Eros, öffnet. Darin verliert er schließlich jeden Halt. Vieles, was Harold Frederic in seinem Buch schildert, lässt sich als narrativer Vorgriff auf die wenige Jahre 1

Frederic, Harold, The Damnation of Theron Ware, New York 1896. Ich danke David Jenkins von der Baylor University, Waco (Texas) für den Hinweis auf dieses Buch.

Einleitung

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später erschienene Sozialgeschichte des Christentums von Ernst Troeltsch lesen.2 Ich möchte im Folgenden die These begründen, wonach sich Spannungsverhältnisse zwischen Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde in Freikirchen als Ausdruck von Wandlungsprozessen auf dem Weg von einer – sozialgeschichtlich gesprochen – Sekte zur Kirche verstehen lassen, genauer noch: von einer eher gegenüber der Umwelt oppositionellen zu einer gesellschaftlich anerkannten Religionsgemeinschaft (1). Dies werde ich exemplarisch erläutern, indem ich den Wandel im Taufverständnis (2) und die Bedeutung einer wissenschaftlichen Predigerausbildung im Methodismus (3) in das Spannungsgefüge von kirchlichem Leitungsamt, Theologie und Gemeinde(basis) einzeichne, bevor ich die Einflussmöglichkeiten der Gemeindebasis gegenüber Theologie und Leitungsdiensten zeige (4) und mit einer Zusammenfassung schließe (5).

2 Spannungsverhältnisse in sozialgeschichtlicher Perspektive Troeltsch hat versucht, den Begriff der Sekte von seinen negativen Konnotationen zu befreien und ihn als Gemeinschaftstypus dem Begriff der Kirche gegenüberzustellen. Es kann hier nicht darum gehen, diese Typologie (zu der als dritte Größe die Mystik hinzutritt) in ihrer sozialgeschichtlichen Genese, wie Troeltsch sie sieht, im Einzelnen nachzuzeichnen. Ich beschränke mich auf einige wenige Beobachtungen, die für unsere Frage von Bedeutung sind. Grundlegend für seine Typologie ist die Auffassung, dass die Kirche in einem positiven Verhältnis zur Welt steht, während die Sekte eine distanzierte bis ablehnende Haltung gegenüber der Umwelt zeigt. Die Unterscheidungsmerkmale von Kirche und Sekte sind letztlich Manifestationen dieser grundlegenden Verhältnisbestimmung. So ruht der „objektive 3 anstaltliche Charakter“ der Kirche auf der Trias von Tradition, Priestertum und Sakrament. In diesen Bezugspunkten für den Glauben ist die Überzeugung gesichert, das Geschenk der Erlösung zu besitzen und zur Geltung zu bringen. Dabei sieht Troeltsch eine Tendenz der Kirche in dem „Bedürfnis, große Massen zu beherrschen und darum die Welt und die Kultur zu bewältigen“.4 Demgegenüber bestimmt er als Grundkennzeichen der Sekte das „Laienchristentum, die persönliche ethisch-religiöse Leistung, die radikale 2 3 4

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Troeltsch, Ernst, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 2 Bde., Neudruck der Ausgabe Tübingen 1912, Tübingen 1994. Ebd. [wie Anm. 2], S. 371. Ebd. [wie Anm. 2], S. 368.

Das Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde

Liebesgemeinschaft, die religiöse Gleichheit und Brüderlichkeit“ u. a.5 Die Zugehörigkeit zur Sekte gründet in der freiwilligen Entscheidung, die durch Bekehrung und Glaubenstaufe markiert wird. Damit verbindet sich eine kritische Einstellung zur Praxis der Säuglingstaufe und ein distanziertes Verhältnis zur akademischen Theologie. Die Sekte lebt nicht, wie Troeltsch formuliert, „von dem Wunder der Vergangenheit und nicht von dem Wundercharakter der Anstalt, sondern von dem immer neuen Gegenwartswunder und der subjektiven Wirklichkeit der persönlichen Lebensleistung“.6 Diese Überlegungen Troeltschs lassen sich nicht unvermittelt auf die Freikirchen übertragen. Dazu ist das Phänomen Freikirche selbst zu vielgestaltig. Dennoch besteht das im Begriff angezeigte Einigungsmoment im Gegenüber zu einer etablierten, staatlich privilegierten Gestalt von Kirche, der gegenüber auf die Freiheit von staatlicher Einflussnahme und die Legitimität der selbst gewählten Gemeinschaftsgestalt abgehoben wird. Das Ergebnis kann vielgestaltig ausfallen, wie allein der Blick auf den deutschen Sprachraum zeigt: Neben (wenigen) Freikirchen mit einer zentralistischen Struktur (Heilsarmee, Evangelisch-methodistische Kirche) stehen unabhängige, nur über Netzwerke verbundene Gemeinden (Hauskirchenbewegung, Konferenz für Gemeindegründung). Dazwischen finden sich Freikirchen, die das Konzept der Verbundenheit selbständiger Gemeinden vertreten (wie der Bund Freier evangelischer Gemeinden und der Bund Evangelischfreikirchlicher Gemeinden). Dennoch lassen sich sozialgeschichtliche Entwicklungen aufzeigen, die dem Muster folgen, wonach eine in erwecklichen Aufbrüchen gründende Gemeinschaft – die in ihrem Weltverhältnis distanziert ist – zunehmend „verkirchlicht“, was dazu führt, dass sich an ihren Rändern neue Gruppen bilden, die über kurz oder lang derselben Tendenz folgen usw. Spannungen zwischen Leitungsämtern, Theologie und Gemeinde brechen unter anderem dadurch auf, dass sich der bezeichnete Prozess auf den verschiedenen Ebenen in unterschiedlicher Geschwindigkeit und im Kontext einer sich beschleunigenden Binnenpluralisierung vollzieht. Schauen wir uns einige dieser Entwicklungen an, wie sie im Methodismus exemplarisch sichtbar werden. 2.1 Fallstudie: Das Verhältnis von Taufe und Bekehrung Wenn für Troeltsch das Sakramentsverständnis ein zentraler Prüfstein dafür ist, wie eine Gruppe in der Typologie von Sekte und Kirche zu verorten sei, 5 6

Ebd. [wie Anm. 2], S. 370. Ebd. [wie Anm. 2], S. 376.

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dann dürfte es lohnend sein, sich die Bestimmung des Verhältnisses von objektiver Wirkung des Sakraments und subjektiver Wirklichkeit erfahrener Bekehrung im Methodismus anzusehen. Der anglikanische Priester John Wesley, der keine Absicht hegte, eine methodistische Kirche zu gründen, hielt gut „kirchlich“ an der Praxis der Säuglingstaufe fest, und predigte, im Sinne der Erweckung, zugleich die Notwendigkeit einer geistlichen Neugeburt. Auf diese Weise integrierte er – wie nur wenige sonst es getan haben - die Säuglingstaufe in seine Lehre vom 7 Heilsweg, die im Kern Lehre von der „responsible Grace“ ist: Gottes Wort zielt auf Antwort. Wesley anerkannte die Lehre seiner Kirche, wonach ein Mensch durch die im Säuglingsalter empfangene Taufe wiedergeboren wird, und konnte zugleich bestreiten, dass Taufe und Wiedergeburt identisch sind.8 Wie geht das zusammen? Wesley vertrat grundsätzlich die Überzeugung, dass Gottes Gnade den Menschen zur Antwort auf das Handeln Gottes befähigt, und diese Antwortfähigkeit bedingt die Verantwortung des Menschen vor Gott: „First, God works; therefore you can work. Secondly, God works; therefore you must work“.9 Die Taufe ist insofern mit der Wiedergeburt verbunden als sie dem Säugling die Befähigung vermittelt, sein Leben in der Verantwortung gegenüber der empfangenen Gnade zu leben, um weiter in der Gnade zu wachsen. Die Taufe ist darin von der Wiedergeburt zu unterscheiden, dass sie diese Antwort des Lebens, die ChristusNachfolge, nicht ersetzt, also nicht vom Anruf der Gnade entbindet, sondern in das neue Leben, das die Taufe eröffnet, hineinführt. Wesley kann daher vor dem Missverständnis warnen, die Taufe als Versicherung dafür zu nehmen, dass das Gottesverhältnis des Getauften ohne Einbezug seines Lebens und Handelns ein für allemal geklärt sei. Wesley mahnt: Stützt euch nicht mehr auf jenen geknickten Rohrstab, dass ihr in der Taufe wiedergeboren wurdet. Wer leugnet denn, dass ihr damals zu Kindern Gottes und zu Erben des Himmelreiches gemacht wurdet? Doch dessen ungeachtet 10 seid ihr jetzt Kinder des Teufels. Darum müsst ihr wiedergeboren werden.

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Vgl. Maddox, Randy L., Responsible Grace. John Wesley’s Practical Theology, Abington 1994. Vgl. John Wesley, Die neue Geburt (Predigt 45), § IV.1-2. In: ders., Die 53 Lehrpredigten. Übersetzt und hrsg. von Manfred Marquardt (Methodistische Quellentexte 1), 2. Aufl. Göttingen 2016, S. 642–644. John Wesley, On Working Out Our Own Salvation (Sermon 85), § III.2. In: Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 3: Sermons III, Nashville 1986, S. 206. John Wesley, Die Kennzeichen der neuen Geburt (Predigt 18), § IV.5. In: ders., Lehrpredigten [wie Anm. 8], S. 263.

Das Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde

Für Wesley liegt hierin kein Widerspruch. In theologischer Beschreibung ließe sich interpretieren: The mind of Christ is granted to the infant, not as a fully realized actuality, but as a grace-enabled full potentiality. The saving presence of the Holy Spirit, which gives new birth to the infant, continues to be salvivic (regenerating) if the baptized person lives a life that reflects the saving relationship as this be11 comes developmentally possible.

Wesleys Tauftheologie sucht somit eine theologische Balance zu halten, in der das sakramentale Handeln der Kirche und das radikale Nachfolge-Ethos der methodistischen Gemeinschaft wechselseitig aufeinander verweisen. Allerdings ließ sich die diesem Ansatz entsprechende ekklesiologische Gestalt einer innerkirchlichen Erneuerungsbewegung auf Dauer nicht verwirklichen. Es kam sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten zur Kirchengründung, die zunächst stark vom Erbe der Erweckung getragen war. Zwar hat es im Methodismus nach Wesleys Tod Einzelstimmen gegeben, die sich skeptisch gegenüber der Praxis der Säuglingstaufe zeigten. Kennzeichnend für den methodistischen Hauptstrom blieb jedoch die Tendenz, die beibehaltene Kindertaufe theologisch abzuwerten und die Bedeutung 12 der bewussten Glaubensentscheidung hervorzuheben. In den methodistischen Dogmatiken des 19. Jahrhunderts wird weithin – nach umfänglicher Verteidigung der Säuglingstaufe – argumentiert, dass die Taufe – gut reformiert – als das der Beschneidung entsprechende äußere Bundeszeichen zu verstehen sei, das jedoch erst durch Bekehrung und Wiedergeburt zu der Wirksamkeit gelange, die im Akt der Taufe verheißen und durch sie symbolisiert sei.13 Die Tragweite dieser Aussagen wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Aufnahme in die Gliedschaft der methodistischen Kirchen nicht mit dem Empfang der Säuglingstaufe verbunden wurde, sondern letztlich das Bekenntnis des Glaubens vor der Gemeinde voraussetzte. 11

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G. Stephen Blakemore, By the Spirit through the Water. John Wesley’s “Evangelical” Theology of Infant Baptism. In: Wesleyan Theological Journal 31.2 (1996), S. 167–191, hier 186. Zu den Entwicklungen im deutsch-amerikanischen Methodismus des 19. Jahrhunderts vgl. im vorliegenden Band: Kinder und Kirche. Die ekklesiologische Bestimmung des kirchlichen Status getaufter Kinder in der Bischöflichen Methodistenkirche. Vgl. Binney, Amos, The Theological Compend. Containing a System of Divinity, New York 1842, S. 109f.; Paulus, C. F., Das Christliche Heilsleben. Eine populäre Darstellung der Christlichen Sittenlehre, Cincinnati/Chicago/St. Louis 1890, S. 159ff.; Nast, Wilhelm (Hrsg.), Der Größere Katechismus für die deutschen Gemeinden der Bischöflichen Methodistenkirche, 4. Aufl. Bremen 1896, S. 76f.; Sulzberger, Arnold, Christliche Glaubenslehre, 3. Aufl. Bremen 1898, S. 698f.; Gülich, H., Der christliche Glaube. Handbuch der Heils- und Sittenlehre, Cleveland 1903, S. 262ff.

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Maßgeblich für die Zugehörigkeit zu einer methodistischen Kirche war also nicht, was der Glaubende mit der Mehrheit der Bevölkerung in seinem Umfeld teilte – nämlich als Säugling getauft zu sein –, sondern was ihn von ihr unterschied: die persönliche, gelebte Glaubensbeziehung (bzw. anfänglich im Methodismus: das Verlangen nach Vergebung und neuem Leben). Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in den europäischen Ländern, in denen methodistische Kirchen entstanden waren, zeigten sich in der zweiten, dritten Generation Tendenzen der Institutionalisierung – eine Entwicklung, mit welcher der nachlassende geistliche Enthusiasmus der Gründerzeit zu kompensieren gesucht wird. Es entstehen repräsentativere Kirchenbauten (eine in Deutschland aufgrund restriktiver Bestimmungen gegenüber den „Sekten“ verzögerte Entwicklung), die formale Ausbildung der Pastoren wird wichtiger, weshalb eigenkirchliche Seminare bzw. Hochschulen entstehen. In der Tauftheologie zeigt sich die Tendenz, das objektive Handeln Gottes in der Taufe gegenüber dem subjektiven Glaubensakt, wie es im öffentlichen Bekenntnis seinen Ausdruck findet, zu stärken. Die im Zeichen ökumenischer Annäherung stehende theologische Reflexion möchte die Bedeutung des sakramentalen Handelns der Kirche gestärkt sehen: Warum sollte eine Säuglingstaufe, nur weil sie in einer methodistischen Kirche vollzogen wird, so viel „weniger“ bezeichnen als in einer lutherischen, römischkatholischen oder orthodoxen Kirche? Dabei war vor allem die im Methodismus tradierte Ablösung der Aufnahme in die Mitgliedschaft von der Säuglingstaufe im Blick: Wer als Kind getauft wurde, gehörte damit zwar im weiteren Sinne der Kirche Jesu Christi an, wurde damit jedoch nicht auch Mitglied der Methodistenkirche. Die Mitgliedschaft im Vollsinn setzte das Bekenntnis des Glaubens vor der Gemeinde und die Zustimmung der Gemeinde voraus. Hier ist das erweckliche Moment des Ursprungs mit einer gewissen kongregationalistischen Note verbunden. Die Generalkonferenz als höchstes Gremium der Kirchenleitung bestimmte 2004 die Begrifflichkeiten neu, indem sie den Status des Mitglieds mit der Taufe beginnen ließ, zugleich jedoch an einer begrifflichen Differenzierung festhielt: Zu unterscheiden sind seitdem getaufte und bekennende Glieder (baptized and professing members). Der Statuswechsel zum bekennenden Mitglied bedarf des Antrags und des persönlichen Bekenntnisses vor 14 der Gemeinde. Der im US-amerikanischen Kontext initiierte Beschluss der Generalkonferenz, traf allerdings in Deutschland auf Vorbehalte. Hier 14

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In manchen Ländern bzw. Gemeinden erfolgt die Aufnahme in die bekennende Mitgliedschaft der United Methodist Church faktisch jahrgangsweise in einem Akt der Konfirmation, wie er in Deutschland aus den Landeskirchen bekannt ist.

Das Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde

entschied die zuständige Zentralkonferenz, an einer Terminologie festzuhalten, die den Begriff „Mitglied“ weiterhin den bekennenden Gliedern vorbehält. Als weiterhin wirksam erwiesen sich dabei Motive der Unterscheidbarkeit von den Landeskirchen und der Wille, als Freiwilligkeitskirche erkennbar zu bleiben. Dies scheint bis heute wichtig, da das theologische Profil der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) aufgrund eines starken Binnenpluralismus immer weniger Möglichkeit zur Profilierung bietet. Dieser Pluralismus schließt Auseinandersetzungen darüber ein, ob Kirche im Sinne Wesleys einer stärkeren Öffnung für die Welt oder eher einer Unterscheidung von der Welt auf dem Grund einer dem Evangelium verpflichteten Lebensführung bedarf. Wesley selbst hätte das freilich nicht als Alternative akzeptiert. 2.2 Der Ort der Theologie im Verhältnis zu Kirche und Gemeinde Die aus erwecklichen Aufbrüchen hervorgegangenen Freikirchen sind in Ursprung und bleibendem Selbstverständnis maßgeblich von Laien getragene Bewegungen. Das gilt selbst dort, wo – wie im Methodismus – Geistliche als Protagonisten der Bewegung in Erscheinung traten. Wenn auch der Vorwurf der Bildungsfeindlichkeit viel zu pauschal ist, so lässt sich in der Tat über weite Strecken ihrer Geschichte eine gewisse Reserviertheit in freikirchlichen Gemeinden gegenüber der theologischen Bildung ausmachen. Daran änderte im Methodismus auch der von John Wesley gesetzte hohe Bildungsanspruch nichts, den er unter anderem in seiner Address to the Clergy 15 von 1756 zum Ausdruck brachte. Eine stark von Laien getragene geistliche Erneuerungsbewegung braucht in der Regel Zeit, um die Bedeutung einer formalen Predigerausbildung anerkennen zu können. So lassen sich im deutschsprachigen Methodismus bis ins 20. Jahrhundert hinein Vorbehalte in den Gemeinden nachweisen, denen nicht die formale Bildung des gelehrten Erweckungspredigers Wesley vor Augen standen, sondern vielmehr die aus ihrer Sicht geistlich desaströsen Folgen der universitären Pfarrerausbildung.16 Befürchtet wurde, dass die formal höhere Ausbildung der Prediger zu „toter theologischer Gelehrsamkeit“ führe und der „evangelistische Eifer“ geschwächt werde. „Predigerfab15 16

John Wesley, An Address to the Clergy. In: Jackson, Thomas (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 10, London 1872, S. 480–500. Einen knappen Überblick über die von mir hier zitierten Vorbehalte bietet Ulrike Schuler, Vom Bremer Missionshaus zur Theologischen Hochschule Reutlingen. Theologische Ausbildung im Wandel der Zeit. In: EmK Geschichte 29.1–2 (2008), S. 13–68, hier 27f.

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riken“, so wurde geargwöhnt, könnten leicht zu einer „Pflanzstätte von allerlei Irrtümern werden“. Vor diesem Hintergrund weisen viele Festschriften methodistischer Predigerseminare auch eine apologetische Tendenz auf. Den Gemeinden soll verdeutlicht werden, dass höhere Bildung und rechte geistliche Gesinnung eines Predigers kein Gegensatz sind: „[W]o einer wirklich dem Herrn hingegeben ist, da macht ihn seine Bildung nur zu einem desto brauchbareren Werkzeug für den Geist Gottes“ [1905].17 Die Predigerausbildung setzt also Bekehrung und Berufung der Kandidaten voraus, hat auf sie Bezug zu nehmen und sie durch Vermittlung der für den Gemeindedienst grundlegenden Kenntnisse der Theologie fruchtbar werden zu lassen. Dies kann nach Auffassung der Kirchenleitung nur durch ein Seminar in kirchlicher Anbindung gewährleistet werden. Das Predigerseminar, so heißt es 1927, ist seiner Grundordnung nach „eine restlos auf die Zwecke der Kirchenleitung bezogene Anstalt“ und kann daher „kein wis18 senschaftlich-theologisches Forschungsinstitut sein“. Nicht die wissenschaftliche Erforschung der Gegenstände der Theologie, wohl aber das gründliche Durcharbeiten ihrer Ergebnisse wird als Aufgabe des Predigerseminars definiert. In einer Festschrift aus dem Jahr 1952 lassen sich Anfragen der Gemeinde(basis) herauslesen, warum sich die Studenten am Predigerseminar überhaupt mit bibel- und glaubenskritischen Richtungen der Theologie beschäftigten. Seminardirektor Schempp argumentiert: „Man kann nicht die falschen Theologien verbieten und abschaffen, man kann sie nur überwinden 19 durch die bessere, die echte Theologie“. Diese wird nicht näher bestimmt, noch genügt der Hinweis auf die Verfassung des Seminars, wonach nichts anderes gelehrt werden darf, als was die Heilige Schrift sagt. In einer bemerkenswerten Wendung wird dann der Ball in die Gemeinden zurückgespielt. Bewahrung im Studium der Theologie sei nur möglich durch den „in der Wahrheit begründeten Glauben“,20 dessen Heimat die jeweilige Gemeinde vor Ort ist. Die Gemeinden hätten dafür Sorge zu tragen, dass der Nach-

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Festschrift zur Einweihung des neu erbauten Predigerseminars der Evangelischen Gemeinschaft in Reutlingen am 13. Dezember 1905, hrsg. von der Seminarbehörde, Stuttgart o. J. [1905], S. 14. Das Predigerseminar der Evangelischen Gemeinschaft zu Reutlingen 1877–1927. Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Jubiläums im Auftrag des Seminarvorstandes hrsg. von Johannes Schempp, Stuttgart o. J. [1927], S. 86. Schempp, Johannes, Festschrift zur Feier des fünfundsiebzigjährigen Jubiläums des Predigerseminars der Evangelischen Gemeinschaft in Reutlingen, Stuttgart 1952, S. 32 Ebd. [wie Anm. 19].

Das Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde

wuchs das empfängt, was das Studium allein nicht vermitteln kann, nämlich „religiöse Klarheit und Lauterkeit, und dazu sittliche Zucht“.21 1983 ist längst nicht mehr deutlich, was solche Formulierungen im Einzelnen bedeuten sollen. Als wesentliche Herausforderung identifiziert Walter Klaiber, damals Direktor des Theologischen Seminars Reutlingen „das Problem des Pluralismus“. Pluralismus sei nicht allein ein Charakteristikum der Theologie, sondern auch der Gemeinden, die Bewerber für den Pastorendienst geprägt haben. Was immer stärker zutage tritt, „sind die Differenzen in der Art und Weise, wie die Gnade erlebt und die Berufung gelebt wird, die Verschiedenheit der Vorstellungen über Glaube und Leben des 22 Christen und dem konkreten Dienstauftrag des Pastors“. Das Signum der Gegenwart ist damit gut beschrieben. Freikirchen sind qua ihrer Existenz Katalysatoren von Pluralisierungsprozessen in der westlichen Gesellschaft, indem sie Monopolansprüche „etablierter“ Kirchen aufbrechen; sie sind zugleich aber auch selbst der Resonanzraum von Pluralisierungsprozessen. Diese Binnen-Pluralisierung lässt sich – im Sinne Troeltschs – an der Beantwortung der Frage nach dem Weltverhältnis auch der Theologie festmachen. Sie dient den Gemeinden darin, dass sie den Glauben kritisch reflektiert und in nachvollziehbarer Weise verantwortet, zugleich aber auch deren Weltverantwortung bedenkt, indem sie gesellschaftliche Entwicklungen analysiert und zeitgemäße Modelle der Kommunikation des Evangeliums in der Gesellschaft entwickelt. Dabei wird freikirchliche Theologie heute nur dann als seriös wahrgenommen, wenn sie den Anspruch der Lehr- und Forschungsfreiheit durchhält. Dieser Anspruch ist auch wesentliche Voraussetzung für die staatliche institutionelle Akkreditierung der freikirchlichen Seminare als Hochschulen. Zugleich bleibt die Einbindung in die Kirche bzw. in die Bundesgemeinschaft der Lebensnerv jeder freikirchlichen theologischen Ausbildungsstätte. Die für den Fortbestand und ein fruchtbares Arbeiten der Hochschulen in freikirchlicher Trägerschaft geforderte Balance zwischen den beiden genannten Polen ist immer wieder neu zu bestimmen. Seine Komplexität gewinnt das Spannungsgefüge, in dem die freikirchliche Theologie steht, durch die bereits erwähnten Pluralisierungstendenzen. Weder die Gemeinden noch die Kirchenleitung noch die Kollegien der Hochschulen sind in sich geistlich-theologisch homogen. Vielmehr wird die immer wieder betonte Einheit des Glaubens auf allen Ebenen in einer mehr 21 22

Ebd. [wie Anm. 19]. Walter Klaiber, Die Ausbildung am theologischen Seminar. In: Festschrift 125 Jahre Theologisches Seminar der Evangelisch-methodistischen Kirche 1858–1983, in Verbindung mit dem Dozentenkollegium hrsg. von Walter Klaiber und Michel Weyer, Reutlingen 1983, S. 69–115, hier 80.

Spannungsverhältnisse in sozialgeschichtlicher Perspektive

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oder weniger stark ausgeprägten Vielfalt gelebt.23 Die Handlungsebenen stehen nicht nur im Verhältnis zueinander, sondern sind permanent auch dabei, ihre innere Pluralität zu gestalten oder einfach auszuhalten. Dabei herrscht das Bemühen vor, theologische Extreme zu vermeiden und die unterschiedlichen Positionen auf ein zu definierendes Motiv der Mitte bzw. der Einheit hin zu zentrieren. Die gelebte Vielfalt soll, so der Anspruch, die Kirche nicht zerreißen. Kennzeichen kirchenleitenden Handelns in der deutschen EmK ist es daher, einen theologischen Horizont aufzuspannen, in dem sich unterschiedliche Positionen dann als legitim verorten können, wobei das Grundkriterium ihrer Akzeptanz m. E. die Einbindungsfähigkeit in das Modell der Einheit in Vielfalt ist. So kann die charismatische Bewegung in der deutschen EmK als insgesamt gut integriert und akzeptiert gelten, ohne dass 24 damit Konflikte in einzelnen Gemeinden verleugnet werden sollen. Demgegenüber entschied sich die Süddeutsche Jährliche Konferenz, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die sich dezidiert kritisch mit der sogenannten „heilsgeschichtlichen“ Theologie befassen, diese theologisch beurteilen und eine Orientierungshilfe für den Umgang mit ihr in den Gemeinden geben sollte.25 Es handelt sich hierbei um eine dem Dispensationalismus zuzuordnende Richtung der Bibelauslegung, die offenbar in einigen Gemeinden als konfliktträchtig erfahren wurde und deren Einbindung verschiedentlich nicht gelingt.26 Die Stellungnahme verweist auf gruppenpsychologische Aspekte wie die „Akzeptanz von Autorität“ und den hohen Stellenwert eigener Erkenntnis in den Kreisen der heilsgeschichtlichen Theologie und kritisiert die „Neigung zu Abgrenzung und Kritik“.27 Wichtig ist im Blick auf das Phänomen des Pluralismus vor allem der Hinweis auf den Netzwerkcharakter der „heilsgeschichtlichen“ Theologie, der Angehörige verschiedener Kirchen untereinander verbindet. Obwohl die erwecklichen Kreise schon immer ein hohes Maß an organisatorischer Fluidität und Fle23

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Die theologische Vielfalt dürfte in der Evangelisch-methodistischen Kirche stärker ausgeprägt sein als z. B. im Bund Freier Evangelischer Gemeinden mit dem Bund Evangelischfreikirchlicher Gemeinden irgendwo dazwischen. Vgl. dazu die Beiträge in Raedel, Christoph (Hrsg.), Methodismus und charismatische Bewegung. Historische, theologische und hymnologische Beiträge (Reutlinger Theologische Studien 2), Göttingen 2007. Vgl. Eschmann, Holger/Gebauer, Roland/Ruof, Klaus Ulrich, Stellungnahme und Arbeitshilfe zur „heilsgeschichtlichen“ Theologie, Frankfurt 2007. Der Text der Stellungnahme lässt nicht erkennen, inwieweit das Gespräch mit theologischen Vertretern dieser Richtung im Raum der EmK oder darüber hinaus gesucht wurde oder ob es solche Begegnungen im Rahmen der Erarbeitung der Stellungnahme gab. Vgl. ebd. [wie Anm. 25], S. 16–18.

Das Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde

xibilität auszeichnete, sehen sich heute Freikirchen der Entwicklung gegenüber, dass das konfessionelle, oder sagen wir präziser: denominationelle Bewusstsein spürbar abnimmt, während der Einfluss transdenominationeller Netzwerke weiterwächst. Tendenzen der Entkonfessionalisierung zeichnen sich zudem in der unter den jüngeren Generationen vergleichsweise stärkeren Bereitschaft ab, sich bei Wohnortwechsel (oder auch ohne ihn) gemeindlich in einer Weise neu zu orientieren, bei der die Zugehörigkeit der Ortsgemeinde zu einer bestimmten Denomination kaum oder gar nicht mehr von Bedeutung ist. Damit sind wir bei einem letzten Punkt angelangt: der faktischen Macht der Basis. 2.3 Die Macht der Gemeinde(basis) Ich hatte eingangs auf unterschiedliche Gestalten freikirchlicher Organisation verwiesen. Deutlich dominieren dürfte der kongregationalistische Typus, bei dem die Ortsgemeinde das grundlegende und im Blick auf Entscheidungsvollmachten wesentliche Element von Kirche bildet. Zentralistisch verfasste Kirchen, die nicht strukturell vom Staat unterstützt werden, mögen hinsichtlich der Entscheidungsabläufe von der Spitze her organisiert sein, sie sind jedoch darauf angewiesen, dass „von unten“, also von der Basis her, geistliche und finanzielle Gaben eingebracht werden. Kirchenleitende Strukturen im Freikirchentum haben dem Selbstverständnis nach und auch praktisch letztlich subsidiäre Bedeutung, während die Gaben der Gemeindeglieder wesentlich für das Fortbestehen einer Gemeinschaft sind. Wir können angesichts ihrer essentiellen Bedeutsamkeit von einer faktischen Primärgewalt der Gemeindebasis sprechen, um deren Wohlwollen sich Kirchenleitung und Theologie beständig bemühen müssen. Der baptistische Theologe Ralf Dziewas schreibt, dass „[k]ongregationalistisch verfasste Gemeindebünde gleichsam Prototypen sich evolutionär 28 entwickelnder Konfessionen“ sind, „deren Veränderungen von der Basis 29 ausgehen“. Mir scheint dies jedoch für die Freikirchen überhaupt, recht unabhängig von ihrer Struktur, zu gelten, denn immer geht es, wie Dziewas es für den Baptismus beschreibt, um die innere Balance zwischen den kon28

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Ralf Dziewas, Verbindlichkeit im Kongregationalismus. In: Haffner, Johann Ev./Hailer, Martin (Hrsg.), Binnendifferenzierung und Verbindlichkeit in den Konfessionen (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 87), Frankfurt am Main 2010, S. 243–265, hier 258. Ralf Dziewas, Die unverbindliche Treue, Dimensionen des Amtes im kongregationalistischen Verhältnis von Gemeindebund und Ortsgemeinde. In: Neumann, Burkhard/Stolze, Jürgen (Hrsg.), Kirche und Gemeinde aus freikirchlicher und römischkatholischer Sicht, Paderborn/Göttingen 2010, S. 217–245, hier 230.

Spannungsverhältnisse in sozialgeschichtlicher Perspektive

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kurrierenden Prinzipien Freiheit und Freiwilligkeit auf der einen sowie Einheit und Einmütigkeit auf der anderen Seite.30 Faktisch darf die unmittelbare Wirksamkeit zunehmender, konstant bleibender oder nachlassender Geldströme in einem freikirchlichen Organismus nicht unterschätzt werden. Ob man dies mag oder nicht: Über Spenden und Beiträge, die auf der Basis der – allerdings mit einer Erwartungshaltung konnotierten – Freiwilligkeit eingehen, wird in Gemeinden Zustimmung oder Ablehnung zu Entscheidungen der Gemeindeleitung oder höherer Gremien kommuniziert. Dabei handelt es sich um eine zwar auf Dauer wirksame, aber doch keine zielgenaue Form der Kommunikation eigener Vorstellungen und Erwartungen, da z. B. in der EmK die Gemeinden über eine Umlage Aufgaben der Gesamtkirche finanzieren. Neben der eher undeutlichen Kommunikation über Geldströme hat die Gemeindebasis eine ungleich stärker sichtbare Macht des Faktischen. Dziewas verweist auf die Unterscheidung zwischen normativen und kognitiven Erwartungsstrukturen bei Niklas Luhmann. Normative Erwartungsstrukturen sanktionieren Nichtkonformität im Verhalten mit dem Ziel, Systemkonformität zu erzwingen. Das wird zum Beispiel ein methodistischer Pastor erfahren, der sich weigert, Säuglinge zu taufen oder die Frauenordination zu akzeptieren. Im Unterschied dazu wird bei kognitiven Erwartungsstrukturen ein bestimmtes Verhalten von den Mitgliedern erwartet, „aber mitunter bleibt zu konstatieren, dass diese Erwartungen zwar vielleicht einmal zutreffend gewesen sein mögen, eine weitere Aufrechterhaltung allerdings wenig 31 realitätsnah wäre“. Aus diesem Grund können z. B. Bestimmungen zu ethischen Fragen, wie sie recht konkret in den Sozialen Grundsätzen der EmK niedergelegt sind, und das in Gemeinden tatsächlich gelebte Ethos auseinandergehen. Insbesondere in sexualethischen Fragen ist diese Tendenz nicht zu übersehen. Die expliziten oder impliziten Leitlinien der Lebensführung müssen nicht einmal unbedingt geändert bzw. angepasst werden. Was geschieht, bringt Dziewas gut auf den Punkt: Oft setzt sich am Ende einfach eine neue Praxis durch, oder es wächst ein verändertes Vorgehen, eine neue, allgemein akzeptierte Überzeugung, die solange gilt, bis sie wieder in Frage gestellt wird. Die Normalität verändert sich, die Ausnahme wird irgendwann zur Alternative, dann zur neuen Normalität.32

Weil auch die Theologie in sich pluralistisch verfasst ist, geht von ihr in diesem Wandlungsprozess kaum Orientierung aus. 30 31 32

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Dziewas, Verbindlichkeit [wie Anm. 28], S. 250ff. Ebd. [wie Anm. 28], S. 250. Ebd. [wie Anm. 28], S. 255.

Das Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde

Wird von der Theologie in diesem Zusammenhang etwas erwartet, dann eher, solche oft langsamen und gelegentlich schmerzhaften Prozesse zu reflektieren und zu begleiten. Eine ausdrückliche Orientierungsleistung scheint kaum nachgefragt zu werden, da an der Basis oftmals der Eindruck vorherrscht, theologisch ließe sich letztlich (nahezu) alles begründen und das heißt dann: legitimieren. Den theologischen Zentrifugalkräften gegenüber ist das Anliegen der Kirchenleitungen in der Regel, die kirchlichen Bindekräfte zu stärken und so zu verhindern, dass radikalere Auffassungen zur Rechten oder Linken die Einheit des Ganzen aufs Spiel setzen.

3 Schlussbemerkungen Wir sind auf einige Aspekte der komplexen Spannungsverhältnisse in Freikirchen eingegangen, wobei exemplarisch Einsichten aus dem Raum des Methodismus aufgenommen wurden, der sich allerdings in seiner konnexional-zentralistischen Struktur von den kongregationalistischen Gemeindebünden unterscheidet. Abschließend soll zusammenfassend formuliert werden, was diese Spannungsverhältnisse in freikirchlicher Perspektive auszeichnet. Zum ersten erweisen sich die sozialgeschichtlichen Einsichten Troeltschs zur Typologie von Kirche und Sekte dahingehend als hilfreich, dass sich für erwecklich-freikirchliche Gemeinden die Entwicklung von einer der Umwelt gegenüber oppositionellen Gemeinschaft (bei Troeltsch: Sekte) hin zur sich in die Umwelt einpassenden Gemeinschaft (bei Troeltsch: Kirche) zeigen lässt. Diese Entwicklung geht einher mit der wachsenden Bereitschaft, Fragen der Lebensführung nicht mehr unbedingt zu reglementieren (konkret: Verzicht auf „Gemeindezucht“), und dem Bedürfnis der Menschen nach Begleitung an den Wendepunkten des Lebens zu entsprechen. Bleibt auch das subjektive Moment der persönlichen Glaubenantwort für freikirchliches Selbstverständnis unverzichtbar, so wird doch das objektive Moment des allem menschlichen Tun vorausliegenden Handeln Gottes tendenziell stärker gewichtet, auch wenn diese Entwicklung im Spannungsfeld von Kirchenleitung, Theologie und Gemeinde in der Regel Ungleichzeitigkeiten aufweist (und daher auch das Gegenteil vorkommen kann). Was das Verständnis und die Praxis der Taufe angeht, unterscheidet sich der Methodismus allerdings von den meisten anderen Freikirchen, die in Europa aktiv sind und die Säuglingstaufe ablehnen. Die Entwicklung hin zu einem „angepassteren“ Organisationssystem bringt zweitens das Erfordernis mit sich, der theologischen Reflexion einen

Schlussbemerkungen

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institutionellen Rahmen zu bieten, wie theologische Ausbildungsstätten sie bieten. Dabei wird der Auftrag der Theologie – zumindest seitens der Kirchenleitung – klar von den Diensterfordernissen des Gemeindepastors her bestimmt und die kirchliche Einbindung der Theologie betont. Die konzeptionelle Differenz zu einer an staatlichen Universitäten erfolgenden Pfarrerausbildung ist Teil des Selbstverständnisses. Auf dem Weg zu staatlich anerkannten Hochschulen müssen die freikirchlichen theologischen Ausbildungsstätten sehr darauf achten, zwischen dem Anspruch der Lehr- und Forschungsfreiheit einerseits und der Einbindung in den kirchlichen Ausbildungszweck andererseits zu vermitteln, denn nur letzterer erscheint der die Ausbildung wesentlich mittragenden Gemeindebasis als hinreichender Legitimationsgrund einer solchen Einrichtung. Die Beschreibung einer Entwicklung hin zu einer an die Gesellschaft angepassten Kirche bzw. Gemeinde bedarf drittens des ergänzenden Hinweises auf die innere Pluralisierung, die sich auf allen Ebenen der Freikirchen vollzieht. Auf diese innere Pluralisierung reagieren die Träger freikirchlichen Lebens unterschiedlich: Kirchen- bzw. Bundesleitungen versuchen, die Bindungskräfte zu stärken und unterschiedliche Positionen unter dem gemeinsamen Dach, das die jeweilige Denomination darstellt, zusammenzuhalten. Die an den eigenkirchlichen Hochschulen angesiedelte Theologie sieht sich in der Spannung, von der Leidenschaft zum Denken her neue, mitunter riskante Wege beschreiten zu wollen (und das dem Prinzip der Lehr- und Forschungsfreiheit nach auch tun zu dürfen), zugleich jedoch vom Vertrauenskapital und den finanziellen Zuwendungen der Gemeinden zu leben und ihren primären Daseinszweck in der Ausbildung des Pastorennachwuchses zu haben. Der theologische Pluralismus, wie er insbesondere die EmK kennzeichnet, lässt die Orientierungsfunktion der Theologie verblassen, da einander widerstreitende Positionen in einer für die Gemeinden mehr oder weniger nachvollziehbaren Weise begründet werden. Die sich ebenfalls pluralisierende Gemeindebasis zeigt die größte und darum nur schwer fassbare Dynamik in diesem Prozess. Sie bestimmt – und das am wirkungsvollsten vor Ort – in Prozessen der Diskussion und Fluktuation die Weite und die Grenze gemeinsam vertretener und gelebter Überzeugungen. Sie kann Vorgaben der Kirchen- bzw. Gemeindeleitung bestätigen oder durch faktische Nichtbeachtung unterlaufen. Sie kann über geistlich-theologische Profile ihre Kirchengrenzen vernachlässigende Bindekräfte stärken (evangelikal, missional, liberal etc.) und dabei selbst bestimmen, wie stark Netzwerkeinbindungen einerseits und denominationelles Bewusstsein andererseits gewichtet werden.

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Das Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde

Die eingangs erwähnte Erzählung Harold Frederics aus dem späten 19. Jahrhundert illustriert Facetten einer Entwicklung, die sich auch heute noch beschreiben lässt: Auch in Freikirchen besteht zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Spannungsfeld zwischen übergemeindlicher Leitung, der Theologie und ihren Vertretern in Form akademisch gebildeter Pastoren sowie der Gemeindebasis – ein Spannungsfeld, das zugleich Teil eines größeren Spannungsfeldes ist, nämlich der sich spätmodern weiter pluralisierenden Gesellschaft.

Schlussbemerkungen

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„Die Zeichen der Zeit erkennen“ Spekulative Eschatologie im deutschsprachigen Methodismus 1835 bis 1914 1 Entstehung und Entwicklung des deutschsprachigen Methodismus Entstehung und Ausbreitung des deutschsprachigen Methodismus in den Vereinigten Staaten verdankten sich dem Aufeinandertreffen von amerikanischen Erweckungsbewegungen und deutschsprachigen Einwandererbewegungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. So evangelisierte der 1791 in der Methodistenkirche zum Glauben gekommene Ziegelbrenner Jakob Albrecht (1759–1808) erfolgreich unter den in Pennsylvania, Virginia und Maryland siedelnden Deutschen.1 Doch konnte er seine Kirche, die Methodist Episcopal Church (MEC), damals nicht von der Notwendigkeit einer permanent deutschsprachigen Missionsarbeit unter den Einwanderern überzeugen, weshalb es zur Gründung einer eigenständigen Kirche kam, die 1816 den Namen Evangelische Gemeinschaft annahm. Zum Pionier des deutschsprachigen Kirchenzweiges innerhalb der Methodist Episcopal Church – im Folgenden kurz als „deutschsprachiger Methodismus“ bezeichnet – wurde im Jahr 1835 der aus Württemberg stammende Wilhelm Nast (1807−1899), der zum einflussreichsten Theologen dieses Kirchenzweiges im 2 19. Jahrhundert werden sollte. Nast hatte – mehr auf Wunsch des verstorbenen Vaters denn aus eigenem Entschluss − unter Ferdinand Christian Baur in Tübingen Theologie studiert, sein Studium jedoch abgebrochen und war 1828 nach Amerika ausgewandert. Den deutschsprachigen Methodismus prägte er vor allem durch die Vielzahl seiner Veröffentlichungen und seine langjährige Tätigkeit als Herausgeber des Christlichen Apologeten. Der Sprung in die alte Heimat gelang dem bischöflichen Methodismus erst Ende des Jahres 1849, als unter der Leitung von Ludwig Sigismund 3 Jacoby (1813–1874) von Bremen aus die Missionsarbeit der Bischöflichen Methodistenkirche begann. Dabei blieben die deutschsprachigen Methodis1 2 3

Zu Leben und Werk vgl. Voigt, Karl Heinz, Jacob Albrecht. Ein Ziegelbrenner wird Bischof, Stuttgart 1997. Zu Leben und Werk vgl. Wittke, Carl, William Nast. Patriarch of German Methodism, Detroit 1959 sowie Karl Heinz Voigt, Nast, Wilhelm. In: BBKL 6, S. 464–468. Zu Jacoby vgl. Karl Heinz Voigt, Jacoby, Ludwig Sigismund. In: BBKL 2, S. 1418–1420.

Entstehung und Entwicklung des deutschsprachigen Methodismus

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ten beiderseits des Atlantiks im Verbund mit ihrer englischsprachigen Mutterkirche, deren höchstes Gremium die im Rhythmus von vier Jahren tagende Generalkonferenz war.4 Dem Wachsen des deutschsprachigen Kirchenzweiges wurde in den USA durch die Bildung eigenständiger Distrikte 1844 bzw. Jährlicher Konferenzen 1864 Rechnung getragen. Die Arbeit in den deutschen Ländern sowie der Schweiz war zunächst als Missionskonferenz organisiert, aus der dann im Laufe der folgenden Jahrzehnte eine Anzahl von Jährlichen Konferenzen entstand. Die Jährlichen Konferenzen bezeichneten dabei einerseits ein geographisches Gebiet, andererseits und hauptsächlich jedoch die Versammlung der Prediger dieses Gebiets zum Zweck der Kirchenleitung sowie des geistlich-theologischen Austauschs. In seiner theologischen Programmatik war der deutschsprachige Methodismus über das 19. Jahrhundert hinaus darum bemüht, den Anschluss an John Wesley und die führenden methodistischen Theologen der Zeit zu wahren sowie neuere, v. a. erweckungs-theologische Einflüsse behutsam zu 5 integrieren. Im Zentrum von Lehre und Verkündigung standen die sogenannten biblischen Erfahrungslehren wie Buße, Rechtfertigung, Wiedergeburt und Heiligung, die nach methodistischer Überzeugung den Heilsweg bilden, auf dem Menschen aus der Sünde herausgeführt und in das Ebenbild Gottes erneuert werden. Obwohl sich in diesem zentralen Bereich methodistischer Soteriologie auch Einflüsse z. B. aus der deutschen Erweckungsbewegung und der positiv-evangelischen Theologie nachweisen lassen, überwiegt insgesamt doch die normative Wirkung der auf Wesley zurückgehenden methodistischen Lehrstandards, aus der sich noch bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Homogenität der theologischen Überzeugungen unter den methodistischen Predigern ergab. Diese zuletzt genannte Einschätzung bedarf allerdings einer deutlichen Einschränkung, was den Bereich der spekulativen Eschatologie betrifft. Obwohl Wesley seine Überzeugungen von der geschichtlichen Vollendung 6 des Gottesreiches verschiedentlich dargelegt hatte, kam es im Methodismus nie zur Ausformulierung einer Normativität beanspruchenden eschatologischen Konzeption. Als sich während des 19. Jahrhunderts im Protestantis4 5 6

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Zum deutsch-amerikanischen Kirchenzweig vgl. Douglass, Paul F., The Story of German Methodism. Biography of an Immigrant Soul, Cincinnati 1939. Vgl. Raedel, Christoph, Methodistische Theologie im 19. Jahrhundert. Der deutschsprachige Kirchenzweig der Bischöflichen Methodistenkirche, Göttingen 2003. Vgl. Olson, Mark K., A John Wesley Reader on Eschatology, Alethea in Heart Online Publisher 2011; William Greathouse, John Wesley’s View on the Last Things. In: Dunning, Ray (Hrsg.), The Second Coming. A Wesleyan Approach to the Doctrine of Last Things, Kansas City 1995, S. 139–160.

„Die Zeichen der Zeit erkennen“

mus das Interesse an eschatologischen Fragen wieder stärker regte, wurde auch der deutschsprachige Methodismus von dieser Stimmung erfasst. Doch angesichts des Fehlens einer normativen dogmatischen Tradition kam es in diesem Bereich zu einer deutlich stärkeren Vielfalt an Überzeugungen und Ansichten als z. B. in der Soteriologie. Die Überzeugungsvielfalt innerhalb der methodistischen Predigerschaft entlud sich in zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen auf Konferenzen sowie über die kirchlichen Publikationen. Die innerhalb des deutschsprachigen Methodismus vertretenen Positionen sollen im Folgenden klassifiziert und anhand einiger ihrer Exponenten skizziert werden. Weiterhin bleibt nach den geschichtlichen Faktoren zu fragen, welche die Ausbildung bestimmter Überzeugungen begünstigt haben könnten. Schließlich ist zu klären, weshalb Fragen der spekulativen Eschatologie mit einer solchen Vehemenz debattiert wurden. Anders gefragt: Welche theologischen sowie geschichtshermeneutischen Grundüberzeugungen lassen sich hinter den geführten Diskussionen erkennen?

2 Eschatologische Grundrichtungen im deutschsprachigen Methodismus 2.1 Der angelsächsische Postmillenniarismus Postmillenniaristen vertreten die Auffassung, dass Jesus Christus am Ende eines hier auf Erden verwirklichten Tausendjährigen Reiches wiederkommen wird. Hinter dieser Sicht der Endgeschehnisse steht die Überzeugung, dass die Erde von Gott zum Schauplatz für den triumphalen Siegeszug des Evangeliums bestimmt ist. Als Werkzeug für die Ausbreitung des Evangeliums und der vom Geist Gottes bewirkten sittlich-religiösen Erneuerung von Menschen, ja ganzen Völkern, gebraucht Gott die verschiedenen (rechtgläubigen) Kirchen, deren Eifer im Dienst und Hingabe in der Lebensführung zum Fanal des anbrechenden Gottesreiches werden und so die Wiederkunft des Herrn beschleunigen. Der Postmillenniarismus ist seinem Wesen nach also geschichtsoptimistisch und aktivistisch. Die Geschichte wird als der Raum geistig-kulturellen und sittlich-religiösen Fortschritts wahrgenommen. Die Erfindung des Buchdrucks, schnellere Wege der Nachrichtenübermittlung und des Personentransports, die Entdeckung vom Evangelium unerreichter Völker, vor allem aber der unermüdliche persönliche Einsatz der wiedergeborenen Christen sind die Mittel, durch die Gott die Geschichte zu ihrem Ziel, dem Millennium, führt. Im Einsatz für persönliche Heili-

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gung, aber auch für umfassende gesellschaftlich wirksame Sozialreformen,7 stellen sich Christen als einzelne und Kirchen als ganze dem Wirken Gottes in dieser Welt zur Verfügung und gewinnen so tätigen Anteil an der Verwirklichung des Reiches Gottes. Den fruchtbaren Boden für die von Optimismus und Aktivität bestimmte postmillenniaristische Überzeugung bildeten die zahlreichen amerikanischen Erweckungen des 18. und 19. Jahrhunderts sowie die von ökonomischem Aufschwung und militärischer Stärke getragene Ausbreitung der Vereinigten Staaten. Bereits Jonathan Edwards sah die unter seiner Verkündigung ausbrechende Erste Große Erweckung als „eine Stufe in dem Sieges8 zug des Evangeliums, der schließlich zum Millennium führen werde“. Einen Zusammenhang von Erweckung und Millennium stellte auch Charles Finney in seinen Lectures on Revivals of Religion von 1835 her.9 Finney vertrat die Auffassung, dass das Anbrechen des Tausendjährigen Reiches durch das Auslösen von Erweckungen beschleunigt werden könne. Die Reinigung der Kirche von der Sünde und ihre Bevollmächtigung zur Evangeliumsverkündigung waren für Finney Wirkungen des Heiligen Geistes, der auf diese Weise die Nähe des Millenniums bezeugt. Der angelsächsische Postmillenniarismus ist den deutschsprachigen Methodisten vor allem durch die Theologen der amerikanischen Mutterkirche vermittelt worden. Dabei fällt auf, dass es dem Postmillenniarismus nicht gelang, im Methodismus Deutschlands und der Schweiz nachhaltig Fuß zu fassen, während die Mehrheit der deutsch-amerikanischen Methodistenprediger offenkundig dem Postmillenniarismus zuneigte. Genaue zahlenmäßige Festlegungen sind jedoch schon deshalb schwierig zu treffen, weil – wie noch zu sehen sein wird – das Publikationswesen des deutschsprachigen Methodismus auf beiden Seiten des Atlantiks spätestens seit 1850 in den Händen von Verfechtern des Prämillenniarismus war. 1839 begann Wilhelm Nast damit, im Auftrag seiner Kirche den Christlichen Apologeten als Wochenzeitung für die deutsch-amerikanischen Kirchenglieder herauszugeben. Die ersten Jahrgänge des von ihm insgesamt über mehr als fünf Jahrzehnte lang edierten Blattes lassen erkennen, dass Nast anfänglich noch dem Postmillenniarismus zuneigte. Dabei fällt auf, dass er – im Unterschied zu seiner sonstigen editorischen Gewohnheit – keine eigenen Überzeugungen formulierte, sondern lediglich die Anschauungen an7 8 9

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Zum Ganzen vgl. Smith, Timothy L., Revivalism and Social Reform. American Protestantism on the Eve of the Civil War, Baltimore/London 1980. Richard Bauckham, Art. Chiliasmus IV. In: TRE 7, S. 741. Zu Finney vgl. Gäbler, Ulrich, Auferstehungszeit. Erweckungsprediger des 19. Jh., München 1991, S. 11–28.

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gelsächsischer Autoren wiedergab. So veröffentlichte er 1849 einen aus dem North British Review entnommenen Aufsatz, in dem der (ungenannte) Verfasser, wie Nast in seinen einleitenden Worten hervorhebt, die Auffassung zu begründen sucht, „daß die völlige Entwicklung des Christenthums ein allgemeines Reich der Gerechtigkeit auf Erden herbeiführen werde“.10 In die gleiche Richtung zielte bereits eine 1842 im Christlichen Apologeten erschienene Predigt des Präsidenten des Augustana College, J. S. Tomlinson.11 Obwohl es Tomlinson in erster Linie um eine kritische Bewertung der Stellung der römisch-katholischen Kirche im Heilsplan Gottes ging und der Artikel sich damit gut in die von Nast zu dieser Zeit heftig betriebene antikatholische Polemik einfügte, bearbeitete der Verfasser seine Thematik, indem er auf die Auslegung der biblischen Weissagungen und damit indirekt auch auf das zeitliche Verhältnis von Parusie und Millennium einging. Über eine umfangreiche und komplizierte Exegese prophetischer Schriftstellen gelangt Tomlinson zu der Überzeugung, dass das Tausendjährige Reich im Jahre 2001 anbrechen wird. Den Anbruch des Millenniums sieht er verbunden mit der Überwindung des Papsttums und des Islam infolge der Wirksamkeit des Evangeliums, das nicht „allein gepredigt, sondern auch herzlich 12 geglaubt und befolgt [werden wird] von allen Nationen“. In einem vermutlich auch auf Tomlinson zurückgehenden Anhang zu seiner Predigt wird der Postmillenniarismus noch einmal ausdrücklich verteidigt und bekräftigt, dass Christus seine Herrschaft im Tausendjährigen Reich durch „seine geistige Gegenwart und Einwirkung“ ausüben wird.13 Bereits um 1850 kommen Nast offenkundig Zweifel an der Sicht des Postmillenniarismus, den er ab jetzt nicht mehr ausdrücklich bejaht. Wie die Jahrgänge des Christlichen Apologeten dokumentieren, vollzieht Nast eine zunächst vorsichtige Hinwendung zum älteren Prämillenniarismus, der gleich noch näher betrachtet werden soll. Für die mehrheitlich unverändert dem Postmillenniarismus zuneigenden deutsch-amerikanischen Methodisten bedeutete dieser Überzeugungswandel eine maßgebliche Verschlechterung ihrer publizistischen Ausgangslage, zumal Nast die Herausgabe des gesamten theologischen Schrifttums für den Kirchenzweig oblag. Zwar 10 11 12 13

Wilhelm Nast, Die volle Entwickelung des Christenthums. In: Der Christliche Apologete 11 (1849), S. 67. J. S. Tomlinson, Eine Predigt über das Tausendjährige Reich. In: Der Christliche Apologete 4 (1842), S. 59.63.66.70f.75. Ebd. [wie Anm. 11], S. 70. J. S. Tomlinson, Einige Bemerkungen über unseres Heilandes persönliche Erscheinung auf Erden während des Tausendjährigen Reiches. In: Der Christliche Apologete 4 (1842), S. 79 (Hervorhebung im Original).

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bemühte sich Nast insgesamt um Fairness in der Auseinandersetzung um eine Frage, die nach seiner Ansicht in der Methodistenkirche nicht dogmatisch fixiert war, doch erzeugte seine editorische Praxis wiederholt Missstimmungen. Es überrascht daher nicht, dass Johann Christian Lyon seine Kurze Erklärung der Offenbarung St. Johannis 1861 im Selbstverlag veröffentlichte. Lyon deutet das zu erwartende Tausendjährige Reich aus Offenbarung Kapitel 20 als die Glanzzeit der Kirche, in der die Christen „als Vertreter ihres Herrn und Heilandes auf Erden durch die Kraft ihrer 14 tiefen Frömmigkeit mit Christo tausend Jahre herrschen“ werden. Das Buch exemplifiziert die den Postmillenniarismus kennzeichnende kirchengeschichtliche Auslegung der Johannes-Apokalypse, die in verschlüsselter Weise das Aufbäumen der widergöttlichen Mächte gegen den Siegeszug des Gottesreiches in der Geschichte darstellte. Aus diesem Ringen, so hebt dann auch Georg Leonard Mulfinger in einem erst posthum veröffentlichten undatierten Aufsatz hervor, wird die „wahre Kirche Christi … gereinigter und stärker hervorgehen“.15 Für ihn ist die Kirche Christi bereits jetzt der große Strom, der „majestätisch dem Ozean der allgemeinen Welterlösung entgegenfließt“.16 Erst seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts werden auf Seiten der Postmillenniaristen stärker die mit der Auslegung prophetischer und apokalyptischer Texte verbundenen hermeneutischen Fragestellungen reflektiert. So verweist Franz Nagler auf die bildhafte Sprache der Johannes-Apokalypse, weshalb eine Deutung der Endzeitgeschehnisse bei Mt 24 ihren Ausgang nehmen müsse.17 Bei der Auslegung sind Nagler zufolge drei Regeln zu beachten: Erstens seien Weissagungen nicht als „Geschichte“ aufzufassen, da anders als bei Weissagungen in geschichtlichen Berichten auf chronologische Abläufe und die Unterscheidung von Zeiträumen geachtet

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Lyon, Johann Christian, Kurze Erklärung der Offenbarung St. Johannis, worin die Erfüllung ihrer Weissagungen bis auf die gegenwärtige Zeit nachgewiesen wird aus den untrüglichen Zeugnissen der Geschichte, Cincinnati 1861, S. 234f. Vgl. Georg Leonard Mulfinger, „Das Walten Gottes in der Geschichte der Menschheit“, Kap. V. In: ders., Ein Lebensbild. Aus seinen nachgelassenen Tagebüchern und Papieren gezeichnet von seinem Sohne Julius A. Mulfinger. Mit einem Vorwort von Dr. Wm. Nast, Cincinnati 1889, S. 191. Ebd. [wie Anm. 15], S. 192. Nagler, Franz, Die Zukunft Christi, eine Erklärung der großen Weissagung des Herrn, mit besonderer Berücksichtigung der Frage: Ob Christus seine Erscheinung vor oder nach dem tausendjährigen Reiche machen wird? Nebst einer Antwort auf die Frage: Erwarteten die Apostel die Wiederkunft Christi in ihrer Zeit?, Cincinnati 1879, S. 18ff.

„Die Zeichen der Zeit erkennen“

werde.18 Vielmehr dienten die biblischen Weissagungen, indem sie den Blick auf den Ausgang der Wege Gottes lenkten, zur Glaubensstärkung und Belebung der Hoffnung. Zweitens habe Jesus im Stande seiner Erniedrigung nicht um Zeit und Stunde seiner Wiederkunft gewusst und folglich auch nicht von Zeiten und Zeitperioden, sondern von Tatsachen und Ereignissen geredet. Drittens dürften Weissagungen nicht als erschöpfende Berichte zukünftiger Geschehnisse verstanden werden. Die postmillenniaristische Ansicht konnte sich vor allem im deutschamerikanischen Methodismus über die Wende zum 20. Jahrhundert hinweg behaupten. Zu den wenigen Vertretern des Postmillenniarismus im deutschen Methodismus gehörte der Dozent am Frankfurter Predigerseminar Paul Gustav Junker (1854–1919), der zwischen 1895 und 1919 zugleich als Di19 rektor amtierte. Junker wollte offensichtlich etwas von der Schärfe aus der seinerzeit geführten Auseinandersetzung nehmen, wenn er daran erinnerte, dass es sich bei den Fragen der spekulativen Eschatologie nicht um „Grundlehren der Heiligen Schrift“ handelt, in denen viel mehr Einigkeit zwischen den Kontrahenten bestehe.20 Dennoch zeigt er sich überzeugt, dass die Frage nach dem Zeitpunkt der Wiederkunft Christi im Verhältnis zum Millennium „durch eingehendes Studium der Heiligen Schrift beantwortet werden [kann]“.21 Dabei hält er die geistliche Deutung bestimmter, z. B. die Zukunft des Volkes Israel betreffender Weissagungen für notwendig, um Widersprüche in der Auslegung zu vermeiden. Ausdrücklich setzt sich Junker mit dem wiederholt vorgebrachten Einwand auseinander, die Annahme einer Wiederkunft Christi nach dem Tausendjährigen Reich rücke diese in weite Ferne und führe zum Nachlassen der von der Naherwartung motivierten sittlichen Ernsthaftigkeit. Er erinnert daran, dass sich bereits durch die Verkündigung Jesu und die neutestamentlichen Briefe zwei Linien ziehen: einerseits das Rechnen mit einer nicht näher bestimmten Zeitspanne

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Nagler verwendet in diesem Zusammenhang ein häufig gebrauchtes Bild: „weit entfernte Begebenheiten scheinen nahe bei einander zu liegen, gerade wie wenn man hinter einander liegende Bergspitzen betrachtet und die dazwischen liegenden Thäler kaum bemerkt“ (ebd. [wie Anm. 17], S. 96). Gelegentlich wurde diese Metapher aber auch von Prämillenniaristen verwendet; vgl. H. Kienast, Die erste und zweite Auferstehung und das tausendjährige Reich. In: Wächterstimmen 2 (1872), S. 56. Zu Junker vgl. Grünewald, Joh. Paul, Paul Gustav Junker. Ein Lebensbild. Seinen Schülern und Freunden gewidmet. Mit Vorwort von Dr. F. H. Otto Melle, Bremen o. J.; sowie Karl Heinz Voigt, Junker, Paul Gustav. In: BBKL 3, S. 880–881. Vgl. Paul Gustav Junker, Zur Lehre von der Wiederkunft Christi. In: Evangelist 51 (1900), S. 12. Ebd. [wie Anm. 20], S. 53.

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bis zum Kommen des Herrn, andererseits die Forderung nach stetiger Bereitschaft für sein Kommen. Für Junker ergibt sich, daß man als Christ die Meinung haben kann, die Zukunft des Herrn werde noch eine Zeit lang verziehen, während man zur selben Zeit so unter dem Eindruck dieses kommenden Ereignisses steht, als ob es jeden Augenblick eintreten könnte.22

Im deutsch-amerikanischen Methodismus bestätigte sich die dominierende Stellung des Postmillenniarismus mit dem Erscheinen des Systems der christlichen Lehre von Friedrich Wilhelm Schneider im Jahr 1908, damals Professor für Systematische Theologie am Nast Theologischen Seminar in Berea, Ohio.23 Seine Position begründend verweist Schneider auf den vom Neuen Testament bezeugten engen Zusammenhang von Wiederkunft und Gericht, ein Zusammenhang, der vom Prämillenniarismus in unzulässiger Weise aufgelöst werde. Mit deutlicher Zurückhaltung begegnet er Schriftbelegen aus der Johannes-Apokalypse, da sich diese „fast durchweg in Bildern und figürlichen Redensarten bewegt“.24 Auf diesem Weg gelangt Schneider zu einem amillenniaristischen Postmillenniarismus insofern, als er auch die tausend Jahre aus Offb 20 für „göttliche Symbolik“ hält. So wird bei Schneider die Entwicklung deutlich, die der Postmillenniarismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts nahm. Aus den Schwierigkeiten, die apokalyptische Sprache der Johannes-Offenbarung auszulegen, wird eine weitgehende Unmöglichkeit, ihre symbolische Redeweise zu entschlüsseln. Nicht zuletzt an diesen, sich im 19. Jahrhundert bereits abzeichnenden Entwicklungen dürfte das Aufkommen einer dazu scharf gegensätzlichen Richtung liegen, der des futuristischen bzw. dispensationalistischen Prämillenniarismus. 2.2 Der dispensationalistische Prämillenniarismus Die transatlantische Ausbreitung des dispensationalistischen Prämillenniarismus verdankt sich der durch den britischen Geistlichen John Nelson Darby (1800–1882) ausgelösten „prophetischen Bewegung“. Darby, Begründer der Plymouth Brethren in Großbritannien, hatte von September 1866 bis Juli 1868 die Vereinigten Staaten bereist.25 Zwar traf er bei seinen Zuhö22 23 24 25

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Ebd. [wie Anm. 20]. Schneider, Friedrich Wilhelm, System der christlichen Lehre, Cincinnati/New York 1908. Ebd. [wie Anm. 23], S. 532. Vgl. Geldbach, Erich, Christliche Versammlung und Heilsgeschichte bei John Nelson Darby, 3. Aufl. Wuppertal 1975, S. 52.

„Die Zeichen der Zeit erkennen“

rern auf wenig Neigung, auf seine Verkündigung hin die eigene Denomination zu verlassen, gleichwohl war das Interesse an seinen Ansichten beträchtlich.26 Obwohl der dispensationalistische Prämillenniarismus seinem Namen nach an den historischen Prämilleniarismus erinnert, schuf Darbys Lehre ein in der Substanz sowie Kohärenz neuartiges System der Bibelauslegung. In Darbys dispensationalistischem Prämillenniarismus verbinden sich drei Auslegungsgrundsätze miteinander.27 Der erste Grundsatz ist eine unbedingt wörtliche Auslegung der Bibel. Als inspiriertes Wort Gottes ist die Bibel eine Art „enzyklopädisches Puzzle“28 bzw. ein „Handbuch der Zukunft“29, in dem der dargebotene Stoff nur noch der richtigen Anordnung bedarf. Da die Bibel in allen ihren Teilen als irrtumslos verstanden wird, ist jede kritische Sichtung ihrer Aussagen ausgeschlossen. Aus dem Grundsatz des strengen Literalismus ergibt sich zweitens eine strenge Unterscheidung zwischen Israel und der Kirche. Nach Darby hat Gott für beide Gruppen ein anderes Ziel im Blick. Während die Christen auf die Erscheinung ihres Herrn warten, der sie in den Himmel entrückt, um von dort mit ihnen für 1000 Jahre zu regieren, ist den Juden ein irdisches Millennium verheißen, in dem sie Christus als ihren Messias annehmen werden. Drittens unterteilt Darby die Heilsgeschichte in verschiedene Dispensationen (Heilsökonomien). Der Verlauf einer jeden Dispensation folgt dabei immer demselben Schema von göttlicher Prüfung, Ungehorsam auf Seiten des Menschen und 30 dem Gericht Gottes über sie. Jede Dispensation ist für sich genommen eine Prüfung des Gehorsams der Menschen durch Gott. Der Abfall des Menschen zwingt Gott zum Strafgericht und dazu, die Methode seines Umgangs mit den Menschen in der nächsten Dispensation zu verändern. In Anwendung dieser Prinzipien ergibt sich für Darby, dass die prophetischen Texte der Bibel streng futuristisch ausgelegt werden müssen und folglich nicht auf die ablaufende Geschichte bezogen werden dürfen. Danach gehen Kirche und Gesellschaft unaufhaltsam ihrem Niedergang entgegen. In diesen Niedergang kann allein Gott helfend und erlösend eingreifen. Nicht der Mensch, sondern Gott ist der die Geschichte bestimmende Fak-

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Vgl. Marsden, George M., Fundamentalism and American Culture. The Shaping of Twentieth-Century Evangelicalism 1870–1925, New York/Oxford 1980, S. 46. Vgl. ebd. [wie Anm. 26], S. 48–71. Ebd. [wie Anm. 26], S. 58. Holthaus, Stephan, Fundamentalismus in Deutschland. Der Kampf um die Bibel im Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts, 2. Aufl. Bonn 2003, S. 67. Vgl. Ryrie, Charles C., Dispensationalism, Chicago 1995, S. 30.

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tor.31 Auch auf die Christen wartet auf der Erde keine glorreiche Zukunft, sondern wachsende Verfolgung. Aus dieser Not werden sie durch die vor der „großen Trübsal“ (nach Mt 24,21) erwarteten Entrückung bei der Wiederkunft des Herrn erlöst. Die Hoffnung der Christen richtet sich daher nicht auf das Tausendjährige Reich, welches das Hoffnungsgut des Volkes Israel ist, sondern auf die Entrückung, die vor der Trübsal bewahrt.32 Darbys Dispensationalismus ist folglich scharf geschichtspessimistisch, radikal kirchenkritisch und betont supranaturalistisch, was ihn in der Sache vom Postmillenniarismus, in dieser Einseitigkeit jedoch auch vom historischen Prämillenniarismus (s. u.) unterscheidet. Die Ausbreitung des dispensationalistischen Prämillenniarismus in den USA ist durch das Abhalten sogenannter „prophetischer Konferenzen“ gefördert worden, die an verschiedenen Orten bis 1901 stattfanden.33 Auch eigene Ausbildungsstätten, wie das Moody Bible Institute in Chicago, wurden gegründet. Besonderes Augenmerk wurde der Mission unter den Juden geschenkt. Zu den Pionieren dieser Arbeit gehörte der Methodistenprediger Arno C. Gaebelein, der seit 1892 die New York City’s The Hope of Israel Mission leitete.34 In Deutschland waren Angehörige bzw. Sympathisanten der Brüderbewegung Katalysatoren für die Ausbreitung des dispensationalistischen Prämillenniarismus. Die Brüderbewegung bildete gewissermaßen „den stärksten Ast am Baume des deutschen Dispensationalismus“.35 Carl Brockhaus (1822–1899) und Emil Dönges (1853−1923), zwei wichtige „Brüder“, vertraten nachdrücklich die Auffassung von der Vortrübsalentrückung der Gemeinde Jesu, doch kursierten auch andere Vorstellungen, wie z. B. die von Otto Stockmayer (1838–1917) vertretene Auswahlentrückung der gänzlich geheiligten Christen.36 Zeitweilig erheblichen Einfluss gewann der Dispensationalismus Darbys am Ende des 19. Jahrhunderts sowohl auf die Gemeinschaftsbewegung als auch auf die mit der Bad Blankenburger Allianzkonferenz verbundenen Kreise. 31 32 33 34 35 36

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„All history is thus ordered by abstract principles of testing with God as the primary agent of change“; Marsden, Fundamentalism [wie Anm. 26], S. 63. Allerdings kam es über der Frage des Zeitpunkts der Entrückung 1895 sogar zu einer Spaltung der „prophetischen Bewegung“ in Amerika. Vgl. Holthaus, Fundamentalismus [wie Anm. 29], S. 73ff. Zur Judenmission vgl. Timothy P. Weber, Living in the Shadow of the Second Coming. American Premillennialism 1875–1925, New York/Oxford 1979, S. 128–157. Holthaus, Fundamentalismus [wie Anm. 29], S. 422. Ebd. [wie Anm. 29], S. 397. Stockmayer widerrief diese Lehre jedoch 1909. Eine eigenständige Überzeugung von der vorzeitigen Auferstehung der gänzlich Geheiligten vertrat im deutschen Methodismus bereits H. Kienast, vgl. Die erste und zweite Auferstehung und das tausendjährige Reich. In: Wächterstimmen 2 (1872), S. 55–62.

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Der maßgebliche Verfechter des dispensationalistischen Prämillenniarismus innerhalb des deutschsprachigen Methodismus war Ernst Ferdinand Ströter (1846–1922).37 Ströter hatte in Bonn, Tübingen und Berlin Theologie studiert und dann während eines Aufenthalts in Paris unter methodistischem Einfluss seine Bekehrung erlebt. Nachdem er 1869 in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, diente er verschiedenen methodistischen Gemeinden als Prediger, bevor er 1884 als Professor für Historische und Praktische Theologie nach Warrenton (Missouri) berufen wurde. Ab 1894 arbeitete Ströter mit der Hope of Israel Mission in New York, die 1899 aufgelöst wurde, woraufhin er nach Deutschland auswanderte. Nachdem er hier nicht länger in offizieller Verbindung mit der Methodistenkirche stand, bereiste er als „Evangelist für Israel“ verschiedene Länder, um unter den Juden Christus als Messias zu verkündigen. Mit den Kreisen der Bad Blankenburger Allianz kam es 1911 zum 38 Bruch, als Ströter die Allversöhnung zu propagieren begann. Ströter bestritt, sich zur Begründung seiner Positionen auf menschliche Autoritäten zu stützen, und reklamierte den Anspruch, seine Ansichten allein aus dem Studium der Bibel gewonnen zu haben.39 Allerdings ist es unabweisbar, dass Ströter dem 1878 erschienenen Buch des amerikanischen Methodistenpredigers William E. Blackstone (1841–1935) mit dem Titel Jesus is Coming wichtige Anregungen verdankte.40 Darauf weist nicht zuletzt der Umstand hin, dass Ströter das Buch 1893 in einer bearbeiteten deutschen Fassung herausgab.41 Bereits bei Blackstone finden sich die dann auch von Ströter vertretenen Überzeugungen: die Wiederkunft Christi zum Tausendjährigen Reich, die Vortrübsalentrückung sowie die Einteilung der Heilsgeschichte in sieben Dispensationen.42 Für beide stellte gerade die Entrückung der Gemeinde Jesu vor der Trübsal eine der zentralen Trostlehren

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Vgl. Hirschfeld, Ekkehard, Ernst Ferdinand Ströter. Eine Einführung in sein Leben und Denken, online publiziert: http://d-nb.info/1037216067/34: Karl Heinz Voigt, Ströter, Ernst Ferdinand. In: BBKL 11, S. 89–93. Diese entwickelt Ströter in seinem Buch Das Evangelium von der Allversöhnung in Christus, Chemnitz o. J. [1915]. Ganz in diesem Sinne bemerkt August Bucher: „Wer ihn hörte oder las, dem mußte es auffallen, daß er sich nie auf menschliche Autoritäten stellte“, „Würdigung“. In: Heinrich Schaedel (Hrsg.), Lebensbild des Professor Ernst F. Ströter. Ein Ruhm der Gnade, Klosterlausnitz o. J. [1922], S. 20. Auf diese Verbindung weist Heinrich Schaedel in Ströters Lebenslauf; vgl. ebd. [wie Anm. 39], S. 7. Vgl. Holthaus, Fundamentalismus [wie Anm. 29], S. 432 Anm. 357. Vgl. ebd. [wie Anm. 29], S. 433.

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für die Gläubigen dar.43 Doch folgte Ströter Blackstone nicht nur in der Sache, sondern auch in der Schärfe, mit welcher der Postmillenniarismus, den Blackstone eine „Irrlehre“ genannt hatte, verworfen wurde. Zur offenen Auseinandersetzung zwischen Ströter einerseits und den Verfechtern des Postmillenniarismus im deutsch-amerikanischen Kirchenzweig andererseits kam es erstmals 1879, nachdem Ströter, zu dieser Zeit bereits Teilnehmer an den „prophetischen Konferenzen“, Pastor der deutschamerikanischen Methodistengemeinde in St. Paul (Minnesota) geworden war. Sein damaliger Kontrahent, sein Predigerkollege G. H. Hiller, erinnert sich später, dass die Lehre Ströters von der Wiederkunft Christi zur Aufrichtung seiner Herrschaft auf Erden den Methodisten „damals etwas Neues“ 44 war. Erzogen in der Meinung, Christus werde nicht eher wiederkommen, „bis wir die ganze Welt … in Ordnung gebracht haben“, warfen die Amtsbrüder Ströter vor, Verwirrung zu stiften, und forderten ihn schließlich sogar per Konferenzbeschluss dazu auf, seine dispensationalistischen Überzeugungen nicht mehr in der Gemeinde zu propagieren.45 Hiller, der später von Ströter für den Prämillenniarismus gewonnen werden konnte, erinnert sich weiter, dass er für die Verteidigung der postmillenniaristischen Auffassung durch eine Reihe von Predigern Rückendeckung erhielt, nicht jedoch von Wilhelm Nast, der, so Hiller, damals „bereits von der Richtigkeit der Ströterschen Auffassung mehr als halb überzeugt“ war.46 Wir werden sehen, ob und inwieweit diese Einschätzung zutrifft. Die 1879/80 zwischen Ströter und Hiller auf den Seiten des Christlichen Apologeten ausgetragene Kontroverse drehte sich vordergründig um den Zeitpunkt der Wiederkunft Christi im Verhältnis zum Millennium, in der Sache jedoch um das richtige Verständnis der geschichtlichen Bedeutung von Kirche und Christentum. Hiller erwartete, dass das Christentum unter der Führung des erhöhten Christus die Welt „erobern“ werde.47 Für ihn sind der durch seinen Geist und in seinem Wort gegenwärtige Christus einerseits sowie die Gläubigen als Mitarbeiter Gottes andererseits gleichermaßen wesentliche Faktoren für den Sieg des Evangeliums. Dagegen erin-

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Vgl. Ströter, Ernst F., Die Entrückung der Gemeinde des Herrn, Bremen o. J. [1908]; ders., Erst Entrückung und dann Antichrist, oder umgekehrt? Was lehrt darüber 2. Thess. 2,1–3?, Bremen o. J. Heinrich Schaedel, „Lebenslauf“, zit. In: ders., Lebensbild [wie Anm. 39], S. 8. Hiller schreibt ca. 1921. Vgl. ebd [wie Anm. 39]. Ebd. [wie Anm. 39], S. 9. G. H. Hiller, „Wie wird das Evangelium auf dieser Erde zur Herrschaft gelangen?“. In: Der Christliche Apologete 42 (1880), S. 361.

„Die Zeichen der Zeit erkennen“

nert Ströter daran, dass die Bibel das Volk Gottes als die „kleine Herde“ bezeichne, die nicht dazu bestimmt sei, die Erde zu erobern, sondern aus der Welt heraus erlöst zu werden. Das Christentum, so Ströter, könne nur eins von beidem sein: entweder Kreuzesreligion oder Weltreligion.48 Die s. E. irreführende Endzeitlehre der Postmillenniaristen führt er auf „ein radikales Mißdeuten der göttlichen Bestimmung und des rein geistlichen Charakters der gegenwärtigen Dispensation“ zurück.49 Der Streit zwischen Ströter und Hiller belegt, dass sich hier zwei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen von der geschichtlichen Stellung der Kirche gegenüberstanden, die sich aus divergierenden geschichtshermeneutischen Prämissen ergaben. Wenn Ströter vom „rein geistlichen Charakter der gegenwärtigen Dispensation“ spricht, dann ist damit der geistliche Charakter der Christengemeinde scharf von der irdischen Hoffnung des jüdischen Volkes unterschieden. Ströter polemisierte massiv gegen die mangelnde Unterscheidung der heilsgeschichtlichen Stellung von Israel und der Kirche bei vielen Christen. Die Vermengung dieser beiden heilsgeschichtlichen Größen sah er in einer 50 falschen Auffassung des biblischen Begriffs vom Reich Gottes begründet. Andersglaubenden Christen wirft er vor, die Reich-Gottes-Vorstellung der Apostel spiritualisiert zu haben. Gottes geschichtliches Ziel mit Israel sei die mit dem Wiederkommen Christi auf der Erde errichtete „vollendete Theokratie“, während die Gläubigen vom Himmel her mit Christus herrschen würden. Als praktische Konsequenz seiner Auffassung konnte sich für ihn nur ein verstärktes Engagement für die Judenmission ergeben.51 Mit Auflösung der New York The Hope of Israel Mission und seiner sich daran anschließenden Übersiedlung nach Deutschland verstärkte sich Ströters Einfluss auf das theologische Denken im bislang weithin vom älteren Prämillenniarismus bestimmten deutschen Methodismus. Während Ströter nach seinem Ausscheiden aus dem Predigerdienst vorwiegend in eigenen Schriftenreihen wie dem Prophetischen Wort publizierte, sorgten seine im Dienst der Methodistenkirche stehenden Sympathisanten für einen stetigen Fluss an Publikationen aus dem methodistischen Verlagshaus, in denen für den Dispensationalismus argumentiert wurde. Namentlich ist hier vor allem

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Ernst F. Ströter, Vor Christi Wiederkunft kein Millennium. In: Der Christliche Apologete 42 (1880), S. 377. Ebd. [wie Anm. 48], S. 385. Vgl. Ernst F. Ströter, Das Evangelium vom Reich, sonst und jetzt. In: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche und Praktische Theologie 9 (1888), S. 97–111. Vgl. David A. Rausch, Zionism Within Early American Fundamentalism 1878–1918. A Convergence of Two Traditions, New York/Toronto 1979, S. 225–237.

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Wilhelm Michael Schütz (1858−1923) zu nennen,52 der neben verschiedenen Aufsätzen auch zwei thematisch einschlägige Bücher veröffentlichte, die über das methodistische Traktathaus in Bremen vertrieben wurden.53 Darin zeichnet Schütz ein weithin pessimistisches Bild der Gegenwartsverhältnisse,54 verweist jedoch – paradoxerweise – auf die im religiösen Bereich zu beobachtenden positiven Entwicklungen, zu denen er selbstredend auch die „Hoffnungsbewegung“ zählt, womit nichts anderes gemeint ist als die Ausbreitung des dispensationalistischen Prämillenniarismus. Mit Genugtuung registriert er ein wachsendes Interesse für diese Lehre auch in der Methodistenkirche.55 Für Schütz ist die darbystische „Hoffnungslehre“ ein „Teil der biblischen Heilslehre“, die nicht aufgegeben werden dürfe und gegen den Vorwurf der Schwärmerei zu verteidigen sei. Den wachsenden Einfluss des dispensationalistischen Prämillenniarismus belegt schließlich das Erscheinen der von J. Pieringer verfassten Bibelkunde, die auch eine Darlegung des Heilsplanes einschloss. Dem erstmals 1912 und dann bis 1924 in drei Auflagen erschienenen Buch stand ein Geleitwort des seit 1912 in Zürich residierenden methodistischen Bischofs John L. Nuelsen voran, der seinerseits mit einer Tochter Ernst Ströters verheiratet war. Was die Vollendung des Heilsplanes angeht, bemerkt Pieringer zwar, dass es Gott gefallen habe, „uns weder die Zeiten noch die Reihenfolge oder Grenze der Ereignisse, die am Ende dieses Zeitalters eintreffen werden, genau anzuge56 ben“. Allerdings bietet er dem Leser dann doch die Endzeit-„Chronologie“ an, wie sie den dispensationalistischen Prämillenniarismus kennzeichnet. So dürfte Ernst Ströter die Schlüsselfigur für die Verbreitung des dispensationalistischen Prämillenniarismus zunächst im deutsch-amerikanischen, dann nach der Jahrhundertwende auch im deutschen und Schweizer Methodismus gewesen sein. Mit dem Postmillenniarismus verband diese Rich-

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Vgl. Karl Heinz Voigt, Schütz, Wilhelm. In: BBKL 9, S. 1098–1100. Schütz, Wilhelm, Abenddämmerung und Morgengrauen. Zeichen der Zeit als Vorboten der Wiederkunft Christi und diese selbst im Lichte der heiligen Schrift, Bremen o. J.; ders., Es muß alles erfüllt werden: Betrachtungen über die letzten Dinge, Bremen o. J.; vgl. weiter ders., Die Entrückung der Gemeinde Jesu Christi. In: Evangelist 59 (1908), S. 149.161.173.185. Schütz nennt „Abnormität und Extremität“ im kulturellen Bereich sowie „Sozialdemokratismus“ und „Militarismus“; vgl. Abenddämmerung [wie Anm. 53], S. 5–11. „Noch vor wenigen Jahrzehnten waren eigentlich die Darbyisten die einzigen Träger dieser herrlichen Erwartung … In der Methodistenkirche – die in dieser Lehre immer zurückhaltend war – ist in der letzten Zeit auch ein erhöhtes Interesse rege geworden“, ebd. [wie Anm. 53], S. 21. J. Pieringer, Bibelkunde mit Darlegung des Heilsplanes zum Gebrauch im Religionsunterricht, im Familienkreis und in Vereinsstunden, 3. Aufl. Bremen o. J. [1924], S. 68.

„Die Zeichen der Zeit erkennen“

tung eigentlich nur eins: die Schärfe der Antagonie, die zwischen beiden Richtungen herrschte. Neben beiden Parteien aber darf eine dritte nicht übersehen werden: die des älteren, historischen Prämillenniarismus. 2.3 Der historische Prämillenniarismus Während das Aufkommen des futuristischen dispensationalistischen Prämillenniarismus zu Recht mit dem Wirken Darbys in Verbindung gebracht wird, darf nicht übersehen werden, dass es bereits vor Darby einen älteren, den historischen Prämillenniarismus gab.57 Wichtige Vertreter dieser Spielart des Prämillenniarismus im 19. Jahrhundert waren Johann Tobias Beck (1804–1878)58 sowie Carl August Auberlen (1824–1864). Einflussreich war auch der durch sein Bibelwerk in erwecklichen Kreisen bekannte August Dächsel (1818–1901), der die Johannes-Apokalypse kirchengeschichtlich auslegte. Was kennzeichnete den historischen Prämillenniarismus? Auch die Verfechter dieser älteren Richtung des Prämillenniarismus erwarteten, wie der Name es bereits sagt, die Wiederkunft Jesu nicht zum Ende, sondern zum Beginn des Tausendjährigen Reiches. Diese Auffassung ist das Ergebnis ihrer Lesart der „prophetischen“ Texte der Bibel, deren Inhalt sie jedoch nicht wie die Dispensationalisten als Verheißungen auf die noch ausstehende Endzeit, sondern als „symbolische Präfigurationen der gesamten Kirchen- und Weltgeschichte“ auffassen – daher auch die Be59 zeichnung „historischer“ Prämillenniarismus. Die Geschichte stellt sich für sie als das fortdauernde, auf Gottes Ziel zulaufende Ringen göttlicher und widergöttlicher Mächte dar, wobei das Gute und das Böse miteinander ausreifen, bevor beide mit der Wiederkunft Christi sichtbar und unwiderruflich voneinander geschieden werden. In dieses Ringen ist auch die Kirche hineingenommen, die von Anfechtung und Trübsal nicht verschont bleibt und sich in den von Gott zugelassenen Herausforderungen zu bewähren hat. Die Entrückung der Gemeinde Jesu wird daher auch zumeist auf die Zeit nach der „großen Trübsal“ datiert – sie ist die letzte Bewährungsprobe für Gottes Volk, bevor das verheißene Tausendjährige Reich beginnt. Obwohl der historische Prämillenniarismus einer geistlichen Deutung biblischer Weissagungen deutlich skeptischer gegenüberstand als der Postmillenniaris57

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Vgl. dazu Stephan Holthaus, Prämillenniarismus in Deutschland. Historische Anmerkungen zur Eschatologie der Erweckten im 19. und 20. Jahrhundert. In: PuN 20 (1994), S. 191–211. Zu Beck vgl. Dittmer, Marion, Reich Gottes. Ein Programmbegriff der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2014, S. 226–321. Ebd. [wie Anm. 57], S. 194.

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mus, bildete er keine scharf umrissene Schriftlehre aus, wie Darby sie für den Dispensationalismus entwickelt hatte. Weil die Verfechter des historischen Prämillenniarismus ebenso wie die des Postmillenniarismus die prophetischen Texte der Bibel auf die Kirchen- und Weltgeschichte bezogen, standen sie bei aller Unterschiedlichkeit in konkreten Auslegungsfragen einander insgesamt doch recht nah.60 Ein Blick auf den deutschsprachigen Methodismus belegt dies. Durch den bereits erwähnten, um 1850 bei Wilhelm Nast einsetzenden Überzeugungswandel erhielt der historische Prämillenniarismus mit dem Christlichen Apologeten ein wichtiges Forum, auch wenn Nasts Einfluss auf die theologische Urteilsbildung seiner Leserschaft nicht überschätzt werden darf. Jedenfalls geben die zwischen 1850 und 1870 zur Thematik erschienenen Artikel, von denen die wenigsten Nast selbst verfasst hatte, fast durchweg den Standpunkt des historischen Prämillenniarismus wieder. Nast spürte wohl, dass der Richtungswandel des Blattes dem Leser nicht verborgen bleiben würde, und erklärte 1852, dass nach der bereits „vor einigen Jahren“ – tatsächlich waren schon zehn Jahre vergangen – erfolgten Darstellung des Postmillenniarismus dem Leser nun eine „andere“ Sicht der letzten Dinge zum Kennenlernen und Prüfen vorgelegt werden solle, und zwar diejenige Sicht, welche der größte Theil der Frommen in Deutschland hegt und welche von einigen sehr berühmten Männern Gottes, wie z. B. von Bischof Newton und 61 dem deutschen Gottesgelehrten Bengel vertheidigt wurde.

Als Nast 1858 im Zuge einer umfassenden Darstellung auf das Thema Prämillenniarismus zurückkommt,62 gesteht er in einer einleitenden Bemerkung zu, dass die prämillenniaristische Auffassung „wirklich nicht die in der Meth. Kirche angenommene Lehre ist, obschon einige Stellen in Wesleys und Fletchers Schriften zu Gunsten dieser Ansicht angeführt werden kön60 61

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Vgl. Marsden, Fundamentalism [wie Anm. 26], S. 46. Wilhelm Nast, Die zweite persönliche Zukunft Christi und das tausendjährige Reich. In: Der Christliche Apologete 14 (1852), S. 181. Bischof Newton wurde bereits von dem oben erwähnten Postmillenniaristen Tomlinson zitiert, von dem er – was untypisch für den Postmillenniarismus ist – die Lehre von zwei zu unterscheidenden Auferstehungen übernommen hatte. In den Folgejahren bezieht sich Nast immer wieder auf Newton, seinen bevorzugten Gewährsmann unter den angelsächsischen Theologen. Mit Bengel, der eigentlich einen Dischiliasmus (also die Auffassung, dass es zwei aufeinander folgende, durch die Wiederkunft Christi voneinander getrennte Millennia geben werde) vertrat, war Nast möglicherweise bereits in Württemberg in Berührung gekommen. Mit Sicherheit begegnete Nast seinen Auffassungen erneut im Zuge seiner Beschäftigung mit Wesley und in dessen Notes upon the New Testament. Vgl. Wilhelm Nast, „Was sagt die Bibel vom tausendjährigen Reich?“ In: Der Christliche Apologete 20 (1858), S. 105f.112.116.121.128.

„Die Zeichen der Zeit erkennen“

nen“.63 Bemerkenswert ist, dass Nast sich hier – zunächst noch vorsichtig – eines Argumentationsmusters bedient, das im weiteren Verlauf der millenniaristischen Streitigkeiten gern gebraucht wurde, nämlich der Inanspruchnahme der methodistischen „Kirchenväter“ Wesley und Fletcher für die Sache des Prämillenniarismus.64 Nasts Hinwendung zum Prämillenniarismus lässt sich vor allem an seiner Beurteilung von Gottes geschichtlichem Plan und der Bedeutung der in ihr wirkenden Faktoren festmachen. Nast bestreitet nicht, dass die Geschichte Fortschritte in vielen Bereichen des Lebens erkennen lasse. Aber, so fügt er jetzt sofort hinzu, jede „scheinbare Besserung wird überreichlich aufgewogen“ durch die immer durchgreifenderen Manifestationen des Bösen.65 Die Fortschritte in Wissenschaft und Kultur hätten den Menschen zwar äußerlich vorangebracht, aber nicht wirklich in seinem Wesen verbessert. Die Bedeutung der amerikanischen Nation sowie der protestantischen Kirchen für die Schaffung des Reiches Gottes wird deutlich herabgestuft. Keine von Menschen geschaffene Staatsform, sei es Monarchie oder Demokratie, werde vor dem wiederkommenden Christus bestehen können, der die Mächtigen von ihrem Thron stoßen wird, um selbst zu regieren.66 Die Kirche(n) sieht Nast jetzt einem großen Abfall entgegengehen. Denn während die Missionare Gottes in der ganzen Welt das Evangelium verkünden – und zwar zum „Zeugnis“, nicht zur „Annahme“! –, verbreitet der Teufel durch die Seinen Irrtum und Lüge „mit verdoppelter Kühnheit und Gottlosigkeit“.67 So erweist sich die letzte Zeit dieses Äons als eine Zeit der Sichtung, d. h. der Scheidung der wahrhaft Gläubigen von den Heuchlern.68 An das verheißene Ziel gelange lediglich die „kleine Herde“ der Nachfolger Christi. Schließlich sieht Nast in der Neigung der Juden, nach Palästina zurückzukehren, ein Zeichen der nahenden Wiederkunft Christi.69 So eindeutig sich für Nast diese veränderte Sicht der Dinge aus der Erfahrung bestätigen lässt, so schwierig stellt sich für ihn das biblische Zeugnis von 63

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Ebd. [wie Anm. 62], S. 105. Nast, Zukunft [wie Anm. 61], S. 181 weist ferner darauf hin, dass der Prämillenniarismus „die in Deutschland fast allgemein angenommene“ Auffassung ist, die nun auch in den protestantischen Denominationen Englands und Amerikas mehr und mehr Anhänger finde. Vgl. Kenneth O. Brown, John Wesley – Post or Premillennialist? In: Methodist History 28 (Okt. 1989), S. 33–41. Wilhelm Nast, Zur Charakteristik unserer Zeit. In: Der Christliche Apologete 18 (1856), S. 53. Vgl. ebd. [wie Anm. 65]. Wilhelm Nast, Die Zeichen der Zeit. In: Der Christliche Apologete 22 (1860), S. 58. Vgl. Nast, Charakteristik [wie Anm. 65], S. 53. Vgl. Nast, Zeichen [wie Anm. 67], S. 61f.

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der Wiederkunft Christi dar. Diese Schwierigkeit bezieht sich freilich nicht auf das ob, sondern auf das wann im Verhältnis zum Tausendjährigen Reich. Den Prämillenniaristen gegenüber gesteht Nast in seiner Einzelexegese zu Mt 24 unumwunden zu, dass sie mit der Auffassung von Christi sichtbarer persönlicher Parusie zum Beginn des Millenniums die, was den Text angeht, „ungezwungenste“ Erklärung gefunden hätten. Allerdings hält er diese Erklärung so für „dogmatisch“ unhaltbar, und zwar vor allem aufgrund der engen Verbindung, die nach den Texten der Paulus- und Petrus-Briefe zwischen der sichtbaren Wiederkunft Christi einerseits und der Auferstehung der Toten, der Verwandlung der dann lebenden Christen sowie den katastrophischen kosmischen Umwälzungen andererseits besteht. All diese Ereignisse deuten laut Nast auf das Ende der Welt und den Anbruch des ewigen, nicht 70 des Tausendjährigen Reiches hin. Nast löst die exegetische Crux, indem er das „Kommen Christi“ zum Millennium nicht wie im Prämillenniarismus üblich für ein sichtbares persönliches, sondern für ein unsichtbares geistiges Kommen hält.71 Für Nast ist damit den biblischen Auslegungsgrundsätzen verantwortungsvoll Rechnung getragen. Danach sind Bibeltexte grundsätzlich ihrem Literalsinn nach auszulegen – sofern sich dabei kein Widerspruch zu einer anderen klar erkannten Lehre der Bibel ergibt, wie er sie bei Paulus und Petrus zu finden meint. Was den heilsgeschichtlichen Zusammenhang angeht, verweist Nast auf die Zerstörung Jerusalems. In Anlehnung an Rudolf Stier sieht er in diesem Ereignis ein erstes unsichtbares „Kommen Christi“. So verstanden ist die Zerstörung Jerusalems zugleich Typus „des endlichen 72 Sturzes aller Mächte des Bösen am jüngsten Tage“. In einem ähnlichen Sinne ist auch das unsichtbare Kommen Christi am Beginn des Tausendjährigen Reiches ein solcher „Typus“, dem prophetische Bedeutung auf Christi sichtbare persönliche Wiederkunft am Ende der Zeit zukommt.73 Den Einwand, seine Spiritualisierung der Wiederkunft Jesu am Beginn des Tausendjährigen Reiches verlange konsequenterweise nach einem rein geistigen Verständnis seiner „zweiten“ Wiederkunft am Ende des Millenniums, lässt Nast nicht gelten. Für ihn stellt sich die Sache so dar: Den Beginn des Tausendjährigen Reiches markiert eine große moralische Umwälzung (verbunden mit Jesu unsichtbarem Kommen), das Ende desselben eine große materielle 70 71

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Vgl. Nast, Wilhelm, Kritisch-praktischer Commentar über das Neue Testament für die Bedürfnisse unserer Zeit. Erster Band, Cincinnati/Bremen 1869, S. 443. Vgl. ebd. [wie Anm. 70], S. 443f.451.456f. Abgewiesen wird damit auch die Vorstellung einer ersten leiblichen Auferstehung der Gerechten im Unterschied zu der Auferstehung zum Gericht am Ende des Millenniums. Ebd. [Anm. 70], S. 444. Vgl. ebd. [Anm. 70], S. 451.

„Die Zeichen der Zeit erkennen“

(d. h. kosmische) Umwälzung (verbunden mit Jesu sichtbarem Kommen). Jesus lege nun der bildhaften Beschreibung der moralischen Umwälzungen das Geschehen zugrunde, das sich schließlich in der materiellen Umwälzung realisieren wird. Damit steht für Nast fest: die sinnbildliche Auslegung ist die wörtliche, was die den Beginn des Millenniums begleitenden Umstände angeht.74 Nasts Überzeugungswandel erweist sich bei genauerem Hinsehen als der Versuch einer Synthese zwischen Elementen des Post- und des historischen Prämillenniarismus. Einerseits hält er den Gedanken einer bis zum Ende des Tausendjährigen Reiches ununterbrochen fortdauernden „radikalen Umwandlung des moralischen Zustandes der Welt“ durch menschliches Mitwirken für durchaus biblisch.75 In seinem Synoptikerkommentar interpretiert er das Gleichnis vom Sauerteig sogar als Weissagung von dem endlichen, vollständigen Triumph des Christenthums, wo dasselbe über alle Völker der Erde wird verbreitet seyn und alle Lebensverhältnisse 76 wird geläutert und veredelt haben.

Andererseits sieht er Irrreligion und Christenhass in einer solchen Weise überhandnehmen, dass „die gegenwärtige sichtbare Herrschaft des Christenthums“ an ihr Ende kommen wird.77 Die Kirche geht nicht ihrer Glanzzeit, sondern dem Abfall entgegen, von dessen Wirkungen sie erst durch die große Trübsal gereinigt werden wird. Elemente geschichtlicher Kontinuität und Diskontinuität stehen bei Nast also in einer nicht konsequent miteinander verbundenen Weise nebeneinander. Schließlich stellt auch Nasts These vom geistigen Kommen Christi zum Millennium den Versuch einer Synthese zweier eschatologischer Konzeptionen dar. Nasts „spiritualistischer“ Prämillenniarismus (also seine Lehre vom geistigen Kommen Christi zum Millennium) ist im deutschsprachigen Methodismus nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen, doch blieb seine vermit78 telnde Position offenkundig nicht ohne Wirkung. So fällt auf, dass der langjährige Dozent für Systematische Theologie am Predigerseminar in Frankfurt am Main, Arnold Sulzberger (1832–1097)79, in seiner in mehreren 74 75 76 77 78

79

Vgl. ebd. [Anm. 70], S. 452. Ebd. [Anm. 70]. Ebd. [Anm. 70], 316. W. Nast, Zur Charakteristik unserer Zeit [wie Anm. 65], 57. Vgl. Wilhelm Ahrens mit seinen Ausführungen zur Eschatologie in dem erst posthum erschienenen Buch Der Universal-Konflikt zwischen Gut und Böse, oder Der Kampf zwischen dem Reiche Christi und dem Reiche des Teufels und dessen Ausgang. Auf Grund der heiligen Prophetie und der Geschichte, Cincinnati 1902. Zur Person vgl. Karl Heinz Voigt, Sulzberger, Arnold. In: BBKL 11, 243–246.

Eschatologische Grundrichtungen

219

Auflagen erschienenen Christlichen Glaubenslehre bei Behandlung der Lehre von den letzten Dingen die Begriffe Post- bzw. Prämillenniarismus vollständig vermeidet. In der Sache entwickelt Sulzberger eine Auffassung, die Elemente beider Richtungen enthält. So rechnet er einerseits damit, dass „die Heiden in ihrer Gesamtheit durch die Predigt des Evangeliums in die christliche Kirche“ eingehen werden,80 verweist hinsichtlich des zeitlichen Verhältnisses von Wiederkunft und Tausendjährigem Reich jedoch auf zwei Spielarten des Prämillenniarismus. Zum einen auf die von Nast vertretene Überzeugung von einer unsichtbaren geistigen Wiederkunft Christi, zum anderen auf die weiter verbreitete Überzeugung von einer ersten sichtbaren persönlichen Wiederkunft Christi zum Millennium. Sulzberger urteilt, dass „beide Ansichten … indeß das Wesentliche der Sache selbst fest[halten]“.81 Insgesamt scheint er den spekulativen Details der Eschatologie keine größere Bedeutung zuzubilligen. Auch Sulzberger folgt damit einem auf Vermittlung angelegten Programm, was durch die konsequente Vermeidung der Richtungsbezeichnungen noch einmal unterstrichen wird. Die von Nast vertretene Vermittlungsposition macht deutlich, dass der Zeitpunkt der Wiederkunft Jesu im Verhältnis zum Tausendjährigen Reich nicht der eigentliche Streitpunkt zwischen historischem Prä- und Postmillenniarismus war. Dieser ergab sich vielmehr aus einem unterschiedlichen Verständnis kirchen- und weltgeschichtlicher Abläufe. Rechneten Postmillenniaristen mit einem innergeschichtlichen Sieg des Christentums unter tätiger Inanspruchnahme einer geistlich immer vollmächtigeren Kirche, so „transferierte“ der historische Prämillenniarismus diesen Sieg des Christentums, verstanden als Werk des wiederkommenden Christus, in das Tausendjährige Reich hinein. Maßgeblich dafür waren Zweifel am Vermögen der Kirche(n), geschichtlich betrachtet, eine christliche Nation aufzurichten sowie, geistlich betrachtet, den Angriffen des Bösen zu widerstehen und so dem Abfall zu entgehen. Weil das Tausendjährige Reich dann wieder übereinstimmend als die Glanzzeit der Kirche aufgefasst wurde, geriet das zukünftige Schicksal des Volkes Israel nur vereinzelt und nicht in heilsgeschichtlicher Profilierung in den Blick. In der sich ab 1880 verschärfenden Auseinandersetzung zwischen Ströter auf der einen Seite und den Postmillenniaristen auf der anderen Seite drohte die von Nast vertretene Vermittlungsposition mehr und mehr zwischen den Fronten zerrieben zu werden. Abgesehen von Ströter, der es nicht für notwendig hielt, sich auf menschliche Autoritäten zu berufen, nahmen sowohl 80 81

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Sulzberger, Arnold, Christliche Glaubenslehre, 3. Aufl. Bremen 1898, S. 763. Ebd. [wie Anm. 80], S. 766 und 769.

„Die Zeichen der Zeit erkennen“

Prä- als auch Postmillenniaristen einzelne Argumente der Position Nasts für sich in Anspruch. So hatte sich Hiller für seine postmillenniaristische Argumentation auf Nasts Auslegung der Gleichnisse vom Senfkorn und Sauerteig berufen, wie sie sich in dessen Synoptiker-Kommentar von 1860 findet. Ströter hielt dem entgegen, dass das Gleichnis vom Senfkorn (Mt 13,31) unmöglich für das Heranwachsen des Christentums zu einer siegreichen Weltmacht stehe. Denn die im Gleichnis erwähnten Vögel, die sich auf dem ausgewachsenen Baum niederlassen, seien die „feindseligen Mächte und unreinen Geister, welche die gewaltige und herrliche Ausbreitung der Kir82 che über die Erde benützen, sich auf allen Zweigen einzunisten“. In ähnlicher Weise bezieht er den Sauerteig im nachfolgenden Gleichnis nicht auf das „wiedergebärende, erneuernde und heiligende, göttliche Princip“, sondern auf das „Princip der Zersetzung, der Gährung und der Fäulniß“.83 Für Ströter ist damit ausgedrückt, dass nicht die Kirche die Welt durchdringt, sondern die Welt in zunehmendem Maße die Kirche durchdringt, was in der Geschichte auch stets der Fall gewesen sei, wann immer die Kirche ihre „Knechtsgestalt“ aufgegeben habe. In einer editorischen Anmerkung weist Nast darauf hin, dass er sich bereits seit zwei Jahren von seiner früheren Gleichnisauslegung distanziere, und äußert vorsichtig seine Sympathie für Ströters Interpretation. Allerdings geht er nach diesem Schritt vorwärts gleich wieder einen halben zurück mit der Bemerkung, er sei sich erstens über die Gültigkeit der Ströterschen Deutung nicht sicher und halte zweitens seine frühere Deutung nach wie vor für vereinbar mit einer prämillenniaristischen Überzeugung. Nasts offenkundiger Versuch, über wiederholte Modifikationen seiner Ansichten hinweg insgesamt doch bei einer Synthese von Post- und historischem Prämillenniarismus zu bleiben, brachte ihm innerhalb des deutschamerikanischen Kirchenzweiges wenig Sympathien ein. In seiner NastBiographie vermerkt Carl Wittke zu Recht, dass Nast, der nach Bildung eigener deutschsprachiger Konferenzen in Amerika 1864 wiederholt als Bischofskandidat im Gespräch war, innerhalb seines Kirchenzweiges zu keiner Zeit eine auch nur annähernd ausreichende Unterstützung für die 84 Wahl in dieses Amt aufbringen konnte. Sein Verständnis der Heiligungslehre mag dabei, wie Wittke vermutet, eine Rolle gespielt haben (diese 82

83 84

Ströter, Christi Wiederkunft [wie Anm. 48], S. 385. Bei Nast hieß es dagegen: „Unter den Vögeln sind zunächst die Menschen und Völker zu verstehen, welche der schirmende Bau und Raum der christlichen Kirche aufnimmt. Daher wohnen sie in dem Schatten des großen Baumes“, Commentar [wie Anm. 70], S. 315 (Hervorhebungen im Original). Ströter, Christi Wiederkunft [wie Anm. 48], S. 385. Wittke, Nast [wie Anm. 2], S. 77f.

Eschatologische Grundrichtungen

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vermochte Nast jedoch als ihrem Wesen nach wesleyanisch auszuweisen), viel wahrscheinlicher ist, dass seine schwer klassifizierbare und wiederholt modifizierte Endzeitlehre bei den mehrheitlich postmillenniaristisch eingestellten deutsch-amerikanischen Methodisten Misstrauen hinsichtlich seiner Eignung für dieses Amt weckte. Nachdem sich seine Auffassungen in den 1880er Jahren immer stärker den Positionen Ströters annäherten, sah sich Nast 1887 sogar genötigt, öffentlich auf den Vorwurf der „Disloyalität gegen unsere Kirche“ reagieren zu müssen.85 Anlass war eine missverständliche Äußerung Nasts bezüglich eines vermeintlichen Sinneswandels des von ihm hochgeschätzten Bischofs Merrill, der in seiner Verteidigung des Postmillenniarismus auf der „prophetischen Konferenz“ 1886 zwar auch den christlichen Geist der Prämillenniaristen zu würdigen gewusst hatte, ohne jedoch seine in der Sache ablehnende Haltung aufzugeben. So lassen sich für die beiden letzten Lebensjahrzehnte Nasts zwei Beobachtungen festhalten: Zum einen gewannen seine auf Vermittlung bedachten Ansichten ein immer stärkeres prämillenniaristisches Profil. Schon 1879 hatte er sich von der noch 1860 abgelehnten Lehre einer zweifachen Auferstehung überzeugen lassen: die Auferstehung der Toten sei nicht iden86 tisch mit der Auferstehung aus den Toten. Spätestens 1887 gab er dann auch seine Ansicht vom geistlichen Kommen Christi zum Millennium auf und schloss sich der Lehre von der sichtbaren prämillenniaren Wiederkunft des Herrn an.87 Zum anderen blieb Nast jedoch um den Ausgleich zwischen den dispensationalistischen Positionen Ströters auf der einen und denen des Postmillenniarismus auf der anderen Seite bemüht.88 So antwortete er auf das Erscheinen des den Postmillenniarismus verteidigenden Buches von Bischof Steven Merrill89 mit einer in der Sache zwar kritischen, im Ton 85 86

87 88

89

222

Wilhelm Nast, Berichtigung eines Mißverständnisses. In: Der Christliche Apologete 49 (1887), S. 264. Vgl. Wilhelm Nast, Rev XX, 4 and 5 (unveröffentl. Manuskript in der Nippert Collection der Cincinnati Historical Society), S. 9. Zur exegetischen Behandlung dieser Auffassung anscheinend widersprechender Schriftstellen vgl. ders., Einwendungen gegen die Annahme einer der Auferstehung der Gottlosen vorausgehenden Auferstehung der Gerechten. In: Der Christliche Apologete 41 (1879), S. 41 sowie ders., The Millennial Reign of Christ and his Present Spiritual Kingdom (unveröffentl. Manuskript in der Nippert Collection der Cincinnati Historical Society). Vgl. Nast, Berichtigung eines Mißverständnisses [wie Anm. 85], S. 264. Vgl. sein vorsichtiges Argumentieren in Wilhelm Nast, Die Wiederkunft Christi in ihrem Verhältniß zur Bekehrung der Welt, der Auferstehung der Gerechten und dem Tausendjährigen Reich. In: Der Christliche Apologete 49 (1887), S. 360. Merrill, Steven, The Second Coming of Christ Considered in its Relation to the Millennium, the Resurrection, and the Judgement, Cincinnati 1879. Merrill genoss selbst unter Prämillenniaristen so großes Ansehen, dass er als Gast der „Prophetischen Konferenz“

„Die Zeichen der Zeit erkennen“

jedoch äußerst wohlwollenden Buchbesprechung.90 Nast betonte außerdem wiederholt, daß man in einer richtigen Herzenstellung zum Herrn stehen kann ohne ein richtiges Verständniß des prophetischen Theils der Bibel, selbst in Bezug auf 91 Wahrheiten, die sich wesentlich beziehen auf die Heilsgeschichte der Menschheit.

In diesen Tendenzen drückt sich Nasts Versuch aus, den historischen Prämillenniarismus als Vermittlungsposition zwischen dispensationalistischem Prämillenniarismus auf der einen Seite und Postmillenniarismus auf der anderen Seite zu bestimmen. Mit Ersterem teilt er die Auffassung von der Wiederkunft Christi zum Tausendjährigen Reich sowie – im Ansatz – die kritische Sicht auf die Zukunft von Kirche und Gesellschaft, mit Letzterem teilt er die Auslegung der prophetischen Texte der Bibel im Hinblick auf geschichtliche Abläufe. Vermittelnd wirkt er schließlich durch das Bemühen, beide Positionen für vereinbar zu erklären mit rechter Lehre und aufrichtiger Frömmigkeit. Doch sollte sich diese Stärke der Vermittlungsposition gleichzeitig als ihre Schwäche erweisen.

3 Geschichte und Millennium Untersucht man das Bibelverständnis des deutschsprachigen Methodismus bis 1914 näher,92 dann wird man bei allen Feindifferenzierungen von einer biblizistischen Grundhaltung sprechen, aus der sich entweder – wie bei Ströter – eine konsequente Ablehnung der Bibelkritik oder – wie bei Nast – eine vorsichtige Öffnung für die Resultate der „positiven“ Kritik ergab.

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1886 in Chicago den Standpunkt des Postmillenniarismus darlegen durfte; vgl. Nast, Berichtigung [wie Anm. 85], S. 264. Nast nennt zwei Gründe, warum er nach einigem Zögern doch öffentlich auf Merrills Buch reagiert: „einestheils dies, daß wir mit dem Bischof über einen Glaubensartikel differiren, über den unsere Kirche keine Lehrnorm festgesetzt hat und über den einige der frömmsten und gelehrtesten Theologen noch nicht einig geworden sind; anderntheils die Ueberzeugung, daß es sich dessenungeachtet um einen Lehrpunkt handelt, den die Kirche – und besonders die Meth. Kirche – in unseren Tagen einer gründlicheren Untersuchung würdigen muß und – wie wir nicht zweifeln – würdigen wird“; Bischof Merrill über die zweite Zukunft Christi. In: Der Christliche Apologete 41 (1879), 212 (Hervorhebungen im Original); vgl. weiter Das tausendjährige Reich in keinem Widerspruch mit dem geistigen Reich Christi. In: Der Christliche Apologete 41 (1879), S. 220. Nast, Wiederkunft [wie Anm. 86], S. 360 fährt fort: „Doch ist ein solcher Mangel sehr zu beklagen, weil so Wenige geneigt sind, sich in unserer geschäftigen Zeit mit dem Verständniß des prophetischen Theiles der Bibel im Alten und Neuen Testament zu befassen“ (Hervorhebungen im Original). Vgl. Raedel, Methodistische Theologie [wie Anm. 5], S. 200–239.

Geschichte und Millennium

223

Über die hinsichtlich der Eschatologie bestehenden verschiedenen Lager hinweg wurde jedenfalls der Anspruch erhoben, die eigene Überzeugung allein aus dem Studium der Bibel gewonnen zu haben. Allerdings war dem biblischen Zeugnis die Aufforderung zu entnehmen, aufmerksam die Zeichen der Zeit zu beachten. Schon allein, weil dies fleißig praktiziert wurde, ist anzunehmen, dass das Aufkommen und die Weiterentwicklung eschatologischer Überzeugungsmuster geschichtlichen Bedingungen unterworfen war, die näher in den Blick zu nehmen sind. Es ist eingangs bereits darauf hingewiesen worden, dass der Optimismus der aufstrebenden amerikanischen Nation und das von sukzessiven Erweckungen beflügelte rapide Wachstum der protestantischen Denominationen die Ausprägung einer in gleicher Weise vom Optimismus bestimmten Auffassung wie der des Postmillenniarismus beflügelte. Aus kleinen Anfängen entstanden, war die Methodist Episcopal Church bis 1850 zur stärksten protestantischen Denomination herangewachsen und definierte sich zuneh93 mend als „amerikanische“ Kirche. Die Ausbreitung des Methodismus hielt mit dem Wachsen der Vereinigten Staaten Schritt, die um 1830 entstehende Heiligungsbewegung verlieh der Kirche auch geistlich einen machtvollen inneren Schub. Diese einzigartigen Entwicklungen in der „neuen Welt“ liefern jedoch zugleich die Erklärung dafür, warum der Postmillenniarismus bei aller Vernetzung innerhalb der MEC im deutschen und Schweizer Kirchenzweig nicht wirklich Fuß fassen konnte. Die kirchliche und gesellschaftliche Situation bot hier ungleich weniger Anlass zu einer optimistischen Grundhaltung. Zwar ergaben sich in verschiedenen deutschen Staaten nach 1848 erleichterte Bedingungen für eine freie Religionsausübung und auch in die Gründung des Deutschen Reiches 1871 setzten die Methodisten – wie auch andere Freikirchler – starke Hoffnungen. Die tatsächlichen Entwicklungen dämpften die keimenden Hoffnungen jedoch. Nicht nur erwies sich die tatsächliche Durchsetzung religiöser Freiheiten als mühsames und 94 Geduld forderndes Anliegen, als zutiefst frustrierend wurde die Haltung gerade von Teilen der erwecklichen Kräfte in den Landeskirchen erlebt, die es ablehnten, mit „Sektierern“ für die geistliche Erneuerung von Kirche und 93

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224

Vgl. Russell E. Richey, History as a Bearer of Denominational Identity. Methodism as a Case Study. In: Richey, Russell E./Rowe, Kenneth E./Schmidt, Jean Miller, Perspectives on American Methodism. Interpretative Essays, Nashville 1993, S. 480–497. „Die von der Frankfurter Nationalversammlung erlassenen Bestimmungen über Religionsfreiheit und das Verhältnis von Staat und Kirche waren der Entwicklung in den einzelnen deutschen Ländern weit voraus und wurden deshalb nirgends ganz übernommen“, Minor, Rüdiger, Die Bischöfliche Methodistenkirche in Sachsen. Ihre Geschichte und Gestalt im 19. Jahrhundert in den Beziehungen zur Umwelt, Diss., Leipzig 1963, S. 144.

„Die Zeichen der Zeit erkennen“

Staat zusammenzuarbeiten. Ein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstarkender Konfessionalismus sowie die vornehmlich gesellschaftspolitisch konservative, zum Teil nationalistische Einstellung auch vieler der Erweckung nahe stehender Landeskirchler, die beim Zerbrechen der „Ehe“ von Thron und Altar die Verstärkung von die Ordnung destabilisierenden Kräften wie Sozialisten und Anarchisten befürchteten, marginalisierten die Methodisten ebenso wie andere Freikirchler.95 Das tägliche Erleben verstärkte die Kontrastwahrnehmung gegenüber einer zwar religiösüberkleideten, aber dennoch unübersehbar von Gott entfremdeten Gesellschaft und das Bewusstsein, die von Gott herausgerufene „kleine Herde“ zu sein. Der den Prämillenniarismus (besonders in seiner dispensationalistischen Richtung) kennzeichnende Geschichtspessimismus entsprach insofern der methodistischen Wahrnehmung in Deutschland und schien zudem durch die Grundrichtung der „prophetischen“ Teile der Bibel gerechtfertigt. Allerdings begann der Glanz des Postmillenniarismus auch in seinem Stammland Amerika bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verblassen, denn die sich nach der Beendigung des amerikanischen Bürgerkrieges verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse widersprachen einer einseitig optimistischen Weltsicht in wachsendem Maße. Bereits der amerikanische Bürgerkrieg selbst, in dem sich beide Seiten gleichermaßen auf Gottes Seite wähnten, hatte zu Verunsicherung geführt, auch wenn sich die Niederschlagung der Südstaaten-Rebellion und die damit verbundene Ausmerzung der Sklaverei, zumindest aus der Perspektive der Sieger, noch 96 einmal als ein gewaltiger Fortschritt des Reiches Gottes interpretieren ließ. Doch vor allem ließ das Entstehen der Großstädte im Osten und Norden des Landes die wachsenden sozialen Spannungen immer unübersehbarer werden. Der anschwellende Strom der Einwanderer wirkte sich verschärfend auf die sozialen Zustände aus und veränderte die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung.97 Schließlich veränderte sich auch das geistige Klima spürbar. Seminare und Universitäten öffneten sich neueren philosophischen und theologischen Strömungen und lösten in diesem Zuge ihre bislang beste-

95 96

97

Zum Verhältnis von Frei- und Landeskirchlern vgl. Voigt, Karl Heinz, Die Evangelische Allianz als ökumenische Bewegung, Stuttgart 1990. „As a whole, the curious result was that a war won (and lost) by people who felt that true religion was at stake produced a nation in which the power of religion declined“; Noll, Mark A., A History of Christianity in the United States and Canada, Grand Rapids 1992, 323. Beispielsweise stieg der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, bedingt vor allem durch Zuwanderung, zwischen 1860 und 1906 von 21,4% auf 32,4%; vgl. ebd. [wie Anm. 96], S. 361.

Geschichte und Millennium

225

henden denominationellen Bindungen auf. Zumindest einer einseitig optimistischen Zukunftssicht mussten diese Beobachtungen widersprechen.98 Weil der amerikanische Methodismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zur civil religion der Vereinigten Staaten wurde, konnte die Veränderung des gesellschaftlichen Klimas nicht ohne Rückwirkungen auf das Selbstverständnis und die Arbeitsweise der Kirche bleiben. So erschütterte die radikale Bibelkritik den Glauben an jede Art von Millenniarismus nachhaltig.99 Die weithin wörtliche Auslegung der apokalyptischen Teile der Bibel schien durch die kritischen bibelwissenschaftlichen Studien zur prophetischen Literatur des Alten Testaments sowie zur Verkündigung des historischen Jesus immer zweifelhafter. Im Gegenzug nahm die Transformation der traditionellen Elemente christlicher Eschatologie in Idealvorstellungen einer diesseitig orientierten ethischen Lebensgestaltung immer deutlichere Züge an, eine Entwicklung, die sich maßgeblich in der Social Gospel-Bewegung niederschlug. Als das 20. Jahrhundert begann, war der Postmillenniarismus unübersehbar in die Phase seiner Säkularisierung 100 eingetreten. Gemeint ist damit, dass die den älteren Postmillenniarismus kennzeichnende Balance von göttlichen und menschlichen Faktoren in der Verwirklichung geschichtlicher Ziele sich mehr und mehr zugunsten letzterer verschob.101 Die Säkularisierung des postmillenniaristischen Geschichtsprogramms vollzog sich schrittweise und bei Weitem nicht einheitlich, sodass alle denkbaren Schattierungen eines „semireligiösen“ Fortschrittsden-

98

Vgl. Donald W. Dayton, Millennial Views and Social Reform in Nineteenth Century America. In: Bryant, M. Darrol/Dayton, Donald (Hrsg.), The Coming Kingdom. Essays in American Millennialism and Eschatology, New York 1983, S. 139f. 99 Darüber kann auch das zeitlich parallele Aufkommen des dispensationalistischen Prämillenniarismus nicht hinwegtäuschen, dessen Popularisierung sich nur innerhalb eines Segments konservativer Protestanten vollzog. Vgl. James H. Moorhead, The Erosion of Postmillennialism in American Religious Thought, 1865–1925. In: Church History 53 (1984), S. 67ff. 100 Vgl. Marsden, Fundamentalism [wie Anm. 26], S. 50f. 101 Russell E. Richey hat gezeigt, wie der für die methodistische Geschichtsschreibung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zentrale Gedanke der göttlichen Vorsehung bei Abel Stevens und James Buckley, zwei methodistischen Historikern, modifiziert wird. Bei Stevens geschieht dies, indem der Gedanke der speziellen, auf den einzelnen Menschen bezogenen Providenz hinter dem der allgemeinen Providenz, bezogen auf geschichtliche Bewegungen und Entwicklungen, zurücktritt. Bei Buckley schließlich wird die Vorstellung göttlicher Providenz als Referenzrahmen für das Studium der Geschichte völlig aufgegeben. Die Darstellung hat sich ausschließlich an den Fakten zu orientieren; vgl. Methodism and Providence. A Study in Secularization. In: Robbins, Keith (Hrsg.), Protestant Evangelicalism. Britain, Ireland, Germany and America 1750–1950. Essays in Honour of W. R. Ward, Oxford 1990, S. 51–77.

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„Die Zeichen der Zeit erkennen“

kens zum Vorschein traten.102 So weicht die Erwartung immer neuer und stärkerer Ausgießungen des Heiligen Geistes einem quasi naturalistischen Fortschrittsdenken, in dem übernatürliche Einwirkungen keinen Platz mehr haben. Das Aufkommen des dispensationalistischen Prämillenniarismus kann vor diesem Hintergrund als eine Reaktion auf die krisenhafte Situation verstanden werden, die sich aus dem Versagen des Postmillenniarismus ergab, die Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Zivilisation 103 plausibel zu beantworten. Seit den 1870er Jahren verstärkten sich die Zweifel daran, dass die bestehende Gesellschaft bruchlos in das Tausendjährige Reich einmünden würde. Für den Dispensationalismus war der Postmillenniarismus an der zunehmenden Spannung zwischen seiner biblische Begründung reklamierenden Zukunftshoffnung und der aktuellen geschichtlichen Erfahrung zerbrochen.104 Angesichts der sich verschärfenden gesellschaftlichen Spannungen schien das Verhältnis von Christentum und Zivilisation nicht länger ohne die Kategorie des radikalen Bruches erklärbar. Genau diesen Bruch aber − auf der geschichtlichen Ebene − bot die Lehre von der sichtbaren Wiederkunft Christi vor dem Tausendjährigen Reich. Außerdem erwies sich, so schien es, die postmillenniaristische Hermeneutik mit ihrer Ambivalenz von wörtlicher und geistlicher Auslegung als ungeeignet, in der sich anbahnenden Auseinandersetzung mit der radikalen Bibelkritik zu bestehen. Auch hier erschien Darbys strenger Literalismus als 105 in sich schlüssige Alternative. Der Teile des amerikanischen Protestantismus am Ende des 19. Jahrhunderts kennzeichnende Übergang vom Post- zum dispensationalistischen Prämillenniarismus lässt sich nach Donald Dayton als Übergang von einer 102 Vgl. Jean B. Quandt, Religion and Social Thought. The Secularization of Postmillennialism. In: American Quarterly 25 (1973), S. 390–409. 103 So Marsden, Fundamentalism [wie Anm. 26], S. 51. 104 Dayton, Views [wie Anm. 98], S. 141. 105 Vgl. James H. Moorhead, Prophesy, Millennialism, and Biblical Interpretation in Nineteenth-Century America. In: Burrows, Mark S./Roram, Paul (Hrsg.), Biblical Hermeneutics in Historical Perspective, Grand Rapids 1991, S. 291–302. Moorhead weist in diesem Zusammenhang auf eine wichtige Argumentationsfigur der Postmillenniarier gegenüber dem Vorwurf der Spiritualisierung hin: „Postmillenniarists insisted that the major ostensive referent of prophesy was the triumph of Christ’s kingdom, a kingdom which was moral or spiritual in character. To make this assertation was not to abandon the plain meaning of Scripture but rather to affirm it. In a word, the spiritual reading of the text was a literal one“ (ebd., S. 297). Im Gegenzug warfen die Postmillenniaristen ihren Gegnern vor, ihre Hermeneutik beruhe auf der falschen Voraussetzung, die Verheißungen des Neuen Testaments durch die Linse des Alten, und nicht umgekehrt die Prophetien des Alten Testaments durch die Linse des Neuen zu lesen (vgl. ebd., S. 298).

Geschichte und Millennium

227

„prophetischen“ zu einer „apokalyptischen“ Eschatologie, bzw. vom „ethical prophetism“ zum „ahistorical apocalypcism“ deuten.106 Danach kennzeichnet den „ethischen Prophetismus“, dass er die Vision Gottes für sein Volk in dessen Geschichte einträgt. Dagegen fallen in der „ahistorischen Apokalyptik“ göttliche Vision und geschichtliche Wirklichkeit radikal auseinander. Im ersten Fall vollendet, im zweiten Fall überwindet Gottes Kommen die Geschichte. Das Ziel, nämlich die eschatologische Wiederherstellung des Gottesvolkes, bleibt freilich in beiden Fällen dasselbe. Als 1914 der Erste Weltkrieg beginnt, lassen sich im deutschsprachigen Methodismus auf beiden Seiten des Atlantiks beide der genannten Strömungen ausmachen. Daneben besaß – vor allem in Deutschland – der ältere Prämillenniarismus eine feste Anhängerschaft. Anzeichen dafür, dass der dispensationalistische Prämillenniarismus in den folgenden Jahrzehnten weiter an Plausibilität vor allem unter mehr evangelikalen Methodisten gewinnen würde, lassen sich jedoch bereits bis 1914 erkennen. So kann es als geschichtliche Tatsache gelten, dass sich im Kontext verschärfender Spannungen in erster Linie „konsequente“ bzw. „radikale“ Positionen profilieren können, wogegen es die auf Abwägung und Differenzierung ausgerichteten Vermittlungspositionen in einer aufgeheizten Atmosphäre für gewöhnlich schwer haben, gehört zu werden. Der ältere Prämillenniarismus, der zwar mit dem Dispensationalismus die Auffassung von Jesu Wiederkunft zum Millennium teilte, geschichtshermeneutisch jedoch dem Postmillenniarismus näher stand, stellte faktisch eine solche Vermittlungsposition dar. Obwohl Nast zunächst die ihm eigentümliche Form des „spiritualistischen“ Prämillenniarismus vertrat, darf sein Bemühen um Ausgleich und ein Zusammenstehen aller „gläubigen“ Kräfte angesichts von Rationalismus, Materialismus und Sozialismus als exemplarisch für diese Richtung angesehen werden. Auf Dauer jedoch konnte der historische Prämillenniarismus nicht dem Schicksal entgehen, zwischen Postmillenniarismus auf der einen und dispensationalistischem Prämillenniarismus auf der anderen Seite zerrieben zu werden. Die Zeichen der Zeit sollten beurteilt werden – aber eine von „Bolschewismus“ und heraufziehendem Krieg bestimmte Zeit verlangte auch danach, konkurrierende theologische Geschichtsdeutungen zu verurteilen. Mit dem Eindringen „moderner“ bzw. „rationalistischer“ Strömungen in die Theologie wurde auch jener Teil des vor allem in Amerika vertretenen Postmillenniarismus, der sich einer „Säkularisierung“ widersetzte, in eine ähnlich unbequeme Mittelposition gedrängt. So gab Wilhelm Nast 1887 zu bedenken, dass selbst Postmillenniaristen einräumten, sie könnten mit ihrer 106 Dayton, Donald W., Theological Roots of Pentacostalism, Peabody 1987, S. 158ff.

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„Die Zeichen der Zeit erkennen“

„allegorischen“ Deutung bestimmter prophetischer Bibelstellen nicht auf halbem Wege stehen bleiben.107 Was würde zumindest andere daran hindern, den Weg der sinnbildlichen Auslegung zu Ende zu gehen und die Heilstatsachen selbst, wie die Auferstehung der Toten, die Wiederkunft Christi überhaupt und das zukünftige Gericht, einer radikalen historischen Kritik zu unterwerfen? Noch 1879 empfand der methodistische Bischof Merrill seine postmillenniaristische Ansicht als gesunde Alternative zu den drohenden Extremen von „Literalismus“ auf der einen und „Liberalismus“ auf der anderen Seite.108 Doch verlor diese Alternative in dem Maße an Attraktivität, wie der Postmillenniarismus sich von innen her säkularisierte und von außen her zwischen die Fronten von theologischem Liberalismus einerseits und dispensationalistischem Literalismus andererseits geriet.

4 Fazit Die drei im deutschsprachigen Methodismus zwischen 1835 und 1914 vertretenen millenniaristischen Auffassungen sind noch keine systematischtheologisch ausgearbeiteten Konzeptionen, sondern primär die Frucht biblisch-theologischer Arbeit, die jedoch ihre Bezogenheit auf zeitgeschichtliche Faktoren nicht verleugnen kann. Während am Beginn des deutschsprachigen (bischöflichen) Methodismus in Amerika um 1835 die von weiten Teilen des amerikanischen Protestantismus geteilte postmillenniaristische Auffassung steht, kommt es bis 1914 zur Ausdifferenzierung in drei verschiedene Richtungen, zu denen neben dem Postmillenniarismus der historische sowie der dispensationalistische Prämillenniarismus gehörten. Während sich Post- und Prämillenniarismus vordergründig durch die unterschiedliche Bestimmung des zeitlichen Verhältnisses von Parusie Jesu und Millennium unterscheiden, steht der historische Prämillenniarismus hinsichtlich seiner geschichtshermeneutischen Prämissen dem Postmillenniarismus näher als dem Dispensationalismus. Letzterer entwickelte eine scharf akzentuierte Schriftlehre, die auf einer rein futurischen Auslegung der biblischen Weissagungen beruht, und der eine betont pessimistische Sicht bezüglich des Abfalls der Kirche und des Niedergangs der Gesellschaft sowie eine scharfe heilsgeschichtliche Unterscheidung von Kirche und Israel entsprechen. Obwohl Post- und historischer Prämillenniarismus bis zum Ersten Weltkrieg (und darüber hinaus) im deutschsprachigen Methodismus präsent 107 Vgl. Nast, Berichtigung [wie Anm. 85], S. 264. 108 Vgl. Merill, Second Coming [wie Anm. 89], S. 13.

Fazit

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bleiben, verlieren sie angesichts einer Lage, in der die Spannungen in Kirche und Gesellschaft als zunehmend schärfer erlebt und die kritische Bibelwissenschaft als immer bedrohlicher empfunden wird, mehr und mehr an Plausibilität und Durchschlagskraft. Der historisch jüngere dispensationalistische Prämillenniarismus erweist sich – vor allem unter dem Einfluss Ernst Ströters – bis 1914 als aufstrebende dynamische Bewegung.

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„Die Zeichen der Zeit erkennen“

Von den Heiligungsbewegungen zur Entstehung der Pfingstkirchen Theologiegeschichtliche Aspekte Als Papst Leo XIII. am 1. Januar 1901 in einer Messe im Petersdom im Namen der ganzen Kirche den Heiligen Geist anrief, den Hymnus „Veni creator spiritus“ singen ließ und das 20. Jahrhundert dem Heiligen Geist weihte,1 dürften die wenigsten geahnt haben, welche Entwicklungen hundert Jahre später dazu berechtigen würden, tatsächlich von einem Jahrhundert des Heiligen Geistes sprechen zu können. Heute stehen uns das rasante Wachstum und die weltweite Ausbreitung der Pfingstbewegung vor Augen, die bis in die wissenschaftliche Forschung hinein Aufmerksamkeit gefunden haben. In diesem Beitrag möchte ich in einem knappen Überblick die theologiegeschichtlichen Wurzeln der Pfingstbewegung freilegen, und werde in dieser Absicht (1) erläutern, inwiefern die Pfingstbewegung ihre Wurzeln in den angelsächsischen Heiligungsbewegungen hat, und (2) aufzeigen, welche theologischen Grundmuster die sich aus ihnen entwickelnden Pfingstkirchen aufweisen.

1 Die Wurzeln der Pfingstbewegung Donald W. Dayton hat die weithin beachtete These vertreten, wonach Pfingstler in ihrer Unterschiedlichkeit das Bekenntnis teilen zu Jesus Christus als (1) Erlöser, (2) Geisttäufer, (3) Heiler und (4) wiederkommender Herr.2 Ich werde im Folgenden herausarbeiten, dass der Verweis auf dieses „vierfältige Evangelium“ besser als andere Vorschläge geeignet ist, die Identität von Pfingstkirchen zu bestimmen, was zugleich bedeutet, dass meiner Auffassung nach die Pneumatologie der Pfingstbewegung nur vor dem Hintergrund ihrer Christologie plausibel ist. Dieser Überzeugung entspricht – theologiegeschichtlich gesehen – die Verwurzelung der Pfingstbewegung in den Heiligungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, die ihrerseits durch die methodistische Theologie und die Erweckungsbewegungen des 18. Jahr-

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Zur Vorgeschichte seiner Betonung der Wirksamkeit des Heiligen Geistes vgl. Taddioli, Renata, Elena Guerra. Die Frau des Pfingstgeheimnisses und des Abendmahlssaales, Alzenau 2005, S. 77ff. Vgl. Dayton, Donald W., The Roots of Pentecostalism, Metuchen 1994, S. 21.

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hunderts vorbereitet sind. Damit ist nicht behauptet, dass dies der einzige, wohl aber, dass er der theologisch wirkmächtigste Wurzelstrang ist.3 1.1 Mentoren des Methodismus: John Wesley und John Fletcher 1.1.1 Der Weg der Vollkommenheit bei John Wesley (1703–1791)4 Wesleys Erlösungslehre war von einem Optimismus der Gnade durchzogen. Als leitend für seine Theologie erweist sich sein Verständnis biblischer Verheißungen, wonach Gott in den Gläubigen die Sünde überwinden und sie mit seiner Liebe erfüllen wird. In der von Wesley verwendeten Terminologie bedeutete dies, dass Rechtfertigung und Wiedergeburt gleichursprünglich der Beginn des Glaubensweges sind, sie aber voneinander zu unterscheiden sind: „Rechtfertigung bewirkt die Änderung einer Beziehung, die neue Geburt eine wirkliche Umgestaltung. Wenn Gott uns rechtfertigt, so tut er etwas für uns; wenn er uns zeugt, wirkt er in uns.“5 Bringt die Rechtfertigung Befreiung von der Schuld der Sünde, so die Wiedergeburt Befreiung von der Macht der Sünde. Bleibt im Christen auch Sünde zurück, so regiert sie doch nicht mehr, sondern wird von der Macht der Liebe Gottes überwunden. Der so bezeichnete Weg der Heiligung läuft nach Wesley auf den Kulminationspunkt eines zweiten Gnadenwerkes zu, nämlich die gänzliche Heiligung, in der Gott „should destroy sin ‚by the breath of his mouth‘ in a moment, in the twinkling of an eye“.6 Diese, wie Wesley es auch nennt, „christliche Vollkommenheit“ meint die Befreiung vom Wesen der Sünde. Für Wesley ist der vollkommene Christ ganz von Gottes Liebe erfüllt.

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Walter Hollenweger spricht von insgesamt fünf Wurzeln: der schwarzen mündlichen, der katholischen, der evangelikalen, der kritischen und der ökumenischen Wurzel, vgl. Charismatisch-pfingstliches Christentum. Herkunft, Situation, ökumenische Chancen, Göttingen 1997. Bei genauerer Betrachtung – man vgl. seine Grafik auf Seite 14 des Buches – zeigt sich, dass er von zwei wesentlichen Wurzelsträngen ausgeht, nämlich der Heiligungsbewegung des 19. Jahrhunderts sowie der schwarzen mündlichen Wurzel, die seines Erachtens zu lange unberücksichtigt geblieben ist. Inzwischen gilt es zu Recht als problematisch, das Aufkommen der Pfingstbewegung allein aus den überlieferten schriftlichen Quellen einiger ihrer westlichen Protagonisten zu rekonstruieren. Zu den historisch-theologischen Aspekten vgl. Collins, Kenneth J., John Wesley. A Theological Journey, Nashville 2003. John Wesley, Das große Vorrecht der aus Gott Geborenen (Predigt 19) § Einl. 2. In: Ders., Die 53 Lehrpredigten. Übersetzt und hrsg. von Manfred Marquardt (Methodistische Quellentexte 1), 2. Aufl. Göttingen 2016, S. 264. Ebd. [wie Anm. 5], S. 168.

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Für Wesley ist Gottes Wirken am und im Menschen stark teleologisch bestimmt. Gottes Gnade kommt darin zum Ziel, dass sie die Sünde im Glaubenden überwindet und ihn durch und durch mit göttlicher Liebe erfüllt. Dabei geht Wesley von einem ganzheitlichen Verständnis von Heiligung aus, in dem die persönliche und die soziale Dimension einander zugeordnet sind. Heiligung zielt sowohl auf die Veränderung menschlicher Beziehungen als auch sozialer Strukturen, was sich in caritativen Initiativen und im systematischen Aufbau von Gemeinschaftsstrukturen zeigte.7 Darin spricht sich ein radikales Verständnis von Heil und Heiligung aus, das die persönliche wie die soziale Macht der Sünde herausfordert. 1.1.2 Geisttaufe als zweites Gnadenwerk bei John Fletcher (1729–1785) Der von Wesley als sein Nachfolger designierte Fletcher rückte die Erlösungslehre in ein Schema heilsgeschichtlicher Dispensationen ein.8 Der entscheidende Punkt dieses Konzepts liegt darin, dass der Weg des Christen dem Weg des Volkes Israel entspricht, was bedeutet: So wie Israel aus Ägypten ausziehen und das verheißene Land einnehmen musste, so ist auch die Teilhabe am Neuen Bund durch zwei aufeinanderfolgende Gnadenwerke konstituiert, nämlich durch die Anteilhabe am auferstandenen Jesus Christus (das Ostern des Christen) und durch das Erfülltwerden mit dem Heiligen Geist (das Pfingsten des Christen). Für diese Vorstellungen rekurriert Fletcher vor allem auf die lukanischen Texte des Neuen Testaments. Fletcher identifiziert also das von Wesley als gänzliche Heiligung verstandene zweite Gnadenwerk mit der Geisttaufe, der wiedergeborene Christ hat somit noch nicht den Heiligen Geist empfangen, soll sich jedoch nach ihm ausstrecken. Während Wesley die christliche Vollkommenheit als das (irdische) Ziel des Christenlebens beschreibt (freilich ohne das ewige Leben aus dem Blick zu verlieren), gibt Fletcher der Heiligungslehre eine stärker eschatologische Ausrichtung. Bekehrung und Geisttaufe markieren den – gestuften – Zugang zum Reich Gottes, wogegen der Zielpunkt der Heiligung betont die Wiederkunft Jesu Christi ist. Bereits bei Fletcher tritt die später auch die Pfingstbewegung kennzeichnende Parusieerwartung in den Vordergrund. Im Er7 8

Vgl. Marquardt, Manfred, Praxis und Prinzipien der Sozialethik John Wesleys, 3. Aufl. Göttingen 2008. Vgl. zum Folgenden Wood, Laurence W., The Meaning of Pentecost in Early Methodism. Rediscovering John Fletcher as John Wesley’s Vindicator and Designated Successor, Lanham/Oxford 2002, bes. S. 113–144. Für eine historische Perspektive vgl. Streiff, Patrick P., Jean Guillaume de la Fléchère/John William Fletcher (1729–1785). Ein Beitrag zur Geschichte des Methodismus, Frankfurt am Main 1984.

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gebnis seiner starken Rezeption der lukanischen Schriften im Neuen Testament versteht Fletcher die Heiligung vor allem als Ermächtigung zu Zeugnis und Dienst im Reich Gottes. Das bedeutet, dass der später von den Pfingstlern vollzogene Übergang vom Verständnis der Heiligung als „purity“ zum Verständnis als „power“ bereits im frühen Methodismus angelegt ist. 1.1.3 Zusammenfassung Halten wir fest: Der Methodismus des 18. Jahrhunderts wirkt auf nachfolgende Frömmigkeitsbewegungen mit seiner Vorstellung von sukzessiven Heilsstufen ein, wobei die Begrifflichkeit der Geisttaufe bereits begegnet, ohne als dominantes Motiv hervorzutreten. Die ebenfalls präsente Erwartung der Wiederkunft des Herrn ist hier – noch – in den Horizont eines geschichtsoptimistischen Postmillenniarismus eingezeichnet, während die Verbindung von Heil und Heilung nicht als eigenständiger Topos erkennbar wird. Zu dieser Seite hin sollte das Heiligungsverständnis erst im 19. Jahrhundert ausgebaut werden. Ekstatische Phänomene, wie Schreien, Weinen, Lachen, Umfallen, sind schon für die Erweckungen im 18. Jahrhundert 9 belegt, also keine Novität der Pfingstbewegung, zum Unterscheidungsmerkmal sollte für sie das Reden in Zungen werden. 1.2 Theologische Konturen der Heiligungsbewegungen im 19. Jahrhundert 1.2.1 „A Deeper Christian Life“: Die methodistische Heiligungsbewegung des 19. Jahrhunderts Getragen von der Zuversicht, dass die vollkommene Liebe Unrecht und Übel einer Gesellschaft zu überwinden vermag, wurde der erwecklich geprägte Protestantismus im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten zu einer mächtigen sozialreformerischen Kraft.10 Nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges 1865 zeigten sich jedoch Etablierungs- und Anpassungstendenzen der Kirchen: Das postmillenniaristische Verständnis, wonach das Evangelium einen unaufhaltbaren Siegeszug in der Welt angetreten habe, verschmolz zunehmend mit der Vision eines christlichen Amerika, in 9

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Vgl. Patrick P. Streiff, Enthusiastische Phänomene im Umfeld des Methodismus. In: Theologie für die Praxis 21 (1995), S. 63–84; Marsden, George M., Jonathan Edwards. A Life, New Haven 2003, S. 217ff. Vgl. Smith, Timothy L., Revivalism and Social Reform. American Protestantism on the Eve of the Civil War, Baltimore/London 1980.

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dem die Kirchen einen respektablen Platz einnehmen und als Akteure des Fortschritts wertgeschätzt sind, dadurch aber freilich an prophetischem Geist verloren. Das führte zum Entstehen geistlich radikaler Gruppen, die sich nicht dem status quo erreichter Etablierung, sondern einem Programm radikaler gesellschaftlicher Veränderungen verpflichtet sahen,11 was zu innerkirchlichen Spannungen führen musste. Das Aufkommen neuer Heiligungsbewegungen (methodistischer und reformierter Ausprägung) ab 1867 vollzog sich damit in einem Land, das immer noch unter den Nachwirkungen des Bürgerkrieges litt und sich im Zuge der beginnenden Industrialisierung und Urbanisierung mit wachsenden sozialen Verwerfungen konfrontiert sah. Die Methodist Episcopal Church (MEC), die zunächst die Heiligungsbewegung als Wegbereiter geistlicher Erneuerung in den Gemeinden begrüßt hatte, musste schon bald erkennen, dass eine radikale Bewegung mit einer etablierten Kirchenorganisation nicht kompatibel ist. Heiligungsprediger und ihre Heiligungsversammlungen entzogen sich der strikten kirchlichen Disziplin, extreme Positionen hinsichtlich Ethikkodizes und Heilsstufen weckten den Argwohn der Kirchenleitung, sodass sich die MEC in den 1880er Jahren von der neuen 12 Heiligungsbewegung zu distanzieren begann. Zum „Showdown“ zwischen Kirche und Bewegung kam es 1894 auf der Generalkonferenz der – seit 1844 gegenüber dem Norden eigenständigen – Methodist Episcopal Church, South (MECS). In scharfen Worten kritisierte die Konferenz eine Abwertung der Wiedergeburt und der Anspruch der Heiligungsbewegung auf ein Monopol rechter christlicher Heiligungserfahrung.13 Solcher Art zurückgewiesen entstanden in den folgenden Jahren zahlreiche Heiligungskirchen (z. B. 1895 die Church of the Nazarene), man spricht auch von der Bewegung des „Come-Outism“ (nach 2Kor 6,17). Niemals zuvor entstanden so viele Kirchen in so kurzer Zeit. Die neuen Kirchen vertraten dezidiert eine Zwei-Stufen-Lehre und verbanden die Heiligung mit einem strikten Ethos der Lebensführung (besonders ausgeprägt im Süden der USA). Während im etablierten Methodismus die Lehre von der christlichen Vollkommenheit verblasste, pentekostalisierte sich gleichzeitig die Sprache der Heiligungsbewegung zunehmend. Die Heiligung als zweites Gnadenwerk wird – wie schon bei Fletcher – eingekleidet in die Sprache des Pfingstereignisses. 11 12 13

Vgl. Dayton, Donald W., Discovering an Evangelical Heritage, 4. Aufl. Peabody 2000. Vgl. Peters, John L., Christian Perfection and American Methodism, Grand Rapids 1985, S. 133ff. Vgl. Synan, Vinson, The Holiness-Pentecostal Tradition. Charismatic Movements in the Twentieth Century, 2. Aufl. Grand Rapids/Cambridge (UK) 1997, S. 39f.

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1.2.2 „A Higher Christian Life“: Die reformierte Heiligungsbewegung Vom Verlangen nach einem tieferen, geisterfüllten Heilsleben waren im 19. Jahrhundert nicht nur methodistische Kirchen ergriffen. In Unterscheidung von der methodistischen „Deeper Christian Life Movement“ wurde die reformierte Heiligungsbewegung als „Higher Christian Life Movement“ bezeichnet, zu deren wichtigstem Zweig in England die „Keswick Movement“ wurde.14 Einer der wirkmächtigen theologischen Impulsgeber in Amerika war Charles Finney (1792–1875).15 Finney lehrte eine „natural ability“ des Menschen, was bedeutet, dass die Vollkommenheit durch Ausübung des freien Willens erreicht werden kann. Weil Sünde und Heil nicht in ein und derselben Person miteinander bestehen könnten, sei eine gänzliche Hingabe an Gott nötig. Dabei identifizierte Finney (zunehmend) die Taufe mit dem Heiligen Geist als das Mittel, um die gänzliche Heiligung zu erlangen. Im Unterschied zu Wesley verstand Finney die Heiligung nicht so sehr als einmalige krisenhafte Erfahrung. Vielmehr speise sich das Leben in der Heiligung aus immer neuen Ausgießungen des Geistes, weshalb Finney von „Geisttaufen“ im Plural sprechen konnte. Mit Fletcher betont Finney den Aspekt der Ermächtigung zum Dienst: Die Geisttaufe ist für ihn der Grund erfolgreicher Evangelisationstätigkeit. Zu den einflussreichsten und wirkmächtigsten Verkündigern der reformierten Heiligungsbewegung ab 1870 gehörten William Boardman (1810–1886), Hannah Whitall Smith (1832–1911) und ihr Mann Robert Pearsall Smith (1827–1898). Die reformierte Heiligungsbewegung fand ihre Ausprägungen vor allem unter Presbyterianern und (calvinistischen) Baptisten. 1.2.3 Die Heiligungsbewegung in Deutschland In Deutschland geht der Heiligungsimpuls nicht direkt von dem – in Gestalt mehrerer Freikirchen präsenten – Methodismus aus, sondern erweist sich als von angelsächsischen, v. a. britischen Einflüssen belebt, die maßgeblich in der innerlandeskirchlichen Gemeinschaftsbewegung, wie sie sich ab den 1880er Jahren zu formieren begann, ihre Wirkung entfalteten. Greifbar werden diese Einflüsse bereits bei den deutschen Teilnehmern an der Oxford Conference 1874 sowie an den Wirkungen der Verkündigungsreise

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Vgl. Bebbington, David W., Holiness in Nineteenth-Century England, Carlisle 2000. Vgl. Gresham, John L., Charles G. Finney’s Doctrine of the Baptism of the Holy Spirit, Peabody 1987.

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des amerikanischen Heiligungspredigers Robert Pearsall Smith 1875.16 Theologisch zeigte sich die deutsche Heiligungsbewegung, was Stufenlehren angeht, von Anfang an sehr heterogen, in der Frage der Überwindung der Sünde und der Ermächtigung zum Dienst bestand insgesamt eine größere Nähe zur reformierten Lehre und insbesondere der Lehre der britischen Keswick-Bewegung, die keine Ausrottung, sondern die Unterdrückung der Sündennatur und die Geisttaufe als Bevollmächtigung lehrte.17 1.2.4 Zusammenfassung Worin liegt die Bedeutung der Heiligungsbewegung für die um die Wende zum 20. Jahrhundert entstehende Pfingstbewegung? Zum Ersten finden bei ihnen die bereits bei Wesley und Fletcher formulierten Vorstellungen von den Heilsstufen Aufnahme. Diese Vorstellungen wurden in den Heiligungsbewegungen des 19. Jahrhunderts unterschiedlich rezipiert, sodass ein Grund für die theologische Vielfalt der Pfingstkirchen in dieser Hinsicht bereits in der Vielfalt der ihre Entstehung inspirierenden Heiligungsbewegungen liegt. Zum Zweiten intensivierte sich in den Heiligungsbewegungen zum Ende des 19. Jahrhunderts die Naherwartung der Wiederkunft Christi, wobei jedoch die optimistischen Zukunftsvisionen des Postmilleniarismus, denen in den kulturprotestantischer werdenden Kirchen gehuldigt wurde, in einer Zeit wachsender sozialer Verwerfungen und neuer kriegerischer Konflikte zunehmend an Plausibilität verloren und der Prämillenniarismus an Einfluss gewann. Dem Prämillenniarismus zufolge gehen der nahen Wiederkunft des Herrn Verfallserscheinungen in der Gesellschaft voran, die auch die Gemeinde Jesu nicht aufzuhalten vermag, die gemäß biblischer 18 Prophetie vielmehr kommen müssen. Insofern bereiten die Heiligungsbe-

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Vgl. Voigt, Karl Heinz , Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre Auswirkungen auf die zwischenkirchlichen Beziehungen, Wuppertal 1996. Vgl. Fleisch, Paul, Die Heiligungsbewegung. Von den Segenstagen in Oxford 1874 bis zur Oxford-Gruppenbewegung Frank Buchmans, hrsg. und eingel. von Jörg H. Ohlemacher, Gießen 2003 sowie Schmieder, Lucida, Geisttaufe. Ein Beitrag zur neueren Glaubensgeschichte, Paderborn 1982. Diese Neuausrichtung der Eschatologie ist u. a. auf den Briten John Nelson Darby (1800–1882) zurückzuführen, der in England als Begründer der Plymouth Brethren in Erscheinung getreten war und – auch auf Reisen durch die USA – einen prämillenniaristischen Dispensationalismus predigte; vgl. Weber, Timothy P., Living in the Shadow of the Second Coming. American Premillennialism 1875–1925, New York/Oxford 1979.

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wegungen jene dringende Endzeiterwartung vor, die später auch die entstehende Pfingstbewegung kennzeichnen wird. Als dritter Punkt ist die in der Heiligungsbewegung anzutreffende Verbindung von Heil und Heilung zu nennen.19 In der Heilungsbewegung wurde gelehrt, dass der Gottessohn am Kreuz mit der Sünde der Menschen auch ihre Krankheit auf sich genommen habe. Wenn Krankheit ein Resultat des Sündenfalls sei, dann muss auch die körperliche Heilung in die von Christus erwirkte Erlösung eingeschlossen sein.20 Der dafür häufig herangezogene Text aus Jes 53,4 ist innerhalb der Heilungsbewegung unterschiedlich interpretiert worden, doch zieht sich durch die Auslegung das Anliegen, das Heil auch in seiner physisch-sozialen Gestalt erfahrbar werden zu lassen. Stephan Holthaus zufolge war die Lehre von der Heilung der Gläubigen von allen Krankheiten eine „der wichtigsten Folgen der Heiligungsbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts“.21 Das Vertrauen auf Christus als Heiler, als Arzt, wird zu einem der fundamentalen Lebensäußerungen der Pfingstbewegung. 1.3

The „Fire-Baptized“-Way: Die Geistestaufe als drittes Gnadenwerk

Ein wichtiges Scharnierglied für den Übergang von der Heiligungs- zur Pfingstbewegung in den USA ist die Weiterentwicklung der Lehre von den Gnadenstufen im sogenannten „Fire-Baptized“-Way.22 R. C. Horner, ein kanadischer Evangelist, vertrat 1891 in seinem Buch Pentecost die Auffassung, dass die Taufe mit dem Heiligen Geist ein drittes Werk der Gnade sei, das auf Bekehrung und gänzliche Heiligung folge. Popularisiert wurde diese Auffassung aber vor allem durch Benjamin Hardin Irwin, der 1895 zum Begründer der „Fire-Baptized Holiness Church“ wurde. Irwin hatte eingehend John Fletchers Schriften studiert und fand bei ihm die Überzeugung, dass ein Christ verschiedene Taufen empfangen könne, wenn dies nötig sei. So empfing Irwin im Oktober 1895 die auf seine Geisttaufe folgende „Feuer23 taufe“. 19

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Vgl. Dayton, Roots [wie Anm. 2], S. 115–141, sowie Holthaus, Stephan, Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874–1909), Gießen 2005, S. 333–394. Für eine differenzierte Untersuchung der Heilungslehren vgl. Alexander, Kimberly E., Pentecostal Healing. Models in Theology and Practice, o. O. 2006. Holthaus, Heil [wie Anm. 19], S. 390. Vgl. Synan, Holiness-Pentecostal [wie Anm. 13], S. 44–67. Ebd. [wie Anm. 13], S. 52. Irwin publizierte seine Auffassung in der Schrift Baptism of Fire. Die Redewendung „baptized with fire“ findet sich vereinzelt bereits in John Fletchers Schriften, wird dort aber nicht weiter profiliert.

Von den Heiligungsbewegungen zur Entstehung der Pfingstkirchen

Viele Führer der Heiligungsbewegungen lehnten Irwins Neuerungen scharf ab, wozu auch beigetragen haben dürfte, dass Irwin es nicht bei drei Stufen beließ, sondern seine Auffassung bis zu einer sechsstufigen Lehre hin weiterentwickelte. Zudem wurde 1899 sein ausschweifender Lebenswandel bekannt. Dennoch hatte Irwin den Boden dafür bereitet, dass sich vor allem im Süden und Mittleren Westen der Vereinigten Staaten um 1900 Irwins Lehre von der Feuertaufe (jedoch ohne dessen extreme Auswüchse) in Kreisen der Heiligungsbewegung durchsetzte. So wurde die Vorstellung, dass auf Bekehrung und Heiligung noch ein drittes Gnadenwerk folge, zum Scharnierglied zwischen später Heiligungs- und früher Pfingstbewegung. Dieser wenden wir uns nun zu.

2 Entstehung und Ausbreitung der Pfingstbewegungen 2.1 Die Gründergestalten: Charles Fox Parham und William Joseph Seymour Das Aufbrechen pentekostaler Erfahrungen vollzog sich am Beginn des 20. Jahrhunderts in einem globalen Gürtel von Erweckungen, zu denen die Erweckung in Wales 1904–1905 und die Mukti-Erweckung in Indien 1905–1907 zählten, bei der Frauen Visionen empfingen, Prophezeiungen aussprachen und in Zungen zu reden anfingen, noch bevor sie von den Ereignissen in Los Angeles erfahren hatten.24 Aus zeitgenössischer Sicht schrieb Frank Bartleman damals: „The present world wide revival was rocked in the cradle of little Wales. It was brought up in India […] becoming full grown in Los Angeles later“.25 Die Entstehung und Ausbreitung der von Los Angeles ausgehenden amerikanischen Pfingstbewegung ist untrennbar mit den Namen Charles Fox Parham (1873–1929) und William Joseph Seymour (1870–1929) verbunden. Charles Parham betrieb 1900 die Bethel Bible School in Topeka (Kansas), wo er die Studierenden im Dezember 1900 anwies, je für sich zu prüfen, was nach biblischem Zeugnis das äußere Zeichen der empfangenen Geisttaufe ist.26 Die Studenten gelangten einmütig zu der Überzeugung, dass das Re-

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Anderson, Allen, An Introduction to Pentecostalism. Global Charismatic Christianity, Cambridge 2004, S. 37. Zit. nach Anderson, Introduction [wie Anm. 24], S. 36. Zum Folgenden vgl. Goff, James R., Fields White unto Harvest. Charles F. Parham and the Missionary Origins of Pentecostalism, Fayettville 1988.

Entstehung und Ausbreitung der Pfingstbewegungen

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den in fremden Zungen dieses Zeichen sei, woraufhin am 3. Januar 1901 zahlreiche Studenten den Segen der Geisttaufe mitsamt den Zeichen empfingen. Für Parham war klar, dass es sich bei Glossolalie um das Reden in existierenden Fremdsprachen handelt und dass ihre theologische Bedeutung in der Zurüstung für den Dienst in der Mission liege. Das Erlernen der Sprache des Ziellandes entfällt damit, wobei das eschatologische Motiv zu beachten ist: Weil Jesus in Kürze wiederkomme, darum gelte es keine Zeit zu verlieren und sofort in die Mission zu gehen. 1905 eröffnete Parham erneut eine Bibelschule, diesmal in Houston (Texas). Dort sollte William Seymour, ein farbiger junger Mann, sein Schüler werden. Parham lehrte als erstes, dass das Sprechen in fremden Zungen notwendig das „anfängliche Zeichen“ für den Empfang des Heiligen Geistes sei, und legte damit den lehr- und erfahrungsmäßigen Grund für die Pfingstbewegung. Erst diese Entdeckung machte die amerikanische Pfingstbewegung 27 möglich. Zugleich gilt: Die Lehre von der Glossolalie als anfänglicher Beweis für die Geisttaufe wurde nie zum Gemeingut aller Pfingstgruppen. So empfingen im „Mukti-Revival“ Gläubige mit den Gaben des Heiligen Geistes auch die Gabe, in fremden Sprachen zu reden, doch ohne dass dies als wesentlich für die Geisttaufe verstanden wurde. Bis heute finden sich beide Vorstellungen innerhalb der weltweiten Pfingstbewegung. William Seymours, aufgewachsen als Baptist, kam 1895 in Kontakt mit der Heiligungsbewegung, und besuchte, wie erwähnt, Parhams Bibelschule, dessen Verständnis vom Zungenreden als „anfängliches Zeichen“ er über28 nahm. Als Seymour 1906 der Predigteinladung einer aus Los Angeles stammenden Mitschülerin in eine farbige Heiligungsgemeinde folgte, legte er der Gemeinde Apg 2,4 aus und verkündigte der Gemeinde, dass Zungenrede das erste Zeichen des Geistempfangs sei. Daraufhin verbot der Pastor der Gemeinde jede weitere Verkündigung durch Seymour, der fortan Versammlungen in einem Privathaus abhielt. Nach tage- und nächtelangem Gebetsgottesdienst fiel Seymour am 9. Mai in religiöser Ekstase auf den Boden und fing an, in Zungen zu reden. In der Folgezeit wurde das Haus Anziehungspunkt für Farbige und Weiße, sodass Seymour schließlich in eine stillgelegte Kirche umzog, die sich in der Azusa Street 312 befand, weshalb häufig vom „Azusa Street Revival“ die Rede war. Die Erweckung nahm ihren Ausgang und breitete sich mehr und mehr aus. Ihr auffallendstes

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Vgl. Goff, Fields [wie Anm. 26], S. 164. Zum Folgenden vgl. Synan, Holiness-Pentecostal [wie Anm. 13], S. 92ff.

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Merkmal bestand darin, dass die Versammlungen Weiße und Farbige zusammenbrachten: „The color line was washed away in the blood“.29 Als Charles Parham von der Erweckung in Los Angeles erfuhr, besuchte er im Oktober 1906 Azusa Street und zeigte sich entsetzt über die exzessiven ekstatischen Phänomene. Er beschimpfte Seymours Anhänger als Hypnotiker, Spiritualisten und Fanatiker. Seinem einstigen Schüler Seymour warf er vor, von einem anmaßenden „Geist der Führerschaft“ besessen zu sein, woraufhin es zum vollständigen, nie wieder geheilten Bruch zwischen Seymour und Parham kam. Hinter Parhams drastischem Urteil dürfte der Vor30 wurf der Rassenvermischung in den Versammlungen stehen. Es musste Parham, der von der rassischen Überlegenheit der weißen (protestantischen) US-Amerikaner überzeugt war, unerträglich erschienen sein, einen Farbigen als Leiter einer Versammlung zu sehen, zu der auch Weiße gehörten. Insofern war der Bruch zwischen beiden unvermeidlich. Worin lag die rasante Ausbreitung der Erweckung von Los Angeles aus begründet? Deutlich ist, dass Seymour den alleinigen Zweck seiner Azusa Street Mission in der Evangelisierung der ganzen Welt vor der nahenden 31 Wiederkunft des Herrn sah. Zwischen 1906 und 1915 entsandte die Azusa Street Mission mehr Missionare als irgendeine andere der entstehenden Pfingstgemeinden. Ihre Missionsarbeit wurde publizistisch, vor allem durch die in alle Welt versandte Zeitschrift „The Apostolic Faith“, begleitet und unterstützt. Seymour wollte ein Netzwerk von Gemeinden etablieren, in denen die Glaubenspraxis, der Missionseifer und die Endzeiterwartung der ersten Christen gelebt werden. In sozialgeschichtlicher Perspektive ist darauf hinzuweisen, dass in der Pfingstbewegung Menschen vom Rand der Gesellschaft die erneuernde, ihr Leben veränderte, Körper und Seele heilende Kraft des Evangeliums erfuh32 ren. So predigte Parham und mit ihm hunderte Pfingstevangelisten „a Pentecostal full gospel message that met the social and spiritual needs of physically and economically struggling poor and working-class people“.33 In diesen Zusammenhang gehört auch die von Parham selbst zwar gescheute, 29 30 31

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Ebd. [wie Anm. 13], S. 99. Vgl. Goff, Fields [wie Anm. 26], S. 131. Vgl. Cecil M. Robeck, Launching a Global Movement. The Role of Azusa Street in Pentecostalism’s Growth and Expansion. In: Miller, Donald u. a. (Hrsg.), Spirit and Power. The Growth and Global Impact of Pentecostalism, Oxford 2013, S. 42–62, bes. 46ff. Das betont Wacker, Grant A., Heaven Below. Early Pentecostals and American Culture, Cambridge, London 2001, S. 197ff. So das Urteil von Augustus Cerillo, The Beginnings of American Pentecostalism. A Historiographical Overview. In: Blumhofer, Edith L. u. a. (Hrsg.), Pentecostal Currents in American Protestantism, S. 229–259, hier 239.

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von Seymour in seiner „Apostolic Faith Mission“ aber praktizierte Überwindung der Rassenschranken durch die Kraft des Evangeliums. So steht die Pfingstbewegung für den kritischen, prophetischen Impuls, der die Bewegung auch weiter als „radikale“ Bewegung auszeichnen sollte. 2.2 Die Phase der Lehrstreitigkeiten (1906–1916) 2.2.1 Die Ablehnung der Pfingstbewegung durch die Heiligungs- bzw. Gemeinschaftsbewegung Die anfängliche Offenheit der amerikanischen Heiligungsbewegung für die „Azusa-Street“-Erweckung kehrte sich ab 1908 jedoch in entschiedene Ablehnung um. Die Heftigkeit der anhebenden Auseinandersetzungen dürfte wesentlich in der kulturellen und geistlichen Nähe der Erweckungsbewegungen zueinander begründet liegen.34 Tatsächlich mussten Außenstehenden die Differenzen im Profil der unterschiedlichen Erweckungsbewegungen marginal erscheinen. In der Innenansicht erschien die Differenz dagegen grundstürzend. Mit der Lehre von der Zungenrede als „initial evidence“ wurde die Pfingstbewegung gegenüber der Heiligungsbewegung identifizierbar, und das nicht zu ihrem Nachteil: Anders als in der Heiligungsbewegung verfügten die Gläubigen mit dem Zungenreden über ein äußeres, sichtbares Zeichen bzw. Prüfkriterium des innerlich empfangenen Gnadenwerkes. Demgegenüber hatten Heiligungsprediger wie Phoebe Palmer, deren „Altartheologie“ einflussreich war, gelehrt, dass das Gnadenwerk im festen Glauben, es empfangen zu haben, bekannt werden soll, ohne 35 dafür ein sichtbares Zeichen namhaft machen zu können. So gerieten beide Bewegungen in eine Situation des realen Wettstreits, in dem die Kontrahenten die Auseinandersetzung stark über theologische Argumente führten, obwohl der Konflikt auch soziale, kulturelle und in der Persönlichkeit der Beteiligten liegende Gründe hatte. Die Pfingstler nahmen die Rolle des stigmatisierten „Outcast“ instinktiv an, wohl wissend: „An unresisted movement soon becomes an unknown one“.36 Die Härte des anfänglichen Bruchs lässt sich theologisch damit begründen, dass in der Predigt der „Pfingsterfahrung“ zumindest implizit der Vorwurf steckte, die Heiligungsbewegung 34 35 36

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Grant A. Wacker spricht von einem „Familienstreit“; vgl. Travail of a Broken Family. In: E. L. Blumhofer, Currents [wie Anm. 33], S. 24f. Vgl. White, Charles Edward, The Beauty of Holiness. Phoebe Palmer as Theologian, Revivalist, Feminist, and Humanitarian, Grand Rapids 1986, S. 156–159. Wacker, Travail [wie Anm. 34], S. 40.

Von den Heiligungsbewegungen zur Entstehung der Pfingstkirchen

habe – entgegen ihrem eigenem Anspruch – den Gläubigen überhaupt nicht die Fülle des Heils zugänglich gemacht. Wer also nicht die Fülle des Heiligen Geistes, ausweislich dem Reden in Zungen, empfangen habe, der verharre noch auf einer geistlich defizitären Vorstufe des vollen Heils. Entsprechend heftig gestalteten sich die Auseinandersetzungen.37 Üblich wurde der abfällig gemeinte Hinweis auf den niedrigen sozialen und Bildungsstatus der neuen Pfingstler. Dieser Hinweis mochte wohl eine empirische Basis gehabt haben, erweist sich jedoch als zweischneidiges Schwert, wenn man bedenkt, dass gerade die Heiligungsbewegungen des späten 19. Jahrhunderts ihre Basis in den gläubigen Kreisen des – wie wir heute sagen würden – „Anti-Establishment“ hatten. Im puritanisch geprägten Amerika (aber nicht nur dort) blieb zudem der Vorwurf sexueller Ausschweifung von Bedeutung, für den auf die körperliche Nähe von Männern und Frauen in den Versammlungen hingewiesen wurde, die in geistlicher Ekstase keine Kontrolle mehr über ihre Körper hätten. Die „Trumpfkarte“ in der Auseinandersetzung aber bildete der Vorwurf, dass die Pfingstbewegung ein Werk des Satans sei. Wacker urteilt: Rightly sensing that many converts were wavering, they [sc.: die evangelicals; C. R.] saw that little could be more unsettling to uncertain souls than the sus38 picion that their new faith was demonic precisely because it seemed so angelic.

Aus der Sicht der ihnen theologisch doch am nahesten stehenden Gegner konnte das Abfallen so vieler Christen vom rechten Glauben und von der rechten Erfahrung nur Manifestation einer dämonischen Verführung sein, die es zu entlarven gelte. Eine ähnliche Entwicklung zeichnete sich ungeachtet aller Unterschiede auch in Deutschland ab. Zwar gilt hier: „Was für die Pfingstbewegung der USA die Heiligungsbewegung war, wurde für Deutschland […] die Gemeinschaftsbewegung“.39 Doch ist entscheidend, dass unter dem Eindruck von Berichten über die Erweckungen in Wales und Los Angeles auch hier die Sehnsucht nach einer Ausgießung des Heiligen Geistes erwacht war. Auf Jahrzehnte hin prägend für das Verhältnis von deutscher Gemeinschafts- und Pfingstbewegung wurden die „Kasseler Ereignisse“ von 1907.40 Unter Leitung von Heinrich Dallmeyer und (anfänglicher) Beteiligung zweier norwe37 38 39 40

Vgl. ebd. [wie Anm. 34], S. 29ff. Ebd [wie Anm. 34], S. 37. Schmidgall, Paul, 90 Jahre deutsche Pfingstbewegung, Erzhausen 1997, S. 55. Für detaillierte Darstellungen vgl. Giese, Ernst, Und flickten die Netze. Dokumente zur Erweckungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl. Lüdenscheid 1987; für eine theologische Analyse vgl. Schmidgall, Pfingstbewegung [wie Anm. 39], S. 56ff.

Entstehung und Ausbreitung der Pfingstbewegungen

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gischer Missionarinnen wurden Abendversammlungen abgehalten, in denen die Sehnsucht nach der Fülle des Heiligen Geistes machtvoll aufbrach. Die anfangs geordneten Versammlungen entwickelten sich zunehmend zu turbulenten, die öffentliche Aufmerksamkeit erregenden Veranstaltungen, die außer Kontrolle gerieten. Ekstatische Phänomene wie Weinen, Schreien und Auf-dem-Boden-Wälzen erregten die Öffentlichkeit und lösten gegensätzliche Reaktionen innerhalb der Gemeinschaftsbewegung aus. Anfänglich abwartende und prüfende Haltungen wichen mit dem Fortgang der schließlich abgebrochenen Versammlungen dezidiert kritischen Stimmen. Kontrovers beurteilt wurde insbesondere die Rolle Heinrich Dallmeyers, der die Versammlungen in Kassel durchgeführt hatte, und sich mit einem am 27. November 1907 veröffentlichen Schreiben von den Ereignissen distanzierte, wobei er erklärte, „daß der treibende Geist in der Los-Angeles-Bewegung nicht der Geist Gottes, sondern ein Lügengeist ist […]. Die meisten Offen41 barungen sind vom Teufel.“ Rief die Gemeinschaftsbewegung auch zur Prüfung der neuen Zungenbewegung am Zeugnis der Bibel auf, so war die Entzweiung doch nicht aufzuhalten. Auf der für Dezember 1908 einberufenen Hamburger Konferenz sammelte sich die Pfingstrichtung, in der Jonathan Paul (1853-1931) zu einem der maßgeblichen Brüder werden sollte, es folgten die Mülheimer Konferenzen. Die schärfste Reaktion der Gemeinschaftsbewegung auf die neue Richtung fand in der Berliner Erklärung von 1909 ihren Ausdruck,42 die von Brüdern aus dem Raum der Gemeinschaftsbewegung und der Freikirchen unterzeichnet war. Auch hier findet der Topos des teuflischen Einflusses seinen Platz, wenn es heißt, dass in der Zungenbewegung ein Geist „von unten“ wirksam sei.43 Eine scharfe Abgrenzung erfolge nicht nur von den Manifestationen wie Heilungen, Zungenreden und Weissagungen, die einem Lügengeist zugeschrieben wurden, sondern auch Jonathan Pauls in Kreisen der „Zungenbewegung“ verbreiteten Lehre vom „reinen Herzen“, womit er Befreiung von der menschlichen Sündennatur im Gläubigen meinte.44 In der stärker lutherisch geprägten Gemeinschaftsbewegung musste

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Zitiert nach Lange, Dieter, Eine Bewegung bricht sich Bahn. Die deutschen Gemeinschaften im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert und ihre Stellung zu Kirche, Theologie und Pfingstbewegung, 2. Aufl. Berlin 1981, S. 185. Autorisierung und Repräsentanz der Unterzeichner sind schwer zu eruieren; vgl. Werner Beyer, Hintergründe der Berliner Erklärung. In: Freikirchen-Forschung 19 (2010), S. 24–58. Der Wortlaut der Berliner Erklärung wie auch die darauf reagierenden Mülheimer Erklärung findet sich jetzt in: Freikirchen-Forschung 19 (2010), S. 13–21. Vgl. Fleisch, Heiligungsbewegung [wie Anm. 17], S. 357–360.

Von den Heiligungsbewegungen zur Entstehung der Pfingstkirchen

eine solche Vorstellung noch heterodoxer erscheinen als im eher von Perfektionismus und Enthusiasmus geprägten angelsächsischen Raum. Ein „Methodismus“ der Heiligungslehre schien für die Gemeinschaftsbewegung insgesamt keine ernsthaft zu erwägende theologische Option. Die in Deutschland zunächst stärkste Richtung der Pfingstbewegung war der Mülheimer Verband (bis 1938 „Deutsche Pfingstbewegung“). Auf der 2. Mülheimer Konferenz präzisierte Jonathan Paul seine Lehre vom „reinen Herzen“ gegenüber überzogen perfektionistischen Missverständnissen. Das Zungenreden erklärte er als eine Gabe des Geistes, für die der Gläubige dankbar sein soll, die aber kein „Beweis dafür [sei], daß jemand 45 mit dem Heiligen Geist erfüllt worden ist“. Damit entwickelte sich der Mülheimer Verband zu einem Zweig der Pfingstbewegung, die in diesem Punkt der Mukti-Erweckung näherstand als der Azusa-Erweckung. Neben den „Mülheimern“ gab es in Deutschland aber sehr bald auch freie Pfingstgemeinden, in denen die Lehre von der Glossolalie als „anfängliches Zeichen“ der Geisttaufe gelehrt wurde.46 Auch für Deutschland kann daher schon früh von einer lehrmäßigen Vielfalt der Pfingstbewegung gesprochen werden. 2.2.2 Die „finished work“-Kontroverse Bereits bei einigen Theologen innerhalb der amerikanischen Heiligungsbewegungen des 19. Jahrhunderts lässt sich die Tendenz erkennen, weniger den Prozess der Heiligung und mehr die Position der Geheiligten in Christus zu betonen. Dieser z. B. von Carrie Judd Montgomery vertretenen Auffassung zufolge ist das volle Heil am Kreuz von Golgatha bereits erwirkt, weshalb es für die Gläubigen nicht darum gehen könne, dieses Heil in Erfahrungsstufen anzueignen, sondern einfach darum, zu glauben, dass sie in Christus sind und das volle Heil bereits empfangen haben. Bei Montgomery 47 schloss das auch die Heilung von körperlichen Gebrechen ein. In der amerikanischen Pfingstbewegung hatte sich von Seymour her zunächst die Vorstellung durchgesetzt, wonach der zweistufige Heilsweg des Methodismus, bestehend aus Bekehrung und gänzlicher Heiligung, um die dritte Stufe der Geisttaufe – verbunden mit der Gabe der Glossolalie – zu erweitern sei. Diese Auffassung vom dreistufigen Heilsweg stieß jedoch bei William H. 45 46 47

Zitiert nach Krust, Christian H., 50 Jahre deutsche Pfingstbewegung Mülheimer Richtung, Nürnberg o. J., S. 85. Vgl. Eisenlöffel, Ludwig David, Freikirchliche Pfingstbewegung in Deutschland. Innenansichten 1945–1985, Göttingen 2006. Vgl. Alexander, Healing [wie Anm. 20], S. 43ff.

Entstehung und Ausbreitung der Pfingstbewegungen

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Durham (1873–1912), dem Pastor einer großen Pfingstgemeinde in Chicago, auf Widerstand. Er kritisierte Wesleys Verständnis, demzufolge nach der Wiedergeburt noch Sünde im Gläubigen zurückbleibe, die erst durch ein zweites Gnadenwerk vernichtet werde. Nach Durhams Überzeugung hat Jesus auf Golgatha ein „vollendetes Werk“ vollbracht, sodass jeder Gläubige, der „in Jesus“ bleibt, mit der Bekehrung erlöst und geheiligt ist.48 Die Taufe mit dem Heiligen Geist folgt Durham zufolge also auf die Bekehrung, nicht auf die gänzliche Heiligung. Damit etablierte Durham eine zweistufige Heilslehre, der sich in den USA die Mehrheit der Pfingstler anschloss. Vor allem Baptisten oder Presbyterianer folgten seiner Sicht, während die wesleyanischen Gruppen (zunächst) bei der Drei-Stufen-Lehre blieben. 2.2.3 Die „Jesus-Name“-Kontroverse Zu innerpentekostalen Auseinandersetzungen kam es auch über die Trinitätslehre.49 Frank J. Edwards, ein aus Australien stammender, aber in den USA tätiger Baptistenpastor, hatte die Auffassung gehört, dass im Neuen Testament kein Gläubiger auf den Namen des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes getauft werde, sondern die Taufe allein auf den Namen Jesu erfolgt sei. Durch eigenes Schriftstudium gelangte er zu der Überzeugung, dass dem tatsächlich so sei, wobei der tiefere Grund dafür darin liege, dass es in der Gottheit nur eine Person gibt, nämlich Jesus Christus. Die Bezeichnungen „Vater“ und „Heiliger Geist“ würden im Neuen Testament dazu gebraucht, um Aspekte der Person Christi zu bezeichnen. Die Trinitätslehre hielt Edwards für eine Erfindung der Katholischen Kirche, was für ihn praktisch bedeutete, dass wer auf Vater, Sohn und Heiligen Geist getauft worden ist, die Taufe gar nicht wirklich empfangen haben könne. Die von Edwards verbreitete Auffassung drohte die Pfingstdenominationen zu spalten, weshalb zum Beispiel die Assemblies of God – bis dato jeder Formulierung eines Bekenntnisses zuwider – die Lehre des Konzils von Nizäa bekräftigten und ein entsprechendes „Statement of Fundamental Truths“ formulierten. Mt 28,19 wurde für alle Taufhandlungen vorgeschrieben. Auch in dieser Kontroverse wirkten neben theologischen soziale und kulturelle Faktoren. Die sogenannten „Oneness-Pentecostals“ kamen im Durchschnitt aus sozial niedrigen Schichten, zugleich lag der Anteil Farbiger deutlich höher als bei den Trinitarischen Pfingstlern. Außerdem spielten

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Vgl. Synan, Holiness-Pentecostal [wie Anm. 13], S. 149f. Vgl. ebd. [wie Anm. 13], S. 156ff.

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auch Machtkämpfe innerhalb der Assemblies of God in diese Auseinandersetzung hinein.50

3 Fazit Die Pfingstbewegung war von Anfang an sowohl von Einheit als auch von Vielfalt gekennzeichnet. Ihre theologische Vielfalt lässt sich an unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Notwendigkeit des Zungenredens als Erweis der Geistestaufe, an unterschiedlichen Heilsstufen und differierenden Zuordnungen von Vater und Geist zur Person Jesu Christi aufweisen. Das theologische Einheitsmoment der Pfingstbewegung liegt daher nicht in einer lehrmäßig scharf konturierten Pneumatologie, sondern in der pneumatologischen Akzentuierung einer den Pfingstkirchen gemeinsamen Christologie, derzufolge Jesus Christus bekannt und angebetet wird als Erlöser, Heiler, Geisttäufer und wiederkommender König. Die Ausformung dieses „vierfältigen Evangeliums“ hat ihre Wurzeln in den Heiligungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, von denen sich die Pfingstbewegung zugleich absetzte. Zu den für die Entstehung der Bewegung bedeutsamen Erweckungszentren gehörte ohne Zweifel Los Angeles, wobei jedoch die Erweckung in der Azusa Street nicht abgelöst von den nahezu zeitgleichen Erweckungen in Wales und Indien betrachtet werden kann. So lässt sich mit Recht von polyzentrischen Ursprüngen der Pfingstbewegung sprechen und zugleich an der in vielerlei Hinsicht fundamentalen Bedeutung von Charles Parham und William Seymour festhalten. Die Gründe für die rasche Ausbreitung der Pfingstbewegungen dürften in theologischer Perspektive darin liegen, dass die erwähnten lehrhaften Betonungen der Sehnsucht der Menschen nach persönlicher Heilsgewissheit, aber auch nach Heilung und Ermächtigung, entgegenkamen und die Verheißung auf Gottes endzeitlichen Sieg im Angesicht sich verschärfender gesellschaftlicher und globaler Konfliktlagen als Ermutigung erfahren wurde. Die Botschaft von Gottes erneuernder Gnade war aber keine Vertröstung auf eine unbestimmte Zukunft, sondern erwies sich als lebensgestaltende Kraft, die insbesondere marginalisierten Gruppen wie Armen, Schwarzen und Frauen Anerkennung vermittelte und neue Wirkungsfelder erschloss. Auch heute erfahren Menschen in Pfingstgemeinden, dass Jesus Christus sich in Zeichen konkreter Zuwendung ihrer Not annimmt und dass es keinen Bereich des persönlichen und des sozialen Lebens gibt, der 50

Vgl. ebd. [wie Anm. 13], S. 158ff.

Fazit

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nicht von seiner Gegenwart verwandelt werden könnte. Ohnmächtige erfahren Ermächtigung durch den Empfang des Heiligen Geistes, widersinnig erscheinende geschichtliche Erfahrungen werden in eine Weltsicht aufgenommen, die auf die Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Frieden bei der Wiederkunft des Herrn zuläuft und von daher ihren Sinn erhält. Wenn es die Pfingstbewegung in ökumenischer Perspektive heute mehr denn je braucht, dann als eine in solcher Gestalt „radikale“ Christus-Bewegung, die die Sünde geistlicher Trägheit aufdeckt, zur leidenschaftlichen Nachfolge in konsequenter Weltverantwortung einlädt und für Menschen aller Rassen und Schichten den Geist der kommenden Welt Gottes erfahrbar werden lässt.

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Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung in Deutschland 1 Vorbemerkungen Die Erforschung des Verhältnisses von Methodismus und Pfingstbewegung im Deutschen Reich steht noch an ihren Anfängen. Der folgende Beitrag versteht sich daher als ein erstes, keinesfalls jedoch als das letzte Wort zum Verhältnis zweier Bewegungen, deren theologische Verwandtschaft vor allem in der angelsächsischen Forschung wiederholt herausgearbeitet worden ist1. Nun sind Verwandtschaftsverhältnisse etwas sehr Schwieriges, und genetische Abhängigkeit oder phänomenologische Ähnlichkeit sind für sich genommen noch keinesfalls Garant einer guten oder gar konfliktfreien Beziehung zueinander. Einige einleitende Bemerkungen sind notwendig, um das komplexe Bedingungsgefüge zu verstehen, auf dem sich am Beginn des 20. Jahrhunderts die Begegnung zwischen deutschem Methodismus und früher Pfingstbewegung vollzieht. Zunächst ist festzuhalten, dass das Aufkommen der Pfingstbewegung im Deutschen Reich in eine Zeit fällt, in der der deutschsprachige Methodismus in die Phase seiner inneren und äußeren Konsolidierung eintritt. In einem allgemeinen – und eher soziologischen – Sinn ist damit auf den Übergang von der ersten zur zweiten, dritten etc. Generation verwiesen. Dieser Übergang lässt sich sehr konkret am Ausscheiden aus dem Dienst und am Ableben der ersten Predigergeneration zeigen. Verlässt man die individuell-biographische Ebene, dann ist hier der Übergang von den Aufbrüchen, Diskontinuitäten und Spontaneitäten der methodistischen Anfänge zur Ordnung und Beständigkeit eines stärker geregelten kirchlichen Lebens in der zweiten Generation gemeint. Ein zweites im vorliegenden Zusammenhang wichtiges Bedingungsmoment ist das Verhältnis von Methodismus und Landeskirche. Denn obwohl die Methodisten beider Denominationen (Bischöfliche Methodistenkirche und Evangelische Gemeinschaft) um die Wurzeln der Pfingstbewegung im angelsächsischen Bereich wussten, begegnet ihnen die Pfingstbewegung in Deutschland zunächst als eine sich innerhalb der landeskirchlichen Gemeinschaftsbewegung ausbreitende Strömung. 1

Vgl. Dayton, Donald W., Theological Roots of Pentecostalism, Peabody 1987; Synan, Vinson, The Holiness-Pentecostal Tradition. Charismatic Movements in the Twentieth Century, Grand Rapids/Cambridge (UK) 1997; Knight, Henry H. III., Anticipating Heaven Below. Optimism of Grace from Wesley to the Pentecostals, Eugene 2014.

Vorbemerkungen

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Damit gewinnt die Auseinandersetzung des Methodismus mit der – wie es anfänglich heißt – „Zungenbewegung“ eine geschichtliche und auch theologische Komplexität, der dieser Beitrag nicht ganz gerecht werden kann, insofern als das Verhältnis beider Bewegungen von den für Freikirchen damals komplizierten kirchenpolitischen Komponenten mitbestimmt ist. Schließlich bleibt auf die spezifische theologische Struktur der deutschen Pfingstbewegung hinzuweisen. An ihrer Spitze stand mit Jonathan Paul (1853–1931) ein Mann, der mit einer gewissen Selbständigkeit und auch Eigenwilligkeit ein theologisches Profil entwickelte, das zwar über eine Reihe von biographischen Brüchen hinweg immer wieder Veränderungen aufweist, gleichwohl jedoch zumindest einen Teil der deutschen Pfingstbe2 wegung nachhaltig geprägt hat . Paul verwendete in eigenständiger Weise zwei Begriffe, die – wie noch auszuführen sein wird – ihre neuzeitliche Verwurzelung in methodistischer Theologie haben: Vollkommenheit und Geisttaufe. Damit ist angezeigt, dass Methodismus und Pfingstbewegung den Schwerpunkt ihres theologischen Interesses übereinstimmend im Bereich der Erlösungslehre haben. Eine theologische Auseinandersetzung schien damit unausweichlich. Es sei noch kurz auf die Beschränkungen dieser Untersuchung eingegangen. Was die historischen Quellen angeht, stütze ich mich hier schwerpunktmäßig auf die zwischen 1900 und 1913 erschienenen Zeitschriften der Bischöflichen Methodistenkirche (im Folgenden: BMK) und der Evangelischen Gemeinschaft (im Folgenden: EG). Eine Durchsicht der Periodika ergibt, dass die „Berliner Erklärung“ zu einem vorläufigen Abbruch der publizistischen Auseinandersetzung des Methodismus mit der Pfingstbewegung führt. Da zudem ab 1914 die Ereignisse des Ersten Weltkrieges alles andere überlagern, grenze ich meine Untersuchung auf den Zeitraum bis 1914 ein. Aus methodischen Gründen bleibt jedoch selbst das sich aus den bis 1913 publizierten Artikeln ergebende Bild noch unvollständig. Denn notwendig wäre es, die Protokolle derjenigen Vierteljahrskonferenzen durchzusehen, auf deren Gebiet es zur direkten Begegnung von methodistischen Gemeinden mit der Pfingstbewegung kam. Diese Aufgabe liegt noch vor uns, sodass die Schlussfolgerungen dieser Untersuchung der Prüfung im Lichte weiterer Quellenstudien bedarf. Gesicherter erscheinen dagegen die theologischen Einschätzungen, die hier zu treffen sind, da die kirchlichen 2

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Gemeint ist die Pfingstbewegung Mülheimer Richtung; vgl. Krust, Christian H., 50 Jahre deutsche Pfingstbewegung Müleimer Richtung nach ihrem geschichtlichen Ablauf dargestellt, Altdorf bei Nürnberg o. J. [1958]; Vetter, Ekkehart, Jahrhundertbilanz. Erweckungsfasziniert und durststreckenerprobt: Ein Beitrag zur Erweckungsgeschichte im 20. Jahrhundert und zur Entstehung der Pfingstbewegung in Deutschland, Mülheim 2009.

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

Publikationen die theologische Struktur der Auseinandersetzung mit der Pfingstbewegung deutlich erkennen lassen. Freilich bleibt zu berücksichtigen, dass die Schriftleiter der jeweiligen Publikationen erheblichen Einfluss auf Auswahl, Anzahl und Ausrichtung der veröffentlichten Artikel nehmen konnten, weshalb weitergehende Schlussfolgerungen vorsichtig zu ziehen sind. Im Folgenden soll zunächst in geschichtlicher Perspektive die Reaktion der methodistischen Denominationen auf das Aufkommen der Pfingstbewegung dargestellt und im Anschluss daran die Struktur der theologischen Auseinandersetzung herausgearbeitet werden. Ich schließe mit einem Fazit, das die kritischen Punkte im Verhältnis von Methodismus und früher Pfingstbewegung noch einmal abschließend und zusammenfassend benennt.

2 Zur methodistischen Rezeption der pfingstlerischen Erweckungen Grundlage des ersten, stärker historischen Teils dieser Untersuchung ist die These, dass die Auseinandersetzung zwischen deutschem Methodismus und früher Pfingstbewegung bis 1914 sich in drei voneinander zu unterscheidenden Perioden vollzieht, die ein gleich näher zu bestimmendes Gefälle aufweisen. Dabei wird sich zeigen, dass die Reaktionsmuster von Seiten der BMK einerseits und der EG andererseits nicht ohne Weiteres übereinstimmen. Was den Verlauf der am Beginn des 20. Jahrhunderts stehenden Erweckungen angeht, ist es hier nicht möglich, in die Details zu gehen. Ich konzentriere mich hier auf die Wahrnehmung dieser Vorgänge, wie sie sich aus den Publikationen der BMK und der EG ergeben, und gehe auf den genauen Verlauf der Erweckungen nur soweit ein, wie dies für das Verständnis der Beurteilungen von methodistischer Seite aus notwendig ist. 2.1 Erste Periode: Die Erweckungen bis zum Aufkommen der Zungenrede (1904–1906) In Wales brachen 1904 nach einer Reihe von Gebetstreffen und im Zuge 3 von Heiligungskonferenzen an verschiedenen Orten Erweckungen aus, die 3

Vgl. Tudur, Jones R., Faith and the Crisis of a Nation. Wales 1890–1914, Cardiff 2004; Evans, Eifion, The Welsh Revival of 1904, 3. Aufl. Bridgend 1987; Gibbard, Noel, On the Wings of the Dove. The International Effects of the Welsh Revival of 1904–05, Bridgend 2002; Wolfgang Reinhardt, „A Year of Rejoycing“. The Welsh Revival of 1904/05. In: Evangelical Review of Theology 31/2 (2007), S. 100–126.

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sich in tiefgehender Buße über den Zustand der Kirche und in zahlreichen Bekehrungen manifestierten. Zu den herausragenden Führern der Walisischen Erweckungsbewegung gehörte Evan Roberts (1878–1951), dessen Zugehörigkeit zur Free Methodist Church in methodistischen Blättern nicht verschwiegen wurde.4 Aber der Geist der Erweckung überwindet für gewöhnlich konfessionelle Enge, und so war die ganze Kirche Christi gemeint, wenn Evans betete: „Beuge die Kirche und rette die Welt“.5 Zu den typischen Kennzeichen der Erweckungsbewegung gehörte die unmittelbare Leitung der Versammlungen durch den Heiligen Geist, wobei menschliche Leiter in den Hintergrund traten und die Versammlung dem freien Wirken des Geistes überließen. Berichterstatter zeigten sich beeindruckt von der Ordnung sowie Abwesenheit alles Schwärmerischen und deuteten dies als Beleg dafür, dass hier der Heilige Geist tatsächlich die Leitung übernommen hat6. Die Erweckung in Wales und die durch sie ausgelösten Erweckungen in Frankreich, Afrika und Indien haben lediglich im Evangelist ihren Niederschlag gefunden. Die Beurteilung fällt uneingeschränkt positiv aus: „Die Erweckung war ein Werk aus Gott“ heißt es 1906 mit Blick auf die vergangenen Jahre.7 Die Berichterstattung aus Wales wird zum Anlass genommen, der Hoffnung auf ein machtvolles Wirken des Geistes auch in den eigenen Reihen Ausdruck zu verleihen, wenn es heißt: „Auch unsre l[iebe] Methodistenkirche harrt auf den anbrechenden Geistesfrühling“.8 Die Sehnsucht nach einer Erweckung erreichte in Deutschland ihren Höhepunkt im Jahr 1905.9 Zunächst brach das Feuer der Erweckung in Mülheim an der Ruhr unter der Verkündigung der landeskirchlichen Pastoren Girkon und Modersohn aus. Charakteristische Kennzeichen waren auch hier die von einer starken geistlichen Erwartungshaltung bestimmten Ge4 5 6

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Vgl. Evan Roberts und die Erweckungsbewegung in Wales. In: Evangelist 56 (1905), S. 111f. Giese, Ernst, Und flicken die Netze. Dokumente zur Erweckungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 3. Aufl. Metzingen 1988, S. 36. „Niemand leitet die Versammlung, und doch geht alles ruhig und ordentlich zu. Die Gebete sind nicht wild und schwärmerisch, sondern voller Einfachheit, voller Gefühl. So geht es fort, stundenlang, und nach einer Mittagspause fängt der Gottesdienst wieder an. Diesmal hält Mr. Roberts eine Ansprache, aber bald wird sie unterbrochen, denn in der Gemeinde fängt einer zu singen an, alle stimmen ein. Mr. Roberts wartet, bis der Gesang beendet ist und spricht dann weiter. So leitet er die Versammlung nicht, sondern lässt dieselbe durch den Geist leiten“, Evan Roberts [wie Anm. 4], S. 112. Die Erweckungsbewegung. In: Evangelist 57 (1906), S. 139. Evan Roberts [wie Anm. 4], S. 111. Lange, Dieter, Eine Bewegung bricht sich Bahn. Die deutschen Gemeinschaften im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert und ihre Stellung zu Kirche, Theologie und Pfingstbewegung, 2. Aufl. Berlin 1981, S. 164.

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

betsversammlungen, die Bereitschaft, sich der direkten Leitung der Versammlung durch den Heiligen Geist unterzuordnen, zahlreiche, binnen Jahresfrist in die Tausende gehende Bekehrungen und schließlich die Überwindung konfessioneller Grenzen. So berichtet der örtliche Prediger der Evangelischen Gemeinschaft, dass sich an den Erweckungsversammlungen, in denen unter anderem Jonathan Paul, Ernst Vetter und Georg von Viebahn die Verkündigung übernommen hatten, neben der Landeskirche auch Baptisten, die Heilsarmee und die Evangelische Gemeinschaft beteilig10 ten . Die Presse beider methodistischer Denominationen brachte begeisterte Artikel, in denen immer wieder die Sehnsucht nach einer neuen Belebung der Kirche durch das Wirken des Heiligen Geistes zum Ausdruck gebracht wurde. Diese Sehnsucht verstärkte sich, als im Sommer desselben Jahres Reuben Torrey (1856–1928) auf der Bad Blankenburger Allianzkonferenz seine Lehre von der Geisttaufe verkündigte und zu völliger Hingabe als Voraussetzung für das Leben in einem höheren Gnadenstand aufrief.11 2.2 Zweite Periode: Die Erweckungen seit dem Aufkommen der Zungenrede (1906–1909) Der Auftritt Torreys auf der Allianzkonferenz sollte nicht voreilig als Sieg der Vertreter einer auf die Bekehrung folgenden Geisttaufe innerhalb der deutschen Gemeinschaftsbewegung verstanden werden. Vielmehr erwies sich Torreys Auftreten als Katalysator sich abzeichnender Polarisierungen innerhalb der Gemeinschafts- und auch der Allianzbewegung. So untersuchte Theodor Haarbeck auf der 10. Gnadauer Konferenz 1906 in einem Referat „Die Taufe mit dem Heiligen Geist nach der Schrift“, wobei er zu dem Ergebnis kam, dass im Neuen Testament Bekehrung und Geisttaufe zusammenfallen, worüber auch nicht die unterschiedlichen auf den Empfang des Heiligen Geistes bezogenen Redewendungen der Apostelgeschichte hinweg-

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„Meine Gemeinden beschlossen, alle Abendgottesdienste bis auf weiteres auszusetzen und sich an den geplanten Betstunden zu beteiligen“, W. Wecke, Einiges über die Siegeszeiten in Mülheim a. d. R. In: Evangelischer Botschafter 42 (1905), S. 270. Vgl. Wilhelm Schütz, Die zwanzigste Allianzkonferenz in Blankenburg i. Th. In: Evangelist 56 (1905), S. 435f und 460. Ebd., S. 460 zieht aus den Erfahrungen der Konferenz folgende Schlüsse: „1) Wir stehen auch in Deutschland am Anfang einer mächtigen Geistesbewegung. 2) Dieselbe gilt in erster Linie den Gotteskindern. 3) Der Umgang und die Größe des Segens dieser Bewegung ist mit abhängig von der Willigkeit der Gotteskinder, sich einigen, reinigen und heiligen zu lassen. 4) Die Hauptmittel, die Gott zur Beförderung dieser Bewegung in unsre Hand gegeben hat, sind persönliche Beugung und Sündenbekenntnis, sowie anhaltendes Gebet.“

Zur methodistischen Rezeption der pfingstlerischen Erweckungen

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täuschen könnten.12 Die Auffassung von einer auf die Bekehrung erst noch folgenden Geisttaufe war damit klar abgewiesen. Was das äußere Umfeld der Diskussion angeht, lässt sich im Zeitraum nach der Gnadauer Konferenz insgesamt ein Nachlassen der Erweckung beobachten, bis sie schließlich zu ihrem (vorläufigen) Ende kommt. Auch die Allianzkonferenzen „trugen danach nirgends mehr den wildbewegten Charakter des Vorjahres“.13 Die Methodisten beider Denominationen wollten freilich die Hoffnung auf ein neues mächtiges Geisteswirken nicht aufgeben. Die Nachrichten von erwecklichen Aufbrüchen in Los Angeles (Kalifornien) und Christiania (Norwegen) wurden in den Publikationen der BMK mit Interesse und Freude aufgenommen, während die EG-Blätter noch abwarteten. So heißt es einleitend zu einem Bericht über die neueren Erweckungsbewegungen im Evangelist, dessen Schriftleiter zu dieser Zeit Paul Grünewald war: Wir schicken […] voraus, dass wir an die Möglichkeit und Wirklichkeit besonderer Geistesmitteilung glauben und überzeugt sind, dass der Herr in unseren Tagen da und dort in außergewöhnlicher Weise am Wirken ist, und dass diese Bewegung, trotz der mancherlei Bedenken, die von verschiedenen Seiten dagegen erhoben werden und trotz der hin und wieder unterlaufenden menschlichen Zutaten, ein Werk aus Gott ist.14

Das Aufkommen der Zungenrede wird in keiner Weise kritisch thematisiert, obwohl man für eine kritische Bewertung auf das polemische Material aus der Auseinandersetzung mit den Irvingianern hätte zurückgreifen können.15 Der Bericht selbst, dessen Verfasser ungenannt bleibt, räumt eine Einflussnahme satanischer Kräfte in der Erweckung durchaus ein, hält sie allerdings erweckungsgeschichtlich für weder überraschend noch vermeidbar. Denn es sei klar, so wird argumentiert, dass der Teufel als „Falschmünzer“ die Werke Gottes nachahme. Aufrichtige Christen wüssten jedoch die Geister zu scheiden. Der Schriftleiter beschließt den Artikel mit einem Lobpreis der in diesen Erweckungen sichtbaren „herrlichen Offenbarung Gottes“, die sich „in der Errettung von Sündern und der Reinigung, Heiligung 16 und Geistesausrüstung seiner Kinder“ zeige. Es bleibt anzumerken, dass diese Einschätzungen sich auf weit entfernt stattfindende Erweckungen bezogen und ihnen keine eigene Anschauung zugrunde liegt. Nach Deutschland gelangt die Pfingstbewegung erst infolge 12 13 14 15 16

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Vgl. Lange, Bewegung [wie Anm. 9], S. 167f. Ebd. [wie Anm. 9], S. 169. Einiges über die neueren Erweckungsbewegungen. In: Evangelist 58 (1907), S. 256. Vgl. F. Eilers, Das Zungenreden. In: WSt 4 (1874), S. 99–103. Ebd. [wie Anm. 15], S. 103.

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

eines Besuchs, der Jonathan Paul im Januar 1907 nach Christiania führt, wo er sich vor Ort über die Zungenbewegung informieren möchte. Nach Deutschland zurückgekehrt, setzt Paul sich für die Anerkennung des Zungenredens in der Gemeinschaftsbewegung ein, freilich ohne die Gabe zu diesem Zeitpunkt schon selbst zu besitzen. Einen entschiedenen Verbündeten in dieser Sache fand Paul im Leiter der Hamburger Strandmission, Emil Meyer. Meyer hatte für Juni 1907 Heinrich Dallmeyer zu evangelistischen Vorträgen nach Hamburg eingeladen. Bei dieser Gelegenheit lernte Dallmeyer zwei norwegische Missionarinnen kennen, die die Gabe der Zungenrede praktizierten und deren Vollmacht ihn beeindruckte. Dallmeyer empfing schließlich selbst die Geisttaufe und reiste – gemeinsam mit den beiden Norwegerinnen – nach Kassel ab, um dort Abendversammlungen im Saal des Blaukreuzvereins zu halten. Dort ereignen sich in den folgenden Wo17 chen die „Kasseler Vorgänge“. Die Geschehnisse lassen sich nach einer Analyse Heinrich Christian Rusts in drei Phasen einteilen.18 Danach sind die ersten Tage der Evangelisation (7.–10. Juli) als adäquate Reaktionen auf das Wirken des Geistes Gottes zu beurteilen. Die Versammlungen nahmen einen ruhigen und geordneten Verlauf. Verkündigung, Gebet und Gesang übten eine tiefe Wirkung auf die Teilnehmenden aus. Erstmals in einer Nachtversammlung am Mittwoch, dem 10. Juli – als Beginn der zweiten Phase –, lassen sich auch emotionale Reaktionen auf das Wirken Gottes feststellen. Sie nahmen ihren Ausgang jedoch nicht in der abendlichen Versammlung, sondern in einer auf diese folgende Nachtversammlung mit 80–100 Personen. Die Zusammenkunft war, wie es hieß, bewusst unter die Leitung des Heiligen Geistes gestellt worden, niemand sonst leitete die Versammlung. Plötzlich sprang ein führender Bruder der Gemeinschaftsbewegung [August Dallmeyer] von seinen Knien auf, machte Luftsprünge, schlug dabei seine Arme weit zurück und schrie, so laut er konnte, ein über das andere Mal 19 „Halleluja, Halleluja“.

Auch in den Abendversammlungen kam es nun immer häufiger zu Rufen, die zumeist warnenden bis drohenden Inhalts waren wie „Beugt euch, beugt euch“ oder „Die Neugierigen hinaus“.20 Schließlich kam es, so Rust, in 17 18 19 20

Vgl. die Darstellung bei Giese, Netze [wie Anm. 5], S. 43–87. Rusts Referat ist unveröffentlicht; vgl. aber die Angaben bei Schmidgall, Paul, 90 Jahre deutsche Pfingstbewegung, Erzhausen 1997, S. 57–64. Zitiert nach ebd. [wie Anm. 18], S. 61. Die anfängliche Vereinbarung der Veranstalter sah vor, die Teilnahme an den Abendversammlungen an den Besitz von Einlasskarten zu binden, die über die Gemeinden bzw.

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einer dritten Phase zu dämonischen Reaktionen auf das Wirken Gottes. Wann genau es dazu kam, ist auch unter pfingstlich-charismatischen Interpreten umstritten. Ernst Giese sieht Heinrich Dallmeyer in der Nacht des 19. Juli unter dämonischen Einfluss kommen, als er sich auf die angebliche Prophetie eines Bruders einlässt.21 Während Dallmeyer zunächst davon überzeugt ist, dass der Geist Gottes durch diesen Bruder spricht und er den „prophetischen“ Anweisungen Folge leistet, kommt er 1910 im Rückblick zu der Erkenntnis, es in dieser Nacht mit einem Wahrsagegeist zu tun gehabt zu haben.22 Der „entscheidende Umbruch“ vollzieht sich jedoch für Rust wie für Giese in der Abendversammlung am 25. Juli, nachdem die Versammlungen bereits zuvor mehr und mehr tumultartige Züge angenommen hatten. Elias Schrenk berichtet: „Es redeten zunächst immer die zwei Norwegerinnen, hernach redete auch ein Bruder. Dann standen die zwei Norwegerinnen auf und sagten: ‚Das Zungenreden des Bruders ist nicht vom Herrn, das ist nicht Sein Geist‘.“23 Nach Gieses Auffassung hätte Dallmeyer als verantwortlicher Versammlungsleiter diesem falschen Geist sofort Einhalt gebieten müssen. „Als dies aber nicht geschah, verließen die Norwegerinnen auf der Stelle aus Protest den Saal. Ihre Mitarbeit war damit beendet. – Sie reisten ab“.24 Schließlich mussten die mehr und mehr außer Kontrolle geratenden Versammlungen auf polizeiliche Anordnung hin abgebrochen werden. Uns interessiert hier vor allem die Bewertung der Vorgänge durch die Berichterstatter der Methodistenkirche und der Evangelischen Gemeinschaft. Am 24. August 1907 erscheint ein Artikel im Wochenblatt der Evangelischen Gemeinschaft, dem „Evangelischen Botschafter“. In formaler Hinsicht fällt zunächst auf, dass der Artikel seinen Anspruch, „wahrheitsgetreue Mitteilung“ zu sein, mit dem namentlichen Hinweis auf eine Reihe von Augenzeugen aus der eigenen Gemeinschaft unterstreicht, darunter zwei Prediger und ein Vorstehender Ältester. Bereits in der Einleitung wird deutlich, dass es sich aus der Sicht des Schriftleiters, der in den Bericht einführt, bei den beschriebenen Vorgängen um ein rein landeskirchliches Prob-

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Gemeinschaften verteilt wurden. Auf diese Weise sollte die Anwesenheit von Unbekehrten in den Versammlungen verhindert werden, denn nur wahrhaft bekehrte Christen besäßen die Voraussetzung für den Empfang der Geisttaufe. Doch wurden Einlasskontrollen nicht konsequent praktiziert, womit es faktisch zu einem aus Sicht der Veranstalter „gemischtem“ Publikum kam. Vgl. Giese, Netze [wie Anm. 5], S. 57–60. Vgl. ebd. [wie Anm. 5], S. 57. Zitiert nach ebd. [wie Anm. 5], S. 67. Ebd. [wie Anm. 5], S. 67.

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

lem handelt. Folglich geht es ihm mit dem Abdruck des von einem Bruder Warweg verfassten Berichts auch keineswegs um eine beurteilende, missliebige Beleuchtung nachstehends berichteter Vorgänge nicht unbedenklicher Art, sondern nur um eine angemessene Warnung, zunächst für solche in unseren Kreisen […], die Neigung haben mögen, alle außerordentlichen, angeblich vom Heiligen Geist ausgehen25 den Wirkungen fast ungeprüft hinzunehmen.

Für das Verständnis des Berichts selbst ist es wichtig zu sehen, dass Warweg, der Berichterstatter, erst am 16. Juli zur Versammlung stößt, zu einer Zeit also, als die Versammlungen bereits in ihre emotionale Phase eingetreten waren. Für Warweg stellt sich das Schreien, Stampfen und Weinen dar, „als ob ein fremder Geist in die Versammlung gefahren wäre“26. Verunsichert durch das, was er hier sieht und hört, macht Warweg die – wie ich es nennen möchte – „Erfahrungsprobe“. Er betet: „Herr, wenn du hier dein Werk hast, dann gib auch mir einen Segen!“. Und weiter schreibt er: „Aber ich habe keinen bekommen. Und denselben Eindruck hatten auch die anderen Geschwister, die aus unserer Gemeinde mit dort waren“.27 Entsprechend skeptisch bleibt Warweg. Das Auftreten der Zungenredner wird zwar nicht direkt kommentiert, jedoch wird das Fehlen einer Auslegung kritisiert. Als Hauptquelle des Schreiens werden zudem die anwesenden Frauen ausgemacht. In einer am 21. Juli stattfindenden Versammlung der Evangelischen Gemeinschaft gibt Warweg die Losung für seine Gemeinde aus: „So lange sich diese Bewegung in solch unnüchternen, schwärmerischen Bahnen bewegt, verhalten wir als Glieder der Ev. Gemeinschaft uns ihr gegenüber durchaus 28 kühl und ablehnend. Das Uebrige warten wir ab“. Kurze Zeit später fasst die Vierteljahrskonferenz einstimmig folgenden Beschluss: Dass wir gegen die schwärmerische Bewegung des vorgeblichen Weissagens und Zungenredens in den landeskirchlichen Kreisen von Großalmerode und Kassel entschiedene Stellung nehmen und damit nichts zu tun haben wollen.29

Der Schriftleiter kommentiert Warwegs Bericht abschließend dahingehend, dass die hier vermeldeten „schwärmerischen Ausschreitungen“ nichts mit den seelischen Erregungen echter Erweckungen oder gar des urgemeindli-

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Ist das evangeliumsgemäß? In: Evangelischer Botschafter 44 (1907), S. 268. Ebd. [wie Anm. 25], S. 268 Ebd. [wie Anm. 25], S. 269. Ebd. [wie Anm. 25], S. 269. Ebd. [wie Anm. 25], S. 269.

Zur methodistischen Rezeption der pfingstlerischen Erweckungen

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chen Lebens zu tun hätten. Gleichwohl wünscht er, dass die Kasseler Bewegung in die rechten Geleise kommen und dann vielen zum Segen werden möge. Dagegen trägt der Bericht von Prediger Oskar Lindner im Wochenblatt der BMK ein deutlich anderes Gepräge. Allerdings sind auch die Voraussetzungen seiner Berichterstattung andere. Zum einen war Lindner offensichtlich mit August Dallmeyer, dem Bruder Heinrich Dallmeyers, persönlich bekannt, zum anderen – und in Unterschied zu Warweg – nahm er an den Versammlungen vom ersten Tag an teil, erlebte also auch die ersten, in ruhigen und geordneten Bahnen verlaufenden Versammlungstage mit. Lindner gibt einen weithin von wertenden Bemerkungen freien Augenzeugenbericht, wobei die tumultartigen Szenen nicht verschwiegen werden. Am Ende gelangt er zu einem zwar differenzierten, im Ganzen jedoch positiven Urteil: Trotz aller fremdartigen, abstoßenden, ja geradezu sehr bedenklichen Erscheinungen, welche wir ganz entschieden abweisen müssen, sind doch viele Segensströme geflossen. Das muss stehen bleiben! Es begann in der Tat für viele Gläubige ein neuer Abschnitt ihres Glaubenslebens, innerlich und äußerlich; sie sind von vielen Dingen frei geworden und können einen Wandel führen zur Ehre Gottes. Auch unsre Gemeinde erfuhr etwas von dem Wehen des Geistes, wovon unsre Versammlungen, Klassen und Gebetsstunden Zeugnis ablegten; auch wurden viele Sachen geordnet, die mir bisher manche Sorgen bereiteten. Ebenso wurden einige Seelen bekehrt. In der Seelsorge gab es viel zu tun in diesen Tagen. Aber trotz vieler herrlicher Früchte, die sich zeigten, war doch sehr, sehr viel dabei, was nicht vom Herrn war.30

Hinter Lindners Bericht steht – darin Warweg durchaus verbunden – die „Erfahrungsprobe“, also die Frage nach dem empfangenen Segen. Im Unterschied zu Warweg fällt die Probe hier jedoch positiv aus, und zwar im Hinblick sowohl auf die eigene Person als auch auf die Gemeinde. Unverkennbar bleibt jedoch der Grundzug methodistischer Theologie erhalten: Lindner ersehnt nicht primär die Gaben, sondern die Frucht des Geistes. Den empfangenen Segen macht er eindeutig an einem erneuerten Leben, nicht am Vorhandensein bestimmter Geistesgaben fest. Zugleich sieht Lindner in den Versammlungen nicht allein Gott, sondern auch andere Kräfte am Werk, enthält sich jedoch jeder Bewertung, ob es sich dabei um seelische oder dämonische Kräfte handelt. Mit seiner insgesamt positiven Bewertung der Kasseler Vorgänge stand Lindner innerhalb der BMK nicht allein, wie ein Blick in die Wächterstimmen 30

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Oskar Lindner, Die Casseler Bewegung. In: Evangelist 58 (1907), S. 477.

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

zeigt.31 Ein offenbar von den Herausgebern H. Meyer und Bernhard Keip verantworteter Artikel32 stellt die Notwendigkeit der nüchternen Prüfung ins Zentrum der Betrachtung. Verwiesen wird auf die Spannung, die sich einerseits aus der Angst, in eine von fremden Mächten bestimmte Sache hineinzugeraten, und andererseits aus der Sehnsucht nach einer neuen Ausgießung des Heiligen Geistes ergibt. Es folg die Ermahnung, weder in „knechtische Furcht“ noch in ungeprüfte Zustimmung zu verfallen: Wir Methodisten haben am wenigsten Ursache, uns jetzt glaubenslos zu ängstigen. Die großen Erweckungen des Methodismus haben immer ähnliche außergewöhnliche Begleit-Erscheinungen gehabt. Aber doch ist es nötig, dass wir der Hut des Herrn warten, dass nicht Fleisch für Geist und Satan für 33 einen Engel des Lichts gehalten wird.

Mit Blick auf die Vorgänge in Kassel selbst kommt der Verfasser zu dem Schluss, dass hier „Wahres und Falsches, Geist und Fleisch dicht beieinander“ liegen.34 Doch nicht dämonische, sondern natürliche Wirkungen werden als Grund der seelischen Erregung in den Versammlungen ausgemacht. Das Wirken des Gottesgeistes wird wiederum in soteriologischer Hinsicht qualifiziert, wenn es heißt: „Was daran zur Besserung der Herzen, zur Bekehrung der Sünder und zur Heiligung der Gemeinde gedient hat, das ist vom Herrn“.35 2.3 Dritte Periode: Die „Berliner Erklärung“ 1909 und ihre Nachwirkungen Die auf die „Kasseler Vorgänge“ folgenden Monate und Jahre brachten einen Klärungs- und Ausdifferenzierungsprozess, der schließlich in der Trennung von Gemeinschafts- und Pfingstbewegung mündete. Im Oktober 1907 war Heinrich Dallmeyer mit einem Widerruf an die Öffentlichkeit getreten, in dem er den in Kassel wirkenden Geist als „Lügengeist“ identifi31

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Selbst der eher kritische Artikel unter der Überschrift „Was lehrt uns die Casseler Bewegung?“ bleibt in seiner Beurteilung vergleichsweise zurückhaltend: „Nach unsrer Einsicht in den Gang der Dinge, bezw. in den Ursprung und die Entwicklung dieser Bewegung, steht hier das Menschliche dem Göttlichen gegenüber zu sehr im Vordergrund“. In: Evangelist 58 (1907), S. 580. Der im „Ich“-Stil schreibende Verfasser gibt sich als Nicht-Augenzeuge zu erkennen; „Seid nüchtern und wachet“. Ein Wort über das Zungenreden. In: Wächterstimmen 37 (1907), S. 97–100. Ebd. [wie Anm. 32], S. 98. Ebd. [wie Anm. 32], S. 99. Ebd. [wie Anm. 32], S. 100.

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zierte und alle seine auf die Bewegung bezogenen Schriften zurückzog.36 Nur wenige Wochen zuvor, am 15. September 1907, hatte Jonathan Paul die Gabe der Zungenrede empfangen. Er sollte über die Trennung von der Gemeinschaftsbewegung hinaus zum Führer der Pfingstbewegung Mülheimer Richtung werden. Die Trennung selbst schien unvermeidlich. Ein von Gegnern und Befürwortern der neuen Zungenbewegung im Dezember 1907 in Barmen gefasster Kompromissbeschluss konnte diesen Schritt nur noch hinauszögern. Während die unklare Haltung vieler Gemeinschaftsleute die Ausbreitung der Pfingstbewegung begünstigte, formierten sich auch deren Kritiker und holten zum Gegenschlag aus. Die schriftliche Urkunde dieser entschiedenen Gegenbewegung ist die im September 1909 von 60 Persönlichkeiten der Gemeinschaftsbewegung und der Allianz verab37 schiedete „Berliner Erklärung“. Wie Ernst Lange herausgearbeitet hat, war mit der „Berliner Erklärung“ zwar endlich ein „klärendes und wegweisendes Wort für die deutschen Gemeinschaftskreise“ gesagt worden. Den Pfingstleuten wurde eine entscheidende Abfuhr erteilt, wenn auch eine theologisch fundierte Widerlegung der Lehren der Pfingstbewegung vom reinen Herzen, von der Geistestaufe und dem Zungenreden nicht eindeutig 38 erarbeitet worden war.

Doch war die Qualifizierung der Pfingstbewegung in ihrer Gesamtheit als eine Bewegung „von unten“ unmissverständlich. Die Anhänger der Pfingstbewegung hatten sich diesem Urteil zufolge außerhalb des Wirkungsbereichs des Gottesgeistes gestellt. Die „Berliner Erklärung“ markierte jedoch nicht allein die sichtbare Trennung von Gemeinschafts- und Pfingstbewegung, sondern führte auch zu Klärungsprozessen innerhalb der Freikirchen. Dazu beigetragen haben dürfte zum einen die Tatsache, dass es sich um eine Erklärung nahestehender Kreise der Bad Blankenburger Allianzbewegung handelte und dadurch auch Prediger der BMK und der EG ihre Unterschrift unter die „Berliner 39 Erklärung“ setzten. Die Wirkung dieser Tatsache dürfte sich noch verschärft haben mit dem Abdruck der Erklärung im Evangelist, der eine recht

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Dallmeyers Widerruf ist abgedruckt in Giese, Netze [wie Anm. 5], S. 209f. Evangelisches Allianzblatt 19 (1909), S. 313–315; jetzt auch in Giese, Netze [wie Anm. 5], S. 98–102. Lange, Bewegung [wie Anm. 9], S. 202. Aus der Evangelischen Gemeinschaft: Prediger Bähren (Hannover) und Prediger Jörn (Berlin); aus der Bischöflichen Methodistenkirche: Prediger Wilhelm Michael Schütz (Berlin).

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

vage gehaltene Einführung des Schriftleiters vorangestellt wurde, in der es an zentraler Stelle heißt: Obschon wir einerseits ein Wort der Erklärung für notwendig erachten, so können wir uns doch von unserm Standpunkt aus nicht mit allem, was darin 40 gesagt oder auch nicht gesagt ist, einverstanden erklären.

Eine genauere Bestimmung der kritischen Punkte erfolgt jedoch nicht. Dass es im Gefolge der „Berliner Erklärung“ zu Austritten pfingstlerisch beeinflusster Glieder mindestens aus der BMK kam, belegt die Verhandlungsniederschrift der Norddeutschen Jährlichen Konferenz aus dem Jahr 1910. Darin berichtet der Vorstehende Älteste Adolf Schilde von Schwierigkeiten aus dem Gemeindebezirk Kassel mit der Pfingstbewegung nahestehenden Kirchengliedern. Wörtlich heißt es: Es schien, als ob es Br[uder Philip] Lutz [dem örtlichen Prediger] gelingen sollte, die beeinflussten Glieder der Gemeinde zu erhalten. Als aber die berichtigende „Berliner Erklärung“ im Evangelisten erschien, bekamen die Geschwister den Eindruck, unsre Kirche sei ihnen gegnerisch gesonnen und tra41 ten aus. So haben wir 18 Mitglieder und nicht die schlechtesten verloren.

Jedoch dürfte nicht der Abdruck der Erklärung im Evangelisten für sich genommen den Ausschlag für die Trennung gegeben haben. Denn die vage Positionierung des Schriftleiters gegenüber der Erklärung war lediglich ein Indikator für die vom Positiven ins Kritische kippende Gesamtstimmung in der Methodistenkirche. Im Dezember 1909 erschienen die letzten beiden Artikel, in denen sich der Evangelist – wenn ich richtig sehe – auf Jahre hin zum letzten Mal explizit zum Thema „Pfingstbewegung“ äußert. Der eine Artikel bringt einen Auszug aus einer der Pfingstbewegung gegenüber ausgesprochen kritischen Schrift, in der das Zungenreden mit dem Wirken von 42 Dämonen in Verbindung gebracht wird. Zwar äußert der andere Artikel Widerstreben, „alle mit der Pfingstbewegung in Zusammenhang stehenden Erscheinungen als Teufelswerk hinzustellen“.43 Gleichwohl ergeht die dringende Bitte an die Leserschaft, sich von der Pfingstbewegung fernzuhalten. Von da an schweigt der Evangelist zu pfingstlerischen Phänomenen.

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Redaktionelles. In: Evangelist 60 (1909), S. 531. Verhandlungen der 17. Sitzung der Jährlichen Konferenz der Prediger der Bischöflichen Methodistenkirche in Norddeutschland, Bremen o. J. [1910], S. 82. Der Sachverhalt wird bestätigt durch Heinrich Schaedel, vgl. Die neue Geistesbewegung in Deutschland. In: Christliche Apologete 72 (1910), S. 14. Die Pfingstbewegung. In: Evangelist 60 (1909), S. 596. Redaktionelles. In: Evangelist 60 (1909), S. 591.

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Auch die Schriftleitung der „Wächterstimmen“ setzt sich letztmalig explizit 1910 mit der Pfingstbewegung auseinander. Zwar möchte man sich auch hier die „Berliner Erklärung“ nicht durchweg zu eigen machen, am „durchaus unbiblisch[en] und schwärmerisch[en]“ Charakter der Pfingstbewegung wird jedoch kein Zweifel gelassen. Sie sei weder „von oben“ noch „von unten“, sondern „wie alle Schwärmerei eine seelische Verirrung“.44 Die Anhänger der Pfingstbewegung werden als Brüder, wohl aber als „im Irrtum befangene Brüder“ bezeichnet.45 Die Beurteilung in den Reihen der EG fällt deutlich schärfer aus. So wird die „Berliner Erklärung“ in einer ersten kurzen Stellungnahme des „Evangelischen Botschafters“ positiv gewürdigt und inhaltlich nachvollzogen.46 Allerdings bleibt ein gewisses Maß an Vorbehalt gegenüber der Qualifizierung als einer Bewegung „von unten“ auch in der EG bestehen. Dies zeigt sich zum einen, wenn dem Leser des Evangelischen Botschafters später auch die psychologische Erklärungshypothese Theodor Haarbecks – verbunden mit einer vorsichtigen Distanzierung von der dämonistischen – angeboten wird,47 zum anderen in der recht unbestimmten Haltung, wie sie in einer ausführlichen Untersuchung von H. Deiss zum Ausdruck kommt, der feststellt, dass der Geist der Pfingstbewegung „ein sehr menschlicher und oft sogar satanischer ist“.48 Auch hier ist das Vermeiden scharfer, ja selbst einigermaßen klarer Beurteilungen erkennbar.

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Kirchliche Rundschau. In: WäSt 40 (1910), S. 23. Ausschlaggebend für diese – vergleichsweise „wohlwollende“ – Beurteilung war im konkreten Fall die „Mülheimer Erklärung“, die als Antwort auf die „Berliner Erklärung“ verabschiedet wurde; vgl. Giese, Netze [wie Anm. 5], S. 103–108. Editorielles. In: Evangelischer Botschafter 46 (1909), S. 340. Die „Pfingstbewegung“ in Deutschland. Eine psychologische Erklärung. In: Evangelischer Botschafter 47 (1910), S. 158.165f. Der Herausgeber erklärt: „Wir haben absichtlich zu dieser ‚Bewegung‘ bisher nicht näher eingehend Stellung genommen, finden uns aber nunmehr dazu veranlasst, da sie auch ‚unsere Kreise‘, wenigstens unseren weitausgedehnten Leserkreis, zuweilen beeinflusst und auch beunruhigt. Dazu berührt diese Erklärung jener seltsamen Vorgänge angenehmer und einleuchtender, als die andere: sie einfach dämonischen Einflüssen zuzuschreiben. Das will uns doch bedenklich erscheinen“; ebd., S. 166. H. Deiss, Biblische Beleuchtung der sogenannten Pfingstbewegung. In: Evangelischer Botschafter 48 (1911), S. 29.

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

2.4 Fazit: Die geschichtliche Begegnung zwischen Methodismus und früher Pfingstbewegung Ziehen wir ein erstes historisches Fazit hinsichtlich der Begegnung von deutschem Methodismus und früher Pfingstbewegung. Zwei Punkte sind hier dabei zu nennen. Erstens lässt sich ein klares zeitliches Gefälle in der Beurteilung der neuen Erweckungsbewegungen feststellen. Die erste Phase erstreckt sich von den 1904 beginnenden Erweckungen bis zum Aufkommen der Zungenrede als ein die Erweckungen in Los Angeles und Christiania kennzeichnendes Phänomen (1904–1906). Die zweite Phase umfasst die Erweckungen seit dem Aufkommen der Zungenrede bis zum Vorabend der „Berliner Erklärung“ (1906–1909). Mit der Veröffentlichung der „Berliner Erklärung“ im Herbst 1909 ist die dritte Phase eingeleitet. Ungeachtet der zwischen BMK und EG festgestellten Differenzen lässt sich eine klare Tendenz beobachten, die ausgehend von einer insgesamt positiven Grundstimmung in der ersten zu einer deutlich negativen Beurteilung in der dritten Phase führt. Dabei lässt sich zweitens ein klares Bewertungsgefälle zwischen Methodistenkirche und Evangelischer Gemeinschaft feststellen. So reicht die Bewertung in den BMK-Publikationen von enthusiastischer Begeisterung in der ersten Phase über differenziert positive Kritik bei Anerkennung des Wirkens Gottes in der zweiten Phase hin zu einer sehr kritischen, aber im Ganzen doch brüderlich-mahnenden Bewertung in der dritten, auf die Berliner Erklärung folgenden Phase. In den Publikationen der EG lässt sich eine vergleichbare Begeisterung, auch ein gleichermaßen intensives Interesse, für die Erweckungen schon in der ersten Phase nicht feststellen. Bereits in der zweiten Phase überwiegt eine deutlich negative Sicht der Ereignisse, die dann in der dritten Phase in eine so starke Nähe zur „Berliner Erklärung“ führt, dass es zu einer wirklich entschiedenen Kritik an der einseitigen Beurteilung der Pfingstbewegung als „von unten“ nicht mehr kommt. Die Kasseler Vorgänge erweisen sich damit als im wörtlichen Sinne „kritische“ Phase im Verhältnis von Methodismus und Pfingstbewegung. Obwohl es in der BMK eine erkennbar positivere Sicht der Ereignisse gab als in der EG, sind die Positionen doch noch nicht so verfestigt, dass eine Verständigung unmöglich gewesen wäre. Die notwendigen Klärungsprozesse sind durch die „Berliner Erklärung“ beschleunigt, zugleich aber auch in eine negativ-polarisierende Richtung gedrängt worden. Die Tragik der „Berliner Erklärung“ liegt daher vor allem darin, die Kommunikation zwischen Methodismus und Pfingstbewegung unter die Sogwirkung einer ungerechtfertigt scharfen und theologisch einseitigen Sicht gebracht zu haben, die offen-

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sichtlich auch im Methodismus zu Abgrenzung, Trennung und Kommunikationsabbruch gegenüber der Pfingstbewegung geführt hat. Historisch mag diese Entwicklung bis zu einem bestimmten Grad verständlich sein, denn man wird nicht vergessen dürfen, dass die methodistischen Denominationen sich am Beginn des 20. Jahrhunderts in verstärktem Maße bemühten, den Ruf, ein angelsächsischer Fremdkörper in der deutschen Gesellschaft zu sein, abzulegen und sich als Freikirchen mit einer geistlichen Sendung an das deutsche Volk zu präsentieren. In der Pfingstbewegung holt den Methodismus die eigene angelsächsische Herkunft noch einmal ein. Damit ist auf den gesellschaftspolitischen Hintergrund hingewiesen, vor dem sich die theologische Auseinandersetzung vollzog. Deshalb ist es angebracht, im Folgenden einen Blick auf die Struktur der theologischen Argumentation zu werfen, wie sie in der Auseinandersetzung des Methodismus mit der Pfingstbewegung erkennbar wird.

3 Die Struktur der theologischen Auseinandersetzung mit der Pfingstbewegung 3.1 Das Personsein des Heiligen Geistes Obwohl, wie wir sahen, die Stellungnahmen von BMK und EG zum Aufkommen der Pfingstbewegung teilweise erheblich voneinander abweichen, zeigt sich in den Grundzügen der Pneumatologie eine weitgehende Übereinstimmung. Gerade weil dies so ist, gewinnt die Frage, welche Faktoren auf der Grundlage einer gemeinsamen Pneumatologie zu letztlich doch unterschiedlichen Bewertungen beigetragen haben, besondere Relevanz. Ihre Beantwortung bedarf jedoch weitergehender Forschungen, die stärker noch die gesamtkirchliche Entwicklung der beiden hier berücksichtigten methodistischen Denominationen in den Blick nehmen. Was die Struktur der methodistischen Pneumatologie angeht, sticht im Hinblick auf das Wesen des Heiligen Geistes zunächst das grundsätzliche Bekenntnis zur Personalität und Göttlichkeit des Geistes heraus. Dieser Aspekt, der in den methodistischen Dogmatiken der Zeit seinen prominen49 ten Platz hatte, erscheint als Grundvoraussetzung für alle weiteren Aussa-

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Vgl. Sulzberger, Arnold, Christliche Glaubenslehre, 3. Aufl. Bremen 1898, S. 213–217; Escher, Johann Jakob, Christliche Theologie. Eine Darstellung biblischer Lehre vom Standpunkt der Evangelischen Gemeinschaft, Bd. 1, Cleveland o. J. [1899], S. 219–242;

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

gen, wurde vermutlich aber weniger gegenüber der Pfingstbewegung als vielmehr gegenüber der liberalen Theologie stark gemacht. Gleichwohl ist das Bekenntnis zum Personsein des Heiligen Geistes von nicht zu unterschätzender kritischer, besser noch: selbstkritischer, Bedeutung. Denn oft stoßen wir bei der Beschreibung der Wirksamkeit des Heiligen Geistes auf eine ambivalente Redeweise, die sowohl personale Elemente als auch mystische Anklänge enthält. So beispielsweise bei W. Quack, wenn es heißt: Durch den Geist soll der Mensch, an Gott hingegeben, fähig gemacht werden, den Vater und den Sohn ins Herz aufzunehmen und so zur völligen Gottesgemeinschaft kommen. Wie der Vater wohnt im Sohn und der Sohn im Vater und der Geist eins ist mit beiden, so will er auch in uns leben. Er will eins mit uns durch unmittelbare göttliche Einströmung, die Wurzel unseres persönlichen Lebens werden.50

Der Gedanke der personalen Einwohnung steht hier neben dem des unpersönlichen Einströmens. Beide werden nicht miteinander vermittelt, es scheint auch kein Widerspruch zwischen beiden empfunden worden zu sein. Obwohl also die personale Grundbestimmung zumeist mitgedacht ist, wird der Geist begrifflich doch oft als Kraft aufgefasst: als Kraft der Frömmigkeit, der Einheit, des Zeugnisses, des Gebets usw.51 Seine grundlegende Wirksamkeit entfaltet der Heilige Geist nach methodistischer Auffassung jedoch darin, dass er den Christen in das rechte Verhältnis zu Christus und den Gliedern seines Leibes setzt. In dieser relationalen Wirkung, die den Stand der Gotteskindschaft konstituiert, hat der Heilige Geist seine soteriologische Grundbestimmung. 3.2 Empfang des Geistes – Erfüllung mit dem Geist Von größerer Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der beginnenden Pfingstbewegung war allerdings die Frage, wann und in welcher Weise dem Glaubenden der Heilige Geist zuteilwird. Methodistische Theologen beantworteten diese Frage (quer durch die beiden Bewegungen hindurch) nicht ganz einheitlich. Die entscheidende Differenz bestand darin, dass von einigen Theologen mit dem Vorgang der Wiedergeburt die Erfüllung mit bzw. die Einwohnung des Heiligen Geistes, von anderen „lediglich“ der

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Gülich, H., Der christliche Glaube. Handbuch der Heils- und Sittenlehre, Cleveland 1903, S. 181f. W. Quack, Die Einwohnung des heiligen Geistes in den Herzen der Gläubigen. In: Evangelischer Botschafter 42 (1905), S. 390. A. W., Pfingst-Kraft. In: Evangelist 56 (1905), S. 265f.

Die Struktur der theologischen Auseinandersetzung

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Empfang bzw. die Einwirkung des Heiligen Geistes verbunden wurde. Daraus ergaben sich zwei unterschiedliche Schemata, was das Wachstum bzw. das Heranreifen des Wiedergeborenen in der Gnade anbelangt. Der Begriff der „Erfüllung mit dem Heiligen Geist“ verleiht dem Geschehen der Bekehrung (als Rechtfertigung und Wiedergeburt) stärkeres Gewicht. Wiedergeburt und Geisttaufe fallen hier zusammen.52 Dies ist im sachlichen Kontext unseres Themas auch die Position Jonathan Pauls, der aufbauend auf dieser Grunderfahrung allerdings ein etwas eigenwilliges DreiStufen-Schema entwickelte.53 Obwohl die Methodisten wenig geneigt waren, sich dieses Schema im Einzelnen zu eigen zu machen, stimmten sie doch mit Paul darin überein, dass die Wiedergeburtserfahrung nicht Schlusspunkt, sondern Durchgangspunkt zu einem „höheren Leben“ ist, in das der Mensch durch völlige Hingabe und Gehorsam eingeht. Lässt sich dieses Eingehen in das Leben der gänzlichen Heiligung als zeitlich von der Wiedergeburt unterschiedenes, plötzlich auftretendes Gnadenwerk erfahren oder handelt es sich um ein beständiges Voranschreiten in der Gnade? In der wesleyanischen Theologie sind beide Deutungen angelegt. Die methodistischen Autoren lassen sich dazu mit folgender Interpretation vernehmen: Nachdem der Heilige Geist mit der Wiedergeburt verliehen wurde, bleibt er im Wiedergeborenen gegenwärtig. Er ist da, doch muss der Wiedergeborene ihm mehr und mehr Raum geben. Wo dies geschieht, vollzieht sich das Wachsen in der Gnade auf eine stille, unmerklich zunehmende Weise. Dabei ist die Gegenwart des Geistes als ein beständiges Empfangen gedacht, womit der Glaubende zu jeder Zeit in der Abhängigkeit von Gott bleibt. Lediglich wenn die stetige Wirksamkeit des Geistes durch fortwährendes Sündigen unterbrochen wird, muss der Geist durch Buße und Hingabe hin aufs Neue empfangen werden. Diese Erfahrung wird von Menschen oft in einer Intensität erfahren, die die Bestimmung dieses Vorgangs als ein von der Wiedergeburt unterschiedenes „zweites“ Gnadenwerk zu rechtfertigen scheint. Streng genommen handelt es sich dabei jedoch um die mit besonderer Intensität erfahrene Wiederaufnahme der kontinuierlichen Wirksamkeit des Heiligen Geistes, die als der theologische Normfall verstanden wird. Etwas anders sieht das soteriologische Schema aus, wenn die Wiedergeburt „lediglich“ mit dem „Empfang des Heiligen Geistes“ verbunden wird. Der Begriff des Empfangs dient vor allem der Unterscheidung von der Er52 53

266

Vgl. Geistes-Fülle. In: Evangelist 59 (1908), S. 268. Vgl. Schmieder, Lucida, Geisttaufe. Ein Beitrag zur neueren Glaubensgeschichte, Paderborn 1982, S. 275–278.

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

füllung mit dem Heiligen Geist, die der Wiedergeborene als den Eingang in das „volle Heil“ ersehnt. Damit wird der transitive, der Durchgangscharakter des Bekehrungsgeschehens stärker betont. Das Leben des Bekehrten wird vor allem hinsichtlich seiner Defizite und Mängel beschrieben. Für ein Leben, das Beständigkeit im Sieg über die Sünde und im Üben der Liebe hat, bedarf es eines weiteren Gnadenwerkes, durch das der Gläubige der Fülle des Heiligen Geistes teilhaftig wird. Dieses zweite Gnadenwerk ist die Geisttaufe, die in der Regel als plötzliche Durchbruchserfahrung erlebt wird, die häufig als das „persönliche Pfingsten“ eines Glaubenden bezeichnet wird. Somit ist die Geisttaufe diesem Verständnis zufolge nicht mit der Bekehrung, sondern mit dem Erlangen der gänzlichen Heiligung verbunden. Erst sie verleiht Reinheit des Herzens und Beständigkeit im Dienst für das Reich Gottes. Bei aller mehr oder weniger subtilen Differenz erweisen sich beide Den54 krichtungen doch als in der Ausrichtung übereinstimmend. So wird erstens die Gegenwart des Heiliges Geistes in einer Weise vorgestellt, die – unabhängig von der genauen Begriffswahl – eine soteriologische Steigerung zulässt. Häufig wird dieser Aspekt in stofflicher, quantitativer Weise ausgedrückt, so wenn von einem immer stärkeren „Einströmen“ des Geistes die Rede ist oder gesagt wird, dass der Heilige Geist zur untrennbaren Natur des Menschen wird.55 Daneben findet sich jedoch immer wieder auch der Versuch, den Gedanken der tieferen Einwurzelung im Glauben mit der Vorstellung vom Personsein des Geistes zu verbinden. So heißt es bei H. Deiss: Jedes Gotteskind hat den Heiligen Geist ganz, denn halb oder teilweise kann ihn niemand haben, da er eine Person und nicht etwa bloß eine Art magische oder elektrische Kraft ist. Aber jedes Gotteskind muss sich selbst der Heiligen Person des göttlichen Geistes immer völliger ergeben; es muss gehorchen, dass der Heilige Geist es nach Denken, Fühlen und Wollen ganz besitzt.56

Das Zitat macht sehr gut deutlich, dass die Erfüllung mit dem Heiligen Geist im Modus der personalen Begegnung mit Gott aufgefasst wird. Die Gemeinschaft mit Gott hat ihren unverrückbaren Grund in der Einwohnung des Heiligen Geistes; verstanden als Begegnung schließt dieses Ge54

55 56

Oft lassen sich die Äußerungen eines Autors nicht einmal eindeutig zuordnen. Es gab hier durchaus Übergänge und auch biographische Brüche, wie sich exemplarisch an Wilhelm Nast (1807–1899) zeigen lässt; vgl. Raedel, Christoph, Methodistische Theologie im 19. Jahrhundert. Der deutschsprachige Zweig der Bischöflichen Methodistenkirche, Göttingen 2004, S. 101f. Quack, Einwohnung [wie Anm. 50], S. 398. Deiss, Beleuchtung [wie Anm. 48], S. 30.

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schehen jedoch ein wachsendes Maß an Erfüllung mit dem Geist nicht aus, so wie das Kennen einer Person ein Wachsen im Vertrauen zu ihr ermöglicht. Das Erfülltwerden mit dem Geist wird also primär auf das erneuernde Wirken Gottes bezogen. Darin liegt dann auch die zweite Gemeinsamkeit beider Ansätze. Das Wirken des Geistes wird in erster Linie mit dem Hervorbringen der Früchte des Geistes in Verbindung gebracht. Der Heilige Geist schenkt Sieg über die Sünde und ein Leben in vollkommener Liebe zu Gott und dem Nächsten. Die Überzeugung von einer auf die Wiedergeburt folgenden Geisttaufe und die Betonung christlicher Heiligung sind bereits früh in der methodistischen Tradition von John Fletcher miteinander verbunden worden, und zwar in einer, wie Laurence Wood gezeigt hat, von John Wesley ausdrücklich gebil57 ligten Weise. Für methodistische Theologen konnte daher das Aufkommen der Pfingstbewegung zunächst als eine Antwort auf ihre beständige Bitte nach einer neuen, noch größeren Ausgießung des Heiligen Geistes erscheinen. In der Lehre von der Geisttaufe als einer von der Wiedergeburt zwar zeitlich unterschiedenen, aber sachlich mit ihr zusammengehörenden Glaubenserfahrung begegnete ihnen ihre eigene, freilich nicht immer durchreflektierte Überzeugung von der dynamischen Wirksamkeit der Gnade Gottes. Doch bezogen Methodisten den Gedanken der Geisttaufe primär auf das von Wesley her empfangene Verständnis der gänzlichen Heiligung bzw. christlichen Vollkommenheit und gelangten so primär zu einer Charakterisierung der Geisttaufe als Erneuerungserfahrung. Erstes und wichtigstes Kriterium methodistischer Theologie in der Auseinandersetzung mit der Pfingstbewegung ist der Aufweis der Frucht des Geistes nach Galater 5,22, also die Frage nach dem Leben in der Heiligung unter der Signatur des Doppelgebots der Liebe. 3.3 Zungenrede und Geistleitung Dass es auf Dauer in Deutschland nicht zu einer Verständigung zwischen Methodismus und Pfingstbewegung kam, lag also keinesfalls im Gedanken der Geisttaufe für sich begründet. Auch gegen Jonathan Pauls Lehre vom 57

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Vgl. Wood, Laurence W., The Meaning of Pentecost in Early Methodism. Rediscovering John Fletcher as John Wesley’s Vindicator and Designated Successor, Lanham/Oxford 2002. Auf die grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Fletcher und Wesley hatte bereits Lucida Schmieder hingewiesen; vgl. Geisttaufe [wie Anm. 53], S. 134. Zu einer kritischen Diskussion von Woods Interpretation der Auffassungen Wesleys vgl. Randy L. Maddox, Wesley’s Understanding of Christian Perfection: In what Sense Pentecostal? In: Wesleyan Theological Journal 34/2 (1999), S. 78–110.

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

„reinen Herzen“, die eigentümliche Gestalt seiner Lehre von der Ausrottung der Sünde, konnte ausgehend von Wesley kaum grundsätzlich polemisiert werden, auch wenn es in Details Unterschiede gab.58 Die eigentliche Scheidung von Methodismus und Pfingstbewegung vollzog sich an zwei Punkten: zum einen an der Ausübung von Zungenrede und Prophetie – und zwar in einem von hoher emotionaler Spannung aufgeladenen und von ekstatischen Phänomenen gesättigten Umfeld, zum anderen am pfingstlerischen Verständnis der Geistleitung, die – wie die Methodisten schnell erkannten – tiefgreifende ekklesiologische Konsequenzen barg. Vor diesem Hintergrund nahm die theologische Auseinandersetzung um das Zungenreden folgende Gestalt an. Die Ausübung der Geistesgaben wie Zungenrede und Prophetie im Kontext ekstatischer Religiosität wird erstens als Ausdruck eines menschlich motivierten „Haschen(s) und Streben(s) nach Absonderlichem“ und als „Produzierenwollen von Wunderlichem“ inter59 pretiert. Effekthascherei jedoch steht im Widerspruch zum erneuernden Wirken des Heiligen Geistes, der Menschen nicht seelisch erregen, sondern in ihrem Herzen und Lebenswandel in das Ebenbild Christi verändern möchte. Zum zweiten wird die Bedeutung der Geistesgaben für das Leben der Urgemeinde relativiert. Dazu wird das Auftreten der Zungenrede in der Gemeinde in Korinth mit dem Vorwurf des Apostels an die Korinther in Verbindung gebracht, noch „unmündige Kinder in Christus“ zu sein (1Kor 3,1f). Verwiesen wird ferner darauf, dass die Zungenrede eine Gabe sei, bei der nur das Gefühl unter Ausschluss des Denkens und Wollens betei60 ligt sei. Daraus folgt, dass der Zungenredner nicht besonderer Segnungen teilhaftig wird, sondern im Gegenteil auf die Kindheitsstufe christlicher Erkenntnis herabsinke. Und auf die Gemeinde als ganze bezogen bedeutet dies: Andre Gemeinden in der Apostelzeit, in denen von einem Zungenreden gar keine Rede ist, standen auf einer viel höheren Stufe christlichen Heilslebens und christlicher Lebensbetätigung als die Gemeinde in Korinth. Demnach ist nicht das Vorhandensein des Zungenredens, sondern eher das Fehlen dessel61 ben ein Beweis für ein reifes Mannesalter in Christo.

58

59 60 61

Vgl. A. Mehner, Die Lehre von der christlichen Vollkommenheit nach John Wesley und P[astor] Paul. In: Wächterstimmen 41 (1911), S. 72–79. Der Artikel schließt mit dem Fazit: „Wir verurteilen Past. Paul nicht, auch nicht seine Vollkommenheitslehre als Ganzes … Wir können ihm in vielem folgen, aber nicht unbedingt in allem; seine Einseitigkeiten und Extravaganzen können wir nicht mitmachen“ (S. 79). Deiss, Beleuchtung [wie Anm. 48], S. 46. Herrmann, Zungenreden. In: Wächterstimmen 38 (1908), S. 42. Ebd. [wie Anm. 60], S. 43.

Die Struktur der theologischen Auseinandersetzung

269

In Verbindung damit wird drittens die Bedeutung der Charismen für die Kirche der Gegenwart soweit bestritten, dass aus der Unterscheidung von Gaben und Früchten des Geistes ein Gegensatz wird. Zwar wird die Überzeugung, dass das Ausüben der Geistesgaben alleiniges Kennzeichen der Apostelzeit gewesen sei, nicht durchgängig vertreten, doch wird zumindest die Frage gestellt, „ob es denn in der Absicht Gottes liege, der gegenwärtigen Gemeinde zu gewähren, was den Verhältnissen damaliger Zeit ganz entsprechend war“.62 Als vollständig voneinander gelöst erscheinen Gaben und Früchte des Geistes, wenn gesagt wird, dass es unbiblisch sei, das „Fehlen der geistlichen Gaben als einen Mangel göttlichen Lebens“ hinzustellen, während dieses göttliche Leben „ohne die Früchte des Geistes undenkbar“ sei.63 Ein viertes Argument ist die Annahme dämonischer Einflüsse auf die Zungenredner. Diese Vermutung wird vor allem am Reden in der ersten Person bei gleichzeitigem Fehlen der Eröffnungsformel „So spricht der Herr“ festgemacht. Auch der Aussagegehalt mancher Prophetien und Zungenreden wird als göttlicher Rede unwürdig bezeichnet. Die turbulenten Vorgänge in Kassel 1907 werden maßgeblich auf die durch spiritistischen Einfluss ausgelöste Verwirrung zurückgeführt. Die Praxis der Zungenrede wird fünftens als unbiblisch qualifiziert ange64 sichts des Auftretens von Frauen als Zungenredner. Nach Auffassung mehrerer Autoren ist damit das apostolische Schweigegebot für die Frauen aus 1Kor 14 verletzt, ein Argument, dem exegetische Kraft vermutlich schon deshalb zugebilligt wurde, weil es demselben neutestamentlichen Brief entnommen ist, auf den sich die Zungenredner zur Begründung ihrer Begabung berufen. Dieses vergleichsweise Desinteresse an den Gaben des Geistes bei gleichzeitiger Betonung der Früchte des Geistes ist erkennbar in der Theologie 65 Wesleys angelegt. Denn Wesley unterschied nicht zwischen Gaben und Früchten des Geistes, sondern zwischen „gewöhnlichen“ (ordinary) und „außergewöhnlichen“ (extraordinary) Gaben des Geistes, und zu letzteren gehören für ihn unter anderem Zungenrede und Prophetie.66 Nicht nur ist 62 63 64 65 66

270

E. Schütte, Geistliches Leben und biblische Nüchternheit. In: Wächterstimmen 43 (1913), S. 100. Ebd. [wie Anm. 62], S. 101. „Seid nüchtern und wachet“. Ein Wort über das Zungenreden. In: Wächterstimmen 37 (1907), S. 100. Vgl. Snyder, Howard A., The Devided Flame. Wesleyans and the Charismatic Renewal, Grand Rapids 1986, S. 54–67. Vgl. John Wesley, The More Excellent Way (Sermon 89), § 1. In: Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 3: Sermons III, Nashville 1986, S. 263f; Wesley, John, Explanatory Notes Upon the New Testament, London 1976, S. 713.

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

in dieser Terminologie unvermeidlicherweise ein gewisses Gefälle von den gewöhnlichen zu den außergewöhnlichen Gaben hin angelegt, insofern als das Gewöhnliche zugleich als das Wesentliche, Notwendige, Unverzichtbare, das Ungewöhnliche dagegen als das Unwesentliche, Sekundäre, Verzichtbare aufgefasst werden kann. Schwerer wiegt, dass es für Wesley nur eine einseitige Beziehung zwischen Gaben und Früchten des Geistes gibt. Denn letztere – und dabei im Besonderen die Liebe – sind Kriterium und Norm für erstere,67 wogegen den (außergewöhnlichen) Gaben des Geistes kein theologisch eigenständiges Gewicht zukommt. Obwohl Wesley also den „außergewöhnlichen“ Gaben ihren Platz im Leben der Kirche nicht bestritt, wird nicht erkennbar, ob ihr Fehlen im Leben der Gemeinde bzw. des einzelnen Christen problematisch ist und welche soteriologische Bedeutung ihnen überhaupt zukommt. Wesleys Konzentration auf die ethisch verstandene Frucht des Geistes hat hier also einer theologischen Einseitigkeit zumindest den Weg bereitet. Dies gilt sicherlich weniger für den zweiten Scheidepunkt zwischen Methodismus und Pfingstbewegung, das Verständnis der Geistleitung. Wesley hatte einer einseitig subjektiven Auffassung der Leitung durch den Heiligen Geist auf zweifache Weise entgegengewirkt. In soteriologischer Hinsicht hatte Wesley das Zeugnis des Heiligen Geistes auf die Gewissheit bezogen, ein Kind Gottes zu sein, sowie auf solche ethischen Entscheidungen, die sich 68 im Hinblick auf diesen Gnadenstand in der Nachfolge ergeben, nicht je69 doch auf alltägliche Lebensführungen, die er dem – zweifellos geistlich bedeutsamen – Bereich der speziellen Vorsehung Gottes zuordnete.70 Mit Blick auf die Ekklesiologie konnte Wesley in seiner Lehre von den Gnadenmittel zeigen,71 dass Gottes lebenschaffende Gegenwart und heilbringende Identität uns auf „direktem“ Wege normalerweise durch die äußeren

67 68 69

70

71

Vgl. Albert C. Outler, John Wesley as Theologian – Then and Now. In: Methodist History 12 (1974), S. 79. Vgl. Oden, Thomas C., John Wesley’s Scriptural Christianity. A Plain Exposition of His Teaching on Christian Doctrine, Grand Rapids 1994, S. 221–241 (Lit.). Vgl. Baker, Frank (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 26: Letters 2 (1740–1755), Oxford 1982, S. 246–248; vgl. weiter die Ausführungen von Campbell, Ted A., John Wesley and Christian Antiquity, Nashville 1991, S. 58–62, wo dieser Punkt jedoch nicht klar herausgearbeitet wird. Vgl. Christoph Raedel, Gotteserfahrung im Widerstreit? Zwischen methodistischer Identität und charismatischer Erneuerung. In: ders. (Hrsg.), Methodismus und charismatische Bewegung. Historische, theologische und hymnologische Beiträge (Reutlinger Theologische Studien 2), Göttingen 2007, 163–192. Vgl. die vorzügliche Interpretation von Knight, Henry H. III., The Presence of God in the Christian Life. John Wesley and the Means of Grace, Lanham/London 1992.

Die Struktur der theologischen Auseinandersetzung

271

Gnadenmitteln der Kirche (Gottesdienst, Schriftauslegung, Abendmahl, Gebet etc.) erreicht. Es sind durchaus vom Menschen vollzogene Handlungen, die Kraft des Heiligen Geistes zu äußeren Wegbereitern einer innerlichen Gnadenwirkung werden, die als solche dann auch bewusst empfangen wird. Das Ideal der Pfingstler – und hier genauer noch Jonathan Pauls – musste den Methodisten von daher einseitig erscheinen: „[S]ie wollten möglichst gar keine Verfassung, sondern Geistesleitung, keine gottesdienstlichen Formen, sondern Geistesgaben“.72 Als die Wurzel der pfingstlerischen „Schwärmerei“ ist damit ein falsch verstandenes Ideal der urgemeindlichen Gemeindestruktur bestimmt. Der Gedanke der direkten Leitung durch den Heiligen Geist aber wird abseits der kirchlichen Gnadenmittel zum „hochgradigen Subjektivismus“. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die Überbetonung der Geistleitung auf pfingstlerischer Seite nun methodistischerseits zu einer Überakzentuierung der – sich gerade erst stabilisierenden – eigenen kirchlichen Ordnung führte. Dem Enthusiasmus der Pfingstler wird die Notwendigkeit und Angemessenheit der eigenen kirchlichen Ordnung entgegengehalten, wobei der Gedanke der „Ordnung“ ein tendenziell zunehmendes Gewicht erhält. Dies musste vor allem dann beunruhigen, wenn in gleichem Maße die geistliche Dynamik in der eigenen Kirche spürbar nachließ. Darauf deutet eine Äußerung des Vorstehenden Ältesten Robert Neupert im Jahr 1910 hin, wenn er sagt: Vor den Auswüchsen der sogenannten Pfingstbewegung sind unsre Gemeinden verschont geblieben, aber etwas mehr von dem wahren Pfingstgeist und 73 Feuer könnten unsre Prediger und Gemeinden noch wohl vertragen.

Schließlich ist auf ein weiteres Trennungsmoment zwischen Methodisten und Pfingstlern einzugehen, nämlich die ekstatischen Phänomene. Auffallend ist, dass es – anders als bei den beiden zuerst genannten Punkten – von methodistischer Seite aus in dieser Hinsicht zu keiner theologisch zugespitzten Kritik kam. Die Kritik an ekstatischen Phänomenen wie Schreien, Weinen, Hinfallen, Ruhen etc., die immerhin Teil der eigenen Frühgeschichte waren, erweist sich oft als eher ästhetisch begründet. Solches Verhalten – auch, ja gerade als Ausdruck des Überwältigtseins durch den Heiligen Geist – wird oft als ungeziemend sowie der Begegnung mit Gott unwürdig dargestellt und der Versuch gemacht, diese Verhaltensformen von den im Neuen Testament belegten ekstatischen Erscheinungen klar zu unterscheiden. Auch die vor allem für die Frühzeit des englischen Methodismus belegten enthusi72 73

272

Kirchliche Rundschau. In: Wächterstimmen 40 (1910), S. 24. Verhandlungen der 17. Sitzung der Jährlichen Konferenz der Prediger der Bischöflichen Methodistenkirche in Norddeutschland, Bremen o. J. [1910], S. 80.

Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

astischen Phänomene werden in ihrer nur relativen Wertigkeit als Begleiterscheinungen, die nicht das Wesen der Erweckung ausgemacht hätten, von den aktuellen Erscheinungen unterschieden.74 Ähnlich verhält es sich mit der wiederholt kritisierten Praxis öffentlicher und offenherziger Sündenbekenntnisse, wie sie auch während der Versammlungen in Kassel praktiziert wurden. Da das Bekennen der eigenen Sünden, mithin das Bekennen in der Heiligung überwundener Sünden, sich im Methodismus nicht auf die Klassenversammlungen beschränkte, sondern auch in der Gemeindeversammlung seinen Platz hatte, war eine grundsätzliche Kritik an dieser auch in pfingstlerischen Kreisen geübten Praxis kaum überzeugend möglich. Auch hier wich die theologische einer eher ästhetisch motivierten Beurteilung. Aufs Ganze gesehen schien es kaum möglich, an diesem Punkt eine wirkliche Differenz zu markieren. Und so räumt der Direktor des Predigerseminars der BMK in Frankfurt, Paul Gustav Junker, in einem grundsätzlich gehaltenen Artikel dann auch ein: Ganz ohne Erregung des Gefühls aber kann es bei Erweckungsversammlungen nicht abgehen. Denn das Gefühl ist bei vielen, ja vielleicht bei den meisten Menschen der stärkste Hebel zur Bewegung des Willens. Es wäre darum Unrecht, wollte man davon nicht Gebrauch machen.75

3.4 Zur theologischen Argumentation Die gegen die Pfingstbewegung vorgebrachten Argumente unterscheiden sich damit in Schärfe und Durchschlagskraft erheblich voneinander. Dafür gibt es mehrere Gründe. Festzustellen ist erstens, dass die strukturelle Ähnlichkeit in der theologischen Identität beider Bewegungen keine wirklich tiefgehende Kritik gestattete. Sowohl der Gedanke der Geisttaufe wie auch der der christlichen Vollkommenheit waren, wie ich angedeutet habe, in der methodistischen Theologie vorgebildet. Methodisten und Pfingstler vereinte die gemeinsame Grundüberzeugung, dass die Rechtfertigung, hier besser noch: die Bekehrung, wohl das Fundament, nicht jedoch das Ziel der Erlösung sei. Das 74

75

Damit folgen die deutschen Methodisten in Wesentlichen der Einschätzung zeitgenössischer Phänomene, wie sie John Wesley vertrat; vgl. Patrick Streiff P., Enthusiastische Phänomene im Umfeld des Methodismus. In: Theologie für die Praxis 21/2 (1995), S. 63–84; vgl. weiter Mathias Kürschner, Wegbereiter der Pfingstbewegung? – John Wesleys Begegnung mit charismatischen Phänomenen. Eine historische Untersuchung. In: Jahrbuch für Evangelikale Theologie 14 (2000), S. 135–156. Paul G. Junker, Die Schwarmgeisterei in Hessen und der Methodismus, In: Wächterstimmen 38 (1908), S. 75.

Die Struktur der theologischen Auseinandersetzung

273

irdische Ziel der Erlösung ist vielmehr die Umgestaltung des Menschen in das Ebenbild Christi durch das Wirken des Heiligen Geistes. Unterschiedliche Akzentsetzungen werden jedoch bereits dort erkennbar, wo es darum geht, diese Bestimmung näher zu erfassen. Dabei zeigt sich in der Pfingstbewegung eher der Rekurs auf eine normative Gestalt der christlichen Heilserfahrung, die jetzt vor allem in ihrer ekstatischen Dimensionalität bestimmt wird, wogegen die Methodisten primär auf die normative Gestalt des christlichen Lebens abheben, wobei die dem Leben in der Nachfolge zugrundeliegende Heilserfahrung jetzt scharf von eben jener ekstatischen Dimension unterschieden wird. Vor diesem Hintergrund erweist sich – zweitens – als mit wachsender Schärfe herausgearbeitete Differenz zwischen Methodismus und Pfingstbewegung das Praktizieren der von Wesley her als „außergewöhnlich“ verstandenen Geistesgaben im Allgemeinen, der Zungenrede im Besonderen. Vermutlich ist es den geschichtlichen Umständen der konkreten Begegnung mit dem Zungenreden – nämlich dem von religiöser Erregung erhitzten und von teilweise tumultartigen Erscheinungen begleiteten Umfeld – geschuldet, dass Methodisten und Pfingstler an diesem Punkt nicht zueinander finden konnten. Vor diesem Hintergrund wird aus der biblisch-theologisch bestimmten Zuordnung von Früchten und Gaben des Heiligen Geistes eine problematische Entzweiung, in der Teile der Pfingstbewegung sich zu der These versteigen, die Zungenrede sei Ausweis der Geistestaufe und damit allen Christen verheißen, während auf methodistischer Seite die Liebe als Inbegriff der Frucht des Geistes von ihrer soteriologisch zentralen Stellung aus die Geistesgaben nicht nur – richtigerweise – normiert und charakterisiert, sondern – in theologisch ungerechtfertigter Weise – exkludiert. Während die Pfingstbewegung mit ihrer Betonung der Geisttaufe in der Gefahr stand, die soteriologische Grundbedeutung der Liebe als Ausweis der in der Wiedergeburt beginnenden Heiligung unterzubestimmen, wurde auf methodistischer Seite das durchgängige Fehlen bestimmter Geistesgaben in den eigenen Gemeinden als in soteriologischer Hinsicht völlig unproblematisch betrachtet. Zum Dritten ist die Auseinandersetzung zwischen Methodismus und früher Pfingstbewegung von zumeist verborgenen ekklesiologischen Motiven durchzogen. Die methodistischen Denominationen waren ungeachtet bestimmter ihrem Kirchenverständnis einwohnender Ambivalenzen von jeher stolz auf ihre kirchliche Struktur und Ordnung. Melvin Dieter hat zutreffend bemerkt, dass bereits die Heiligungsbewegung des 19. Jahrhunderts weniger ein theologisches, als vielmehr ein ekklesiologisches Problem für die (amerikanische) Methodistenkirche darstellte, insofern sie Strukturen

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Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

und Praktiken hervorbrachte, die in Spannung zur etablierten methodistischen Kirchenordnung standen.76 Ähnliches lässt sich im Verhältnis zur Pfingstbewegung beobachten, sobald der Punkt der unmittelbaren „Geistleitung“ zur Sprache kommt. In Verbindung mit den um die Jahrhundertwende auch in den erwecklichen Kreisen Deutschlands Einfluss gewinnenden darbystischen Tendenzen war die Betonung der Geistleitung durchaus dazu geeignet, die kirchliche Ordnung der methodistischen Denominationen zu unterminieren. Und dies zu einem Zeitpunkt, an dem die methodistischen Freikirchen um die landeskirchliche und staatliche Anerkennung bemüht waren. Umso dringender schien es, das „eigentliche“ Werk, nämlich die Erneuerung von Menschen durch den Geist Gottes, nicht durch den unkontrollierten Rekurs auf die unmittelbare Leitung des Geistes gefährden zu lassen.

4 Fazit Methodismus und Pfingstbewegung treffen in Deutschland in einer für die methodistischen Freikirchen kritischen Phase aufeinander. Die Generation der Väter und Mütter des Methodismus in Deutschland ist verstorben, es geht darum, die begonnene und sich immer noch ausweitende Arbeit zu konsolidieren und für die Zukunft zu sichern. Das erste Jahrzehnt den 20. Jahrhunderts ist bestimmt von einer hochgespannten Erwartung auf machtvolle Erweckungen, an der auch die methodistischen Kirchen mehr (BMK) oder weniger stark (EG) teilhaben. In der Begegnung mit der Pfingstbewegung lassen sich drei Perioden erkennen, deren Tendenz deutlich in Richtung zunehmender Kritik weist. Die mehr oder weniger kritische Auseinandersetzung mit der Pfingstbewegung erreicht infolge der Veröffentlichung der „Berliner Erklärung“ im Herbst 1909 ihren Höhepunkt, um dann zu einem abrupten Ende zu kommen. Die publizistische Auseinandersetzung bricht ab, der Pfingstbewegung nahestehende Kirchenglieder verlassen den Methodismus. In theologischer Hinsicht nehmen die methodistischen Kirchen – über den erkennbaren soteriologischen Grundkonsens hinweg – vor allem Anstoß an der hervorgehobenen Stellung, die den aus ihrer Sicht „außergewöhnlichen“ Wirkungen des Heiligen Geistes in der Pfingstbewegung zukommt. Dem wird entschieden die „gewöhnliche“ heiligende Wirkung des Geistes, 76

Dieter, Melvin E., The Holiness Revival of the Nineteenth Century, 2. Aufl. Lanham/London 1996, passim.

Fazit

275

wie sie an der Frucht des Geistes erkennbar wird, entgegengehalten. Für Methodisten ist die Erneuerung von Herz und Leben in der Nachfolge Christi aus der Kraft des Geistes das eine maßgebliche Kriterium eines Lebens in Gemeinschaft mit Gott. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Überbewertung „außergewöhnlicher“ Phänomene in der Pfingstbewegung zu einer reaktiven Unterbewertung dieser Erscheinungen im Methodismus führte. Dabei wird kritisch zu fragen sein, inwieweit John Wesley mit seiner Unterscheidung von „gewöhnlichen“ und „außergewöhnlichen“ Gaben des Geistes dieser theologisch problematischen Polarisierung vorgearbeitet hatte. Überblickt man die hier nachgezeichneten Auseinandersetzungen in systematisch-theologischer Perspektive, dann bleibt zweierlei festzustellen. Erstens ist mit Blick auf die methodistische Theologie positiv zu sagen, dass es ihr besser als der frühen Pfingstbewegung gelungen ist, Pneumatologie und Christologie aufeinander zu beziehen. Danach besteht das vornehmliche Wirken des Heiligen Geistes in der persönlichen Mitteilung Jesu Christi, in dessen Leben, Sterben und Auferstehen das Heil der Welt verbürgt ist. Der Heilige Geist ist der persönliche Kommunikator der Einwohnung Christi im Herzen des Menschen. Frucht dieser lebendigen Gemeinschaft mit Gott ist das aus dem Geist erneuerte Leben in der Christus-Nachfolge. Das Herzstück der biblischen Erlösungslehre scheint mir damit theologisch zutreffend bestimmt (vgl. Joh 3,3.16; Röm 6,4; Eph 2,8–10). Obwohl schon aus trinitätstheologischen Erwägungen notwendig, erschien die Verbindung von Christologie und Pneumatologie für die methodistische Theologie vor allem aus soteriologischen Motiven naheliegend, bildete doch die Erlösungslehre das Herzstück der eigenen theologischen Programmatik. Weniger Berücksichtigung fand dagegen – dies sei zweitens festgehalten – die Verbindung von Soteriologie und Ekklesiologie. Wenn Methodisten in der pfingstlerischen Betonung der persönlichen Praktizierung von Geistesgaben sowie der unmittelbaren Geistleitung eine übertriebene Subjektivisierung und Individualisierung des Geistwirkens sahen, dann kritisierten sie materialiter zu Recht, was formal betrachtet, wenn auch in etwas anderer Hinsicht, ihr eigenes Problem war. Denn wenn es zutraf, dass die Pfingstler die – nennen wie es einmal so – „ekstatische“ Dimension des Geistwirkens subjektiviert hatten, dann trifft den Methodismus des 19. Jahrhunderts der Vorwurf, gleiches mit der heiligenden Dimension des Geistwirkens getan zu haben. Gemeint ist damit nicht der – fälschlich oft behauptete – Verlust des sozialen und karitativen Engagements, sondern die Auflösung des bei Wesley noch verankerten theologischen Sachzusammenhangs von Gnadenmittel und Gnadenzweck. Danach teilt sich Gottes Geist

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Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung

dem Menschen nicht unter Umgehung, sondern gerade im Gebrauch der Gnadenmittel mit, die dem Leben der Glaubenden ihre dem Christus entsprechende Gestalt geben. Damit gewinnt die Kirche als der von den Gnadenmitteln her bestimmte irdische Raum der Freiheit des Geistes grundlegende soteriologische Bedeutung. Diese Bedeutung ist jedoch für die methodistische Theologie am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht (mehr) recht erkennbar. Das Wissen um das Wesen der Kirche Jesu Christi ist zwar in den Dogmatiken vorhanden, prägend ist jedoch die Bestimmung des Wesens einer Denomination als Gemeinschaft gleichgesinnt Glaubender. Ebenfalls noch vorhanden ist das Wissen um die Gnadenmittel als Kanäle der Gnade Gottes, ihre geistliche Wirkung ist jedoch – aus Angst vor dem Missverständnis magischer Wirksamkeit – entleert (so z. B. beim Verständnis des Abendmahls) oder – erfahrungstheologisch motiviert – individualisiert (so z. B. durch einseitige Betonung des freien gegenüber dem liturgischen Gebet). Ein stärkeres Bewusstsein für die ekklesiologische Dimension des Geistwirkens hätte eine positivere Rezeption zum Beispiel der Praktizierung von Geistesgaben ermöglicht, denn deren Zweck ist, wie Paulus ausdrücklich betont, die Auferbauung des Leibes Christi (1Kor 14,26). Mit Blick auf die Gegenwart bleibt zu sagen: Der Methodismus in Deutschland ist heute mit pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der eigenen Kirche konfrontiert. Diffamierungen wie die in der „Berliner Erklärung“ ausgesprochenen sollen und dürfen sich nicht wiederholen. Vom Standpunkt methodistischer Theologie aus, d. h. von der Erwartung auf das immer neue und machtvollere Wirken des Gottesgeistes im Leben von Menschen und in dieser Welt, sollte der Methodismus offen sein auch für die Gegenwart von Menschen, die sich auf dem Boden gemeinsamer Liebe zu Christus von Gott in „pfingstlerischer“ Weise begaben lassen. Das unverrückbare Fundament methodistischer Theologie aber ist „die Liebe Gottes, die ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist“ (Röm 5,5). Dieser Liebe in immer stärker wachsendem Maße Raum zu geben im persönlichen wie gemeindlichen Leben, bleibt Berufung und Auftrag eines Methodismus, der sich dem Erbe John Wesleys in der Sendung Jesu Christi verpflichtet weiß.

Fazit

277

„A Heart Strangely Warmed“ Erweckung des Herzens als methodistisches Leitmotiv einer „evangelikalen“ Theologie 1 Einleitung Befragt man Mitglieder der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland danach, ob sie sich als „evangelikale“ Methodisten verstehen, dann wird man sehr unterschiedliche Reaktionen – vom überzeugten Ja bis zur schroff abweisenden Geste – erhalten. „Evangelikal“ und „methodistisch“ bilden heute weder im Englischen noch im Deutschen notwendigerweise ein Wortpaar, je nach persönlichem Standpunkt erscheinen sie manchen gar als Selbstwiderspruch. Bei seinem Dienstantritt als Bischof der EmK in Deutschland wurde Walter Klaiber vom Nachrichtenmagazin idea spektrum unter anderem gefragt, ob er ein „Evangelikaler“ sei. Er antwortete damals: Warum nicht? Wenn evangelikal bedeutet: Eine theologische und kirchliche Arbeit zu tun, die auf die Hinwendung des einzelnen zu Christus, d. h. auf Bekehrung zielt, auf eine verantwortliche Lebensgestaltung des Christen – wir nennen das Heiligung –, die biblisch fundiert ist und einen eschatologischen Ausblick hat, dann möchte ich evangelikal sein.1

Beides, der zuerst genannte persönliche Eindruck von der Rezeption des Begriffs „evangelikal“ wie auch die Stellungnahme des methodistischen Bischofs, stecken den Rahmen einer Untersuchung ab, die dem methodistischen Verständnis des Begriffs „evangelikal“ nachspüren bzw. eine Phänomenologie evangelikaler Methodisten heute vorlegen möchte. Zum Ersten ist hier nach dem geschichtlichen Weg zu fragen, auf dem sich die Begriffe „evangelical“ und „Methodist“ von ihrer anfänglichen Konvergenz her zu einem durchaus ambivalenten Begriffspaar entwickelten. Konkret bleibt zu klären, in welcher Weise sich das methodistische Selbstverständnis einerseits und der Gebrauch des Begriffs „evangelical“ andererseits seit dem 19. Jahrhundert weiterentwickelten, wobei der Schwerpunkt hier der Sache nach deutlich auf Ersterem liegt. Es bleibt zweitens zu fragen, was der Begriff „evangelikal“, wenn er heute von Methodisten gebraucht wird, inhaltlich bezeichnet. Bischof Klaiber hat eine Definition vorgelegt, die – wie sich 1

idea spektrum 11 (1988), S. 12.

Einleitung

279

zeigen wird –, eine erste Orientierung ermöglicht, wenn sie freilich auch nicht erschöpfend ist. Ziel soll es sein, die heute in einem innerkirchlichen Differenzbewusstsein existierende Strömung des evangelikalen Methodismus phänomenologisch bestimmen zu können.

2 John Wesley: Der Methodismus als Scriptural Christianity Findet der englische Begriff „evangelical“ Benutzung, so bleibt oftmals unzureichend berücksichtigt, dass der Begriff eine präfundamentalistische und eine postfundamentalistische Geschichte hat. Mit andereren Worten: Zwischen den Neo-Evangelikalen in der Gefolgschaft Billy Grahams nach 1950 und den erwecklich geprägten Kreisen des 18. und 19. Jahrhunderts liegt die fundamentalistische Bewegung, deren Präsenz und konkrete Prägung für die Begriffsgeschichte des Wortes „evangelikal“ nicht ohne Bedeutung ist. Gerade mit Blick auf den Methodismus ist es notwendig, zunächst den präfundamentalistischen Wortgebrauch in den Blick zu nehmen, um alle weiteren Entwicklungen von hier aus bestimmen und bewerten zu können. Für John Wesley stellte sich der Methodismus nicht als menschliche Neuerung dar, sondern als „the old religion, the religion of the Bible, the 2 religion of the primitive church“. Der Methodismus ist also – genauer gesprochen – eine Wiederbelebung des über die Jahrhunderte hinweg verlorengegangenen biblischen Christentums, ist „the revival of true religion“.3 Wie bestimmt Wesley nun das Wesen der alten biblischen Religion, der nach seiner Überzeugung der Methodismus entspricht? Wesley beantwortet diese Frage sehr konkret: [D]ie Liebe zu Gott und der ganzen Menschheit; das Gott Lieben mit unserem ganzen Herzen, mit unserer ganzen Seele und mit aller unserer Kraft, [ihn lieben] als den, der uns zuerst geliebt hat, der die Quelle ist von allem Guten, das wir empfangen haben …, und das Lieben einer jeden Seele, die Gott gemacht hat, jedes Menschen auf der Erde, wie unsere eigene Seele. Dies ist die Religion, die in der Welt aufgerichtet zu sehen uns verlangt, eine Religion der Liebe und der Freude und des Friedens, die ihren Sitz im Her-

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3

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Vgl. John Wesley, On Laying the Foundation of the New Chapel (Sermon 112), § II.1. In: Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 3: Sermons III, Nashville 1986, S. 585. John Wesley, Thur. 6, August 1761. In: Jackson, Thomas (Hrsg.), The Journal of Rev. John Wesley, Vol. 3: From May 6, 1760 to September 12, 1773, London 1827, S. 69.

„A Heart Strangely Warmed“

zen hat, im Innersten der Seele, doch die sich erweist an ihren Früchten, die beständig von ihr hervorgebracht werden.4

Als Leitvorstellung des biblischen Christentums identifiziert Wesley das Doppelgebot der Liebe, wie es das Neue Testament von der Verkündigung Jesu her bezeugt. Christlicher Glaube ist in der Liebe tätiger Glaube (Gal 5,6), wobei diese Liebe eine doppelte Richtung aufweist: im Hinblick auf Gott gewinnt sie Gestalt in den Übungen der Frömmigkeit („works of piety“), im Hinblick auf den Nächsten in den Übungen der Barmherzigkeit („works of mercy“). Beide Begriffe fasst Wesley unter dem Begriff der Gnadenmittel zusammen. So führt der Empfang der Liebe Gottes zur Hingabe an Gott, einer Hingabe, die Gott gegenüber die Form der Dankbarkeit, dem Nächsten gegenüber die Form der Barmherzigkeit annimmt. Den methodistischen Gemeinschaften gab Wesley recht konkrete Ordnungen für eine christliche Lebensführung vor, die „Allgemeinen Regeln“. Sie bezeichnen das Meiden des Bösen, Tun des Guten und den Gebrauch der Gnadenmittel (im engeren Sinne, wie Bibelstudium, Gebet, Abendmahl) als Kennzeichen eines Metho5 disten. Methodismus meint damit rechtes Handeln: Orthopraxie. Wie aber sichert Wesley dieses Verständnis gegen den Vorwurf der äußeren Religiosität bzw. der Werkgerechtigkeit ab? Um dies zu verstehen, muss man noch noch etwas tiefer graben, wobei es genügt, zu obiger Definition zurückzukehren. Denn so sehr die Liebe sich im Tun des Willens Gottes erweist, ihren Sitz hat sie, wie Wesley sagt, im Herzen des Menschen.6 Es ist das von Gottes Geist erneuerte, das von der Liebe Gottes ergriffene Herz, das die biblische Religion von allem menschlichen Streben unterscheidet. Wesley sagt: Ja, zwei Menschen mögen dasselben äußere Werk tun, etwa die Hungrigen speisen oder die Nackten kleiden, und doch kann gleichzeitig der eine wahrhaft religiös und der andere ohne jede Religion sein; denn der eine handelt vielleicht aus Liebe zu Gott, der andere aus Streben nach Ruhm. So klar es ist, dass wahre Religion ihrem Wesen nach zu guten Worten und Taten

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John Wesley, An Earnest Appeal to Men of Reason and Religion. In: Cragg, Gerald R. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 11, Oxford 1975, S. 45 (Übersetzung von mir). Für den in diesem Aufsatz verwendeten Dreiklang von Orthodoxie, Orthopraxie und Orthopathie vgl. Runyon, Theodore, Die neue Schöpfung. John Wesleys Theologie heute, Göttingen 2005, S. 162–165. „[T]rue religion is eminently seated in the heart, renewed in the image of him that created us“. In: Davies, Rupert E. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 9: The Methodist Societies. History, Nature, and Design, Nashville 1989, S. 179.

John Wesley: Der Methodismus als Scriptural Christianity

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führt, so liegt ihr wahres Wesen doch noch tiefer, nämlich im „verborgenen Menschen des Herzens“.7

Der innere Glutkern biblischen Christentums kann zwar nicht verborgen bleiben, er ist jedoch nicht identisch mit dem, was Menschen an Werken der Frömmigkeit und Barmherzigkeit tun, sondern besteht in dem, was Gott in seiner Liebe am und im Menschen tut. Das rechte Handeln, von dem die Rede war, hat nur dann die Verheißung Gottes bei sich, wenn es nicht eigenem Bemühen und Streben entspringt, sondern der von Gottes Geist erneuerten Erfahrung, dem „erwärmten Herzen“. Wesleys Verständnis des Christentums ist daher zurecht als „Heart Religion“ charakterisiert,8 in Anlehnung an den Begriff der „Orthopraxie“ ist der Begriff der „Orthopathie“, der rechten Erfahrung, gebildet worden.9 Die Beschreibung des Zusammenhangs von christlicher Erfahrung und christlichem Handeln bedarf nach Wesley nun jedoch einer dritten Dimension, die jenseits dieser beiden liegt, nämlich der rechten Lehre. Dabei unterschied Wesley zwischen den christlichen Essentials, in denen die rechtgläubigen Kirchen übereinstimmten, und den Meinungen („opinions“), unter denen er die einer kirchlichen Tradition spezifischen Überzeugungen, also nicht die persönliche Meinung des Einzelnen, verstand.10 Das Gravitationszentrum methodistischer Theologie bildeten – was nach dem soweit Gesagten nicht überrascht – die biblischen Erfahrungslehren, die sich auf die Verwirklichung der Gnade Gottes im Leben eines Menschen beziehen. So sagt Wesley: Our main doctrines, which include all the rest, are three – that of repentance, of faith, and of holiness. The first of these we account, as it were, the porch of 11 religion; the next, the door; the third, religion itself.

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John Wesley, Der Weg ins Reich Gottes (Predigt 7), § I.5. In: ders., Die 53 Lehrpredigten. Übersetzt und hrsg. von Manfred Marquardt (Methodistische Quellentexte 1), 2. Aufl. Göttingen 2016, S. 103. Vgl. den Band Steele, Richard B. (Hrsg.), „Heart Religion“ in the Methodist Tradition and Related Movements, Lanham/London 2001, bes. den Aufsatz von Randy L. Maddox, A Change of Affections. The Development, Dynamics, and Dethronement of John Wesley’s Heart Religion. In: ebd., S. 3-31. Vgl. Richard B. Steele, Introduction. In: ders (Hrsg.), Heart Religion [wie Anm. 8], S. xxx–xxxv sowie Theodore Runyon, Orthopathie. Wesleyan Criteria for Religious Experience. In: Steele, Heart Religion, S. 291–305. Vgl. Howe Octavius Thomas, John Wesley’s Awareness and Application of the Method of Distinguishing between Theological Essentials and Theological Opinions. In: Methodist History 26 (1988), S. 84–97. vgl. John Wesley. In: Davies, WJW, Bd. 9 [wie Anm. 6], S. 227.

„A Heart Strangely Warmed“

Es sind diese Lehren, die als „Grammatik des Glaubens“ (George Lindbeck) den rechten Vollzug und die Deutung des Glaubens als christlich erst ermöglichen. Mit anderen Worten: Persönliche Erfahrung und konkretes Handeln weisen sich dadurch als christlich aus, dass sie in Übereinstimmung mit den Grundlehren des Christentums stehen. Damit ist nun – neben Orthopraxie und Orthopathie – auch der Aspekt der Orthodoxie genannt. Umgekehrt besteht christlicher Glaube nicht in kalter, herzloser Zustimmung zu den Lehren des Christentums, sondern in der affektiven Rezeptivität, wie sie eingangs beschrieben wurde, kurz: in der Erfahrung, von Gott um Christi Willen geliebt zu sein. Hinter den methodistischen Hauptlehren steht für Wesley der Anspruch der Bibel, einzige Richtschnur für Glauben und Handeln zu sein. Dieser Anspruch gründet in der göttlichen Autorität der Bibel, wie Wesley sie verstand. Was die Begründung der biblischen Autorität angeht, konnte 12 Wesley auf zwei unterschiedliche Begründungsgänge zurückgreifen. Sie lassen sich als der ontologische und der soteriologische Begründungsgang bezeichnen. Der ontologische Begründungsgang geht vom Wesen der Bibel als inspirierte Urkunde der Offenbarung eines unfehlbaren Gottes aus, wobei die Schrift nun selbst an der Unfehlbarkeit Gottes Anteil gewinnt und sich gerade in ihrer Unfehlbarkeit als Wort Gottes ausweist. Wesley kann ausgehend von dieser Überlegung jeden Gedanken an mögliche Fehler in der Bibel abweisen.13 Deutlich dominiert in Wesleys Schriften jedoch nicht dieser, sondern der soteriologische Begründungsgang, wonach die göttliche Autorität der Bibel in ihrer Funktion als Wegweiser zum Heil für den Menschen begründet liegt. In der Bibel sieht Wesley, wie er in der Vorrede zu seinen Lehrpedigten sagt, den „Weg zum Himmel“14 offenbart, und es ist daher ihr Offenbarungsgehalt, und weniger ihre Offenbarungsgestalt, der die Bibel zur einzig zuverlässigen Richtschnur für Glauben und Leben machen. Damit gibt Wesley aufs Ganze gesehen der Soteriologie den Vorrang vor der Epistemologie. Fassen wir zusammen: Es ist deutlich, dass für Wesley rechte Erfahrung, rechtes Handeln und rechte Lehre in wechselseitiger Beziehung zueinander12 13

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Vgl. William J. Abraham, Inspiration in the Classical Wesleyan Tradition. In: Kinghorn, Kenneth C. (Hrsg.), A Celebration of Ministry, Wilmore 1982, S. 33–47. „But how did he inspire the Scripture? He so directed the writers, that no considerable error should fall from them. Nay, will not the allowing there is any error in Scripture shake the authority of the whole?“, John Wesley, A Letter to the Lord Bishop of Gloucester. In: Telford, John (Hrsg.), The Works of the Rev. John Wesley, Vol. 9: Letters and Essays, London 1872, S. 150. Wesley, Lehrpredigten [wie Anm. 7], S. 19.

John Wesley: Der Methodismus als Scriptural Christianity

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stehen. Obwohl Wesley die drei Aspekte christlichen Glaubens situationspezifisch in unterschiedlicher Weise gewichten konnte, war er zu keiner Zeit bereit, sie gegeneinander auszuspielen. Im Gegenteil, in ähnlich lautenden Formulierungen beschreibt er zum Ende seines Lebens hin wiederholt die Sorge, die Methodisten könnten zu einer „toten Sekte“ werden, was unvermeidlich sei, „unless they hold fast both the doctrine, spirit, and discipline with which we first set out“.15 Lehre, Ordnung und Geist des Methodismus bedingen einander in ihrer Komplementarität. Das Gravitationszentrum dieser Matrix liegt allerdings näher bei dem von der Liebe Gottes erneuerten Herzen, ohne das weder ein neuer Lebenswandel noch eine gleichermaßen apostolische wie katholische Lehrgestalt möglich sind. Sowohl Epistemologie (die Frage nach der rechten Begründung der biblischen Autorität) als auch Ekklesiologie (die Frage nach der rechten Gestalt der Kirche) müssen nach methodistischer Auffassung dem Letztanspruch der Soteriologie weichen. Es ist daher richtig, den Begriff evangelikal mit Blick auf den frühen Methodismus im Deutschen mit „erwecklich“ wiederzugeben.

3 Der Methodismus zwischen „Erweckung“ und „Establishment“ Im heutigen Sprachgebrauch werden die Begriffe „evangelikal“ und „liberal“ oft gegenübergestellt, wobei ersterer für eine auf die persönliche Gottesbeziehung konzentrierte Sicht, letzterer für eine an der sozialen Gestalt des Reiches Gottes orientierte Position steht. Diese die komplexe Sachlage etwas vergröbernde Gegenüberstellung erweist sich als wenig hilfreich, wenn es darum geht, die Herausbildung eines innerkirchlichen Differenzbewusstseins methodistischer Evangelikaler zu verstehen. Als plausibler erweist sich vielmehr die These Donald Daytons, dass die den (amerikanischen) Methodismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert kennzeichnenden Spannungen dem Prozess der kirchlichen Etablierung geschuldet sind, der fast zwangsläufig eine Marginalisierung des erwecklichen Impulses 16 mit sich brachte. Daytons These ist bei Wesley bereits vorgebildet, wobei Wesley sehr konkret die geistlichen Folgewirkungen wachsenden Wohlstandes in den Blick nimmt. So heißt es in einer zwei Jahre vor seinem Tod veröffentlichten Predigt: „And it is an observation which admits of few 15 16

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John Wesley. In: Davies (Hrsg.), WJW, Bd. 9 [wie Anm. 6], S. 527. Dayton, Donald W., Discovering an Evangelical Heritage, Nachdruck Grand Rapids 1988 (mit neuem Vorwort).

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exceptions, that nine in ten of these [Methodists] decreased in grace in the same proportion as they increased in wealth.“17 Obwohl der Vorgang der Etablierung weitgreifender zu fassen ist, weist Wesley mit seiner von ihm zum Lebensende hin zunehmend schärfer gestellten Frage nach dem rechten Umgang mit dem uns anvertrauten Gut und Geld in die richtige Richtung. In einem umfassenderen Sinne bezeichnet Etablierung einen aus soziologischer (wie freilich auch aus theologischer) Perspektive beschreibbaren Prozess, in dessen Vollzug sich eine dynamische, gesellschaftskritische Bewegung („Sekte“) zu einer innerlich und äußerlich konsolidierten, um gesell18 schaftliche Konvergenz bemühten Organisation („Kirche“) entwickelt. Obwohl sich die Prozesse der methodistischen Etablierung in den Vereinigten Staaten des 19. und im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts in ihrer Struktur deutlich voneinander unterscheiden, bringen sie beide ein übereinstimmendes Ergebnis hervor: ein innerkirchliches Differenzbewusstsein methodistischer Evangelikaler, die ihre Kirche als wenig erwecklich erleben. 3.1 USA: Der Methodismus als „established religion“ Als Katalysator der methodistischen Etablierung in den USA sollte sich ironischerweise der Erfolg erweisen. Allein die Methodist Episcopal Church wuchs im Zeitraum von 1784 bis 1850 von wenigen Tausenden auf über eine Million Mitglieder an und bildete um die Jahrhundertmitte die zahlenmäßig stärkste 19 protestantische Denomination der Vereinigten Staaten. Der Einfluss methodistischer Frömmigkeit reichte dabei weit über den Kreis der eingetragenen Mitglieder hinaus, was u. a. der methodistischen Sonntagsschularbeit zu verdanken war.20 Der hohe Grad an gesellschaftlicher Durchdringung, den der Methodismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika erreichte, ließ neue Fragen aufkommen und veränderte Interessen entstehen. Leitend blieb die Frage nach der Ausbreitung des Reiches Gottes, doch schienen neue Mittel und Wege notwendig, um Gottes Werk unter den sich verändernden Bedingungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts voranzutreiben. 17 18

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John Wesley, Causes on the Inefficacy of Christianity (Sermon 122), § 16. In: Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 4: Sermons IV, Nashville 1987, S. 95. Für die Begrifflichkeit maßgeblich wurde Troeltsch, Ernst, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Mit einer Einführung zu Ernst Troeltschs Leben und Werk von Friedemann Voigt, Darmstadt 2016 (Nachdruck der Ausgabe von 1912). Vgl. Ahlstrom, Sydney E., A Religious History of the American People, New Haven/London 1972, S. 436–439. Vgl. Voigt, Karl Heinz, Internationale Sonntagsschule und deutscher Kindergottesdienst. Eine ökumenische Herausforderung. Von den Anfängen bis zum Ende des Deutschen Kaiserreichs, Göttingen 2007, bes. S. 50ff.

„Erweckung“ und „Establishment“

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Die methodistische Bewegung war historisch vor allem in den unteren sozialen Schichten verwurzelt, wenn ihr Einfluss auch nicht auf diese Schichten begrenzt war. Doch führte der Status der Methodistenkirche21 als gesellschaftlich einflussreicher religiöser Kraft sehr schnell auch zu einer stärkeren Orientierung an den Bedürfnissen der gesellschaftlich einflussreichen Schichten, die in der Kirche nun ihrerseits immer stärker präsent waren. Diese Entwicklung lässt sich an drei Indikatoren exemplarisch aufzeigen. Bereits 1852 strich die Generalkonferenz der Methodist Episcopal Church eine Formulierung in der Kirchenordnung, die das Vermieten von Kirchenbänken verbot. Hinter dieser Änderung der Kirchenordnung stand das Anliegen, großzügigen Sponsoren der Gemeinde bevorzugte Plätze, zumeist in den vorderen Bankreihen, anzubieten. Die von der Generalkonferenz getroffene Entscheidung bedeutete in der Praxis eine faktische Deklassierung der sozial schwächer gestellten Gottesdienstteilnehmer. Obwohl die Aufhebung des Verbots nicht die flächendeckende Einführung eines Reservierungssystems bedeutete, waren die praktischen Auswirkungen gravierend genug, um es 1860 unter anderem über dieser Frage zur Gründung der Free Methodist Church kommen zu lassen, wobei „Free“ sich nicht zuletzt auf die 22 freie Sitzwahl im Gottesdienst bezog. Anders als häufig dargestellt, führte gerade die Emanzipation von den erwecklichen Wurzeln zu einem Verlust an sozialdiakonischer Sensibilität. Während gesellschaftlich aufstrebende Methodistengemeinden sich v. a. um die Gewinnung der gebildeten und begüterten Gesellschaftsschichten bemühten, gerieten die sozial Schwachen mehr und mehr aus dem Blick. Es waren kirchliche Neugründungen aus methodistischen Geist, wie die Heilsarmee und die Kirche des Nazareners, die sich in ihrem Dienst stärker auf Angehörige der ärmeren Schichten konzentrierten.23 Der Prozess der Etablierung des amerikanischen Methodismus zeigt sich zweitens an sichtbaren, äußeren Veränderungen. So wurden – vor allem in den Städten – mehr und mehr methodistische Kirchgebäude im Baustil der Neo-Romanik oder Neo-Gotik errichtet, ein deutlicher Kontrast zu früheren, schlichten Kirchbauten.24 Zudem verabschiedete die Generalkonferenz 21

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Die nachfolgenden Punkte treffen im 19. Jahrhundert vor allem auf die (nördliche) Methodist Episcopal Church zu, weniger auf die durch Trennung über der Sklavenfrage 1844 entstandene Methodist Episcopal Church, South. Vgl. Dayton, Heritage [wie Anm. 16], S. 102ff. Vgl. Donald W. Dayton, „Good News to the Poor“. The Methodist Experience After Wesley. In: Meeks, M. Douglass (Hrsg.), The Portion of the Poor. Good News to the Poor in the Wesleyan Tradition, Nashville 1995, S. 65–96. Vgl. Kenneth E. Rowe, Redesigning Methodist Churches. Auditorium-Style Sancturies and Akron-Plan Sunday Schools in Romanesque Costume 1875–1925. In: Richey, Russell E./Campbell, Dennis M./Lawrence, William B. (Hrsg.), Connectionalism. Ecclesiol-

„A Heart Strangely Warmed“

1864 eine Reihe von jahrelang erarbeiteten Textvorlagen, die sich als liturgische Neugestaltung des kirchlichen Lebens lesen lassen.25 Nachdem amerikanische Methodisten nach 1784 weithin auf die Verwendung von Wesleys für die amerikanische Kirche erarbeiteten liturgischen Formulare verzichteten, wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendigkeit eines liturgisch geordneten kirchlichen Lebens. Schließlich wird für eine sich etablierende Kirche die Frage der Bildung, und dabei insbesondere der Bildung der Prediger, von Bedeutung. Manche Stadtgemeinden beklagten sich inzwischen, dass die ihnen zugewiesenenen Prediger einen geringeren Bildungsstand hätten als viele der anwesenden Gottesdienstbesucher. Dazu muss man wissen, dass noch bis ins 20. Jahrhundert hinein die Mehrzahl der methodistischen Prediger in Amerika nicht ein Theologiestudium absolvierte, sondern berufsbegleitend einen Studienkurs durchgearbeitet hatte. Das Bestreben um eine „höhere“ Predigerausbildung ließ die Zahl der methodistischen Seminare, deren Gründung oft durch großzügige Vermächtnisse ermöglicht worden war, zum Ende des 19. Jahrhunderts hin stark ansteigen. Die erste Seminargründung fällt in das Jahr 1847, am Ende des 19. Jahrhunderts zählen mehrere der methodistischen Seminare zu den führenden des Landes. So beeindruckend dies alles zunächst klingen mag, die Schattenseite dieser Entwicklungen ist nicht zu übersehen. Denn während die Kirche äußerlich prachtvollere Formen annahm, gab es zugleich Indizien für ein Nachlassen der Intensität geistlichen Lebens. So wurden die „Klassenversammlungen“, also Kleingruppen, die der Verantwortung füreinander und Förderung des Lebens in der Christus-Nachfolge dienten, weniger und unregelmäßiger besucht, bis das Klassensystem schließlich von immer mehr Gemeinden 26 aufgegeben wurde. Die an strenger Verbindlichkeit und enger persönlicher Gemeinschaft orientierten Strukturen der Kirche konfligierten in wachsendem Maße mit einem offeneren Verständnis der christlichen Religion. Diese Offenheit zeigt sich auch in dem noch im 19. Jahrhundert einsetzenden Bemühen, die Predigerseminare stärker als Orte des freien akademischen Diskurses zu betreiben, in denen eine grundsätzliche Offenheit für neuere

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ogy, Mission and Identity (United Methodism and American Culture 1), Nashville 1997, S. 115–131. Vgl. Harris, William L. (Hrsg.), The Journal of the General Conference of the Methodist Episcopal Church, Held in Philadelphia, PA., 1864, New York 1864, S. 448ff. Vgl. Charles Edwin White, The decline of the class meeting. In: Methodist History 40 (2002), S. 207–215.

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philosophische und theologische Richtungen herrscht und die frei sind von kirchlicher Bestimmung und Leitung.27 Die hier skizzierten Prozesse vollzogen sich nicht überall und in gleichem Maße. Während städtische Gemeinden, v. a. des Nordostens, die genannten Entwicklungen anführten, blieben zahlreiche Gemeinden, besonders im ländlichen Bereich sowie vor allem in den Südstaaten von ihnen weithin unberührt. Noch am Ende des 20. Jahrhunderts wird der Begriff „evangelical“ in seiner oben skizzierten herkömmlichen Bedeutung verwendet, noch nicht als Kontrastbegriff einer im Ganzen noch nicht recht erkennbaren 28 kirchlichen Grundrichtung. Denn die genannten Indizien weisen weniger auf eine alle Gemeinden umfassende Neuorientierung hin, sondern vielmehr auf innerkirchliche Pluralisierungsprozesse. So stellt sich die Methodist Episcopal Church dem Betrachter um die Wende zum 20. Jahrhundert als eine von gegensätzlich agierenden Strömungen bestimmte Volkskirche dar, der es unter den Bedingungen strikter Staats-Kirchen-Trennung gelungen war, einerseits die Gesellschaft stark zu durchdringen, andererseits jedoch vom säkularisierten Substrat der eigenen Überzeugungen rückbestimmt zu werden. Man wird daher zurecht von einer „civil religion“ sprechen können. Dabei scheint es, als ob im Zuge der Etablierung zunächst die „rechte“ Er29 fahrung und erst infolge dessen die „rechte“ Lehre verlorengeht. Dies bedeutet, daß die kirchliche Etablierung ungefähr in dem Bereich beginnt, in dem das Gravitatszentrum methodistischer Identität liegt, nämlich bei der

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Vorreiter dieser Entwicklung unter den methodistischen Universitäten war die Boston University; vgl. Spann, Glen, Evangelicalism in Modern American Methodism. Theological Conservatives in the „Great Deep“ of the Church, 1900–1980, Dissertation Baltimore/Maryland 1994 (UMI Microfilm Edition), S. 137–146. Für die Entwicklungen im reformierten Bereich vgl. George M. Marsden, The Soul of the American University. A Historical Overview. In: Marsden, George M./Longfield, Bradley J., The Secularization of the Academy, New York/Oxford 1992, S. 9–45. Die Kontinuität zeigt sich in der doppelten Bedeutung des Wortes. Einerseits bezieht sich das Adjektiv auf die allen wahrhaften Christen gemeinsame Heilserfahrung, meint also das, was wir im Deutschen mit „erwecklich“ wiedergeben. Andererseits bleibt auch der Bezug auf die rechte Lehre erhalten, wenn z. B. die Kirchenordnung der Methodist Episcopal Church davon spricht, dass zum Abendmahl auch die Glieder anderer „evangelical churches“ zugelassen sind. Die zeitgenössische Auslegung dieses Paragraphen erweist, dass der Begriff „evangelical“ hier „rechtgläubig“ im evangelischen Sinne, oder direkter: nicht römisch-katholisch, nicht mormonisch etc. meint. Gegenstück zum englischen Begriff „evangelical“ ist also zum einen „geistlich leblos“, „unerweckt“, zum anderen „irrend“ oder „abergläubisch“, wie es z. B. im Hinblick auf die römischen Katholiken oft hieß. So auch Daniel Steele schon 1897: „History is full of instances of essential truth dropping first out of experience, then out of the creed“, The Gospel of the Comforter, Nachdruck Rochester 1960, S. 274.

„A Heart Strangely Warmed“

Erfahrung des von der Liebe Gottes erneuerten Herzens, wie sie die biblischen Erfahrungslehren (Glaube, Rechtfertigung, Heiligung) beschreiben. 3.2 Deutschland: Der Weg zur etablierten Freikirche Ausbreitung und Entwicklung des deutschen Methodismus vollzogen sich unter gänzlich anderen Bedingungen, als sie in den USA vorherrschten. Keiner der in Deutschland missionierenden methodistischen Kirchen gelang es je, über den Status einer zahlenmäßig marginalen Freikirche hinauszuwachsen. Es war ihnen daher auch nicht möglich, eine gesellschaftliche Prägekraft zu entfalten, die mit der des Methodismus in den USA vergleichbar wäre. Der Begriff „Freikirche“ deutet einen weiteren Unterschied an. Die Entwicklung des deutschen Methodismus ist weithin bedingt durch die 30 gesellschaftlich dominierende Stellung der evangelischen Landeskirchen. Man wird dies berücksichtigen müssen, wo es um das Bemühen z. B. des bischöflichen Methodismus in Deutschland um gesellschaftliche Anerkennung geht. Entsprechende Bemühungen sind im zeitlichen Umfeld des ersten Weltkrieges und der Errichtung der Weimarer Republik 1918 verstärkt zu erkennen. Zwei Beobachtungen sind in diesem Zusammenhang maßgeblich. Zum einen konnte die religionspolitische Neuordnung, wie sie sich aus den Regelungen der Weimarer Reichsverfassung ergab, die Methodisten nicht über die weitgehende Bewahrung der staatsrechtlichen Privilegien der Landeskirchen hinwegtäuschen. Spätestens 1918 mussten sie erkennen, dass auf absehbare Zeit mit der Existenz von gesellschaftlich dominanten, staatlicherseits bevorzugten Landeskirchen zu rechnen ist. Die gesellschaftliche Etablierung würde sich nicht gegen, sondern allenfalls im Einvernehmen mit den Lan31 deskirchen durchsetzen lassen. Zum anderen folgte das Bemühen um stärkere gesellschaftliche Anerkennung als loyal deutsche evangelische Freikirche dem mit Ausbruch des Ersten

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Vgl. Nuelsen, John L., Der Methodismus im kirchlichen Leben Europas. Vortrag gehalten auf der Zentral-Konferenz des Mitteleuropäischen Sprengels der Bischöfl. Methodistenkirche in Freudenstadt (Württemberg) am 11. Oktober 1925, Bremen o. J. [1925]; Melle, F. H. Otto, Das deutsche Freikirchentum und seine Sendung. Vortrag, gehalten an der Tagung des Hauptausschusses der Vereinigung evangelischer Freikirchen in Kassel am 16. Oktober 1928, 3. Aufl. Bremen o. J. [1929]; Grob, Ernst, Staats- oder Freikirche?, Zürich o. J. Vgl. Stemmler, Gunter, Eine Kirche in Bewegung. Die Bischöfliche Methodistenkirche im Deutschen Reich während der Weimarer Republik, Stuttgart 1987, S. 66–70.

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Weltkrieges sich verstärkenden Patriotisierungsdruck.32 Dominierte den deutschsprachigen Methodismus des 19. Jahrhunderts noch die theologische Polemik gegen das Luthertum, und hier v. a. gegen die Lehre von der Taufwiedergeburt,33 so ging jetzt alles Bemühen darauf, die deutsch-lutherischen Wurzeln des Methodismus und folglich seine theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Nähe zum Luthertum herauszustellen.34 Offenkundig war in der Folgezeit auch das Bemühen der kirchlichen Predigerseminare in Frankfurt am Main und Reutlingen um stärkeren Kontakt zu Universitätstheologen. Die sich an diesen Indizien abzeichnende Entwicklung war auch im deutschen Methodismus primär von einem missiologischen Anliegen her motiviert. Ziel der Bemühungen war es, die unter den religionspolitischen Verhältnissen Deutschlands bestmöglichen Bedingungen für die Ausbreitung lebendigen Christentums zu realisieren. Dieser Dienst, so der vorherrschende Eindruck, setzt ein gewisses Maß an Konsolidierung und auch gesellschaftlicher Anerkennung der kirchlichen Arbeit voraus. Der Preis einer solchen Anerkennung war jedoch erkennbar hoch und hat schon früh kritische Stimmen auf den Plan gerufen. So warnte der seit 1912 in Zürich residierende, bis 1936 auch für Deutschland zuständige methodistische Bischof John Nuelsen vor einer zu starken Fixierung auf das Wohlwollen der Landeskirchen und übte (Selbst)Kritik an der oft unterwürfigen Haltung des 35 deutschen Methodismus gegenüber den Landeskirchen. Auch hat es Versuche, das eigenständige theologische Profil des Methodismus schärfer herauszuarbeiten, immer wieder gegeben.36

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Dieser Druck schlug sich in den dieser Zeit erschienenen Schriften deutlich nieder; vgl. Oeffentliche Kundgebung der Prediger und Gemeinden der Methodistenkirche in Deutschland, loses Traktat, Bremen o. J.; vgl. weiter Begaße, Peter Samuel, Der Einfluß des Ersten Weltkrieges auf die Bischöfliche Methodistenkirche und die Evangelische Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1914–1916. Mit einem Vorwort von Karl Steckel, Stuttgart 1985. Vgl. Raedel, Christoph, Methodistische Theologie im 19. Jahrhundert. Der deutschsprachige Zweig der Bischöflichen Methodistenkirche, Göttingen 2004, S. 146–149. Vgl. Schriften wie die von Sommer, J. W., Der Methodismus Deutsch oder Englisch?, Bremen o. J. „Ich bin mir ja wohl bewußt, welche gewaltige Macht die Landeskirche als nationale Institution auf die Gemüter ausübt. Vielleicht geben wir diesem Ansehen auch noch Nahrung dadurch, daß wir uns selbst in eine gewisse Unterordnung zur Landeskirche stellen“, Nuelsen, John L., Der Methodismus nach dem Kriege, Bremen o. J., S. 24. Vgl. Eisele, Karl, Der Methodismus, ein Element des Fortschritts innerhalb des Protestantismus, mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Deutschland, 2. Aufl. Bremen o. J. [1924].

„A Heart Strangely Warmed“

Vergleicht man die Entwicklung des deutschen und des amerikanischen Methodismus unter den gegebenen Sachgesichtspunkten miteinander, dann zeigt sich ungeachtet aller Unterschiede eine Gemeinsamkeit, nämlich das Bestreben nach Etablierung, das sich im Bemühen um das Überwinden des „Sekten“-Images, in der strukturellen Konsolidierung der kirchlichen Arbeit und der stärkeren Konvergenz mit gesellschaftlichen und universitätstheologischen Entwicklungen zeigt. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass der amerikanischen Methodismus als „civil religion“ und unter den Bedingungen strikter Staats-Kirchen-Trennung die Kräfte zur Etablierung gewissermaßen aus sich selbst heraus freisetzte, während sich der von den Landeskirchen lange Zeit als „Sekte“ denunzierte deutsche Methodismus an den religiös dominierenden und gesellschaftlich einflussreichen Landeskirchen als einer von sich selbst unterschiedenen Größe orientierte. Die – zweifellos in Amerika stärker ausgeprägten – innerkirchlichen Differenzierungsprozesse ließen in Teilen der Kirche den Eindruck entstehen, dass das erweckliche Element den Methodismus nicht mehr ausreichend oder gar vornehmlich bestimmt. Es entsteht ein innerkirchliches Differenzbewusstsein, das sich seit den 1960er-Jahren explizit als evangelikal artikuliert, nachdem es bereits in den Jahrzehnten zuvor immer wieder Stimmen gegeben hatte, die – ohne sich mit dem Fundamentalismus zu identifizieren – vor einem Verlust des erwecklichen Erbes Wesleys durch die Aufnahme 37 modernistischer Trends warnten. So trat der amerikanische Methodismus in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts in die Phase seiner stärksten Liberalisierung ein. Maßgeblichen Einfluss in diese Richtung übte die Boston University, und hier im Besonderen Bordon Parker Bowne, Professor für Systematische Theologie, aus. Sein unter dem Einfluss des Idealismus entwickelter Ansatz des Personalismus prägte maßgebliche Kirchenführer dieser Ära. Mitte der Zwanziger Jahre stammten drei von fünf Büchern auf dem Studienplan von Bowne; drei von fünfzehn Buchherausgebern des methodistischen Verlagshauses hatten bei Bowne studiert, ebenso wie neun von insgesamt 43 Bischöfen der 38 Methodist Episcopal Church. Dennoch artikulierte sich das innerkirchliche Differenzbewusstsein der evangelikalen Methodisten wahrnehmbar und mit nachhaltiger Wirkung erst seit den späten 1960er Jahren. Im Folgenden soll der Weg der Evangelikalen innerhalb der methodistischen Kirche – ab 1968: United Methodist 37 38

Gemeint sind Theologen wie John Faulkner (1851–1931) und John L. Nuelsen (1867– 1946). Case, Riley B., Evangelical and Methodist. A Popular History, Nashville 2004, S. 153.

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Church/Evangelisch-methodistische Kirche – kurz nachgezeichnet werden, wobei festzustellen bleibt, inwieweit die sich nun selbst als „evangelikal“ bezeichnenden Methodisten dem eingangs dargestellten wesleyanischen, also präfundamentalistischen Evangelikalismus-Begriff treu blieben. Dabei ist aufgrund der deutlich unterschiedlichen kirchlichen Bedingungen zwischen den USA und Deutschland zu unterscheiden, wobei sofort auffällt, dass sich in der amerikanischen Methodistenkirche evangelikale Strukturen herausbilden,39 während in Deutschland weniger organisierte evangelikale Stimmen wahrnehmbar sind.40

4 Evangelikale Strukturen in der United Methodist Church (Vereinigte Staaten) 4.1 Der Weg der United Methodist Church in den „prinzipiellen“ Pluralismus Als die United Methodist Church 1968 infolge der Vereinigung von Methodist Church und Evangelical United Brethren Church entstand, hegten viele Evangelikale schon bald den Verdacht, dass die junge Kirche mindestens zwei genetische Defekte an sich trage. Der erste dieser genetischen Defekte war theologischer Natur. Die Vereinigungskonferenz von Dallas 1968 hatte die Einsetzung einer Kommission zum Studium der Bekenntnisgrundlagen der United Methodist Church unter der Leitung von Albert Outler eingesetzt.41 In der 1972 verabschiedeten Fassung des Abschnitts 39

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Dabei beziehen wir uns primär auf die programmatischen Äußerungen der evangelikalen Gruppierungen. Es ist deutlich, dass ein vollständiges Bild dieser Gruppen auf diesem Wege nicht zu bekommen ist, aber ein methodisch sauberes Vorgehen, das zu mit Vorsicht vorgetragenen Schlussfolgerungen kommt, ist einem unscharfen methodischen Ansatz, der subjektive Erfahrung unkontrolliert einfließen lässt und oft in Polemik endet, entschieden vorzuziehen. Eine stärker geschichtlich orientierte Darstellung, aus evangelikaler Perspektive geschrieben, findet sich in Case, Evangelical [wie Anm. 38]. Erkennbare Organisationsstrukturen entwickelten in der deutschen EmK jedoch der charismatisch geprägte Flügel, der sich im Arbeitskreis Geistliche Gemeindeerneuerung (AGG) sammelt. Er ist hier allein deshalb nicht weiter im Blick, weil der Weg der charismatischen Bewegung im Methodismus eine eigenständige Darstellung verdient, die hier nicht geleistet werden kann. Vgl. dazu jetzt: Raedel, Christoph (Hrsg.), Methodismus und charismatische Bewegung. Historische, theologische und hymnologische Beiträge (Reutlinger Theologische Studien 2), Göttingen 2007, bes. die historischen Beiträge S. 13–61. Vgl. Washburn, Paul, An Unfinished Church. A Brief History of the Union of the Evangelical United Brethren Church and the Methodist Church, Nashville 1984, S. 130–132.

„A Heart Strangely Warmed“

„Our Theological Task“ wurden die Glaubensbekenntnisse der beiden Vorgängerkirchen sowie Wesleys Lehrpredigten und Anmerkungen zum Neuen Testament zwar unter den Schutz der ersten Einschränkungsklausel gestellt, die jede Änderung am Wortlaut faktisch untersagt. Keine Einigung konnte jedoch darüber erzielt werden, welchen materialen Geltungsanspruch die Aussagen dieser Lehrgrundlagen für die Gegenwart haben. Die Bezeichnung der Lehrgrundlagen als „landmark documents“ war geeignet, die Beantwortung dieser Frage offenzulassen.42 Was den Gehalt der sich aus dem wesleyanischen Erbe ergebenden besonderen Akzentsetzungen angeht, werden die unterschiedlichen Ansichten einfach nacheinander referiert.43 Unter den gegebenen Voraussetzungen empfahl die Vorlage der beauftragten Kommission, die Realität des theologischen Pluralismus in der Kirche prinzipiell anzunehmen und für die theologische Reflexion fruchtbar zu machen. Nicht vorgefasste Glaubensaussagen würden die Kirche zusammenhalten, sondern das fortdauernde theologische Bemühen um Wiedergabe der Glaubenswahrheit unter den Bedingungen der Gegenwart. Um dies zu ermöglichen, entwickelte der in Dallas lehrende und seinerzeit führende Wesley-Forscher Albert Outler das sogenannte „Quadrilateral“, wonach Bibel, Tradition, Vernunft und Erfahrung die vier Quellen bzw. Kriterien 44 theologischer Wahrheitserkenntnis sind. Das Quadrilateral war als eine Art methodistisches Formalprinzip gedacht, das die Integration der unterschiedlichen materialen Überzeugungen ermöglichen sollte. Mit der Aufnahme der unter der Leitung von Albert Outler entstandenen Textvorlage in das Book of Discipline erlangte der theologische Pluralismus ausdrücklich Verfassungsrang in der United Methodist Church.45 Als zweiter genetischer Defekt wurde schon bald die Struktur der neuen Kirche ausgemacht. Sie verlagerte die finanzielle Kontrolle und inhaltliche Orientierung weiter Arbeitsbereiche der Kirche auf die „Boards“, die zwar der Generalkonferenz gegenüber verantwortlich sind, aber in weitgehender Eigenständigkeit, v. a. gegenüber den Befindlichkeiten und Einstellungen an der Basis der Kirche, arbeiten. Die Boards entwickelten, was die programmatische Ausrichtung ihrer Arbeit anbelangte, ein starkes Eigenleben und der Hang zur bürokratischen Verwaltungsarbeit, der jeder großen Kirche 42 43 44

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The Book of Discipline of the United Methodist Church 1972, Nashville 1973, S. 71. Vgl. ebd. [wie Anm. 42], S. 73–75. Vgl. Albert C. Outler, The Wesleyan Quadrilateral – In John Wesley. In: Langford, Thomas A. (Hrsg.), Doctrine and Theology in the United Methodist Church, Nashville 1991, S. 75–88. „In this task of reappraising and applying the Gospel, theological pluralism should be recognized as a principle“, The Book of Discipline [wie Anm. 42], S. 69.

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einwohnt, vergrößerte die Distanz zur kirchlichen Basis. Die Befürchtung evangelikaler Methodisten richtete sich darauf, dass die vorherrschend soziale Ausrichtung vieler kirchlicher Arbeitszweige keine soteriologische Verankerung mehr habe. Dieser Vorwurf wurde im Besonderen gegenüber den Sonntagsschulmaterialien geltend gemacht. Um die Frage, ob methodistische Gemeinden auch Sonntagsschulmaterialen anderer (das hieß zumeist: evangelikaler) Verlagshäuser verwenden dürften, wurde anhaltend und hart gerungen.46 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, zu einer differenzierten Prüfung dieser Einschätzungen zu gelangen. Sie dienen hier lediglich als die Folie, auf der sich die evangelikale Bewusstseinsbildung der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts vollzog. Zwei evangelikale Gruppierungen innerhalb der amerikanischen UMC sollen hier näher untersucht werden. 4.2 „The Good News Movement“ – die „schweigende Minderheit“ spricht47 Am 14. Juli 1966 veröffentlichte der gelernte Journalist und evangelikale Methodistenpastor Charles Keysor einen Artikel im Christian Advocate, einem offiziellen Blatt der Methodist Church, in dem er den Einfluss evangelikaler Einstellungen im Mainstream-Methodismus analysierte.48 Er meinte Hinweise auf eine anhaltende Präsenz erwecklicher Überzeugungen in den Gemeinden zu entdecken und kritisierte, dass die – wie er zunächst meinte – evangelikale Minderheit nicht angemessen in den höheren Positionen der Kirche einschließlich der Seminare berücksichtigt seien. Die Reaktionen auf diesen Artikel waren überwältigend. Keysor erhielt eine Flut von Briefen und landesweiten Telefonanrufen, in denen Erleichterung darüber zum Ausdruck gebracht wurde, nicht der einzige evangelikale Methodist zu sein. Die weite49 re Entwicklung sei hier nur angedeutet. 1967 traf sich Keysor mit einer Gruppe von Pastoren und Laien, die gemeinsam „The Forum for Scriptual Christianity“ gründeten. Im gleichen Jahr erschien die erste Ausgabe von 46 47

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Vgl. Case, Evangelical [wie Anm. 38], S. 45–71 und passim. Anlässlich der Neuveröffentlichung dieses Aufsatzes möchte ich darauf hinweisen, dass mir eine hier vorgenommene (wenn auch formal mit der Länge des Aufsatzes begründbare) Eingrenzung auf Initiativen weißer Methodisten (überwiegend Männer) ungerechtfertigt erscheint. Sowohl die Rolle der Angehörigen ethnischer Minderheiten, v. a. schwarzer und latinostämmiger Methodisten, sowie die von Frauen müssten untersucht werden, um ein umfassendes und facettenreicheres Bild zeichnen zu können. Zum Folgenden vgl. Spann, Evangelicalism [wie Anm. 27], S. 341–347 und Case, Evangelical [wie Anm. 38], S. 25–43. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Spann, Evangelicalism [wie Anm. 27], S. 361–378.

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„Good News“, das sich innerhalb von nur zehn Jahren von einem einfachen Rundbrief zu einer Zeitschrift mit landesweiter Verbreitung in einer Auflagenhöhe von 177 000 Exemplaren entwickelte. Die landesweite Vernetzung, wie sie die sogenannte „Good News Movement“ zustande brachte, führte Keysor schließlich zu der Überzeugung, dass evangelikale Methodisten auf Gemeindeebene nicht die Minderheit, sondern die Mehrheit stellten, eine These, die er durch eine Reihe von religionssoziologischen und religionsdemographischen Einsichten plausibilisierte.50 Die seit 1973 erschienenen Programmschriften der „Good News Movement“ zeigen deutlich auf, wo die gemeinsame theologische Basis der hier versammelten Evangelikalen liegt und inwiefern ihre Anliegen in Kontinuität mit dem Ansatz des erwecklichen Methodismus im 18. und 19. Jahrhundert stehen.51 Dabei werden insgesamt drei Kennzeichen erkennbar. Erstens lässt sich die Botschaft von der Errettung des Menschen von der Macht der Sünde und seiner Erneuerung in das Ebenbild Gottes als der Kerngehalt der theologischen Programmatik evangelikaler Methodisten ausmachen. Alle kirchliche Präsenz und Arbeit soll diesem Ziel dienen. Das Herzstück des evangelikalen Methodismus ist somit – wie schon bei Wesley – die Soteriologie. Dabei wird an Wesleys Lehre von der christlichen Vollkommenheit ausdrücklich festgehalten.52 Erkennbar ist das Bemühen, individualistische Engführungen der Soteriologie zu überwinden, wenn auf den Gemeinschaftscharakter des in der Liebe wirksamen Glaubens hingewiesen wird. Schließlich wird auch auf die von der Erlösung des Einzelnen ausgehenden gesellschaftlichen Konsequenzen hingewiesen. So hält Charles Keysor zwar im Anschluss an Wesley53 daran fest, dass Gott in erster Linie Menschen, 50

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So konzentrieren sich konservative Glaubenshaltungen in den USA in kleinstädtischländlichen Gebieten, sie sind kennzeichnend v. a. für die Südstaaten und stärker präsent unter Personen mit geringer und mittlerer Bildung als unter solchen mit höheren Bildungsabschlüssen. Diese Parameter entsprachen exakt der methodistischen Konzentration in den 1970er Jahren, wobei sich in den folgenden Jahrzehnten die Präsenz im Süden weiter verstärkt und der numerische Niedergang in den Städten (besonders an der Ost- und Westküste) weiter fortgesetzt hat. Was die Bildungsabschlüsse angeht, suchten Evangelikale dagegen zu anderen Gruppen aufzuschließen; vgl. ebd. [wie Anm. 27], S. 347–361. Ich beziehe mich hier auf Keysor, Charles W., Our Methodist Heritage (1973), Neuauflage Wilmore 1996 und Heidinger, James (Hrsg.), Basis United Methodist Beliefs. An Evangelical View, Anderson (Indiana) 1986, darin auch The Janaluska Affirmation of Scriptual Christianity for United Methodists, S. 107–113. Vgl. Keysor, Heritage [wie Anm. 51], S. 50–56; William B. Coker, Nobody’s Perfect, Right? What Wesley Taught About Christian Perfection. In: Heidinger, Beliefs [wie Anm. 51], S. 54–62. Vgl. Marquardt, Manfred, Praxis und Prinzipien der Sozialethik John Wesleys, 2. Aufl. Göttingen 1986, S. 161.

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und erst dann durch sie auch die Gesellschaft, verändert,54 doch lässt er keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass Gottes Gnade den Menschen dazu befähige, auch eingefahrene Strukturen sozialen Übels aufzubrechen. Es ist ein zweites Kennzeichen der Programmtik von „Good News“, dass die Konzentration auf den soteriologischen Gehalt der methodistischen Überzeugungen ein Interesse an der Klärung auch weitergehender theologischer Fragen einschließt. Dies zeigt sich in der 1975 verabschiedeten Janaluska-Erklärung, mit der die „Good News Movement“ auf die ausdrückliche Aufforderung der Generalkonferenz von 1972 an die Kirche antwortete, die Herausforderung verantwortlicher theologischer Reflexion anzunehmen. Die Präambel der Erklärung bekräftigt die Gültigkeit der altkirchlichen Bekenntnisse und der normativen Wesley-Texte als Zeugnisse biblischer Wahrheit und erkennt sie ausdrücklich als „doctrinal standards“ der Kirche an. Im Sinne eines Glaubensbekenntnisses folgen dann Aussagen zur Trinität, zur Anthropologie, zur Heiligen Schrift, zur Erlösung, zur Kirche und zur Ethik. Der letztgenannte Punkt thematisiert ausdrücklich die christliche Verantwortung bei der Linderung von Not und Elend. Mit der „Janaluska“-Erklärung wurde offensichtlich der Versuch unternommen, bestimmten theologischen Fehlentwicklungen in der Kirche, die inzwischen auch grundlegende christologische Aussagen betrafen, entgegenzuwirken, ohne jedoch selbst einer anderen Form der theologischen Einseitigkeit zu erliegen. Schließlich lassen die verschiedenen Programmschriften der „Good News Movement“ eine deutliche Zurückhaltung erkennen, was die Dogmatisierung eines bestimmten Schriftverständnisses betrifft. So verweist die Janaluska-Erklärung auf die Bedeutung der Heiligen Schrift „as the guide and final authority for the faith and conduct of individuals and the doctrines 55 and life of the Church“, wobei die Autorität der Bibel auf die Inspiration der Verfasser (nicht der Schrift!) begründet wird. Konkret heißt es, dass der Heilige Geist die inspirierten Verfasser dazu brachte „to perceive God’s truth and record it with accuracy“.56 Der Begriff „accuracy“ wird nicht näher bestimmt und ist sicherlich von den hinter der Erklärung stehenden methodistischen Evangelikalen unterschiedlich interpetiert worden. Der Sache nach zielt der Begriff der Zuverlässigkeit jedoch auf die vom Schriftzeugnis ausgehenden Heilswirkungen, ohne damit freilich weitergehende Bestimmungen auszuschließen. Die gleiche Zurückhaltung zeigt sich auch gegenüber einer prophetisch-heilsgeschichtlichen Bibelauslegung in der 54 55 56

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Keysor, Heritage [wie Anm. 51], S. 106. The Janaluska Affirmation [wie Anm. 51], S. 110. Ebd. [wie Anm. 51], S. 111.

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Tradition des Dispensationalismus. Vielmehr orientiert sich der zitierte Sammelband auch mit Blick auf eschatologische Fragestellungen stark an Wesley und gelangt zu dem Schluss, dass sich unsere Gewissheit auf die Tatsache der Wiederkunft Christi bezieht, nicht auf die Umstände seines Kommens. Nicht Spekulation, sondern persönliches Engagement und Hingabe an Gott werden als Forderung an das Christsein heute genannt.57 Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass sich die „Good News Movement“ auf der Ebene ihrer pragmatischen Äußerungen um eine theologische Balance bemüht, die in der Lehre von der Errettung und Erneuerung des Menschen durch die Gnade Gottes ihre Mitte hat und von dieser Mitte aus auch auf andere Bereiche der Theologie ausgreift. Nuancierte Schwerpunktsetzungen einzelner Erklärungen erweisen sich dabei in der Regel als Reaktionen auf als problematisch empfundene Entwicklungen in der Kirche oder auch als Ausdruck kritischer Reflexion auf den eigenen Standpunkt. Als Beispiel für letzteres ließe sich die erneuerte Wertschätzung des Abendmahls anführen, wie sie sich in einem Kapitel des 1986 von „Good News“ publizierten, programmatisch wichtigen Sammelbandes Basic United Methodist Beliefs zeigt, in dem deutlich eine Rückbesinnung auf Wesleys Forderung 58 nach beständiger Teilnahme am Abendmahl angemahnt wird. Dabei hebt der Verfasser stark auf das einheitsstiftende Moment der Gemeinschaft am Tisch des Herrn ab, wenn er sagt: „Nowhere will United Methodists be more united than in communion with Christ and one another around the Lord’s table“.59 4.3 „The Confessing Movement“ – die UMC als bekennende Kirche Die Generalkonferenz von 1988 ist von vielen, nicht nur evangelikalen Beobachtern als Wendepunkt in der Entwicklung der UMC wahrgenommen worden.60 Die Neufassung des Abschnitts der Kirchenordnung „Doctrinal Standards and Our Theological Task“ bedeutete in der Sache den Abschied von der Glorifizierung des Pluralismus zugunsten der Suche nach einer, wie

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Vgl. Joes B. Green, Ready For His Return. What Wesley Taught About End Times. In: Heidinger, Beliefs [wie Anm. 51], S. 90–97. John R. Tyson, The Lord’s Supper in the Wesleyan Tradition. In: Heidinger, Beliefs [wie Anm. 51], S. 80–89. Ebd. [wie Anm. 58], S. 88. Vgl. die Einschätzung von James Heidinger, Board-Director der Good News Movement: „We believe historians will view the 1988 General Conference as a change of direction for United Methodism. By any measure it was unlike previous conferences“; zit. in: Case, Evangelical [wie Anm. 38], S. 231.

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Geoffrey Wainwright es nennt, stärkeren „Katholizität“ der Kirche.61 Am deutlichsten zeigte sich dieses Bemühen in der Revision des Outlerschen Quadrilaterals. Danach wird die Heilige Schrift als „the primary source and criterion for authentic Christian truth and witness“ den Kriterien Tradition, Vernunft und Erfahrung deutlich vorgeordnet. Auf Beschluss der Generalkonferenz wurden die Aussagen zu Wesen und Funktion der Bibel dem Text der Kommission gegenüber sogar noch stärker herausgearbeitet.62 Auch der innerkirchlich umstrittene offiziell ablehnende Standpunkt des Book of Discipline gegenüber praktizierter Homosexualität wurde von der Generalkonferenz mehrheitlich bestätigt. Die Generalkonferenz von 1988 brachte den Evangelikalen innerhalb der UMC eine deutlich stärkere Wahrnehmung. Aber auch die Wahrnehmung der Gesamtkirche von Seiten der Evangelikalen änderte sich. Die evangelikalen Bemühungen in den siebziger Jahren hatten vornehmlich darauf gezielt, unter dem Schirm des von der Kirche propagierten prinzipiellen Pluralismus als eine unter verschiedenen innerkirchlichen Strömungen akzeptiert zu werden. Als Minderheit sahen sich evangelikale Methodisten dabei in einem stetigen Ringen mit dem institutionellen Apparat der Kirche. Mit der Generalkonferenz von 1988 wuchs nicht nur die Zuversicht der Evangelikalen, bis in die höchsten legislativen Gremien der Kirche hinein Gestaltungskraft entwickeln zu können. Vielmehr sahen sie seit 1988 das Book of Discipline an vielen Punkten in Übereinstimmung mit den eigenen Positionen und hatten den – für sie zunächst ungewohnten – Eindruck, jetzt die geltende Kirchenordnung gegen einen immer noch stark von der liberalen Theologie geprägten kirchlichen Apparat (also die Boards und Agencies) verteidigen zu müssen. Nicht zuletzt die Zusammensetzung der Generalkonferenzen seit 1988 bestärkte evangelikale Methodisten in der Auffassung, nicht eine Minderheit, sondern tatsächlich die Mehrheit der Kirchenmit63 glieder zu repräsentieren. 61

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Vgl. Geoffrey Wainwright, From Pluralism Towards Catholicity? The United Methodist Church after the General Conference of 1988. In: Langford, Doctrine [wie Anm. 44], S. 223–231. Vgl. ebd. [wie Anm. 62], S. 226. So ausdrücklich Bischof Lindsey Davis im Jahr 1998; vgl. seine Ansprache One Lord, One Faith, One Baptism. Why The Evangelical Orthodox Faith?, hrsg. von The Confessing Movement, [1998], S. 6. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die regelmäßige Anpassung des Delegiertenschlüssels an die Mitgliederzahlen, die eine jährliche Konferenz repräsentiert. Dies hat seit den 1990er Jahren bis zur Gegenwart zu einer wachsenden Präsenz von Delegierten aus Afrika sowie den Philippinen geführt. Auch wenn sie aus kulturellen Gründen nicht einfach den amerikanischen Evangelikalen subsummiert werden sollten, stimmten sie in den die Generalkonferenz regelmäßig beschäf-

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Die Gründung der „Confessing Movement“ gehört zeitlich und sachlich in den Kontext dieser neuen Lage. Ostern 1994 trafen sich 92 Laien, Pastoren, Bischöfe und Professoren, um über die Zukunft der UMC zu diskutieren und am Ende ihrer Unterredung eine Einladung an die Kirche auszusprechen, sich neu zu Jesus Christus als Sohn Gottes, Erlöser und Herrn zu bekennen.64 Der Name der infolge dieser Zusammenkunft gegründeten „Confessing Movement“ spielt bewusst auf die Bekennende Kirche im Dritten Reich an. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der formalen Gestaltung ihres Bekenntnisaufrufs, der – wie die Barmer Theologische Erklärung von 1934 – zwischen Bekenntnis und Verwerfung alterniert. In der Sache bietet der Aufruf ein Bekenntnis zur traditionellen Lehre von Christus, wobei die Verwerfungen offenbar auf konkrete Vorkommnisse in der Kirche zielen. Die „Confessing Movement“ setzt bei der Feststellung an, dass die United Methodist Church – zumal nach 1988 – zwar nicht in der täglichen Praxis, wohl aber im Prinzip ihrer Verfassung bereits eine Bekenntniskirche 65 sei. Dabei wird auf die inzwischen auch offiziell so bezeichneten „doctrinal standards“ verwiesen, die seit 1808 durch die erste und zweite Einschränkungsklausel vor jeder Veränderung geschützt sind.66 Von dieser Basis aus möchte die „Confessing Movement“ nun auch das tatsächliche Reden und Handeln der Kirche an ihrer in Christus wurzelnden Identität, wie sie sich im Bekenntnis ausspricht, ausrichten. Wörtlich heißt es: The Confessing Movement will seek to reclaim and reaffirm the Church’s ancient ecumenical faith in Wesleyan terms within United Methodism. The Confessing Movement will work in humility and reverence to clarify the doctrinal center and boundaries of classical Christian teaching.67

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tigenden (und polarisierenden) Debatten um die kirchliche Sexualethik (und deren Konsequenzen im Blick auf die Zulassung praktizierender Homosexueller zum ordinierten Amt) mit den Evangelikalen. Das verbanden sie häufig damit, ihrem Unverständnis darüber Ausdruck zu verleihen, dass die Generalkonferenz diesen Fragen ein aus ihrer Sicht ungerechtfertigt hohes Maß an Auferksamkeit schenkt, während für Methodisten in Afrika Unterernährung, Epidemien wie Ebola, Bildungsnotstand und die Bedrängung durch einen militanten Islam viel vordringlichere Fragen aufwerfen. Vgl. das Traktat A Confessional Statement, hrsg. von The Confessing Movement, Indianapolis 1995. Vgl. das Traktat What is The Confessing Movement within the United Methodist Church?, hrsg. von The Confessing Movement, Indianapolis 1995 und Steve Harper, Applying Wesleyan Distinctives to the Crisis of Our Church, hrsg. von The Confessing Movement, 1995. 25 Articles of Religion, Confession of Faith, Wesleys Standards Sermons und Notes upon the New Testament. What is The Confessing Movement within the United Methodist Church?

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Das Zentrum des christlichen Glaubens wird in christologischen Termini gefasst. Es umfasst das Bekenntnis zu Jesus Christus als Sohn Gottes, als Erretter und als Herr. Zentrale Lehren sind dementsprechend die Gottheit Christi, sein Versöhnungstod und der durch den Heiligen Geist ermöglichte Gehorsam gegenüber dem Gebot Christi. Überblickt man die von der „Confessing Movement“ veröffentlichten Schriften, dann lassen sich zwei Nuancierungen gegenüber „Good News“ ausmachen, die sich – soweit ich das beurteilen kann – dem Einfluss zweier in der „Confessing Movement“ aktiven methodistischen Theologen verdanken. Zum Ersten ist hier die stärker „katholische“ bzw. „ökumenische“ Identität der Bewegung zu nennen, der sich vor allem der an der Drew University lehrende Systematiker Thomas Oden verpflichtet fühlt. Die Begriffe „katholisch“ bzw. „ökumenisch“ bezeichnen in diesem Zusammenhang den bewussten Rekurs auf diejenigen altkirchlichen Symbole, Praktiken und Lehren, die als der Kernbestand christlicher Orthodoxie ausgemacht werden. Obwohl die Theologie Wesleys als Artikulationsmodus methodistischer Theologie nicht aufgegeben wird, gilt das Interesse zugleich dem denominationell übergreifenden Einigungsmoment der ökumenischen Lehrtradition (bis zu den Reformatoren) sowie den in verschiedenen Kirchen 68 wirkenden Erneuerungsbewegungen. Der „common ground“ dieser Bewegungen ist für Oden die Heilige Schrift in ihrer altkirchlichen Bezeugung, Bewahrung und Auslegung.69 Die spezifisch konfessionelle Ausprägung einer Denomination wird vor diesem Hintergrund v. a. auf ihre Anschlussfähigkeit an den patristischen Konsens hin ausgelegt.70 Der von Oden propagierte Ansatz legt die Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition nahe, die ja immerhin eine Grundfrage protestantischen Selbstverständnisses ist. Hier hat William Abraham, Religionsphilosoph an der Southern Methodist University in Dallas (Texas), einen Entwurf vorgelegt, der vom Begriff des „Kanon“ ausgeht, jedoch nach weiterer positiver Ausarbeitung verlangt.71 Nach Abraham ist es der Grundfehler fun68 69

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Vgl. Oden, Thomas C., The Rebirth of Orthodoxy. Signs of New Life in Christianity, New York/San Francisco 2003. Vgl. dazu das großangelegte von Thomas Oden verantwortete Projekt eines patristischen Bibelkommentars: The Ancient Christian Commentary on Scripture, Grand Rapids 1998ff. Zur Durchführung dieses Ansatzes vgl. Oden, Thomas C., Systematic Theology, Vol. 1: The Living God, San Francisco 1987; Vol. 2: The Word of Life, San Francisco 1989; Vol. 3: Life in the Spirit, San Francisco 1992. Vgl. Abraham, William J., Canon and Criterion in Christian Theology, Oxford 1998. Weiterführende Überlegungen in ders., The Logic of Renewal, Grand Rapids 2003, S. 153–172.

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damentalistischer Bibliologie, die Begriffe Offenbarung und biblischer Kanon unzulässig vermengt zu haben. Eine saubere Unterscheidung beider Begriffe ermögliche es, die Bibel zum einen als zuverlässige Offenbarung der Heilsabsichten Gottes zu sehen, die unseren Gehorsam verlangt, und zum anderen als ein durch Menschen zustande gekommenes Buch, das historischer Forschung zugänglich ist.72 Abrahams Ansatz stellt den Versuch dar, das primär soteriologische Interesse der wesleyanischen Tradition mit der Vorliebe vieler Evangelikaler für eine ausgeführte Schriftlehre zu verbinden.73 Dabei bleibt für ihn maßgeblich, dass die alte Kirche den materialen Gehalt der christlichen Botschaft kanonisiert habe, nicht jedoch ein bestimmtes, zur Erhebung und Mitteilung dieser Botschaft notwendiges epistemologisches Konzept.74 Aus dieser Überzeugung folgt auch Abrahams Kritik am methodistischen Quadrilateral: hier werde die Kirche auf ein epistemologisches Konzept festgelegt, anstatt auf den Gehorsam gegenüber den in der Bibel bezeugten Verheißungen und Ordnungen Gottes. Abgesehen von den grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Problemen, die Abraham als Religionsphilosoph erkennt,75 hält er das Quadrilateral für ein letztlich politisch motiviertes Konstrukt, das lediglich den innerkirchlichen Pluralismus rechtfertigen solle76 – eine Auffassung, die allerdings nicht von allen evangelikalen Methodisten geteilt wird.77 72 73

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Vgl. Abraham, William J., The Divine Inspiration of Holy Scripture, Oxford 1981; ders., Divine Revelation and the Limits of Historical Criticism, Oxford 1982. Abrahams Ansatz eines „canonical theism“ ist von anderen Theologen aufgenommen und weiterentwickelt worden; vgl. Vickers, Jason E./Van Kirk, Natalie B./ William J. Abraham Canonical Theism, A Proposal for Theology and the Church, Grand Rapids 2008. Vgl. William Abraham, Commitment to Scripture. In: Noll, Mark A./Thiemann, Ronald F., Where Shall My Wond’ring Soul Begin? The Landscape of Evangelical Piety and Thought, Grand Rapids/Cambridge (UK) 2000, S. 37–49. Vgl. William Abraham, Waking from Doctrinal Amnesia.The Healing of Doctrine in the United Methodist Church, Nashville 1995, S. 56–65; ders., What’s Right and What’s Wrong with the Quadrilateral?, unveröffentl. Manuskript., o. O., o. J. Vgl. William Abraham, What Should United Methodists Do with the Quadrilateral? In: Quarterly Review 22 (2002), S. 85–88. Vgl. auch die Kritik Thomas Langfords, der von einer betrügerischen Einfachkeit („deceptive simplicity“) des Quadrilaterals spricht; The United Methodist Quadrilateral. A Theological Task. In: ders., Doctrine [wie Anm. 44], S. 233. So hält Stephen Gunter das Quadrilateral für ein durchaus brauchbares hermeneutisches Konzept: „Tradition, reason, and experience form an interpretive or hermeneutical spiral in which the dialogical relationship among all the components continually enables the church to understand and apply Scripture more accurately and effectively. We understand the interrelationship among these four components to be ‚quadrilogical‘ – all are in conversion with each other“, Stephen Gunter u. a. (Hrsg.), Wesley and the Quadrilateral. Renewing the Conversation, Nashville 1997, S. 142.

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Diese Überlegungen deuten auf ein stärkeres akademisches Profil der Confessing Movement gegenüber der Good News Movement, ein Eindruck, der sich bei genauerer Betrachtung bestätigt.78 Die Unterstützer-Basis der Good News Movement bestand weithin in der traditionell erwecklich ausgerichteten Pastoren- und Mitgliederschaft vor allem ländlicher und kleinstädtischer Kirchengemeinden. Ihre Schwerpunkte hatte sie eher im Norden der Vereinigten Staaten, und damit in jenen Gebieten, in denen sich der erweckliche Methodismus in besonders ausgeprägtem Maße mit einer etablierten und liberalisierten Kirche auseinanderzusetzen hatte. Die Confessing Movement dagegen entstand aus einer Gruppe besorgter Methodisten, unter denen sich eine Reihe von Professoren, Bischöfen und Pastoren großer Kirchengemeinden befand. Sie besaß damit von Anfang an eine andere soziale Basis und ein stärker zur Mitte tendierendes theologisches Programm. Auch lag ihr geographischer Mittelpunkt in den südlichen Jurisdiktionen der Kirche, wo das religiöse Klima es auch im städtischen Bereich und auch für große, stärker liturgisch ausgerichtete Kirchen einfacher machte, an den „Essentials“ der methodistischen Tradition festzuhalten. Die benannten Unterschiede, die sich eher in Art und Weise des Vorgehens zeigen, verdrängen jedoch nicht die insgesamt übereinstimmende Zielsetzung beider Bewegungen. So ist das erklärte Ziel der Confessing Movement a doctrinal reinvigoration of our Church, which includes reengagement of the Wesleyan devotional tradition, a renewed employment of the means of grace for the sake of holy living and a new obedience to God in the forming of our lives in covenant communities after the pattern of the mind which was in Christ Jesus.79

Das Bekenntnis zur methodistischen Lehre zielt damit nicht auf kühle Rechtgläubigkeit, sondern die Erneuerung des im umfassenden Sinne verstandenen geistlichen Lebens in der Kirche.

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Zum Folgenden vgl. Case, Evangelical [wie Anm. 38], S. 260. What is The Confessing Movement Within the United Methodist Church?, hg. von The Confessing Movement, Indianapolis 1995.

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5 Evangelikale Stimmen in der Evangelisch-methodistischen Kirche (Deutschland) 5.1 Eine Kirche sucht den Konsens Obwohl Teil der weltweiten United Methodist Church, arbeitet die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland unter Bedingungen, die sich deutlich von denen in den USA unterscheiden. Mit ca. 36 000 Mitgliedern gehört die EmK zu den zahlenmäßig kleinen evangelischen Freikirchen in Deutschland. Gleichwohl nimmt die EmK im Bereich der Diakonie mit ihren verschiedenen Arbeitsbereichen gesellschaftliche Verantwortung wahr und ist eine treibende Kraft in der ökumenischen Bewegung. In theologischer Hinsicht kennzeichnet die EmK, darin dem amerikanischen Methodismus nicht unähnlich, eine erhebliche Bandbreite, wobei Walter Klaiber zufolge im Hinblick auf die verschiedenen Arbeitsebenen der Kirche zu unterscheiden ist. Während es auf der Ebene der Gemeindeglieder ein sehr breites Spektrum gebe, das, so Klaiber, „auch manche extreme Ansichten 80 enthalten mag“, böte die in den Jährlichen Konferenzen versammelte Pastorenschaft zwar immer noch „ein recht buntes Bild“, doch ließen sich Extrempositionen hier nicht mehr finden. Dies gilt nach Klaiber umso mehr für den Kirchenvorstand, wo sich unterschiedliche Einzelpositionen zu einem im Ganzen ausgewogenen Bild formten. Als Hauptunterschied im Vergleich zur amerikanischen Schwesterkirche bezeichnet der Bischof das Fehlen von Fraktionen und Blockbildungen zur Durchsetzung der eigenen Positionen. Damit ist bereits gesagt, dass eine Analyse evangelikaler Strukturen schon daran scheitert, dass die Evangelikalen nicht als Block wahrgenommen werden (möchten?), auch wenn es gewisse informelle Strukturen wohl gibt. Im Folgenden soll uns daher zunächst ein allerdings bereits Jahrzehnte zurückliegender Vorgang in der westdeutschen EmK beschäftigen, der offensichtlich den Nerv einiger evangelikaler Methodisten traf und sie als – informelle – Gruppe in Erscheinung treten ließ. 5.2 „Unser Verhältnis zu den Evangelikalen“ 1976 verabschiedete der Kirchenvorstand der EmK in der Bundesrepublik Deutschland eine Erklärung mit dem Titel „Unser Verhältnis zu den Evan80

Walter Klaiber, Bereichernd oder lähmend? – Die theologische Bandbreite in der EmK. In: podium 41 (Januar 2003), S. 6.

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gelikalen“, im Folgenden „Evangelikalen-Papier“ genannt.81 Die Erklärung selbst sowie die sich ihrer Veröffentlichung (und Verabschiedung durch die Zentralkonferenz) anschließenden Diskussionen erhellen eine Reihe von Problemstellungen, deren Klärung zu einem besseren Verständnis der evangelikalen Präsenz in der EmK und darüber hinaus des Selbstverständnisses der deutschen EmK überhaupt beitragen können. Das „Evangelikalen-Papier“ versucht vor dem Hintergrund des damals virulenten evangelikalen Ringens um das richtige Missionsverständnis und 82 der Bildung evangelikaler Strukturen innerhalb der Landeskirchen , das Verhältnis der EmK als einer ihrem Selbstverständnis nach „evangelikal und ökumenisch ausgerichtete[n] Kirche“ zur evangelikalen Bewegung insgesamt zu bestimmen. Dabei werden eine ganze Reihe von Übereinstimmungen festgestellt. Geteilt wird der Erklärung zufolge die Überzeugung, „daß die Bibel die von Gott gegebene Grundlage für Glaube und Leben sowie für Lehre und Verkündigung ist“.83 Hervorgehoben wird ferner die übereinstimmende Betonung eines persönlichen Glaubenslebens, das aus der persönlichen Erfahrung des in Christus geschenkten Heils und einem von der Heiligung bestimmten Lebensstil erwächst. Gemeinsam vertretene Kennzeichen eines Christen sind weiterhin die verbindliche Zugehörigkeit zur Gemeinde, das Eintreten sowohl für Evangelisation als auch für soziale Verantwortung und die Erwartung des wiederkommenden Christus, die freilich den Einsatz des Christen für die Belange des Reiches Gottes in dieser Welt nicht ersetzt, sondern vollenden wird. Schließlich wird auf die Verwirklichung der in Christus geschenkten Einheit der Kirche in der Evangelischen Allianz und der ökumenischen Bewegung verwiesen. Es folgen Abgrenzungen von „Fehlentwicklungen im heutigen evangelikalen Bereich“. Abgelehnt wird an erster Stelle ein fundamentalistisches Schriftverständnis, d. h. „jede starre Festlegung einer Inspirationslehre … und damit auch die unreflektierte Meinung, daß das Bibelbuch Gottes Wort 84 ist“. Dem wird – offenkundig im Anschluss an Karl Barth – die Auffassung entgegengehalten, „daß das Bibelwort sich in seinem Anspruch als Wort Gottes erweist, wenn Menschen durch die Verkündigung zum Glauben an Jesus Christus und damit zum Heil finden“. Kritik finden im Folgenden die Trennung von (geistlichem) Heil und (irdischem) Wohl, eine Endzeitauffas81 82 83 84

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Unser Verhältnis zu den Evangelikalen. Abklärung des Standortes der EmK im Blick auf den evangelikalen Bereich, Stuttgart 1976. Vgl. Bauer, Gisa, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonfliktes (1945–1989), Göttingen 2012. Ebd. [wie Anm. 81], S. 6. Ebd. [wie Anm. 81], S. 7

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sung, die zu Passivität im Blick auf die Probleme der Zeit durch eine „Flucht ins Jenseits“ führt, und die Ausblendung der Frage nach dem Kirchenverständnis. Gewarnt wird abschließend vor unfruchtbarer Polemik sowie vor pauschalen Verurteilungen der modernen Theologie, des Ökumenischen Rates der Kirchen und des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Es folgen Ausführungen zur praktischen Gestaltung des Verhältnisses zu den bestehenden evangelikalen Gruppen bzw. Einrichtungen. Die Erklärung löste eine Reihe von Reaktionen aus, die schließlich in 85 die Veröffentlichung eines „Kritischen brüderlichen Wortes“ mündeten. Darin wird mit Blick auf das Schriftverständnis der abwertende Ton gegenüber einer evangelikalen Hermeneutik kritisiert und die eigene Position in die Worte gefasst: „Gottes Wort ist ewig Gottes Wort, weil es von Gott stammt, nicht weil es je und dann in der Verkündigung gesagt und angenommen wird“.86 Bezüglich einer Bewertung der modernen Theologie beklagen die Unterzeichner des Wortes, daß der Kirchenvorstand zwar eine Abgrenzung im Blick auf den evangelikalen Bereich für nötig hält, aber nicht die gleiche Notwendigkeit empfindet 87 gegenüber den Aussagen der liberalen Theologie alter und neuer Schule.

Weiter wird gefragt, ob es im Zeitalter eines alles relativierenden Pluralismus auch für die EmK den Begriff der „Irrlehre“ überhaupt nicht mehr gebe. In Zweifel gezogen wird schließlich, dass, wie das „Evangelikalen-Papier“ behauptete, die Teilnahme am Evangelischen Kirchentag in der EmK unstrittig sei. Ein Gespräch zwischen Vertretern des Kirchenvorstandes und Verfassern des „Brüderlichen kritischen Wortes“ bekräftigte zwar noch einmal die teilweise gemeinsamen Positionen, vermochte in den strittigen Punkten jedoch keine Einigung zu erzielen. Dennoch wurde von beiden Seiten der Wille zum Ausdruck gebracht, „Formen brüderlicher Auseindersetzung“ und theologischer Weiterarbeit zu finden, die ein Zusammenbleiben in der Kirche ermöglichen. 5.3 Schriftverständnis als der kritische Punkt Man wird Verlauf und Ergebnis des durch das „Evangelikalen-Papier“ ausgelösten Diskussionsprozesses mit Blick auf eine zu entwickelnde Phänomenologie des evangelikalen Methodismus nicht überbewerten dürfen; 85 86 87

Ein kritisches brüderliches Wort. In: EmK aktuell 15 (Juli 1977), S. 11–15. Ebd. [wie Anm. 85], S. 12. Ebd. [wie Anm. 85].

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schließlich handelt es sich hier um eine – wenn auch nicht unwichtige – Momentaufnahme. Zwei Beobachtungen scheinen hier wichtig. Zum einen ist festzustellen, dass die soteriologisch-erfahrungstheologische Programmatik Wesleys, wie sie in der Betonung des persönlichen Glaubenslebens zum Ausdruck kommt, offensichtlich innerhalb der EmK nicht grundsätzlich strittig ist. Vielmehr bildet das Anliegen, ein vom Christusglauben her bestimmtes Leben zu führen, die Substanz des gemeinsam vertretenen Grundkonsenses. Diese Einschätzung korrespondiert mit den von Hans-Martin Niethammer unter Methodisten erhobenen Erwartungshaltungen an Mitglieder der EmK, wobei sich der Herzensglaube an Christus und das Führen eines beispielgebenden Lebens als fest verankerte Erwar88 tungen feststellen ließen. Diese Erwartungshaltung beinhaltet m. E. zumindest als Teilmotiv auch die bewusste Abgrenzung von einem weithin als unverbindlich erlebten Christentum in den Großkirchen, dem die freikirchliche Betonung von lebendiger Frömmigkeit und Gemeinschaftpflege entgegengehalten wird.89 Obwohl der soteriologische Grundkonsens unter dem Vorzeichen größerer Toleranz gegenüber unverbindlicher Zugehörigkeit inzwischen auch innerhalb der EmK in Frage gestellt wird, scheint er stark genug, um eine engagierte Mitarbeit der Evangelikalen in der Kirche zu ermöglichen. Zugleich erklärt der benannte Grundkonsens, warum in der innerkirchlichen Auseinandersetzung gerade die Frage nach dem Bibelverständnis primäre Bedeutung gewinnen konnte. Damit ist bereits die zweite maßgebliche Beobachtung benannt: der bislang unvermittelte Dissens hinsichtlich des Bibelverständnisses. Es überrascht nicht, dass die im Verlauf der Diskussion vorgetragenen Überzeugungen sich als unvereinbar erwiesen, lagen sie doch deutlich auseinander. So stand für die Verfasser des „Evangelikalen-Papiers“ fest, „daß die Bibel die von Gott gegebene Grundlage für Glauben und Leben sowie für Lehre und Verkündigung ist“, geschrieben von Menschen, „die von Gottes Geist bewegt worden sind“, und historische Forschung um der „Wahrhaftigkeit“ willen auch dort nicht abgebrochen werden sollte, wo sie „z. B. die historische Zuverlässigkeit biblischer Berichte in Frage“ stellt. Mit diesen Formulierungen, die bereits jeden Anklang an die Tatsache göttlicher Inspiration 88

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Niethammer, Hans-Martin, Kirchenmitgliedschaft in der Freikirche. Kirchensoziologische Studie aufgrund einer empirischen Befragung unter Methodisten, Göttingen 1995, S. 212–219. Dies wird im „Evangelikalen-Papier“ auch deutlich, wenn es unter dem Stichwort „mangelndes Kirchenbewußtsein“ der Evangelikalen heißt, dass die EmK sich im Bereich der allgemeinen christlichen Kirche „als eine von Gott gewollte freikirchliche“ Ausprägung von Kirche versteht, Unser Verhältnis zu den Evangelikalen [wie Anm. 81], S. 8.

„A Heart Strangely Warmed“

vermeidet und gänzlich auf die Benennung von der historischen Arbeit zugrundeliegenden theologischen Kriterien verzichtet, liegt das „Evangelikalen-Papier“ deutlich auf der Linie des Book of Discipline von 1972, dessen Formulierungen 1988 korrigiert wurden. Dem wird von Seiten der Evangelikalen die Auffassung entgegengehalten, dass „die Bibel an sich“ Gottes Wort ist,90 eine Position, hinter der eine strenge Fassung der Verbalinspirationslehre zu stehen scheint. Zwar ist nicht eindeutig nachweisbar, dass die Radikalität der hier einander begegnenden Positionen sich wechselseitig bedingte, deutlich ist jedoch, dass eine Vermittlung dieser weit auseinanderliegenden Positionen nicht möglich war. Denn in beiden Positionen gerät die Konvergenz von einem allem theologischen Arbeiten vorausliegenden Glaubensgehorsam, wie er sich aus der Anerkennung des göttlichen Gehalts der Heiligen Schrift, ergibt und der Bereitschaft zur historischen Erforschung, wie sie sich aus der menschlichen Gestalt des göttlichen Offenbarungszeugnisses ergibt, aus dem Blick. In der Beschäftigung mit den biblischen Texten kann weder auf eine historische Vorgehensweise noch auf theologische Kriterien verzichtet werden, wobei letztere – implizit – immer auch dort das Vorgehen bestimmen, wo ihr Vorhandensein geleugnet wird. Generationen methodistischer Theologen hatten dies von Adolf Schlatter 91 gelernt, doch scheint seine Vermittlungsposition hier zwischen einem fundamentalistisch geprägten Bibeltraditionalismus und einem liberalen Methodenmodernismus zerrieben worden zu sein. Dennoch gab es Versuche evangelikaler Methodisten, Wege aus der Sackgasse zu beschreiten. Ich verweise an dieser Stelle exemplarisch auf Erich Lubahn, der sich sowohl von der deduktiven Methode des Fundamentalismus wie auch von den atheistischen Voraussetzungen der historischen Kritik abzugrenzen versuchte.92 Die Scheidung von historischem und theologischem Befund, die eine Vorentscheidung und nicht erst Ergebnis der Forschung selbst sei, möchte Lubahn durch ein komplementäres Auslegungsmodell überwinden, in dem – wie er sie nennt – historisch-glaubensmäßige, heilsgesschichtliche, christologische, pneumatologische und ekklesiologische Bibelauslegung einander ergänzen. Er bezeichnet die Wiedergeburt als notwendige Voraussetzung eines glaubensmäßigen Verstehens der Bibel und erinnert daran, dass auch der Nichtwiedergeborene von persönlich bestimmten Voraussetzungen her an den Bibeltext herangeht. Allerdings markiert Lubahn 90 91 92

Vorlage des Gesprächskreises „Evangelikalen-Papier (Einlage in Unser Verhältnis zu den Evangelikalen [wie Anm. 81]). Zu Schlatters Schriftverständnis vgl. Schlatter, Adolf, Die Bibel verstehen. Aufsätze zur biblischen Hermeneutik, hrsg. von Werner Neuer, Gießen/Basel 2002. Vgl. Lubahn, Erich, Mit der Bibel arbeiten, Wuppertal/Zürich 1990.

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deutlich, dass die göttliche Autorität der Bibel nicht bewiesen werden kann, sie vielmehr „durch den Glauben in der Gemeinde Jesu erfahren“ wird.93 So bleibt jede Bibelauslegung in die Spannung von Gottes- und Menschenwort gestellt, wobei diese Spannung sich als fruchtbar erweist, wenn beide Bestimmungen nicht gegeneinander ausgespielt oder voneinander abgelöst werden. Für unseren thematischen Zusammenhang bleibt abschließend wichtig, dass das Wissen um das Wunder des Wortes Gottes in Hingabe und Anbetung führt. Doxologie und Soteriologie sind damit als Fluchtpunkt einer jeden Schriftlehre ausgewiesen. Die Auseinandersetzung um das „Evangelikalen-Papier“ bringt mit der Bibelfrage einen Punkt zur Sprache, der zwar von grundsätzlicher Bedeutung ist, jedoch die kontinuierlich in den Gemeinden praktizierten Dienste nicht primär bestimmt. Hier wären weitergehende Untersuchungen nötig, die über das Verhältnis von sich evangelikal definierenden Gemeindegliedern, Pastoren und Gemeinden zu ihrer deutschen Gesamtkirche Auskunft geben. Indikatoren für ein innerkirchliches Differenzbewusstsein könnten die Verwendung von Sonntagsschulmaterialien evangelikaler Verlage sein, die Unterstützung von Missionaren, die nicht von der EmK-Weltmission ausgesandt wurden, die Mitarbeit in der örtlichen Evangelischen Allianz, nicht jedoch in der Stadtökumene und anderes. Für alle diese Fragen liegen 94 bislang keine gesicherten Erkenntnisse vor.

6 Evangelikale Methodisten – eine theologische Phänomenologie Eine kritische Würdigung der hier vorgetragenen Beobachtungen würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, an dieser Stelle soll es allein darum gehen, den Ertrag dieser Darstellung zu einer Phänomenologie des evangelikalen Methodismus zu bündeln. Dabei ist eine Diskussion der in den vergangenen Jahrzehnten vorgelegten unzähligen Klassifizierungen evangelikaler Theologie und Frömmigkeit weder möglich noch notwen93 94

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Ebd. [wie Anm. 92], S. 36. Hinweise auf den (eher geringen?) Einfluss des evangelikalen Flügels innerhalb der deutschen EmK auf der Ebene der Konferenzen mag ein Vergleich der von der Zentralkonferenz Deutschland gebilligten – zwar als Übersetzung bezeichneten, tatsächlich jedoch recht eigenständigen – deutschsprachigen Fassung der „Sozialen Grundsätze“ mit der von der Generalkonferenz verabschiedeten Originalfassung sein; vgl. Soziale Grundsätze der Evangelisch-methodistischen Kirche. Fassung 2000/2002, Stuttgart 2002 und The Book of Discipline of the United Methodist Church 2000, Nashville 2000, S. 95–122.

„A Heart Strangely Warmed“

dig.95 Allerdings stellt mein Vorschlag einer Phänomenologie durchaus den Versuch dar, die im Moment recht unversöhnlich vertretenen Evangelikalismus-Definitionen von Donald Dayton auf der einen Seite und George Marsden auf der anderen Seite zueinander in Beziehung zu setzen.96 Ich möchte von drei Kennzeichen eines evangelikalen Methodismus reden, wobei diese Redeweise nur auf der Folie eines in sich theologisch pluralistisch verfassten Methodismus Sinn macht. Erstes Kennzeichen des evangelikalen Methodismus ist der Primat der Erlösungslehre. Das Interesse gilt in erster Linie den biblischen Erfahrungslehren (Buße bzw. Bekehrung, Glaube, Wiedergeburt und Heiligung), die die Verwirklichung der göttlichen Gnade im Leben eines Menschen beschreiben. Für evangelikale Methodisten wurzelt das christliche Heilsleben in einer Erneuerung des Herzens, die sich in einem von der Heiligung bestimmten Leben der Christus-Nachfolge manifestiert (Orthopathie und Orthopraxie). In diesem Sinne ist evangelikaler Methodismus „erwecklich“, seine Geburtsstunde ist historisch gesehen Wesleys „heart strangely warmed“ in der Aldersgate-Erfahrung von 1738. Stärker als in Deutschland halten evangelikale Methodisten in den USA (und anderswo) an John Wesleys Lehre von der christlichen Vollkommenheit fest, die durchaus als Herzstück der Soteriologie Wesleys bezeichnet werden kann. Der Konzentration auf das soteriologische Substrat des biblischen Zeugnisses entspricht zweitens das Bekenntnis zu den die christliche Heilserfahrung ermöglichenden und strukturierenden Lehrtraditionen der Kirche, die als geschichtliche Auslegungen des normativen Zeugnisses der Heiligen Schrift

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Vgl. Erich Geldbach, Evangelikalismus. Versuch einer historischen Typologie. In: Frieling, Reinhard (Hrsg.), Die Kirchen und ihre Konservativen. „Traditionalismus“ und „Evangelikalismus“ in den Konfessionen, Göttingen 1984, S. 52–83; Bebbington, David W., Evangelicalism in Modern Britain. A History from the 1730s to the 1980s, Grand Rapids 1989, S. 1–19; Kantzer, K. S./Henry, C. F. H. (Hrsg.), Evangelical Affirmations, Grand Rapids 1990, S. 27–38; Jung, Friedhelm, Die deutsche Evangelikale Bewegung. Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie, Frankfurt am Main 1992; Robert W. Yarbrough, Evangelical Theology in Germany. In: Evangelical Quarterly 65 (1993), S. 329–353; David F. Wells, On Being Evangelical. Some Theological Differences and Similarities. In: Noll, Mark A./Bebbington, David W./Rawlyk, George A. (Hrsg.), Evangelicalism, New York/Oxford 1994, S. 389–410. Vgl. auch die Diskussion verschiedener Definitionen bei Carson, D. A., The Gagging of God. Christianity Confronts Pluralism, Grand Rapids 1996, S. 444–461. Vgl. Donald W. Dayton, „The Search for the Historical Evangelicalism”. George Marsden’s History of Fuller Seminary as a Case Study. In: Christian Scholar’s Review 23 (1992), S. 12–33; George M. Marsden, Response to Donald Dayton. In: ebd., S. 34–40.

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an diesem zu messen sind (Orthodoxie).97 Für evangelikale Methodisten sind zunächst die biblischen, dann aber, z. B. im Hinblick auf Trinität und Christologie, auch die altkirchlichen Lehrtraditionen Sprachmuster, die die Deutung einer Erfahrung als spezifisch christlich im Sinne von heilsam, rettend und erneuernd überhaupt erst ermöglichen – auch wenn sie gelegentlich zögern, die Bedeutung der patristischen Tradition für die Deutung des biblischen Zeugnisses einzugestehen. In analoger Weise dienen ethische Leitlinien für die Lebensführung dazu, der christlichen Erfahrung einen Raum zu geben, in dem die Wahrnehmung Gottes nicht durch fortdauerndes Unrecht und vorsätzliches Sündigen getrübt wird. Evangelikale Methodisten betonen, dass in erster Linie die Gegenwart des Heiligen Geistes im Leben eines Christen den Anschluss an die ungetrübte biblische Wahrheit 98 sichert. Die Wahrheit wird folglich in der Beziehung zu Gott empfangen, was nicht der Notwendigkeit ernsthaften Ringens um die rechte Wahrheitserkenntnis enthebt und die Zurückweisung als falsch erkannter Lehren nicht ausschließt, wenn solche in der Reflexion auf das biblische Zeugnis und dessen geschichtliche Bezeugung in den von der Kirche autorisierten Bekenntnissen identifiziert werden. Evangelikale Methodisten begrüßen vorbehaltlos die missionarische Grundorientierung ihrer Kirche, sie fragen aber bewusst nach der christologischen Identität der Botschaft, für die Menschen gewonnen werden sollen. Dieses Bekenntnis zu der im biblischen Zeugnis wurzelnden christlichen Überlieferung impliziert jedoch – und damit ist ein drittes Kennzeichen genannt – nicht die Dogmatisierung einer scharf definierten Schrift- bzw. Inspirati99 onslehre. Betont wird demgegenüber der Charakter der Bibel als Gnadenmittel für die Erneuerung des Menschen in das Ebenbild Gottes. Die epistemologische Frage nach der Begründung biblischer Autorität stellt sich für evangelikale Methodisten daher von der soteriologischen Wirklichkeit des in der Bibel begegnenden Zeugnisses von der Gottesoffenbarung, darf dieser Wirklichkeit jedoch nicht vorgeordnet werden. Während evangelikale Methodisten am Anspruch der Bibel auf Geltung als die von Gottes Geist inspirierte Autorität für Glauben und Leben des Christen festhalten, sind sie 97 98 99

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Vgl. Mark Horst, Why United Methodism Needs the Confessing Movement. In: Quarterly Review 17 (1997), S. 55–64. So schon Steele, „Orthodoxy can be conserved only by the Holy Spirit abiding in the consciousness of the individual members of the Church“, Gospel [wie Anm. 29], S. 283. Deshalb scheint mir das Insistieren auf ein scharf eingegrenztes Schriftverständnis, wie es die Gruppe der auf das „Evangelikalen-Papier“ antwortenden Pastoren vertreten hat, auch eher in der konkreten Auseinandersetzung begründet, als dass es typisch wäre für den evangelikalen Methodismus.

„A Heart Strangely Warmed“

zurückhaltend, was die Verknüpfung dieser Autorität mit einer bestimmten Wahrheits- oder Erkenntnistheorie angeht.100 Damit erweist sich die Erneuerung des Herzens (Wiedergeburt) und des Lebens (Heiligung) aus der Kraft des Heiligen Geistes und in der Nachfolge Christi als das notwendige und hinreichende Kriterium christlichen Lebens. Das Übereinstimmung mit und das Bekenntnis zu Lehre und Geist des in den biblischen Schriften bezeugten Offenbarungsgehalts stellt ein notwendiges Kriterium dar, insofern die formale Bejahung einer bestimmten Glaubenslehre zwar unverzichtbar, jedoch nicht identisch ist mit einem Leben in der Gemeinschaft mit Christus. Der epistemologische Referenzrahmen christlicher Wahrheitserkenntnis ist die der Autorität der Bibel für Fragen des Glaubens und der Lebensführung, ohne die Begründung ihrer Autorität an ein eng gefasstes Inspirationsverständnis anzubinden.

100 Konkret lässt sich die Zurückstellung einer näher bestimmten Inspirationslehre über die methodistischen Theologen des 19. Jahrhunderts bis auf Wesley zurückverfolgen, wobei die Vorordnung der Erlösungslehre vor der Schriftlehre freilich nicht den Verzicht auf die Ausbildung epistemologischer Konzepte bedeutete; vgl. Raedel, Theologie [wie Anm. 33], S. 200–239; Abraham, Inspiration [wie Anm. 12], S. 33–47.

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Zwischen Patriotismus und Pazifismus Krieg und Frieden in der Perspektive methodistischer Kirchen 1 Einleitung Auf den ersten Blick erscheint die Einordung einfach: Methodistische Kirchen sind weithin, historisch-theologisch kategorisiert, keine Friedenskirchen wie die Mennoniten oder die Kirche der Brüder. Sie sind der Sache nach Heiligungskirchen, also Kirchen mit einer starken Betonung der gegenwärtigen Wirksamkeit der Gnade Gottes, die die Sünde überwindet und Menschen kraft der göttlichen Liebe dem Ebenbild des Sohnes Jesus Christus gleichgestaltet, sodass sie schon hier und jetzt als Bürger von Gottes anbrechendem Friedensreich leben können. Was dies allerdings für das Leben in einer weiterhin von Ungerechtigkeit und Gewalt bestimmten Welt heißt, war im Methodismus immer schon umstritten. Das Spannungsmoment im methodistischen Selbstverständnis war – bis weit in das 20. Jahrhundert hinein – dadurch bedingt, dass Methodisten sich nicht allein als Bürger von Gottes anbrechendem Reich wussten und sich infolgedessen allmählich eine wachsende globale Verbundenheit („connexio“) von Methodisten ausbilden konnte, sondern sie sich zugleich immer auch als loyale Bürger eines konkreten Staates verstanden. Insbesondere in Phasen zwischenstaatlicher militärischer Auseinandersetzungen sollte dieser Patriotismus zu Tage treten. Im folgenden Beitrag soll dargelegt werden, welche Kontinuitätsmomente und welche Neuorientierungen sich in ausgewählten methodistischen Kirchen erkennen lassen. Dabei gehe ich methodisch von der Annahme aus, dass sich die Entwicklung friedensethischer Positionen am ehesten aufweisen lässt, wenn die Äußerungen hinsichtlich der Einstellung zu konkreten Kriegen miteinander verglichen werden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, inwiefern theologische und nichttheologische Faktoren auf die Standortbestimmungen zur Friedensfrage eingewirkt haben und wie die in der Positionierung erkennbare Spannung zwischen Patriotismus und Pazi1 fismus zu verstehen und zu beurteilen ist. 1

Die Quellen, in denen sich die methodistische Einstellung zu Fragen von Krieg und Frieden abbildet, dürfen durch eine Reihe von im Folgenden auch ausgewerteten und zitierten Untersuchungen als gut erforscht gelten. Kaum reflektiert wird in diesen Untersu-

Einleitung

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2 Der Methodismus im 18. Jahrhundert: Leben in der Heiligung und Loyalität gegenüber dem Staat John Wesleys theologische Konzeption war von einem Optimismus der Gnade getragen, der weit über das hinausging, was andere Theologen seiner Zeit anzunehmen bereit waren. Wesley war überzeugt davon, dass sich Rechtfertigung und Wiedergeburt nicht voneinander ablösen lassen: Während die Rechtfertigung eine relative, also die Beziehung zu Gott betreffende Veränderung bewirkt, bezeichnet die Wiedergeburt eine reale, also die innere Bestimmtheit des Menschen betreffende Veränderung.2 Die Wiedergeburt ist zugleich der Beginn der Heiligung, denn auch für den wiedergeborenen Christen gilt, dass die Sünde zwar nicht mehr regiert, sie aber noch vorhanden ist und ins Leben drängt. Erst in einem zweiten Gnadenwerk, der vollkommenen Heiligung, vernichtet Gottes Geist das Wesen der Sünde im Gläubigen und erfüllt ihn ganz und gar mit der Liebe Gottes.3 Für Wesley war klar, dass die Rechtfertigung wie die Heiligung ihre einzige Bedingung im Glauben haben, doch war er ebenso davon überzeugt, dass niemand im Glauben zu beharren vermag, der nicht der Gnade Gottes in seinem Leben Raum gibt, der also dem „Gesetz der Freiheit“ (Jak 1,25), den Weisungen des Evangeliums gehorcht. Den Weg des Glaubens zu gehen hieß für Wesley, den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen. Solange der Christ in dieser Welt lebt, bleibt er den Angriffen des Satans ausgesetzt und hat sich, angetan mit der von Gott gegebenen geistlichen Waffenrüstung, diesem Kampf zu stellen. Die uns heute fremde Sprache des Kampfes hatte für Wesley eine eminent wichtige Funkti4 on. Sie stellte die Gläubigen ganz in die Abhängigkeit von Gott und in den Raum einer Gemeinschaft. Wer dem Bösen widerstehen will, der kann das nur in der Vollmacht eines noch mächtigeren Herrn tun, und wer in diesem

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chungen jedoch die Methodenfrage, wer in „offiziellen“ Texten methodistischer Kirchen spricht. Inwieweit lassen sich also in Grundlagentexten, Konferenzbeschlüssen und redaktionellen Artikeln von Kirchenzeitungen die Stimmen der Gemeindebasis vernehmen? Besonders behutsam zu interpretieren dürften zudem kirchenoffizielle Texte sein, die unter den Bedingungen einer Staatsdiktatur entstanden sind wie die DDR es war. Vgl. John Wesley, Das große Vorrecht der aus Gott Geborenen (Predigt 19), Einleitung § 2. In: ders., Die 53 Lehrpredigten. Übersetzt und hrsg. von Manfred Marquardt (Methodistische Quellentexte 1), 2. Aufl. Göttingen 2016, S. 264; Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 1: Sermons I, Nashville 1984, S. 431f. Zu Wesleys Heiligungslehre vgl. Lindström, Harald, Wesley und die Heiligung, 2. Aufl. Stuttgart 1982, und Collins, Kenneth J., The Theology of John Wesley. Holy Love and the Shape of Grace, Nashville 2007. Vgl. Williams, Jeffrey, Religion and Violence in Early American Methodism. Taking the Kingdom by Force, Bloomington/Indianapolis 2010, S. 13–40.

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

Kampf bestehen will, der braucht eine Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern, die ihn stützen und halten. Deshalb galt im frühen Methodismus die Zugehörigkeit zu einer Bundesgruppe („class“) als Bedingung dafür, sich zur methodistischen Bewegung halten zu dürfen.5 So verstanden sich die frühen Methodisten als eine Gemeinschaft, die ihrem Verlangen nach der Erfahrung der verändernden Gnade Gottes dadurch eine erkennbare Struktur gaben, dass sie – gemäß den „Allgemeinen Regeln“ – das Böse mieden, das Gute taten und die von Gott eingesetzten Gnadenmittel gebrauchten.6 Was bedeutet diese gnadentheologische Grundierung des Glaubenslebens nun für die Einstellung zu Militär und Waffengebrauch? Für Wesley dürfte prinzipiell gelten, was Jeffrey Williams so formuliert hat: „Wesley simultaneously championed an aggressively militant expression of Christian spirituality while often advocating peaceful and nonviolent interactions between human beings“.7 Williams weist überzeugend nach, dass Wesley und den frühen Methodisten der menschliche Leib als Feld eines geistlichen Kampfes galt (zunächst zwischen dem Sünder und Gott, dann nach der Bekehrung zwischen Gottes Gnade und den Angriffen des Teufels), er jedoch nicht zum Schauplatz zwischenmenschlicher Kampfhandlungen werden sollte, weshalb Wesley, wie verschiedentlich belegt ist, keinen gewaltsamen Widerstand leistete, wenn er von den Gegnern seiner Botschaft körperlich bedrängt oder angegriffen wurde.8 Gewalt war jedoch nicht begrenzt auf Auseinandersetzungen zwischen Individuen, sondern schloss auch zu Wesleys Zeiten blutige militärische Auseinandersetzungen zwischen Staaten ein. Wesley deutet diese Realität als Ausdruck menschlicher Sündhaftigkeit, die zu überwinden Gott seinen Sohn gesandt hat. Krieg zwischen Menschen, ja mehr noch zwischen Menschen, die sich Christen nennen, ist für Wesley eines der eindrücklichsten Zeichen für die sündige Verderbtheit der Menschen. Nach Wesley widerspricht Krieg sowohl den Grundsätzen des christlichen Glaubens als auch der Vernunft. Die Ursachen von Kriegen sieht er in menschlichem Ehrgeiz, korrupten Re9 gierungen, kolonialem Besitzstreben und wirtschaftlicher Vorteilssuche. 5

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Vgl. Watson, David L., The Early Methodist Class Meeting, Nashville 1992; Thomas R. Albin, „Inwardly Persuaded“. Religion of the Heart in Early British Methodism. In: Steele, Richard B. (Hrsg.), „Heart Religion“ in the Methodist Tradition and Related Movements, Lanham/London 2001, S. 33–66. Zu den Gnadenmitteln vgl. Knight, Henry H. III., The Presence of God in the Christian Life. John Wesley and the Means of Grace, Lanham/London 1992. Williams, Religion [wie Anm. 4], S. 42. Vgl. Tomkins, Stephen, John Wesley. Eine Biographie, Stuttgart 2003, S. 119ff.138ff. Wesley interpretiert Krieg und Gewalt als Manifestation des universalen Charakters der menschlichen Sünde; vgl. John Wesley, The Doctrine of Original Sin. In: Jackson,

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Wesleys Diagnose entspricht das Heilmittel: Haben Kriege ihre tiefere Ursache in der Sünde, dann setzt die Überwindung des Krieges voraus, dass Gottes Gnade die Sünde im Menschen überwindet und sich sein Frieden im Herzen ausbreitet. Dabei denkt Wesley nicht individualistisch, sondern ist sich der Sündigkeit sozialer Strukturen bewusst, die zu zerbrechen Christen berufen sind. Als markantes Anwendungsbeispiel für diese Sichtweise ist Wesleys Eintreten für die Überwindung der Sklaverei zu nennen.10 Dennoch war Wesley kein Pazifist. Seine Ablehnung des Krieges fand ihre Grenze an der Loyalität gegenüber der britischen Krone, genauer noch: an seiner Überzeugung, wonach die britische Form der parlamentarischkonstitutionellen Monarchie die menschliche Freiheit am besten sichernde und ihr am ehesten dienliche Staatsform sei. Wesley war überzeugt davon, dass die staatliche Gewalt nicht vom Volk, sondern von Gott eingesetzt und autorisiert werde. Als Dienerin Gottes hat sie die Aufgabe, die öffentliche Ordnung sowohl gegen Rebellionen im Inneren als auch gegen Invasionen von außen zu verteidigen. So ist für Wesleys Staatsauffassung die Überzeugung grundlegend, dass der Staat nach Gottes Willen das geordnete Zusammenleben der Menschen sichert und daher die Bereitschaft seiner Bürger verlangen kann, diesen Staat notfalls auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Eine pazifistische Auffassung ist das nicht. Bereits die Conference Minutes von 1744 bejahen die Frage, ob es für Christen legitim sei, dem britischen 11 Staat mit der Waffe zu dienen. In den Kriegen seiner Zeit ergriff Wesley letztlich immer Partei für die britische Seite, wobei insbesondere im Zusammenhang mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg unterschiedliche Deutungsmomente zum Tragen kamen. Wesley griff angesichts des drohenden Krieges zunächst zu einer geschichtstheologischen Deutung. Danach wäre ein Unabhängigkeitskrieg für Großbritannien eine Strafe für seine Kolonialpolitik, durch die Menschen ihrer legitimen Rechte beraubt würden, sowie vor allem für die Praxis der Sklaverei, weshalb eine Rebellion der Kolonisten als Ruf zur Buße und konkret zur Abkehr von der Sklaverei zu verstehen sei. Wesley betont, dass der tiefere Grund für einen Krieg die menschliche Sünde sei, weshalb allein die Reinigung der Herzen Heilung zwischen den Völkern bringen könne.

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Thomas (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 9: Letters and Essays, London 1872, S. 196–446, bes. S. 221ff. Vgl. Marquardt, Manfred, Praxis und Prinzipien der Sozialethik John Wesleys, 3. Aufl. Göttingen 2008, S. 89–97. Vgl. Williams, Religion [wie Anm. 4], S. 47. Wesley bietet 1756 angesichts einer drohenden französischen Invasion sogar an, eine Kompanie aus Methodisten für die Verteidigung des Vaterlandes aufzustellen.

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

Als die Rebellion dann die Form des offenen und gewaltsamen Widerstands gegen die britische Krone annimmt, übernimmt jedoch Wesleys Staatsloyalität die Regie. Er verteidigt nicht nur den strittigen Grundsatz „taxation without representation“, also die Tatsache, dass die Kolonisten der Krone Steuern zahlen, ohne Vertreter in das britische Parlament entsenden zu dürfen, sondern zieht darüber hinaus die moralische Legitimität der Unabhängigkeitskämpfer in Frage. Nach Wesleys Auffassung verfügen die Kolonisten unter der britischen Krone bereits über ein Höchstmaß an Freiheit. Die Unabhängigkeit von Großbritannien würde keinen Freiheitsge12 winn, sondern Anarchie oder Tyrannei bringen. Faktisch wollten, so Wesley, die Kolonisten nicht das Wohl Amerikas, sondern den Sturz des Königs. Widerstand gegen den von Gott eingesetzten Herrscher aber sei Sünde. So gewinnt unter der Hand die amerikanische Rebellion eine geistliche Bedeutung: Wer sich gegen die britische Krone stelle, sei Gott ungehorsam. Man beachte, wie sich die Kategorien hier verschoben haben: Aus der theologischen Prämisse, wonach Krieg seine Wurzel in der allgemeinen menschlichen Sünde habe, wird jetzt ein am Maßstab der Staatsloyalität ausgerichtetes moralisches Schwarz-Weiß-Schema: Danach sind Recht und Gerechtigkeit auf Seiten der britischen Regierung, Sünde und Bosheit auf Seiten der amerikanischen Kolonisten zu finden. Diese Rollenzuweisung immunisiert das britische Vorgehen gegen Kritik und entzieht allen moralischen Legitimationsversuchen der amerikanischen Seite a priori den Boden. Die Situation der – zahlenmäßig bis 1784 nur wenigen – amerikanischen Methodisten erscheit vor diesem Hintergrund nicht beneidenswert. In ihrer großen Mehrheit verschrieben sie sich dem geistlichen Kampf um die Rettung von Sündern und weigerten sich, diesen Kampf mit der politischen Frage des Unabhängigkeitskampfes in Verbindung zu bringen. Sie teilten also Wesleys von Staatsloyalität bestimmte Einteilung der politischen Lager nicht, sondern verhielten sich politisch neutral, womit sie sich von der Mehrheit der amerikanischen Christen ihrer Zeit unterschieden, die für 13 oder gegen die britische Kolonialmacht Partei bezogen. Halten wir fest: Wesleys Theologie hat einen unverkennbar perfektionistischen Grundzug. Die Erneuerung des Glaubenden ist Grundlage für ein Leben aus der vollkommenen Liebe Gottes, die in der Liebe zu Gott und zum Nächsten ihren sichtbaren Ausdruck findet. Dieser Liebe widerspricht

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Vgl. Kupsch, Martin G., Krieg und Frieden. Die Stellungnahmen der methodistischen Kirchen in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Kontinentaleuropa, Bde. 2 (Europäische Hochschulschriften 455), Frankfurt am Main 1992, hier Bd. 1, S. 48. Vgl. Williams, Religion [wie Anm. 4], S. 55–67.

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die Ausübung von Gewalt als Ausdruck sündigen Selbstdurchsetzungsstrebens. Vielmehr gehören Christen ihrem Herrn im Leben und Sterben, im Dienen und Leiden. Dass Wesleys Perfektionismus nicht den Pazifismus einschließt, hängt, wie wir gesehen haben, mit seiner Sicht des Staates zusammen. Wesley argumentiert hier durchaus konventionell und analog zu den Reformatoren, wenn er die jeweils vorhandene Regierung für die von Gott eingesetzte Dienerin seines ordnenden Weltwirkens hielt. Die Frage, ob die britische Regierung noch einsetzungsgemäß handle, stellte sich Wesley nicht. Er setzt voraus, dass – und hier zeigt sich Wesley vom Freiheitsmoment der Aufklärung bestimmt – die britische Krone die Freiheit seiner Bürger verteidigt. Wenn Christen, mithin die Methodisten seiner Zeit, zu den Waffen gerufen sind, dann haben sie diesem Ruf also deshalb zu folgen, weil die Würde und Freiheit des Menschen gegenüber den Verlockungen einer Rebellion zu verteidigen ist. Denn Rebellion, davon war Wesley überzeugt, kann nur in Anarchie oder Tyrannei enden. In dieser Staatstreue zeigt sich aus heutiger 14 Sicht die historische Begrenztheit der Sicht Wesleys, die sich als ihm – wie seinen Zeitgenossen – noch fehlende Selbstrelativierung des Nationalstaates verstehen lässt, zu der es erst im 20. Jahrhundert im Zuge grauenerregender Unrechtserfahrungen kommen sollte. Dass wir diese Relativierung ausgerechnet massiven Unrechtserfahrungen verdanken, zeigt, dass jede Herablassung den Erkenntnisgrenzen Wesleys gegenüber unangebracht ist.

3 Methodistische Sozialethik 1784–1914 im Zeichen von Reich-Gottes-Vision und Zwei-Reiche-Lehre Wer die Entwicklung von Einstellungen im Methodismus zu Krieg und Frieden im „langen“ 19. Jahrhundert weiterverfolgen möchte, ist genötigt, zwischen dem angelsächsischen Methodismus auf der einen und dem kontinentaleuropäischen, und hier konkret deutschsprachigen Methodismus zu unterscheiden. Zu unterschiedlich verliefen die den Methodismus betreffenden regionalen Entwicklungen. Der US-amerikanische Methodismus verzeichnete nach erlangter Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Großbritannien eine einzigartige Wachstumsdynamik, die allerdings auch das 14

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Nach M. G. Kupsch entsteht damit „die Frage und das Problem, ob bei Wesley durch seine Betonung einer fast absoluten Loyalität zur eigenen Nation letztlich doch alle Kriege zu notwendigen politischen Maßnahmen deklariert werden konnten, und so die grundsätzliche theologische Ablehnung des Krieges eine rein theoretisch-abstrakte Position und dadurch politisch folgenlos blieb“, Krieg, Bd. 1 [wie Anm. 12], S. 45.

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

theologische und spirituelle Gefüge des Methodismus nicht unverändert ließ. Auch in Großbritannien trat die Methodistische Kirche (nach dem Tode John Wesleys 1791) in die Phase der kirchlichen Institutionalisierung und Konsolidierung ein. Demgegenüber fand sich der Methodismus in Zentraleuropa um 1850 in einer initialen Missionssituation wieder und agierte zunächst faktisch als evangelistisch ausgerichtete Gemeinschaftsbewegung bzw. Kirche. Dabei zeigen sich einerseits Analogien zum frühen britischen Methodismus, anderseits jedoch auch besondere Einflussfaktoren und Entwicklungsbedingungen (siehe unten). Allen Wirkungsfeldern des Methodismus im 19. Jahrhundert ist gemeinsam, dass von methodistischen Kirchen nach einer Reihe mehr oder weniger weitreichender Spaltungen nur noch im Plural gesprochen werden kann. Dieser Sachverhalt verlangt im Folgenden methodische Begrenzung auf den methodistischen „Hauptstrom“ und erlaubt es nur gelegentlich, auf die Verästelungen methodistischen Kirchenlebens einzugehen. 3.1 Christianisierung und Zivilisierung: Die Säkularisierung der christlichen Reich-Gottes-Hoffnung im amerikanischen Methodismus Es ist unmöglich, hier auch nur ansatzweise nachzuzeichnen, welche gesellschaftlichen und theologischen Umbrüche sich im amerikanischen Methodismus während des 19. Jahrhunderts vollziehen. Ich muss mich darauf beschränken, diejenigen Entwicklungsmotive hervorzuheben, die in besonderer Weise plausibilisieren, warum im Methodismus die Dimension des geistlichen Kampfes immer stärker mit der Ebene des Kampfes für den Fortschritt und die Ausbreitung der amerikanischen Zivilisation verwoben wurde. Unter den relevanten Entwicklungsmotiven ist erstens der Übergang von der radikalen Erneuerungsbewegung zur sich etablierenden, das Einvernehmen mit dem Staat suchenden Kirche zu nennen. Dieser Übergang fand seinen Ausdruck, was die geistliche Grunderfahrung von Methodisten anging, darin, dass sich in den Gemeinden eine zunehmende Skepsis, ja Ablehnung ekstatischer körperlicher Phänomene ausbreitete. Das bedeutete nicht eine Abkehr von der Semantik der Bekehrung, Hingabe und Heiligung, aber doch eine Verlagerung des Bekehrungskampfes auf die mentale Ebene. Wenn Gott und der Satan um einen Menschen ringen, dann bezeichnete das seit Beginn des 19. Jahrhunderts einen Kampf in der Seele des Menschen, ohne einen Bezug zur körperlichen Verfasstheit dieses Menschen. Die Ablösung mentaler von körperlichen Prozessen stand in Zusammenhang mit der Rezeption eines aufklärerischen Menschen- und eines modernen Gesellschaftsbildes. Danach gilt als oberste Bürgerpflicht das

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Sicheinfügen in eine soziale Rolle und die Anerkennung von damit gesellschaftlich gesetzten Grenzen, ein Prinzip, mit dem radikale Erweckungsbewegungen in Konflikt kommen müssen, wenn sie den Menschen vorbehaltlos unter der Herrschaft Gottes und dem Einwirken seines Geistes sehen, was – man denke an die Verkündigung durch Frauen im frühen Methodismus – zu Grenzüberschreitungen und zur Missachtung gesellschaftlicher Konventionen führen konnte. Dafür ist nun zunehmend weniger Raum. Williams zufolge gilt, dass seit dem frühen 19. Jahrhundert Protestants evaluated the validity of claims to supernatural experiences based on whether or not they called into question the existing social, political, and/or ecclesiastical order. Protestants frequently deemed false those experiences that encouraged the overturning of traditional authority.15

Damit ist bereits das zweite Entwicklungsmotiv genannt. Die Methodist Episcopal Church (MEC), wie sie seit 1784 hieß, wurde durch ihre konsequente Ausbreitung Richtung neu erschlossenem Westen der USA, aufgrund des damit einhergehenden rasanten zahlenmäßigen Wachstums und infolge der sich ausgehend von den Städten an der Ostküste vollziehenden sozialen Aufstiegsbewegungen zu einer der einflussreichsten Institutionen der aufstrebenden Vereinigten Staaten. Sie machte sich die Vision zu eigen, wonach die Vereinigten Staaten Gottes auserwähltes Land sind, das dazu berufen ist, die Werte der amerikanischen Revolution, nämlich die Freiheit des Individuums, über die Erde auszubreiten. Dies sollte auch die kirchliche Binnenstruktur verändern, insofern – wie Stephen Long es formuliert – [t]he place of discipline as a means of grace binding people together on a common journey from sin to holiness was replaced by the notion of the progress of civilization into liberal democracy, and the necessity to sustain this progress.16

In dem Moment, in dem die Freiheit des Individuums zum Leitmotiv erklärt wurde, schien es unmöglich, noch länger das Einhalten von Bundesverpflichtungen einzufordern, die Ausdruck radikaler, auch leidensbereiter Christusnachfolge sind. In engem Zusammenhang mit diesem zweiten steht das dritte Entwicklungsmotiv: die Säkularisierung der Reich-Gottes-Vorstellung. Der Methodismus zeigte nie ein ausgeprägtes Interesse an millenniaristischen Vorstellungen, lag der theologische Akzent doch ganz auf der gegenwärtigen Wirk15 16

320

Williams, Religion [wie Anm. 4], S. 88. Long, D. Stephen, Living the Discipline. United Methodist Theological Reflections on War, Civilisation, and Holiness, Grand Rapids 1992, S. 41.

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

lichkeit und Wirksamkeit des anbrechenden Gottesreiches. Dabei galt als das primäre Subjekt stets der Heilige Geist, der das kämpfende Gottesvolk, die ekklesia militans, zum Dienst am Reich Gottes befähigte. Die Vision vom Reich Gottes als einem Reich, in dem Gerechtigkeit und Frieden herrschen, nimmt in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts immer stärker nationale Züge an.17 Christianisierung und Zivilisierung fallen zunehmend in eins. So wurde der Amerika beherrschende „Fortschrittsoptimismus der Zeit theologisch qualifiziert und die Weltgeschichte als evolutionäre und unaufhaltsame Entwicklung zum Kingdom of God verstanden“, in der die USA eine besondere Rolle zu übernehmen hatten.18 Was bedeutete dies nun für die methodistische Einstellung gegenüber Krieg und staatlicher Gewalt? Zunächst einmal bedeutete es nichts Gutes für die amerikanischen Ureinwohner. Methodisten zeigten sich wie die Mehrheit ihrer protestantischen Geschwister davon überzeugt, dass es westlich der „Frontiers“ ein Land einzunehmen galt, das den (weißen) Amerikanern gegeben war, um es zu bebauen und zu kultivieren. In diesem Bild eines nahen Paradieses kamen die Indianer nur in der Rolle der unkultivierten Heiden vor, die es zu zähmen gelte. Ihr Widerstand gegen ihre Zurückdrängung Richtung Westen durch die Siedler wurde nicht als legitime Selbstverteidigung, sondern als hinterhältiger und ungerechtfertigter Angriff auf Leib und Leben ehrenwerter Bürger aufgefasst. Wer daher den Indianern das „Angebot“ der Zivilisierung – gemeint war die Assimilierung – bringen wollte, musste sich notfalls mit der Waffe gegen solche Angriffe verteidigen bzw. das Erreichte 19 sichern. Im Umgang mit den amerikanischen Ureinwohnern zeigte sich, wie Christianisierung und Zivilisierung zu komplementären Strängen einer Agenda wurden, in der es um die Verwirklichung von Gottes mutmaßlicher Vision für die Vereinigten Staaten ging. [T]he zeal to transform Native culture and traditions, even if motivated by compassion for Native peoples, wrapped Methodist missionaries into a culturally imperialist mindset from which they found it nearly impossible to extricate themselves.20

Doch nicht nur Weiße und Ureinwohner bekämpften sich. 1861 kam es über der Frage der Sklaverei zum amerikanischen Bürgerkrieg, der 1865 mit 17

18 19 20

„By 1812, Methodists who accepted the importance of Christian involvement in the political life of the nation began to employ a republican rhetoric that equated the ideals of the nation with the sacred“, Williams, Religion [wie Anm. 4], S. 105. Kupsch, Krieg, Bd. 1 [wie Anm. 12], S. 240. Vgl. dazu Williams, Religion [wie Anm. 4], S. 106–121. Ebd. [wie Anm. 4], S. 121.

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dem Sieg des Nordens über die Südstaaten und der Abschaffung der Sklaverei endete. Die inzwischen in eine nördliche und eine südliche Kirche getrennten Methodisten waren schwer in diese Auseinandersetzungen involviert. Auf beiden Seiten erschien dieser Krieg theologisch und moralisch aufgeladen. Für den Norden ging es um die Beseitigung des moralischen Übels der Sklaverei und die Wiederherstellung von Einheit, Gerechtigkeit und Freiheit für die Union. Der Süden sah seine Freiheit, eine eigene Lebensform zu wählen, in Frage gestellt und vertrat das Recht der Konföderationsregierung, einen gerechten, weil Verteidigungskrieg gegen den angreifenden Norden zu erklären. Dabei wurde auf beiden Seiten geschichtstheologisch und unter ausgiebiger Bezugnahme auf Texte des Alten Testaments argumentiert. Der Krieg offenbarte, wie sehr sich die Einstellung zur Gewalt innerhalb eines halben Jahrhunderts verändert hatte. Zu Zeiten des Unabhängigkeitskrieges betonten die Methodisten den geistlichen Kampf, also den Sieg über die Sünde und die Hingabe an die Herrschaft Gottes, was immer das an Leiden und Bedrängung auch bringen mag, während sie es ablehnten, die Rollen von Gut und Böse einem Land oder einer Volksgruppe, die es zu bekämpfen gelte, zuzuschreiben. Gut fünfzig Jahre später ist das Element des Kampfes in geistlicher Hinsicht weithin zurückgetreten. Bekehrung ist das Eingehen in einen inneren Zustand der Ruhe und des Friedens mit Gott, das von Gottes Geist erwärmte Herz ein Ort des Rückzugs aus der unruhigen Welt. Herzensbekehrung wird immer mehr zur Herzensbildung. Gläubig sein heißt gesittet sein, heißt, seinen Ort in der Gesellschaft zu kennen 21 und einzunehmen. In der Weltdeutung dieser Methodisten hatte sich ein folgenreicher Umschwung vollzogen. An die Stelle der radikalen Nachfolge im in der Liebe tätigen Glauben war eine Vision getreten, in der Staat und Kultur als Medien der Verwirklichung des irdischen Gottesreiches erschienen, dessen Ideale denen der Aufklärung erstaunlich ähnelten. Das aber bedeutete fast zwangsläufig, dass die Feinde der Nation und der Werte ihrer Kultur um des Glaubens willen zu bekämpfen waren, denn die Frage des gesellschaftlichen Fortschritts der Nation war nun auch eine geistliche Frage. Der Gebrauch militärischer Mittel gegen andere Menschen galt fortan immer dann als gerechtfertigt, wenn sich diese Gewalt als Teilnahme an Gottes großem Kampf gegen das Böse in dieser Welt verstehen ließ. Theologisch markant ist an dieser Entwicklung, dass die Werte des liberalen Individualismus das Fundament der Kirche selbst aushöhlen mussten, 21

322

Vgl. ebd. [wie Anm. 4], S. 131ff.

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

insofern die Freiheit des Individuums das Konzept vollkommener Heiligung in konsequenter Verbindlichkeit und radikaler Leidensbereitschaft zerbrach, was sich am in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Niedergang der verbindlichen „class meetings“ zeigte. Es konnte daher nicht ausbleiben, dass es im 19. Jahrhundert wiederholt zur Abspaltung radikal-sozialreformerischer Gemeinschaften von der MEC sowie nach dem Bürgerkrieg zum Entstehen einer Establishment-kritischen Heiligungsbewegung kam. Doch das ist eine andere Geschichte.22 3.2 Christianisierung und Zivilisierung: Das britische Empire als Dienerin Gottes Die Entwicklungen in Großbritannien weisen eine Reihe von Analogien zu denen in den Vereinigten Staaten auf, sodass ich mich hier kürzer fassen kann. Auch der britische Methodismus nimmt den Weg des sozialen Aufstiegs, folglich wird die Stimme der vermögender werdenden Mittelschicht, vor allem der am Kolonialhandel verdienenden Kaufleute in der Wesleyan Church stärker, während sich auch hier im Zuge der Industrialisierung Methodistengemeinschaften bilden, die das radikale frühmethodistische Ethos bewahren und der Stimme der Arbeiter und der Armen Gehör geben wollten.23 „There had been a marked ‚imperialist‘ tradition within the Wesleyan Church since at least the middle decades of the nineteenth century“,24 vermerkt Michael Hughes und beschreibt damit die im britischen Methodismus des 19. Jahrhunderts herrschende Grundstimmung. Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten hatte Großbritannien sich schrittweise ein Kolonialreich aufgebaut. Kolonialpolitik aber meinte unvermeidlich Kriegspolitik, denn die imperialen Gelüste des britischen Empire trafen auf Widerstand, sodass militärische Auseinandersetzungen nicht ausblieben. Wie sich der britische Methodismus in dieser Frage positionierte, soll ein Blick auf die in kirchlichen Erklärungen und Zeitschriftenartikeln vorgenommenen 25 Bewertungen des Zweiten Burenkrieges (1899–1902) zeigen.

22

23 24 25

Vgl. Smith, Timothy L., Revivalism and Social Reform. American Protestantism on the Eve of the Civil War, Baltimore 1980; Peters, John L., Christian Perfection and American Methodism, Salem 1985. Vgl. Davies, Rupert E., Methodism, London 1976, S. 113–134. Hughes, Michael, Conscience and Conflict. Methodism, Peace and War in the Twentieth Century, Peterborough 2008, S. 22. Zum Folgenden vgl. ebd. [wie Anm. 24], S. 17–45 und Kupsch, Krieg, Bd. 1 [wie Anm. 12], S. 222–228.

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Auslöser dieses Krieges war die Entdeckung wertvoller Bodenschätze in Südafrika, begründet wurde der Krieg auf britischer Seite jedoch weniger wirtschaftlich als vielmehr moralisch. Danach sei die in Südafrika von den Buren praktizierte Rassenpolitik nicht länger hinnehmbar, weil sie die Farbigen ihnen zustehender elementarer Freiheitsrechte beraube. Der Krieg endete 1902 mit der Eingliederung der zwei Buren-Freistaaten auf dem Territorium der heutigen Republik Südafrika in das britische Empire. Die Bewertung des Krieges durch die Wesleyan Church lässt Überzeugungen erkennen, deren Muster wir bereits in den Vereinigten Staaten entdeckt hatten. So identifizierten die britischen Methodisten überwiegend das britische Empire mit dem Reich Gottes. Der britische Imperialismus und die militärische Sicherung des Empire leisteten in dieser Perspektive einen positiven und notwendigen Beitrag zur zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit. Um diese Entwicklung zu ermöglichen und abzusichern, seien auch Kriege, wie der gegen die Buren, nötig. Als einflussreichster Verfechter dieser These in der Wesleyan Church kann Hugh Price Hughes (1847–1902) gelten, bei dem sich das Anliegen der Sozialreform und der Glaube an die zivilisatorische Funktion des britischen Empire miteinander verbanden. Hughes stand dem Heiligungsindividualismus, den er sich ausbreiten sah, kritisch gegenüber und sah die Berufung des Methodismus darin, schriftgemäße Heiligung durch die Reform der Gesellschaft auszubreiten. Auch bei Hughes gründet der Patriotismus in einem nationalstaatlich-imperialen Sendungsbewusstsein. Jede Nation habe von Gott ihren besonderen Auftrag erhalten und es sei die Berufung des britischen Empire, Zivilisation und Christentum auszubreiten. Vor diesem Hintergrund erschien ihm die Haltung des Pazifismus völlig unannehmbar. In einer unvollkommenen Welt brauche es auch den Einsatz von Zwangsmitteln, um 26 den Fortschritt zu befördern. Eine nicht unbedeutende Minderheit in der Wesleyan Church verweigerte sich jedoch dieser Beurteilung des Krieges. Kritisch verwies sie auf die mit dem Ethos des christlichen Glaubens im Widerspruch stehende Militarisierung der Gesellschaft und beklagte, dass der Burenkrieg für die dunkle Seite des Imperialismus stehe: für Ungerechtigkeit, Gewinnstreben und Gewalt. In den kleineren methodistischen Kirchen (Primitive Methodist Church, Bible Christians, United Methodist Free Church) überwog die Kritik an den Motiven und den Mitteln des Burenkrieges. Sowohl die hinter dem Krieg stehenden finanz-ökonomischen Interessen als auch das Blutvergießen, zu dem die Auseinandersetzungen führten, wurden kritisch zur 26

324

Vgl. ebd. [wie Anm. 4], S. 24ff.

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

Sprache gebracht. Zugleich enthielt man sich expliziter politische Stellungnahmen und wollte auf keinen Fall als unpatriotisch gelten. Daher wurde die Verschmelzung von christlicher Hoffnung und säkularen Fortschrittsidealen auch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die Entwicklung in Großbritannien bis zum Ersten Weltkrieg belegt, wie der kosmische Kampf zwischen Gut und Böse auf problematische Weise zur Identifizierung der eigenen Nation mit dem Guten, dem Fortschrittlichen, und Zukunftweisenden führen konnte, während die „Anderen“ zur Projektionsfläche für das Böse, weil den zivilisatorischen Fortschritt Hindernde wurden. Dabei verschwand das evangelistische Anliegen nicht, es wurde jedoch in unkritischer Weise in den Dienst einer der britischen Nation zugeschriebenen Sendung gestellt. Kriege, die um dieser Sache willen geführt werden, sind so der theologischen Hemmung und der geistlichen Abscheu gegenüber Krieg und Gewalt entzogen, weil sie mit einem moralischen, sozialreformerischen Impetus versehen und heilsgeschichtlich aufgeladen werden. So tritt die Radikalität einer sich unabhängig von Rasse, Volkszugehörigkeit und Geschlecht der Herrschaft Christi unterstellenden Bundesgemeinschaft zurück hinter dem Banner des Patriotismus. Die größte Befürchtung ist nicht mehr die, Christus nicht treu nachzufolgen, sondern die, als unpatriotisch zu gelten. So verliert die Kirche ihre Vollmacht, kritisches Gegenüber zur Gesellschaft zu sein, was hier konkret bedeutete, „that Wesleyan imperialism was for the most part simply a reflection of broader social attitudes in an age when the rhetoric of empire loomed large in the 27 popular conscienceness“. 3.3 Evangelisation und politische Enthaltsamkeit im Zeichen der ZweiReiche-Lehre: Die Sozialethik der deutschen methodistischen Kirchen während der Zeit des Kaiserreiches Wenn wir historisch nun den Boden des Deutschen Reiches (1871–1918) betreten, dann bleiben wir im Zeitalter des Nationalismus, wir treffen jedoch auf eine für die methodistischen Kirchen andere Situation.28 Die methodistischen Kirchen, die von England sowie den USA aus in Deutschland evangelisierend und gemeindegründend aktiv waren, sahen sich Behinderungen, Verdächtigungen und Verfolgungen ausgesetzt. Martin Kupsch schreibt: 27 28

Hughes, Conscience [wie Anm. 24], S. 28. Einen Überblick bietet Streiff, Patrick P., Der Methodismus in Europa im 19. und 20. Jahrhundert (Emk-Geschichte 50), Stuttgart 2003, S. 104ff.

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Bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts blieb der Kampf um die staatliche Anerkennung als Kirche und die Verleihung der Körperschaftsrechte ein wesentliches Thema in BMK [Bischöflicher Methodistenkirche] und EG [Evangelischer Gemeinschaft], das ihr Verhältnis zu Staat, Gesellschaft und 29 Landeskirchen nachhaltig beeinflusste.

Der Methodismus bestand in Deutschland also als Minderheitskirche. Diese Minderheit bemühte sich, zu zeigen, dass ihr Dasein und Dienst die öffentliche Ordnung des Reiches nicht gefährden würde. Als Minderheitskirche mit ausländischen Wurzeln sah sie sich zudem dem Vorwurf ausgesetzt, ein „undeutsches Gewächs“ zu sein. Entsprechend ausgeprägt waren die Bemühungen der methodistischen Kirchen, ihre patriotische Grundhaltung unter Beweis zu stellen. Insbesondere im Zuge des Ersten Weltkrieges sollte diese Tendenz, die mit einer aufgeladenen nationalistischen Stimmung in der Gesellschaft zusammentraf, stark hervortreten. Das sich herausbildende Überzeugungsmuster war von drei Elementen 30 her bestimmt. Als erstes ist der Obrigkeitsgehorsam zu nennen. Er bezog sich naturgemäß nicht auf die amerikanische Regierung und ihre demokratischen Ideale, sondern auf den deutschen Kaiser, der bedingungslos als die von Gott gegebene Obrigkeit anerkannt wurde. „Ganz im Sinne eines lutherischen Staatsverständnisses“, so schreibt Martin Kupsch, konnte man den Staat als notwendige Ordnungsmacht in der unerlösten Welt postulieren und die staatlichen Aufgaben von der kirchlichen Evangelisationsaufgabe trennen, durch die im Verborgenen das Reich Gottes errichtet werde, das sich erst bei der Parusie offenbare.31

Diese Auffassung lässt Einflüsse des Neuluthertums erkennen, in dem im ausgehenden 19. Jahrhundert Luthers Regimenten-Lehre zu einer ZweiReiche-Lehre weiterentwickelt wurde. Kirche und Staat wurden hier als zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Sphären verstanden, wobei sich das Wirken der Kirche auf das Innere des Menschen, seine Seele und seine Motivstruktur bezieht, während dem Staat die Zuständigkeit für die äußeren Belange zukommt, also auch für den Bereich der öffentlichen Ordnung und der Politik. Dieser sozialethische Denkansatz schien geeignet, der methodistischen Evangelisationsarbeit und Gemeindegründung einen Raum zu eröffnen und zugleich den Eindruck zurückzuweisen, damit würde die öffentliche Ordnung gefährdet. Die Folge war eine strikte Trennung von Glaube und Politik, was wiederum Rückwirkungen auf das Verständnis des 29 30 31

326

Kupsch, Krieg, Bd. 1 [wie Anm. 12], S. 231f. Zum Folgenden vgl. ebd., [wie Anm. 12], S. 228–244. Ebd. [wie Anm. 12], S. 234.

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

Evangeliums hatte. Jedenfalls ist deutlich, dass die gegenwärtigen Wirkungen des Heils ganz auf der Ebene der Innerlichkeit beschrieben wurden, wofür wiederum Strömungen des deutschen Pietismus in Anspruch genommen werden konnten. Dagegen wurde das sichtbare Offenbarwerden des Reiches Gottes, mit dem auch die staatliche Notordnung abgelöst würde, mit der Parusie und damit mit der Zukunft verbunden. Das Problem der hier methodistisch adaptierten Zwei-Reiche-Lehre besteht darin, dass damit der Sphäre des Politischen eine Eigengesetzlichkeit gegenüber Gottes Herrschaftsanspruch zugebilligt und das Geistliche als innere Zuständlichkeit des Menschen so vom Äußeren der Gesellschaft abgetrennt wurde, dass das Evangelium gesellschaftskritische oder auch konstruktive Impulse nicht mehr vermitteln konnte. So ist hier der Grundhaltung einer politischen Abstinenz der Weg gewiesen, die im weiteren Geschichtsverlauf fatale Konsequenzen haben sollte. Als zweites Überzeugungsmoment ist der Geschichtsfatalismus zu nennen. Die lutherische Betonung der Sündhaftigkeit des Menschen und die Darbystische Sicht von der mit Menschenmacht nicht aufzuhaltenden Verfallsgeschichte aller menschlichen „Systeme“ verbanden sich im deutschen 32 Methodismus zu einer von Fatalismus bestimmten Geschichtsauffassung. Kriege, so heißt es im Anschluss an Wesley, seien schrecklicher Ausdruck menschlicher Verderbtheit, und um die Auswirkungen des Bösen einzudämmen, müssten Staaten rechtmäßig Kriege führen. So wird das Recht des Staates, militärische Gewalt einzusetzen, nicht in Frage gestellt, die Dienstpflicht des (christlichen) Soldaten als selbstverständlich akzeptiert. „Auf mögliche Grenzen des Gehorsams, dieser Pflicht nachzukommen, oder auf die Spannung zwischen christlichem Liebesgebot und dem Tötungsauftrag 33 des Soldaten wurde hingegen nicht eingegangen“, was keine Abwendung vom Liebesgebot bedeutete, sondern lediglich, dass sein Anwendungsbereich ganz auf der Ebene der Barmherzigkeit des Einzelnen oder der Gemeindediakonie verortet wurde. In Abkehr von der im Ansatz geschichtsoptimistischen Sicht, wie sie sich bei Wesley findet, steht die Anerkennung des Staates als göttlicher Notordnung jetzt jedoch im Kontext einer ausgeprägt geschichtspessimistischen Perspektive. Der Lauf der Welt ist letztlich menschlicher Beeinflussung entzogen, entscheidend ist, dass der Christ das Heil erlangt, was sonst auch um ihn herum geschehen mag. Der Krieg ist dabei 32

33

Darbystische Einflüsse in den Methodismus der Zeit waren unter anderem vermittelt durch Ferdinand Ernst Ströter, vgl. dazu Hirschfeld, Ekkehard, Ernst Ferdinand Ströter. Eine Einführung in sein Leben und Denken, Inauguraldissertation Greifswald 2010, zu finden unter http://d-nb.info/1037216067/34 [14.12.2017], S. 353ff. Ebd. [wie Anm. 32], S. 237.

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ein Zuchtmittel Gottes. In den Schrecken des Krieges ruft Gott zur Umkehr und straft die Ungerechtigkeit der Menschen. Dieser geschichtsfatalistischen Sicht entspricht drittens eine scharfe Unterscheidung zwischen dem diesseitig Zeitlichen und dem jenseitig Ewigen. Der von Gott verheißene Frieden wird deutlich von dem Frieden unterschieden, den Staaten auf dem Wege von Verhandlungen oder durch die Sozialgesetzgebung herzustellen in der Lage sind. Der göttliche Frieden, soweit er jetzt schon erfahrbar ist, sei ein Seelenfrieden inmitten von allem Kampf und Streit dieser Welt. Weil dieser Herzensfrieden Voraussetzung für echten Völkerfrieden ist, darum sahen die methodistischen Kirchen ihre Aufgabe in der Evangelisation und Gemeinschaftsgründung, die diesen inneren Frieden mit Gott erfahrbar werden lassen. Christliches Friedensengagement wurde so auf evangelistische Tätigkeit, eine individuelle Lebensgestaltung entsprechend der Friedensgesinnung und der Fürbitte reduziert und umfasste keine Verantwortung für die Gestaltung der gesellschaftlich-politischen Zustände und Entwicklungen.34

Überblickt man das so konturierte Überzeugungsmuster, dann zeigt sich, wie stark die Einstellung der methodistischen Kirchen im Kaiserreich Spiegel gesellschaftlicher Strömungen und Tendenzen war. Denn was hier beschrieben wurde, wirkte keineswegs als ein Fremdkörper im Organismus des Deutschen Reiches, sondern trieb auf einer Welle des Nationalismus, dem alles verdächtig erschien, was sich der Verherrlichung des eigenen Volkes, Reiches und Monarchen entgegenzustellen wagte. Der Methodismus aber wollte leben, nicht um seiner selbst, sondern um seiner Mission willen, Menschen in eine versöhnte persönliche Beziehung mit dem lebendigen Gott zu rufen. Diese versöhnte Beziehung sollte auch als Versöhnung zwischen Menschen sichtbar werden, daran besteht kein Zweifel. Auch dürfte wenig Anlass dazu bestehen, die evangelistische Leidenschaft und die am Evangelium orientierte persönliche Lebensführung, die um der Zugehörigkeit zu einer Freikirche willen auch mit Benachteiligungen und Diskriminierungen verbunden waren, aus heutiger Sicht in billiger Herablassung zu karikieren. Im Gegenteil dürfte an der Minderheitenerfahrung zu einer Zeit, die die Freiheit einer pluralistischen Staatsordnung noch nicht kannte, einiges zu lernen sein. Kritisch zu vermerken ist gleichwohl das Verblassen der Vorstellung davon, dass das Christenleben nicht lediglich in der beseligenden inneren Erfahrung 34

328

Ebd. [wie Anm. 32], S. 238.

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

göttlichen Friedens ruht, sondern ein Hineingestelltwerden in einen kosmischen Kampf bedeutet, in den diejenigen aktiv hineingestellt sind, die Jesus Christus nachfolgen. Im Anschluss an eine These von Jeffrey Williams lässt sich formulieren: Wer anzuerkennen bereit ist, dass der Konflikt zwischen Gott und Satan durch das eigene Leben hindurchgeht, kann darauf verzichten, eine Menschengruppe (nämlich das eigene Volk und Vaterland) mit dem Guten, und eine andere (die Kriegsgegner) mit dem Bösen zu identifizieren. Umgekehrt scheint es einen zumindest historischen Zusammenhang zu geben zwischen der Verinnerlichung des Motivs vom göttlichen Frieden und der Neigung, sich als Christ auf Kampfhandlungen und Gewaltmaßnahmen im zwischenmenschlichen und zwischenstaatlichen Bereich einzulassen, also den Wirren und Schrecken des Krieges nicht auszuweichen, von denen der Herzensfrieden dann der beseligende Rückzugsort ist. Problematisch scheint weiter, dass aus der sachgemäßen Unterscheidung zwischen göttlichem Heilswirken und menschlicher Verantwortung aus Glauben eine Trennung beider Sachmomente wurde. Damit gewann wiederum ein Patriotismus Raum, der sich freilich in diesem Fall nicht aus einem nationalstaatlichen Messianismus speiste, sondern aus der Vorstellung vom Staat als Notordnung, der von Gott eingesetzt und dazu berufen sei, die Wirksamkeit des Bösen (identifiziert mit politischen Gegnern im Inneren und Feinden von außen) einzudämmen. Es bleibt angesichts dieser Geschichte zu beklagen, dass es blutige Kriege und erschreckende Grausamkeiten brauchte, bevor der Methodismus das Potential seines Connexionalismus, also seiner Grenzen überschreitenden Verbundenheit, realisieren konnte.

4 Vom Patriotismus zum Pazifismus: Die zwei Weltkriege und ihre Bedeutung für das methodistische Friedensengagement 4.1 Patriotismus und Pazifismus in der amerikanischen Methodist Church Der 1. Weltkrieg wurde in vielerlei Hinsicht zu einem Einschnitt der modernen Geistes- und auch Theologiegeschichte. Marilyn Ward schreibt, bezogen auf unser Thema:

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The rise of Pacifism in America, including American Methodism, can be traced to a shifting perception of World War I. The Great War had not made 35 the world safe for democracy. It had not ended war.

Damit ist nicht gesagt, dass der Pazifismus, unvermittelt aus dem Dunkel des großen Krieges hervortrat. Pazifistische Strömungen hatte es, auch in den methodistischen Kirchen, bereits vorher gegeben. Es war jedoch der 1. Weltkrieg, der den Pazifismus in den Methodistenkirchen der USA und Großbritanniens zu einer wirkmächtigen Kraft werden ließ. Bereits 1908 hatte die MEC ihren Bekenntnisgrundlagen ein Soziales Bekenntnis hinzugefügt.36 Darin spiegelte sich das Bewusstsein, als Kirche den Reformbedarf in der amerikanischen Gesellschaft anzumahnen und sich dabei auf die Seite der Arbeiter zu stellen. Das Soziale Bekenntnis enthält auch die Verpflichtung der Kirche „to peace throughout the world, to the rule of justice and law among nations, and to individual freedom for all people and to the rule of justice and law among nations”. Der Text trägt das Gewand des liberalen Fortschrittglaubens, dessen Ziel die Errichtung des Reiches Gottes auf Erden durch die Ausbreitung der Werte der westlichen Zivilisation ist. Entsprechend allgemein war in dem Bericht, mit dem der Textentwurf der Generalkonferenz vorgestellt wurde, auch die biblische Begründung ausgefallen. Deutlich wurde dagegen in der ebenfalls vor der Generalkonferenz 1908 vorgetragenen Bischofsbotschaft, dass die Friedensvision der Bischöfe, wie Stephen Long ausführt, „is not grounded primarily on Christological arguments; instead it is supported by the implementation 37 of a public policy, the spreading of civilization – that is, democratic ideas“. Die Ausbreitung der Zivilisation bleibt auch in den folgenden Jahrzehnten das vorherrschende Leitmotiv. Als die Generalkonferenz 1924 mit der „Springfield Declaration on World Peace“ öffentlich ihren Friedenswillen bekannte, stach erneut der Pragmatismus hervor, mit dem das Anliegen begründet wurde: „Million of men have died heroically in ‚a war to end war‘. What they undertook must be finished by methods of peace“.38 So ist der Friedensdienst die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, weil er sein Ziel nicht erreicht hat, mehr noch, weil das Erreichte durch die moder35

36

37 38

330

Marilyn S. Ward, „Must the Christian Church Condemn All Use of Military Force?“. The Methodist Episcopal Church and the Endorsement of World War II. In: Methodist History 35 (1997), S. 157–168, hier: S. 162. Vgl. Bath, Rainer, Methodismus und Politik. Die sozialen Grundsätze der Evangelischmethodistischen Kirche als Ausdruck ihres politischen Engagements, Stuttgart 1994, S. 16ff. Long, Discipline [wie Anm. 16], S. 43. Journal of the General Conference (1924), S. 721.

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ne Kriegsführung auf dem Spiel steht. Was droht, ist die „Zerstörung der Zivilisation“, der sich die „Nation und die Kirche“ mit Friedensinitiativen und -aktionen entgegenzustellen haben. Und unverändert gilt: „America should lead the way“.39 In den folgenden Jahren widmete sich die von der Generalkonferenz 1924 eingesetzte Commission on World Peace der Herausgabe von Materialien zur Friedenserziehung, der Entwicklung von Friedensinitiativen und der Vernetzung mit säkularen und anderen kirchlichen Friedensgruppen. In den Jahren zwischen 1920 und 1940 entwickelte sich der Pazifismus zu einer einflussreichen politischen Größe innerhalb des amerikanischen Methodismus. „By 1939, the anti-war stance of the Methodist Church approached 40 absolute pacifism“. So hieß es in der Bischofsbotschaft der Vereinigungskonferenz von 1939:41 We believe that war is utterly destructive and is our greatest collective sin and a denial of the ideal of Christ. We stand upon this ground, that The Method42 ist Church cannot endorse war or participate in it.

Ist damit ein Paradigmenwechsel vom Patriotismus zum Pazifismus hin markiert? Ja lautet die Antwort insofern, als sich in den Jahren zwischen den zwei Weltkriegen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Methodistenkirche die Einsicht durchsetzte, dass die Sicherung und Bewahrung des Friedens nicht länger Angelegenheit eines einzelnen Staates sein könne. Die Gründung des Völkerbundes 1920 und die schrittweise Implementierung eines internationalen Vertragswerkes, das Kriege verhindern oder zumindest in ihrer Durchführung begrenzen sollte, wurden von der Methodist Church nachdrücklich unterstützt. In diesem Umfeld konnte nun auch die Einsicht in den supranationalen Charakter der Kirche Jesu Christi gedeihen, zumal die Methodist Church selbst mit der Generalkonferenz ein oberstes legislatives Organ besaß, in dem Delegierte verschiedener Länder und Kontinente miteinander berieten und entschieden (allerdings noch auf Jahrzehnte aus einer dominant US-amerikanischen Perspektive). So finden auch Bestrebungen um die Implementierung völkerrechtlicher Institutionen zur Kriegsvermeidung bzw. Eindämmung von Kriegen die Unterstützung der amerikanischen Methodisten. Doch drängt sich der Eindruck auf, dass diese Einsicht 39 40 41 42

Ebd. [wie Anm. 38]. Ward, Christian Church [wie Anm. 35], S. 165. Es vereinigten sich dort die seit 1844 getrennten Methodist Episcopal Church und die Methodist Episcopal Church, South. Zitiert nach Ward, Christian Church [wie Anm. 35], S. 165f.

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weniger aus den theologischen Quellen des Methodismus geschöpft ist, sondern die Kirche Resonanzraum gesellschaftlicher Entwicklungen in den westlichen Staaten war. Nicht zu unterschätzen ist auch der Beitrag, den die isolationistische Grundstimmung in der amerikanischen Bevölkerung am Vorabend des 2. Weltkrieges zur Stärkung des innerkirchlichen Pazifismus leistete. In der Bevölkerung herrschte eine weitgehende Ablehnung gegenüber dem Gedanken, dass Amerika sich erneut in einen auf dem europäischen Kontinent ausgetragenen Konflikt einmischen sollte. Frieden – für Amerika – schien am ehesten durch politische Neutralität im Blick auf Nazi-Deutschland bewahrt werden zu können. Dieser Stimmungslage entsprechend erklärte die Generalkonferenz der Methodist Church 1940: Peace right now will best be served by American neutrality […] We must not yield to the fallacy that the United States must get into the war if it is to es43 tablish a new peace basis. We can serve [peace] best by staying out.

Im größeren Kontext wird deutlich, dass der Übergang vom Patriotismus zum Pazifismus nicht durch tiefere theologische oder sozialethische Einsicht motiviert war, sondern seine – fragile – Basis in der Fortsetzung des Programms eines liberalen Fortschrittsglaubens hat. Ein wirklicher Paradigmenwechsel hatte also nicht stattgefunden. Richtig ist: Die patriotische Stimmlage trat in den Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen (vorläufig) zurück. In den Vordergrund rückte die gemeinsame Friedens- und Fortschrittsvision der – wie sie später genannt werden wird – „westlichen Wertegemeinschaft“. Und genau im Begriff der Werte liegt das charakteristische Kontinuitätsmoment. Die Abwendung vom Krieg hatte ihren Grund darin, dass Kriege nicht länger die Ausbreitung der Werte der westlichen Zivilisation zu fördern vermochten, sondern die moderne Kriegsführung sich in eine Bedrohung der Zivilisation und ihrer Werte gewandelt hatte. Höchstes moralisches Prinzip blieb die Verteidigung bzw. Förderung des liberalen Freiheitsideals: Political liberty is indeed nothing less than a necessary fruition of the gospel of Jesus Christ: so that devotion to it must, of course, command the Christian’s utmost resource, being conditioned only by that loyalty to the Living God Himself, by which alone free government can either be, or be made strong.44

43 44

332

Zitiert nach ebd. [wie Anm. 35], S. 166. Zitiert nach Long, Discipline [wie Anm. 16], S. 55f.

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Höchsten Einsatz unterhalb der Gottesverehrung verdient und erfordert also die von Amerika und der westlichen Welt hochgehaltene Verteidigung der Idee der Freiheit des Individuums. Dieser Idee konnte nicht eine unangepasste, die gesellschaftliche Ordnung in Frage stellende radikale Nachfolgegemeinschaft entsprechen, sondern nur eine in der Mitte der Gesellschaft stehende und diese stützende etablierte Kirche. Kurz gesagt: Zwischen 1920 und 1940 erwies sich der uns heute radikal erscheinende absolute Pazifismus der Methodist Church gerade darin als „Mainstream“-Position, dass er die isolati45 onistische Grundstimmung in der amerikanischen Gesellschaft stützte. Nach Stephen Long kann die Ausrichtung an den Werten der liberalen Freiheitsidee anstatt einer eingehenden Beschäftigung mit der biblischen Botschaft am ehesten erklären, warum die Methodistenkirche der Zwischenkriegszeit mit dem Eingreifen der USA in den 2. Weltkrieg den absoluten Pazifismus nicht durchzuhalten in der Lage war. Die Generalkonferenz 1944 nahm die seit dem 19. Jahrhundert vertraute Argumentationslinie auf, wonach die Bedrohung der amerikanischen bzw. westlichen Zivilisation die Notwendigkeit des Einsatzes von Militärmaßnahmen – in diesem Fall gegen Nazi-Deutschland – begründete: We are well within the Christian position when we assert the necessity of the use of military forces to resist an aggression which would overthrow every 46 right which is held sacred by civilized men.

Der Pazifismus könne daher keine die kirchliche Haltung leitende Grundüberzeugung sein. Zugleich verteidigte die Methodistenkirche die Gewissensfreiheit all jener, die aus religiöser (oder anderer) Überzeugung den Dienst an der Waffe ablehnten. Damit ist eine erkennbare, wenn auch, so Long, doppelbödige Haltung eingenommen: Aus Sicht der Methodistenkirche haben Pazifisten Unrecht, denn die Zivilisation muss vor ihrer Zerstörung bewahrt werden. Ihre Haltung entspricht somit nicht der Überzeugung der Kirche. Die Kirche stellt sich jedoch schützend auch vor eine pazifistische Grundhaltung, nicht weil sie in einer am biblischen Zeugnis gewonnenen Überzeugung wurzelt (das ist gar nicht das Thema), sondern weil der Schutz des Gewissens zum Kanon der Freiheiten der liberalen Gesellschaft gehört, deren Bestand es – notfalls – mit militärischen Mitteln zu verteidigen gilt. Long schreibt: 45

46

Ähnliche Tendenzen, die allerdings im Ergebnis ein differenzierteres Ergebnis zeigen, lassen sich für Großbritannien zeigen. Michael Hughes urteilt: „The drift towards pacifism among some Methodists was part of a wider development visible throughout British society during the Great War“, Conscience [wie Anm. 24], S. 65. Book of Discipline of the Methodist Church (1944), S. 575.

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What is continuous through all of these transitions is the theme of the doctrine of civilization – the notion that the highest good is to place no external restraints on individual conscience. Freedom of individual conscience is central to the belief that our civilized form of government is based on the con47 sent of the governed.

Long möchte herausarbeiten, dass sich hier ein Verständnis von Gewissensfreiheit ausspricht, das unvereinbar mit dem im Ethos der Anfänge wurzelnden Kirchenverständnis der Methodistenkirche ist. Denn wenn eine Kirche einen Standpunkt bezieht (sei er nun pro oder contra Krieg) und gleichzeitig erklärt, jeder mag seinem Gewissen gemäß zu einer anderen Haltung gelangen, dann ist nach Long der Bund gebrochen, der das Herzstück des Methodismus ist. Ich halte dieses Urteil für nicht hinreichend begründet. Historisch gesehen unterschlägt Long, dass der Generalkonferenz zwei Berichte zur Annahme vorgelegt wurden. Dabei empfahl der „Majority Report“ den Delegierten, den Dienst an der Waffe ebenso wie die Kriegsdienstverweigerung als ethisch gleichrangige Optionen zu akzeptieren, während der – dann angenommene – „Minority Report“ die Aufgabe des bisherigen pazifistischen Standpunkts bedeutete und Kriegsdienstverweigerern „lediglich“ eine abweichende Gewissensentscheidung einräumte. In der Diskussion der Entwürfe ging es also weniger um die Kategorie des Gewissensentscheids, sondern um die Beibehaltung oder Abkehr vom Pazifismus als offizieller Position der Kirche. Longs Analyse hat ihre Stärke ohne Zweifel darin aufweisen zu können, dass das sich durch alle Positionsveränderungen hindurchziehende Kontinuitätsmoment die Verteidigung der Zivilisation ist. Es lässt sich aus den Quellen durchaus zeigen, dass die Hinwendung und erneute Preisgabe des Pazifismus in der Methodist Church in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lediglich Variationen ein und desselben Themas sind. Allerdings stellt Long nicht hinreichend das Diskontinuitätsmoment in Rechnung, das die Entwicklung in Europa, genauer: in Deutschland seit 1933 kennzeichnete. Der Nationalsozialismus war nicht einfach ein Angriff, er war ein Bruch mit den Werten der westlichen Zivilisation. Was hier aber das Entscheidende ist: Er stellte einen Angriff auf das Evangelium, genauer: auf die Freiheit seiner Verkündigung sowie die Freiheit des Glaubens dar und entlarvte sich 48 so als – mit Karl Barth gesprochen – „sich dämonisierender“ Staat. Nicht die „Dienerin Gottes“ aus Röm 13, sondern das „Tier“ in Offb 13 ist dafür 47 48

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Long, Discipline [wie Anm. 16], S. 59. Vgl. Barth, Karl, Rechtfertigung und Recht, Zürich1998, S. 13.

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das sozialethische Leitmotiv. Die grausamste Manifestation seines Wesens stellte der Versuch dar, das Judentum in Europa auszurotten. Die Antwort auf einen überbordenden Patriotismus kann nicht ein Perfektionismus sein, in dem die Frage nach der Beurteilung der jeweils herrschenden Regierung aufgegeben ist. Allerdings bleibt Longs Auffassung richtig, dass der – von ihm präferierte – Pazifismus oder auch dessen Ablehnung theologisch begründet werden müssen. Damit verschiebt sich auch der Adressatenfokus kirchlicher Erklärungen zur Kriegsfrage: Primärer Adressat kirchlicher Erklärungen muss die Kirche selber sein, nicht der Staat oder die Regierung. Denn nur die Kirche selbst kann sich vom Wort Gottes her Rechenschaft über ihr Handeln geben. 4.2 Christentum und Patriotismus im deutschen Methodismus In Deutschland finden wir im Ergebnis des 1. Weltkrieges eine deutlich andere Diskussionslage vor. Anders als in den USA und in Großbritannien fanden die kleinen pazifistischen Gruppierungen hier keinen Rückhalt in den Kirchen, auch nicht in den methodistischen, was auch darin seinen Grund haben dürfte, dass „sich die deutsche Friedensbewegung an radikaldemokratisch-sozialistischen Ideen orientierte und auch daher von den Kirchen abge49 lehnt wurde“. Die Furcht vor Sozialismus und Sittenlosigkeit zieht sich als Topos durch die methodistischen Texte der Zeit und führte zu einer zwiespältigen Haltung gegenüber der Weimarer Republik.50 Einerseits erhoffte man sich endlich eine staatliche Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, anderseits tat man sich schwer mit einer Parteiendemokratie, die an die Stelle der doch lange Zeit verehrten Monarchie getreten war. Die Haltung zum Krieg bzw. der Umgang mit der Niederlage im 1. Weltkrieg blieb spannungsreich, wie ein Zitat von Reinhard Kücklich von der Evangelischen Gemeinschaft verdeutlichen kann. Er schreibt: Wir Frommen sind ja die Stillen im Lande. Politik zu treiben ist nicht unsere Aufgabe. Aber wir sind vaterlandsliebende Menschen, dem Vaterland geweiht mit Herz und mit Hand. Wir stehen in der Betätigung unserer Vaterlandsliebe hinter niemand zurück.51

49 50

51

Kupsch, Krieg, Bd. 1 [wie Anm. 12], S. 320. Vgl. dazu Deiss-Niethammer, Birgit, Das Verhältnis der methodistischen Freikirchen in Deutschland zu Staat und Gesellschaft in der Zeit der Weimarer Republik, Stuttgart 1985. Zitiert nach ebd. [wie Anm. 50], S. 21.

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In dieser Aussage spiegelt sich ein Selbstverständnis, der zufolge sich Christen nicht in die (Tages)Politik einzumischen haben, wogegen die prinzipielle Vaterlandstreue als Implikat des Glaubens und folglich nicht als Widerspruch zu einer apolitischen Haltung verstanden wird. Diese Haltung schlug sich auch in der Beurteilung des 1. Weltkrieges im deutschen Methodismus nieder.52 Christentum und Patriotismus rückten auf das Engste zusammen, Christsein impliziert die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Der Krieg wurde in das apokalyptisch anmutende Schema eines kosmischen Konflikts eingezeichnet, in dem die Kriegsgegner zu Werkzeugen des Teufels erklärt und die eigene Sache als gerecht und heilig verteidigt wurde. Zwar wurde der Krieg nicht glorifiziert, doch stand außer Frage, dass Gott ihn als Erziehungsmittel gebraucht, dass er also als Zuchtrute Gottes zu verstehen sei. In dieser geschichtstheologischen Sicht lenkt Gott die Geschichte durch Segen und Strafe hindurch. So liegt die Geschichte ganz in der Hand des göttlichen Weltenlenkers, demgegenüber menschliche Bemühungen, auch Friedensbemühungen, nichts auszurichten vermögen. Wahrer Frieden, so wird immer wieder betont, sei nicht das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Staaten. Frieden zu schaffen blieb damit letztlich dem unverfügbaren Willen Gottes vorbehalten. Wirkliche „Friedensarbeit“ bestand demgegenüber in dem Be53 mühen, Menschen zum Glauben, zum inneren Frieden mit Gott zu führen.

Solcherart patriotisch und zugleich geschichtsfatalistisch geprägte Einstellungen behinderten in Deutschland massiv die Ausbildung einer supranationalen Identität der methodistischen Kirchen. Die Entstehung zaghafter Ansätze in diese Richtung war in der Methodistenkirche maßgeblich dem deutsch-amerikanischen und seit 1912 auch für Deutschland zuständigen Bischof John L. Nuelsen zu verdanken, der sich als überzeugter Internationalist und Pazifist dem Geist des Nationalismus entgegenstellte und für eine neutrale Haltung der methodistischen Kirchen warb.54 Die Parteinahme der amerikanischen Mutterkirche für die Alliierten im 1. Weltkrieg setzte die deutschen Methodistenkirchen jedoch unter Rechtfertigungsdruck. Dieser 52 53

54

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Vgl. dazu Kupsch, Krieg, Bd. 1 [wie Anm. 12], S. 323–335. Ebd. [wie Anm. 12], S. 334. In diese Richtung weisen auch die von Peter Samuel Begaße ausgewerteten Predigten der Zeit; vgl. Der Einfluss des Ersten Weltkrieges auf die Bischöfliche Methodistenkirche und die Evangelische Gemeinschaft in Deutschland, Stuttgart 1985, S. 32ff. Vgl. Wilhelm Nausner, Methodismus und Weltmission. Bischof John Louis Nuelsen als prägende Gestalt des Zeitabschnitts 1912–1940. In: Weyer, Michel (Hrsg.), Der kontinentaleuropäische Methodismus zwischen den beiden Weltkriegen, Stuttgart 1990, S. 11–38.

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Druck dürfte zu den dezidierten Loyalitätserklärungen gegenüber dem deutschen Kaiser und den Bestrebungen im deutschen Methodismus um mehr Selbständigkeit gegenüber den amerikanischen Mutterkirchen mit beigetragen haben, auch wenn die „Connexio“ formal zu keinem Zeitpunkt aufgekündigt wurde.55 4.3 Ein gerechter Krieg: Die Einstellung zum 2. Weltkrieg im britischen Methodismus Ähnlich wie in den USA hatten auch in Großbritannien die Schrecken des 1. Weltkrieges zu einer deutlichen Stärkung des inner- und außerkirchlichen Pazifismus geführt. 1933 sammelten sich die methodistischen Pazifisten in der Methodist Peace Fellowship, die in den Folgejahren rapide Mitgliederzuwächse verzeichnete.56 Zu den einflussreichsten Verfechtern des Pazifismus in der britischen Wesleyan Church gehörten Donald Soper (1903–1998) und Leslie Weatherhead (1893–1976). An diesen beiden herausragenden Personen lässt sich das Ringen um eine angemessene Haltung zum 2. Weltkrieg gut illustrieren. Donald Soper war überzeugt davon, dass Krieg unvereinbar mit der Lehre und dem Beispiel Jesu Christi sei. Er hatte großes Zutrauen in die Überzeugungskraft symbolischer Handlungen, sowohl auf persönlicher wie auf politischer Ebene. So hoffte er, dass die Friedensbewegung die britische Regierung dazu bewegen können würde, Hitler gegenüber eine einseitige Abrüstung zu erklären und so die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zu verringern. Soper gehörte zu denjenigen Pazifisten, die umfassende gesellschaftliche Reformen forderten, weil ihrer Auffassung nach die tieferen Ursachen von Kriegen in den Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Wirtschaftssystems lägen. Sein Pazifismus war insofern eingebettet in ein radikalreformerisches Programm, das Forderungen von der Beschränkung des Waffenhandels über gerechte Löhne bis hin zum Verbot des Glückspiels enthielt. Den Aufrüstungsmaßnahmen der britischen Regierung in den 1930er Jahren setzten sich Soper und die Methodist Peace Fellowship vehe57 ment entgegen. Die Konferenz der Wesleyan Church bemühte sich, die Kirche an der Frage des Kriegsdienstes nicht zerbrechen zu lassen. So erklärte die Konferenz 1937, dass Krieg im Widerspruch zum Evangelium von Jesus Christus 55 56 57

Vgl. Deiss-Niethammer, Verhältnis [wie Anm. 50], S. 45ff. Zum Folgenden vgl. Hughes, Conscience [wie Anm. 24], S. 79–139. Vgl. Frost, Brian, Goodwill on Fire. Donald Soper’s Life and Mission, London 1996.

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stehe, zugleich jedoch empfahl sie, das Gewissen des Einzelnen zu schützen, da es innerhalb der Wesleyan Church keine Einigkeit in der Beurteilung des Militärdienstes gebe.58 Einigkeit bestand jedoch hinsichtlich der Überzeugung, dass der Einsatz für den Frieden eine ökumenische Basis brauche, um nachhaltig wirksam zu sein, weshalb die Konferenz die Kirchen- und Ländergrenzen überschreitende Zusammenarbeit im Rahmen der entstehenden ökumenischen Bewegung suchte. Der Kriegsausbruch 1939 verschärfte die Spannungen zwischen Pazifisten und Nichtpazifisten innerhalb der Wesleyan Church. Eine überzeugt pazifistische Gruppe hielt daran fest, dass jeder Krieg unbeschreibliches Leid über unschuldige Menschen bringe, und berief sich darauf, in ihrem Gewissen an die Botschaft der Bibel gebunden und daher weder willens noch in der Lage zu sein, den Militärdienst anzutreten. Methodisten, die diesen Standpunkt artikulierten, wurden, so Michael Hughes, in ihrer Kirche „tolerated; they were not necessarely always respected or treated with par59 ticular graciousness”. Vereint war die Kirche in ihrem praktischen Einsatz, die Folgen des Krieges auf britischem Boden zu mildern, indem vom Luftkrieg betroffenen Familien Unterstützung und Hilfe zuteil oder die Evakuierung von Kindern aus gefährdeten Gebieten organisiert wurde. Nicht strittig waren auch die Begleitung und Fürsorge für die zum Militärdienst eingezogenen Soldaten. Unter dem Eindruck der von den Nazis verübten Gräueltaten überdachte der bereits erwähnte Leslie Weatherhead seine pazifistische Haltung und gelangte zu der Überzeugung, dass eine internationale Ordnung danach verlange, den Untaten Nazideutschlands notfalls auch mit militärischen Mitteln entgegenzutreten. Er führte aus: Force cannot make a bad man good, but it can and I think ought to limit the scope and extent of the evil he pleads […] I used to think that it might be better to be invaded than to fight, but a realization of the doctrines which those hold who are threatening us makes me feel that it would be wrong not to resist that for which they stand.60

Die Mehrheit der Methodisten war ihm in dieser Einschätzung zu folgen bereit. Dabei stach das moralische Argument alle weiteren Überlegungen aus. War Hitler-Deutschland als das Böse identifiziert, dann stand die Notwendigkeit, diesem auch mit militärischen Mitteln zu widerstehen, außer Frage. Die eigene moralische Überlegenheit erlaubte es auch, die Frage nach 58 59 60

338

Vgl. ebd. [wie Anm. 57], S. 101f. Ebd. [wie Anm. 57], S. 132. Zitiert nach ebd. [wie Anm. 57], S. 115.

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der Angemessenheit bestimmter militärischer Mittel, wie Flächenbombardements oder die Vernichtung wertvollen Kulturerbes in Deutschland, zurückzustellen. Überblicken wir den Zeitabschnitt, der den 1. und den 2. Weltkrieg umfasst, dann lassen sich folgende einordnende Feststellungen treffen: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts markiert für die Entwicklung der methodistischen Friedensethik im angloamerikanischen Raum eine Phase der Ungleichzeitigkeiten. Das bedeutet im Blick auf den angloamerikanischen Bereich, dass einerseits Motive des 19. Jahrhunderts nachwirken. Zu ihnen gehört vor allem das Motiv des Schutzes und der Verteidigung der Zivilisation, also der liberalen Demokratie und ihrer Freiheitsideale. Demgegenüber tritt die Semantik persönlicher Sünde weithin zurück. Wenn von Sünde überhaupt noch gesprochen wird, dann ist damit ein strukturelles Böses gemeint. Doch auch innerhalb des Leitparadigmas Bewahrung der Zivilisation kommt es zu signifikanten Verschiebungen. Zu nennen ist erstens das Aufkommen des Pazifismus in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Zweitens ist auf die wachsende Einsicht in die Notwendigkeit der internationalen Kooperation der Kirchen sowie auf das erhöhte Bewusstsein für den supranationalen Charakter der Kirche hinzuweisen. Dem entspricht das Bewusstsein, aus Glaubensverantwortung Weltverantwortung wahrzunehmen und eine – historisch neue – Selbstzurücknahme des Patriotismus. Dabei bleibt das geschichtstheologische Leitparadigma das des Fortschritts hin zum Reich Gottes als einem Reich des Friedens und der Gerechtigkeit. Im Rückblick fällt der nahezu gänzliche Ausfall theologischer Reflexionen zur Frage von Krieg und Frieden aus. Bestimmend sind vielmehr ein „christliche[r] Humanismus, die optimistische Friedenshoffnung und das 61 Vertrauen auf Moralität und Vernunft“. Ein Ringen um das rechte Verstehen der biblischen Botschaft und ihrer Konsequenzen für die Christusnachfolge des Einzelnen sowie den Auftrag der Kirche findet nur vereinzelt und am Rande statt. Im Ganzen gilt, dass „many of the debates that took place were all too often articulated in a language that merely echoed the mantras of the broader secular debate beneath a patina of Christian rhetoric“.62 Die besondere Gefährlichkeit dieser Situation lag darin, dass ein christlicher Humanismus, ob pazifistisch oder nichtpazifistisch, umso heller leuchten musste, je dunkler die Folie war, von der er sich abhob. Und da waren die Schrecken, die von Hitler-Deutschland ausgingen, in einer bis dato einzigartigen Weise finster. In einer von Kategorien wie Zivilisation und individueller Freiheit 61 62

Kupsch, Krieg, Bd. 1 [wie Anm. 12], S. 491. Hughes, Conscience [wie Anm 24], S. 109.

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bestimmten Diskussion aber vermag die Kirche Jesu Christi nicht die Orientierung zu gewinnen, die ihr allein im Zuspruch und Anspruch des Evangeliums zuteilwird. Es droht immer die Gefahr, „Vorletztes“ und „Letztes“ zu vermengen und gebotene Unterscheidungen zu vernachlässigen. In Deutschland finden sich die methodistischen Kirchen als um staatliche Anerkennung ringende Minderheitskirchen, deren Einbindung in eine die Kriegsfeinde einschließende „Connexio“ unter besonderen Rechtfertigungsdruck setzt. Von daher bewegen sich Methodistenkirche und Evangelische Gemeinschaft auf dem schmalen Grat zwischen funktionaler Abgrenzung vom und loyaler Anpassung an den Staat. Sie folgen also einem apolitischen Grundsatz, wonach der Auftrag der Kirche die Ausbreitung des Evangeliums und nicht die Einmischung in die Politik sei, und suchen durch eine fast schon bedingungslose Versicherung des Patriotismus das eigene 63 institutionelle Überleben zu sichern. In einem so stark auf Glaubenserweckung und -stärkung ausgerichteten Gefüge ist der Rekurs auf die Bibel von fundamentaler Bedeutung. Doch was hier zur Sprache kommt bzw. kommen darf, ist eher ein Kanon im Kanon. Die Rezeption der Bibel ist „gereinigt“ von allen Bezügen, in denen der Anspruch des Evangeliums auf soziale Relevanz und öffentliche Verantwortung zum Tragen kommt. So haben wir es auch hier mit einer problematischen Reduktion des Glaubensfundaments zu tun. Sie stärkt vordergründig die Gemeinde nach innen, nimmt ihr aber ihre Urteils- und Widerstandsfähigkeit gegenüber kritischen Entwicklungen in Staat und Gesellschaft.

5 Auf dem Weg zu einem gerechten Frieden. Entwicklungen vom Ende des 2. Weltkrieges bis zur Jahrtausendwende Der Kontext der im Folgenden zu skizzierenden Entwicklungen ist erstens durch die Aufteilung der Welt in einen östlichen und einen westlichen Block sowie die sich verschärfende Blockkonfrontation gekennzeichnet. Nationalstaatliche Interessen verlieren in dem Maße an Bedeutung, wie sie sich in ein Bündnisgefüge einzufinden haben und in die gemeinsame Wahrnehmung von Blockinteressen eingebunden sind. 63

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Martin G. Kupsch fasst zusammen: „Während die geschichtstheologische Deutung des Zeitgeschehens im angloamerikanischen Bereich religiöse und politisch-gesellschaftliche Ebene miteinander verklammerte und die Verantwortung der Kirche in den politischen Fragen von Krieg und Frieden begründete, führt sie im deutschen Bereich eher zur Trennung der Ebenen und ließ die Kirche für die politische Gestaltung der Welt nicht zuständig erscheinen“, Krieg, Bd. 1 [wie Anm. 12], S. 341.

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Das Bild des Ost-West-Konflikts erweitert sich zweitens zunehmend um die Wahrnehmung der Spannungen zwischen dem wohlhabenden Norden und den ärmeren Staaten des globalen Südens. Die Überwindung des Kolonialismus und seiner Folgen rücken das Problem globaler wirtschaftlicher Ungerechtigkeiten schärfer in den Blick und führen letztlich zu der Einsicht, dass Frieden nicht ohne Gerechtigkeit und Gerechtigkeit nicht ohne Frieden zu haben ist. Drittens gewinnt das Problem des Krieges eine qualitativ neue Dimension mit der Entwicklung, Erprobung und dem (erstmaligen) Einsatz nuklearer Waffen. Atomkriege markieren eine Kategorie der Kriegsführung, bei der die Auslöschung des Gegners um den Preis der Selbstvernichtung möglich geworden ist. Zudem sind Atomkriege stets entgrenzte Kriege, insofern es in ihrer Dynamik liegt, dass die Erde überhaupt unbewohnbar zu werden droht. Viertens verändert sich das Umfeld, in dem die Kirchen arbeiten, infolge sukzessiver, regional unterschiedlich verlaufender, aber in der Richtung übereinstimmender Säkularisierungsschübe. Von ihnen sind nicht nur die Kirchen in den Ostblockstaaten betroffen, die sich einer aggressiven atheistischen Propaganda ausgesetzt sehen. Auch in den westlichen Ländern sind die Kirchen, zumindest was ihre Bindungskraft und öffentliche Reichweite angeht, seit den späten 1960er Jahren massiv auf dem Rückzug, und das ungeachtet institutioneller Beharrungsmomente. Im wachsenden Bedeutungsverlust ist ein wesentlicher Faktor für das sich verstärkende Bemühen der Kirchen um ein größeres ökumenisches Miteinander zu sehen. 5.1 Auf dem Weg zum „unentschiedenen Pazifismus“: Die kritische Distanznahme zur US-amerikanischen Regierung in der United Methodist Church Die 1968 durch Vereinigung von Methodistenkirche und Evangelischer Gemeinschaft entstandene United Methodist Church (UMC; in Deutschland: Evangelisch-methodistische Kirche; EmK) entwickelte sich zunehmend zu einer auch in der Praxis weltweiten Kirche, deren Generalkonferenz in allmählich wachsender Zahl Delegierte, welche die Jährlichen Konferenzen außerhalb der Vereinigten Staaten vertraten, zusammenbrachte. Zugleich blieben die Vereinigten Staaten der mitgliedermäßige Schwerpunkt dieser Kirche, sodass Erklärungen und Beschlüsse der Generalkonferenz häufig 64 weiterhin stark amerikanische Perspektiven und Konfliktlagen abbilden. 64

Die umfassendste Untersuchung auch dazu ist Kupsch, Krieg, Bd. 2 [wie Anm. 12], S. 762–820.

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Die Neujustierungen in der Friedensethik der UMC spiegelten in vielerlei Hinsicht Entwicklungen innerhalb der ökumenischen Bewegung sowie der Weltgemeinschaft überhaupt wider. Zu den bereits nach dem 2. Weltkrieg einsetzenden Entwicklungen gehörte die wachsende Einsicht in den Zusammenhang zwischen Frieden, Entwicklung und globaler Gerechtigkeit. Zunehmende Bedeutung für die Begründung einer „Theologie für einen gerechten Frieden“65 gewann der Begriff des Schalom, der eine inspirierende Vision für die Gestaltung eines friedlichen und geschwisterlichen Miteinanders in dieser Welt biete. Die Kirche habe den Auftrag, sich für einen Lebensstil der Gewaltlosigkeit und für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden weltweit einzusetzen. Der weltweite Horizont dieses Anliegens leuchtete auch im Begriff der „World Community“ auf. Die Verantwortung der mächtigsten Staaten liege darin, ihren Einfluss zum Wohl der Weltgemeinschaft einzusetzen und sich der Autorität internationaler Organisationen wie den Vereinten Nationen unterzuordnen. In diesen Zusammenhang gehörte auch das Eintreten für die Menschenrechte und die damit verbundene Zurückweisung von Rassismus, Ausbeutung und Unterdrückung. Die weitreichendste Neuorientierung der Methodistenkirche in den USA bestand im Herausstellen der Eigenständigkeit kirchlicher Urteile gegenüber dem Staat und deren alleinige Bindung an den Willen Gottes (ohne dass damit schon übereinstimmend geklärt wäre, was genau letzteres heißt). Als entscheidend erwies sich die Ablösung vom Prinzip des Einvernehmens mit der politischen Vision des eigenen Staates. Wenn die Kirche sich zu den (wie es weiterhin heißt) „universal values“ von individueller Freiheit, globaler Gerechtigkeit und Demokratie bekennt, dann kann dieses Bekenntnis bedeuten, dass der eigenen Regierung in bestimmten Positionierungen widersprochen werden muss. Ein wesentlicher Katalysator dieser Einsicht war erneut ein Krieg, und zwar der Vietnamkrieg. Obwohl innerkirchlich hoch umstritten, verurteilte die Kirche das amerikanische Vorgehen in Vietnam scharf, verwies auf das unermessliche Leid, das der Krieg über die Menschen bringe und erwartete ein Schuldbekenntnis der amerikanischen Regierung. Nach Ende des Krieges forderte die Generalkonferenz 66 1976 ein Programm „of healing, reconciliation and reconstruction“. Bei allem innerkirchlichen Widerspruch äußerte sich die UMC in den USA im Zuge des Vietnamkrieges und seiner Folgenbewältigung doch „zunehmend

65

66

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So eine Formulierung aus dem Grundsatzdokument des Bischofsrates von 1986, das (im Deutschen) den Titel trägt: Zum Schutz der Schöpfung. Die nukleare Krise und gerechter Friede, Stuttgart 1987, hier: S. 18. Kupsch, Krieg, Bd. 2 [wie Anm. 12], S. 783.

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politisch konkreter, wobei sich die kirchliche Position von nationalen Bindungen mehr und mehr unabhängig zu machen suchte und sich auch gegen politische Interessen der eigenen Nation stellte“.67 In der Folgezeit stellte sich die UMC auch zunehmend konkreter gegen jede Form der einseitigen Intervention in die Angelegenheiten anderer Staaten, aber auch gegen indirekte wie geheimdienstliche Einmischung. Wo liegen die Ursachen für diese Neuorientierung? Theologische Gründe lassen sich meines Erachtens nicht als wesentlich ausmachen. Das Bemühen um eine theologische Einordnung der Friedensfrage bleibt bis in die 1980er Jahre hinein ein bemerkenswerter Schwachpunkt der einschlägigen Diskussionen und Beschlüsse. An diesem Befund ändert auch die Formulierung der Sozialen Grundsätze von 1972 nichts, in denen der Abschnitt zum Militärdienst mit der Aussage beginnt: We believe war is incompatible with the teachings and example of Christ. We therefore reject war as an instrument of national foreign policy and insist that the first moral duty of all nations is to resolve by peaceful means every dispute that arises between or among them.68

Wenn dies als theologische Begründung einer pazifistischen Position gemeint wäre, dann müsste sie, noch bevor man der Regierung das Gebot Christi als imperatives Mandat aufgibt, doch die eigenen Kirchenglieder binden, sind sie es doch, die mit Aufnahme in die Kirche (nicht dem Wortlaut, aber dem Inhalt nach) versprechen, der Lehre und dem Beispiel Christi zu folgen. Genau dies aber geschieht nicht, wenn es im selben Text heißt: „We also support and extend the Church’s ministry to those persons who consciously choose to serve in the armed forces or to accept alternative ser69 vices“. Paul Ramsey, der seinerzeit gegen die Einnahme eines quasipazifistischen Standpunkts der Kirche argumentierte, wies deutlich auf den Widerspruch hin, der sich ergebe, wenn eine Kirche zum einen meint, Krieg, jeden Krieg, als unvereinbar mit der Lehre Christi erkannt zu haben, zugleich aber ihren Kirchengliedern die Freiheit einräumt, ihrem Gewissen verpflichtet, der Lehre Christi zuwiderzuhandeln, ja mehr noch, die nicht nur diese wirklich unglaubliche Freiheit gewährt, sondern diese Menschen sogar „unterstützt“. Ramsey sagt völlig zu Recht: Möchte man die erste Aussage beibehalten, dann muss es logisch in der zweiten heißen, dass die Kirche – wenn überhaupt, dann – solche Glieder unterstützt, „who choose

67 68 69

Ebd. [wie Anm. 12], S. 785. The Book of Discipline (1972), S. 109. Ebd. [wie Anm. 68].

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in erring conscience to serve in the armed forces“.70 Alles andere, so füge ich hinzu, hieße zu behaupten, dass das Gewissen mich dazu anleiten kann, der Lehre und dem Beispiel Christi zuwiderzuhandeln, anders gesagt, dass ich „guten Gewissens“ die Freiheit zu töten habe, wo Gott in Christus das Töten verboten hat. Damit würde das Prinzip der Gewissensfreiheit dem Gebot des Glaubensgehorsams vorgeordnet und, wie Stephen Long kritisiert, der Sieg der westlichen Idee von der Freiheit des Individuums etabliert sein, die einzuschränken keiner Autorität, auch Gott nicht, gestattet ist.71 Wenn der Grund für die erwähnte Neuorientierung also kein theologischer ist, wo liegt er dann? Einer der umfangreichsten und in dieser Hinsicht aufschlussreichsten Texte ist die Botschaft des Bischofsrates von 1986 „For the Defence of Creation“. Ohne den Text hier einer eingehenden Analyse unterziehen zu können,72 möchte ich nur darauf hinweisen, dass in der Präambel als Anlass des Textes die – wissenschaftliche – Erkenntnis genannt wird, wonach die nuklearen Massenvernichtungswaffen eine Bedrohung des gesamten biologischen Lebens und den sicheren Weg zum „Weltuntergang“ darstellten.73 Hinter der Neuorientierung steht also die Einsicht, dass das Vorhandensein und die Einsatzfähigkeit von Kernwaffen eine gänzlich neue Lage schafft, in der es nicht länger um die Interessen einzelner Staaten gehen kann, weil das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht. Mit Blick auf die immensen Kosten, die das Wettrüsten der Atommächte verschlingt, mahnen die Bischöfe, dass dieser Ressourceneinsatz zugunsten von Massenvernichtungswaffen die sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten in der Welt verschärft und die Überwindung der „nuklearen Krise“ sowohl eine Sache der Gerechtigkeit als auch des Friedens ist. Ziel bleibt eine nuklearwaffenfreie Welt. Es scheint mir fraglich, ob der Fokus der Bischöfe auf das durch den Einsatz von Atomwaffen drohende Vernichtungsszenario als theologisch überzeugender Argumentationseinstieg gelten kann. Denn richtig ist sicherlich, dass, wie Paul Ramsey schreibt,

70 71 72

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Ramsey, Paul, Speak up for Just War or Pacifism. A Critique of the United Methodist Bishop’s Pastoral Letter „In Defence of Creation“, University Park/London 1988, S. 10. Vgl. dazu Long, Discipline [wie Anm. 16], S. 64ff. Das geschieht in dem Buch von Ramsey, Just War [wie Anm. 70], das neben Ramseys Kritik aus der Sicht eines Vertreters der Lehre vom Gerechten Krieg auch einen Beitrag von Stanley Hauerwas enthält, der den Text aus pazifistischer Sicht kritisch analysiert. Zum Schutz der Schöpfung [wie Anm. 65], S. 8.

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[w]e who believe in God […] should not suggest by thought, word, or deed that the end of the planet earth would be the end of the world, the end of 74 God’s purpose for his creatures, the end of his creation.

Doch geht es mir hier um etwas anderes, denn im Ergebnis gelangt die Kirche spätestens im Angesicht der globalen Vernichtungsdrohung zu der Einsicht, dass sie einer höheren oder „besseren“ Gerechtigkeit und nicht dem Recht eines einzelnen Staates verpflichtet ist. Dabei wird die wachsende Bedeutung des Miteinanders der Kirchen auch daran deutlich, dass die Bischofsbotschaft letztlich zu einer Übernahme der Erklärung der Weltkirchenkonferenz von Vancouver 1983 und damit zu einem nuklearen Pazifismus [tendierte], der allerdings nicht bei der Verwerfung der Lehre vom gerechten Krieg angesichts nuklearer Waffen stehenblieb, sondern darüber hinaus sich am Aufbau des Schalom orientierte.75

Halten wir fest, dass die UMC, darin sehr ähnlich dem Ökumenischen Rat der Kirchen, spätestens seit den 1960er Jahren Fragen von Entwicklung und Gerechtigkeit in die Friedensdiskussion einbrachte und so schrittweise zum Konzept des gerechten Friedens durchdringt. Unüberhörbar sind dabei die Stimmen der zum Teil befreiungstheologisch motivierten Methodisten aus Ländern der südlichen Hemisphäre, mit deren Anliegen sich die UMC klar solidarisierte. Die Internationalisierung des Rechts, die globale Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung der Länder beförderten eine Perspektive des gerechten Friedens, der weiterhin nur unzureichend theologisch abgestützt wird. Immerhin lieferte die Bischofsbotschaft von 1986 diesbezüglich einen Versuch, an dem insbesondere die Orientierung am Schalombegriff zu würdigen ist, der aber in der Ausführung noch nicht zu überzeugen vermag, weil göttliches und menschliches Handeln, Vorletztes und Letztes, Schöpfung und Neuschöpfung weiterhin nicht hinreichend klar unterschieden werden. Der in den Sozialen Grundsätzen bis heute vertretene „unentschiedene Pazifismus“ scheint dabei weniger Ausdruck einer theologisch schlüssigen Positionierung als vielmehr der Versuch zu sein, in der Frage von Krieg und Kriegsdienst die äußere Einheit der UMC zu wahren.

74 75

Ramsey, Just War [wie Anm. 70], S. 21 (Hervorhebung im Original). Kupsch, Krieg, Bd. 2 [wie Anm. 12], S. 805.

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5.2 Quietismus versus unfreies Friedenszeugnis in den beiden deutschen Staaten zu Zeiten der Blockkonfrontation Die Teilung Deutschlands in zwei Teilstaaten, die feindlichen Blöcken angehörten, und die gegensätzliche politische Entwicklung in Westdeutschland und der DDR wirkten sich auch auf die Positionierungen in der Friedensfrage aus. In den methodistischen Kirchen Westdeutschlands (ab 1968 die EmK) zeigte sich eine weitgehende Zurückhaltung in der Bewertung des politischen Handelns. Die Konferenzstellungnahmen gaben zumeist Erklärungen der amerikanischen Mutterkirchen in kaum veränderter Formulierung wieder.76 Nach Martin Kupsch wiesen die Kirchen Fragen des politischen Urteilens und Handelns weithin der persönlichen Verantwortung des Einzelnen zu.77 Nach der Kirchenvereinigung 1968 wurden die bis dahin in den Vorläuferkirchen bestehenden Ausschüsse für den Weltfrieden auffälligerweise nicht weitergeführt. Es entsteht insgesamt der Eindruck, dass hier ein stark vom Pietismus geprägtes individuelles Heiligungsethos sowie ein Verständnis der Zwei-Reiche-Lehre, wonach die Kirche sich nicht in die Belange des Staates einzumischen habe, nachwirkten. Kupsch stellt fest: Bis zum Beginn der achtziger Jahre haben sich praktisch weder die Jährlichen Konferenzen noch die ZK [Zentralkonferenz] in der BRD positionell zur 78 Friedensthematik geäußert.

Es schien klar zu sein, dass politische Verantwortung durch den Lebenswandel des einzelnen Christen wahrgenommen wird, die Kirche als Ganze dazu aber kein Mandat habe. Möglich ist aber auch, dass gesellschaftlich wie innerkirchlich umstrittene Fragen den Konferenzen zu brisant erschienen, um sie zum Gegenstand der Diskussion werden zu lassen. Erst ab ca. 1980 wuchsen Mut und Bereitschaft, sich auf Konferenzebene den kontroversen friedensethischen und sicherheitspolitischen Fragen zu stellen. Eine Ausnahme im Blick auf Nichteinmischung in politische Tagesfragen stellten die Äußerungen zur Wehrdienstproblematik dar. Die Bundesrepublik führte 1956 die Wehrpflicht ein, ermöglichte aber gleichzeitig unter der Voraussetzung einer erfolgreich durchlaufenen Gewissensprüfung die Befreiung vom Militärdienst zugunsten der Ausübung eines zivilen Ersatzdienstes. Das vorrangige Anliegen der diesbezüglichen Konferenzäußerun-

76

77 78

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Vgl. Kibitzki, Jörg, Zwischen Restauration und Erneuerung. Die Bischöfliche Methodistenkirche in Deutschland von 1945 bis 1968 (Beiträge zur Geschichte der EvanglischMethodistischen Kirche 37), Stuttgart 1990, S. 46ff.62ff. Kupsch, Krieg und Frieden, Bd. 2 [wie Anm. 12], S. 718–905. Ebd. [wie Anm. 12], S. 856.

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

gen der EmK war der Schutz der freien Gewissensentscheidungen. Eine nähere Bestimmung hinsichtlich der ethischen Vorzugswürdigkeit von Wehr- oder Ersatzdienst erfolgte jedoch nicht. Seit den 1980er Jahren lässt sich eine stärkere friedensethische Positionierung erkennen. Unter dem Eindruck des ökumenischen Konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung bemühte sich die EmK um konkretere Stellungnahmen, musste aber sehr bald – analog zu den Diskussionen in der UMC der USA – anerkennen, dass Positionsbestimmungen in dem Maße strittiger wurden wie sie konkreter wurden. So stellte die Süddeutsche Jährliche Konferenz 1983 fest: „[W]ir sind uns einig in dem Ziel, für den Frieden zu arbeiten und für Abrüstung einzutreten. Die Mei79 nungen über die Wege dazu gehen auseinander“. Später kritisierten Konferenzerklärungen das Konzept der Abschreckung und traten für eine „NullLösung“ ein. Zustimmung fanden schließlich auch kritische Stellungnahmen zu Rüstungsexporten der Bundesrepublik an das Apartheitregime in Südafrika. Die friedensethischen Passagen der in Westdeutschland über Jahrzehnte kaum zur Kenntnis genommenen Sozialen Grundsätze fanden ebenfalls seit den 1980er Jahren zunehmende Beachtung. Unter ideologisch gänzlich anderen Bedingungen hatte die EmK in der DDR zu arbeiten. Der totalitäre Überwachungsstaat sah nur das Mitwirken der Kirchen am Aufbau einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft oder ihr Verbot vor. Deshalb bedarf es einer besonderen Hermeneutik für Texte, die unter den Bedingungen von staatlicher Überwachung und Bedrängung entstanden. Den offiziellen Konferenzprotokollen zufolge war die EmK bereit, sich am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft zu beteiligen. Sie verstand sich als „Kirche im sozialistischen Staat, jedoch nicht [als] Kirche 80 des sozialistischen Staates“. Die Mitwirkung am Aufbau des Staates schließe auch den Dienst am Frieden ein, hieß es. Der Friedensdienst wiederum schien nicht ablösbar von der konkreten politischen und wirtschaftlichen Situation, das Bekenntnis zum Frieden war von daher immer auch lesbar als Bekenntnis zum Staat. 1983 stellte die Zentralkonferenz der EmK in der DDR heraus, dass „den Gliedern unserer Gemeinden […] die Aufgabe der Friedenserziehung und des Friedenszeugnisses als zentrale Frage ihres Bekenntnisses zu Jesus 81 Christus bewusst werden“ müsse. Offenbar war das in den Gemeinden

79 80 81

Zitiert nach ebd. [wie Anm. 12], S. 864. Zitiert nach ebd. [wie Anm. 12], S. 870. Zitiert nach ebd. [wie Anm. 12], S. 875.

Auf dem Weg zu einem gerechten Frieden

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nicht hinreichend der Fall.82 Die DDR-Situation stellte vor eine besondere Herausforderung. Da der atheistische Staat die Alleinherrschaft über alle Lebensbereiche und über den ganzen Menschen beanspruchte, gab es kaum eine Möglichkeit, sich auf den in den Gemeinden wohl immer noch verbreiteten Ansatz von der klaren Trennung des geistlichen vom weltlichen Bereich zurückzuziehen. Vielmehr schien es verheißungsvoller, wenn auch schmerzlicher, die vom Staat vorgegebenen Ziele unter einer bestimmten Perspektive als zugleich christlich legitim auszuweisen.83 Die Friedenspolitik bot sich als Anwendungsfeld dafür besonders an. Die diesbezüglichen Äußerungen der EmK offenbaren in der Sicht von Martin Kupsch eine auffallende Nähe zur offiziellen Friedenssemantik des SED-Staates, was nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass die erklärte Treue zu den Staatszielen eine Frage des institutionellen Überlebens war. Die eigene Akzentuierung lag für gewöhnlich darin, dass die Friedensarbeit der Methodisten ihren Grund in der Gesinnung Jesu Christi habe, der gleichgestaltet zu werden, Berufung aller Christen sein. Für die EmK in der DDR bestand die Option eines apolitischen Christentums faktisch nicht, weil der Staat jede kirchliche Äußerung auf seine politisch-gesellschaftlichen Implikationen hin abklopfte. Musste daher das Christuszeugnis immer auch politisch interpretiert werden, so schien es am klügsten, umgekehrt das Friedenszeugnis als Bekenntnis zu Christus zu interpretieren, auch wenn das die Gemeindebasis mehrheitlich nicht überzeugt haben mag. Ein ganz praktisches Problem stellten für die EmK im real existierenden Sozialismus die auf Generalkonferenzebene von der UMC verabschiedeten Texte dar, deren Äußerungen zur politischen Ordnung eindeutig dem westlichen Freiheitskontext entstammten und sich inkompatibel mit den Verhältnissen in einem sozialistisch-totalitären Staat erwiesen. Dieses Problem wurde in der Weise gelöst, dass die Sozialen Grundsätze und die darin enthaltenen Aussagen zu Krieg und Frieden nicht vollumfänglich in die Kirchenordnung der Zentralkonferenz der DDR aufgenommen wurden,

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Verschiedentlich wird die Tendenz zum Rückzug in die Innerlichkeit und ein Ausweichen vor den Fragen der Welt kritisiert; vgl. Gerhard Riedel, „Spiritualität und Weltverantwortung“. Konferenzthema der EmK in der DDR 1973. In: Schuler, Ulrike (Hrsg.), Spiritualität und Weltverantwortung. Festschrift zum 80. Geburtstag von Achim Härtel, Frankfurt am Main 2011, S. 41–56, hier: S. 49. Aus innerer Überzeugung scheint dies in einem 1969 gegründeten Arbeitskreis vertreten worden zu sein; vgl. Carl Ordnung, Der „Arbeitskreis evangelisch-methodistischer Christen für gesellschaftliches Handeln“ in der DDR (1969–1977). In: EmKGeschichte 23/2 (2002), S. 23–44.

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sondern als Arbeitspapier kursierten.84 So beschritt die EmK einen schmalen Grat zwischen aufgenötigter Anpassung und von den eigenen Überzeugungen her gebotener Verweigerung, wobei, wie Martin Kupsch urteilt, „zumindest in den siebziger Jahren die Anpassung überwog“.85 Erstmalig zum Abdruck in der Kirchenordnung der EmK in der DDR kamen die Sozialen Grundsätze 1988, also zu einer Zeit, in der aufgrund der zurückliegenden Machtübernahme Michael Gorbatschows in der Sowjetunion politisch bereits einiges in Bewegung geraten war. Hatte der Konziliare Prozess die EmK in Westdeutschland stark für die Wahrnehmung von politischer Verantwortung als Aspekt des Glaubensgehorsams sensibilisiert, so ermutigte der Prozess die EmK in der DDR zu kritischen Absetzbewegungen vom bisherigen Bemühen um größtmögliche Staatsnähe. So wurden in dem durch die Perestroika in der Sowjetunion geschaffenen günstigeren Klima das Friedens- und Freiheitsengagement auch der vom Staat beargwöhnten unabhängigen kirchlichen Friedensgruppen ausdrücklich gewürdigt. In einem Friedenswort setzt sich die Ostdeutsche Jährliche Konferenz 1988 für die vom Staat kriminalisierten Wehrdienstverweigerer ein und solidarisiert sich mit der Forderung nach Einführung eines Wehrersatzdienstes und der Gewährung von Reisefreiheit. Das Friedenswort steht exemplarisch für eine seit 1985 erkennbare Entwicklung hin zu staatskritischeren Stellungnahmen. Fassen wir zusammen: Die Blockeinbindung der beiden deutschen Staaten führte zu unterschiedlichen Ausprägungen der Einstellung zu politischen Fragen. In Westdeutschland lockerte sich in der EmK bis in die 1980er Jahre die strikte Trennung von geistlichem und politischem Bereich, wonach politisches Engagement eine Frage der individuellen Christenverantwortung, aber kein Mandat der Kirche sei, zunehmend auf. In der beharrlichen Neigung zu politischer Zurückhaltung wirkten nicht nur tiefsitzende Grundentscheidungen nach, sondern sie schien auch der Versuch zu sein, die Pluralität des politischen Diskurses um der Einheit in Christus willen nicht in die Kirche hineinzutragen, zumindest nicht auf der Ebene von Konferenzdiskussionen. Was die EmK in der DDR angeht, so wird man nicht bestreiten müssen, dass einige Methodisten im Friedenszeugnis des sozialistischen Staates einen 84

85

Rüdiger Minor erwähnt als Faustregel, was die Wiedergabe der von der Generalkonferenz verabschiedeten Texte in den Dokumenten der EmK der DDR angeht: „Je brisanter der Inhalt, desto weniger offiziell der Status“; Adaption oder Anpassung. Die Arbeit an den „Sozialen Grundsätzen“ der Evangelisch-methodistischen Kirche im Bereich der Zentralkonferenz der DDR. In: EmK Geschichte 32/1 (2011), S. 7–16, hier: S. 9. Kupsch, Krieg, Bd. 2 [wie Anm. 12], S. 880.

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authentischen Ausdruck für ein ureigenes Glaubensanliegen meinten gefunden zu haben. Für die Kirche insgesamt dürfte das Lavieren zwischen erzwungender Anpassung und gebotener Verweigerung gegenüber dem Staat am ehesten als Strategie gedient haben, das institutionelle Überleben unter den Bedingungen des Staatssozialismus zu sichern. Theologisch fällt auf, dass Friedenszeugnis und Christuszeugnis auf das Engste miteinander verbunden wurden, wobei Dietrich Bonhoeffer zu den am stärksten rezipierten Theologen gehört haben dürfte. Doch musste an dieser Verbindung fragwürdig bleiben, dass sie offenbar keinerlei kritische Distanz zum SED-Staat und seiner eindeutig ideologisch gegründeten und in ein Blocksystem eingebundenen Friedenspolitik erlaubte, das Christuszeugnis also nicht als kritische, zur Unterscheidung anleitende Kategorie diente. So wird man hier wohl von einem eher instrumentellen Bibelgebrauch ausgehen müssen, der historisch für das Agieren von Gruppen typisch ist, die sich unter permanentem Oppositionsverdacht in ein totalitäres Staatssystem eingeschlossen wiederfinden.

6 Methodistische Friedensethik. Von der Unverzichtbarkeit ihrer biblisch-theologischen Begründung Unser historisch-theologischer Durchgang hat dreierlei gezeigt: Die methodistische Friedensethik stand weithin in der Gefahr, innerkirchlich lediglich gesamtgesellschaftliche Trends abzubilden bzw. nachzuvollziehen, wobei sich insbesondere reale Kriege als Katalysatoren für kirchliche Positionierungen erwiesen. Als stärkste Herausforderung lässt sich von daher ausmachen, sich im kritischen Gegenüber zur Gesellschaft zu bewähren und nicht lediglich als Verstärker bereits vorhandener Grundstimmungen zu agieren. Es hat sich gezeigt, dass der Verlust der prophetischen Aufgabe der Kirche in ganz unterschiedlichen Kontexten auftreten und sich dann unterschiedlich auswirken kann, von der Verschmelzung einer religiösen mit der nationalen Vision bis hin zur scharfen Trennung des geistlichen und weltlichen Bereichs. In allen diesen Kontexten schien es, als ob der Bibelgebrauch in der Gefahr stand, entweder zur pietistisch geprägten und von einer neulutherisch interpretierten Zwei-Reiche-Lehre her legitimierten Innerlichkeit oder zur gesellschaftspolitisch motivierten Überbeanspruchung von Glaubensaussagen zu führen. Vielfach war aber ein Bemühen um Rückbindung der kirchlichen Urteilsbildung an das Zeugnis der Heiligen Schrift überhaupt nicht erkennbar. Christlich-humanistische Weltoffenheit angelsächsischer Prägung einerseits und pietistisch geprägte Weltdistanz deutscher Prägung

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andererseits verhalten sich darin spiegelbildlich zueinander, dass der ReichGottes-Begriff entweder präsentisch als Frucht menschlichen Handelns oder vom inneren Frieden abgesehen futurisch interpretiert und so eine das Neue Testament durchziehende Grundspannung zur einen oder anderen Seite hin aufgelöst wurde. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich zu merken, dass die methodistischen Stellungnahmen zu Frieden und Gerechtigkeit seit den 1990er Jahren an biblisch-theologischer Profilierung gewonnen haben. Dies gilt übergreifend für Stellungnahmen im Bereich des US-amerikanischen, britischen 86 und deutschen Methodismus. Der Fortschritt liegt nicht lediglich darin, dass auf biblische Texte verwiesen wird, das gab es hier und da auch schon vorher, sondern in dem nun deutlich erkennbar werdenden Anliegen, diese Texte in die gegenwärtige Situation hinein sprechen zu lassen. Dies gelingt mit unterschiedlichem Erfolg, doch das Anliegen ist unverkennbar. Ich möchte zum Schluss zwei neuere Texte würdigen und damit eine aus meiner Sicht verheißungsvolle Richtungsangabe markieren. Ich verweise zum Ersten auf das 2005 unter dem Titel Frieden braucht Gerechtigkeit von der Zentralkonferenz Deutschland der EmK verabschiedete Friedenswort. Ausgehend von einer biblisch-theologischen Orientierung werden in knappem historischem Durchgang Wegmarken des kirchlichen Friedenszeugnisses vorgestellt, bevor dieses Zeugnis in den Zusammenhang des internationalen Rechts, der Rechtsstaatlichkeit, der wirtschaftlichen Gerechtigkeit und des interreligiösen Dialogs hineingestellt wird. Die Autoren zeigen auf diese Weise, dass sie sich der Interdependenz von Frieden, Gerechtigkeit und Recht sowie der Verantwortung der Religionen für den Frieden bewusst sind. Die biblisch-theologische Orientierung hebt stark auf den Begriff Schalom ab, dessen verschiedene Dimensionen, primär im Rekurs auf alttestamentliche Texte, entfaltet werden. Fragen lässt sich, wie günstig es ist, die „religiöse Dimension“ und damit die Tatsache, dass „Gott in all diesen 87 [vorab genannten] Dimensionen die eigentliche Quelle des Schalom“ ist, ans Ende des Abschnitts zu stellen, und ob die letztlich theozentrische Aus86

87

Ich verweise exemplarisch auf: Auf der Suche nach Gerechtigkeit. Ein Arbeitspapier des Bischofsrates der Evangelisch-methodistischen Kirche, 2004; Frieden braucht Gerechtigkeit. Friedenswort der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 2005; Peacemaking. A Christian Vocation. A Resource for the Churches produced by a Joint Working Group of the United Reformed Church and the Methodist Church, 2006. Gottes erneuerte Schöpfung. Ein Aufruf zum Hoffen und Handeln. Ein Brief des Bischofsrates der Evangelisch-methodistischen Kirche, Frankfurt am Main 2010. Frieden braucht Gerechtigkeit [wie Anm. 86], S. 8.

Methodistische Friedensethik

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richtung des biblischen Schalom nicht insgesamt zu kurz kommt, übrigens eine Tendenz der meisten Texte zu diesem Thema. Der „Weg zum Frieden“ ist ein zweiter Abschnitt überschrieben, in dem auch den gewaltvollen Texten des Alten Testaments nicht ausgewichen wird. Sie halten, so heißt es „die unverzichtbare Erinnerung wach, dass Gewalt eine gesellschaftliche Realität ist, die nicht ignoriert werden darf, wenn das Zeugnis der Gewaltwürdigkeit glaubwürdig und nicht illusionär sein soll“.88 Im Weiteren wird der Staat als Instanz der innerstaatlichen Friedenssicherung anerkannt und auf den engen biblischen Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit hingewiesen. In einem dritten Abschnitt wird ausgeführt, dass Christus unser Friede ist, insofern Gott im Sterben Jesu am Kreuz „die Macht der Gewalt und der Sünde überwindet“,89 und Christi Auferstehung zu verstehen sei als „der definitive, von Gott gesetzte Anfang der Möglichkeit einer gewaltlosen Gesellschaft mitten in unserer von Gewalt besetzten Welt“.90 Hinter diese christologische Begründung des christlichen Friedenszeugnisses dürfen kirchliche Stellungnahmen zum Thema meines Erachtens nicht wieder zurückfallen. Etwas unklar ist hier lediglich der Begriff „Gesellschaft“, insofern er von der „Welt“ unterschieden wird. Die Bergpredigt schließlich wird argumentativ nicht überbeansprucht, denn sie sei „weder dazu gedacht noch dazu geeignet, unmittelbar staatliches Gesetz zu werden“,91 doch sei sie zugleich auch alles andere als unpolitisch. Insgesamt erhält das Friedenswort so eine tragfähige biblisch-theologische Basis, auch wenn aufs Ganze gesehen gilt, dass der von Christus gestiftete Frieden zwischen Gott und Menschen, der doch Voraussetzung für den Frieden zwischen Menschen schafft, in Darstellung und Gewichtung zu kurz kommt. Zwei Aspekte möchte ich noch positiv hervorheben. Zum einen ist auf die strukturelle Entscheidung der Autoren zu verweisen, den biblischtheologischen Befund nicht im weiteren Durchgang hinter sich zu lassen, sondern in jedem weiteren Kapitel erneut in die konkret verhandelte Fragehinsicht einzubinden. Dies ist nicht weniger als vorbildlich. Zum anderen markiert das Friedenswort eine zumindest ansatzweise Wahrnehmung dafür, dass die Kirche kaum überzeugend Forderungen an andere gesellschaftliche Handlungsakteure richten kann, wenn sie nicht Selbstverpflichtungen im Blick auf das eigene Handeln eingeht. Das Friedenswort ist ein erster Schritt in diese Richtung, in dem noch ein deutliches Ungleichgewicht

88 89 90 91

352

Ebd. [wie Anm. 86], S. 9. Ebd. [wie Anm. 86], S. 11. Ebd. [wie Anm. 86]. Ebd. [wie Anm. 86].

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

zwischen Erwartungen an andere und Selbstverpflichtung besteht, sowohl vom Umfang her als auch was den Konkretionsgrad angeht. Auch das ein Jahr zuvor, also 2004, erschienene Arbeitspapier des Bischofsrats mit dem Titel Auf der Suche nach Sicherheit zeichnet sich durch eine solide biblisch-theologische Grundlegung aus.92 Der Leitbegriff der Sicherheit wird differenziert ins Verhältnis zum biblischen Begriff des Vertrauens gesetzt, wobei zum Vertrauen auf Gott angeleitet und davor gewarnt wird, sich auf eine trügerische Sicherheit zu verlassen, wie Waffen und Militärbündnisse sie versprechen. Ausgehend von Texten des Alten und Neuen Testaments wird gezeigt, dass es in der Bibel nirgends als Weg zu echter Sicherheit und wahrem Frieden gilt, zu den Waffen zu greifen. Die Auferstehung Jesu – von seinem Sterben am Kreuz ist überraschenderweise keine Rede – wird als Grund der Überzeugung ausgewiesen, dass keine Macht dieser Welt und nicht einmal der Tod Christen von ihrem Herrn trennen kann, und allein darin finden Christen Sicherheit. Nicht ausgeblendet wird auch der biblische und frühmethodistische Topos des geistlichen Kampfes, dessen Pointe darin bestehe, dass Christen ausschließlich mit geistlichen Waffen kämpfen und ansonsten Gott das Auftreten gegen seine Feinde überlassen sollten, was insbesondere die Johannes-Apokalypse veranschauliche. Das Fazit dieser Ausführungen ist theologisch stark: „Nach dem Zeugnis der Bibel ist wahre Sicherheit ein Geschenk Gottes. Diejenigen werden in Frieden und Sicherheit leben, die auf Gott vertrauen und sich ihrem Nächs93 ten gegenüber recht verhalten“. Als Weg zum Frieden und zur Sicherheit wird die Versöhnung bezeichnet, die von verschiedenen Seiten aus umrissen wird, ohne dass dabei die Ebenen von Letztem und Vorletztem eingeebnet werden, wenn es abschließend heißt: Der Weg zu wirklichem Frieden und echter Sicherheit ist Versöhnung. Wir werden volle Versöhnung zwischen allen Menschen nicht vor Gottes endgültiger Vollendung erreichen, da die Kräfte des Bösen und der Zerstörung immer noch in den Herzen der Menschen und in ihren Beziehungen am Werk sind. Aber wir sind dazu berufen, Friedensstifter und Diener der Versöhnung zu sein, bis unser Herr kommt.94

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93 94

In der Sache deutlich kritischer sehe ich den Text: Gottes erneuerte Schöpfung. Ein Aufruf zum Hoffen und Handeln. Ein Brief des Bischofsrats der Evangelischmethodistischen Kirche, Frankfurt am Main 2010. Hier verschmelzen erneut Gottes und der Menschen Handeln im Horizont eines nicht sauber theologisch durchgearbeiteten Reich-Gottes-Verständnisses. Auf der Suche nach Sicherheit, S. 7, zu finden unter http://emk-gfs.de/wpcontent/uploads/2014/07/Bischofsbrief-2004.pdf [14.12.2017]. Ebd. [wie Anm. 93], S. 21.

Methodistische Friedensethik

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Damit dürfte hier ein Weg beschritten sein, der weder die Menschen und in besonderer Weise die Christen – geschichtsfatalistisch – von ihrer Berufung entlastet, Friedensstifter zu sein, noch – gnadenenthusiastisch – Gottes Reich mit dem verschmilzt, was Menschen zu erreichen vermögen. Methodistische Friedensethik braucht eine biblisch-theologische Basis, und sie ist auf dem Weg dahin, sich diesen Grund neu und verantwortlich zu erschließen. Soll die EmK eine Friedenskirche sein, dann wird sie das überzeugend nur in dem Maße sein können, wie sie sich von der Heiligen Schrift her Rechenschaft darüber gibt, was es heißt, aus der Versöhnung mit Gott in Christus lebend in dieser Welt Friedensstifter zu sein. Sie wird dann meines Erachtens sehr schnell entdecken, dass sie Friedenskirche nur als Heiligungskirche sein kann, dass Christen also nur dann überzeugend für Frieden und Versöhnung in der Welt eintreten können, wenn in den eigenen Gemeinden versöhnte Beziehungen gelebt werden und in ihnen erfahrbar wird, was es heißt, dass Jesus Christus wirklich unser Friede ist (Eph 2,14). Das christliche, mithin methodistische Friedenszeugnis ist bleibend angewiesen auf die Einsicht in die rechte Unterscheidung sowie die notwendige Verbundenheit zwischen dem Frieden, den allein Gott schenken kann und schenken muss, damit wir zum Frieden fähig werden, und eben diesem Frieden zwischen Menschen, Völkern und Staaten, der eine Frucht des Wirkens derer ist, die, gemeinsam mit allen Menschen guten Willens, aus der Versöhnung Jesu und der Sendung seines Geistes dem Frieden und der Gerechtigkeit dienen. Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird (Hebr 12,14).

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Zwischen Patriotismus und Pazifismus

John Wesley im Zeitalter der Globalisierung

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1 Einleitung Der Methodismus gehört zu den Erneuerungsbewegungen der Moderne. Sein geschichtliches Auftreten begann in der westlichen Welt, genauer im England des 18. Jahrhunderts. John Wesley, sein Gründervater, legte ungezählte Kilometer auf dem Rücken seines Pferdes zurück, hielt tausende Predigten und formte eine Bewegung, die sich nach dem Tod ihres Begründers auch im britischen Königreich von der Kirche von England löste. Seine größte Ausbreitung erfuhr der Methodismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, doch von Kontinent zu Kontinent wurde die Botschaft von der freien Gnade Gottes weitergetragen. Heute ist der Methodismus ein „Global Player“, der auf allen Kontinenten Fuß gefasst hat – wenn auch in deutlich ungleichem Maße. Ich möchte mich heute der Frage stellen, was John Wesley uns als Methodisten in einem von den Phänomenen der Globalisierung geprägten Jahrhundert zu sagen hat. Dazu werde ich zunächst im Sinne einer historischen Erinnerung darauf aufmerksam machen, inwiefern die Ausbreitung des frühen Methodismus selbst Ausdruck von und Beitrag zur Globalisierung war und diesen Begriff erläutern (2). Im Anschluss daran werde ich in systematisch-theologischer und zugleich ethischer Perspektive prüfen (3), welche Impulse für unser Leben unter den Bedingungen der Globalisierung von Wesleys Lehre von der Sünde (3.1), von Glauben und Liebe (3.2) sowie von den Gnadenmitteln (3.3) ausgehen, bevor ich einige Schlussfolgerungen aus dem zuvor Gesagten ziehe (4).

2 Der Methodismus als „Global Player“ in einer pluralisierten Welt Fragen wir in historischer Perspektive nach der Ausbreitung der methodistischen Bewegung, dann treten die eng miteinander verbundenen Aspekte der Globalisierung und Pluralisierung in den Blick. Dabei lässt sich feststellen: Wanderungsbewegungen beträchtlicher Teile der Bevölkerung, also Migration, bestimmten bereits das 18. und 19. Jahrhundert. Menschen verließen 1

Vortrag, gehalten (in englischer Sprache) auf der Wesley Conference an der Hupsung University in Suwan, Südkorea am 03.11.2011.

Einleitung

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aus ökonomischen und (religions)politischen Gründen ihre Heimat und veränderten so die Besiedlungsstruktur. Dabei überschritten sie Staatengrenzen und überquerten Weltmeere wie den Atlantischen Ozean. Methodisten waren von Anfang an Teil dieser Wanderungsbewegungen. Sie trugen den Glauben in neu entstehende Siedlungsgebiete, zum Beispiel an die „Frontiers“ der Vereinigten Staaten. In vielen Teilen der Welt machten sie sich Handelsrouten zunutze oder folgten der Stoßrichtung der Politik ihrer Staaten,2 z. B. als die Vereinigten Staaten den afrikanischen Staat Liberia gründeten. Die Ausbreitung des Methodismus kann nicht abgelöst werden von frühen Formen der Globalisierung, die ihren Ausdruck in Schifffahrt, Handel, imperialer Eroberung neuer Gebiete, religiös motivierter Migration und anderem fand.3 Mit der Ausbreitung des amerikanischen und britischen Methodismus über verschiedene Kontinente gewann schließlich die konnexionale Struktur des Methodismus selbst ein globales Gepräge. Globale Wanderungsbewegungen führen zur Begegnung unterschiedlicher Kulturen und Weltanschauungen. Wo diesen Unterschieden Raum gegeben wird, entwickelt eine Gesellschaft ein multikulturelles und multireligiöses Gepräge und wir sprechen vom Prozess der Plualisierung. Im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts setzt sich diese Entwicklung äußerlich nur zögerlich durch, zu stark ist die Macht der im Bündnis mit den jeweiligen Herrschenden stehenden Staatskirchen. Anders war die Situation in den sich von der britischen Krone lösenden Vereinigten Staaten, wo es zum Wettstreit der verschiedenen Denominationen kam und der Methodismus sich gerade in dieser Konkurrenzsituation als kraftvoll erwies. Allerdings gelang es dem amerikanischen Methodismus des 19. Jahrhunderts nicht überall in gleichem Maße, sich in Bevölkerungsgruppen und Ländern zu verwurzeln. Gerade die staatskirchlichen Strukturen in Mittel- und Westeuropa setzten einer Ausbreitung erheblichen Widerstand entgegen. Die Methodisten mussten schnell einsehen,

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David Hempton schreibt: „It is a striking feature of the biographies of early Methodist itinerant and local preachers throughout the English-speaking world how many of them were born in one country and ministered in several others“, Methodism. Empire of the Spirit, New Haven/London 2005, S. 21. David Hempton weist in einer sehr instruktiven Untersuchung unter anderem darauf hin, dass „wherever one looks at the spread of Methodism in its pioneering phase soldiers patrolling the [British] empire were often key figures in its transmission”, Protestant Migrations. Narrative of the Rise and Decline of Religion in the North Atlantic World c. 1650–1950. In: Brown, Callum/Snape, Michael (Hrsg.), Secularisation in the Christian World, Surrey 2010, S. 41–56, hier S. 47.

John Wesley im Zeitalter der Globalisierung

that new space was easier to conquer than old space, that preexisting civilisations were more deeply entrenched than they imagined, that non-Englishspeaking peoples were harder to reach than they expected, and that their confidence in the joint march of faith and civilisation was exaggerated.4

Insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass die Ausbreitung des Methodismus durch Prozesse der Internationalisierung und Pluralisierung eher gefördert als gehemmt worden ist. Der Methodismus als religiöse Bewegung der Moderne erwies sich sowohl als Resultat als auch als Katalysator von Globalisierungstendenzen. Was ist nun genau mit dem Schlagwort der Globalisierung gemeint? Der frühe Methodismus, wie ich ihn gerade charakterisiert habe, gehört einer ersten Globalisierungsphase zu, die mit Beginn des industriellen Zeitalters einsetzt und sich dadurch auszeichnet, dass sie im Wesentlichen von nationalen Volkswirtschaften getragen [wurde], so dass die nationalen politischen Systeme über hinlängliche Instrumente verfügten, die Rahmenbedingungen zu setzen und diesen Prozess aktiv zu gestalten.5

Wenn wir vom Übergang zu einer zweiten Phase der Globalisierung im Verlauf des 20. Jahrhunderts sprechen, dann ist damit gemeint, dass die nationalen politischen Systeme sich als nicht mehr hinlänglich für die Lösung der sich abzeichnenden ökonomischen, weltpolitischen und Klimaprobleme erwiesen haben. Die Nationalstaaten, so Anthony Giddens, „müssen sich heute nicht mehr mit Feinden, sondern mit Risiken und Gefahren auseinandersetzen, wodurch sie tiefgreifend umgestaltet werden“6 und die Notwendigkeit von Formen der „global gouvernance“ im Sinne des gemeinschaftlichen Angehens von Herausforderungen vor Augen tritt. Globalisierung heute bezeichnet das Eingebundensein aller Gesellschaften in ein „System wechselseitiger Abhängigkeiten“,7 in dem die Handlungsräume von Individuen und Gesellschaften grenzüberschreitend ineinandergreifen. Dieses System, das den globalen Güter- und Finanzmarkt einschließt, ist maßgeblich ermöglicht durch die elektronische Kommunikation per Internet,

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Hempton, Methodism [wie Anm. 2], S. 167. Johannes Varwick, Globalisierung. In: Woyke, Wichard (Hrsg.), Handwörterbuch Internationale Politik, 11. Aufl. Opladen/Farmington Hills 2008, S. 166–177, hier S. 167. Giddens, Anthony, Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert, Frankfurt am Main 2001, S. 30. Dirk Messner, Globalisierung und globaler Wandel. In: Meyns, Peter (Hrsg.), Handbuch Eine Welt. Entwicklung im globalen Wandel, Wuppertal 2009, S. 103.

Der Methodismus als „Global Player“

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die nahezu ausnahmslos die Lebensbereiche der menschlichen Gesellschaft verändert hat.8 Die so verstandene Globalisierung hat viele Dimensionen:9 Warenmärkte und Finanzmärkte wachsen zusammen, globale Kollektivgüter (also Waren oder Dienstleistungen) werden in Anspruch genommen, Wissen breitet sich aus, wobei sowohl das Internet als auch die persönliche Mobilität der Menschen eine Rolle spielt, es kommt zur Annäherung der Kulturen (manchmal in Gestalt der Dominanz einer bestimmten Kultur) und es entsteht eine Weltöffentlichkeit, die sensibel ist für gemeinsames Handeln sowie für die Abwehr von Bedrohungen, wie sie durch islamistischen Terrorismus, die Verletzung von Menschenrechten oder den Klimawandel entstehen. Mit großer Selbstverständlichkeit und häufig kaum bewusst nehmen Menschen heute die Vorteile der Globalisierung in Anspruch. Doch sind auch die Schattenseiten nicht zu übersehen. Dazu gehören unter anderem die Missachtung von Arbeits- und Sozialstandards in den Entwicklungsländern, die damit einhergehende Armut in vielen Ländern der südlichen Hemisphäre, die Krisenanfälligkeit des global agierenden Finanzsektors und in dessen Folge der Weltwirtschaft sowie die Bedrohung globaler Kollektivgü10 ter, die nicht zuletzt im sich abzeichnenden Klimawandel deutlich wird. Theologisch ausgedrückt: die Globalisierung geht in all ihren Lichtfacetten einher mit der – zum Teil strukturellen – Missachtung menschlicher Würde und der fortgesetzten Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Welt aber ist auf eine Weise zusammengerückt, dass die Bedrohung der Würde Einzelner den ökologischen, sozialen und kulturellen Kosmos der Menschheit insgesamt berührt. Mit diesen Begriffsbestimmungen ist die Bühne bereitet für die Frage, in welcher Weise John Wesleys Theologie Impulse bietet für (methodistische) Christen im 21. Jahrhundert. Dieser Frage möchte ich mich jetzt in drei Schritten zuwenden.

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Vgl. dazu auch Fässler, Peter E., Globalisierung. Ein historisches Kompendium, Köln 2007. Zum Folgenden vgl. Sautter, Hermann, Für eine bessere Globalisierung, Witten 2008, S. 13–20. Vgl. ebd. [wie Anm. 9], S. 41–62.

John Wesley im Zeitalter der Globalisierung

3 Zum Leben befreit – Impulse der Theologie John Wesleys für den Methodismus im 21. Jahrhundert 3.1 In Bindungen leben – Sünde, die trennt John Wesley hat sich zu vielen Aspekten, die wir heute unter die Begriffe Globalisierung fassen, nicht direkt geäußert. Eine Auswertung seiner Überlegungen hat daher behutsam vorzugehen und zwischen systematischer Interpretation und gegenwartsbezogener Anwendung zu unterscheiden. Globalisierung bezeichnet eine Reihe von Prozessen, deren Auswirkungen „durchaus widersprüchlich und gegensätzlich sein können“.11 Diese Gegenläufigkeit der Entwicklungen zeigt sich in der westlichen Welt unter anderem im weltanschaulichen Bereich. Auf der einen Seite lassen sich Tendenzen der Säkularisierung erkennen, zu denen auch der Verlust kirchlicher Vorherrschaft gehört, auf der anderen Seite erobert sich die Religion (allerdings im Plural!) wieder den öffentlichen Raum. Glaubensüberzeugungen werden wieder verstärkt öffentlich gelebt. So bringt der religiös-weltanschauliche Pluralismus „insofern die Wiederkehr des öffentlichen Glau12 bensstreits“. Zugleich hält sich beharrlich die Vorstellung, der öffentliche Raum sei ein gegenüber religiösen Ansprüchen autonomer Raum, was immer auch bedeutet, Bereiche des Lebens und der Lebensführung dem Anspruch Gottes zu entziehen. John Wesley lebte in einer Zeit, die diese Gegenläufigkeit von Entwicklungen bereits kannte, insofern Aufklärung und Erweckung im England des 18. Jahrhunderts ineinandergreifen. Nach Wesley genügt es nicht, darum zu wissen, dass Gott (im Sinne der allgemeinen Vorsehung) alle Fäden in der Hand hält, sondern seiner Annahme bei Gott um Christi willen im Glauben gewiss zu sein. In der Offenbarung Gottes in Jesus Christus hat auch die Analyse der Situation des Menschen vor Gott ihren Ausgang zu nehmen. Dies nötigt Wesley dazu, in aller Deutlichkeit von der Sünde zu sprechen. Dabei ging es Wesley um die theologische Grundbestimmung dieses Begriffs: Sünde bezeichnet die grundlegende Zerrüttung der Gottesbeziehung, wobei sich der Mensch vom lebendigen Gott abwendet und sich selbst an die Stelle Gottes setzt. Sünde ist für Wesley im theologischen Kern „idolatry“, Göt-

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Giddens, Welt [wie Anm. 6], S. 24. Schwöbel, Christoph, Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, S. 33.

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zendienst, 13 der sich in den zahlreichen Facetten moralischer Verkehrtheit – den Sünden im Plural – manifestiert. Menschlicher Götzendienst zeigt sich, so Wesley im Anschluss an Augustin, in der Gestalt des Stolzes. Dabei ist völlig klar, dass nicht alle Menschen ein aus irdischem Material gemachtes Götzenbild verehren. Das ändert jedoch nichts an der fundamentaltheologischen Bestimmung des Sündigen. Wir sündigen, indem wir uns selbst anbeten – und zwar „wenn wir uns selbst jene Ehre geben, die Gott allein gebührt“.14 Das bedeutet: Wer sich selbst an die Stelle Gottes setzt, der mag alles gewinnen, was er begehrt, doch verliert er den Maßstab für das, was dem Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes gemäß ist, er verwischt die Grenze zwischen Geschöpf und Gott. Und daraus folgt dann der unangemessene Umgang sowohl mit anderen Menschen als auch mit der Natur. Noch einen zweiten Aspekt nimmt Wesley in den Blick: Wer Gott nicht kennt und folglich auch nicht liebt, der wird nicht einfach „lieb-los“, doch richtet sich seine „Liebe“, genauer: sein Vertrauen, auf vergängliche Dinge dieser Welt. Das Glück seines Lebens sucht der Sünder nicht in Gott, sondern im Geschöpf. Das aber heißt: der Mensch sucht es in Vergänglichem, und weil es vergeht, im – ebenso vergänglichen – Reiz des immer wieder Neuen, und das immer wieder aufs Neue. Mit psychologischem Gespür beobachtet Wesley, dass das Großartige und Schöne nur solange gefällt, wie es neu ist […] Dieser angeborene Durst bleibt in der Seele fest. Ja, je mehr wir ihm nachgeben, desto mehr nimmt er zu und treibt uns, immer wieder einem neuen Gegenstand nachzujagen, obwohl wir jedes mit enttäuschter Hoffnung und unerfüllter Erwartung zurücklassen.15

Die Suche nach dem Lebensglück in vergänglichen Dingen muss vergeblich bleiben. Die Gottlosigkeit des Menschen ist auch nicht Ausdruck echter Freiheit, sondern verfehlter Selbstbindung. Diese Bindung an die scheinbar unverrückbaren eigenen Bedürfnisse verzehrt den Menschen, weil sich sein Leben nicht aus Gott, der Quelle des Lebens, speist. Wesleys Analyse dieses Sündenbegriffs scheint mir nichts an seiner Aktualität verloren zu haben. Wo ein Mensch sich selbst zum Zentrum seiner

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John Wesley, Ursünde (Predigt 44), § II.7. In: ders., Die 53 Lehrpredigten. Übersetzt und hrsg. von Manfred Marquardt (Methodistische Quellentexte 1), 2. Aufl. Göttingen 2016, S. 628. Ebd. [wie Anm. 13]. Ebd. [wie Anm. 13], § II.10, S. 630 (Hervorhebungen im Original).

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Welt macht, da degradiert er damit alle anderen zu seiner „Umwelt“.16 In der Folge wird schnell die Würde anderer Menschen missachtet. Wer nur dem eigenen Wollen gehorcht, verliert das Gehör für die Stimme anderer, gerade der Schwachen. Er vergeht sich an Menschen, die in das Ebenbild Gottes erschaffen sind und widersetzt sich damit Gott. Die „Freiheit“ von Gott hat einen hohen Preis: den Preis der Bindung an Vergängliches und ein Leben aus Quellen, die früher oder später austrocknen. Halten wir fest: Die Sünde des Menschen liegt für Wesley darin, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen und damit maßlos zu werden: maßlos gegenüber den eigenen Ansprüchen, maßlos gegenüber anderen Menschen, maßlos gegenüber der Natur. Wesley hält eine wichtige Balance: Sünde ist zuerst ein theologischer Begriff und bezeichnet die Störung des menschlichen Gottesverhältnisses. Diese Beziehungsstörung ist das Grundübel, das alle Generationen und Gruppen von Menschen affiziert hat. Doch Wesley weiß auch, dass die Störung des Gottesverhältnisses sowohl das Selbst- als auch das Weltverhältnis des Menschen verzerrt. Das Selbstverhältnis des Menschen wird damit jedoch nicht unter ein einseitig negatives Vorzeichen gestellt. Die überzogene Selbstsorge, bei der sich der Mensch gegen das Gute verschließt und damit das Maß seines Menschseins verliert, ist nicht identisch mit einer – gesunden – Selbstannahme des Menschen. Die gesunde Selbstannahme ist Ausdruck christlicher Haushalterschaft („stewardship“). Wesley kann Gott über all dem preisen, was Gott den Menschen zur guten Verwaltung anvertraut hat: die Empfindungsund Urteilsfähigkeit des Geistes, die Sinne und Kräfte des Körpers, die Fähigkeit zu sprechen und nicht zuletzt einen Anteil an den geschaffenen 17 irdischen Gütern. Die Bejahung der von Gott geschenkten Talente, Gaben und Güter sind rechter Weise Gotteslob. Mit ihnen verherrlichen Menschen Gott, wenn sie das Geschaffene so gebrauchen, wie es Gott gefällt. Gottes Gefallen findet ein solcher Gebrauch, der den eigenen Grundbedürfnissen sowie denen des Nächsten dient und auf diese Weise die empfangene Liebe Gottes mit menschlichen Mitteln weitergibt. Wesleys Lehre von der Sünde, die hier nur in wenigen Strichen nachgezeichnet werden konnte, bietet wichtige Impulse für Methodisten im 21. Jahrhundert. Ich nenne drei.

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Zu diesem Gedanken vgl. Gestrich, Christof, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, 2. Aufl. Tübingen 1996, S. 206. Vgl. John Wesley, Der gute Verwalter (Predigt 51), § I.1–8. In: ders., Lehrpredigten [wie Anm. 13], S. 717–720.

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Erstens: Wesleys Verständnis von der Sünde sperrt sich gegen eine moralische Verflachung des Sündenbegriffs. Sünde ist eine primär theologische Kategorie: Die tiefste Not des Menschen ist seine Gottlosigkeit in der Gestalt egoistischer Selbstbehauptung. Diese Selbstbehauptung muss nicht die Gestalt der bewussten Ablehnung Gottes haben. Sie wird schon dort erfahrbar, wo Menschen sich nur um sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse drehen. Der Individualismus unserer Gesellschaften, der sich auch in den Medien spiegelt, bestärkt Tendenzen der Selbstbehauptung eher als dass er sie in Frage stellt. Die Kirchen haben hier einen wichtigen Bildungsauftrag, der Menschen immer wieder an die soziale Gestalt allen Lebens erinnert. Zweitens: Die Störung des Gottesverhältnisses geht, wie uns heute deutlicher denn je vor Augen steht, mit einer Störung des Weltverhältnisses des Menschen einher. Sie manifestiert sich in der Missachtung der Würde von Mitmenschen, in der Lieblosigkeit gegenüber dem Nächsten. Weil nach Wesley alle Menschen in das Ebenbild Gottes erschaffen sind, kann Christen das Los ihrer Mitmenschen nicht gleichgültig sein. In der zusammenwachsenden globalen Gemeinschaft ist das Ausmaß von Missachtung und Lieblosigkeit so groß geworden, dass Christen daran mitwirken müssen, diese Übel auch auf der Ebene globalen Handelns einzudämmen, was zeichenhaftes Handeln von Gemeinden, aber auch den Einsatz aus christlicher Überzeugung in politischen Zusammenhängen einschließt. Frieden, Gerechtigkeit und nachhaltiger Umgang mit natürlichen Ressourcen sind Bereiche, in denen die Weltgemeinschaft gefragt ist, weil die damit verbundenen Herausforderungen von einzelnen Staaten nicht bewältigt werden können. Hier gilt es auch das Bündnis mit Menschen und Gruppen zu suchen, die – aus weltanschaulich unterschiedlichen Gründen – in diese Richtung wirken. Dabei gilt es die eigenen christlichen Überzeugungen nicht zu verschweigen, sondern sie als Motor und Quelle des Engagements namhaft zu machen Die Wiedergewinnung menschlicher Maßstäbe muss sich daran orientieren, dass wir Menschen und nicht Gott sind, und dazu ist aus christlicher Perspektive Grundlegendes zu sagen. Drittens: Von der Sünde kann nicht geschwiegen werden, weil das Herzstück des Evangeliums, die Frucht des Sterbens und Auferstehens Jesu Christi das Angebot der Vergebung der Sünden ist. Nur wer die Tiefe der Sünde versteht, kann das Ausmaß und die Größe der Erlösung erfassen, die Gott allen Menschen anbietet. Das Geschenk der Vergebung ist unwiderruflich an den Namen Jesu Christi gebunden und deshalb ist im Pluralismus der Grundüberzeugungen in unseren Gesellschaften an der Einzigartigkeit dieses Namens festzuhalten.

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3.2 In Beziehung leben – Glaube, der in der Liebe verbindet Gottes Liebesangebot zielt darauf, Menschen in eine stabile und heilvolle Beziehung zu bringen. Von diesem Angebot her ist die Vielfalt von Formen, in denen Beziehungen in unserer Welt gelebt werden, zu beurteilen. Auch hier zeigen sich gegenläufige Tendenzen in unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite lassen sich Tendenzen hin zu einem instrumentellen Verständnis von Beziehungen erkennen: Beziehungen sind nicht selbst das Gut, sondern sie sind gut für etwas anderes, z. B. für die Glücksmaximierung – eine Vorstellung, die sich in steigenden Scheidungsraten, auch außerhalb der westlichen Staaten, auswirkt. Auf der anderen Seite geht diese Entwicklung mit der Überforderung von Beziehungen einher, denn wer gegen den Partner den Anspruch erhebt, an ihm oder durch ihn das höchste Glück zu erleben, der überfrachtet zwischenmenschliche Beziehungen in einer genau diese Beziehungen gefährdenden Weise. Gottes Angebot der Erlösung, das Wesley predigte, möchte Beziehungen Stabilität geben, indem es sie in der heilvollen Beziehung zu Gott gründet und damit sowohl vor Verflachung als auch vor Überforderung bewahrt. Dabei entsprechen Sünde und Erlösung einander: Beide sind Beziehungsbegriffe, insofern Sünde die verfehlte Beziehung zu Gott und Erlösung die Heilung dieser verfehlten Beziehung bezeichnet. An der Wiederherstellung der rechten Gottesbeziehung unterscheidet Wesley Rechtfertigung und Wiedergeburt (als Beginn der Heiligung). Dabei bedeutet Rechtfertigung „die Änderung einer Beziehung, die neue Geburt eine wirkliche Umgestaltung. Wenn Gott uns rechtfertigt, so tut er etwas für uns; wenn er uns zeugt, 18 wirkt er in uns“. Für Wesley kann die Befreiung des Menschen von der Schuld und Macht der Sünde seinen Ursprung allein in Gott haben. Die Beziehung, der jeder Mensch sein Leben verdankt, kann nur von dem sich den Menschen in Christus schenkenden Gott geheilt werden. Der Glaube ist die einzige notwendige Bedingung und zugleich das Gefäß, mit dem die rechtfertigende und erneuernde Gnade Gottes empfangen wird. Gottes durch den Glauben empfangene Liebe geht aller menschlichen Antwort voraus. Nur wer die Liebe Gottes empfangen und ihrer gewiss geworden ist, kann sein Leben vor Gott im Geist der Dankbarkeit, der antwortenden Liebe, führen: Er liebt uns zuerst und offenbart sich uns […]. Aber wenn wir ihn nun nicht lieben, der uns zuerst geliebt hat […], dann wird sein Geist sich nicht immer

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John Wesley, Das große Vorrecht der aus Gott Geborenen (Predigt 19), § 2, Einleitung. In: ebd. [wie Anm. 13], S. 264 (Hervorhebung im Original).

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mühen; er wird sich allmählich zurückziehen und uns der Dunkelheit unseres eigenen Herzens überlassen. Er wird nicht weiter seinen Odem unserer Seele einhauchen, wenn ihm nicht von uns Liebe, Gebet und Danksagung als Erwiderung dargebracht werden, ein Opfer, das ihm gefällt.19

Die Liebe Gottes kann nur in der Weise bewahrt werden, dass sie in dankbarer Antwort der Liebe zu Gott und dem Nächsten Gestalt gewinnt. Empfangen und Weitergeben der Liebe sind so untrennbar wie das Einatmen und Ausatmen. An dieser das Herzstück der Theologie bildenden Stelle möchte ich zwei Aspekten nachgehen, die in der Literatur zu Wesley weniger Beachtung gefunden haben. Zunächst ist daran zu erinnern, dass für Wesley Gott „heilige Liebe“ ist.20 Das Kreuz Jesu Christi steht für die Spannung wie für die Einheit von Heiligkeit und Liebe. Die Liebe Gottes ist nicht blind in der Weise, dass sie die Sünde übersieht. Gottes Liebe ist heilig in der Weise, dass sie die Sünde überwindet. Wird diese Liebe in die Herzen der Glaubenden ausgeschüttet, dann folgt daraus, dass sie nach Gottes Willen die Sünde bei sich und anderen nicht übersehen, sondern zu überwinden suchen durch das Angebot der Vergebung. Die Gemeinschaft von Christen mit Gott bleibt einer unüberwindlichen Dialektik verpflichtet: „holiness creates distance, 21 love seeks communion“. Wenn Gott vergibt, dann nicht, indem er das, was zu vergeben ist, ignoriert, sondern zur Sprache bringt und das Bekenntnis des Menschen mit der heilvollen Tat Gottes „verspricht“. Dementsprechend weiß Wesley auch um die Dialektik der Berufung, die dem zeugnishaften Leben von Christen in der Welt einwohnt. Sie sollen Freundschaft mit der Welt in dem Sinne halten, dass sie alle Menschen als Geschöpfe Gottes ansehen, die dazu bestimmt sind, im Glauben an Christus die Vergebung ihrer Sünden und neues Leben, nämlich Leben in Fülle (Joh 10,10), zu empfangen. Christen sollen mitfühlen und anpacken, wo Menschen in Not sind. Sie sollen jedoch nicht eine Einheit des Herzens suchen (folglich auch keine Ehe mit Nichtchristen eingehen), um die Gnade 22 Gottes weitergeben zu können, ohne vom Weltgeist ergriffen zu werden. Wie immer man über das Verhältnis von Nähe und Distanz zu Nichtchristen urteilen mag, Wesley hat einen realistischen Blick darauf, dass Christen auf dem Weg sind und von diesem Weg auch wieder abkommen können. 19 20 21 22

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Ebd. [wie Anm. 18], § III.3, S. 272. Vgl. Collins, Kenneth J., The Theology of John Wesley. Holy Love and the Shape of Grace, Nashville 2007, S. 20–22. Ebd. [wie Anm. 20], S. 21. Vgl. John Wesley, On Friendship With the World (Sermon 80). In: Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 3: Sermons III, Nashville 1986, S. 127–140.

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Die Liebe Gottes befreit Christen dazu, weise Entscheidungen zu treffen an dem Ort, an den Gott sie gestellt hat. Noch ein weiterer Aspekt soll erwähnt werden. Wesley hatte im Blick auf die Freundschaft mit der Welt davon gesprochen, dass Christen alle Menschen als Geschöpfe Gottes anerkennen sollen. Wir können den Begriff der Freundschaft mit der Welt in einem übertragenen Sinn aber noch weiter fassen. Das von der Sünde gereinigte Herz sieht nämlich nicht nur im anderen Menschen das Ebenbild Gottes, sondern es sieht die ganze Schöpfung erfüllt von der Herrlichkeit Gottes – weil es die Schatten der Sünde durchschaut. So kann Wesley in seiner Auslegung der Bergpredigt sagen: Die wichtigste Lektion, die unser gepriesener Herr uns an dieser Stelle einschärfen will […] besteht darin: Gott ist in allem, und wir sollen den Schöpfer im Spiegel jedes Geschöpfes sehen; wir sollen nichts als von Gott getrennt gebrauchen und betrachten, was tatsächlich eine Art von praktischem Atheismus wäre. Vielmehr sollen wir mit wahrhaft großem Denken Himmel und Erde und alles, was darinnen ist, als von Gottes Hand umfangen betrachten, der durch seine unmittelbare Gegenwart alles im Dasein hält, der die ganze Schöpfung durchdringt und in Bewegung setzt und in wahrem Sinn die Seele des Weltalls ist.23

Für Wesley ist die ganze Schöpfung eine Anordnung Gottes, dazu geschaffen, Gott zu erkennen, zu lieben und sich an ihm zu erfreuen.24 Dabei übersieht er nicht, dass diese Welt auf ihre Erneuerung hin seufzt und stöhnt.25 Die Sünde des Menschen hat die gesamte Schöpfung infiziert, und deshalb steht der Mensch in einer Solidarität des Leidens mit der gesamten Schöpfung. Wesleys Überzeugung verlangt daher nach „respect for all creatures, recognition of the importance of biodiversity and complex ecosystems, and working together with God for the benefit not only of human beings but for all other creatures as well“.26 Fassen wir die von der Erlösungslehre John Wesleys ausgehenden Impulse für das Leben von Christen im 21. Jahrhundert zusammen:

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John Wesley, Predigt 23 „Über die Bergpredigt unseres Herrn III“, § I.11. In: ders., Lehrpredigten [wie Anm. 13], S. 328. Vgl. John Wesley, God’s Approbation of His Works (Sermon 56), § I.14. In: Outler, Albert C. (Hrsg.), The Works of John Wesley, Vol. 2: Sermons II, Nashville 1985, S. 397. „All these [creatures] have been sufferers through sin; and to all these (the finally impeninent excepted) shall refreshment redound from the glory of the children of God“, Explanatory Notes Upon the New Testament, Reprint London 2000, S. 549. Cobb, John B., Grace and Responsibility. A Wesleyan Theology for Today, Nashville 1995, S. 53.

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Erstens: Die Erlösung ist ebenso wie die Sünde primär eine theologische Kategorie. Erlösung durch Jesus Christus ist Befreiung von der Schuld und Macht der Sünde. Erlösung in der Kraft des Geistes Jesu Christi ist dann aber auch Befreiung vom Gehorsamszwang gegenüber den Mächten dieser Welt. Die Mächte, die Anspruch auf das Leben von Menschen erheben, werden entzaubert: Weder Leistung noch Konsum vermögen es, den Menschen zum Ziel seiner ihm von Gott gegebenen Bestimmung zu führen. Erlösung schließt auch das Bewusstwerden von Mechanismen medialer Lenkung oder gar Manipulation ein. Für christliches Dasein und Handeln sind nicht unbedingt die Bilder wichtig, die uns aufgedrängt werden, sondern die Bilder, die Gott uns schenkt, wenn wir im Geiste Jesu Christi den Spuren Gottes in dieser Welt nachgehen. Zweitens: Gottes Beziehung zum Menschen, die er in Jesus Christus allen Menschen anbietet, befreit von Schuld und befähigt zur Liebe. Der Glaube hat damit eine die Beziehungen des Menschen stabilisierende Funktion. Wer um die Wertschätzung weiß, die er von Gott her hat, der ist nicht länger darauf angewiesen, sich in der Suche nach Anerkennung in zwischenmenschlichen Beziehungen zu verzehren. Wer um den Grund aller echten Beziehungen weiß, der empfängt den Mut zur Bindung: den Mut dazu, sich einem anderen Menschen vorbehaltlos zu öffnen, und die Bereitschaft, Beziehungen zu leben, um deren Wert, aber auch um deren Endlichkeit er weiß. Die Bildungsarbeit der Kirchen ist daher immer auch Arbeit an der Bindung, in besonderer Weise von Heranwachsenden, an Gott. Von Gott bejaht zu sein, ist eine Erfahrung, die in der Gemeinschaft von Christen möglich sein soll und die in ihnen die Fähigkeit ausbildet, aus diesem Ja heraus Nein zu Beziehungen und Strukturen zu sagen, die lebenszerstörend sind. Drittens: Das von der Sünde gereinigte Herz erblickt Gott im Spiegel seiner Geschöpfe und gewinnt so ein neues Verhältnis zur natürlichen Lebenswelt. Dabei geht es nicht um eine romantische Verklärung der Schöpfung. Schöpfung und Schöpfer müssen stets unterschieden werden. Die Schöpfung zu bewahren, heißt sie als (wenn auch zerbrochenen) Spiegel Gottes anzuerkennen und dafür zu danken, dass Gott sie erhält. In der Bewahrung der Schöpfung, die Menschen sich zur Aufgabe machen, gewinnt zeichenhaft Gestalt, was Gott selbst am Ende der Zeit tun wird und was zu bewirken dem Menschen nicht möglich ist: diese Welt zu erneuern zu seinem Reich, in dem Gerechtigkeit und Frieden wohnen werden.

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3.3 Auf Gottes Wegen gehen – die Gnadenmittel In modernen Gesellschaften begegnen uns gegenläufige Tendenzen. Da ist auf der einen Seite Begeisterung, die sich auf eine Sache oder auf eine Person richtet und den ganzen Menschen beansprucht. Gefühle geraten in Aufregung, der Wille ist angespannt bei der Sache, ein Mensch gibt sich ganz einem Projekt oder einem Ziel hin. Doch beobachten wir in zunehmendem Maße eine Kurzatmigkeit dieser Begeisterung. Auf der anderen Seite gibt es einen Formalismus, der Ausdruck seelenlosen Funktionierens ist. Zu denken ist an redundante Arbeitsprozesse, die ohne jede Abwechselung und ohne jeden höheren Anspruch sind. Zu denken ist auch an das Erstarren einstmals lebendiger Beziehungen, in der jeder seine eingeübte Rolle spielt, in der er sich aber zugleich nicht mehr zu Hause fühlt. Das Leben ist eingezwängt in Erwartungen von vielen Seiten her, sodass die Seele keine Luft zum Atmen mehr hat und zu ersticken droht. Die hier angedeuteten Entwicklungen standen, freilich in anderer Ausprägung, schon Wesley vor Augen. Für ihn stellten Enthusiasmus und Formalismus geistliche Gefahren dar, die das Leben des Christen von zwei Seiten her bedrohen: Auf der einen Seite die ungebändigte Sehnsucht, ohne jede äußere Ordnung mit der Gegenwart und Kraft Gottes in Berührung zu kommen; auf der anderen Seite die Erstarrung verbindlicher Formen des geistlichen Lebens zu leeren Ritualen. Mit der Matrix der Gnadenmittel hat Wesley versucht, beiden Gefahren gleichermaßen zu begegnen. Wesley ist überzeugt davon, dass Gott seine Gnade allen Menschen schenken möchte, dass der Empfang der Gnade aber einer Ordnung folgt, an die Gott sich in freier Liebe gebunden hat. Wesley formuliert: Unter „Gnadenmitteln“ verstehe ich äußere Zeichen, Worte oder Handlungen, die von Gott eingesetzt und als die üblichen Wege bestimmt sind, auf denen er den Menschen zuvorkommende, rechtfertigende und heiligende Gnade zukommen lässt.27

Der unsichtbare Gott begegnet endlichen Menschen in der greifbaren Gestalt menschlicher Handlungen, durch deren Vollzug Gott seine Gnade mitteilt. Das bedeutet, dass Gott in seiner Zuwendung zum Menschen diesen in Anspruch nimmt. Es bedeutet zugleich, dass er menschliches Handeln, das aus Glauben geschieht, damit würdigt, Gefäß göttlicher Gnade zu werden.

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John Wesley, Die Gnadenmittel (Predigt 16), § II. 1. In: ders., Lehrpredigten [wie Anm. 13], S. 225 (Hervorhebung im Original).

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Wesley selbst hat im Blick auf die Gnadenmittel eine Unterscheidung vorgenommen, die in ihrer Struktur dem Doppelgebot der Liebe entspricht. Danach ist zu unterscheiden zwischen den Übungen der Frömmigkeit, in denen Gott direkter Adressat ist (Gebet, Abendmahl, Hören des Wortes Gottes), und Übungen der Barmherzigkeit, die dem Nächsten zugute kommen und durch ihn indirekt auf Gott ausgerichtet sind (Besuch von Kranken, Gutes tun, Böses unterlassen). Dabei geht es Wesley nicht um einen abgeschlossenen Kanon von Gnadenmitteln, sondern um das exemplarische Benennen von Praktiken, die Gottes Gnade vermitteln und das Leben aus dem Glauben vertiefen. Die verschiedenen Gnadenmittel bilden ein Netzwerk, bei dem es auf die Verknüpfung der verschiedenen Praktiken ankommt. Nur durch ihr Zusammenspiel werden sowohl die Identität als 28 auch die Gegenwart Gottes erfahrbar. Verbinden wir diese Einsichten mit den im vorangehenden Abschnitt genannten Überlegungen zur „heiligen Liebe“. Der Enthusiasmus, wie Wesley ihn versteht, lehrt die unvermittelte Begegnung mit Gott in Erfahrungen direkter Inspiration.29 Damit überspringt der Enthusiast aber den Abstand zwischen Gott und den Menschen. Gott unmittelbar zu begegnen, heißt, in seiner heiligen Gegenwart zu vergehen. Gottes eifernde Heiligkeit würde den Menschen verzehren – deshalb die Menschwerdung des Sohnes, in dem Gott sich offenbart. Die Gnadenmittel eröffnen einen Raum der Begegnung mit Gott, ohne dass der Mensch darin vergeht. Denn es sind äußere, menschliche Handlungen, in denen Gott sich als gegenwärtig mitteilt. Der Formalismus der Religion dagegen nimmt die äußere Gestalt der Gnadenmittel ernst, vergisst aber, dass Gottes Liebe für den Menschen brennt, dass sie sich mit dem Menschen verbinden und ihn erfüllen möchte. Wer die Gnadenmittel in aufrichtigem Glauben in Anspruch nimmt, dem kommt Gott nahe – diese Nähe ist nicht nur unausweichlich, sie ist auch heilsnotwendig für den Menschen. Wesley hat selbst Gottes Liebe und die Ordnung der Gnadenmittel in einen engen Zusammenhang gestellt. In seiner Predigt „On Zeal“ entwi30 ckelt er das Bild einer inneren Burg (das an Theresa von Avila erinnert). Im 28 29

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So die überzeugende These von Knight, Henry H. III., The Presence of God in the Christian Life. John Wesley and the Means of Grace, Lanham/London 1992. Zu Wesleys differenziertem Verständnis von Gottes Anrede des Menschen vgl. Christoph Raedel, Gotteserfahrung im Widerstreit? Zwischen methodistischer Identität und charismatischer Erneuerung. In: ders. (Hrsg.), Methodismus und charismatische Bewegung. Historische, theologische und hymnologische Beiträge (Reutlinger Theologische Studien 2), Göttingen 2007, S. 163–192. Vgl. John Wesley, On Zeal (Sermon 92), Outler, WJW, Vol. 3 [wie Anm. 22], S. 308–321.

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Thronsaal dieser Burg, das heißt: im Herzen des Christen, residiert und regiert die Liebe, die alles erfüllt. Diese Liebe hat die Empfindungen des Christen verwandelt: er ist ganz Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, kurz: er hat die Gesinnung bzw. den Charakter seines Herrn Jesus Christus angenommen. In einem weiteren Kreis folgen die Übungen der Barmherzigkeit, im äußersten Kreis die Übungen der Frömmigkeit. Wesley wurde nicht müde, den Methodisten die Bedeutung der Gnadenmittel zu predigen. In den Gnadenmitteln wird die Gegenwart des dreieinigen Gottes erfahrbar. In ihnen formt sich Christus eine Gemeinschaft der Gnade – eine Gemeinschaft mit durchlässigen Grenzen. In den Übungen der Barmherzigkeit wird die Zuwendung zum Nächsten erfahrbar, er wird in seiner leiblichen ebenso wie in seiner geistlichen Bedürftigkeit wahrgenommen und angenommen. Das Ziel aller Barmherzigkeit besteht darin, dass der Empfänger der Zuwendung selbst in den Lobpreis der Gnade einstimmt und in die Gemeinschaft derer hineinfindet, die sich in den Übungen der Frömmigkeit mit Gott und miteinander verbinden. Was bleibt von diesen Einsichten Wesleys für das Leben methodistischer Kirchen im 21. Jahrhundert von Bedeutung? Erstens: Die Gnadenmittel sind Ausdruck der Treue Gottes und seiner Zuwendung zu dieser Welt. Gott bindet sich in freier Liebe an die Gnadenmittel und schenkt sich in ihnen den Menschen. Die Erinnerung an Gottes Treue und Verbindlichkeit ist eine Herausforderung für die Spätmoderne, der diese Kategorien weithin abhanden gekommen sind. Christen sind dazu befähigt und berufen, in dieser Welt Zeichen der Treue und Verbindlichkeit aufzurichten und selbst zeichenhaft zu leben. Im globalen Maßstab ist hier auch die Einhaltung von Verträgen, z. B. Friedensverträgen und Wirtschaftsabkommen, zu erinnern. Doch Treue gibt es nicht ohne Vertrauen. Das Geschenk der Gnadenmittel ist eine Vertrauen schaffende Maßnahme Gottes. Christen sind aufgerufen, in ihrem Umfeld und in ihrem Wirkungsbereich dazu beizutragen, dass Vertrauen entsteht und wächst. Zweitens: Gottes Geist macht lebendig, er begeistert dazu, mit Gott zu leben, und befähigt dazu, ihm zu gehorchen. Die Gnadenmittel eröffnen mitten im Alltag Räume der Begegnung mit Gott, der die Quelle des jetzigen und des kommenden Lebens ist. In unserer Leistungsgesellschaft kommt das Empfangen, das Leben aus der Quelle des Lebens zu kurz. Leistungsträger sind erschöpft und ausgebrannt. Das Leben kommt sieben Tage in der Woche lang nicht oder immer weniger zur Ruhe. Gesellschaften aber brauchen die Unterbrechung des Alltags, vor allem die sozial synchronisierte Ruhe des Sonntags. Wo eine Gesellschaft sich diese Ruhe nicht mehr gönnt, brennt sie von innen her aus, erschöpft sie sich selbst. Auch in einer

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plural verfassten Gesellschaft muss es möglich sein, sich um des Menschen willen auf Zeiten der gemeinsamen Ruhe zu verständigen. Die Unterbrechung des Alltags ist Gnade. Drittens: Die Gnadenmittel erschließen die Identität und Gegenwart Gottes, ohne dass sich ein abgeschlossener Kanon von Gnadenmitteln feststellen ließe. Das Leben ist auch eine Entdeckungsreise, auf der Gott die Menschen überrascht, die sich für ihn öffnen. Nach Wesleys Verständnis ist anzuerkennen, dass auch Nichtchristen – Wesley spricht von Heiden – ein tugendhaftes Leben führen können, was für ihn Ausdruck der vorlaufenden 31 Gnade Gottes ist. Damit ist die Einzigartigkeit des Erlösungswerks Jesu Christi nicht bestritten, sondern ein Weg positiver Wahrnehmung seitens der Christen in der pluralen Gesellschaft eröffnet.32 Wenn Christus das Licht ist, das alle Menschen erleuchtet, die in die Welt kommen (Joh 1,9), dann ist in diesem Licht die gemeinsame Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung von Christen und Nichtchristen möglich. Für den Missionsauftrag der Kirchen bleibt wichtig, die vorlaufende Gnade nicht mit der rechtfertigenden Gnade zu verwechseln. Viertens: Wesleys Verknüpfung von Übungen der Frömmigkeit und Übungen der Barmherzigkeit entspricht der von Jesus hergestellten Verbindung vom Gebot der Gottes- und dem Gebot der Nächstenliebe. Beide Formen, der empfangenen Liebe Ausdruck zu geben, sind unverzichtbar und zentral für das Leben von Christen. Unter Christen darf es keine „schlechte“ Arbeitsteilung geben zwischen dem Dienst der Maria, das heißt dem Üben der Frömmigkeit, und dem Dienst der Martha, das heißt dem Üben von Barmherzigkeit, weil Übungen der Frömmigkeit und Übungen der Barmherzigkeit in der von Gott emfangenen Liebe ihren gemeinsamen Ursprung und im Lobpreis Gottes ihr übereinstimmendes Ziel haben. Weil alle Menschen als Gottes Ebenbilder dazu bestimmt sind, das Evangelium zu hören und anzunehmen, darum können dem, der ihnen das Evangelium verkündigt, ihre leiblichen Nöte nicht gleichgültig sein. Wo es darum geht, dem Nächsten in seiner Bedrängnis beizustehen, gilt nach Wesley: „Whenever … one interferes with the other, works of mercy are to be preferred [to 33 works of piety]“. Denn Gott möchte nicht durch Opfer, sondern durch das Tun des Guten in dieser Welt verherrlicht werden. Die Globalisierung eröff31 32

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Vgl. John Wesley, Der Beinahe-Christ (Predigt 2). In: ders, Lehrpredigten [wie Anm. 13], 35–42. Zur Interpretation der Religionstheologie Wesleys vgl. Philip R. Meadows, „Candidates for Heaven“. Wesleyan Resources for a Theology of Religions. In: Wesleyan Theological Journal 35.1 (2000), S. 99–129. Vgl. Wesley, Zeal [wie Anm. 30], § II, S. 314.

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net neue, Kontinente übergreifende Möglichkeiten, Gutes zu tun und dabei insbesondere die Menschen im Blick zu haben, deren Leben von kriegerischen Auseinandersetzungen, Hunger, Verfolgung und Misshandlung bedroht ist. Fünftens: Christen werden in ihrem Dienst am Nächsten nicht verschweigen, wer ihr Herr ist, der sie sendet und zu diesem Dienst befähigt. Der Christ, dessen Glaube sich in der Liebe als tätig erweist (Gal 5,6), wird die ewige Bestimmung eines jeden Menschen zur Gemeinschaft mit Gott nicht aus dem Blick verlieren. Wie wir gerade sahen, darf der Gottesdienst, darf die fromme Glaubensübung, kein Vorwand sein, um sich dem Beistand für den Nächsten zu entziehen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Linderung irdischer Not Wegbereitung ist für das Evangelium von Jesus Christus, das ewiges Leben verheißt und Anteil daran gibt. Und so schreibt Wesley: While you are as eyes to the blind and feet to the lame, a husband to the widow and a father to the fatherless, see that you still keep a higher end in view, even the saving of souls from death, and that you labour to make all you say and do subservient to that great end.34

Als Herr dieser Welt ist Jesus Christus jedem Menschen zu bezeugen. Dabei ist gerade die methodistische Connexio eine Möglichkeit, das Christuszeugnis in seiner kulturübergreifenden Bedeutsamkeit zu kommunizieren. Es soll und darf nicht verschwiegen werden, was Christen zu ihrem Dienst treibt und befähigt. So wird der Dienst am Nächsten zum öffentlichen Gottesdienst.

4 Schlussfolgerungen Ich habe zu zeigen versucht, dass der Methodismus den Entwicklungen, die wir unter den Begriff der Globalisierung fassen, nicht einfach analytisch gegenübersteht, sondern selbst sowohl Resultat als auch Katalysator dieser bis in die Anfänge der Moderne zurückreichenden Tendenzen ist. Der frühe Methodismus breitete sich infolge von Wanderungsbewegungen aus und erfuhr sein größtes Wachstum in Gesellschaften, die eine Pluralität der Weltanschauungen anerkannten. Mit dem Strukturprinzip des Konnexionalismus verfügt der Methodismus über ein globales Netzwerk, dessen Potential noch nicht ausgeschöpft ist. 34

John Wesley, On Visiting the Sick (Sermon 98), § III.3. In: Outler, WJW, Vol. 3 [wie Anm. 22], S. 393.

Schlussfolgerungen

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Wesleys Theologie lässt sich, wie deutlich wurde, in unterschiedlicher Weise mit den Entwicklungen der Globalisierung und Pluralisierung in Verbindung bringen. Ich möchte abschließend noch einmal das konstruktive wie auch das kritische Potential seiner Theologie zusammenfassen. In konstruktiver Weise ist festzuhalten: Wesley weiß um den alle Menschen umgreifenden Horizont, wenn er von der Sünde oder von Gnade und Erlösung spricht. In all ihrer Unterschiedlichkeit leben die Menschen weltweit in der Solidarität der Sünde, die sich im Weltverhältnis von Menschen als die große Störung menschlichen Miteinanders erweist. In all ihrer Unterschiedlichkeit sind die Menschen zugleich dazu bestimmt, die Gemeinschaft des Gottesvolkes zu bilden, deren Herr Jesus Christus und deren Kraft der Heilige Geist ist. Wenn Wesley von Erlösung spricht, dann meint er damit die Befreiung des Menschen von der Schuld und Macht der Sünde und die Erneuerung der Menschheit in das Ebenbild Jesu Christi als Zubereitung für eine erneuerte Schöpfung, in der Gerechtigkeit und Frieden wohnen werden. Insofern ist die Mission der Kirche sharing the good news that God provides the new creation in Jesus Christ through the renewal of the imago Dei in humanity and also the cosmic re35 demption of the whole creation by the sanctifying power of the Holy Spirit.

Christen sind berufen zum Zeugnis für Jesus Christus, in dem wir bereits neue Schöpfung sind (2Kor 5,17), und zugleich zum Dienst in und für diese Welt, die Gottes Eigentum ist und die er uns als Haushaltern anvertraut hat. In kritischer Weise ermahnt uns Wesley dazu, nicht wegzuschauen, wenn die Würde von Menschen aus wirtschaftlichen, politischen und anderen Gründen dieser Welt missachtet wird. Soziale Ungerechtigkeiten, politische Unterdrückung und Verfolgung, nicht zuletzt aus religiösen Gründen, fordern zum Einsatz heraus. Deutlich geworden ist, dass bei diesem Einsatz Anhänger unterschiedlicher Grundüberzeugungen zusammenwirken können, ohne ihre Überzeugung verleugnen zu müssen. Die Kirche Jesu Christi wird dann ganz bei ihrer Sache sein, wenn sie ganz bei den Menschen ist. Sie wird für diese Menschen jedoch nur dann als Gemeinschaft der von Jesus Christus Gesandten erkennbar und als Mitarbeiter der Wahrheit (vgl. 1Kor 3,9) erfahrbar sein, wenn all ihr Dienst aus der Anbetung des dreieinigen Gottes kommt und sich als Dienst versteht, durch den der dreieinige Gott selbst sein Reich baut.

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Hyun Seok Kim, Toward a New Paradigm of Holiness Theology of Mission in Korea. Cosmic Holiness in Divine Ecology. In: Yrigoyen, Charles (Hrsg.), The Global Impact of the Wesleyan Traditions and Their Related Movements, Lanham/London 2002, S. 179.

John Wesley im Zeitalter der Globalisierung

„Konkurrenz belebt das Geschäft“? Zur protestantischen Vielfalt in freikirchlicher Sicht 1 Einleitung Evangelische Freikirchen unterschiedlichster Couleur sind aus Deutschland nicht mehr wegzudenken. Die religiöse Landschaft steht im Zeichen der Vielfalt. Dabei ist des einen Last des anderen Lust. Ja, es wird zunehmend schwieriger, die Vielzahl der religiösen Gruppen zu überschauen, das gilt bereits für den durch keinen Markenschutz abgrenzbaren Bereich der vielen evangelischen Freikirchen.1 Diese Vielfalt ist aber auch Resultat religionsrechtlicher Entwicklungen mit der Durchsetzung des Grundrechts auf freie Religionsausübung. Weil das bis ins frühe 20. Jh. hinein nicht so war, handelt es sich um eine Entwicklung, die die Freikirchen begrüßen, auch wenn sie nicht allein ihnen, sondern auch fremdreligiösen Gemeinschaften zugutekommt. Ich möchte hier der Frage nachgehen, ob sich konkret die protestantische Vielfalt, die heute sehr schnell mit dem Stichwort „Ökumene“ in Verbindung gebracht – und damit auch stillgestellt – wird, als Verhältnis von Mitbewerbern auf dem Markt der religiösen Angebote verstehen lässt. Und wenn ja, ist das bereichernd oder eher bedrängend? Um diese Frage letztlich differenziert beantworten zu können, werde ich nach einigen begrifflichen Klärungen (2) mit religionssoziologischen Kategorien prüfen, wie sich das Verhältnis von Freikirchen und Landeskirchen angemessen erfassen lässt (3). Sodann soll in philosophischer Hinsicht reflektiert werden, wie sich die Bedingungen des Glaubens in der Neuzeit so verändert haben, dass religiöse Vielfalt positiv bestimmt wird (4). Schließlich werde ich einige theologische Ansätze vorstellen, die die Gestalt und den Auftrag der Freikirchen zu begründen suchen(5).

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Zu den neuen Entwicklungen vgl. die Beiträge in: Freikirchen-Forschung 22 (2013) sowie aus landeskirchlich-lutherischer Perspektive: Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hrsg. von Matthias Pöhlmann und Christine Jahn, Gütersloh 2015.

Einleitung

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2 Freikirchen als Katalysatoren und Ausdruck innerprotestantischer Pluralisierung – Begriffliche Klärungen und typologische Differenzierungen Ich beginne mit einigen begrifflichen Klärungen. Was sind eigentlich „Freikirchen“? Zunächst ist festzustellen, dass der Ausdruck ein Gegenüber zu Staats- bzw. Landeskirchen voraussetzt, wobei dieses Gegenüber primär in den evangelischen Landes- bzw. (früheren) Staatskirchen gesehen wird. Es handelt sich also um einen „Verhältnisbegriff“,2 der nur für Teile Europas sinnvoll anwendbar ist.3 Als die Zeiten überdauerndes Kennzeichen von Landeskirchen lässt sich ihre territoriale Verfasstheit angeben: Landeskirchen kennen eine eindeutige kirchliche Zuordnung von Gebieten mit der Parochie als kleinster Einheit, in der für die dort lebenden (heute: in die Landeskirche getauften) Menschen eine kirchliche Zuständigkeit besteht. Verändert hat sich das Nähe-Verhältnis der Landeskirchen zum Staat. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat – „Es besteht keine Staatskirche“4 – ist in Deutschland als „hinkende Trennung“ ausgestaltet. Es wird also von einem partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Landeskirchen und Staat ausgegangen, insofern beide in wichtigen Bereichen (Diakonie, Schule, Militärseelsorge) einvernehmlich zusammenwirken. Das Gegenüber zu den Territorialkirchen benennt ein notwendiges, jedoch noch kein hinreichendes Kriterium für das, was Freikirchen ihrem Selbstverständnis nach sind. Der Existenz von Freikirchen liegt die Einsicht zugrunde, dass Christen- und Bürgergemeinde prinzipiell nicht deckungsgleich sind, der Glaube daher Gegenstand einer freiwilligen Entscheidung ist. An die Stelle des Territorial- tritt damit das Personalprinzip. Die Aufnahme in die Kirche erfolgt durch das Bekenntnis des persönlichen Glaubens und ist somit ein mit Bewusstsein und Willen vollzogener Akt. In diesem Sinne formuliert die Präambel der 1926 gegründeten Vereinigung Evangelischer Freikirchen als das die Mitgliedskirchen einigende Moment, dass sie „von den Gliedern ihrer Gemeinden ein Bekenntnis des persönlichen Glaubens an Jesus Christus [erwarten] sowie die ernsthafte Bereit-

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Markus Iff, Die evangelischen Freikirchen. In: Oeldemann, Johannes (Hrsg.), Konfessionskunde, Leipzig/Paderborn 2015, S. 296–390, hier S. 296. Vgl. Voigt, Karl Heinz, Die Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert) (KGE III/6), Leipzig 2004, S. 33. So Art. 137 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung, der qua Art. 140 GG in die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurde.

„Konkurrenz belebt das Geschäft“?

schaft, ihr Leben dem Willen Gottes entsprechend zu führen“.5 Dieses Bekenntnis des Glaubens ist meistens mit der Glaubenstaufe verbunden, allerdings ist diese Verknüpfung nicht zwingend, wie das Beispiel der Evangelisch-methodistischen Kirche sowie der Herrnhuter Brüderunität belegt. In welchem Sinne verstehen sich Freikirchen nun aber als „frei“? Hier ist als erstes von der Freiheit von der Einbindung in staatskirchliche Strukturen zu reden.6 Freikirchen möchten ihrem Verständnis von Gottes Handeln bis in die Gestaltung des eigenen Kirche- bzw. Gemeindeseins Raum geben und dabei frei von staatlicher Einflussnahme bleiben. Das schließt, zumal in Deutschland, jedoch nicht aus, dass Freikirchen die ihnen unter bestimmten Voraussetzungen offenstehende Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Anspruch nehmen. Schon der damit nach außen hin verbundene Reputationsgewinn scheint vielen Freikirchen attraktiv. Freikirchen verstehen sich vor allem aber als Freiwilligkeitskirchen, die in der Entscheidung von Menschen, sich zum Glauben einladen und in die Mitgliedschaft aufnehmen zu lassen, ein Handeln Gottes sehen, das auch der Kirche ihre Gestalt geben sollte. Hier liegt der Grund für die überwiegende Ablehnung der Praxis der Säuglingstaufe, mit der in einer nicht mehr rückgängig zu machenden Weise über das Kind verfügt wird. Hiermit ist aber auch der Grundstein für weitere Merkmale von Freikirchen zu sehen, die ich hier nur summarisch nenne: die Betonung des Gemeinschaftsgedankens und des Priestertums aller Glaubenden, zumindest ursprünglich auch die 7 Gemeindezucht bzw. Gemeindedisziplin. Im Anschluss an Niklas Luhmann ließe sich sagen, dass das Selbstverständnis der Freikirchen sowohl das Moment der Exklusionsidentität (nicht territorial verfasst Staatskirche zu sein) als auch das der Inklusionsidentität umfasst (offen zu sein für alle Menschen, die Gott, unabhängig von einer eventuell bereits bestehenden Kirchenzugehörigkeit, zum persönlichen Glauben führt). Mit diesem Selbstverständnis sind Freikirchen Katalysatoren protestantischer und religiöser Vielfalt. Ihre Existenzform setzt ein Minimum an staatlich gewährter Toleranz voraus, nämlich die Duldung, dass sich religiöse Gruppen außerhalb des etablierten kirchlichen Rahmens versammeln. Den 5 6 7

Vereinigung Evangelischer Freikirchen (Hrsg.), Freikirchenhandbuch. Informationen – Anschriften – Texte – Berichte, S. 141. Timothy Larsen spricht daher in seiner Definition der Freikirchen von „nichtstaatskirchlichen protestantischen Kirchengemeinschaften“, Art. Freikirchen. Kirchengeschichtlich. In: RGG4, Bd. 3, Tübingen 2000, S. 323. Vgl. Christoph Raedel, Gemeindezucht in Freikirchen im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion als Thema der Systematischen Theologie. In: Freikirchen-Forschung 23 (2014), S. 105–138.

Freikirchen als Katalysatoren

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Freikirchen geht es jedoch um mehr bzw. anderes als eine Duldung, die bestimmten Gruppen vom Staat gewährt, die ihnen aber auch jederzeit wieder entzogen werden kann. Für das Selbstverständnis der Freikirchen ist vielmehr das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit grundlegend. In Sachen der Religion darf es keinen Zwang geben, die Gemeindezugehörigkeit braucht den freien Entschluss einer Person. George Truett, ein Baptist, drückt es so aus: Uns geht es nicht um bloße Toleranz, sondern um absolute Freiheit. Zwischen Toleranz und Freiheit besteht ein grundsätzlicher Unterschied. Toleranz impliziert, dass jemand sich das Recht zu tolerieren anmaßt. Toleranz ist ein Zugeständnis, Freiheit ist ein Recht. Toleranz ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, Freiheit ist eine Frage des Prinzips. Toleranz ist ein Geschenk von Menschen, während Freiheit ein Geschenk von Gott ist.8

Als „Gottesgeschenk“ ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit unteilbar. Das Recht auf freie Religionsausübung wird daher nicht nur für die eigenen Mitglieder, sondern für alle Menschen erhoben.9 „Die Durchsetzung der Religionsfreiheit“, so formuliert es Erich Geldbach, „ist ein wesentlicher Beitrag des Freikirchentums zur Herausbildung der modernen pluralistischen Gesellschaft“.10 Mit der Forderung nach Glaubens- und Gewissensfreiheit ist nicht der Verzicht auf einen Wahrheitsanspruch verbunden, im Gegenteil, seines Heils und Glaubens gewiss zu sein, ist Voraussetzung dafür, auch in inneren Anfechtungen und äußerer Bedrängnis als Nachfolger Jesu leben zu können. Wohl aber bedeutet die Anerkennung des allgemeinen Rechts auf freie Glaubensausübung den Verzicht darauf, diesen Wahrheitsanspruch mit einem politischen Machtanspruch zu verbinden. Es unterliegt historisch gesehen keinem Zweifel, dass die Religionsfreiheit gegen die etablierten

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Truett, George, Baptists and Religious Liberty (1920), gek. und übersetzt in Martin Rothkegel, Freiheit als Kennzeichen der wahren Kirche. In: Strübind, Andrea/Rothkegel, Martin (Hrsg.), Baptismus. Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2012, S. 201–225, hier S. 211. 9 Dies hat seine Wirkung zunächst in den Vereinigten Staaten entfaltet: Beim „Zustandekommen des First Amandment spielten die Baptisten, die damals zahlenmäßig noch unbedeutend waren, eine weit überproportionale Rolle“, William H. Brackney, Die Geschichte der Baptisten in Nordamerika. In: Strübind/Rothkegel, Baptismus [wie Anm. 8], S. 47–67, hier S. 63. 10 Erich Geldbach, Art. Freikirchen. In: EKL, Bd. 1, Göttingen 1986, S. 1360. Ausführlicher ders., Freikirchen. Erbe, Gestalt und Wirkung, 2. Aufl. Darmstadt 2005, S. 50ff.

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„Konkurrenz belebt das Geschäft“?

Kirchen erkämpft werden musste.11 Die „protestantische“ Toleranzidee, wenn man von einer solchen bei den Reformatoren bereits sprechen will, ist das „Produkt der Säkularisierung der Reformation“12 und nicht unmittelbar aus ihren theologischen Grundüberzeugungen heraus entwickelt worden. Freikirchen sind jedoch nicht nur Katalysatoren protestantischer Vielfalt geworden, sie geben dieser Vielfalt auch selber Ausdruck. Das zeigt sich im facettenreichen Erscheinungsbild der Gemeinschaften, die für sich, mehr oder weniger explizit, die Bezeichnung Freikirchen in Anspruch nehmen bzw. sich ihnen zurechnen lassen. Ich stelle sie hier der Kürze halber nur stichpunktartig dar:13 · die „klassischen“, aus Erweckungen und deren transatlantischen Wirkungen hervorgegangenen Kirchen (Ausbreitung in Deutschland ab Mitte des 19. Jh.) · die aus der Heiligungs- oder aus der Pfingstbewegung hervorgegangenen Kirchen (Ausbreitung im späten 19. und frühen 20. Jh.) · Gemeinschaftsgemeinden, die formal Verbänden angehören, die sich als freie Werke innerhalb der Landeskirchen verstehen, aber freikirchliche Züge aufweisen14 · Aussiedlergemeinden 15 · Gemeinden anderer Sprache und Herkunft · Hauskirchen · Milieukirchen (Jesus Freaks, ICF, emergente Gemeinden) · der unscharfe Rand: CVJM-Mitarbeitergemeinden, Gebetshäuser In diese – zugegebenermaßen großzügig angelegte – Übersicht nicht aufgenommen sind die konfessionellen Minderheitenkirchen (Selbständige Evangelisch-lutherische Kirche, Evangelisch-altreformierte Kirche etc.), die man

11 Vgl. Rocholl, Rudolf, Volkskirche und Freikirche. Ein Vortrag auf der Pastoral12 13 14

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Conferenz zu Hannover, Berlin 1862. Rocholl beklagt, dass nach dem Willen der Freikirchen der „Rechtsstaat“ an die Stelle des „christlichen Staates“ treten soll. Ernst Wolf, Toleranz nach evangelischem Verständnis. In: ders., Peregrinatio, Bd. II.: Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, S. 284–299, hier S. 291. Ich erweitere hier eine Typologie, die vorbereitet ist bei Heinrich Christian Rust, Neue Freikirchen als Phänomen innerchristlicher Pluralisierung. In: Freikirchenhandbuch, S. 177–186. Freikirchlich agieren Gemeinschaftsgemeinden weithin, wenn sie für die Mitgliedschaft zwar keine (erneute) Taufe, aber das Bekenntnis des persönlichen Glaubens vor der Gemeinde erwarten. Für die nachwachsenden Generationen ist es immer weniger selbstverständlich, zugleich Mitglied der jeweiligen Evangelischen Landeskirche zu sein. Es gibt solche Gemeinden auch innerhalb der Landeskirchen, die überwiegende Zahl ist jedoch unabhängig, gehört also auch nicht unbedingt einem Gemeindebund an.

Freikirchen als Katalysatoren

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als „Freikirchen wider willen“ bezeichnen kann,16 da sie den Weg, den die Landeskirchen gegangen sind, de facto, den Gedanken der Volkskirche, also der Deckungsgleichheit von Christen- und Bürgergemeinde jedoch nicht prinzipiell ablehnen. Ein ekklesiologisches Motiv, das sich in sehr vielen freikirchlichen Strömungen ausmachen lässt, ist das Motiv der Erneuerung bzw. Wiederherstellung der Kirche im Sinne des Urchristentums. Gemeinde nach dem Neuen Testament zu sein gibt – zumindest ursprünglich – ein Grundanliegen der Gemeinschaften wieder, die sich außerhalb der Landeskirchen gebildet hatten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass das genannte Motiv sich 17 weiter ausdifferenzieren lässt: · um die Wiederherstellung der im Blick auf die persönliche Lebensführung reinen Kirche geht es den frühen Täufergruppen (ab dem 16. Jh.), dem Methodismus (18. Jh.) und der Heiligungsbewegung (19. Jh.); · um Wiederherstellung der urchristlichen Gemeindeordnung (Ämter, Riten) den Baptisten (18. Jh.), Darbysten (Brüderbewegung) und der KatholischApostolischen Gemeinschaft (19. Jh.); · um die Wiederherstellung urchristlicher Geisterfahrungen der Pfingstbewegung (20. Jh.). Von dieser Orientierung an einer verlorengegangenen Idealgestalt von Gemeinde her lassen sich verschiedene Merkmale von Freikirchen verständlich machen, die hier nicht näher ausgeführt werden sollen. Ich nenne nur die Tendenz zu einer eher ungeschichtlichen Wahrnehmung der eigenen kirchlichen Daseinsvoraussetzungen sowie die Neigung zum ethischen Rigorismus, der freilich im Laufe des Bestehens einer Gruppe üblicherweise abnimmt. Vielfältig präsentieren sich die Freikirchen auch in ihrer ekklesialen Verfasstheit. Die am weitesten verbreitete Form ist der Kongregationalismus, der von der Selbständigkeit der Ortsgemeinde ausgeht, was die Zugehörigkeit zu einem Gemeindebund (wie dem Bund Freier evangelischer Gemeinden) jedoch nicht ausschließt. Daneben gibt es die konnexionale Struktur, also die Verbindung (mehr oder weniger) eigenverantwortlicher Gemeinden in „Konferenzen“, die hierarchisch gegliedert sind (z. B. mit der Generalkonferenz als höchstem legislativen Gremium) und für den jeweiligen Zu-

16 Voigt, Freikirchen [wie Anm. 3], S. 95. 17 Vgl. Richard T. Hughes, Christian Primitivism as Perfectionism. From Anabaptists to Pentecostals. In: Burgess, Stanley M. (Hrsg.), Reaching Beyond. Chapters in the History of Perfectionism, Peabody 1986, S. 213–255.

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ständigkeitsbereich verbindliche Beschlüsse fassen.18 Eher selten sind zentralistische Strukturen mit starken Durchgriffsrechten der obersten auf alle unteren Ebenen. Ich ordne diesem Modell die Heilsarmee zu.

3 Freikirchen auf dem Religionsmarkt. Religionssoziologische Aspekte zur Zugehörigkeits-, Überzeugungs- und Praxisdimension des Christseins Das Christentum in Deutschland wird in der medialen Vermittlung oft vereinfachend und undifferenziert vorgestellt. Immer noch, wenn auch zunehmend seltener, ist davon zu lesen oder zu hören, dass es in Deutschland zu je einem Drittel der Bevölkerung evangelische Christen, römischkatholische Christen und Konfessionslose gibt. Diese schematische Aufstellung erweist sich schon deshalb als wenig hilfreich, weil sie die starken regionalen Unterschiede nicht sichtbar macht, denn Konfessionslose sind in Ostdeutschland, Protestanten in Nordwestdeutschland und Katholiken in Teilen West- und Süddeutschlands überrepräsentiert, wenn man obigen Proporz zugrunde legt. Zudem ist alles im Fluss, da die „Großkirchen“ kontinuierlich an Mitgliedern verlieren, während der im Drittel-Schema gar nicht vorkommende Islam eine starke Präsenz behauptet. Meine These lautet, dass eine hilfreiche religionssoziologische Analyse die Unterscheidung zwischen der Zugehörigkeits-, der Überzeugungs- und der Praxisdimension braucht. Für diese Unterscheidung sowie wesentliche Einsichten dazu be19 ziehe ich mich im Folgenden auf die Arbeiten von Detlef Pollack. Von der staatskirchlichen Prägung der Staaten Nord- und Westeuropas her empfiehlt es sich nicht, die religionssoziologische Wirklichkeit dieser Länder über die Zugehörigkeitsdimension zu erfassen. Für Kirchen, die Kirchensteuer erheben, ist die Frage: Wer ist Mitglied unserer Kirche? unbedingt wichtig. Die Beantwortung dieser Frage generiert weiterhin hohe Zahlen, die sich in Prozentangaben sinnvoll ausdrücken lassen. Für evangelische Landeskirchen waren das 2012 zwischen 14% der Bevölkerung in 18 Der Konnexionalismus hat sich in den meisten methodistischen Kirchen durchgesetzt, aber auch in vom Methodismus inspirierten Gemeinschaften wie den Adventisten sowie einigen zur Heiligungs- sowie zur Pfingstbewegung gehörenden Denominationen. Daher ist es nicht präzise, die konnexional verfassten Freikirchen als ein „evangelischmethodistisches Modell“ der Freikirchen zu bezeichnen; vgl. Voigt, Freikirchen [wie Anm. 3], S. 35. 19 Pollack, Detlef/Rosta, Gergely, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt/New York 2016; Pollack, Detlef, Religion und gesellschaftliche Differenzierung. Studien zum religiösen Wandel in Europa und den USA III, Tübingen 2016.

Freikirchen auf dem Religionsmarkt

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Anhalt und 61% in Schaumburg-Lippe. Die Zugehörigkeitsdimension ist für Freikirchen keine unwichtige, aber doch keine vergleichbar bedeutsame Kategorie. Einige Freikirchen kennen keine formale Mitgliedschaft, andere erfassen sie nur für ihre Gemeinde, überhaupt erreichen freikirchliche Gemeinden in der Regel mehr Menschen mit ihren Angeboten als sie auf ihrer Mitgliederliste führen. Im Blick auf die Zugehörigkeitsdimension gilt: Alle Freikirchen in Deutschland sind, gemessen an den Mitgliedszahlen der Großkirchen, vergleichsweise klein, und es ist auch nicht absehbar, dass sich das grundlegend ändern wird, selbst wenn der – auch demographisch bedingte – Schrumpfungsprozess der Landeskirchen anhält. Warum verharren die evangelischen Freikirchen nicht nur in Deutschland, sondern auch in seinen Nachbarländern, in der Ein-Prozent-Nische, wie ich sie einmal nennen möchte? Warum schaffen sie es ungeachtet aller missionarischen Bemühungen nicht, eine mit Brasilien, Nigeria oder Südkorea vergleichbare Durchdringung der Gesellschaft zu erreichen und in der Folge auch auf der Ebene der Zugehörigkeitsdimension zu einem signifikanten Faktor in der Kirchen- bzw. Religionslandschaft zu werden? Pollack 20 erläutert dies mit der sogenannten „Nischen-Theorie“. Danach stehen die Wertorientierungen und Glaubensüberzeugungen engagierter (freikirchlicher) Christen21 konträr zu vielen Leitüberzeugungen der säkularen westlichen Gesellschaft. Für viele grundlegende Überzeugungen fehlen in der rationalisierten Lebenswelt der modernen Gesellschaften schlicht die Kontaktpunkte. Das führt zu einer gewissen Isolierung, die durch bestimmte Verhaltensweisen, die als abgrenzend empfunden werden können (Mode, Musik etc.), noch verstärkt werden können. Die Kehrseite dieses Mangels an Kontaktfläche ist nach Pollack eine starke Kultur der Glaubensweitergabe im Inneren. Es gelingt ihnen nämlich deutlich besser als in liberalen religiösen Milieus, ihre Überzeugungen und Glaubenspraktiken an die nächste Generation weiterzugeben. Nach Pollack ist es keine geringe Leistung, innerhalb eines Kontrastmilieus überhaupt die Weitergabe des Glaubens sicherzustellen und den eigenen Nachwuchs im Glauben zu erziehen, obwohl alle Beteiligten dem Einfluss der Dominanzkultur (Schule, Medien etc.) ausgesetzt sind. Pollack und Rosta schreiben: Aufgrund ihrer Diskrepanz zu den Wertorientierungen und religiösen Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft vermögen die charismatischen und evan20 Vgl. Pollack/Rosta, Religion [wie Anm. 19], S. 416. 21 Pollack exemplifiziert seine Überlegungen v. a. an pfingstlich-charismatischen Gruppen. Seine Beobachtungen lassen sich aber auch darüber hinaus auf viele Freikirchen anwenden.

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gelikalen Gemeinden in Westeuropa kaum größere Bevölkerungsgruppen anzuziehen. Die Dichte ihrer interaktiven Beziehungen, die relative Geschlossenheit ihres Weltbildes, die […] auffällig hohe Kohärenz ihrer religiösen Überzeugungen verleiht diesen Gruppen allerdings zugleich eine beachtliche 22 Widerständigkeit gegenüber dem Druck der anders orientierten Mehrheit.

Anders gesagt: Unter den Bedingungen der multimedial vernetzten, in Mitteleuropa eine echte Abschottung gar nicht mehr ermöglichenden spätmodernen Gesellschaft ist es weniger ein Wunder, dass die – überwiegend evangelikal oder charismatisch-pfingstlerisch geprägten – Freikirchen nicht rapide wachsen, sondern vielmehr ein Wunder, dass es sie seit über 150 Jahren gibt. Meines Erachtens lässt sich die Prognose wagen, dass es Freikirchen (welche auch immer) auch in hundert Jahren in Deutschland noch geben wird. Von den Landeskirchen in ihrer jetzigen Verfasstheit möchten das selbst landeskirchliche Führungskräfte nicht behaupten. Für unseren Zusammenhang, nämlich die protestantische Vielfalt, ist die Überzeugungsdimension interessanter. Freikirchliche Christen glauben an einen persönlichen Gott, der in der Geschichte handelt und in das Leben von Menschen eingreift, sie glauben, dass Jesus Christus (leiblich) auferstanden ist, dass er in der Kraft des Heiligen Geistes gegenwärtig ist, sie gehen davon aus, dass sie nach dem Tod in der Ewigkeit bei Gott leben werden, rechnen auch mit der Existenz von Engeln, Dämonen usw. Wie bereits erwähnt, haben solche Vorstellungen wenig Kontaktfläche mit Vorstellungsschemata, die von der Mehrheitsgesellschaft geteilt werden, in denen, was Westdeutschland angeht, eher eine vage Ahnung von etwas Höherem vorherrscht, während in Ostdeutschland der Agnostizismus vorherrscht. Die Homogenität der Überzeugungen erweist sich somit als Stabilisator, zugleich jedoch auch als Wachstumsbremse für die Freikirchen in Deutschland. Genau hier liegt der Unterschied zu Ländern wie Brasilien, Nigeria und Südkorea, in denen Vorstellungen von einer belebten unsichtbaren Welt, die die sichtbare Welt durchdringt und das Leben der Menschen bestimmt, keine Randerscheinung sind, sondern zum breit geteilten kulturellen Ideenbestand gehören. In Nigeria müssen Pfingstler ihren Mitmenschen, die sie für das Evangelium gewinnen möchten, nicht erklären, dass es Dämonen gibt, sondern sie verkündigen ihnen, dass der auferstandene Jesus die Dämonen besiegt hat und auch sie daher im Glauben an Jesus ein von bösen Mächten befreites Leben führen können. Die Folge dieser ideenweltlichen Überlappungen ist eine stärkere Neigung zum Synkretismus und Ekklektizismus: Der christliche Glaube wird angenommen, bisher bestimmende 22 Pollack/Rosta, Religion [wie Anm. 19], S. 432f.

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Vorstellungen aber nicht abgelegt, sondern integriert, der christliche Glaube unter Umständen mit fremdreligiösen Vorstellungen vermischt. Der Seitenblick auf Nigeria ist hier nicht zufällig. Denn die religiöse, gerade auch die christliche Landschaft in Deutschland verändert sich fortwährend durch (wachsende) Migrationsströme. Soviel ist sicher: Die Christenheit in Deutschland wird ethnisch bunter, das ist bereits jetzt deutlich erkennbar. Für die aus afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Ländern stammenden Migranten gilt, dass die biblischen Texte, in denen es Flucht und Vertreibung, patriarchale Familienstrukturen, Wunder und Exorzismen gibt, sie existentiell tiefer in ihren weltbildlichen Bezügen zu 23 berühren vermögen als „aufgeklärte“ Deutsche sich das vorstellen können. Untersuchungen, auch zur Gruppe der Jugendlichen, zeigen: Migranten sind durchweg religiöser als die angestammte Bevölkerung, was ihre Präsenz in der muslimischen Gemeinschaft, aber zunehmend auch in christlichen Gemeinden erklärt. Doch selbst wenn wir den Bevölkerungsteil mit ausländischen Wurzeln nicht gesondert ausweisen, gilt im Blick auf die freikirchliche Landschaft in Deutschland: Es wachsen nicht alle Freikirchen gleichermaßen, genauer: es gelingt nicht allen Freikirchen gleichermaßen, ihren Bestand zu sichern und den eigenen Nachwuchs zu halten, womit der demographische Wandel sich in sinkenden Mitgliederzahlen auswirkt, selbst wenn es keine Austrittswelle gibt. Vielmehr wachsen innerhalb des freikirchlichen Spektrums v. a. Gemeinden, deren Überzeugungen eher konsistent im Kontrast zur Mehrheitsgesellschaft und zum landeskirchlichen Pluralismus stehen. Gleichzeitig schrumpfen hierzulande diejenigen Freikirchen, die theologisch pluraler werden, die Kontaktflächen zur Gesellschaft vergrößern und dafür ihr geistlich-theologisches Profil abschleifen, wie es am ehesten auf die Evangelischmethodistische Kirche sowie die Herrnhuter zutrifft. Mit einem wachsenden Binnenpluralismus ringt auch der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG). Der ehemalige Bischof der EmK Walter Klaiber hat bereits vor vielen Jahren beobachtet: Es scheint das Prinzip zu gelten, ‚wenn Alternative, dann [wirklich] Alternative‘, d.h. diejenigen Freikirchen sind am attraktivsten, die in Theologie und kirchlicher Struktur wirklich ein Kontrastmodell zur kirchlichen Mehrheitskultur bieten.24

23 Vgl. Jenkins, Philip, The New Faces of Christianity. Believing the Bible in the Global South, Oxford 2006.

24 Walter Klaiber, Freikirche – Kirche der Zukunft? In: ÖR 50 (2001), S. 442–455, hier 447.

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Diese Beobachtung sollte zu denken geben. Zwar können sich religiöse Überzeugungen nicht daran ausrichten, wie erfolgreich sie sich „vermarkten“ lassen, allerdings legt die religionssoziologische Analyse den Schluss nahe, dass die Existenz von Freikirchen sehr kompatibel mit religiöser Vielfalt in der Gesellschaft ist, nicht jedoch mit einem ausufernden Binnenpluralismus innerhalb einer Freikirche selbst. Das entspricht dem ursprünglichen Impuls der freikirchlichen Gründerpersonen, die für Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht aus theologischer Indifferenz, sondern aus Leidenschaft für die Wahrheit eintraten. Obwohl die Freikirchen es als ihren Auftrag ansehen, Menschen für einen lebendigen christlichen Glauben zu gewinnen, sie also eine Auseinandersetzung mit dem Unglauben sowie fremdreligiösen Vorstellungen führen, bleiben die Landeskirchen für sie doch eine wichtige Bezugsgröße. Man verdankt ihnen eine christliche Grundierung der Kultur, die Möglichkeiten der Verkündigung eröffnet, wenn z. B. im Reformationsjubiläumsjahr 2017 die Bibel öffentlichkeitswirksam ins Gespräch gebracht werden kann. In ihrem theologischen Pluralismus bieten die Landeskirchen für Freikirchen aber auch eine erhebliche Reibungsfläche, an der das eigene Profil geschärft werden kann. Das muss die praktische Zusammenarbeit vor Ort, z. B. in diakonischen Aufgabenfeldern, nicht ausschließen. Doch insgesamt muss erkennbar bleiben: Warum gibt es uns als freikirchliche Gemeinde an die25 sem Ort und was ist unser ureigener Auftrag? Vor allem aber können Freikirchen an der Entwicklung der Landeskirchen in der Bundesrepublik seit 1945 Lernerfahrungen sammeln. Pollack und Rosta fassen in wenigen Sätzen alles zusammen, was die Landeskirchen in den zurückliegenden Jahrzehnten gegen ihren zunehmenden Bedeutungs- und Mitgliederverlust aufgeboten haben: Wie bereits erwähnt, sind die [Landes]Kirchen seit den ersten Einbrüchen [bei den Mitgliederzahlen] in den 1960er Jahren deutlich gesellschaftsoffener, politischer, gesprächsbereiter, klientenorientierter, liberaler und professioneller geworden. Die evangelischen Kirchen unternahmen einschneidende Strukturreformen, bauten funktionale Dienste auf, erhöhten ihren Personalbestand, 25 Zu meinen Erinnerungen als Kind der EmK gehört die Frage eines örtlichen landeskirchlichen Pfarrers, warum wir wenigen Methodisten uns nicht der Landeskirche anschließen, es gebe doch ohnehin keine Unterschiede. Dass ein solcher Eindruck überhaupt entstehen kann, ist auch eine Folge der für evangelisch-methodistische Theologie und Kirche kennzeichnenden „fallacy of displaced modesty“ (Paul Avis), also der Behauptung, das Besondere an der EmK sei, dass sie nichts Besonderes habe – eine subtil arrogante Behauptung, weil sie eine Normalität definiert, von der dann alle anderen Kirchen, die sich einer eigenen Besonderheit bewusst sind, abweichen.

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hoben die professionellen Standards an, etablierten Formen der Supervision pfarramtlicher Tätigkeiten, relativierten ihre dogmatische Lehrautorität, nahmen ihren Wahrheitsanspruch zurück, öffneten sich für die individuellen Bedürfnisse der Menschen, setzten sich für Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und Frieden und damit für die Bearbeitung gesellschaftsrelevanter Probleme ein, verstärkten die ökumenischen Beziehungen zu anderen Kirchen und taten vieles andere mehr, um die Kontaktflächen zur Gesellschaft zu verbreitern und die Attraktivität des eigenen Angebots zu steigern […] Doch trotz der organisatorischen Aufrüstung und der Hinwendung zum Menschen und zur Welt ist es sowohl den evangelischen Kirchen als auch der katholischen Kirche nicht gelungen, den Abwärtstrend in der Entwicklung ihres Mitgliederbestands umzukehren und den dramatischen Schwund der Gottes26 dienstbesucher aufzuhalten.

Die gesellschaftliche Relevanz der Kirche herauszustellen ist offenbar nicht gleichbedeutend damit, das Evangelium zu einer das Leben der Mitglieder bestimmenden Kraft werden zu lassen. Zumindest ist dies der Eindruck, den sukzessive Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD für die Überzeugungsdimension des Glaubens nahelegen. Hier ist über die Jahrzehnte von echten Substanzverlusten zu sprechen, die offenbar mit einer nachlassenden Praxis des Gottesdienstbesuchs korrelieren.27 Um nicht missverstanden zu werden: Meine Aussagen implizieren kein (negatives) Generalurteil über alle oben genannten Neuorientierungen. Deutlich werden sollte aber: Wenn evangelische Freikirchen zur Vielfalt des Protestantismus in Deutschland etwas beitragen wollen, dann nur über eine „Ökumene der Profile“ (W. Huber),28 also dadurch, dass sie von den Landeskirchen mit ihrem „Pluralismus aus Prinzip“ (E. Herms)29 unterscheidbar bleiben und – in religionssoziologischen Kategorien gesprochen – der Zugehörigkeitsdimension keinen Vorrang vor der Überzeugungs- und Praxisdimension geben. Zahlen an sich sagen wenig über die gesellschaftliche Relevanz einer Kirche (was auf der örtlichen Ebene am ehesten greifbar wird), viel wichtiger ist, auf der Ebene der Überzeugungen und Handlungen das Proprium des Glaubens zu bewahren und alltäglich zu bewähren.

26 Pollack/Rosta, Religion [wie Anm. 19], S. 164f. 27 Vgl. Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, V. EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, S. 46.

28 Vgl. Huber, Wolfgang, Im Geist der Freiheit. Für eine Ökumene der Profile, Freiburg i. Br. 2007.

29 Vgl. Eilert Herms, Pluralismus aus Prinzip. In: ders., Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, S. 467– 485.

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Ich gehe noch kurz auf die mit der Überzeugungs- eng verbundene Praxisdimension ein. Nach Pollacks Studien ist Gottesdienstbesuch ein belastbarer Indikator für das Vorhandensein eines vitalen geistlichen Lebens, also (zumindest) dem Anspruch, dem Glauben auch eine den Alltag bestimmende Gestalt zu geben. In der Sammlung von Glaubenden und Suchenden zum Gottesdienst dürfte eine Stärke der Freikirchen liegen. Der weit überwiegenden Zahl freikirchlicher Gemeinden gelingt es, sonntäglich mindestens so viele Besucher zum Gottesdienst zusammenzubringen wie sie Mitglieder haben, den meisten sogar, mehr als sie Mitglieder haben. Nehmen wir zum Zweck des Vergleichs bei den Gottesdienstbesuchern eine nationale Betrachtungsweise ein, dann ist bei einem durchschnittlichen Gottesdienstbesuch von 3% aller EKD-Mitglieder von sonntäglich 670.000 Besuchern landeskirchlicher Gottesdienste auszugehen. Nimmt man allein die Mitgliederzahl der in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen organisierten Freikirchen zusammen, ergänzt sie um die – konservativ geschätzten – Mitgliederzahlen in den dort nicht vertretenen Gemeinden und Bünden (wobei insbesondere Aussiedlergemeinden ins Gewicht fallen) und berücksichtigt, dass der tatsächliche Gottesdienstbesuch in der Regel höher liegt als die Zahl der Mitglieder ist, dann lässt sich die Behauptung vertreten, dass der Zahl der landeskirchlichen Gottesdienstbesucher eine ungefähr so hohe, vielleicht sogar höhere Zahl an Besuchern freikirchlicher Gottesdienste zur Seite gestellt werden kann. In der öffentlichen Wahrnehmung fällt diese Ebene üblicherweise aus, weil die Mitgliederzahlen der Großkirchen sich viel einfacher darstellen lassen. Für das geistliche Leben in Deutschland dürfte es aber von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein, dass die Freikirchen einen großen, mit dem der Landeskirchen quantitativ vergleichbaren Anteil an der Verantwortung für die Wortverkündigung haben. Auch wenn diese quantifizierende Betrachtungsweise zu ungeistlichen Schlussfolgerungen führen kann, lässt sich doch feststellen, dass Freikirchen an einem zentralen Punkt christlicher Lebenspraxis eine Stärke zeigen, die in ihrer Bedeutung weder theologisch noch soziologisch unterschätzt werden sollte. Halten wir fest: Die Nischentheorie lässt nicht erwarten, dass die Freikirchen zahlenmäßig in die Fußstapfen der Landeskirchen treten werden. Dagegen ist es auf der Ebene des Gottesdienstbesuchs bereits zu erheblichen Verschiebungen zugunsten der Freikirchen gekommen. Ihre Leistung besteht darin, dass sich freikirchliche Gemeinden im rasanten gesellschaftlichen Wandel als relativ stabil erweisen. In religionssoziologischer Hinsicht sind Freikirchen Katalysatoren protestantischer Vielfalt, die im Zuge der Toleranzgewährung den etablierten Kirchen abgerungen wurde. Sie sind zu-

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gleich Ausdruck dieser Vielfalt, weil die Möglichkeit, neue Gemeinden und Denominationen zu gründen, zur Entstehung verschiedener Gemeinschaften führte. Freikirchen in Deutschland agieren, weil ihre weltbildlichen Überzeugungen wenig Kontaktflächen zur Mehrheitsgesellschaft aufweisen, in einer Nische, die zu besetzen und zu behaupten ihnen desto besser gelingt, je stärker sie ihr eigenes geistlich-theologisches Profil herausstellen und dem Binnenpluralismus Grenzen setzen.

4 Bedingungen des Glaubens – philosophische Reflexionen Wir haben einige Entwicklungslinien verfolgt und Typologien entwickelt. Es gibt, das zeigen die Arbeiten von D. Pollack und anderen Religionssoziologen, in Westeuropa eine Säkularisierung, die sich im Verblassen christlicher Überzeugungen, der Vernachlässigung der Glaubenspraktiken und einer zurückgehenden Kirchenbindung zeigt. Allerdings ist dies nicht die ganze Geschichte, die zu erzählen ist, denn soweit ließe sie sich auch ohne jeden Rekurs auf die Freikirchen erzählen. Aber die sind ja da und erweisen sich, wie wir gesehen hatten, auf, wenn auch rein quantitativ betrachtet, niedrigem Niveau als recht stabil. Der kanadische Philosoph Charles Taylor geht es seinen Untersuchungen der Frage nach, wie sich die Bedingungen des Glaubens in der Neuzeit 30 verändert haben. Taylor stellt nicht in Abrede, dass sich ein Rückzug der Religion aus dem öffentlichen Raum sowie ein Rückgang der religiösen Praxis in den westlichen Ländern (mit einer gewissen Ausnahme der USA) belegen lassen. Sein Interesse gilt jedoch etwas anderem, nämlich der Tatsache, wie sich der Glaube verändert, wenn er nicht länger in ein für alternativlos gehaltenes christliches Vorstellungsschema eingebettet ist, das den ständisch verfassten Staat ebenso einschließt wie die Dominanz einer Institution (zunächst der Katholischen Kirche, mit der Konfessionalisierung dann der jeweils im Staat vorherrschenden Glaubensrichtung). Der entscheidende Paradigmenwechsel ist nach Taylor der Zwang zur Entscheidung: Der christliche Glaube ist von keiner äußeren Autorität mehr verordnet, der Lebensweg auch nicht mehr durch die Erstsozialisation des Elternhauses vorherbestimmt, vielmehr ist der eigene Glaube eine, zudem von vielen Seiten angefochtene Option unter mehreren, für die man sich entschieden

30 Vgl. Taylor, Charles, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009; ders., Quellen des Selbst, Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 9. Aufl. Frankfurt am Main 2016; ders., Das Unbehagen an der Moderne, 8. Aufl. Frankfurt am Main 2014.

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hat.31 Religion ist zu einer Sache der Wahl geworden, der Freiwilligkeit. Die Einsicht, dass es in Sachen der Religion keinen Zwang geben darf, wird zur Signatur der Moderne. In seinem fast 1300 Seiten umfassenden Buch Ein säkulares Zeitalter entfaltet Taylor eine gewaltige Narrative. Sie reicht von der Einbettung der Religion in eine hierarchisch strukturierte („verzauberte“) Welt, führt über eine auf die Mehrung innerweltlichen Glücks und Sicherung von Wohlstand und Frieden hin ausgerichtete, „entzauberte“ Welt bis hin zur Dominanz des von ihm so bezeichneten „ausgrenzenden Humanismus“. Damit meint Taylor eine Vorstellung, die das Transzendente ganz in die Immanenz hineinzieht und Vorstellungen wie Gott, ewige Glückseligkeit etc. funktionslos macht. Spätestens infolge des nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Wirtschaftsaufschwungs werden Irreligiosität, Materialismus und Hedonismus zu stabilen und sanktionslos möglichen Normaleinstellungen. Doch die Transzendenz ist nicht völlig vergessen. Auch der an immanenten Glücksvorstellungen orientierte Mensch fühlt sich unter einem „doppelten Druck“: Einerseits fühlt es sich gut an, frei von jeglicher Fremdbestimmung zu sein und sich selbst (in Grenzen) verwirklichen zu können. Zugleich verfolgt die meisten die Frage: Sollte das wirklich schon alles sein – das einträgliche Gehalt, die Partnerin bzw. der Partner, das Reihenhaus, zwei Kinder? Gibt es einen Sinn, der diese Teile zu einem größeren Ganzen zusammenfügt? Es scheint keinen Ausweg aus der paradoxen Erfahrung des modernen Menschen zu geben: Einerseits scheitert die Vorstellung, dass Gott die Welt gut und weise so geordnet hat, dass das Glück aller gemehrt wird, an der alltäglichen Erfahrung, dazu muss man nur die Nachrichten verfolgen (Theodizee). Andererseits befriedigt aber auch die Oberflächlichkeit und Sinnleere der modernen Welt nicht wirklich. In der Folge richten sich die meisten Menschen in einer metaphysischen Mittelstellung ein: Sie rechnen damit, dass es irgendeine übernatürliche Macht gibt, mit der man sich – nutzbringend – verbinden kann. Die (westdeutsche) Mehrheit, die in dieser Mittelstellung verharrt, einzubinden, gelingt den Landeskirchen besser als den Freikirchen. Für Freikirchen ist diese Haltung der Unentschiedenheit nicht akzeptabel, geht es ihnen doch um einen seines Heils gewissen Glauben. Die Landeskirchen dagegen respektieren und wertschätzen die unterschiedlichen Grade an 31 In dieser Perspektive ist die hohe Zahl der religiös indifferenten Kirchenmitglieder der Großkirchen ein Relikt der Prämoderne. Viele als Kind getaufte und sogar konfirmierte (passive) Kirchenmitglieder gehören einfach deshalb zu ihrer Kirche, weil sie ihren Glauben nicht zum Gegenstand einer Entscheidung gemacht haben.

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Transzendenzbewusstsein, die selektive Inanspruchnahme kirchlicher Angebote und das Spektrum an persönlichen Glaubensüberzeugungen als legitimen Ausdruck innerkirchlicher Vielfalt. Sie agieren als Akteure mit spiritueller Kompetenz in einem religiös entscheidungsschwachen, christlich vorsozialisierten Umfeld. Ein Kontrast und global betrachtet eine Ausnahme sind in religiöser Hinsicht die ostdeutschen Bundesländer, deren Bevölkerung sehr niedrige „Transzendenz-Werte“ ausweist und damit quer steht zur breiter auf den westlichen Kontext angelegten Analyse Taylors. Zurück zu den Bedingungen des Glaubens in der Moderne. Die protestantische und im Weiteren religiöse Vielfalt ist eine Frucht der protestantischen „Entzauberung“ der Welt, wobei die denominationelle Vielfalt vor allem in den Vereinigten Staaten zur neuen Normalität geworden ist. Der persönliche Glaube ist nun eine Frage der Entscheidung. In den USA wird dies zum Programm aller Kirchen, mit ihrer Ausbreitung als Freikirchen in Europa propagieren die Denominationen diesen Gedanken auch hierzulande, erreichen damit allerdings deutlich weniger Menschen als jenseits des Atlantiks. Zur „Entzauberung“ der Welt (Max Weber) gehört die Überwindung der räumlichen und zeitlichen Gliederung der Welt in sakrale und profane Räume, in hohe Fest- und gewöhnliche Arbeitstage bzw. -zeiten (kirchliche Festtage, Fastenzeiten). Jede Zeit und jeder Ort gelten nun als gleichermaßen unmittelbar zu Gott. Die Reformation bereitete diese „Entzauberung“ auf ihre Weise mit vor. So polemisiert Luther scharf gegen die vielen kirchlichen Festtage, die doch nur zur Ausschweifung genutzt würden 32 und der Arbeitswoche verlorengingen. Calvin geht noch weiter. Er verbannt die Bilder aus den Kirchen, nimmt dem Abendmahl seine sakramentale Deutung und dringt auf die Heiligung des Lebens der Christen in Selbstdisziplinierung und Selbsterziehung. Bei Luther fällt dieser Aspekt weniger rigoros aus, weil er die Begierden nicht als etwas per se Schlechtes versteht, sondern sich dazu bekennt, dass sie innerhalb der ihnen von Gott gesetzten Grenzen Genuss und Freude ermöglichen sollen.33 Die Szene ist jedenfalls gesetzt für die Ausbildung neuer Vorstellungsschemata, in denen der Glaube seinen angestammten Platz verliert und gewissermaßen subjektiviert wird.

32 Vgl. Luther, Martin, Von den guten Werken, WA 6,202–276, hier S. 229. 33 Vgl. Luther, Martin, Eine kurze Form der Zehn Gebote, eine kurze Form des Glaubensbekenntnisses, eine kurze Form des Vaterunsers, WA 7,204–229, wo Luther in der Auslegung des Vaterunsers die Bitte formuliert, es möge dem Menschen keine Versuchung, sondern Anlass zum Lob Gottes sein, „so wir sehen eyn schon [schönen] mensch, bild oder andere creature“, WA 7,228,7.

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Der von den Freikirchen, genauer: Freiwilligkeitskirchen, hochgehaltene persönliche Glaube ist als theologisches Konzept bereits vor ihnen da. Die Betonung des persönlichen Glaubens findet sich in den Schriften der Mystiker, einiger vorreformatorischer Autoren, aber auch bei den Reformatoren. Doch Taylor geht es nicht darum, festzustellen, wann ein Gedanke zum ersten Mal von einem Autor formuliert wurde, ihn interessiert, wann dieser Gedanke in ein Vorstellungsschema eingeht, das von einem signifikanten Teil der Bevölkerung geteilt wird. Und das geschieht in einer ersten Welle (bei Taylor: „nova“) ab 1800, dann noch einmal massiver um 1950. Ich breche Taylors Analyse hier auf zwei für seine Darstellung wichtige Konzeptbegriffe herunter: Mobilität und Authentizität. Die Jahre 1800 bis 1950 bezeichnet Taylor als das „Zeitalter der Mobilität“. In diesem Zeitraum wird der freiwillige Anschluss an eine Gemeinschaft oder auch Gründung neuer religiöser Vereinigungen in wachsendem Maße möglich, auch wenn die religionsrechtlichen Rahmenbedingungen von Staat zu Staat variieren. Hinter dieser neuen Mobilität stehen die allmähliche Auflösung der ständisch verfassten Gesellschaft und das Entstehen eines Bürgertums, das zum Träger der Idee der Autonomie wird. Mit der Lockerung der sozialen Bindungen wächst das Maß an Freiheit, das eigene Leben zu gestalten. Die in der Aufklärungsphilosophie stark gemachte Theorie der subjektiven Autonomie und der prinzipiell gleichen Würde aller Menschen beginnt, Raum zu gewinnen und für die wirtschaftlich potenten Teile der Bevölkerung auch Wirklichkeit zu werden. Autonom zu handeln bedeutet bei Kant, sich selbst das Gesetz seines Handelns geben zu können, also seinem inneren moralischen Sinn, nicht einer äußeren Autorität zu folgen. Dass neue christliche Gemeinschaften entstehen, setzt nicht allein die reformatorische Vorstellung von der geistlichen Mündigkeit aller Getauften voraus: dem Recht, die Bibel zu lesen, die Lehre in der Gemeinde zu beurteilen und Pfarrer zu berufen. Der Sache nach ist dies alles bereits bei Luther 34 vorhanden. Es brauchte die Verstärkung und Realisierung dieser Impulse innerhalb des Vorstellungsschemas der Autonomie; es brauchte nicht nur den Gedanken: Wir dürfen das (theologisch gesehen), sondern die Vorstellung: Wir können das. Die Voraussetzungen für dieses „Können“ bilden sich in den deutschen Ländern erst im 19. Jh. heraus. Dann aber ist die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. 34 Vgl. Luther, Martin, Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen, und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen. Grund und Ursach aus der Schrift, WA 11,408–416.

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Die neu entstehenden Gemeinschaften verknüpfen den Glauben eng mit der Moral sowie mit der Ordnung der Familie. In vielen Ländern bildet das erweckliche Christentum vier Pfeiler aus: die Pflege des persönlichen und gemeinschaftlichen Geistlichen Lebens, rigorose (Selbst-)Disziplin, Bejahung der politischen (in der Regel nationalstaatlichen!) Identität und Verteidigung der zivilisatorischen Ordnung (Verbindung von Mission und Kolonisation). In dieser Aufstellung zeigt sich zum einen die Einbettung freikirchlicher Christen in die gesellschaftlichen Gefüge ihrer Zeit, zum anderen aber auch ein ausgeprägtes Differenzbewusstsein: „Man war darauf bedacht, tiefer in das Leben der Anhänger einzudringen, sie enger aneinander zu binden und den Kontakt zu Außenstehenden möglichst gering zu halten.“35 Die Gruppenhomogenität wurde für äußerst wichtig gehalten, wie u. a. die Bevorzugung endogener, also zwischen Gruppenmitgliedern geschlossener Ehen belegt. Die in dieser Zeit sich ausbreitenden oder erst entstehenden Freikirchen verbinden Weltdistanz mit Weltzuwendung: Glaube und Leben sind vor Unreinheit zu bewahren, doch soll der Glaube in der Welt gelebt werden und seinen Nutzen für die Ordnung der Familie, die Stabilität des Staates und die Mehrung des Gemeinwohls erweisen. Dies alles vermochten religiöse Gruppen zu leisten, aber brauchte es zur Wahrnehmung dieser Aufgaben eine religiöse Begründung? Immer größere Teile der Bevölkerung nahmen von dieser Vorstellung Abstand. Um ein „guter Mensch“ zu sein, braucht es keine dogmatisch fixierten Glaubensvorstellungen und noch weniger rigide Gruppenregeln, die die Freiheit des Einzelnen beschnitten. Die Zeit ab 1950, als mit dem Wirtschaftswunder erstmals in der Geschichte eine breite Bevölkerungsmehrheit ein gutes Auskommen hatte, lässt sich als das „Zeitalter der Authentizität“ bezeichnen. Der breite Wohlstandszuwachs ermöglicht es den Menschen, sich stärker als je zuvor auf die eigene Selbstverwirklichung zu konzentrieren. Konsumorientierung und eine eigene Freizeitkultur bilden sich heraus. Taylor spricht von der Dominanz des „expressiven Individualismus“, den er so beschreibt: Jeder soll tun und lassen, was er will, und wir sollten die „Wertvorstellungen“ anderer nicht kritisieren; dies wird nun auf eine feste ethische Grundlage gestellt oder sogar von ihr gefordert. Man sollte die Wertvorstellungen anderer nicht kritisieren, weil sie ein Recht darauf haben, ihr eigenes Leben zu leben, so wie du auch. Die Sünde, die nicht toleriert wird, ist Intoleranz“.36 35 Taylor, Zeitalter [wie Anm. 30], S. 787. 36 Taylor, Charles, Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2002, S. 79.

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Der „expressionistische Individualismus“ impliziert also einen WerteRelativismus sowie eine Ethik der Authentizität, in der die von einem Menschen getroffenen Entscheidungen von anderen nicht in Frage gestellt werden dürfen. Für das religiöse Leben bedeutet dies: Der Glaube muss nicht nur frei, autonom, gewählt sein, er muss auch ansprechend sein, d. h. authentischer Ausdruck meines persönlichen Wegs. Deshalb fällt es schwer, diesen persönlichen Glauben mit irgendeinem vorgegebener Referenzrahmen, z. B. einem verfassten Glaubensbekenntnis, zu verbinden. Der Schwerpunkt verlagert sich von der Notwendigkeit zur Echtheit religiöser Erfahrungen. Die Erfahrung ist nicht mehr notwendig eingebettet in den Referenzrahmen einer fixierten Lehrauffassung. Dabei sind auch die neuen Kommunikationsmittel bedeutsam. Man agiert eher in (virtuellen) Netzwerken, statt sich in eingefahrene Strukturen hineinfinden und mit vorgesetzten Autoritäten auseinandersetzen zu müssen. Der Übergang vom Zeitalter der Mobilität (bzw. Autonomie) zu dem der Authentizität bildet sich auch in der Entwicklung der neueren freikirchlichen Bewegungen ab. Sie legen hohen Wert auf Authentizität: Damit die Glaubenserfahrung authentisch gelebt werden kann, darf sie nicht in ein Korsett fixierter Lehrauffassungen eingebunden werden, was in der Praxis dennoch bedeutet, dass viele dieser postmodern orientierten Gemeinden (Vineyard, ICF etc.) in den theologischen Grundüberzeugungen, die faktisch vertreten werden, evangelikal-charismatisch ausgerichtet sind. Die Lehre hat jedoch ein neues Forum: Sie muss sich – nein, nicht in erster Linie vor dem Forum der Vernunft, sondern – vor der Erfahrung verantworten. Betont wird der narrative Charakter der biblischen Überlieferung. Es geht nicht einfach darum, bestimmte Lehrauffassungen für sich zu übernehmen, sondern sich mit seiner Lebensgeschichte in Gottes Geschichte mit den Menschen zu beheimaten. In der freikirchlichen Kultur der Authentizität ist es weiterhin wichtig, dass die Gottesdienste attraktiv sind. Der Gottesdienst ist eine „Performance“, die mit den Ansprüchen konsumverwöhnter Menschen mithalten kann und soll. Die Maßstäbe für Raumgestaltung, Musikauswahl usw. werden der Konsumkultur entnommen, mit der sich der gesellschaftliche Mainstream arrangieren kann. Äußerlichkeiten sollen keinesfalls den Zugang zu Gott behindern. Auch hier gilt: Bei aller äußerlichen Nähe zur säkularen Kultur sind die Predigten meist bibelzentriert und von einer klar artikulierten Glaubensbotschaft her bestimmt. Wichtig ist es hier schließlich, vernetzt zu sein. Moderne Kommunikationsmedien und virtuelle Netzwerke sind von hoher Bedeutung. Die Botschaften bekannter Prediger aus aller Welt kann man sich problemlos auf

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sein mobiles Endgerät herunterladen und sich mit Gleichgesinnten, wo immer sie sich auch gerade befinden, austauschen. So entsteht eine neue Globalität, in der Personen (wie bestimmte Prediger oder Lobpreisleiter) wichtiger sind als die formale Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinde. Wir stellen fest: Im Aufkommen freikirchlicher Gemeinschaften seit dem 19. Jh. spiegelt sich der Wandel des Selbst- und Weltverständnisses des modernen und später postmodernen Menschen wider, wobei Freikirchen diese kulturellen und mentalitätsmäßigen Veränderungen als soziale Bewegungen schnell erfassen und praktisch verstärken, auch wenn dies manchen ihrer inhaltlichen Überzeugungen zuwiderläuft. Die Vielfalt des Pluralismus nimmt im Übergang von der Moderne zur Postmoderne weiter zu: Ist in der Moderne wichtig, dass der Glaube gewählt wird, so in der Postmoderne, dass der gewählte Glaube auch gefällt. Die innere Pluralisierung der Freikirchen lässt sich mit der Ethik der Authentizität plausibilisieren: Echt zu sein bedeutet nun, den Vorgaben religiöser Autoritäten nicht folgen zu müssen (es sei denn, sie „passen“ zum eigenen Lebensentwurf). Treten Spannungen auf, wird die Gemeinde gewechselt oder eine neue gegründet. Daher lässt sich die skizzierte Entwicklung auch mit gegenläufigen Tendenzen vereinbaren. Neben dem sich verstärkenden Erfahrungsbezug etablieren sich Gegenbewegungen (z. B. die neo-calvinistisch geprägte Bewegung „Evangelium21“), die dezidiert erfahrungskritisch und lehrbetont mit klar reformiertem Einschlag auftritt. Aber auch hier greift die von Taylor vorgeführte Analyse: Ich kann mich entscheiden, Calvinist zu sein, und das ist auch in Ordnung, wenn genau das für mich „passt“. Mit diesen religionssoziologischen und philosophischen Analysen ist jedoch lediglich der „Entdeckungszusammenhang“ (G. Sauter) für das Leben der Freikirchen erfasst. Es wäre jedoch einseitig, das Phänomen Freikirchen allein von dieser Außenperspektive her erfassen zu wollen. Ihrem Selbstverständnis nach lässt sich der Daseinsgrund freikirchlicher Gemeinden nur theologisch erfassen. Um diesen theologischen „Begründungszusammenhang“ (G. Sauter) soll es im Folgenden gehen.

5 Freikirche als Gemeinschaft der Glaubenden: Theologische Aspekte Den theologischen Begründungszusammenhang für die freikirchliche Ekklesialität möchte ich anhand zweier theologischer Entwürfe erläutern. Dabei handelt es sich zum einen um Miroslav Volf, zum anderen um Howard A. Snyder.

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Miroslav Volf ist ein aus Kroatien stammender pfingstkirchlicher Theologe, der nach seinem Studium an einem baptistischen Seminar seiner Heimat mit einer Arbeit zur freikirchlichen Ekklesiologie an der Universität Tübingen habilitiert wurde. Volf ging dann in die USA, wo er schließlich eine Professur an der Yale University annahm und zur Episcopal Church übertrat, also vermutlich auch ekklesiologisch eine Entwicklung durchmachte. Im Folgenden beziehe ich mich auf seine Habilitationschrift, in der Volf dem Kongregationalismus eine theologische Begründung zu geben 37 unternimmt. Volf erweist sich darin als ein Schüler Moltmanns, dass er die Ekklesiologie trinitätstheologisch begründet sehen möchte. Das gilt auch für das Modell Freikirche. Volf vertritt die These, dass Einheit und Vielfalt als trinitätstheologisch komplementär gedacht werden müssen, denn Gott ist einer in der Gemeinschaft der trinitarischen Personen. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind nach Volf als Subjekte aufzufassen, die zueinander so in Beziehung stehen, dass sie einander vorauszusetzen sind. Das bedeutet, dass sie ohne ihre wechselseitigen Beziehungen nicht sind, was sie sind. Sie durchdringen einander perichoretisch, so dass jede Person zugleich in den anderen beiden lebt, ohne dass einer der göttlichen Personen ein Vorrang vor den anderen zukäme. Die Person löst sich nicht in den perichoretischen Beziehungen auf, sondern ist Person in Beziehungen. Person-Sein und In-Beziehung-Sein sind damit zwei Beschreibungsweisen ein und derselben (göttlichen) Wirklichkeit. Das Leben Gottes ist das wechselseitige Ineinander-Einwohnen der trinitarischen Personen. Volf setzt sich kritisch mit den trinitätstheologischen Voraussetzungen und ekklesiologischen Konsequenzen im Denken Joseph Ratzingers und des orthodoxen Theologen John Zizioulas auseinander. Er zeigt, dass Ratzinger das Verhältnis von Einem und Vielen zugunsten des Einen bestimmt: die eine Gesamtkirche, der eine Bischof als Vorsteher der Ortskirche etc. Nach Volf ist diese Verhältnisbestimmung in Ratzingers Auflösung der trinitarischen Personen in Relationen angelegt, wie sie bei Augustinus vorgebildet ist. Weil jede Person nur im Akt des In-Beziehung-Seins wirklich ist, kann die göttliche Trinität ihre Einheit nicht im wechselseitigen Ineinander der Personen finden, sondern sie wird zur undifferenzierten Einheit, bei der Vater, Sohn und Heiliger Geist zusammenfallen. „Von daher“, so schreibt Volf, „ist es konsequent, wenn Ratzinger die Einheit des dreieinigen Gottes nicht auf der Ebene der Personen ansiedelt, sondern zusammen mit der ganzen Tradi37 Vgl. Volf, Miroslav, Trinität und Gemeinschaft. Eine ökumenische Ekklesiologie, Mainz/Neukirchen-Vluyn 1996.

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tion des westlichen trinitarischen Denkens auf der Ebene der Substanz“.38 Diese Dominanz des Einen zeigt sich dann in Ratzingers Ekklesiologie. John Zizioulas folgt in seinem Verständnis der Trinität den Kappadozischen Vätern und betont von daher, dass die Personen wenn auch nicht zu trennen, so doch zu unterscheiden sind von den Beziehungen, in denen sie stehen. Für ihn ist der reziproke Charakter ihrer Beziehungen wichtig. Allerdings insistiert Zizioulas zugleich auf die Monarchie des Vaters, den er als Quelle der Gottheit versteht und ohne den die Einheit der trinitarischen communio verloren gehen würde. So wird die göttliche communio nach Zizioulas durch ein „asymmetrisch-reziprokes Verhältnis“ zwischen dem 39 Einen, dem Vater, und den Vielen, Sohn und Geist, konstituiert. Sein Verständnis von Kirche bildet diese Verhältnisbestimmung ab, denn die vielen Ortskirchen sind Kirche im eigentlichen Sinne, jedoch nur unter Vorsitz des jeweiligen Bischofs. Der Bischof kann nicht ohne Kirche, diese aber auch nicht ohne Bischof sein. Von beiden Ansätzen grenzt sich Volf mit seiner polyzentrisch-egalitären Trinitätslehre ab. Auch für Volf entscheidet die Trinitätslehre wesentlich darüber, wie die Kirche Jesu Christi zu verstehen ist. Er arbeitet deshalb Analogien zwischen den trinitarischen sowie den ekklesialen Personen (Christen) heraus, wobei bewusst zu halten ist, dass eine Analogie eine Ähnlichkeit innerhalb einer größeren Unähnlichkeit benennt. So gibt es auch Christsein nur im In-Beziehung-Sein, nicht in der Isolation vom Anderen. Doch was für Gott ontologisch konstitutiv ist, ist es für Geschöpfe nicht: Wir können uns der Gemeinschaft verweigern, daher braucht es einen Bund und den Willensentschluss, in der Gemeinschaft der Glaubenden zu leben. Auf ekklesialer Ebene gibt es im strengen Sinne auch kein Einwohnen der Personen ineinander. Der sich hier aufdrängende Verweis auf die eheliche Liebe ist nach Volf hier gerade nicht hilfreich, weil es nicht um ein exklusives, sondern um inklusive Liebesverhältnisse geht. Der Perichorese der göttlichen Personen entspricht in der Analogie menschlichen Personseins die Teilhabe und Teilgabe am eigenen Leben durch den Heiligen Geist. Diese Bewegung von Teilhabe und Teilgabe ist innerhalb der Trinität zwar reziprok, sie unterscheidet sich darin aber von der Gott-Mensch-Beziehung, in der Gott den Heiligen Geist gibt und der Mensch ihn empfängt. Das bedeutet: Nicht die wechselseitige Einwohnung der Menschen, „sondern die allen gemeinsame Einwohnung des [Heiligen] Geistes macht die Kirche zu einer

38 Ebd. [wie Anm. 37], S. 66f. 39 Vgl. ebd. [wie Anm. 37], S. 75.

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der Trinität entsprechenden Gemeinschaft“.40 Schließlich entspricht die kirchliche Gemeinschaft der göttlichen communio nur in gebrochener Weise: Sie ist gegründet in der Liebe, aber noch nicht in der Liebe vollendet. Welche Folgerungen ergeben sich daraus für das Kirchenverständnis? Die erste Folgerung liegt im Primat der Lokalgemeinde: Kirche Jesu Christi im Vollsinn ist jede Gemeinde, die sich im Namen Jesu Christi um Gottes Wort versammelt: Die Ortsgemeinde ist Abbild der Trinität als Gruppe, die sich um den einen Christus, den Gott in seiner heilbringenden Zuwendung zum Menschen, als um ihren Befreier und Herrn versammelt, die offen für alle Menschen ist und in der alle Menschen die gleiche Würde haben.41

Die Struktur der Kirche konsequent trinitarisch zu denken bedeutet also, den geistgewirkten Beziehungsreichtum Gottes in der Sammlung um das Wort abgebildet zu sehen. Am Wortgeschehen sind viele beteiligt, es lässt sich also nicht auf die Beziehung zwischen einem Amt (Bischof) und der Lokalkirche, der der Bischof vorsteht, reduzieren. Eine weitere Folgerung liegt in der Sichtbarkeit der Kirche: Das SichVersammeln im Namen Christi ist das Medium, „durch das die im Akt des personalen Glaubens konstituierte unsichtbare Kirche notwendig manifestiert 42 wird“. Die Gegenwart Christi wird durch das Versammeln nicht erst erzeugt, sondern sie schafft die Bedingung dafür, dass Christi Verheißung, bei denen zu sein, die sich in seinem Namen versammeln (Mt 18,20), in Erfüllung gehen kann. Eine dritte Folgerung ist die Polyzentrik des Geistes: Die Gegenwart Gottes erweist sich nach Volf in der Vielfalt der Charismen, mit denen die Christen einander und darin Gott zur Erbauung der Gemeinde dienen. Der Heilige Geist teilt allen Christen (mindestens) eine Gabe zu, weshalb sie eine gemeinsame Verantwortung für das Leben in der Kirche tragen. Weil der Geist verschiedene Gaben austeilt, sollen sie zum Dienst und Nutzen aller praktiziert werden. Weil es Gottes Geist ist, der die Gaben zuteilt, deshalb ist das Wirken des Geistes den Glaubenden unverfügbar. Gott wirkt, „wie er will“ (1Kor 12,11), das bedeutet auch, wann er will, sodass sich mehrere Charismen im Leben eines Christen ablösen können. Für Volfs stark pneumatologisch bestimmtes Verständnis der Dienstämter bedeutet das

40 Ebd. [wie Anm. 37], S. 204. 41 Miroslav Volf, Kirche als Gemeinschaft. In: Ev. Theol. 49 (1989), S. 52–76, hier 66. 42 Ebd. [wie Anm. 41].

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u. a., dass die Ordination „nicht notwendig als Einsetzung in eine Lebensaufgabe“, also auf Lebenszeit, zu verstehen ist.43 Schließlich folgt für Volf aus seinem Verständnis der Trinität der Personalismus der Struktur: Die Einheit der Lokalgemeinde findet nicht (notwendig) Ausdruck in einem Amt, sondern in der Liebe aller zueinander, die die Gemeinschaft zusammenhält. „Die Präsenz Christi kommt nicht nur durch die ‚enge Pforte‘ des Amtes in die Kirche, sondern durch das dynamische Leben der ganzen Kirche.“44 Damit möchte Volf keinen strengen Gegensatz zwischen der „Liebeskirche“ und der „Rechtskirche“, also der im Heiligen Geist um das Wortgeschehen konstituierten und der institutionell verfassten Kirche, behaupten. Er schreibt: Die Kirche ist wesentlich eine Institution, aber sie ist nicht wesentlich eine Institution, in der die Interaktion äußerlich spezifiziert werden muß. Die Sicherung der Interaktion durch Gewohnheitsregel oder Gesetz ist die notwendige Form der voreschatologischen Abbildung der trinitarischen Beziehungen in der Kirche und gehört nicht zum esse, sondern zum bene esse der Kirche. Wie auch immer die äußerliche Spezifizierung der Interaktion geartet ist, kann sie nicht als ein Aspekt der Realisierung der societas perfecta, sondern muß als ein Zeichen der Distanz der Kirche von ihrer eschatologischen Bestimmung betrachtet werden.45

Die wesentliche institutionelle Gestalt der Kirche braucht also nicht notwendig bestimmte rechtsförmige Bestimmung, z. B. hinsichtlich der Ordination etc. Zwar ist es sinnvoll, solche Bestimmungen zu haben, weil sich in der auf Dauer gestellten Interaktion früher oder später Regeln herausbilden, ob diese nun kodifiziert werden oder auch nicht. Doch ist es der Kirche nicht wesentlich, dass sie kodifiziert werden. Der Fokus liegt bei Volf damit auf der Analogie zwischen dem inneren Leben der trinitarischen communio einerseits und dem inneren Leben der Lokalkirche andererseits. Deutlich schwächer bestimmt wird die Struktur der inter-ekklesialen Gemeinschaft, also der Gemeinschaft zwischen verschiedenen lokalen Kirchen. Das hat seinen Grund, denn Volf zufolge gibt es für die inter-ekklesiale Gemeinschaft von Kirchen in dieser Welt keine Entsprechung in der göttlichen communio. Das bedeutet nicht, dass interekklesiale, wir würden sagen: zwischenkirchliche, Beziehungen ausgeschlossen sind. Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass die ekklesiale für Volf notwendig die „katholische Person“ ist. Das bedeutet, dass Christen nicht in 43 Volf, Trinität [wie Anm. 37], S. 241. 44 Volf, Kirche [wie Anm. 41], S. 66. 45 Ebd. [wie Anm. 41], S. 75.

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sich selbst verschlossen, sondern durch den Heiligen Geist in eine Bewegung des Gebens und Nehmens hineingenommen sind. Unmittelbar gilt dies intra-ekklesial, in abgeleiteter Weise auch inter-ekklesial. Diese Beziehungen haben aber personalen, sie brauchen keinen institutionellen Charakter zu haben. Die Gemeinschaft der Kirchen lebt wesentlich von der Qualität der Beziehungen, in der Christen – personal – einander begegnen und miteinander arbeiten. Wir könnten sagen, dass Volf hier für die zwischenkirchlichen Beziehungen das Verständnis der Evangelischen Allianz als Bund von Geschwistern aus verschiedenen Kirchen den Vorzug gibt vor dem Ansatz z. B. des Ökumenischen Weltrats der Kirchen. Fazit: Volf setzt sich kritisch sowohl von der westkirchlich-augustinischen als auch von bestimmten Elementen der östlich-kappadozischen Trinitätslehre ab, um über sein polyzentrisch-egalitäres Modell von Trinität die kongregationalistische Verfasstheit der Freikirchen zu begründen. Er fundiert damit trinitätstheologisch die Existenzweise der Freikirchen, die sich um den Gottesdienst herum organisieren, in dem der Reichtum der Charismen zum Tragen kommt. Deutlich erkennbar wird eine Skepsis gegenüber institutionellen Strukturen, deren dienende Funktion betont wird. Die Offenheit für andere Gemeinden (und Kirchen) wird bejaht; sie findet nach Volf aber am ehesten darin Ausdruck, dass Christen unterschiedlicher Gemeinden in ein lebendiges persönliches Verhältnis eintreten und darin eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft bilden. Einen wenn auch theologisch weniger profilierten Ansatz hat der amerikanische Theologe Howard A. Snyder vorgelegt, der zur Free Methodist Church gehört. Im US-amerikanischen Kontext ist es nicht sinnvoll, ihn als freikirchlichen Theologen zu bezeichnen, allerdings lassen seine Bücher erkennen, dass er dem Modell der gegenüber den „Mainline“-Denominationen kritischen „Believers’ Churches“ zuneigt, was bedeutet, dass er die Tendenzen zum innerkirchlichen Pluralismus sowie zur Institutionalisierung der Kirche kritisch sieht. Dennoch rezipiert er als methodistischer Theologe die gesamtkirchliche Tradition mit der Konsequenz, dass er die Kirche als 46 Gemeinschaft und zugleich als Sakrament bezeichnen kann. Snyder verfolgt einen integrativen Ansatz, der das Beste unterschiedlicher ekklesiologischer Ansätze konzeptionell zusammenführen möchte. Diese Absicht lässt sich entdecken, wenn er von der „DNA“ der Kirche

46 Vgl. Snyder, Howard A., Liberating the Church. The Ecology of Church and Kingdom, Eugene (Oregon) 1983.

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spricht.47 Die menschliche DNA stellt bekanntlich eine Doppelhelix dar, sie wird also durch zwei komplementäre Stränge gebildet. Snyder führt aus, dass die Kirche in einem bestimmten historischen Kontext – zu Recht – als „eine, heilige, allgemeine [katholische], apostolische Kirche“ charakterisiert worden ist. Allerdings – und hier identifiziert Snyder ein folgenschweres Problem – ist damit die DNA der Kirche Jesu Christi nur zur Hälfte beschrieben worden, weil auch sie eine Doppelhelix mit zwei Strängen sei. In ihrer Komplementärstruktur betrachtet stellt sich die DNA der Kirche folgendermaßen dar: Die Kirche ist eine, aber auch viele. Die Kirche ist heilig, aber auch charismatisch. Die Kirche ist allgemein, aber auch lokal. 48

Die Kirche ist apostolisch, aber auch prophetisch.

Snyder schreibt dazu: „These two sets of qualities together make up the complex reality of the church, each pair synergistically representing or constituting complementary qualities or facets of the church’s life”.49 Die beiden Stränge lassen sich den Polen „organisierte Institution“ und „organische Bewegung“ zuordnen, wobei eben keine Alternative eröffnet ist, sondern eine in den Strängen sich wechselseitig konstituierende Polarität. Dennoch kann von der Wirkungsgeschichte nicht abgesehen werden. Snyder anerkennt, dass sich im Verlauf der Jahrhunderte seit der frühen Kirche Gemeinschaften herausgebildet und auch wieder verändert hätten. Letztlich genügt ihm jedoch die Unterscheidung zwischen „angepassten“ und „gegenkulturellen“ Gemeinschaften. Die „angepassten“ Gemeinschaften, so Snyder, verstehen die Kennzeichen der Kirche eher als Ideal oder theologische Prinzipien, als die sie dann auch entfaltet und erforscht werden. Dabei geben sie praktisch den historischen Kennzeichen (linker Strang) den Vorrang und beziehen die Kennzeichen auf die Kirche als Institution. Die „gegenkulturellen“ Gemeinschaften betonen stärker die Sichtbarkeit dieser Kennzeichen, wobei sie in der Praxis den Kennzeichen des „organischen“ Strangs (rechts) den Vorzug geben. In seinen Texten gibt Snyder letztlich einem organischen Verständnis von Kirche den Vorrang vor dem institutionellen. Der Akzent liegt deutlich auf Erneuerung, nicht auf Bewahrung, 47 Vgl. Snyder, Howard A./Runyon, Daniel V., Decoding the Church. Mapping the DNA of Christ’s Body, Grand Rapids 2002.

48 Vgl. ebd. [wie Anm. 47], S. 24ff. 49 Howard A. Snyder, The Marks of Evangelical Ecclesiology. In: Stackhouse, John (Hrsg.), Evangelical Ecclesiology. Reality or Illusion?, Grand Rapids 2003, S. 81–103, hier 91.

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„Konkurrenz belebt das Geschäft“?

auch wenn sein Ansatz im Ganzen deutlich geschichtlich geerdeter bleibt als andere evangelikale Ekklesiologien, in denen das Modell der „Believers’ Church“ begründet wird. Übertragen wir Snyders Ansatz auf unseren Kontext, dann lässt sich feststellen: Landeskirchen haben den institutionellen Strang der kirchlichen DNA bewahrt, die Freikirchen müssen diesen Ansatz nicht verdoppeln, indem sie den Landeskirchen darin folgen. Sie sind Korrektiv, positiver ausgedrückt: Ergänzung, darin, dass sie den organischen Strang der Kennzeichen der Kirche zur Geltung bringen und das eigene Gemeindeleben um diese Kennzeichen herum organisieren. Das bedeutet: Sie betonen zu Recht den Gemeinschaftscharakter der Kirche. In der Gestalt gelebter personaler Beziehungen soll die Kirche als Gemeinschaft erfahrbar sein, in der alle durch den Heiligen Geist zum Dienst berufen und kraft des Charismas zur Ausübung ihres Dienstes befähigt sind. Der Dienst des Pastors dient vor allem dazu, die Gemeindeglieder in der Entdeckung ihrer Gaben anzuleiten und sie zu deren Ausübung zu ermutigen. Freikirchen betonen das Entscheidungsmoment im persönlichen Glauben und anerkennen in Glaubensschritten, die Menschen tun, das Wirken Gottes. „Nicht persönliche Autonomie oder das Ideal einer religiösen Selbstbestimmtheit (Mündigkeit), sondern der durch das Wort und den 50 Heiligen Geist gewirkte Glaube steht im Mittelpunkt.“ Der Glaube ist kein Werk, sondern Antwort des Menschen auf Gottes Handeln. Schließlich anerkennen Freikirchen das Herrsein Jesu über die ganze Welt und betonen von daher die Bereitschaft zum Glaubenszeugnis in Wort und Tat. „Die missionarische Sendung ist die eigentliche und zentrale Berufung der Kirche Jesu Christi.“51 In dieser Aufgabe ist die Kirche durch keinen anderen gesellschaftlichen Akteur vertretbar. Im Unterschied zur Bezeugung des Evangeliums sind die Kirchen im Bereich des gesellschaftspolitischen Engagements Akteure neben vielen anderen. Dennoch lässt sich dieser Bereich nicht vom Glauben abtrennen. Denn wenn Jesus Christus der Herr das ganzen Lebens ist, dann hat der Glaube auch politische Implikationen oder zumindest Konsequenzen. Zugleich bleibt ein Unbehagen gegenüber Formen der Vermengung von Wortverkündigung und politischer Agitation, wie man sie zeitweise von landeskirchlichen Kanzeln vernehmen konnte (heute wohl seltener). 50 K.-P. Voß, Gibt es eine freikirchliche Ekklesiologie? Eine Spurensuche anhand der Präambel der Vereinigung Evangelischer Freikirchen. In: Theologisches Gespräch 30/3 (2006), S. 91–104, hier S. 97. 51 Ebd. [wie Anm. 50], S. 102.

Freikirche als Gemeinschaft der Glaubenden

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Grundsätzlich unterscheidet Freikirchen von christlichen Sondergruppen ihre „katholische“ Identität. Sie verstehen sich nicht als einzig wahre und mögliche Gestalt von Kirche, sondern wissen um die Weite des Leibes Christi. Zwar bleibt Freikirchen das Denken in Kirchengebieten eher fremd und gibt es Skepsis vor allem gegenüber einer Institutionen-Ökumene, doch auf der Ebene der v. a. für das Miteinander vor Ort wichtigen personalen Beziehungen zeigen Freikirchen überwiegend eine Offenheit, mit Christen anderer Gemeinden zusammenzuarbeiten.

6 Belebt die Vielfalt den Protestantismus? Ich kehre zu meiner Eingangsfrage zurück: Belebt die Vielfalt den Protestantismus? Eine Denkfigur, die eine positive Beantwortung der Frage nahelegt, hatte ich bereits erwähnt. Es ist die Vorstellung vom komplementären Charakter von Landes- und Freikirchen. In diesem Sinne hat Adolf Schlatter 1929 die Arbeitsweisen von Volks- und Freikirche zu bestimmen gesucht. Danach ist die Arbeit der Volkskirche auf das ganze Volk gerichtet, kann sich vernehmbar im öffentlichen Raum artikulieren, an die tradierte christliche Sittlichkeit des Volkes anschließen und auf christliche Persönlichkeiten im Staatsdienst setzen (die als Staatsdiener jedoch keine Zwangsmittel zur 52 Verbreitung des Glaubens einsetzen dürfen). Freikirchen haben demgegenüber den Einzelnen im Blick, arbeiten auf dessen Bekehrung und Glauben hin und geben sich nicht mit dem Schein der Christlichkeit zufrieden. Schlatter hält es in den 1920er Jahren noch für eine offene Frage, welche Kirchenform die zukunftstauglichere ist, doch deutet sich ihm bereits an, dass Christen sich zukünftig deutlicher von ihrer immer stärker dem Glauben entfremdeten Umgebung unterscheiden werden und es nötiger werden wird, den persönlichen Entschluss zur Nachfolge zu betonen. Am Ende des 20. Jh. sieht auch Wilfried Härle Volks- und Freikirche als einander ergänzend an. Sie seien in der Überzeugung geeint, dass zum einen die Verkündigung des Evangeliums an keine menschlichen Voraussetzungen gebunden ist, also jeder es hören soll und darf, und zum anderen, dass die 53 Kirche dem Bekenntnis des Glaubens Raum zu geben hat. Ihre wechselseitige Ergänzung liegt Härle zufolge darin, dass die Volkskirchen die Bedingungslosigkeit des Evangeliums darstellen, während die Freikirchen „die Verbindlichkeit des Glaubens und des christlichen Lebens darstellen und so 52 Vgl. Schlatter, Adolf, Die Christliche Ethik, 3. Aufl. Tübingen 1929, S. 193ff. 53 Vgl. Härle, Wilfried, Dogmatik, 4. Aufl. Berlin/Boston 2012, S. 614ff.

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dem menschlichen Bekenntnis Raum“ geben“.54 Zugleich seien beide Kirchenformen nicht ohne ihre je eigenen Gefährdungen: Die Volkskirche neige zu Verzettelung und Profillosigkeit, die Freikirchen tendierten zu Abschottung und Isolierung. Im Zeitalter der Ökumene ließe sich an dieser Stelle ohne Probleme der Schlusspunkt setzen. Ganz so versöhnlich möchte ich, schon um die Diskussion zu beleben, jedoch nicht enden. Ich will es vielmehr tun, indem ich meiner Frage „Belebt Konkurrenz das Geschäft?“ eine dreigeteilte Antwort gebe. Die erste Teilantwort lautet: Ja, dass Landes- und Freikirchen auf dem Religionsmarkt als Mitbewerber agieren, wirkt belebend. Die hohe Mobilität, was Zugehörigkeitsverhältnisse angeht, führt zu Wanderungsbewegungen v. a. zwischen engagierten kirchlichen Gemeinden und Gemeinschaften. Hier wird verglichen und ausprobiert, ob wir das nun wollen oder nicht. Im positiven Fall kann die größere Durchlässigkeit der Grenzen zwischen den protestantischen Kirchen als Anreiz aufgenommen werden, ein Qualitätsbewusstsein zu entwickeln – hoffentlich zur Ehre Gottes und nicht einfach, um Menschen anzuziehen. „Mein Äußerstes für Sein Höchstes“ zu geben (wie es im Titel eines verbreiteten Andachtsbuchs von Oswald Chambers heißt) soll kein christliches Leistungsdenken nähren. Es ist die Erkenntnis der Größe Gottes, die Gemeinden dazu bringen sollte, diesen Gott unter sich wirken zu lassen. Die zweite Antwort lautet: Es kommt darauf an … Die Kirchen in Deutschland tauschen Mitglieder untereinander aus, in deutlich geringerem Maß gelingt es ihnen aber, bislang Nicht- bzw. Andersglaubende für ein Leben in der Nachfolge Christi zu gewinnen. Das hat auch damit zu tun, dass (fast) alle Kirchen – mit dem Gottesdienst als Lebenszentrum der Gemeinde – eher bürgerliche Milieus adressieren und auch erreichen, jedoch nur wenige Gemeinden auch andere Milieus. Hier fischen alle Gemeinden tendenziell im selben Teich, es gibt aber noch mehr. Hier stehen alle Kirchen vor großen Herausforderungen, die ich hier nicht näher ausführen kann. Die oben erwähnte Nischentheorie bereitet darauf vor, dass christliche Gemeinden in Deutschland nicht unbedingt signifikant größer werden (während die Sehnsucht nach Erweckung zum Ausdruck bringt, dass Theorien nicht alles sind), wohl aber, dass sie bunter werden, was Alter, ethnische Herkunft etc. angeht. Meine dritte Teilantwort lautet: Nein, Konkurrenz belebt das Geschäft nicht, wenn schwindende Dominanz durch stärkere Abschottung kompen54 Ebd. [wie Anm. 53], S. 617.

Belebt die Vielfalt den Protestantismus?

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siert werden soll. Dies lässt sich eindrücklich im Bereich der theologischen Ausbildung zeigen, wo landeskirchlich-universitäre Theologen an der Ausgrenzung freikirchlicher und evangelikaler Ausbildungsstätten mitwirken. Hier geht es nur vordergründig um theologische Differenzen, die ließen sich im offenen Diskurs ja thematisieren und auf die besten Argumente der Beteiligten hin abklopfen. Es geht in Wahrheit um Machtfragen, um die Deutungshoheit über den Begriff „Evangelische Theologie“. Gegenläufig zu allen Beschwörungen eines „Pluralismus aus Prinzip“ hat sich eine theologische Dominanzkultur entwickelt, die massiv ausgrenzend agiert bis dahin, dass vom Staat anerkannte theologische Leistungen an staatlichen Theologischen Fakultäten nicht anerkannt werden. Es ließen sich weitere Beispiele dafür nennen, dass es im Verhältnis von Landes- und Freikirchen auch heute noch nicht immer rund läuft (die Frage der Vocatio für Religionslehrer wäre ein solcher Punkt), doch ich belasse es hierbei. Landes- und Freikirchen, wie sie sich in geschichtlichen Prozessen herausgebildet haben und (letztere) immer noch bilden, sind dazu berufen, Kirche Jesu Christi in dieser Welt zu sein. Dies darf ein Wettstreit zur höheren Ehre Gottes sein. Daher soll der Apostel Paulus zum Schluss mit einem Wort zitiert werden, das, soweit ich sehe, im Blick auf die kirchliche Vielfalt im Protestantismus sonst eher nicht verwendet wird. Hier aber unterstreicht es, was mir zu sagen wichtig war: Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen. Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde (1Kor 9,24–27).

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Veröffentlichungsnachweis „Secret things belong to God“. Zur Geschichte und Rezeption der mysteriösen Vorkommnisse im Wesley-Pfarrhaus (1716/17). In: Bergunder, Michael/Cyranka, Daniel (Hrsg.), Esoterik und Christentum. Religionsgeschichtliche und theologische Perspektiven. Helmut Obst zum 65. Geburtstag, Leipzig 2005, S. 30–57 Der deutsch-amerikanische Methodismus im 19. Jahrhundert zwischen Aufklärung und Erweckung. Eine Untersuchung zu Jesse Jäckel (1820–1895), Prediger der Evangelischen Gemeinschaft. In: Jahrbuch für evangelikale Theologie 16 (2002), S. 99–127 Kinder und Kirche. Die ekklesiologische Bestimmung des kirchlichen Status getaufter Kinder in der Bischöflichen Methodistenkirche des 19. Jahrhunderts. In: Theologie für die Praxis 28 1/2 (2002), S. 60–78 Das Abendmahl als Gnadenmittel der Christus-Nachfolge. In: Raedel, Christoph (Hrsg.), Lass deines Geistes Wirken sehn. Beiträge zur Erneuerung der Kirche aus wesleyanischer Sicht, Stuttgart 2003, S. 52–85 Gemeinschaft in Glaube und Dienst. Kirchengliedschaft als Gestalt verbindlicher Christusnachfolge. In: Theologie für die Praxis 30 (2004), S. 42–67 Freikirchliche Identitätssuche im Spannungsfeld von Leitungsdienst, Theologie und Gemeinde. In: Una Sancta 68/3 (2013), S. 218–229 „Die Zeichen der Zeit erkennen“. Spekulative Eschatologie im deutschsprachigen Methodismus 1835 bis 1914. In: Jahrbuch für evangelikale Theologie 18 (2004), S. 145–171 Von den Heiligungsbewegungen zur Entstehung der Pfingstkirchen. Theologiegeschichtliche Aspekte. In: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 65/3 (2014), S. 51–56 Der Methodismus und das Aufkommen der Pfingstbewegung in Deutschland. In: Patrick Ph. Streiff (Hrsg.), Der europäische Methodismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, o. O. 2005, S. 207–235 „A Heart Strangely Warmed“. Erweckung des Herzens als methodistisches Leitmotiv einer „evangelikalen“ Theologie. In: Freikirchen-Forschung 14 (2004), S. 49–80 Zwischen Patriotismus und Pazifismus. Krieg und Frieden in der Perspektive methodistischer Kirchen. In: Freikirchen-Forschung 24 (2015), S. 119–153 John Wesley im Zeitalter der Globalisierung. In: Theologie für die Praxis 37 1/2 (2011), S. 62–78

Veröffentlichungsnachweis

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Register Personenregister Abraham, William J. 79f., 84, 95, 283, 300f., 311 Achard, Clemens A. 118–120 Ahlstrom, Sydney E. 47f., 285 Aland, Kurt 49 Albin, Thomas R. 315 Albrecht, Jacob 55, 201 Albright, Raymond W. 56 Alexander, Kimberly E. 238, 245 Anderson, Allen 239 Ankarloo, Bengt 37 Annesley, Samuel 17 Asbury, Francis 55 Augustinus 360, 393 Axt-Piscalar, Christine 51 Bacons, Francis 48 Baker, Derek 44 Baker, Frank 45, 164, 271 Barry, Jonathan 21 Barth, Karl 97, 334 Bartleman, Frank 239 Bath, Rainer 330 Bauckham, Richard 45, 204 Bauer, Gisa 304 Baur, Ferdinand Christian 201 Bebbington, David W. 44f., 236, 309 Begaße, Peter Samuel 290, 336 Bengel, Johann Albrecht 97, 216 Benz, Ernst 41 Bergquist, James M. 57 Beyer, Werner 244 Binney, Amos 189 Bischof Escher 56f. Blackstone, William E. 211 Blakemore, G. Stephen 189 Blankenship, Paul F. 55 Blumhofer, Edith L. 241 Boardman, William 236 Böhme, Jacob 64

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Register

Bonhoeffer, Dietrich 101, 350 Bonwetsch, Nathanael 63 Borgen, Ole 132, 138, 140f., 177 Bornkamm, Heinrich 64 Bostridge, Ian 21, 38 Bowmer, John C. 145 Bowne, Bordon Parker 291 Brackney, William H. 376 Brantley, Richard E. 45 Brevint, Daniel 140, 143 Breyfogel, S. C. 56 Brockhaus, Carl 210 Brown, Callum 356 Brown, Kenneth O. 217 Brown, Robert (Robin) 14f., 19, 27 Browne, Peter 45 Bruns, G. 158 Bryant, M. Darrol 226 Bucher, August 211 Buckley, James 226 Bullen, Donald A. 98 Burgess, Stanley M. 378 Burkhardt, Friedemann 130f., 136 Burkhardt, Helmut 64 Burrows, Mark S. 227 Bushnell, Horace 107f., 113 Calvin, Johannes 108, 388 Campbell, Dennis M. 286 Campbell, Ted A. 85, 271 Carrington, Hereward 31, 33 Carson, D. A. 309 Carter, David 103, 164 Case, Riley B. 291–294, 297, 302 Cerillo, Augustus 241 Chambers, Oswald 401 Clark, Stuart 37 Clarke, Adam 16, 26, 28, 39 Cobb, John B. 365 Coker, William B. 295 Coleridge, Samuel Taylor 31

Collier, Frank 37 Collins, Kenneth J. 103, 137, 232, 314, 364 Core, Arthur 55 Cragg, Gerald R. 134, 281 Crowe, Catherine 32 Culmann, Theodor 64–66, 71f. Cunningham, Joseph W. 46 Dächsel, August 215 Dallmeyer, August 255, 258 Dallmeyer, Heinrich 243f., 255–259 Darby, John Nelson 208–210, 215f., 227, 237 Davies, Rupert E. 171, 281, 323 Davis, Lindsey 298 Davis, Rupert E. 130 Dayton, Donald W. 226–228, 231, 235, 238, 249, 284, 286, 309 Deiss, H. 262, 267, 269 Deiss-Niethammer, Birgit 335, 337 Dieter, Melvin E. 62, 274f. Dittmer, Marion 215 Doering, C. H. 179 Dönges, Emil 210 Douglass, Paul F. 202 Dudzus, Otto 174 Dunning, Ray 202 Durham, William H. 246 Dziewas, Ralf 195f. Eden, Martyn 44 Edwards, Frank J. 246 Edwards, Jonathan 204 Eilers, F. 254 Eisele, Karl 290 Eisenlöffel, Ludwig D. 245 Eller, Paul H. 55 Escher, Johann Jakob 57, 264 Eschmann, Holger 194 Evans, Eifion 251 Falton, Gayle 148 Fässler, Peter E. 358 Finney, Charles 204, 236 Fitchetts, W. H. 14 Fleisch, Paul 237, 244

Fletcher, John 233–238, 268 Fowler, James 177 Fox, Kate 35 Fox, Maggie 35 Frank, Franz Hermann Reinhold 52 Frederic, Harold 185, 199 Frieling, Reinhard 309 Frost, Brian 337f. Gäbler, Ulrich 44, 46, 50, 73, 204 Gaebelein, Arno C. 210 Gebauer, Roland 194 Geiger, Max 73 Geldbach, Erich 208, 309, 376 Gestrich, Christof 361 Gibbard, Noel 251 Giddens, Anthony 357, 359 Giese, Ernst 243, 252, 255f., 260 Glanville, Joseph 37 Goff, James R. 239–241 Gorrell, Donald K. 55 Göß, G. 159 Goss, Michael 13 Graf, Friedrich Wilhelm 50, 52 Graham, Billy 280 Greathouse, William 202 Green, Joel B. 77, 80, 297 Green, Richard 40 Green, V. H. H. 15, 40 Gresham, John L. 236 Grob, Ernst 289 Grünewald, Joh. Paul 207, 254 Gülich, H. 189, 265 Gunter, Stephen 85, 95, 301 Haarbeck, Theodor 253, 262 Haas, Georg 114f. Haddal, Ingvar 40 Haffner, Johann Ev. 195 Hahn, Michael 64 Hailer, Martin 195 Hall, Trevor 15, 26–28 Hamann, Johann Georg 82 Hammond, Samuel 13 Handerson, Michael 163 Härle, Wilfried 129, 400f.

Personenregister

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Harmon, Nolan B. 165 Harper, Steve 299 Harris, William L. 287 Heidinger, James 295, 297 Heisey, Terry M. 56 Heitzenrater, Richard P. 16, 37, 39, 127, 133, 145 Hempelmann, Heinzpeter 83 Hempton, David 356f. Henry, C. F. H. 309 Herms, Eilert 384 Hester, Marianne 21 Hiebert, Erwin 23 Hill, Andrew 14 Hiller, G. H. 118, 212f. Hinfurtner, Karl Heinz 50 Hirschfeld, Ekkehard 211, 327f. Hollenweger, Walter 232 Holthaus, Stephan 53, 62, 209–211, 238 Horner, R. C. 238 Horst, Mark 310 Huber, Wolfgang 181, 384 Hughes, Hugh Price 324 Hughes, Michael 323, 325, 333, 337–339 Hughes, Richard T. 378 Hume, David 47, 86 Hunter, George G. 168 Hutcheson, Francis 47 Hüttenhoff, Michael 52 Iff, Markus 374 Irwin, Benjamin Hardin 238f. Jäckel, Jesse 43, 46, 49, 54–74 Jäckel, Ruben 56, 74 Jackson, Thomas 280, 316 Jacoby, Ludwig S. 104, 201 Jahn, Christine 373 Janes, E. S. 105 Jarris, T. M. 35 Jenkins, Philip 382 Johnston, Robert K. 127, 160 Jones, L. Gregory 127, 160

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Register

Jones, Scott J. 75, 78, 85, 95, 98, 182 Jung, Friedhelm 309 Jung, Martin H. 50, 73 Junker, Paul Gustav 207f., 273 Kant, Immanuel 50–52, 86, 389 Kantzer, K. S. 309 Kaufmann, Franz Xaver 180f. Keighley, Alan 28 Keip, Bernhard 259 Keysor, Charles W. 294–296 Kibitzki, Jörg 346 Kieft, Lester 23 Kienast, H. 207, 210 Kierkegaard, Sören 12 Kim, Hyun Seok 372 Kinghorn, Kenneth C. 283 Klaiber, Walter 132, 167, 193, 279, 303 Knierim, Rolf 170 Knight, Henry H. III. 67, 132, 137, 143, 162, 249, 271, 315, 368 Köberle, Adolf 42 Kollar, Rene 41 Kopp, Fr. 116–117 Krust, Christian H. 245, 250 Kücklich, Reinhard 335 Kupsch, Martin G. 317f., 321–326, 335f., 339–342, 345–349 Kürschner, Mathias 273 Kurtz, Johann Heinrich 63f., 68, 70–73 Lambert, G.W. 29f. Lang, Andrew 26 Lange, Dieter 244, 252, 254, 260 Lange, Ernst 260 Langeveld, Martinus 176 Langford, Thomas A. 293, 298, 301 Larsen, Timothy 375 Lawrence, William B. 286 Layard, John 34 Lindner, Oskar 258 Lindström, Harald 148, 182, 314 Löbenstein, Alois 114–116

Locke, John 45f., 88f. Long, D. Stephen 320, 330–335, 344 Longden, Leicester R. 103 Longfield, Bradley J. 288 Lubahn, Erich 307 Luebke, David 57 Luhmann, Niklas 196, 375 Lunn, Arnold 40 Lütgert, Wilhelm 64 Luther, Martin 32, 52, 181, 388f. Lutz, Philip 261 Lyon, Johann Christian 206 Maddox, Randy L. 84, 90f., 131, 160, 188, 268, 282 Marquardt, Manfred 75, 129, 131, 162, 167, 177, 188, 233, 282, 295, 314, 316, 360 Marsden, George M. 46, 48, 209f., 216, 226f., 234, 288, 309 Mathison, John Ed 182 Matthews, Rex Dale 45, 85, 90 McConnell, Francis 40 Meadows, Philip R. 370 Meeks, M. Douglass 286 Mehner, A. 269 Melle, F. H. Otto 207, 289 Merrill, Steven 222f., 229 Messner, Dirk 357 Meyer, Emil 255 Meyer, H. 259 Meyns, Peter 357 Miles, Rebekka 85f. Miller, Donald 241 Minor, Rüdiger 224, 349 Moltmann, Jürgen 393 Montgomery, Carrie J. 245 Moorhead, James H. 53, 226f. Motel, Hans Beat 162 Mulfinger, Georg Leonard 206 Mulfinger, Ludwig 112 Naglee, David Ingersoll 72 Nagler, Franz 206f.

Nast, Wilhelm 80–82, 106, 110– 113, 118, 122, 189, 201, 216–223, 228f., 267 Nausner, Helmut 172 Nausner, Michael 147 Neuer, Werner 307 Neumann, Burkhard 195 Neupert, Robert 272 Newton, Isaac 21 Newton, John 75 Niethammer, Hans-Martin 157, 159, 168–170, 306 Nippert, Ludwig 119 Noll, Mark A. 44, 47–49, 225, 301, 309 Norwood, Frederick A. 122f., 164 Nuelsen, John L. 214, 289–291, 336 Obst, Lebrecht Helmut 13 Oden, Thomas C. 103, 271, 300 Oeldemann, Johannes 374 Oetinger, Friedrich Christoph 64 Ohms, Edward F. 55 Old Jeffrey 20, 34, 39 Olson, Mark K 202 Oppenheim, Janet 23, 35 Ordnung, Carl 348 Orwig, W. W. 62 Outler, Albert C. 84, 86, 103, 127f., 135, 138, 145, 161, 165, 188, 232, 270f., 280, 285, 292f., 314, 364f., 368, 371 Paige, C. A. 35 Paine, Thomas 47 Palmer, Phoebe 242 Pannenberg, Wolfhart 50, 87f., 174 Papst Leo XIII. 231 Parham, Charles F. 239–241, 247 Pastor Girkon 252 Pastor Modersohn 252 Paul, Jonathan 244f., 250, 253, 255, 260, 266, 268, 272 Paulus, C. F. 189 Peters, John L. 235, 323 Pfleiderer, J. G. 53

Personenregister

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Pieringer, J. 214 Podmore, Frank 15, 23–28, 32 Pöhlmann, Matthias 373 Pollack, Detlef 379–386 Porter, Roy 38 Price, Harry 25, 31–34 Priestley, Joseph 16, 22f., 28, 39 Pritzlaff, Paul 114, 119 Quack, W. 265–267 Quandt, Jean B. 53, 227 Rack, Henry 28, 37, 44 Raedel, Christoph 80, 194, 202, 223, 267, 271, 290, 311, 368, 375 Ramsey, Paul 343–345 Rattenbury, Ernest J. 140–143, 148 Ratzinger, Joseph (Papst Benedikt XVI.) 83 Rausch, David A. 213 Rawlyk, George A. 44, 309 Reid, Thomas 47 Reinhardt, Wolfgang 251 Reissing, Siegfried 154 Renders, Helmut 152 Rev. Badcock 22 Rev. Hoole 15, 17 Richey, Russell E. 226, 286 Riedel, Gerhard 348 Robbins, Keith 226 Robbins, Rossell Hope 32 Robeck, Cecil M. 241 Roberts, Evan 252 Roberts, Gareth 21 Rocholl, Rudolf 377 Rohls, Jan 51 Roram, Paul 227 Rosta, Gergely 379–384 Rothkegel, Martin 376 Rowe, Kenneth E. 224, 286 Rückert, Hanns 49 Runyon, Daniel V. 398 Runyon, Theodore 133, 281f. Ruof, Klaus Ulrich 194 Rust, Heinrich Christian 255f., 377 Ryrie, Charles C. 209

408

Register

Sackmann, Dieter 163 Saliers, Don 149 Salmon, George 23, 25 Sandeen, Ernest R. 53 Sautter, Hermann 358 Schaden, Emil August von 64 Schaedel, Heinrich 212, 261 Schempp, Johannes 192 Schicketanz, Peter 43 Schilde, Adolf 261 Schlatter, Adolf 82f., 307 Schleiermacher, F. D. E. 50–52, 91f. Schmidgall, Paul 243, 255 Schmidt, Jean Miller 224 Schmidt, Martin 43f. Schmieder, Lucida 237, 266, 268 Schneider, Friedrich Wilhelm. 208 Schoenhals, G. Roger 146 Scholder, Klaus 49 Schrenk, Elias 256 Schuler, Ulrike 191, 348 Schütte, E. 270 Schütz, Wilhelm M. 214, 253 Schwab, Ralph Kendall 56 Schwöbel, Christoph 359 Seymour, William J. 239–242, 245, 247 Sharpe, James 21, 37f. Shirley, Ralph 35f. Sitwell, Sacheverell 16, 33f. Smith, Hannah Whitall 236 Smith, Robert Pearsall 236f. Smith, Timothy L. 204, 234, 323 Snape, Michael 356 Snyder, Howard A. 168, 270 Somerlott, Robert 20, 25, 32 Sommer, C. Ernst 55, 182 Sommer, J. W. 290 Sommer, J. W. E. 177 Soper, Donald 337 Southey, Charles C. 16, 31 Southey, Robert 14–21, 25, 31, 38f. Spann, Glen 288 Spierling, Karen E. 108

Spörri, Theophil 165 Stackhouse, John 398 Stamm, Mark 149, 151 Steckel, Karl 55 Steele, Daniel 288 Steele, Richard B. 136, 282, 315 Stemmler, Gunter 289 Stevens, Abel 226 Stevenson, George 17, 33 Stier, Rudolf 218 Stockmayer, Otto 210 Stolze, Jürgen 195 Storr, Gottlob Christian 50 Strauß, David Friedrich 51 Streiff, Patrick P. 233f., 273, 325 Ströter, Ernst F. 211–214, 220–223, 230 Strübind, Andrea 376 Sulzberger, Arnold 108f., 189, 264 Synan, Vinson 235, 238, 240f., 246f., 249 Tackaburry, Andrew 32 Taddioli, Renata 231 Taylor, Charles 93, 386–392 Telford, John 25f., 75, 145, 151, 283 Thiemann, Ronald F., 301 Tholuck, August 51f. Thomas, Howe Octavius 282 Thorsen, Don 84 Tomkins, Stephen 315 Tomlinson, J. S. 205, 216 Torrey, Reuben 253 Tripp, David 125, 154 Troeltsch, Ernst 186f., 193, 285 Truett, George 376 Tudur, Jones R. 251 Twain, Mark 100 Tyerman, Luke 40 Tyson, John R. 297 Van Kirk, Natalie B. 301 Varwick, Johannes 357 Vetter, Ekkehart 250 Vetter, Ernst 253 Vickers, Jason E. 301

Viebahn, Gregor von 253 Voigt, Friedemann 285 Voigt, Karl Heinz 55, 63, 158, 201, 207, 211, 214, 225, 237, 285, 374, 378f. Volf, Miroslav 166, 392–397 Voß, K.-P. 399 Vulliamy, C. E. 40 Wacker, Grant A. 241–243 Wainwright, Geoffrey 11, 152–154, 166, 298 Wallace, Charles 16 Walsh, John 44 Walter, Matthias 174 Wanner, J. 111 Ward, Marilyn S. 329–332 Ward, W. Reginald 37, 39, 44, 145, 226 Washburn, Paul, 292 Watson, David F. 77, 80 Watson, David L. 131, 136, 163, 315 Weatherhead, Leslie 337f. Weber, Timothy P. 210, 237 Wecke, W. 253 Weisberg, Barbara 35 Wells, David F. 44, 309 Welti, H. 159, 179 Wenz, Gunter 51 Wesley, Charles 14, 152 Wesley, Emilia (Emily) 14–20, 26, 38f., 42 Wesley, John Siehe passim Wesley, Keziah (Ketty) 14 Wesley, Martha (Patty) 14 Wesley, Mehetabel (Hetty) 14, 18f., 24–26, 33f. Wesley, Molly 14f., 19 Wesley, Nancy 14–19, 26 Wesley, Samuel 13–21, 24, 27, 30, 35, 37 Wesley, Samuel Jr. 14–20, 25, 38 Wesley, Susanna 14–20, 24, 33–35, 39 Wesley, Susanna (Suky) 14–19, 25f.

Personenregister

409

Westerhoff, John 177 Weyer, Michel 62, 193, 336 White, Charles Edward 242 White, Charles Edwin 163, 287 White, James F. 144, 154 Wilkinson, David 183 Willeford, Bennett 23 Williams, Jeffrey 314–317, 320–322, 329 Wilson, Jonathan R. 127, 160 Wittke, Carl 201, 221

Wolf, Ernst 377 Wood, Laurence W. 233, 268 Woyke, Wichard 357 Wright, Dudley 15 Wright, N. T. 99 Wüthrich, Paul 55 Yarbrough, Robert W. 309 Yrigoyen, Charles 372 Zehrer, Karl 163 Zeindler, Matthias 91f. Zöckler, Otto 68

Bibelstellenregister Gen 1 1,1 1,2

68 68 68f.

8,31–32 8,36 8,44 10,10

78 181 68 364

1Sam 4,10

146

Apg 2,4

240

Jes 53,4

238

Dan 10,13

68

Mt 1,21 3,7 5,17 13,31 24 24,21 28,19

136 136 96 221 206, 218 210 246

Röm 5,5 6 6,4 7,7–25 8,16 8,28 12,6 13

277 174 276 97 89 96 94 334

1Kor 3,6 3,9 3,1f 9,24–27 10,16 12,11 12,27 14 14,26

174 372 269 402 153 395 174 270 277

Lk 12,32 Joh 1,9 3,3.16 5,39

410

157 370 276 80

Register

2Kor 5,17 6,15 6,17 13,13

372 70 235 183

Gal 4,4 5,6 5,22 6,22

98 62, 281, 371 268 137

Eph 2,8–10 2,14 4,12

276 354 173

Phil 2,12–13

129, 161

Kol 1,16

36

2Tim 3,16–17

79

Hebr 11,1 12,14

60 59, 354

Jak 1,25

314

1Petr 2,9

174

2Petr 1,4 2,4

66 68

Offb 10,5 10,6b 13 20

72 72 334 208

Bibelstellenregister

411