Aufsätze zur Pfarreigeschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit [1 ed.] 9783737012249, 9783847112242

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Aufsätze zur Pfarreigeschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit [1 ed.]
 9783737012249, 9783847112242

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Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens

Band 52

In Verbindung mit Birgit Hoffmann, Thomas Kück, Inge Mager und Mareike Rake herausgegeben von Hans Otte

Wolfgang Petke

Aufsätze zur Pfarreigeschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit

Mit 2 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, der Ev.-lutherischen Landeskirche Hannovers und des Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Portal auf der Südseite der Dorfkirche von Deiderode (Gem. Friedland), Landkreis Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 0938-5924 ISBN 978-3-7370-1224-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Pfarrei als Institut von langer Dauer Die Pfarrei: ein Institut von langer Dauer als Forschungsaufgabe . . . . .

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Die Pfarrei in Mitteleuropa im Wandel vom Früh- zum Hochmittelalter .

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Urpfarrei und Pfarreinetz. Über zwei Begriffe der Pfarreiforschung . . . .

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Wie kam die Kirche ins Dorf ? Mittelalterliche Niederkirchenstiftungen im Gebiet des heutigen Niedersachsen und Harburgs . . . . . . . . . . . . . 103 Die Ausbildung des Pfarreiwesens im Schaumburger Land (9./10.– 14. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Mittelalterliche Stifts- und Klosterkirchen als Pfarrkirchen . . . . . . . . . 167

II. Pfarreinkünfte Von der klösterlichen Eigenkirche zur Inkorporation in Lothringen und Nordfrankreich im 11. und 12. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Oblationen, Stolgebühren und Pfarreinkünfte vom Mittelalter bis ins Zeitalter der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Die inkorporierte Pfarrei und das Benefizialrecht. Hilwartshausen und Sieboldshausen 1315–1540 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

III. Pfarrzwang Der rechte Pilger: Pilgersegen und Pilgerbief im späten Mittelalter

. . . . 323

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Inhalt

IV. Frühe Neuzeit Kirchenpatronate in städtischer Hand: Göttingen . . . . . . . . . . . . . . 361 Aus erheblichen Ursachen? Die Verbindung der Kirchengemeinden Herberhausen und Roringen im Jahre 1613 und der Pastor Andreas Variscus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Pfarrwitwen und Pfarradjunkten. Zur Alterssicherung mecklenburgischer Pfarrer und ihrer Witwen bis zum frühen 18. Jahrhundert. . . . . . . . . . 443 Register der Orts- und Personennamen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

Vorwort

Die Anregung zur vorliegenden Sammlung geht auf Enno Bünz zurück, mit dem mich seit anderthalb Jahrzehnten das gemeinsame Interesse an der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pfarreigeschichte verbindet. Sein Vorschlag, meine Aufsätze zur Pfarreigeschichte erneut zu drucken, hat mich überrascht und gefreut. Gewisse Vorgaben (unter anderem die zwingend geforderte Vereinheitlichung der Einrichtung aller Texte) ließen mich von dem ursprünglich vorgesehenen Veröffentlichungsort Abstand nehmen und nach einem anderen suchen. Ich fand ihn 2020 in der Reihe der »Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens«. Dafür bin deren Herausgebern und Herausgeberinnen Birgitt Hoffmann, Thomas Kück, Inge Mager, Hans Otte und Mareike Rake von der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte außerordentlich dankbar. Die Zusammenarbeit mit ihnen, insbesondere mit Thomas Kück und Hans Otte, gestaltete sich reibungslos. Angenehm war auch die Begleitung der Drucklegung durch den Verlag. Die nach den jeweiligen Vorgaben der Erstveröffentlichung unterschiedlichen Zitierweisen in den Anmerkungen wurden beibehalten. Offensichtliche Fehler in den Erstveröffentlichungen wurden stillschweigend verbessert. Dem Anhang im Beitrag über den Pilgersegen und die Pilgerbriefe war wegen diverser Neufunde ein Nachtrag anzufügen. Wo auf noch unveröffentlichte Manuskripte verwiesen worden war, was vor allem Göttinger Dissertationen betraf, wurde auf deren nunmehr gedruckte Fassungen verwiesen. Zweitveröffentlichungen von Beiträgen anderer Autoren, hier insbesondere von Enno Bünz, wurden, soweit sie mir bekannt geworden sind, vermerkt. Vereinzelt wurde um Hinweise auf jüngere Literatur ergänzt, von der Diskussion des jeweiligen aktuellen Forschungsstandes aber abgesehen. Die Veröffentlichung der vorliegenden Aufsatzsammlung wurde durch Druckkostenzuschüsse der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und des Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung wesentlich unterstützt. Den Förderern sei dafür auch an dieser Stelle vielmals gedankt.

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Vorwort

Fasziniert hat mich die Geschichte der mittelalterlichen Pfarrei, seitdem ich bei der Bearbeitung der Regesta Imperii IV,1,1 für Kaiser Lothar III. (erschienen 1994) in den 1980er Jahren gelernt hatte, daß der Terminus persona in Niederlothringen und im nördlichen Frankreich seit dem 11. Jahrhundert – in England seit dem 12. Jahrhundert – den Pfarrer, das heißt den Inhaber des Pfarrbenefiziums (vgl. englisch parson) im Unterschied zu seinem Vikar (vicar), bezeichnen kann. Nur ersterer hatte den vollen Nießbrauch der Pfründe. Die Inkorporation der Pfarrkirche in eine klösterliche Gemeinschaft, also der Anfall des größeren Teils des Pfarrbenefiziums an diese als den virtuellen Pfarrherrn, entwickelte sich für viele Konvente zu einer attraktiven Besitzform der Pfarreien und zu prekären Lebensbedingungen der am Ort amtierenden Vikare, vgl. im Folgenden den Aufsatz zu Eigenkirche und Inkorporation. Von hier aus gelangte ich von der ursprünglich freiwilligen intramissalen Opfergabe der Gemeinde hin zum Pflichtopfer als einem zumal in den städtischen Pfarreien wesentlichen Bestandteil der Pfarrpfründe, vgl. den Aufsatz über Inkorporation und Benefizialrecht. Die Bearbeitung weiterer institutioneller Probleme der Pfarrei bis hin zur Versorgung der Pfarrwitwen im evangelisch gewordenen Herzogtum Mecklenburg schloß sich an. Seit den 1990er Jahren konnte ich in meinen Seminaren nicht weniger als zwölf Studierende für eine Promotion über Probleme des Niederkirchenwesens gewinnen. Ihre Dissertationen fanden durchweg ein positives Echo. So denke ich an die letzten anderthalb Jahrzehnte meiner Lehrtätigkeit an der Universität Göttingen, die mit dem Eintritt in den Ruhestand 2007 formal endete, gerne zurück. Göttingen, im November 2020

Wolfgang Petke

I. Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

Die Pfarrei: ein Institut von langer Dauer als Forschungsaufgabe*

Der Codex iuris canonici von 1983 can. 515 § 1 definiert die Pfarrei als »eine bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen, die in einer Teilkirche [= Ortskirche, Diözese] auf Dauer errichtet ist und deren Seelsorge unter der Autorität des Diözesanbischofs einem Pfarrer als ihrem eigenen Hirten anvertraut wird«.1 Vor den zu einer Tagung über »Klerus, Kirche, Frömmigkeit im mittelalterlichen Schleswig-Holstein« versammelten Gelehrten auszusprechen, dass die Pfarrei ein Institut nicht nur auf Dauer, sondern auch von langer Dauer und also offenbar von historischer Bedeutung ist, heißt Eulen nach Athen tragen. Doch ist vielleicht gerade diesem Kreis nicht gegenwärtig, dass das Wissen davon im deutschen Geschichtsbewusstsein nur schwach verankert ist. Dabei war die ländliche Pfarrei nicht nur kirchliche Gemeinde, sondern in Kirchdörfern auch Gerichtsgemeinde und also politische Gemeinde.2 Nach Ausweis von Schatzregistern hat sie in Deutschland vielfach – genauso wie die französische paroisse fiscale des Ancien Régime – als Steuererhebungsbezirk gedient.3 Parochienweise wurden seit dem * Erstveröffentlichung in: Enno Bünz und Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt (Hrsg.), Klerus, Kirche und Frömmigkeit im spätmittelalterlichen Schleswig-Holstein (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 41), Neumünster 2006, S. 17–49. 1 Codex des kanonischen Rechtes, lateinisch-deutsche Ausgabe, mit Sachverzeichnis = Codex iuris canonici, hrsg. im Auftr. der Dt. und der Berliner Bischofskonferenz … Die dt. Übers. und die Erarb. des Sachverz. besorgte im Auftr. der Dt. Bischofskonferenz … Winfried Aymans u. a., 3., verb. Aufl., Kevelaer 1989, S. 235. – Vgl. Hans Paarhammer, Pfarrei, in: TRE 26, Berlin/ New York 1996, S. 337–347, hier S. 341. – Peter Krämer, Pfarrei, in: LThK 8, 3. Aufl., Freiburg u. a. 1999, Sp. 162–164. 2 Vgl. Herbert Reyer, Die Dorfgemeinde im nördlichen Hessen. Untersuchungen zur hessischen Dorfverfassung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Marburg 1983 (Schriften des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde 38), S. 19–22, 116–121. – Bernd Schildt, Bauer – Gemeinde – Nachbarschaft. Verfassung der Landgemeinde Thüringens in der frühen Neuzeit, Weimar 1996 (Regionalgeschichtliche Forschungen), S. 78–140. 3 Vgl. Rudolf Grieser, Das Schatzregister der Großvogtei Celle von 1438 und andere Quellen zur Bevölkerungsgeschichte der Kreise Celle, Fallingbostel, Soltau und Burgdorf zwischen 1428 und 1442, Hildesheim 1934, Neudruck 1961 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 41), S. 8ff., 12ff., 49–51. – Präzisierungen zur Quelle bei Heinrich Dormeier, Verwaltung und Rechnungswesen im spätmittelalterlichen Fürstentum Braunschweig-Lüne-

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Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

12. Jahrhundert Kölns Schreinsbücher und seit um 1300 Hamburgs Renteverlassungsbücher (Libri reddituum) geführt.4 Fundus und Dos der Landpfarreien blieben so wie in England, in Dänemark, im Elsass oder in der Zürcher Kirche auch in Deutschland von der Reformation im Kern unangetastet; eine organisatorische Kontinuität von der mittelalterlichen Kirche hin zu den reformatorischen Kirchen wurde gerade und wohl nur in der Pfarrei gewahrt.5 Das ist weitgehend unbekannt. Neu in ein Dorf zugezogene Städter sind befremdet, wenn die Vorsteher der örtlichen evangelischen Kirchengemeinde periodisch burg, Hannover 1994 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVII, 18), S. 53f., 346–348, 372 Anm. 214. – Rudolf Grieser, Schatz- und Zinsverzeichnisse des 15. Jahrhunderts aus dem Fürstentum Lüneburg. Quellen zur Bevölkerungsgeschichte der Kreise Harburg, Dannenberg, Gifhorn und Ülzen 1450–1497, Hildesheim/Leipzig 1942 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 50), S. 83–85 (Schatzregister der Vogtei Amelinghausen, 1. Hälfte 15. Jahrhunderts). – Helmut Flachenecker, Reichsreform und Gemeiner Pfennig. Die Bischöfe von Eichstätt und das Pfennigregister des Bistums, in: Historischer Verein Eichstätt, Sammelblatt 91 (1998), S. 55–109, hier S. 62, 65, 103– 104. – Eberhard Lohmann, Das Steuerregister des Gemeinen Pfennigs für das Bistum Worms, Darmstadt 2005 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 147), S. XIII, XXV f. – Vgl. Hélène Boucher, Paroisses et communes de France. Dictionnaire d’histoire administrative et démographique, sous la direction de J.P. Bardet et C. Motte, Bd. (51): Marne, Paris 1984, S. 13–14. 4 Hermann Jakobs, Bruderschaft und Gemeinde: Köln im 12. Jahrhundert, in: Berent Schwineköper (Hrsg.), Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften im frühen und hohen Mittelalter, Sigmaringen 1985 (Vorträge und Forschungen 29), S. 281–309, hier S. 285. – Manfred Groten, Die Anfänge des Kölner Schreinswesens, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 56 (1985), S. 1–21, hier S. 3. – Franz-Reiner Erkens, Sozialstruktur und Verfassungsentwicklung in der Stadt Köln, in: Jörg Jarnut/Peter Johanek (Hrsg.), Die Frühgeschichte der europäischen Stadt im 11. Jahrhundert, Köln u. a. 1998 (Städteforschung A,43), S. 169–192, hier S. 178–180. – Jürgen Reetz, Hamburgs mittelalterliche Stadtbücher, in: ZHG 44 (1958), S. 95–139, hier S. 113, 121. 5 Vgl. Hans-Walter Krumwiede, Kirchengeschichte. Geschichte der evangelischen Kirche von der Reformation bis 1803, in: Hans Patze (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens. Bd. 3, T. 2: Kirche und Kultur von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Hildesheim 1983 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 36), S. 28. – Zu England vgl. Robert M. Kingdon, Protestant Parishes in the old world and the new. The cases of Geneva and Boston, in: Cosimo Damiano Fonseca/Cinzio Violante (Hrsg.), Pievi e parrocchie in Europa dal medioevo all’età moderna, Galatina 1990 (Commissione Italiana per la storia delle pievi e delle parrocchie, Studi e ricerche 2), S. 154. – Ebd. S. 155 zu den von sieben mittelalterlichen auf drei nachreformatorische reduzierten Genfer Pfarreien, die 1541 unter Mitwirkung Calvins terminiert wurden. Zu den Zürcher Landpfarreien s. Bruce Gordon, The Zürich Synod and Financial Problems in the Parishes: 1532–1580, in: Marcel Pacaut/Olivier Fatio (Hrsg.), L’hostie et le denier. Les finances ecclésiastiques du haut Moyen Age à l’époque moderne. Actes du colloque de la Commission internationale d’histoire ecclésiastique comparée Genève août 1989, Genf 1991 (Publications de la Faculté de Théologie de l’Université de Genève 14), S. 201–212.– Zum Elsass s. Bernard Vogler, Le patrimoine et sa gestion dans les églises luthériennes en Alsace du XVIe au XVIIe siècle, ebd., S. 221–229. – Zu Dänemark vgl. das seit 1569 entstandene Lunds stifts landebok, utg. av Karl Gustav Ljunggren/Bertil Ejder Bd. 1– 3, Lund 1950–1965 (Skånsk senmedeltid och renässans 4–6).

Die Pfarrei: ein Institut von langer Dauer als Forschungsaufgabe

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über so irdische Dinge wie die Verpachtung von Ländereien zu beschließen haben, die dann verwirrenderweise auch heute noch nach Pfarrland, Kirchenund Küsterland unterschieden sind. Pfarrer können sich erregen, wenn ein – womöglich auch noch adeliger – Patron zu Beginn des 21. Jahrhunderts geborenes Mitglied des Kirchenvorstandes ist. Das Erfordernis eines Dimissoriale für Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen, die außerhalb der kirchlichen Heimatgemeinde stattfinden sollen6, stößt bei den meisten Laien und inzwischen auch bei vielen Pfarrern auf Unverständnis. Die tatsächlich und nicht nur redensartlich auf »mittelalterlichen Verhältnissen« beruhenden Rechtstatsachen der Kirchendotierung, des Patronats und des Pfarrzwanges kennt man nicht beziehungsweise nicht mehr, weil in den Gemeinden das Kirchenrecht in der Regel geringgeschätzt wird. Andererseits ist für eine wachsende Zahl von Studierenden des Faches Geschichte die Kirche eine mittelalterliche Einrichtung und somit etwas scheinbar Vergangenes. Heute muss man darauf hinweisen, dass es immer noch Millionen von Christen und dementsprechend Pfarreien gibt, wobei man von Subtilitäten wie zum Beispiel dem Institut der Personalpfarrei oder der Respektierung der Geschlossenen Zeiten (tempora clausa) bei der Terminierung von kirchlichen Trauungen tunlichst absieht.7 Diesen Angehörigen einer Generation einer – um ein fünfzig Jahre altes Wort des britischen Kulturphilosophen Christopher Dawson zu benutzen – »nachchristlichen Epoche«8

6 Bereits 1269 verbietet ein Synodalstatut des Bischofs Nikolaus Gellent von Angers den Missbrauch, dass Pfarrherren für die für eine Eheschließung außerhalb der Heimatpfarrei erforderliche Personenstandsbescheinigung Gebühren fordern: Les statuts synodaux français du XIIIe siècle, Bd. 3, Les statuts synodaux Angevins de la seconde moitié du XIIIe siècle, hrsg. von Joseph Avril, Paris 1988 (Collection de documents inédits sur l’histoire de France, Série in-80, 19), S. 98–100: Verum intelleximus novum genus exactionis exortum quia si aliquando parrochianus aliquis in aliena parrochia matrimonium contrahat in nostra dyocesi vel eciam aliena et a sacerdote suo postulet, qui status ipsius habet noticiam, litteras sibi concedi, quod persona sua sit libera ad contrahendum, nunquam sacerdotes eas concedere volunt, nisi prius pro dicta littera concedenda, eis a postulante aliquid conferatur, vel certissime promittatur … – Zum Pfarrzwang vgl. Philipp Schneider (Hrsg.), Konrads von Megenberg Traktat ›De limitibus parochiarum civitatis Ratisbonensis‹. Ein Beitrag zur Geschichte des Pfarrinstituts aus dem 14. Jahrhundert, Regensburg 1906, S. 148–156. – Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland. System des katholischen Kirchenrechts, mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Bd. 2, Berlin 1878, Neudruck 1959, S. 267, 298–302. – Joseph Avril, A propos du ›proprius sacerdos‹. Quelques réflexions sur les pouvoirs du prêtre de paroisse, in: Proceedings of the Fifth International Congress of Medieval Canon Law, Città del Vaticano 1980 (Monumenta Iuris Canonici. Series C. Subsidia Bd. 6), S. 471–486, hier S. 484–485. 7 Vgl. Johannes Dorn, Zur Geschichte der Personalpfarreien, in: ZRG 37 KA 6 (1916), S. 341–383. – Zu den tempora clausa vgl. Joseph Freisen, Geschichte des kanonischen Eherechts bis zum Verfall der Glossenliteratur, 2. Aufl., Paderborn 1893, Neudruck 1963, S. 643–646. 8 Christopher Dawson, Europa, Idee und Wirklichkeit, München 1953, S. 29, zuerst erschienen unter dem Titel Understanding Europe, London/New York 1952. Von »nachchristlicher Zeit«

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Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

einerseits das Mittelalter und andererseits die mittelalterliche Kirche und hier nun auch noch die Phänome der Pfarrei, ihres Klerus und ihrer Pfarrkinder nahe zu bringen, wird zunehmend schwieriger. Schwierig auch deshalb, weil es zwar, worauf zurückzukommen ist, in Deutschland eine sehr große Zahl von Veröffentlichungen zur Geschichte einzelner Pfarreien und zu dem Niederkirchenwesen einzelner Städte und Regionen gibt, nicht jedoch eine jüngere Einführung in die Geschichte des Niederkirchenwesens selbst. Für Frankreich hat Michel Aubrun 1986 eine Gesamtdarstellung gewagt.9 Die Abhandlung von Franz Xaver Künstle »Die Deutsche Pfarrei und ihr Recht zum Ausgang des Mittelalters« nimmt nur die ländlichen Pfarreien des Spätmittelalters in den Blick, und auch diese im Wesentlichen lediglich auf der Grundlage der spätmittelalterlichen Weistümer.10 So ist in Deutschland immer noch auf die für ihre Zeit vorzügliche, aber eben regionale Darstellung von Lucian Pfleger über die elsässische Pfarrei im Mittelalter von 1936 zu verweisen oder auf die konzentrierte Einleitung von Friedrich Wilhelm Oediger zu einem von ihm 1939/1940 edierten Xantener Benefizien-, Benefiziaten- und Kollatorenverzeichnis von um 1500.11 Die Erörterungen zur Pfarrei von dem Stutz-Schüler Hans Erich Feine, der sich bekanntlich selbst wiederholt mit dem Eigenkirchenwesen beschäftigt hat, in seiner Kirchlichen Rechtsgeschichte von 1950 (5. Aufl. 1972) und von Michael Borgolte in dessen Band »Die mittelalterliche Kirche« (1992) sind, da beide die kirchliche Rechtsgeschichte beziehungsweise die Geschichte der Kirche in Deutschland insgesamt abzudecken hatten, notgedrungen zu knapp ausgefallen.12 Das trifft auch zu für die Ausführungen von Hartmut Boockmann in dessen Berliner Antrittsvorlesung von 1992 über »Bürgerkirchen im späteren Mittelalter« und von Ernst Schubert über »Pfarrei und

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sprechen heute Pastoraltheologen, vgl. Alois Schifferle (Hrsg.), Pfarrei in der Postmoderne? Gemeindebildung in nachchristlicher Zeit, Festschrift für Leo Karrer, Freiburg i. Br. 1997. Michel Aubrun, La paroisse en France des origines au XVe siècle, Paris 1986. Franz Xaver Künstle, Die deutsche Pfarrei und ihr Recht zu Ausgang des Mittelalters. Auf Grund der Weistümer dargestellt, Stuttgart 1905 (Kirchenrechtliche Abhandlungen 20). Lucian Pfleger, Die elsässische Pfarrei. Ihre Entstehung und Entwicklung. Ein Beitrag zur kirchlichen Rechts- und Kulturgeschichte Straßburg 1936 (Forschungen zur Kirchengeschichte des Elsass 3). Das Buch ist ein Zusammendruck von bereits kapitelweise angeordneten Beiträgen, die von 1929 bis 1934 im Archiv für Elsässische Kirchengeschichte Bd. 4, 5, 7– 9 erschienen sind. – Friedrich Wilhelm Oediger, Niederrheinische Pfarrkirchen um 1500. Bemerkungen zu einem Erkundungsbuch des Archidiakonats Xanten, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 135 (1939), S. 1–40. – Ders., Niederrheinische Pfarrkirchen um 1500. Ein Erkundungsbuch des Archidiakonats Xanten, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 136 (1940) S. 1–62, Wiederabdruck in: Ders., Vom Leben am Niederrhein. Aufsätze aus dem Bereich des alten Erzbistums Köln, Düsseldorf 1973, S. 263–350. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, 1. Aufl., Köln 1950; 5. Aufl., Köln u. a. 1972, § 19, § 24, §§ 32–33. – Michael Borgolte, Die mittelalterliche Kirche, München 1992 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 17), S. 35, 51–60, 95–102, 113–119.

Die Pfarrei: ein Institut von langer Dauer als Forschungsaufgabe

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Gemeinde auf dem Land und in der Stadt« in dessen Einführung in die deutsche Geschichte des Spätmittelalters – ebenfalls aus dem Jahre 1992.13 Regionale Kirchengeschichten wie diejenige für Schleswig-Holstein (1978) beschränken sich auf die Darstellung der Entwicklung des Pfarreinetzes14 und schildern die Pfarrei nicht in ihrer Funktion – und das, obwohl neben dem Bistum »die Pfarrei die lebenskräftigste und am klarsten in Erscheinung tretende kirchliche Einheit [war] […]. In der Pfarrgemeinde vollzog sich am dichtesten das Leben des Christen. In ihr empfing er die Taufe, feierte den Gottesdienst, nahm an der Eucharistie teil, unterzog sich der Kirchenbuße, leistete Oblationen und Abgaben, betete mit für das irdische und ewige Heil, hoffte auf die Fürbitte seiner Mitchristen vor und nach dem Tod«.15 In den zurückliegenden 30 Jahren ist die Geschichte der Pfarrei und hier vornehmlich der Landpfarrei wiederholt Gegenstand international besetzter Tagungen gewesen. Beiträge zu Kolloquien der Commission Internationale d’Histoire Ecclésiastique Comparée, welche diese 1971 in Warschau, 1973 in Parma, 1974 in Oxford und 1975 in San Francisco veranstaltete, wurden schließlich im Jahre 1990 veröffentlicht unter dem Titel »Pievi e parrocchie in Europa dal medioevo all’età contemporanea«;16 ein Vortrag zu dem Niederkirchenwesen in Deutschland ist in dem Band, der lesenswerte Beiträge zum Niederkirchenwesen von Polen über Siebenbürgen und Italien bis hin nach Portugal und den englischen Kolonien in Amerika bietet, nicht enthalten. Es folgte 1974 die Mailänder Tagung über »Le istituzioni ecclesiastiche della ›Societas Christiana‹ dei secoli XI–XII. Diocesi, pievi e parrocchie« – darunter ein Vortrag von Dietrich Kurze über »Ländliche Gemeinde und Kirche in Deutschland während des 11. und 12. Jahrhunderts«;17 es schlossen sich an im Jahre 1980 der Kongress in Spoleto über »Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell’alto medioveo: Espansione e resistenze« und 1981 der Florentiner Kongress über »Pievi e parrocchie in Italia nel basso medioevo (Sec.

13 Hartmut Boockmann, Bürgerkirchen im späteren Mittelalter (1994), Wiederabdruck in: Ders., Wege ins Mittelalter. Historische Aufsätze, hrsg. von Dieter Neitzert/Uwe Israel/Ernst Schubert, München 2000, S. 186–204. – Ernst Schubert, Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter, Darmstadt 1992, S. 256–264. 14 Karlheinz Gaasch, Die mittelalterliche Pfarrorganisation in Schleswig-Holstein, in: SchleswigHolsteinische Kirchengeschichte 2, Anfänge und Ausbau T. 2, Neumünster 1978 (SSHKG 1,27), S. 43–69. 15 Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert, Göttingen 1988 (Die Kirche in ihrer Geschichte Bd. 2, Lfg. F), S. 34. 16 Fonseca/Violante, Pievi e parrocchie (wie Anm. 5). 17 Wiederabdruck in Dietrich Kurze, Klerus, Ketzer, Kriege und Prophetien. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Jürgen Sarnowski/Marie-Luise Heckmann/Stuart Jenks, Warendorf 1996, S. 47–83.

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Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

XIII–XV)«.18 Die Spoletiner Tagung von 1980 bot die auch für das Niederkirchenwesen in Deutschland wichtigen Beiträge von Arnold Angenendt über »Die Liturgie und die Organisation des kirchlichen Lebens auf dem Lande«, von Wilfried Hartmann über »Der rechtliche Zustand der Kirchen auf dem Lande: Die Eigenkirche in der fränkischen Gesetzgebung des 7. bis 9. Jahrhunderts« und von Josef Semmler zu »Mission und Pfarrorganisation in den rheinischen, moselund maasländischen Bistümern (5.–10. Jahrhundert)«.19 Auf dem Tridentiner Colloquium des Jahres 1983 über »Strutture ecclesiastiche in Italia e in Germania prima della Riforma« sprachen Peter Johanek über »Bischof, Klerus und Laienwelt in Deutschland vor der Reformation«, Heinrich Dormeier über den Imhoffschen St. Rochus-Altar in St. Lorenz zu Nürnberg und Bernd-Ulrich Hergemöller über die hansische Stadtpfarrei im Spätmittelalter.20 Letzterer war der einzige deutsche Referent, als sich ansonsten französische, Schweizer und italienische Beiträger 1985 in Lausanne mit wirtschaftlichen Aspekten der Pfarrei und dabei unter anderem mit Anniversarstiftungen und Totenmählern befassten.21 Ein wiederum von der Commission Internationale d’Histoire Ecclésias18 Le istituzioni ecclesiastiche della ›Societas Christiana‹ dei Secoli XI–XII. Diocesi, pievi e parrocchie, Mailand 1977 (Miscellanea del centro di studi medioevali 8). – Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell’alto medioevo: Espansione e resistenze, Spoleto 1982 (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 28,1–2). – Pievi e parrocchie in Italia nel basso medioevo (sec. XIII–XV), 2 Bde., Rom 1984 (Italia sacra. Studi e documenti di storia ecclesiastica 35–36). 19 Arnold Angenendt, Die Liturgie und die Organisation des kirchlichen Lebens auf dem Lande, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne Bd. 1, S. 169–226.– Wilfried Hartmann, Der rechtliche Zustand der Kirchen auf dem Lande: Die Eigenkirche in der fränkischen Gesetzgebung des 7. bis 9. Jahrhunderts, in: ebd., S. 397–441. – Josef Semmler, Mission und Pfarrorganisation in den rheinischen, mosel- und maasländischen Bistümern (5.–10. Jahrhundert), in: ebd. Bd. 2, S. 813–888. 20 Peter Johanek, Vescovo, clero e laici in Germania prima della Riforma, in: Strutture ecclesiastiche in Italia e in Germania prima della Riforma, a cura di Paolo Prodi e Peter Johanek, Bologna 1984 (Annali dell’Istituto storico italo-germanico, Quaderno 16), S. 87–134. – Heinrich Dormeier, Nuovi culti di santi intorno al 1500 nelle città della Germania meridionale. Circostanze religiose, sociali et materiali della loro introduzione ed affermazione, in: ebd. S. 317–352. – Bernd-Ulrich Hergemöller, Parrocchia, parroco e cura d’anime nelle città anseatiche del basso Medio Evo, in: ebd. S. 135–170. Der Aufsatz von Johanek ist in deutscher Sprache wiederabgedruckt unter dem Titel »Bischof, Klerus und Laienwelt in Deutschland vor der Reformation«, in: Ders., Was weiter wirkt. Recht und Geschichte in Überlieferung und Schriftkultur des Mittelalters, hrsg. von Antje Sander-Berke/Birgit Studt, Münster 1997, S. 69– 102. – Der Vortrag von Dormeier ist in erweiterter Form erschienen unter dem Titel: St. Rochus, die Pest und die Imhoffs in Nürnberg vor und während der Reformation. Ein spätgotischer Altar in seinem religiös-liturgischen, wirtschaftlich-rechtlichen und sozialen Umfeld, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1985, S. 7–72. 21 Bernd-Ulrich Hergemöller, Pfarreien im mittelalterlichen Hanseraum. Entwurf einer Typologie, in: Agostino Paravicini Bagliani/Véronique Pasche (Hrsg.), La parrocchia nel medio evo. Economia, scambi, solidarietà, Rom 1995 (Italia sacra. Studi e documenti di storia ecclesiastica 53), S. 121–150. – Martial Staub, Les fondations de services anniversaires à

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tique Comparée im Jahre 1994 veranstaltetes Colloquium in Lüttich stand unter dem Thema »La christianisation des campagnes« und richtete dabei die Blicke auf die Pfarreien von der Spätantike bis in das 20. Jahrhundert. Von den dort gehaltenen Vorträgen sind für den spätmittelalterlichen Pfarrklerus Deutschlands einschlägig die Ausführungen von Arnoud-Jan A. Bijsterveld über Bildung und Zölibat des Klerus in Nord-Brabant und – auf der Basis eines Präsentationsregisters der Herzöge von Kleve für den Archidiakonat Xanten – von Dieter Scheler über »Patronat und Rekrutierung der Landgeistlichkeit am Niederrhein im 15. Jahrhundert«.22 In Italien hat sich sogar eine Kommission für Pfarreigeschichte konstituiert (Commissione italiana per la storia delle pievi e delle parrocchie), die 1980 Forschungen von Chris Wickham zu kirchlichen Institutionen in der Toskana publizierte, 1990 mit dem schon erwähnten Band »Pievi e parrocchie in Europa« und in demselben Jahr zum Internationalen Historikertag in Madrid mit einem Heft über »Chiesa e città« an die Öffentlichkeit getreten ist.23 Französische Gelehrte haben sich 1984 in Dijon und 1991 in Amiens mit Pfarrei, Klerus und Frömmigkeit im mittelalterlichen Frankreich befasst.24 Britische, amerikanische und kanadische Forscherinnen und Forscher brachten 1994 auf dem ersten International Medieval Congress in Leeds ihre Studien zur l’exemple de Saint-Laurent de Nuremberg: Prélèvement pour les morts ou embellisement du culte?, in: ebd. S. 231–254. – Nicole et Jean-Loup Lemaitre, Un test des solidarités paroissiales: la prière pour les morts dans les obituaires, in: ebd. S. 255–278. – Pierre Dubuis, Repas funéraires, économie familiale et solidarité paroissienne, in: ebd. S. 279–304. 22 Arnoud-Jan A. Bijsterveld, Du cliché à une image plus nuancée: la formation et la conduite des curés en Brabant du Nord de 1400 à 1570, in: Jean-Pierre Massaut/Marie-Elisabeth Henneau, La christianisation des campagnes. Actes du colloque du C.I.H.E.C. (25–27 août 1994) Bd. 1, Brüssel/Rom 1996 (Institut Historique Belge de Rome 38), S. 221–233. – Dieter Scheler, Patronat und Rekrutierung der Landgeistlichkeit am Niederrhein im 15. Jahrhundert, in: ebd., S. 235–248. – Vgl. auch ders., Patronage und Aufstieg im Niederkirchenwesen, in: Günther Schulz (Hrsg.), Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2000 und 2001, München 2002 (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 25), S. 315–336. 23 Chris Wickham, Istituzioni ecclesiastiche della Toscana medioevale, Galatina 1980 (Commissione italiana per la storia delle pievi e delle parrocchie, Studi e ricerche 1). – Cosimo Damiano Fonseca/Cinzio Violante, Chiesa e città. Contributi della Commissione italiana di storia ecclesiastica comparata aderente alla Commission Internationale d’Histoire Ecclésiastique Comparée al XVII Congresso internazionale di scienze storiche (Madrid, 26 agosto – 2 settembre 1990), Galatina 1990 (Commissione italiana per la storia delle pievi e delle parrocchie, Studi e ricerche 3). 24 L’encadrement religieux des fidèles au moyen-âge et jusqu’au Concile de Trente. La paroisse, le clergé, la pastorale, la dévotion. Actes du 109e Congrès National des Sociétés Savantes, Dijon 1984 (Actes du congrés national des sociétés savantes. Section d’histoire médiévale et de philologie 109,1) Paris 1985. – Le clerc seculier au Moyen Age. Actes du XXIIe congrès de la Société des Médiévistes de l’Enseignement Supérieur Public (Amiens, juin 1991), Paris 1993 (Série histoire ancienne et médiévale 27).

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Geschichte der Pfarrei in England von 1400 bis 1600 in einer eigenen Sektion zur Sprache.25 In Deutschland fand im Oktober 1987 auf der Reichenau eine Tagung über »Probleme des Niederkirchenwesens im Mittelalter« statt. Da die Veröffentlichung der dortigen Referate in einem der Bände der Vorträge und Forschungen nicht zustande kam, haben die meisten Referenten ihre Beiträge an anderer Stelle publiziert.26 Seitdem hat in Deutschland eine überregionale oder regionale Tagung zum Niederkirchenwesen, soweit mir bekannt, nicht stattgefunden. Das hat wohl auch damit zu tun, dass an Deutschlands historischen Seminaren und theologischen Fakultäten das Niederkirchenwesen des Mittelalters nie zu einem vorrangigen Thema gediehen ist, obwohl die deutsche Kirchengeschichte und die kirchliche Rechtsgeschichte mit Paul Hinschius zum katholischen Kirchenrecht27, mit Ulrich Stutz zum Benefizial- und Eigenkirchenrecht28, mit Georg Schreiber zur klösterlichen Eigenkirche und zur mittelalterlichen Frömmigkeit29 oder mit Peter Landau zum Patronatsrecht30 Grund25 Katherine L. French/Gary G. Gibbs/Beat A. Kümin (Hrsg.), The Parish in English Life 1400– 1600, Manchester 1997. 26 Ungedrucktes Protokoll Nr. 296. Vgl. Franz-Reiner Erkens, Das Niederkirchenwesen im Bistum Passau (11.–13. Jahrhundert), in: MIÖG 102 (1994), S. 53–97. – Klaus Neitmann, Christliche Unterweisung von Deutschen und Preußen im Ordensland Preußen, in: Westpreußen-Jahrbuch 46 (1996), S. 57–72. – Michael Oberweis, Zisterziensische Volkspredigt in der Frühzeit des Ordens, in: Norbert Kühn (Hrsg.), Die rheinischen Zisterzienser. Neue Orientierungen in rheinischen Zisterzen des späten Mittelalters, Köln 1999, S. 57–65. – Wolfgang Petke, Von der klösterlichen Eigenkirche zur Inkorporation in Lothringen und Nordfrankreich im 11. und 12. Jahrhundert, in: RHE 87 (1992), S. 34–72, 375–404. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 191–248. – Bernd Schneidmüller, Stadtherr, Stadtgemeinde und Kirchenverfassung in Braunschweig und Goslar im Mittelalter, in: ZRG 110 KA 79 (1993), S. 135–188. – Brigide Schwarz, Römische Kurie und Pfründenmarkt im Spätmittelalter, in: ZHF 20 (1993), S. 129–152. Vgl. auch Peter Johanek, Vescovo (wie Anm. 20), S. 87– 134. 27 Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland. Bd. 1– 6,1: System des katholischen Kirchenrechts, mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Berlin 1869–1897, Neudruck 1959. 28 Ulrich Stutz, Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III., Bd. 1,1, Berlin 1895, ergänzter Neudruck Aalen 1972. – Ders., Die Eigenkirche als Element des mittelalterlich-germanischen Kirchenrechts, Berlin 1895, Neudruck Darmstadt 1955.– Ders., Forschungen zu Recht und Geschichte der Eigenkirche, gesammelte Abhandlungen, hrsg. von Hans Erich Feine, Aalen 1989. 29 Georg Schreiber, Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert. Studien zur Privilegierung, Verfassung und besonders zum Eigenkirchenwesen der vorfranziskanischen Orden vornehmlich auf Grund der Papsturkunden von Paschalis II. bis auf Lucius III., Stuttgart 1910 (Kirchenrechtliche Abhandlungen 65/66). – Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1: Gemeinschaften des Mittelalters, Recht und Verfassung, Kult und Frömmigkeit, Münster 1948.– Ders., Liturgie und Abgabe. Bußpraxis und Beichtgeld an französischen Niederkirchen des Hochmittelalters, in: HistJb 76 (1957), S. 1–14. 30 Peter Landau, Ius patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts, Köln/Wien 1975 (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte 12).

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legendes zum Verständnis der niederkirchlichen Verhältnisse beigetragen haben. Die große Ausnahme ist Dietrich Kurze mit seinen Forschungen zur Gemeindebildung, zum kommunalen Pfarrerwahlrecht im 11. und 12. Jahrhundert und auch zur Sozialgeschichte des niederen Klerus.31 Das Interesse Peter Blickles und seiner Schule richtet sich mehr auf dörflich-genossenschaftliche Aktivitäten als Grundlage der sogenannten Gemeindereformation und weniger auf die Pfarrei, auf deren Klerus und die dörfliche Frömmigkeitspraxis insgesamt.32 – Nachdem die rechtlichen Normen des Niederkirchenwesens vom Patronat und der Inkorporation über den Send bis hin zum päpstlichen Benefizialrecht für das Hochund Spätmittelalter prinzipiell geklärt zu sein scheinen, versprechen vor allem örtliche und regionale Untersuchungen einen Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Stellung der Pfarrei in der mittelalterlichen Welt. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zu »Landkirchen und Landklerus im Bistum Konstanz während des frühen und hohen Mittelalters« hat im Jahre 2003 Harro Julius als Konstanzer Dissertation vorgelegt.33 Es ist nicht ganz leicht, sich in Deutschland über Forschungen zum Niederkirchenwesen auf dem Laufenden zu halten; denn viele Lokal- oder Regionalstudien erscheinen in einer der zahlreichen landesgeschichtlichen Zeitschriften, in Zeitschriften zur Geschichte von Landeskirchen und Diözesen, in Zeitschriften örtlicher Geschichtsvereine oder gar als Einzelveröffentlichungen einzelner Ortschaften oder Pfarreien. Die lesenwerte und gelehrte, im Jahre 1992 erschienene Studie von Ludwig Falkenstein, Norbert Lynen und Norbert Paffen über die Kapelle und Kirche St. Matthias zu Berensberg bei Aachen (1381–1890) wurde vom Pfarramt Herzogenrath vertrieben und ist nur in wenigen Universitätsbibliotheken vorhanden.34 Da den Interessierten eine ständige Autopsie aller in Betracht kommenden Zeitschriften und Monographien unmöglich sein dürfte, sind sie auf die herkömmlichen bibliographischen Hilfsmittel angewiesen. Die Revue d’Histoire Ecclésiastique hat leider erst seit dem Band 97 (2002) auch einen Sachindex, der unter dem Schlagwort »paroisse« weiterführt. Hilfreicher sind die 31 Dietrich Kurze, Pfarrerwahlen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Gemeinde und des Niederkirchenwesens, Köln/Graz 1966 (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 6). Kurzes Arbeiten zu Klerus und Gemeinde sind wiederabgedruckt in: ders., Klerus, Ketzer, Kriege und Prophetien (wie Anm. 17). 32 Peter Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Wege zum Heil, München 1985. – Rosi Fuhrmann, Kirche und Dorf. Religiöse Bedürfnisse und kirchliche Stiftung auf dem Lande vor der Reformation, Stuttgart 1995 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 40), S. 155–166, 423–433. 33 Harro Julius, Landkirchen und Landklerus im Bistum Konstanz während des frühen und hohen Mittelalters. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, Diss. Konstanz 2003 (www.ub. uni-konstanz.de/kops/volltexte/2003/1051/pdf/Landkirche.pdf). 34 Ludwig Falkenstein/Norbert Lynen/Norbert Paffen, Kapelle und Kirche St. Matthias zu Berensberg (1381–1890), Herzogenrath 1991.

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Jahresberichte für deutsche Geschichte, zumal sie nun auch über das Internet benutzbar sind, und zwar derzeit seit dem Berichtsjahr 1986. Obwohl unter dem Schlagwort »Pfarreiorganisation« im August 2003 66 Titel aus den Jahren 1986 bis 2003 ausgeworfen wurden, ist Vollständigkeit auf diesem Wege erwartungsgemäß auch nicht zu erreichen. Zum Beispiel ist das soeben genannte Buch von Falkenstein von den Jahresberichten nicht erfasst! Anders als Italien besitzt Deutschland auch keine abgeschlossene Bibliographie zum Pfarreiwesen.35 Unter dem Vorbehalt, dass angesichts der großen Zahl von Untersuchungen zu einzelnen Pfarreien die Forschung zur Geschichte der Niederkirchen nur schwer zu überblicken ist, scheinen in den letzten Jahren in Deutschland folgende Fragen vorzuherrschen: 1. diejenige nach Anzahl, Wert, Rechtscharakter der Benefizien, 2. diejenige nach dem Klerus, dessen Pfründen, Karrieren und Bildung, 3. die Frage nach der Laienfrömmigkeit und 4. die Frage nach der Pfarrei und dem Friedhof als Stätten der Kommunikation.

I.

Benefizien

Von einer Erfassung der Benefizien an den Niederkirchen des mittelalterlichen Deutschland sind wir noch weit entfernt. Eine Pioniertat war der Band von Erich Freiherr von Guttenberg und Alfred Wendehorst von 1966 über die Benefizien des Bistums Bamberg.36 In Verbindung mit den Matrikeln der Bamberger Geistlichkeit von 1400 bis 1556 aus der Feder von Johannes Kist37 liegen damit für anderthalb Jahrhunderte Pfründen- und Personendaten vor, die, wenn sie miteinander verknüpft werden, ergiebige Forschungen zur Sozialgeschichte des Niederklerus ermöglichen. So hat – gestützt auf das Repertorium Germanicum als dritter Überlieferungssäule – die Göttinger Dissertation von Tobias Ulbrich von 1998 gezeigt, dass im 15. Jahrhundert überraschenderweise nur 21 % des Bamberger Diözesanklerus den Weg über den päpstlichen Pfründenmarkt gegangen sind, um in den Besitz eines Benefiziums in der Diözese zu gelangen.38 Zu einem vorzüglichen Forschungsinstrument könnte sich die »Palatia sacra« von Franz Xaver Glasschröder und Ludwig Anton Doll und Mitarbeitern entwickeln, 35 Leardo Mascanzoni, Pievi e parrocchie in Italia. Saggio di bibliografia storica, I: Italia settentrionale, II: Italia centro-meridionale e insulare, Bologna 1988–1989. 36 Erich von Guttenberg/Alfred Wendehorst, Das Bistum Bamberg, T. 2: Die Pfarreiorganisation, Berlin 1966 (Germania sacra. Abt. 2: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz, Bd. 1. Das Bistum Bamberg). 37 Johannes Kist, Die Matrikel der Geistlichkeit des Bistums Bamberg 1400–1556, Würzburg 1965 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte R. 4, Matrikeln fränkischer Schulen und Stände 7). 38 Tobias Ulbrich, Päpstliche Provision oder patronatsherrliche Präsentation? Der Pfründenerwerb Bamberger Weltgeistlicher im 15. Jahrhundert, Husum 1998 (Historische Studien 455).

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die zunächst für das Bistum Speyer archidiakonats- und dekanatsweise sowohl die Pfründen- als auch die Personaldaten der Benefiziaten dokumentiert.39 Wegen seiner angestrebten und erreichten Informationstiefe kommt das seit 1988 erscheinende Werk leider nur langsam voran. Schwieriger wird sich die Auswertung der von Rudolf Zinnhobler neu herausgegebenen Passauer Bistumsmatrikeln mit ihren Angaben zu Kollationsgebühren und Kollatoren gestalten, da zu den jeweiligen Benefizien noch deren Inhaber eigens erhoben werden müssen.40 Auf der Basis eines Subsidienregisters vom Jahre 1506 hat Enno Bünz in seiner Jenaer Habilitationsschrift von 1999 für die thüringischen Archidiakonate des Erzbistums Mainz ein Benefizienregister erarbeitet mit Angaben zum Kirchenbau, zum rechtlichen Status und den Patrozinien, zu den eingepfarrten Orten, zu den Pfründen sowie zu deren Stiftung, ihrem Patronat, ihrem Wert sowie ihren Inhabern; die im Register erwähnten Kleriker sind von Bünz, soweit wie möglich, hinsichtlich ihrer Viten verfolgt und zu einer Sozialgeschichte des thüringischen Niederklerus um das Jahr 1500 verdichtet worden.41 Diese Arbeit setzt Maßstäbe, die freilich, was den Aufwand betrifft, nicht etwa für künftige Doktoranden gelten können. Sie bestätigt aber die Regel, dass die Erforschung des Niederkirchenklerus und seiner Benefizien dann von Erfolg gekrönt ist, wenn für eine bestimmte Landschaft oder für eine einzelne Stadt Register vorhanden sind (Subsidienregister, Visitationen, Absenzregister, Anna39 Palatia Sacra. Kirchen- und Pfründebeschreibung der Pfalz in vorreformatorischer Zeit, hrsg. von Ludwig Anton Doll, Bd. 1: Bistum Speyer, der Archidiakonat des Dompropstes von Speyer, Bd. 2: Der Landdekanat Weißenburg (mit Kloster St. Peter in Weißenburg) 1999; Bd. 3: Der Landdekanat Herxheim, bearb. von Renate Engels, 1988; Bd. 4: Der Landdekanat Weyher, bearb. von Volker Rödel, 1988; Bd. 5: Der Landdekanat Böhl, bearb. von Renate Engels, 1992, Mainz 1988–1999 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 61,2–5). 40 Rudolf Zinnhobler (Hrsg.), Die Passauer Bistumsmatrikeln für das westliche Offizialat. 1: Einleitung. Die Archidiakonate Passau und Interamnes, Passau 1978; 2: Die Archidiakonate Lorch, Mattsee und Lambach, Passau 1972; 3: Register, Passau 1984; 4,1: Das östliche Offizialat, die Dekanate nördlich der Donau; T. 1: Einleitung, das Dekanat Krems, Passau 1991; 4,2: Das östliche Offizialat, die Dekanate nördlich der Donau; T. 2: Das Dekanat Kirchberg am Wagram, das Dekanat Oberleis, Passau 1991; 5: Das östliche Offizialat, die Dekanate südlich der Donau. 1: Das Dekanat Tulln, 2: Das Dekanat Pottenstein (Wien), Passau 1989; 6: Register der Bände 4 und 5, Passau 1996. 41 Enno Bünz, Der niedere Klerus im spätmittelalterlichen Thüringen. Studien zu Kirchenverfassung, Klerusbesteuerung, Pfarrgeistlichkeit und Pfründenmarkt im thüringischen Teil des Erzbistums Mainz, 3 T., Habil. -Schrift Jena 1999 (erscheint in: Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 99). – (Neu-)Edition des Mainzer Registers ders. (Bearb.), Das Mainzer Subsidienregister für Thüringen von 1506 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Große Reihe 8), Köln u. a. 2005, vgl. ders, »Die Kirche im Dorf lassen …«. Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Niederkirchenwesen, in: Werner Rösener (Hrsg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 156), S. 91, Anm. 33.

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tenregister, Investiturprotokolle, Weihematrikel, Präsentationsregister), deren Daten mit der urkundlichen Überlieferung kombiniert werden können. Eine Übersicht über solche Register, die es vom dänischen Roskilde und dem polnischen Krakau über die Bistümer Lübeck und Lüttich bis hin zum Bistum Konstanz – hier in für Deutschland wohl einmaliger Dichte und Vielfalt – gibt42, ist ein Desiderat. Nur die wenigen mittelalterlichen Visitationsberichte sind kurz verzeichnet.43 Erst nachdem die Existenz entsprechender Register festgestellt war, wurden die Göttinger Dissertationen von Sabine Graf über das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar, von Peter Vollmers über die Pfarreiorganisation der Stadt Hamburg, von Stefan Petersen über die Pfarreibenefizien der Diözese Ratzeburg, von Sabine Arend über die Pfarreibenefizien in der Diözese Konstanz 42 C.A. Christensen, Roskildekirkens Jordebøger og Regnskaber, Kopenhagen 1956 (DMR 3. Rk. 1), S. 198–207 (zu Rügen), dazu Bengt Büttner, Die Pfarreien der Insel Rügen. Von der Christianisierung bis zur Reformation, Köln u. a. 2007 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern. Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte 42), S. 163– 186. – Waldemar Kowalski, Revenues of the parochial benefices in the Sandomierz archdeaconry in the 14th– 18th centuries, in: RHE 95 (2000), S. 76–106, hier S. 77. – Lübecker Weihematrikel von 1510 und 1515 bei Wolfgang Prange, UBBL 4. Urkunden 1510–1530 und andere Texte, Neumünster 1996 (SHRU 15), § 2405, S. 252–257. – Ebd. § 2406, S. 257–265 ein Lübecker Benefizien-, Kollatoren- und Benefiziatenverzeichnis von 1524 sowie § 2408, S. 266– 270 ein Lübecker Subsidienregister aus demselben Jahr. – Vom Archidiakon des Lütticher Archidiakonats Kempenland geführte Absenz- und Kompositionsregister sind die Basis der Amsterdamer Dissertation von Arnoud-Jan A. Bijsterveld, Laverend tussen Kerk en wereld. De pastoors in Noord-Brabant 1400–1570, Amsterdam 1993, S. 7–11. – Zu Konstanz s. Sabine Arend, Zwischen Bischof und Gemeinde. Pfarrbenefizien im Bistum Konstanz vor der Reformation, Leinfelden-Echterdingen 2003 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 47). – In den Missivbüchern des Esslinger Rates von 1455 bis 1530 überlieferte Bewerberlisten um Esslinger Altarlehen hat nebst der urkundlichen Überlieferung ausgewertet Moritz Freiherr von Campenhausen, Der Klerus der Reichsstadt Esslingen 1321–1531. Das Verhältnis des Rates zu den Geistlichen von der Kapellenordnung bis zur Reformation, Stuttgart 1999 (Esslinger Studien. Schriftenreihe 19), S. 50–54, 113ff. – Vgl. auch Eva Dolezˇalová, Eine vorläufige quantitative Auswertung der Ordinationsliste von Klerikern in der Prager Erzdiözese, 1395–1416, in: Frantisˇek Sˇmahel (Hrsg.), Geist, Gesellschaft, Kirche im 13.–16. Jahrhundert. Internationales Kolloquium, Prag 5.–10. Oktober 1998, S. 215–222. 43 Eine Übersicht über die seltenen vorreformatorischen Visitationsakten (Konstanz 1478, Eichstätt 1480, Worms 1496, Stadt Hamburg 1508, Sitten 1509, Köln 1515) bieten Friedrich Wilhelm Oediger, Über die Bildung der Geistlichen im späten Mittelalter, Leiden/Köln 1953, S. 100, Anm. 5, und Peter Thaddäus Lang, Würfel, Wein und Wettersegen. Klerus und Gläubige im Bistum Eichstätt am Vorabend der Reformation, in: Volker Press/Dieter Stievermann (Hrsg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit, Stuttgart 1986 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 16), S. 219–243, hier S. 220, Anm. 8. – S. darüber hinaus das bemerkenswert frühe und zudem ausführliche Protokoll aus Prag: Ivan Hlavácˇek / Zdenˇka Hledíková (Hrsg.), Protocollum visitationis archidiaconatus Pragensis 1379–1382 per Paulum de Janowicz arˇ eskoslovenská akademie ve˘d), sowie Paul Mai/ chidiaconum Pragensem, factae, Prag 1973 (C Marianne Popp, Das Regensburger Visitationsprotokoll von 1508, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 18 (1984), S. 7–316. – Zur Gattung s. Noël Coulet, Les visites pastorales, Turnhout 1977 (Mise à jour 1985) (Typologie des sources du moyen âge occidental 23).

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und von Bengt Büttner über das vorreformatorische Pfarreisystem auf der Insel Rügen in Angriff genommen.44 Den genannten Arbeiten bot die Registerüberlieferung ein Gerüst beziehungsweise ein Ziel, an dem sich die Urkundenrecherchen in den Archiven – von Konstanz mit seinen bis zum Jahre 1496 reichenden Bischofsregesten abgesehen45 – ausrichten konnten. Bei Studien zum Niederkirchenwesen, die sich allein auf die urkundliche Überlieferung stützen müssen, bleibt immer ein ungewisser Rest im Blick auf die Anzahl und den Ertrag der Pfründen, so lehrreich solche Studien auch sein können, etwa für den Nachweis der Diskrepanz von Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Diese Diskrepanz konnte Carola Brückner an Hand von Trierer Urkunden des Hochmittelalters für die Zehntherrschaft belegen, die von den Patronen im Widerspruch zu den Normen des kanonischen Rechts an Trierer Pfarreien in Anspruch genommen wurde.46 Schwierig bleibt, zumindest für die Pfarreien auf dem Lande, die Erfassung der Messpfründen, der Laienkommenden und der Elemosinen, die von ihren Stiftern ausdrücklich nicht als kirchliche Benefizien fundiert wurden und deshalb in der Regel nicht in den bischöflichen Registern erscheinen, sondern über die Stiftungsurkunden oder über Testamente zu erfassen sind. Während Peter Vollmers allein in der Hamburger Pfarrei St. Katharinen im domkapitularischen Visitationsregister des Jahres 1508 (?) unter 45 erwähnten Kommenden 25 als Laienkommenden bezeugt fand – also ca. 56 %47 –, ermittelte Rosi Fuhrmann in Teilgebieten der Diözesen Konstanz, Straßburg und Speyer für das 15. Jahrhundert in der urkundlichen Überlieferung nur ganze 52 Stiftungen. Diese wurden von ihr als »Minderstiftungen« oder »Minderpfründen« bezeichnet, weil sie trotz des ihnen zumeist verliehenen Benefizialcharakters nicht alle Rechte der cura

44 Sabine Graf, Das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar im Mittelalter, Hannover 1998 (Quellen und Studien zur Geschichte des Bistums Hildesheim 5). – Stefan Petersen, Benefizientaxierungen an der Peripherie. Pfarrorganisation, Pfründeneinkommen, Klerikerbildung im Bistum Ratzeburg, Göttingen 2001 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 166. Studien zur Germania Sacra 23). – Arend, Zwischen Bischof und Gemeinde (wie Anm. 42). – Peter Vollmers, Die Hamburger Pfarreien. Die Parochialorganisation der Hansestadt im Mittelalter, Hamburg 2005 (Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 24). – Büttner, Rügen (wie Anm. 42). 45 Regesta episcoporum Constantiensium. Regesten zur Geschichte der Bischöfe von Konstanz von Bubulcus bis Thomas Berlower 517–1496, Bd. 3: 1384–1436, bearb. von Karl Rieder, Bd. 4: 1436–1474, bearb. von Karl Rieder/H. D. Siebert, Bd. 5: 1474–1480, bearb. von Karl Rieder, Innsbruck 1913–1931. – Ergänzend: Manfred Krebs, Nachlese zu den Konstanzer Bischofsregesten, in: ZGORh N. F. 59 (1950), S. 181–283. 46 Carola Brückner, Das ländliche Pfarrbenefizium im hochmittelalterlichen Erzbistum Trier [I], in: ZRG 115 KA 84 (1998), S. 94–269, [II], in: ZRG 116 KA 85 (1999), S. 298–386, hier [I] S. 232–248. 47 Vollmers, Hamburger Pfarreien (wie Anm. 44), S. 206.

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animarum besaßen.48 Dass es zwischen der Pfarrkirche und ihrem Pfarrecht und der dotierten Kuratkapelle Zwischenstufen gab, weiß man zum Beispiel aus der Großpfarrei Bacharach eines Winand von Steeg;49 Wilhelm Janssen hat an die auf diesem Felde möglichen Abstufungen im Jahre 1991 zu Recht erinnert.50 Darüber hinaus sind die Begriffe »Minderpfründe« oder »Minderstiftung« alles andere als glücklich. Sie waren im partikularen Recht – die praebendae minores und maiores in den Dom- und Kollegiatstiften stehen auf einem anderen Blatt – nicht gebräuchlich, das mit seinen zeitgenössischen Bezeichnungen bevelinge, commenda, commenda laicalis, commissio, movendel pfründ, elemosina oder almissen schon genug interpretatorische Mühen erfordert. Vielfach handelt es sich hierbei um Stiftungen auf privatrechtlicher Grundlage außerhalb des Benefizialrechts; ihre Inhaber konnten ohne Mitwirkung eines kirchlichen Oberen ein- und auch abgesetzt werden.51 Das kirchliche Benefizialrecht kennt zur Unterscheidung von den beneficia curata nur die beneficia sine cura oder simplicia.52

48 Fuhrmann, Kirche und Dorf (wie Anm. 32), S. 11, 75, 94, 144, 154. 49 Ferdinand Pauly, Siedlung und Pfarrorganisation im alten Erzbistum Trier. Die Landkapitel Piesport, Boppard und Ochtendung, Trier 1961 (Veröffentlichungen des Bistumsarchivs Trier 6), S. 188–190. – Aloys Schmidt/Hermann Heimpel, Winand von Steeg (1371–1453), ein mittelrheinischer Gelehrter und Künstler und die Bilderhandschrift über Zollfreiheit des Bacharacher Pfarrweins auf dem Rhein aus dem Jahr 1426 (Handschrift 12 des Bayerischen Geheimen Hausarchivs zu München), München 1977 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse Abhandlungen N. F. 81), S. 21–22. 50 Wilhelm Janssen, Die Differenzierung der Pfarrorganisation in der spätmittelalterlichen Erzdiözese Köln. Bemerkungen zum Verhältnis von »capella dotata«, »capella curata« und »ecclesia parochialis«, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 55 (1991), S. 58–83. 51 Vgl. Wolfgang Prange, Vikarien und Vikare in Lübeck bis zur Reformation, Lübeck 2003 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, R. B,40), S. 15. – In Auseinandersetzung mit Dieter Pleimes, Weltliches Stiftungsrecht. Geschichte der Rechtsformen, Weimar 1938 (Schriften der Akademie für deutsches Recht, Gr. Rechtsgeschichte – Forschungen zum Deutschen Recht Bd. 3,3), S. 130–194: Graf, Niederkirchenwesen Goslar (wie Anm. 44), S. 179–182, 187. – Vollmers, Hamburger Pfarreien (wie Anm. 44), S. 196–206.– Büttner, Rügen (wie Anm. 42), S. 208–228.– Zur Nürnberger Movendelpfründe s. Matthias Simon, Movendelpfründe und landesherrliches Kirchenregiment, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 26 (1957), S. 1–30, und dazu Dormeier, St. Rochus (wie Anm. 20), S. 43. 52 Hinschius, Kirchenrecht Bd. 2 (wie Anm. 6), S. 371–373. – J. B. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Freiburg i. Br. 1904, S. 211–212. – Vgl. zum Beispiel Repertorium Germanicum 9,1: Paul II. 1464–1471, bearb. von Hubert Höing, Heiko Leerhoff/Michael Reimann, Tübingen 2000, Nr. 443, 784, 891, 939 u. ö. – Christiane Schuchard/Knut Schulz (Hrsg.), Thomas Giese aus Lübeck und sein römisches Notizbuch der Jahre 1507 bis 1526, Lübeck 2003 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, R. B,39), S. 79.

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Benefiziaten

Die von Erich Meuthen, von Dieter Brosius, Tilman Schmidt, von Brigide Schwarz oder von Ulrich Schwarz vorgelegten Pfründenviten verschiedener Geistlicher gewinnen nicht nur dadurch ihre Farbe, weil sie sich mit Zelebritäten wie Enea Silvio Piccolomini oder Nikolaus von Kues, darüber hinaus aber auch mit bis dahin wenig bekannten Klerikern befassen, sondern weil sie die kuriale Registerüberlieferung mit der regionalen oder örtlichen Überlieferung kombinieren.53 Der Aufwand für die Nachforschungen in partibus ist indessen so groß und vor allem so unkalkulierbar, dass solche Studien als Themen für akademische Prüfschriften ungeeignet sind, auch wenn gerade die genannten Untersuchungen den schlagenden Nachweis erbringen, dass »die mittelalterliche Kirche im wesentlichen nun einmal eine Benefizial- und keine Beamtenkirche«54 war und eine Pfründenkarriere von Patronage und Freundschaft als entscheidenden Faktoren bestimmt wurde. Es fehlen eben weitgehend ein Pfründenkataster und eine Klerikerdatensammlung der Germania sacra; so bleibt die Erforschung der Pfarrei eine Forschungsaufgabe, und zwar wohl von langer Dauer. Die meisten Niederkleriker erwarben, wie die Arbeiten über Hannover, Goslar, Konstanz, 53 Erich Meuthen, Die Pfründen des Cusanus, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 2 (1962), S. 15–66. – Dieter Brosius, Die Pfründen des Enea Silvio Piccolomini, in: QFIAB 54 (1974), S. 271–327. – Tilmann Schmidt, Konrads von Gelnhausen Pfründenkarriere, in: ZKG 103 (1992), S. 293–331. – Brigide Schwarz, Über Patronage und Klientel in der spätmittelalterlichen Kirche am Beispiel des Nikolaus von Kues, in: QFIAB 68 (1988), S. 284–310. – Dies., Alle Wege führen über Rom. Eine »Seilschaft« von Klerikern aus Hannover im späten Mittelalter, in: Hannoversche Geschichtsblätter 52 (1998), S. 5–87. – Dies., Hannoversche Bürgersöhne im adeligen Domkapitel von Hildesheim: Das Beispiel Arnold von Hesede, in: Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart 67 (1999), S. 77–109. – Dies., Volkmar von Anderten, Domherr und Offizial zu Lübeck. (Mit-)Begründer der Ratsbibliothek Hannover († 1481), in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 24,2 (1999), S. 117–131. – Dies, Zwei Lüner Pröpste aus Hannover im 15. Jahrhundert. Konrad von Sarstedt und Dietrich Schaper, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 97 (1999), S. 7–53. – Dies., Hannoveraner in Braunschweig: Die Karrieren von Johann Ember († 1432) und Hermann Pentel († nach 1463), in: Braunschweigisches Jahrbuch 80 (1999), S. 9–54. – Dies., Prälaten aus Hannover im spätmittelalterlichen Livland: Dietrich Nagel, Dompropst von Riga († Ende 1468/Anfang 1469), und Ludolf Nagel, Domdekan von Ösel, Verweser von Reval († nach 1477), in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 49 (2000), S. 495–532. – Dies., Karrieren von Klerikern aus Hannover im nordwestdeutschen Raum in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 73 (2001), S. 235–270. – Dies., Ein Freund italienischer Kaufleute im Norden? Berthold Rike, Dompropst von Lübeck und Domkustos von Breslau († 1436). Zugleich ein Beispiel für die Nutzung des Repertorium Germanicum für eine Biographie, in: Italia et Germania. Liber Amicorum Arnold Esch, Tübingen 2001, S. 447–467. – Ulrich Schwarz, Ludolf Quirre († 1463). Eine Karriere zwischen Hannover, Braunschweig und Halberstadt, in: Braunschweigisches Jahrbuch 75 (1994), S. 29–72. – Ders., Petenten, Pfründen und die Kurie. Norddeutsche Beispiele aus dem Repertorium Germanicum, in: BlldtLg 133 (1997), S. 1–21. 54 Meuthen, Cusanus (wie Anm. 53), S. 59.

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Thüringen, Hamburg, Lübeck und Rügen abermals belegen, Pfründen in ihrer Heimat;55 sie machten sich somit die aus ihrer Herkunft erwachsenen sozialen Netze zunutze. Fremde sind als Inhaber von Benefizien an Niederkirchen die Ausnahme und nicht die Regel. Der Göttinger Kleriker Helmbert Jesemann verfügte 1454 bei der Stiftung zweier Messpfründen, dass Anwärter aus Thüringen, Hessen und Westfalen ausgeschlossen sein sollten.56 Auf das Pfründeneinkommen der Pfarrherren, auf ihren Haushalt und auf ihre und ihrer Gesellpriester gottesdienstliche Aufgaben werfen die verschiedentlich überlieferten sogenannten Pfarrbücher ein Schlaglicht.57 Diese auch als

55 Siegfried Müller, Stadt, Kirche und Reformation. Das Beispiel der Landstadt Hannover, Hannover 1987, S. 37.– Graf, Niederkirchenwesen Goslar (wie Anm. 44), S. 259–260. – Arend, Zwischen Bischof und Gemeinde (wie Anm. 42), S. 180–182; Bünz, Klerus Thüringen Bd. 1 (wie Anm. 41), S. 211–213. – Als Fallstudien: Wolfgang Petke, Die inkorporierte Pfarrei und das Benefizialrecht. Hilwartshausen und Sieboldshausen 1315–1540, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 75 (2003), S. 1–34, hier S. 15–16, 18–28; Wiederabdruck in diesem Band S. 285–319. – Schuchard/Schulz, Thomas Giese aus Lübeck (wie Anm. 52) S. 4–5, 55–65. 56 Reinhard Vogelsang, Stadt und Kirche im mittelalterlichen Göttingen, Göttingen 1968 (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen 8), S. 98. – Vgl. Kurze, Der niedere Klerus in der sozialen Welt des Mittelalters (1976), Wiederabdruck in: ders., Klerus, Ketzer, Kriege und Prophetien (wie Anm. 17), S. 19, Anm. 54. 57 Gustav Bossert, Das Gotteshausbuch von Münster bei Creglingen, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte N. F. 5 (1901), S. 97–121. – Teiledition durch Karl Schumm/ Georg Lenckner, Das Gotteshausbuch der Pfarrei Münster bei Creglingen (1411), in: Württembergisch Franken 42 (N. F. 32) (1958), S. 33–58. – Wilhelm Crecelius, Das Pfarrbuch von Crailsheim (um 1480), in: Zeitschrift des historischen Vereins für das württembergische Franken 10,1 (1875), S. 37–47, Bd. 10,2 (1877), S. 119–129. – Franz Falk, Die pfarramtlichen Aufzeichnungen (Liber consuetudinum) des Florentius Diehl zu St. Christoph in Mainz (1491–1518), Freiburg 1904 (Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes, hrsg. von Ludwig von Pastor, Bd. 4, H. 3). – Franz Fuchs, Dörflicher Alltag in der Hussitenzeit. Aus den Aufzeichnungen eines Oberpfälzer Landpfarrers, in: HansJürgen Becker (Hrsg.), Der Pfälzer Löwe in Bayern. Zur Geschichte der Oberpfalz in der kurpfälzischen Epoche, Regensburg 1997, S. 37–55.– Johann Baptist Götz, Das Pfarrbuch des Stephan May in Hilpoltstein vom Jahre 1511. Ein Beitrag zum Verständnis der kirchlichen Verhältnisse Deutschlands am Vorabende der Reformation, Münster 1926 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 47/48).– Joseph Greving, Johann Ecks Pfarrbuch für Unsere Liebe Frau in Ingolstadt, Münster 1908 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 4/5). – Otto Meyer, Uraha sacra. Vom Geist der Frömmigkeit im spätmittelalterlichen Herzogenaurach (1949), Wiederabdruck in: ders., Varia Franconiae Historica. Aufsätze, Studien, Vorträge zur Geschichte Frankens, hrsg. von Dieter Weber u. a., Bd. 2, Würzburg 1981 (Mainfränkische Studien 24,2), S. 532–558. – K. Schornbaum/W. Kraft, Pappenheim am Ausgang des Mittelalters in kirchlicher Hinsicht auf Grund des Pfarrbuches des Pfarrers Stefan Aigner, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 7 (1932), S. 129–160, 193–220. – Adolf Joseph Cornelis Tibus, Die Jacobipfarre in Münster von 1508 bis 1523. Ein Beitrag zur Sittengeschichte Münsters, Münster 1885. – Vgl. auch Georg Habenicht, Gottesdienstliches Leben in Windsheim vor der Reformation. Die Windsheimer Kirchner- und Organistenordnung, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 70 (2001), S. 1–27. – Georg Matern,

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Gotteshausbücher bezeichneten Quellen haben sich zwar auch aus Münster und Mainz, vor allem aber aus Süddeutschland und hier insbesondere aus Franken erhalten.58 Pfarrherren, Altaristen und auch Vikare an inkorporierten Kirchen dürften bei erheblichen Abweichungen im Einzelnen in der Regel auskömmlich bepfründet gewesen sein.59 Offenbar groß, aber im Grunde nicht zu erfassen, war die Zahl derjenigen Kleriker, die kein Benefizium besaßen, sondern auf die im 15. Jahrhundert stark im Zunehmen begriffenen Votivmessen, Messstipendien oder Gesellpriesterstellen angewiesen waren.60 Ohne hier, wie Franz Falk im Jahre 1893 oder Hermann Heimpel im Jahre 1953, sogleich von einem Klerikerproletariat zu sprechen,61 zumal etwa die auf ein Jahr angestellten Kooperatoren des Johannes Eck in Ingolstadt nicht schlecht gestellt waren,62 ist die Bemerkung von Joachim von Pflummern (1480–1554) aus Biberach an der Riß jedenfalls ein gewichtiges Zeugnis: Wenn ein Priester keine Pfründe erlangte, so hat er mögen umb gellt Mess han. Welcher dan ain Mess hat wellen haben, der hat prüesster genug funden, die Im ein Mess umb ain Böhmisch oder umb ein bazen gehabt handt; desgleichen andere prüester auch, die nit mit Messen Ihre pfruondten halben verbunden seindt gesein.63

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Das Rößeler Pfarrbuch. Aufzeichnungen der Kirchenväter an der Pfarrkirche zu Rößel in den Jahren 1442 bis 1614, Braunsberg 1937 (Monumenta Historiae Warmiensis 13,1–2). Franz Machilek, Fränkische Gotteshausbücher des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Forschungen zur bayerischen und fränkischen Geschichte. Peter Herde zum 65. Geburtstag, hrsg. von Karl Borchardt/Enno Bünz, Würzburg 1998 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 52), S. 249–255. Vgl. Boockmann, Bürgerkirchen (wie Anm. 13), S. 197. – Bünz, Klerus Thüringen Bd. 1 (wie Anm. 41), S. 266.– Arend, Zwischen Bischof und Gemeinde (wie Anm. 42), S. 98, 236. – In Lübeck galten Inhaber von Vikarien mit einer Rente von weniger als 24 Mark Lübisch 1441 als arm, Prange, Vikarien und Vikare (wie Anm. 51), S. 84. Vgl. Ralf Lusiardi, Stiftung und städtische Gesellschaft. Religiöse und soziale Aspekte des Stiftungsverhaltens im spätmittelalterlichen Stralsund, Berlin 2000 (Stiftungsgeschichten 2), S. 167–181, bes. S. 172 »Weltliche Priesterstellenstiftungen« und »Meßstiftungen« (nach den Stralsunder Testamenten). Franz Falk, An der Wende des 15. Jahrhunderts (Klerikales Proletariat), in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 112 (1893), S. 545–559. – Hermann Heimpel, Das Wesen des deutschen Spätmittelalters, in: AKG 35 (1953), S. 29–51, Zitat S. 50: »Eine Geistlichkeit, die weithin, wenn auch durchaus nicht überall, auf der unteren Stufe proletarisiert«. – Vgl. auch Guy P. Marchal, Eine Quelle zum spätmittelalterlichen Klerikerproletariat. Zur Interpretation der Klageartikel der Bauern von Kirchen (Lk. Lörrach) gegen das Kapitel von St. Peter zu Basel, in: Freiburger Diözesanarchiv 91 (1971), S. 65–80. Greving, Johann Ecks Pfarrbuch (wie Anm. 57), S. 46–52. A. Schilling, Die religiösen und kirchlichen Zustände der ehemaligen Reichsstadt Biberach unmittelbar vor Einführung der Reformation, in: Freiburger Diözesanarchiv 19 (1887), S. 92– 93. – Vgl. Albert Angele (Bearb.), Altbiberach um die Jahre der Reformation. Erlebt und für die kommenden Generationen der Stadt beschrieben von den Zeitgenossen und Edlen Brüdern Joachim I. und Heinrich VI. von Pflummern, Patrizier der Freien Reichsstadt Biberach, Biberach an der Riß 1962, S. 63.

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III.

Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

Frömmigkeit

Benefizienverzeichnisse eröffnen den Blick auch auf die weltlichen und die insgesamt wohl etwas vernachlässigten geistlichen Stifter64 von Altarlehen (Vikarien) und damit vor allem auf die städtischen Pfarreien, obwohl, wie vereinzelt schon dem Band von Guttenberg und Wendehorst zu entnehmen und jetzt von Petersen für das Bistum Ratzeburg und Büttner für Rügen eindrucksvoll nachgewiesen, seit dem 14. Jahrhundert Altarstiftungen auch auf dem Lande üblich waren.65 Die dotierten Altäre sind für die Geschlechter in Stadt und Land im Spätmittelalter das, was Klöster und Stifte seit dem Frühmittelalter für den Hochadel waren:66 Stätten der Memoria und der Fürbitte und auch, aber wohl nicht vorrangig, Versorgungsstellen für Familienangehörige. Ähnlich den hochmittelalterlichen Kanonissenstiften, in denen die Äbtissinnenwürde und die Vogtei Angehörigen des Stiftergeschlechts vorbehalten bleiben sollten67, reservierten sich die Stifter von Altarbenefizien deren Besetzung und bei den sogenannten Blutsvikarien eine Verleihung an Familienangehörige;68 erst nach vier Generationen beziehungsweise bei Absterben der Familie fiel das Präsentationsrecht an den Rat, an die Kirchenpfleger oder aber auch an einen kirchlichen Oberen.69 Der Memorialpraxis in den Pfarrkirchen und zumal in den Kirchen auf dem Lande hat man, wie Enno Bünz im Jahre 2003 richtig konstatierte, bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.70 Seelgerätbücher aus Dörfern des Bistums 64 Vgl. Hartmut Boockmann, Belehrung durch Bilder? Ein unbekannter Typus spätmittelalterlicher Tafelbilder (1994), Wiederabdruck in: ders., Wege ins Mittelalter (wie Anm. 13), S. 272, der darauf aufmerksam macht, »dass ein nicht geringer Teil spätmittelalterlicher Kirchen-Ausstattungen nicht, wie man gern sagt, von Bürgern gestiftet, sondern aus dem Einkommen von Klerikern finanziert wurde«. 65 Guttenberg/Wendehorst, Bamberg (wie Anm. 36), S. 211 (Guttenberg), S. 270–271 (Bruck). – Petersen, Benefizientaxierungen (wie Anm. 44), S. 129–130, S. 240–243, Nr. 122–130, Nr. 136– 149. – Büttner, Rügen (wie Anm. 42), S. 213, 225, 443–446. 66 Vgl. Kurze, Der niedere Klerus, in: ders., Klerus, Ketzer; Kriege und Prophetien (wie Anm. 17), S. 19. 67 Vgl. Eckhard Thiele, Klosterimmunität, Wahlbestimmungen und Stiftervogteien im Umkreis des ottonischen Königtums, in: BlldtLg 131 (1995), S. 1–50. 68 Vgl. Kurze, Der niedere Klerus, in: ders., Klerus, Ketzer. Kriege und Prophetien (wie Anm. 17), S. 19 (mit Lit.). 69 Vgl. zuletzt Graf, Niederkirchenwesen Goslar (wie Anm. 44), S. 197. – Prange, Vikarien und Vikare (wie Anm. 51), S. 21–22, 65–67, 87–88, 94–95.– Vollmers, Hamburger Pfarreien (wie Anm. 44), S. 173–177. – Anfall der Patronatsrechte an den Archidiakon: Arend Mindermann (Bearb.), Urkundenbuch der Bischöfe und des Domkapitels von Verden 1, Stade 2001 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 205), S. 776– 777, Nr. 741 (1298). 70 Enno Bünz, Memoria auf dem Dorf. Pfarrkirche, Friedhof und Beinhaus als Stätten bäuerlicher Erinnerungskultur im Spätmittelalter, in: Werner Rösener (Hrsg.), Tradition und Erinnerung in Adelsherrschaft und bäuerlicher Gesellschaft, Göttingen 2003 (Formen der Erinnerung 17), S. 261–305, hier S. 268, 271 mit Anm. 34, 35. Zweitveröffentlichung in ders., Die

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Speyer, ein Memorienregister aus der St. Jakobi-Pfarrei in Goslar sowie vier Seelgerätregister des Hildesheimer Rates sind jüngst erstmals beziehungsweise abermals ediert worden.71 Regionale Verzeichnisse aller Jahrzeitbücher hatte Karl Siegfried Bader bereits 1939 empfohlen.72 Ein für Niedersachsen 1980 vorgelegter Katalog ist wenig befriedigend.73 Anders als Frankreich74 ist Deutschland von einem Gesamtverzeichnis von Jahrzeitbüchern weit entfernt.75 Über das privilegium immunitatis und das privilegium fori hat es das Spätmittelalter hindurch die bekannten Auseinandersetzungen der Stadträte mit der Geistlichkeit gegeben. Stadt und Pfarrkirche und deren Klerus waren aber keineswegs Gegner aus Prinzip: Die niederen Kleriker waren vielfach Stadtkinder. In der Pfarrei »begegneten sich Stadt, Kirchenvolk und Kirche in einem unmittelbar aufeinander bezogenen Verhältnis.«76 Des ungeachtet blieben die gesellschaftlichen Unterschiede bestehen. »Die Pfarrei in der spätmittelalterlichen Stadt integrierte nicht«.77 Pfarrkirchen wurden nicht nur von den Eigenkirchenherren, sondern auch aus den Spenden der Pfarrkinder gebaut und unterhalten. Im Jahre 1079 dismembrierte Bischof Pibo von Toul eine capella von ihrer Mutterkirche (mater ecclesia). Waren die Gläubigen dieser capella bisher verpflichtet gewesen, zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten die mater ecclesia aufzusuchen, so wurden sie von dieser Verpflichtung nun befreit. Als Gegenleistung für die Erhebung der capella zur Pfarrkirche übernahmen die Gläubigen die Baulast für das Dach ihrer Kirche sowie die Verpflichtung, für das liturgische Inventar der Pfarrkirche zu

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mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13. -16. Jahrhundert (SMHR 96), Tübingen 2017, S. 186–233. Sabine Graf, Memoria in der Stadtpfarrei des Spätmittelalters. Ein Memorialkalender aus der Kirche St. Jakob in Goslar, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 95 (1997), S. 79–153. – Josef Dolle, Ein Memorienbuch des Hildesheimer Rates aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 64 (1992), S. 183–206. – Peter Müller, Die Memorienregister des Hildesheimer Rates im Mittelalter, Hildesheim 2001 (Quellen und Dokumentationen zur Stadtgeschichte Hildesheims 10). Karl Siegfried Bader, Grundsätze und Fragen der Herausgabe kirchlicher Jahrzeitbücher, in: BlldtLg 85 (1939), S. 192–203, hier S. 199. Hans Mahrenholtz, Nachweise von Nekrologien und Memorienbüchern im Bereich des Landes Niedersachsen und angrenzender Gebiete, in: Norddeutsche Familienkunde 12, 29. Jg. (1980), S. 65–74, 97–104 (darunter kaum Pfarrkirchen; die oben in Anm. 71 genannten Register fehlen). Répertoire des documents nécrologiques français, bearb. von Jean-Loup Lemaître, 4 Bde., Paris 1980–1992 (Recueils des historiens de la France. Obituaires 7). – Vgl. ders., Pour un répertoire des obituaires suisses, in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 97 (2003), S. 37–56. S. aber die Nachweise bei Bünz, Memoria auf dem Dorf (wie Anm. 70), S. 272–287. Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, S. 210–230, Zitat S. 216. Schubert, Einführung in die Grundprobleme (wie Anm. 13), S. 262.

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sorgen: für Gewänder, für den Kelch, für das Missale, für das scarsale. Die Mittel ad cooperiendum ecclesie sollten aus den an den drei Hochfesten einkommenden liturgischen Oblationen bestritten werden. Das ist ein frühes urkundliches Zeugnis für die Begründung des Sondervermögens der Kirchenfabrik an einer ländlichen Pfarrkirche.78 Erst seit dem 12. Jahrhundert nehmen die Nachrichten über die fabrica an Pfarrkirchen allmählich zu.79 Aus der Kirchenfabrik, die sich aus den von den liturgischen Opfern zu unterscheidenden Kollekten an bestimmten Festtagen, aus den Opferstöcken, aus Stiftungen und Legaten und aus angesammeltem Kapital speiste, wurden die Ausgaben für den Gottesdienst, für den Kirchenbau und an bestimmten Tagen, wie seit 1489 für St. Marien in Bielefeld bezeugt80, auch die Armenspenden finanziert. Unter den von Wolfgang Schoeller verzeichneten 45 Fabrikrechnungen des 13. und 14. Jahrhunderts finden sich von Pfarrkirchen nur ganze drei: eine kurze Bauabrechnung von der Katharinenkirche in der Braunschweiger Neustadt von ca. 1300–132081, ein fragmentiertes Register von 1389–1391 von der Stadtpfarrkirche Unserer Lieben

78 Migne, PL 157 Sp. 425–426; vgl. Brückner, Das ländliche Pfarrbenefizium [II] (wie Anm. 46), S. 311–312. – Bei dem scarsale dürfte es sich um ein scamnale, ein Kissen, handeln, vgl. zu diesem Joseph Braun, Handbuch der Paramentik, Freiburg i. Br. 1912, S. 254. 79 Vgl. Sebastian Schröcker, Die Kirchenpflegschaft. Die Verwaltung des Niederkirchenvermögens durch Laien seit dem ausgehenden Mittelalter, Paderborn 1934 (Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaften im katholischen Deutschland, Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft 67), S. 70–71, 92. – Wolfgang Schoeller, Die rechtliche Organisation des Kirchenbaues im Mittelalter vornehmlich des Kathedralbaues. Baulast – Bauherrenschaft – Baufinanzierung, Köln/Wien 1989, S. 129–131. – Enno Bünz, Klerus und Bürger. Die Bedeutung der Kirche für die Identität deutscher Städte im Spätmittelalter, in: Aspekte und Komponenten der städtischen Identität in Italien und Deutschland (14.– 16. Jahrhundert), hrsg. von Giorgio Chittolini/Peter Johanek, Berlin 2003 (Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Beiträge 12), S. 351–389, hier S. 372–373. Für die städtischen Kirchenfabriken einschlägig ist Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung (Beihefte der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 177), Stuttgart 2005. 80 Heinrich Rüthing, St. Marien vor der Reformation. Ein Einblick ins kirchliche Leben Bielefelds anhand von Rechnungsbüchern, in: St. Marien in Bielefeld 1293–1993. Geschichte und Kunst des Stifts und der Neustädter Kirche, hrsg. von Johannes Altenberend/Reinhard Vogelsang/Joachim Wibbing, Bielefeld 1993 (8. Sonderveröffentlichung des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg), S. 103–132, hier S. 129–130. – Ebd. S. 126 zu dem Kollektenaufkommen am Kirchweihtag und an dreizehn bestimmten Festtagen. – Zu Kollekten zugunsten der Fabrik an elf bestimmten Festtagen s. auch Malte Prietzel, Alterleute und Kastenherren. Die Rechnungen der Kirche St. Jacobi in Göttingen von 1523/24 und 1534, in: Göttinger Jahrbuch 41 (1993), S. 67. 81 UB Braunschweig 2, S. 227–228, Nr. 458.– Schoeller, Kirchenbau (wie Anm. 79), S. 363, Nr. 7. Diese computatio eines Conradus de Luttere ist undatiert, gehört aber wohl ins frühe 14. Jahrhundert. Ein Konrad Lutter ist 1328–1358 als Ratsherr des Braunschweiger Hagen bezeugt, Werner Spiess, Die Ratsherren der Hansestadt Braunschweig 1231–1671, 2. Aufl., Braunschweig 1970 (Braunschweiger Werkstücke 42), S. 163, 252.

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Frau in Friedberg in der Wetterau82 und ein Register vom Ulmer Münster von 1387.83 Während in England bereits im Jahre 1913 von John Charles Cox ein Verzeichnis der seit dem 14. Jahrhundert dort in wohl einmaliger Fülle überlieferten Kirchmeisterrechnungen angelegt und verschiedene Rechnungen auch ediert wurden84, lässt sich in Deutschland jetzt dank »Computatio«, dem von Otto Volk an der Universität Marburg ins Internet gestellten Informations-Portal zum Rechnungswesen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, ein Überblick über die aus dem 15. Jahrhundert überlieferten und verstreut edierten beziehungsweise kommentierten Fabrikrechnungen von Pfarrkirchen gewinnen. Bei den 1993 und 1999 publizierten Kirchenrechnungen der Weseler Stadtkirche St. Willibrord, die aus den Jahren 1401 bis 1509 überliefert sind85, handelt es sich um beeindruckende Quellen, keineswegs aber um Unikate, man denke nur an Nürnberg86 oder auch an die Kirchspiele Gettorf bei Eckernförde oder Plön.87 82 UB Friedberg 1, S. 600–602, Nr. 849 (Orig. heute in Darmstadt verschollen). – Schoeller, Kirchenbau (wie Anm. 79), S. 365, Nr. 18. 83 K. D. Hassler, Die zwei ältesten Münster-Urkunden, in: Verhandlungen des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben, 7. Bericht (1850), S. 25–29. – Ders., Urkunden zur Baugeschichte des Mittelalters, in: Jahrbücher für Kunstwissenschaft, hrsg. von A. von Zahn, Bd. 2, Leipzig 1869, S. 99–100, Nr. 1 (heute verschollen). – Schoeller, S. 375–376, Nr. 43. 84 John Charles Cox, Churchwardens’ accounts from the 14th to the close of the 17th century, London 1913.– Alison Hanham, Churchwardens’ accounts of Ashburton 1479–1580, Exeter 1970 (Devon and Cornwall Record Society NS 15). – Stephen G. Doree, The early churchwardens’ accounts of Bishops Stortford 1431–1558, [Hitchin] 1994 (Hertfordshire Record Publications 10). – Vgl. Beat A. Kümin, The Shaping of a Community. The Rise and Reformation of the English Parish c. 1400–1560, Aldershot 1996, S. 6–7. – Ders., Reformation und Pfarreileben. Englische Landgemeinden im Spiegel ihrer Rechnungsbücher 1530–1560, in: ders. (Hrsg.), Landgemeinde und Kirche im Zeitalter der Konfessionen, Zürich 2004, S. 129– 162. – Katherine French, Parochial fund-raising in late medieval Somerset, in: dies. u. a. (Hrsg.), The Parish in English Life (wie Anm. 25), S. 115–132. – Clive Burgess, Pre-Reformation Churchwardens’ Accounts and Parish Government: Lessons from London and Bristol, in: EHR 117 (2002), S. 306–332. 85 Herbert Sowade / Martin Wilhelm Roelen, Kirchenrechnungen der Weseler Stadtkirche St. Willibrordi, Bd. 1: Die Kirchenrechnungen der Jahre 1401 bis 1484, Wesel 1993; Bd. 2: Die Kirchenrechnungen der Jahre 1485 bis 1509, Wesel 1999. – Vgl. Winfried Dotzauer, Quellenkunde zur deutschen Geschichte im Spätmittelalter (1350–1500), Darmstadt 1996, S. 528. – Reitemeier (wie Anm. 79), passim. 86 Heinrich Dormeier, Kirchenjahr, Heiligenverehrung und große Politik im Almosengefällbuch der Nürnberger Lorenzpfarrei (1454–1516), in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 84 (1997), S. 1–60. – Martial Staub, Stifter als »Unternehmer«. Frömmigkeit und Innovation im späteren Mittelalter am Beispiel Nürnbergs, in: Klaus Schreiner (Hrsg.), Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-sozialer Kontext, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 155–176, hier S. 161 mit Anm. 27, 29. – Ders., Les paroisses et la cité: Nuremberg du XIIIe siècle à la Réforme, Paris 2003 (Civilisations et sociétés 116), S. 78ff., 97ff. 87 Kurt Hector, Die Kirche und das Kirchspiel Gettorf im ausgehenden Mittelalter, in: Jahrbuch der Heimatgemeinschaft des Kreises Eckernförde 19 (1961), S. 7–74 (Auswertung von 1486 bis 1525 datierenden Kirchenrechnungen; freundlicher Hinweis von Günther Bock, Schmalen-

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Diese Quellengattung erschließt einen guten Teil des niederkirchlichen Alltags, vom Fegen der Kirche über den Kauf von Kommunionwein, Oblaten und Weihrauch bis hin zum Mähen des mit Mauern und Gattern eingehegten Friedhofs.88 Seit dem 13. Jahrhundert sind Pfarrkirchen als Ablassanbieter bezeugt. Nach Alexander Seibold wären es am häufigsten die Pfarrer gewesen, die Sammelindulgenzen für ihre Pfarrkirchen erwirkt und damit bezahlt hätten.89 In dem Dorf Münster bei Creglingen war es der Pfarrer Heinrich Keck, der für elf Goldgulden von Papst Bonifaz IX. einen Ablassbrief für seine Kirche erworben hat.90 Noch aber bleibt, vielleicht auch unter Heranziehung örtlicher Ablasskalender91, im einzelnen zu untersuchen, ob und vor allem wie die Gaben der gläubigen Ablassnehmer jeweils unter die Verwaltung der fabrica gelangten.92 In Gettorf sind Kosten für einen (?) Ablassbrief unter den Ausgaben der Kirchgeschworenen aufgeführt.93 Johannes Hemeling, der seit 1390 amtierende städtische Verwalter der Bremer Domfabrik, kam im Jahre 1395 mit den Fabrikmeistern der Stifte St. Stephan und St. Ansgar und der Pfarrkirchen Liebfrauen und St. Martin überein, für die genannten Kirchen von Bonifaz IX. einen Portiuncula-Ablass zu erwerben. Während Hemeling die Domfabrik mit 200 Gulden an den Kosten beteiligte, hatten die vier übrigen Kirchspiele jeweils 100 Gulden beizusteuern, dafür aber von den Gaben ihrer Ablassnehmer je ein Drittel dem Dom zu überlassen.94 Am Kirchweihtag der Biberacher Spitalkirche stand vor deren Tür ein Tischchen; auf

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beck). – Hans-Joachim Freytag, Zur Geschichte der Reformation in Plön, in: Jb. Plön 20 (1990), S. 32–55 (zu Plöner Kirchenrechnungen von 1540 bis 1599). Rüthing, Bielefeld (wie Anm. 80), S. 118. – Prietzel, Alterleute und Kastenherren (wie Anm. 80), S. 61–95, hier S. 75, 79. Alexander Seibold, Sammelindulgenzen. Ablaßurkunden des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, Köln u. a. 2001 (Archiv für Diplomatik, Beiheft 8), S. 221–222. Bossert, Das Gotteshausbuch von Münster bei Creglingen (wie Anm. 57), S. 99–100. Vgl. Staub, Stifter als »Unternehmer« (wie Anm. 86), S. 163, Anm. 35. – Ders., Les paroisses et la cité (wie Anm. 86), S. 88–89. Zu den gewöhnlichen Ablässen nur Andeutungen bei Nikolaus Paulus, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Paderborn 1923, S. 457–459; 2. Aufl. Darmstadt 2000, S. 385–386. – Nach Dormeier, Kirchenjahr, Heiligenverehrung und große Politik (wie Anm. 86), S. 19 sollen die während der Nürnberger Heiltumsweisung auf dem Markt gespendeten Gelder an den Rat gefallen sein. Hector, Gettorf (wie Anm. 87), S. 50. Johann Hemelings »Diplomatarium fabricae ecclesiae Bremensis« von 1415/20, hrsg. von Lieselotte Klink, Hildesheim 1988 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVII,10), c. 14, S. 124–127, wonach dieser Ablass für Bremen vom Papst revoziert worden sei; zu Hemeling s. ebd. S. 15ff., 30ff. (freundlicher Hinweis von Dr. Arend Mindermann, Stade). – Zur Annullierung aller Ablässe ad instar durch Bonifaz IX. im Jahre 1402 s. Emil von Ottenthal, Regulae cancellariae apostolicae, Innsbruck 1888, S. 76, Nr. 72. – Repertorium Germanicum 2: Urban VI., Bonifaz IX., Innozenz VII. und Gregor XII., bearb. von Gerd Tellenbach, Berlin 1933–1938, Neudruck 1961, S. 36–37*.

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ihm befanden sich ein Opferbecken und die Ablassurkunden.95 In St. Lorenz in Nürnberg öffneten der Kirchenpfleger Hans Imhoff und der Kirchenmeister Lorenz Haller am Tag vor St. Aegidien (31. August) 1482 den grossen Ablassstock.96 Die Tätigkeit der aus der Pfarrei gewählten Kirchenpfleger, bei denen es sich in den Städten in der Regel um Angehörige ratsfähiger Familien gehandelt hat97, ist ein Indikator für den Grad der Selbstverwaltung der Pfarrgemeinde und auch ein Ausdruck der Laienfrömmigkeit. Eine münstersche Diözesansynode zeigte sich 1317 gegenüber laikalen Ansprüchen auf Mitverwaltung zunächst reserviert, um sie dann in geregelte Bahnen zu lenken:98 Immer wieder – so das Synodalstatut – werde geklagt, dass Laien in die Angelegenheiten von Kirchen, vor allem von Pfarrkirchen, sich einmischten, auch über Reliquien, Oblationen, Legate, (Kirchen-)Schlüssel und Kirchenschmuck mitentschieden. Das sei gegen die Würde und gegen die Freiheit der Kirche (contra ecclesiasticam libertatem et dignitatem). Ohne Billigung des jeweiligen Pfarrers hätten sie sich darum keineswegs zu kümmern. Überdies hätten sie die Aufstellung von Opferstöcken und Bildern in Kirchen, auf Friedhöfen und auf öffentlichen Straßen zu unterlassen, wenn ihre Pfarrherren dem nicht zustimmten. Um die laikale Mitverwaltung zu regulieren, beschloss die Synode sodann, dass in jeder Pfarrei dem Pfarrer zwei angesehene Leute beigegeben werden sollten; diese magistri fabricae sollten alle Gaben ad luminaria vel ad fabricam pertinentes gemeinsam mit dem Pfarrer in einer Geldkiste verschließen, zu der sie je eigene Schlüssel erhielten; fällige Ausgaben sollten sie nach gemeinsamem Beschluss tätigen, gegebenenfalls unter Beiziehung weiterer ehrenwerter Parochianen. Einmal im Jahr hätten Pfarrer und Älterleute zum Send vor ihrem Archidiakon Rechnung zu legen über Ein- und Ausgaben, wobei der Archidiakon keine eigene Abgabe erheben dürfe. Zuwiderhandelnde Gemeinden (collegia vel universitates), seien es Stadt, Burg oder Dorf, sollten mit dem Interdikt belegt werden. In St. Kolumba, der größten Kölner Pfarrei, die im Jahre 1425 6.000 bis 8.000 Einwohner zählte, amtierten drei Pfleger, die, wie etwa die Rinck, zu den ratsfähigen Familien gehörten; sie wurden von der Gemeinde gewählt. Im Jahre 1345 95 A. Schilling, Die religiösen und kirchlichen Zustände der ehemaligen Reichsstadt Biberach unmittelbar vor Einführung der Reformation, in: Freiburger Diözesanarchiv 19 (1887), S. 61: Vor dem thor oder thür ist gestanden ahn der Khürchweih ain tischlin, ain beckhet und die Ablas brüef darauff; da hat man den Ablass gelösst [bezahlt]. – Vgl. Angele, Altbiberach (wie Anm. 63), S. 46. 96 Dormeier, Kirchenjahr, Heiligenverehrung und große Politik (wie Anm. 86), S. 8–9 nebst Anm. 17 mit der Vermutung, dass das am Ende einer mehrwöchigen Ablasskampagne geschehen sei. 97 Vgl. Graf, Niederkirchenwesen Goslar (wie Anm. 44), S. 321–322. – Prietzel, Alterleute und Kastenherren (wie Anm. 80), S. 62. 98 Westfälisches UB 8, Münster 1913, S. 417–418, Nr. 1140.

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stritten sie sich mit ihrem Pfarrer um das Ernennungsrecht des dortigen Glöckners respektive Küsters. Ein Schiedsspruch bestätigte den Kirchenpflegern das Ernennungsrecht: Diese seien für das liturgische Gerät und die ornamenta ihrer Kirche verantwortlich und daher befugt, auch den custos seu campanarius einzusetzen. Die Sorge für das Amt des Küsters wurde also von der Verantwortung für das Gerät abgeleitet. Im Übrigen fochten die Kirchenpfleger (Provisoren) und die Gemeinde von St. Kolumba das ganze 15. Jahrhundert über für ihr Pfarrerwahlrecht.99 In Dänemark organisierte sich nach Ebbe Nyborg die Gemeinde um 1300 als genossenschaftlicher Rechtsverband, der durch gewählte und der kirchlichen Obrigkeit verantwortliche Kirchenpfleger repräsentiert wurde.100 Die in Preußen seit dem frühen 15. Jahrhundert bezeugten Kirchenväter dürften zumindest in Pomerellen gemäß den Statuten der Kirchenprovinz Gnesen von den älteren Gemeindegliedern im Einvernehmen mit Pfarrer und Patron gewählt worden sein.101 Vielerorts verstanden es Patrone und Pächter von Kirchenland noch in der Frühen Neuzeit, sich die Abgaben aus dem Fabrikgut anzueignen beziehungsweise zu hinterziehen.102 Wichtig gleichermaßen für die Kunstgeschichte, die Frömmigkeitsgeschichte und die Geschichte des Niederkirchenwesens sind die Vertragsurkunden, die zwischen den Meistern und ihren Auftraggebern geschlossen wurden. Unter letzteren erscheinen nicht nur einzelne Stifter wie 1493 Hans IV. Imhoff für das Sakramentshaus des Adam Kraft in St. Lorenz in Nürnberg, sondern wiederholt auch Kirchenpfleger: 1478 im Vertrag für den Altar des Malers Michael Pfender in der Pfarrkirche von Lenzkirch, 1490 für den Münnerstädter Altar Tilman Riemenschneiders, 1503 für den Altar des Malers Hans Schnatterpeck in NiederLana bei Meran, 1511 für den Altar des Michael Schwarz in der Danziger Marienkirche oder 1523 für eine Tafel des Hans Brüggemann in der Johanniskirche zu Walsrode.103 Pfarrer und Kirchenpfleger des Dorfes Altmünsterberg im Mari99 Wolfgang Schmid, Stifter und Auftraggeber im spätmittelalterlichen Köln, Köln 1994 (Veröffentlichungen des Kölnischen Stadtmuseums 11), S. 31–32. – Kurze, Pfarrerwahlen (wie Anm. 31), S. 354–355. 100 Ebbe Nyborg, Enkeltmænd og fællesskaber i organiseringen af det romanske sognekirkebyggeri, in: Streiflys over Danmarks Bygningskultur. Festskrift til Harald Langberg, Kopenhagen 1979, S. 37–64, hier S. 39. 101 Hans Patze, Die deutsche bäuerliche Gemeinde im Ordensstaat Preußen, in: Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen 2, Stuttgart 1964, 2. Aufl. 1980 (Vorträge und Forschungen 8), S. 149–200, hier S. 178–183. 102 Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570–1800, Paderborn 2000 (Forschungen zur Regionalgeschichte 33), S. 260–264. 103 Hans Huth, Künstler und Werkstatt der Spätgotik, Augsburg 1923, 4. Aufl. Darmstadt 1981, S. 120, Nr. 10 (1493); ebd. S. 116–117, Nr. 7 (1478); S. 118–120, Nr. 9 (1490); S. 122–123, Nr. 11 (1503); S. 126–127, Nr. 15 (1511); S. 138, Nr. 22 (1523).

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enburger Werder hatten 1436 dem Danziger Meister Jürgen für ein bilderwerck eine Anzahlung von zwölf Mark geleistet. Als zwei Jahre später der Auftrag immer noch nicht ausgeführt war, forderten sie ihr Geld zurück und suchten Hilfe bei dem Großkomtur des Deutschen Ordens. Dieser bat 1438 den Danziger Rat, den Meister Jürgen aufzufordern, das her den armen leuten ihr gelt zurückgäbe.104 Stiftung und Memoria in den Pfarrkirchen, zum Beispiel in St. Lorenz in Nürnberg, sind in das Blickfeld der Geschichte und Kunstgeschichte getreten105, Laien als Rezipienten geistlichen Schrifttums in dasjenige der Literaturwissenschaft.106 In der Reformation sind viele Werke kirchlicher Kunst durch Bilderentfernung und Bildersturm verlorengegangen. Der Satz von Hermann Heimpel »Die Bilderstürmer waren die Bilderstifter«107 trifft in seiner Verallgemeinerung freilich nicht zu; denn mutwilliger Pöbel und Ratsgeschlechter sind zwei Dinge:108 In Ulm, einem prominenten Fall von reformationszeitlicher Bilderstürmerei, haben nach Aufforderung des Rates 1531 die dortigen Geschlechter ihre Retabeln als ihr Eigentum aus dem Münster geholt, in ihren Häusern und auf ihren Landsitzen geborgen und sie dadurch sich und der Nachwelt erhalten.109 Auch die 104 Kirche im Dorf. Ihre Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der ländlichen Gesellschaft im »Preußenland«, 13.–18. Jahrhundert. Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Zusammenarbeit mit der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2002, S. 156–157, Nr. 4/5. 105 Dormeier, St. Rochus (wie Anm. 20). – Corine Schleif, Donatio et memoria. Stifter, Stiftungen und Motivationen an Beispielen aus der Lorenzkirche in Nürnberg, München 1990 (Kunstwissenschaftliche Studien 58). – Staub, Les paroisses et la cité (wie Anm. 86), S. 251– 263. 106 Georg Steer, Die deutsche ›Rechtssumme‹ des Dominikaners Berthold – ein Dokument der spätmittelalterlichen Laienchristlichkeit, in: Klaus Schreiner (Hrsg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge. Tagung vom 13.–16. Juni 1988 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, München 1992 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 20), S. 227–240. – Volker Honemann, Der Laie als Leser, ebd., S. 241–251. 107 Heimpel, Das Wesen des deutschen Spätmittelalters (wie Anm. 61), S. 29–51, Zitat S. 50. 108 S. den Vorbehalt bereits bei Bernd Moeller, Reichsstadt und Reformation, bearbeitete Neuausgabe Berlin 1987, S. 23, Anm. 29: »Man mag allenfalls fragen, ob in Regensburg Bilderstifter und Bilderstürmer tatsächlich, persönlich, identisch waren. Vermutlich könnte hier eine genauere Untersuchung noch gewisse soziale Differenzierungen feststellen.« 109 Gehardt Weilandt, Wider die Gotteslästerung und Götzerei. Der ›Bildersturm‹ des Jahres 1531, in: Meisterwerke massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Ausstellung im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart, Altes Schloß, vom 11. Mai – 1. August 1993, Württembergisches Landesmuseum Stuttgart. Katalogkonzeption Heribert Meurer … Katalogredaktion Gerhard Weilandt unter Mitarb. von Stefan Roller, Stuttgart 1993, S. 421–427. – Gudrun Litz, Die Problematik der reformatorischen Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, in: Peter Blickle/André Holenstein/Heinrich Richard Schmidt/Franz-Josef Sladeczek (Hrsg.), Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, München 2002 (HZ Beiheft N. F. 33), S. 97–116, hier S. 108–112. – Anders dagegen noch Boock-

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Biberacher Familien konnten ihr Eigentum aus der Pfarrkirche teilweise retten.110 In Nürnberg hat der evangelische Rat 1524/25 jede Bilderstürmerei unterbunden.111

IV.

Kommunikation

Die Pfarrkirche und ihr Friedhof waren Stätten der Kommunikation. Die Pfarrkinder versammelten sich zu den täglichen Messen, darunter zur Frühmesse, für deren Feier zumal zur Erntezeit es spezielle Stiftungen geben konnte.112 Dan es was ain guoter bruch vor mes heren von edlen, von cofliten und ander liten, die iber feld wotent [gehen], berichtet der Biberacher Priester Heinrich von Pflummern im Jahre 1544.113 Die Hochschätzung der Messfeier ist spätestens im 13. Jahrhundert bezeugt.114 Im niederrheinischen Kempen stifteten die Pfarreingesessenen im Jahre 1305 eine tägliche Frühmesse, quod misse oratio plus

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mann, Bürgerkirchen (wie Anm. 13), S. 201: »Im Bildersturm zerstörten die Kinder der Stifter, was ihre Väter und Großväter gestiftet hatten.« In Isny freilich ließ der Kaufmann Peter Buffler die 1521 von ihm errichtete Kapelle auf dem neuen Friedhof 1532 abreißen, und der Memminger Eberhart Zangmeister hat die Spruchbänder der Heiligen in den Wandmalereien der von ihm in der Pfarrkirche St. Martin gestifteten Kapelle überdecken und durch Zitate aus Luthers Bibelübersetzung ersetzen lassen, Litz, S. 106. A. Schilling, Zeitgenössische Aufzeichnungen des Weltpriesters Heinrich von Pflummern, in: Freiburger Diözesanarchiv 9 (1875), S. 204: Item man haut etlichen denocht us der cierchen lasen tragen, was sin und der sinen ist gesin. – Vgl. Angele, Altbiberach (wie Anm. 63), S. 163. Gerhard Pfeiffer, Quellen zur Nürnberger Reformationsgeschichte, Nürnberg 1968 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 45), S. 327–328, Nr. 105 (Brief von Christoph Scheurl an den Genueser Kaufmann Antonio Vento, 1525 Januar 22). – Vgl. Boockmann, Bürgerkirchen (wie Anm. 13), S. 202. – Zum Einschreiten des Augsburger Bürgermeisters Imhof 1532 gegen den bofel s. Jörg Rasmussen, Bildersturm und Restauratio, in: Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock. 3: Beiträge, Augsburg 1981, S. 95– 114, hier S. 97. Oediger, Niederrheinische Pfarrkirchen um 1500. Bemerkungen (wie Anm. 11), S. 15–16. – Ders., Niederrheinische Pfarrkirchen um 1500. Ein Erkundungsbuch (wie Anm. 11), S. 28, Nr. 44,1 mit Anm. 3; S. 51, Nr. 85,3. – Janssen, Die Differenzierung der Pfarrorganisation (wie Anm. 50), S. 78. – Fuhrmann, Kirche und Dorf (wie Anm. 32), S. 179–182. – Graf, Niederkirchenwesen Goslar (wie Anm. 44), S. 359. Vgl. Schilling, Zeitgenössische Aufzeichnungen des Weltpriesters Heinrich von Pflummern (wie Anm. 110), S. 210. – Vgl. Angele, Altbiberach (wie Anm. 63), S. 167. Vgl. Karl Joseph Merk, Abriß einer liturgiegeschichtlichen Darstellung des Meß-Stipendiums, Stuttgart 1928, S. 41–46, 91–97. – Erwin Iserloh, Der Wert der Messe in der Diskussion der Theologen vom Mittelalter bis zum 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für katholische Theologie 83 (1961), S. 44–79, hier S. 67–68. – Adalbert Mayer, Triebkräfte und Grundlinien der Entstehung des Meßstipendiums, St. Ottilien 1976 (Münchener Theologische Studien III: Kanonistische Abteilung 34), S. 237–239.

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valeat quam mundi totius deprecatio.115 Die Pfarrkirche war Ausgangspunkt und Ziel der Prozessionen.116 Auf dem städtischen Marktplatz im Schatten der Pfarrkirche wurden die geistlichen Spiele aufgeführt.117 Die Pfarrkirche war der Ort der Ratswahl118 oder zumindest der Ort der der Ratswahl vorangehenden Messe.119 In der Kirche und in ihren Seitenkapellen standen die Altäre der Bruderschaften120, der Gilden und Zünfte. In den Kirchenschiffen waren – zumindest seit dem 15. Jahrhundert – die Kirchenstühle aufgestellt, die von ihren Eignern entsprechend ihrem gesellschaftlichen Rang besetzt wurden.121 In der heimatlichen Pfarrkirche feierte und feiert noch heute der Priester Primiz.122 Über die Pfarrkirche und speziell die Dorfkirche als Ort der Kommunikation hat jüngst Enno Bünz ausführlich gehandelt:123 über die Predigt und die Katechese, über Text- und Bildtafeln in den Kirchen, über sprachliche Kommunikationsprobleme, die Lese- und Schreibfähigkeit des Klerus und der Laien, über Kirchturmuhr und Glockengeläut124, über die wechselseitige Bindung von Pfarrer und Gemeinde. Aus der Vielzahl der dort ausgebreiteten Aspekte sei nur nochmals die Bedeutung des Pfarrers und der Pfarrei für Abkündigungen im Allgemeinen und die Verkündung von Ladungen und Urteilen geistlicher Gerichte im speziellen unterstrichen. Von Papst Gregor XII. mit einer Sentenz beauftragt, löste der 115 Anton Joseph Binterim/Joseph Hubert Mooren, Die alte und neue Erzdiözese Köln in Dekanate eingetheilt, Bd. 4, Mainz 1830, S. 63–66, Nr. 275. – Vgl. Janssen, Die Differenzierung der Pfarrorganisation (wie Anm. 50), S. 78. 116 Andrea Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit, Köln u. a. 1999 (Norm und Struktur 12), S. 85, 105–111, 250–252. 117 Dorothea Freise, Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt – Friedberg – Alsfeld, Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 178), S. 150, 226–227, 262–263. 118 Dietrich W. Poeck, Zahl, Tag und Stuhl: Zur Semiotik der Ratswahl, in: Frühmittelalterliche Studien 33 (1999), S. 396–427, hier S. 399–400 (Wahl in der Pfarrkirche St. Eloi in Bordeaux). 119 Goswin Freiherr von der Ropp, Göttinger Statuten, Hannover/Leipzig 1907 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 25), S. 306, s. v. radkesen. – Poeck, Zahl, Tag und Stuhl (wie Anm. 118), S. 402–404. – Ders., Rituale der Ratswahl in westfälischen Städten, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001 (ZHistF, Beiheft 25), S. 207–262. 120 Vgl. Graf, Niederkirchenwesen Goslar (wie Anm. 44), S. 351–358. 121 Vgl. Gabriela Signori, Umstrittene Stühle. Spätmittelalterliches Kirchengestühl als soziales, politisches und religiöses Kommunikationsmedium, in: ZHistF 29 (2002), S. 189–213, hier S. 201, 204. 122 A. Schilling, Die religiösen und kirchlichen Zustände der ehemaligen Reichsstadt Biberach unmittelbar vor Einführung der Reformation, in: Freiburger Diözesanarchiv 19 (1887), S. 91–92. – Vgl. Angele, Altbiberach (wie Anm. 63), S. 62–63. – Dormeier, Kirchenjahr, Heiligenverehrung und große Politik (wie Anm. 86), S. 7, 50–58. 123 Bünz, »Die Kirche im Dorf lassen …« (wie Anm. 41) passim. 124 Ebd., S. 149–150. – Zum Geläut in den Landgemeinden s. noch Elsbeth Lippert, Glockenläuten als Rechtsbrauch, Freiburg i. Br. 1939 (Das Rechtswahrzeichen 3).

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Dekan des St. Alexanderstifts in Einbeck im Jahre 1407 den Herzog Heinrich von Braunschweig († 1416) von einem Eid, den dieser im Zusammenhang mit dem Eversteiner Erbfolgekrieg den Edelherren zur Lippe geleistet hatte. Zwei Boten sandte der Dekan aus, die je ein Exemplar des Mandats mit sich führten, in dem zur Publikation des Urteils aufgefordert wurde. Der eine Bote reiste von Einbeck über Celle, Goslar, Quedlinburg, Naumburg, Altenburg, Leipzig, Halle, Bernburg bis nach Magdeburg; der andere nahm seinen Weg nach Hildesheim, Paderborn, Köln, Münster, Osnabrück, Minden, Hannover und weiter nach Norden in die Diözese Verden. Beide Boten suchten mindestens 69 Pfarrer auf, und diese verpflichteten sich durch an die Mandate angehängte, eigenhändig beschriebene und besiegelte Zettel, das Urteil in ihren Pfarreien zu verkünden. So schrieb der Pleban von Bernburg an der Saale am 21. August 1407: Ego Didericus plebanus in Bernborch presens mandatum executus sum ipsa die dominica post assumptionis Marie anno domini 1407.125 Durch Kanzelabkündigung und Anschlag an der Kirchentür und am Rathaus wurde der 1495 in Worms verabschiedete Ewige Landfriede veröffentlicht.126 Herzog Johann von Kleve befahl 1468 seinen Amtleuten zu Huissen (sö. Arnheim), seine mit dem Erzbischof von Köln geschlossene Sühne am kommenden Sonntag in der Kirche verkünden zu lassen.127 Die neuzeitlichen Obrigkeiten haben sich für die Publikation ihrer Gebote bis in die Mitte des 19. Jahrhundert ganz selbstverständlich der Kanzelabkündigung bedient.128 Was Tafeln anbelangt, lässt Karl Immermann 1838/39 in seinem Roman »Münchhausen. Eine 125 Walter Deeters, Die Publikation eines geistlichen Urteils in Norddeutschland im Jahre 1407, in: AfD 8 (1962), S. 270–289, Zitat S. 283, Nr. A 21. 126 RTA unter Maximilian I., Bd. 5,1,2, bearb. von Heinz Angermeier (RTA Mittlere Reihe 5,1,2) Göttingen 1981, S. 1211, Nr. 1658, Markgraf Friedrich von Brandenburg an die Abgesandten seiner fränkischen Herrschaften (4./5. November 1495): […] ein abschrift ytzo hie sol gegeben werden, die ir anhaim bringen, die pfarrer ab offen canzeln dem volk verkunden und furter offentlich sollet an die kirchtür oder ratheuser lassen anschlagen … . – Vgl. Peter Schmid, Der Gemeine Pfennig von 1495. Vorgeschichte und Entstehung, verfassungsgeschichtliche, politische und finanzielle Bedeutung, Göttingen 1989 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 34), S. 462. – Peter Fleischmann, Das Reichssteuerregister von 1497 der Reichsstadt Nürnberg (und der Reichspflege Weißenburg), Nürnberg 1993 (Quellen und Forschungen zur fränkischen Familiengeschichte 4), S. XIX. 127 Theodor Ilgen, Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien. Herzogtum Kleve I, Ämter und Gerichte 2,2, Bonn 1925 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 38), S. 62–63, Nr. 69 (1468). 128 Philipp Meyer, Zur Verlesung landesherrlicher Verordnungen von den Kanzeln Niedersachsens im 16. bis 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 48 (1950), S. 109–119. – Vgl. Klaus Nippert, Nachbarschaft der Obrigkeiten. Zur Bedeutung frühneuzeitlicher Herrschaftsvielfalt am Beispiel des Hannoverschen Wendlands im 16. und 17. Jahrhundert, Hannover 2000 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 196), S. 114–118.

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Geschichte in Arabesken« den dort auftretenden Hofschulzen sagen: »Das war noch eine gute Zeit, als die Tafeln mit den Verzeichnissen der Lasten und Abgaben der Bauernschaft in der Kirche hingen … Dazumalen stand alles fest, und kein Gezänk hat sich nimmer darüber begeben, wie neuerdings nur gar zu oft. Hernacher hieß es, die Tafeln mit den Hühnern und Eiern und Maltern und Sümmern schadeten der Andacht, und sie wurden hinweggetan. Im Gegenteil, sie hatten immer zu Predigt und Gesang gehört, wie Amen und Singen; ich für mein Teil, wenn ich sie ansah, besonders beim dritten Teile [der Predigt] oder der Nutzanwendung, hatte die erbaulichsten Gedanken bekommen, zum Exempel: Überhebe dich nicht, denn da steht geschrieben, wieviel Zinsroggen und Schloßhafer du geben mußt …«.129 Als 1036 Bischof Bruno von Würzburg seinem Bistum die 308 Hufen zählende Villikation Sunrike bei Borgentreich in Ostwestfalen schenkte, waren auf zwei ehernen, miteinander verbundenen Tafeln (in duabus tabulis ereis concatenatis) die Abgaben inschriftlich festgehalten, die einerseits ihm beziehungsweise seinem Meier, andererseits den Würzburger Domherren sowie dem Priester zu Sunrike zukommen sollten. Überdies waren auf diesen Tafeln das in Sunrike geltende Liten-Recht und schließlich die Namen der Hörigen sowie der Wachszinser beiderlei Geschlechts eingeschrieben, ne illorum posteritas a suo iure alienari possit. Die Tafeln waren angebracht (locate) in der Sunriker Kapelle!130 In bestimmten Pfarrkirchen tagte das Sendgericht.131 Güterauflassungen wurden im Bistum Konstanz bereits seit dem 8./9. Jahrhundert in oder vor der Kirche beurkundet; der Friedhof war im 13. und 14. Jahrhundert von Lübeck, Hamburg und Bremen bis Südtirol der Schauplatz für Rechtsgeschäfte aller Art.132 Im Jahre 1195 waren von Bischof Konrad I. von Hildesheim Markt und Gericht auf dem Friedhof der Hildesheimer Altstadtkirche St. Andreas verboten worden; noch 1365 hat der Hildesheimer Rat aber ganz unbefangen denselben Friedhof den Gärtnern als Platz für ihre Marktstände zugewiesen.133 Der aus 129 Karl Immermann, Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken, hrsg. von Peter Hasubek, München/Wien 1977, S. 133 (freundlicher Hinweis von Edgar Müller M.A., Göttingen). 130 Roger Wilmans, Additamenta zum Westfälischen Urkunden-Buche, Münster 1877, Neudruck 1973, S. 7–9, Nr. 9. – Aus dem Liber privilegiorum Lupolds von Bebenburg gedruckt in: Monumenta Boica 37, München 1864, Neudruck 1964, S. 21–25, Nr. 64. 131 Wolf-Heino Struck, Die Sendgerichtsbarkeit am Ausgang des Mittelalters nach den Registern des Archipresbyterats Wetzlar. Ein Beitrag zur Geschichte der sittlichen Zustände und des kirchlichen Lebens am Vorabend der Reformation, in: Nassauische Annalen 82 (1971), S. 104–145, hier S. 107. – Vgl. Bünz, »Die Kirche im Dorf lassen …« (wie Anm. 41), S. 146–147. 132 Julius, Landkirchen und Landklerus im Bistum Konstanz (wie Anm. 33), S. 133–134, 188. – Herwig Ebner, »…in cimiterio…« – Der Friedhof als Beurkundungsort, in: Helmut Bräuer/ Elke Schlenkrich (Hrsg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag, Leipzig 2001, S. 121–128. 133 Karl Janicke, Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, Erster Theil bis 1221, Leipzig 1896 (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 65), S. 488–490,

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Hannover stammende Lübecker Bischof Johannes Schele (1420–1439) schlug im Jahre 1433 dem Basler Konzil unter anderem vor, das Gerichthalten, das Abschließen von Verträgen und von Handelsgeschäften in Kirchen und auf den Friedhöfen unter Strafe zu stellen;134 dabei standen Schele und das entsprechende Konzilsdekret vom Jahre 1435135 in der Tradition eines schon 1274 auf dem Zweiten Konzil von Lyon formulierten und in den Liber sextus aufgenommenen Verbots.136 Erst im 15. Jahrhundert verloren die Friedhöfe ihre Funktion als Versammlungsplatz und Gerichtsort an die Rathäuser mit ihren Lauben137, vor denen sich nun die Stadtbevölkerung ein- oder zweimal jährlich zum Echteding oder zur Bursprake versammelte.138 Schließlich dienten die Dorfkirche und der umwehrte, oft mit Speichern besetzte Friedhof der bäuerlichen Bevölkerung als Zufluchtsort bei kriegerischen Auseinandersetzungen.139 Die ebenfalls zur Zeit des Basler Konzils verfasste und bis in die Tage der Reformation viel gelesene »Reformation Kaiser Siegmunds« nannte die Pfarrkirchen, weil in ihnen die Sakramente gespendet werden, vor allen anderen

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Nr. 514, hier S. 490 (1195): Cemiterio quoque supredicte ecclesie, ubi corpora sanctorum requiescunt, hanc reverentiam et immunitatem servari … volumus, ut nullus in eo forum facere aut secularia negotia exercere vel advocatiam usurpare audeat.– Richard Doebner, Urkundenbuch der Stadt Hildesheim, T. 2 (1347–1400), Hildesheim 1886, Neudruck 1980, S. 127, Nr. 211: fecimus in ipso cimiterio sancti Andree scampna fieri … (1365). Concilium Basiliense Bd. 8, hrsg. von Heinrich Dannenbauer u. a., Basel 1936, Neudruck 1971 S. 127, c. 97. – Jürgen Miethke/Lorenz Weinrich, Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der grossen Konzilien, T. 2, Darmstadt 2002 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 38 b), S. 230, c. 97: quod de cetero in ecclesiis et cimiteriis placita pacta et mercancie de cetero non fiant sub maxima pena. – Zu Schele vgl. Wolfgang Prange, Johannes Schele, in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198 bis 1448, hrsg. von Erwin Gatz unter Mitwirkung von Clemens Brodkorb, Berlin 2001, S. 359–361. Monumenta conciliorum generalium seculi decimi quinti, Concilium Basileense scriptorum Bd. 2, Wien 1873, S. 804–805. – Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 2, Konzilien des Mittelalters: vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517), hrsg. von Josef Wohlmuth, Paderborn 2000, S. 492 (Basel Sessio 21). VI 3.23.3 (Friedberg 2, Sp. 1061). – Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 2 (wie Anm. 135), S. 327, Nr. 25. Ebner, »…in cimiterio…« (wie Anm. 132), S. 128. Vgl. Matthias Ohm, Das Braunschweiger Altstadtrathaus. Funktion – Baugeschichte – figürlicher Schmuck, Braunschweig 2002 (Braunschweiger Werkstücke 106, R. A, Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek 49), S. 30–31. Gustav Hertel, Urkundenbuch des Klosters Unser Lieben Frauen zu Magdeburg, Halle 1878 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 10), S. 77–78, Nr. 81: … ut rustici necessitatis tempore dumtaxat ad cymiterium refugium haberent (1199). – Vgl. Annette Lömker-Schlögell, Befestigte Kirchen und Kirchhöfe im Mittelalter: Eine Übersicht über das Reichsgebiet – eine Bestandsaufnahme für das Hochstift Osnabrück, Osnabrück 1998 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 40), S. 19–27, 34–35 (mit vielen Fehlern bei lateinischen Zitaten). – Für die Frühe Neuzeit: Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 102), S. 238, 269–270.

Die Pfarrei: ein Institut von langer Dauer als Forschungsaufgabe

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Kirchen das haupt der cristenheyt.140 Ganz ähnlich war für Martin Luther in seinem Sendschreiben »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« von 1520 die Pfarrei derjenige Ort, wo der Christ alles empfing, dessen er für sein Heil bedurfte.141 Heutzutage hat man die Pfarrkirche bezeichnet als »die wohl breiteste Berührungszone zwischen Kirche und Welt«.142 Unter der Rubrik »Geistliche und Laien zwischen Kirche und Welt« ist die vierte Gruppe der Vorträge dieser Tagung angekündigt. »Kirche« auf der einen und »Welt« auf der anderen Seite erscheinen damit nicht ganz glücklich als antagonistische Sphären, die erst jeweils einander hätten vermittelt werden müssen.143 Aber bereits in der Karolingerzeit wusste man den Weltkleriker (clericus secularis) als solchen zu bezeichnen, und zwar zur Unterscheidung vom monachus.144 Wenn man mit Ludwig Hänselmann die mittelalterliche Stadt als eine Sakralgemeinschaft deutet145, weil die Verehrung eines Stadtheiligen, etwa desjenigen des hl. Auctor durch die Gesamtstadt Braunschweig, die Stadt zur

140 Reformation Kaiser Siegmunds, hrsg. von Heinrich Koller, Stuttgart 1964 (MGH. Staatsschriften des späteren Mittelalters 6), S. 204. – Dazu Lothar Graf zu Dohna, Reformatio Sigismundi. Beiträge zu einer Reformschrift des fünfzehnten Jahrhunderts, Göttingen 1960 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 4), S. 167. 141 Otto Clemen, Luthers Werke in Auswahl, Bd. 1, Berlin 1929, S. 405.– WA 6, 1888, S. 450, 6–7. – Vgl. Bernd Moeller, Klerus und Antiklerikalismus in Luthers Schrift ›An den Christlichen Adel Deutscher Nation‹ von 1520, in: Peter A. Dykema/Heiko A. Oberman (Hrsg.), Anticlericalism in late medieval and early modern Europe, Leiden 1993 (Studies in medieval and Reformation thought 51), S. 353–365, hier S. 358. 142 Bünz, Memoria auf dem Dorf (wie Anm. 70), S. 268, 302. 143 S. bereits Boockmann, Bürgerkirchen (wie Anm. 13), S. 187: »›Stadt und Kirche‹: diese Gegenüberstellung erweckt den Eindruck, es habe im Mittelalter einerseits die Stadt und andererseits die Kirche gegeben, und schon der Singular ›die‹ Kirche führt in die Irre […] Die Opposition ›Stadt und Kirche‹ ist fundamental falsch, weil sie den Eindruck erweckt, es habe eine Stadt ohne Kirche gegeben oder es hätte sie auch nur geben können.« – S. auch Bünz, Klerus und Bürger (wie Anm. 79), S. 353 mit Anm. 5. 144 Capitulare monasticum von 817, MGH Capit. 1, S. 346, Nr. 170, c. 42.– CCM 1, Siegburg 1963, S. 473, c. 2: Ut nullus plebeius seu clericus secularis in monasterio ad habitandum recipiatur, nisi voluerit fieri monachus. 145 Ludwig Hänselmann, Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Braunschweig, Bd. 2, Leipzig 1880 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 16), S. XVIII: »Wie hätte in guter Zeit nicht auch diese Sacralgemeinschaft ihre versöhnliche Kraft bewähren sollen«. – Vgl. Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter (wie Anm. 76), S. 210 nebst Anm. 1 (mit irrtümlicher Fundstellenangabe). – Ernst Voltmer, Leben im Schutz der Heiligen. Die mittelalterliche Stadt als Kult- und Kampfgemeinschaft, in: Christian Meier (Hrsg.), Die okzidentale Stadt nach Max Weber (HZ Beihefte N. F. 17) 1994, S. 213–242, hier S. 233–234. – Toni Diederich, Stadtpatrone an Rhein und Mosel, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 58 (1994), S. 25–86. – Wilfried Ehbrecht, Die Stadt und ihre Heiligen. Aspekte und Probleme nach Beispielen west- und norddeutscher Städte, in: Vestigia monasteriensia. Westfalen – Rheinland – Niederlande, hrsg. von Ellen Widder/Mark Mersiowsky/Peter Johanek, Bielefeld 1995 (Studien zur Regionalgeschichte 5), S. 197–262, hier S. 212. – Bünz, Klerus und Bürger (wie Anm. 79), S. 353–354, 365–367, 387.

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Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

Kultgemeinde machte146, wenn man heute auch das mittelalterliche Dorf mit Recht als sakrale Gemeinschaft anspricht147, dann war die Pfarrei bei der Allgegenwart des Religiösen, die sich auch im Antiklerikalismus artikulierte148, ein integraler Bestandteil des Lebens im Mittelalter. Das zu verstehen und darzustellen, ist und bleibt eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft.

146 Klaus Naß, Der Auctorkult in Braunschweig und seine Vorläufer im früheren Mittelalter, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 62 (1990), S. 153–207, hier S. 197. – Ehbrecht, Die Stadt und ihre Heiligen (wie Anm. 145), S. 225–236. 147 Bünz, »Die Kirche im Dorf lassen …« (wie Anm. 41), S. 79, 155. 148 Vgl. Kaspar Elm, Antiklerikalismus im deutschen Mittelalter, in: Dykema/Oberman, Anticlericalism (wie Anm. 141), S. 13: »Es ist sicherlich nicht falsch, im Antiklerikalismus des Mittelalters vorwiegend einen systemimmanenten Protest zu sehen, der seinen letzten Grund in der Sorge für die Kirche und der Angst um das Heil der Seelen hat, sich in Klage und Gebet äußert und Bekehrung und Reform herbeiführen will«.

Die Pfarrei in Mitteleuropa im Wandel vom Früh- zum Hochmittelalter*

I.

Einleitung

Nicht die Pfarrei, sondern das Stift hat Peter Moraw im Jahre 1977 »eine der interessantesten Stätten der für das Mittelalter grundlegenden Begegnung von Kirche und Welt« genannt1. Ohne die Bedeutung der Stifte, um deren Erforschung gerade Moraw sich außerordentlich verdient gemacht hat, in Abrede zu stellen, wird man aber doch sagen können, daß als der noch interessantere, weil elementare Schnittpunkt zwischen Kirche und Welt im Mittelalter die Pfarrei gewesen ist. So hat schon vor nunmehr 100 Jahren Albert Werminghoff geurteilt2, und Gerd Tellenbach formulierte: »Die lebenskräftigsten und am klarsten in Erscheinung tretenden kirchlichen Einheiten waren das Bistum und die Pfarrei […] in der Pfarrgemeinde vollzog sich am dichtesten das Leben des Christen. In ihr empfing er die Taufe, feierte den Gottesdienst, nahm an der Eucharistie teil, unterzog sich der Kirchenbuße, leistete Oblationen und Abgaben, betete mit für das irdische und ewige Heil, hoffte auf die Fürbitte seiner Mitchristen vor und nach dem Tod und erhielt seine letzte Ruhestätte«3. Eine allgemein verbindliche Bestimmung des Wesens der Pfarrei kennt das katholische Kirchenrecht erst seit der Verkündung des Codex iuris canonici von * Erstveröffentlichung in: Enno Bünz, Gerhard Fouquet (Hrsg.), Die Pfarrei im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 77), Ostfildern 2013, S. 21–60. 1 Peter Moraw, Hessische Stiftskirchen im Mittelalter, in: AfD 23 (1977), S. 425–458, hier S. 427. Ähnlich Ders., Über Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 68. Studien zur Germania Sacra 14), Göttingen 1980, S. 9–37, hier S. 11. 2 Albert Werminghoff, Verfassungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittelalter, LeipzigBerlin 21913 (ND Aalen 1991), S. 160: »Auf dem Boden des Pfarramtes trafen sich die Interessen des Klerus mit den religiösen Bedürfnissen der Laienwelt in Stadt und Land; fast allein durch das Pfarramt und seine Seelsorge erfüllte die Kirche, im übrigen mehr und mehr ein großes Rechtsinstitut, ihre Aufgabe als Heilsanstalt, ließ sie ihre Welt- und Klostergeistlichen Vermittler des Seelenheils sein.« 3 Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert (Die Kirche in ihrer Geschichte Bd. 2, Lieferung F 1), Göttingen 1988, S. 34.

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Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

1983, der die Pfarrei folgendermaßen definiert: »Die Pfarrei ist eine bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen, die in einer Teilkirche auf Dauer errichtet ist und deren Seelsorge unter der Aufsicht des Diözesanbischofs einem Pfarrer als ihrem eigenen Hirten anvertraut ist«4. Weiter wird bestimmt: »Die Pfarrei hat in aller Regel territorial abgegrenzt zu sein (Paroecia regula generali sit territorialis) und alle Gläubigen eines bestimmten Gebietes zu umfassen; wo es jedoch angezeigt ist, sind Personalpfarreien zu errichten, die nach Ritus, Sprache oder Nationalität der Gläubigen eines Gebietes oder auch unter einem anderen Gesichtspunkt bestimmt werden«5. Darunter fielen und fallen etwa die Universitäts- und Studentengemeinden6. Obwohl der Codex von 1983 den Begriff der Gemeinde gerade zweimal kennt – einmal als »örtliche Gemeinde« (communitas localis) (can. 942) und einmal als »kirchliche Gemeinde« (ecclesiastica communitas) (can. 1063) –, sind die »Pfarrgemeinde« und ihr »Pfarrgemeinderat« den Rechtsordnungen und Satzungen der deutschen Bistümer eine Selbstverständlichkeit; denn es ist die personale Gemeinschaft der Gemeinde, der die Pfarrei als rechtliche Grundform dient7. Der Art. 23 Abs. 1 der Verfassung der Evangelischlutherischen Landeskirche Hannovers in der Fassung vom Jahre 1971 lautet: »Die Kirchengemeinde umfaßt die in einem örtlich begrenzten Bezirk innerhalb der Landeskirche wohnenden, unter einem Pfarrer vereinigten Kirchenglieder (Ortsgemeinde),« und fährt in Abs. 2 fort: »Ausnahmsweise können Kirchengemeinden nach Personenkreisen bestimmt sein (Personalgemeinde).« Was im evangelischen Kirchenrecht die Kirchengemeinde ist, sind im kanonischen Recht die Pfarrei, die Parochie oder nach heutigem deutschen Sprachgebrauch die Pfarrgemeinde. Gemeinsam ist beiden Definitionen – bei deutlich verschiedenem Kirchenverständnis – die Verbindung von Personen (»Gemeinschaft von Gläubigen«, »Kirchengliedern«) mit einem »Gebiet« oder »Bezirk«; in beiden Rechten sind diese »abgegrenzt«: Sowohl die Pfarrgemeinde als auch die Kirchengemeinde ist Territorialpfarrei (-gemeinde) und lediglich ausnahmsweise Personalgemeinde oder Personalpfarrei. Als umgrenzter Ort wurde die Parochie bereits um das Jahr 1250 durch Kardinal Heinrich von Segusio (Hostiensis) in der Summa aurea definiert: »Die Pfarrei ist der Ort, an dem das an (irgend)eine Kirche zugewiesene Volk lebt, und der durch feststehende Grenzen bestimmt ist«. Und weiter: »Man versteht ihn als Pfarrei, soweit sich das geistliche Recht der Kirche über ihn erstreckt«. Entscheidend ist nach dem Hostiensis die räumliche Dimension: »In ein und demselben Bezirk kann es nicht mehrere Pfarrkirchen geben, C. 16 q. 1 c. 54. 4 CIC can. 515 § 1. Teilkirche meint die Diözese, siehe Heribert Schmitz, Pfarrei und Gemeinde, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 148 (1979), S. 48–71, hier S. 55, 58. 5 CIC can. 518. 6 Vgl. CIC can. 813. 7 Schmitz, Pfarrei (wie Anm. 4), S. 55, 58, 60f.

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Vielmehr müssen bei einer Mehrzahl von Pfarrkirchen diese abgeteilt werden, und diese Abteilung nahm bei Dionysius ihren Anfang«8. Dionysius bezieht sich auf die pseudoisidorische Fälschung JK † 139 auf den Namen des nach der Mitte des 3. Jahrhundert amtierenden Papstes9. Die Pfarrei ist also seit knapp achthundert Jahren als Territorialpfarrei definiert und so noch heute eine Selbstverständlichkeit – nicht zuletzt infolge des theologischen Bemühens, der Pfarrgemeinde einen auch ekklesiologischen Wert beizumessen10. Ursprünglich war die Gemeinde eine Versammlung von Personen. Die Gemeinden, denen im 4. und 5. Jahrhundert die nordafrikanischen Bischöfe vorstanden, hießen diocesis, ecclesia, plebs, populus. Ein Brief Augustins bezeichnete einen bestimmten fundus, den fundus Thogonoetensis, ebenfalls als eine plebs, bei der es sich um eine ländliche Wirtschaftsgemeinschaft von Kolonen handelte, die der Herrschaft eines Bischofs zugewiesen worden war11. Haito von Basel bestand zu Beginn des 9. Jahrhunderts auf seiner bischöflichen Genehmigung für die Aufnahme von flüchtigen Priestern, auch auf der Erlaubnis, Messe zu feiern und dafür, plebis gubernacula suscipiendi12. Wohl vor 813 untersagte Theodulf von Orléans seinen Priestern die Abwerbung fremder Pfarrgenossen (fidelibus […] de alterius presbyteri parrochia) und ermahnte einen jeden, sua ecclesia et populo contentus zu sein13. Was hier ecclesia und populus ist, erscheint einige Jahrzehnte später bei Herard von Tours (858) als terminus, als 8 Hostiensis, Summa, lib. III, 1 (De parochiis), Lyon 1537 (ND Aalen 1962), fol. 169 v: Quid sit parochia: Locus in quo degit populus alicui ecclesie deputatus, certis finibus limitatus, et accipitur hic parochia quatenus spirituale ius ecclesiae se extendit, et in una determinatione plures baptismales esse non possunt, XVI q. 1. Plures baptismales imo diuidi debent, et limitatio a Dionysio initium habuit. Vgl. bereits Gratian, Dictum post C. 16 q. 1 c. 53 (Friedberg 1, Sp. 778): Plures autem baptismales ecclesias in una terminatione facere non potest. Michel Lauwers, Paroisse, paroissiens et territoire. Remarques sur ›parochia‹ dans les textes latins du Moyen Âge, in: La paroisse. Genèse d’une forme territoriale, hrsg. von Dominique IognaPrat/Élisabeth Zadora-Rio (Médiévales 49), 2005, S. 11–31, hier S. 28f. 9 Vgl. Horst Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit (Schriften der MGH 24, 1–3), Stuttgart 1973, Bd. 2, S. 396 Anm. 102, Bd. 3, S. 934f. (Nr. 332). 10 Schmitz, Pfarrei (wie Anm. 4), S. 48, 50–56. Allerdings wurde 2009 von Pfarrer Hermann Dieckmann, dem langjährigen Pastorenausschußvorsitzenden der Ev.-lutherischen Landeskirche Hannover, für die Jahre nach 1993 sehr zu Recht »eine dramatische Abwertung des Gemeinde-Pfarramtes und eine groteske Geringschätzung der Ortsgemeinde« beklagt, Evangelische Zeitung Nr. 2 vom 11. Januar 2009, S. 10. Die derzeitigen Zusamenlegungen wegen Pfarrer- oder Geldmangels in der katholischen und in den evangelischen Kirchen in Deutschland tun den Ortsgemeinden Abbruch in einem bisher ungeahnten Maß. 11 Serge Lancel, A propos des nouvelles lettres de S. Augustin et de la Conférence de Carthage en 411: »Cathedra, diocesis, ecclesia, parochia, plebs, populus, sedes«. Remarques sur le vocabulaire des communautés chrétiennes d’Afrique du Nord au début du Ve siècle, in: RHE 77 (1982), S. 446–454, hier S. 450f. 12 Haito c. 13, MGH Capit. episc. 1, S. 214 (802/03–823). 13 Theodulf 1 c. 14, MGH Capit. episc. 1, S. 112. Zur Datierung s. ebd., S. 73f.

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Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

Bezirk, als Zehnt- und somit letztendlich als Pfarrbezirk: Ut suis terminis contentus unusquisque existat nec ex alienis quicquam appetat14. Die pseudoisidorische Dekretale JK +139 ergänzt: ut nullus alterius parroeciae terminos aut ius invadat, sed unusquisque suis terminis sit contentus, et taliter aecclaesiam et plebem sibi commissam custodiat, ut ante tribunal aeterni iudicis ex omnibus sibi commissis rationem reddat15. Im 9. Jahrhundert dachte man sich also die Pfarrgemeinde durchaus schon ortsbezogen, worauf zurückzukommen ist16. Entsprechend formulierte Amulo von Lyon um 853, daß jedwede Gemeinde (plebs) unbehelligt bei jenen Pfarreien und Kirchen verharren solle, denen sie zugeordnet sei (unaquaeque plebs in paroechiis et ecclesiis, quibus attributa est, quieta consistat). Dort empfange die Gemeinde die heilige Taufe, den Leib und das Blut des Herrn, folge sie gewohnheitsmäßig der heiligen Messe, würden ihr die Buße, die Krankensalbung und das Begräbnis zuteil, opfere sie die Zehnten und die Erstlinge, taufe sie ihre Kinder, höre sie das Wort Gottes und werde über Gut und Böse belehrt17. Bemerkenswerterweise ist das eine Beschreibung der Pfarrei aus der Perspektive der Gemeinde: Sie hebt ab auf die an ihr geübte Seelsorge und die von ihr entrichteten Abgaben. Verbreiteter ist die Beschreibung der Pfarrei als ein Bündel von Rechten des Pfarrers an seinen Pfarrkindern. Ein Xantener Schiedsspruch vom Jahre 1231 führt die Pfarrechte und Pflichten des am Kreuzaltar funktionierenden Stiftspfarrers in dieser Reihenfolge auf: die Feier von Brautmessen vor oder nach der Eheschließung, Fürbitten für Frauen vor der Geburt und für ihre Rekonziliation danach, Taufen, das Hören der Beichte, Spendung der Kommunion, Versehgang, Krankensalbung18. Erweitert um die Benediktionen der Gebärenden, um die Akzentuierung der Beichte gegenüber der Buße19 und um die 14 15 16 17

Herard von Tours c. 30, MGH Capit. episc. 2, S. 134 mit Anm. 105. Vgl. unten bei Anm. 180. Paul Hinschius, Decretales Pseudo-Isidorianae et capitula Angilramni, Leipzig 1863, S. 196. Siehe unten Abschnitt V. Amulo von Lyon, Epist. 1, 7 Migne PL 116, Sp. 82 B–C. Vgl. Lauwers, Paroisse (wie Anm. 8), S. 23. 18 Peter Weiler, Urkundenbuch des Stiftes Xanten, Bd. 1 (Veröffentlichungen des Vereins zur Erhaltung des Xantener Domes e.V., Bd. 2, 2), Bonn 1935, S. 82f. Nr. 106. Vgl. Wilhelm Janssen, Das Erzbistum Köln im späten Mittelalter 1191–1515. Teil 2 (Geschichte des Erzbistums Köln 2, 2), Köln 2003, S. 41. 19 Vgl. Martin Ohst, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter (Beiträge zur historischen Theologie 89), Tübingen 1995, S. 21f., 120–138. Nach Reginos Sendhandbuch, Reginonis libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis II c. 5, Interrogatio 65, hrsg. von Friedrich Wilhelm Hermann Wasserschleben, Leipzig 1840 (ND Graz 1964), S. 214. Das Sendhandbuch des Regino von Prüm II c. 5, Frage 65, hrsg. und übersetzt von Wilfried Hartmann (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 42), Darmstadt 2004, S. 248f., hat es bereits damals die Privatbeichte mindestens einmal jährlich am Aschermittwoch gegeben, war der Frage zufolge aber kaum bereits die Regel, vgl. Wilfried Hartmann, Kirche und Kirchenrecht um 900. Die Bedeutung der spätkarolingischen Zeit für Tradionen und Innovationen im kirchlichen Recht (Schriften der

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Brautmesse, die auf der seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts bezeugten Einsegnung der Ehe basiert20, erscheinen im 13. Jahrhundert dieselben Pfarrechte wie im 9. Jahrhundert. Sie bestehen hier wie dort in der Verwaltung der Sakramente in der Messe und bei den Kasualien. Hatten sich die Kernaufgaben der Seelsorge von der Karolingerzeit zum Hochmittelalter also kaum verändert, so war der institutionelle Rahmen für die Seelsorge – und mit ihm die im Folgenden aber beiseite zu lassende Seelsorgepraxis21 – dem Wandel unterworfen. Diesen institutionellen Rahmen bildete die Pfarrei. Sie wandelte sich in ihrer Position gegenüber dem Bischof, in ihrer Stellung gegenüber dem Kirchenherrn, hinsichtlich des Unterhalts ihres Seelsorgepriesters, ihrer räumlichen Organisation und schließlich hinsichtlich der Rechte des Pfarrvolkes in ihr.

II.

Die Pfarrkirche, der Bischof und die Zwischengewalten

Während Papst Pelagius I. noch um 555–560 die bischöfliche Leitung jeder einzelnen Kirche eines Bistums als eine Selbstverständlichkeit betrachtete22, wurden in Gallien längst grundherrliche Kirchen geduldet. So beschäftigte sich 506 das Konzil von Agde mit dem Phänomen, daß es außerhalb der Civitates nicht nur bischöflich legitimierte parrociae, sondern auch grundherrliche Oratorien gab (oratoria in agro); auch in diesen durfte Gottesdienst gefeiert werden. Allerdings hatten sich die Kolonen an den hohen Feiertagen in den Civitates oder in den parrochiae einzufinden23. Bereits über ein halbes Jahrhundert früher, im Jahre 441, hatte die Synode von Orange in c. 9 (10) bestimmt, daß der Grundherr zur Weihe seiner Kirche nur den

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MGH 58), Hannover 2008, S. 29, 274. Nach dem Trierer Konzil von 927, c. 14, MGH Conc. 6, S. 83, sollten Grundbesitzer, die in verschiedenen Orten auf ihren jeweiligen Besitzungen lebten, hinsichtlich der Erfüllung ihrer Beichtpflicht von den benachbarten Pfarrern (a vicinis) kontrolliert werden, vgl. Lauwers, Paroisse (wie Anm. 8), S. 20. Herard von Tours c. 89 (858), MGH Capit. episc. 2, S. 147. Isaak von Langres cc. V, 6; XI, 29 (ca. 860), Capit. episc. 2, S. 215–217, 240. Cap. Ottoboniana c. 13 (nach 889), MGH Capit. episc. 3, S. 126. Atto von Vercelli c. 94, Capit. episc. 3, S. 299. Vgl. Capit. episc. 3, S. 197f. mit Anm. 37. Zu der sich ändernden Seelsorgepraxis siehe La pastorale della Chiesa in Occidente dall’età ottoniana al concilio lateranense IV, Atti della quindicesima Settimana internazionale di studio Mendola, 27–31 agosto 2001, Mailand 2004. Wilfried Hartmann, Der rechtliche Zustand der Kirchen auf dem Lande. Die Eigenkirche in der fränkischen Gesetzgebung des 7. bis 9. Jahrhunderts, in: Cristianizzazione ed organizazzione ecclesiastica delle campagne nell’Alto Medioevo: Espansione e resistenze, Bd. 1 (Settimane di studio 28, 1), Spoleto 1982, S. 397–441, S. 404. Agde c. 21, hrsg. von Charles Munier, Concilia Galliae a. 314 – a. 506 (CC 148), Turnhout 1963, S. 202f.

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Ortsbischof und keinen anderen einzuladen hätte24. Somit berührt schon dieser frühste Beleg für die Existenz und Duldung von Eigenkirchen in Gallien die Durchsetzung der Weihe- und Amtsgewalt des Ortsbischofs in seinem Sprengel (territorium)25, die auch noch vierhundert Jahre später nicht selbstverständlich war26. Dazu kam die Kontrolle des im Bistum wirkenden Klerus. Nach dem Concilium Germanicum von 742 oder 743 sollten alle Priester eines Bistums dem zuständigen Diözesanbischof unterstellt sein27. Karls des Großen weit verbreitete Admonitio generalis von 789, das »Grundgesetz« der karolingischen Reform28, schärfte die Diözesanhoheit des Bischofs gegenüber Handlungen und Ansprüchen von Mitbrüdern ein und hielt ihn an, die Spende der Taufe, den Glauben, die Meßfeiern und die Gebete seiner Priester auf ihre Korrektheit hin zu prüfen29. Die Priester, welche die Bischöfe in ihre Diözesen sandten, um das Volk Gottes in den Kirchen zu leiten und ihm zu predigen (presbyteros quos mittitis per parrochias vestras ad regendum et ad praedicandum per ecclesias populum Deo servientem), hätten richtig zu lehren, und zwar an erster Stelle das Glaubensbekenntnis30. Das cap. 24 der Admonitio gegen Kleriker, die von einer Diözese in die andere vagierten, wird in can. 27 der Frankfurter Reichssynode von 794 präziser gefaßt: Ein Wechsel in ein anderes Bistum ohne Wissen und Empfehlungschreiben (litterae commendatitiae) des Bischofs sollte unterbunden

24 Orange c. 9 (10), ebd., S. 81: Quod si etiam saecularium quicumque ecclesiam aedificaverit et alium magis quam eum in cuius territorio aedificat inuitandum putauerit, tam ipse cui contra constitutionem ac disciplinam gratificari uult, quam omnes episcopi qui ad huiusmodi dedicationem inuitantur a conuentu abstinebunt. 25 Konzil von Orléans (511) c. 17, Concilia Galliae a. 511 – a. 695, hrsg. von Charles de Clercq (CC 148 A), Turnhout 1963, S. 9: Omnis autem baselice […], ut in eius episcopi, in cuius territurio sitae sunt, potestate consistant. Konzil von Orléans (541) c. 7, ebd., S. 133: Vt in oratoriis domini praediorum minime contra uotum episcopi, ad quem territorii ipsius priuilegium nuscitur pertinere, peregrinus clericos intromittant. Vgl. unten Anm. 82 die Summa Parisiensis. 26 Vgl. Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Konziliengeschichte, Reihe A Darstellungen), Paderborn 1989, S. 415, 417. Vgl. Hinkmar von Reims, Collectio de ecclesiis et capellis, hrsg. von Martina Stratmann (MGH Fontes iuris 14), Hannover 1990, S. 69: Quia vero presbiterorum, unde nunc agitur, ordinatio et ecclesiarum consecratio atque facultatum et dotum ad easdem ecclesias pertinentium dispositio secundum canonum antiquam constitutionem ad episcoporum ordinationem […] pertineant. 27 Conc. Germanicum c. 3, MGH Conc. 2, 1 S. 3: Decrevimus quoque secundum sanctorum canones, ut unusquisque presbiter in parrochia habitans episcopo subiectus sit illi, in cuius parrochia habitet. 28 Vgl. Rosamond McKitterick, The Frankish church and the Carolingian reforms, 789–895 (Royal Historical Society, Studies in History 2), London 1977, S. 1f. Dies., Karl der Große, Darmstadt 2008, S. 266f. 29 Admonitio generalis c. 11, 12, 56, 70, MGH Capit. 1, S. 55, 57, 59. 30 Ebd. c. 82, S. 61. Vgl. ebd. c. 71, S. 59.

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sein31. Das 789 promulgierte Verbot der absoluten Ordination, das dem Vagieren hätte Einhalt gebieten können, wurde freilich nie durchgehalten und schuf besonders im späten Mittelalter das sattsam bekannte Problem der pfründenlosen Kleriker32. Die Gemeinde taucht nach 800 in den Kapitularien der Karolinger und ihrer Bischöfe schemenhaft auf. Dabei haben sich weder diese bischöflichen Kapitularien noch die späteren vorgratianischen Konzilien jemals ausdrücklich mit ihr befaßt33. Ihre Themen waren vielmehr die Pfarrkirche, ihre Dotation, ihr Kuratpriester und die Pflichten ihrer Gläubigen. Die Synode von Arles von 813 machte dem Bischof die alljährliche Visitation seiner Diözese (parroechia) zur Pflicht34. Daß er dabei einzelne Gemeinden besuchte, ergibt sich aus can. 10, der die Priester dazu anhielt, dem Volk zu predigen, und zwar nicht nur in den Bischofssitzen, sondern in allen Gemeinden, in allen Pfarreien (in civitatibus, sed etiam in omnibus parroechiis. Can. 15 des Konzils von Chalon-sur-Saône von 813 nennt – zum ersten Mal – Gemeindepriester: Die Archidiakone sollten davon abstehen, diesen presbyteri parroechiani, die sie quasi ihrer Herrschaft unterworfen hätten, einen Zins abzufordern35. Das Konzil von Tours von 813 band die Priester an denjenigen Titel, auf den sie ordiniert worden waren; sie sollten nicht von einem geringeren nach einem bedeutenderen wegstreben36. Nach dem Kapitular Haitos von Basel hätte der Priester vielmehr eingedenk zu sein, daß er Bräutigam seiner Kirche sei, auf die er achtgeben und für die er sorgen müsse37. Aus der ehegleichen Verbindung des Priesters mit seiner Kirche folgerten Herard von Tours (858) und Isaak von Langres (860), daß, wie ein Mann nur eine Frau, auch der Priester nur eine Kirche und nicht mehrere haben könnte38. Entsprechend war nach Isaak und dem zu Grunde liegenden sogenannten Benedictus 31 Ebd. c. 24, S. 55. Conc. Francofurtense c. 27, MGH Conc. 2, 1 S. 169. Vgl. Hartmann, Synoden der Karolingerzeit (wie Anm. 26), S. 113f. 32 Admonitio generalis c. 25, MGH Capit. 1, S. 55. Vgl. Vinzenz Fuchs, Der Ordinationstitel von seiner Entstehung bis auf Innozenz III. (Kanonistische Studien und Texte 4), Bonn 1930, S. 182–191. 33 Vgl. Joseph Avril, Quelques aspects de l’institution paroissiale après le IVe concile du Latran, in: Crises et Réformes dans l’Église de la Réforme Grégorienne à la Préréforme. Actes du 115e congrès National des Sociétés Savantes, Avignon 1990, Paris 1991, S. 93–106, hier S. 93f. 34 Concilicum Arelatense c. 17, MGH Conc. 2, 1 S. 252. 35 Concilium Cabillonense c. 15, MGH Conc. 2, 1 S. 277. 36 Concilicium Turonense c. 14, MGH Conc. 2, 1 S. 288. 37 Haito von Basel c. 23, MGH Capit. episc. 1, S. 218: Admonendi sunt ut sciant quia in ecclesiis quibus praesunt sponsi facti sunt. 38 Herard von Tours c. 49, MGH Capit. episc. 2, S. 138. Isaak von Langres c. 1, 23, MGH Capit. episc. 2, S. 194f. Vgl. Joseph Avril, A propos du ›proprius sacerdos‹: Quelques réflexions sur les pouvoirs du prêtre de paroisse, in: Proceedings of the Fifth International Congress of Medieval Canon Law, Salamanca, 21–25 September 1976, hrsg. von Stephan Kuttner/ Kenneth Pennington (Monumenta Iuris Canonici, Series C: Subsidia 6), Città del Vaticano 1980, S. 471–486, hier S. 473f.

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Levita ein Priester nur kraft Autorität und Zustimmung des Bischofs an einer Kirche ein- und gegebenenfalls abzusetzen39. Der Kumulation des Kirchenbesitzes war aber schon im 9. und 10. Jh. nicht beizukommen. Freilich singulär ist die Forderung der Capitula Sangallensia, derjenige Priester, welcher zwei oder drei Kirchen habe, solle im Wechsel sonntags bei ihnen nächtigen und die Vesper und die Matutin in ihnen beten40. Haito von Basel sprach, wie eingangs schon erwähnt, davon, wie die Priester sich selbst und das ihnen anvertraute Volk (plebem sibi commissam) in Reinheit und Gerechtigkeit lenken (regere) und im Glauben bestärken könnten41. Ansegis und Herard von Tours kennen dann den dem Priester unterworfenen Pfarrangehörigen: Kein Priester darf das Pfarrkind eines anderen (alterius parrochianum) zur Messe zulassen, es sei denn, dieses sei auf der Reise oder wegen einer Gerichtsversammlung am Ort anwesend42. Zusammen mit der Zehnttermination, die noch zur Sprache kommen wird, läßt sich hier der Anfang des Pfarrzwangs als eines weiteren, für die Pfarrei konstituierenden Elements fassen. Außer um die geordnete Koexistenz der Pfarreien einer Diözese wird es Ansegis und Herard auch um deren Einkünfte, das heißt um die Oblationen der Gottesdienstbesucher gegangen sein. Denn schon für Theodulf von Orléans und für Radulf von Bourges war es die Pflicht der Gläubigen, an Sonntagen Gaben für die Kirche zur Messe mitzubringen43. Ein halbes Jahrtausend später rechtfertigte der Regensburger Gelehrte Konrad von Megenberg (1309–1374) den Pfarrzwang wegen der Opfergabe, die jeder Besucher der sonntäglichen Messe und an Festtagen seinem Pfarrherrn darzubringen habe. Entsprechend ist ein Pfarrer, der ein fremdes

39 Isaak von Langres 11, 22, MGH Capit. episc. 2, S. 237 (aus Benedictus Levita III, 166, Mansi 17 A, Sp. 1060): Ut presbiteri in ecclesiis inconsulto episcopo nec constituantur vel de ecclesiis expellantur. Sancitum est, ut sine auctoritate vel consensu episcoporum presbiteri in quibuslibet ecclesiis nec constituantur nec expellantur. 40 Capitula Sangallensia (9./10. Jh.) c. 11, MGH Capit. episc. 3, S. 118: Volumus, ut unusquisque qui duas vel tres habet ecclesias, in unaquaque alternatim diebus dominicis in nocte maneat ac vespertinale et matutinale officium decenter peragat. 41 Haito von Basel, MGH Capit. episc. 1, S. 210, Rubrik: Presbyteris suae dioceseos ordinavit, quibus monerentur, qualiter se ipsos ac plebem sibi commissam caste et iuste regere atque in religione divina confirmare deberent. 42 Die Kapitulariensammlung des Ansegis I, 147, hrsg. von Gerhard Schmitz (MGH Capit. N. S. 1), Hannover 1996, S. 511: De parrochianis alterius presbiteri. Ut nullus presbiter alterius parrochianum, nisi in itinere fuerit vel placitum ibi habuerit, ad missam recipiat. Herard von Tours c. 29 (858), MGH Capit. episc. 2, S. 134. 43 Theodulf 1 c. 24, 2 c. 1, 8, MGH Capit. episc. 1, S. 121, 152. Radulf von Bourges c. 26, Capit. episc. 1, S. 253f. Vgl. Cap. Frisingensia III c. 25, MGH Capit. episc. 3, S. 228. Capitula Antwerpensia c. 6, Capit. episc. 3, S. 108. Zu den Meßoblationen vgl. Josef Andreas Jungmann, Missarum sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Bd. 2, Freiburg 1952, S. 1–88.

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Pfarrkind zum Opfer zulasse, nach Konrads Meinung ein Räuber und Dieb44. Nach dem Konzil von Chalon von 813 und den bischöflichen Kapitularien ist das Pfarrvolk (populus, plebs) seinem Priester untertan (subiectus, subdita)45. Hinkmars drittes Kapitular von 856 und das Konzil von Quiercy von 857 trugen daher auch keine Bedenken, dem Priester die Buchführung über die Übeltäter in seiner Gemeinde (in parochia sua) aufzutragen46, allerdings für Zwecke der kirchlichen Bußpraxis. Die nun schon zum wiederholten Mal angeführten bischöflichen Kapitularien sind eine seit etwa 800 entstandene Gattung von Texten, die – zur Verkündigung auch auf den Diözesansynoden konzipiert47 – die praktische Seelsorge, den Gottesdienst sowie das Leben der Kleriker und Laien regeln und heben sollten48. Sie artikulieren und dokumentieren den bischöflichen Gesetzgebungsanspruch in der Diözese in einem bislang so nicht bekannten Ausmaß. »Mit Kirchenvolk und Pfarrklerus als Adressaten beschränken sich die Bischofskapitularien allerdings auf den breiten Kernsektor dessen, was der Aufsichtspflicht eines Bischofs innerhalb seiner Diözese unterlag«49. Das Leben in den Klöstern und Stiften ließen sie unberührt. – Diese in die Form von Kapitularien gegossene bischöfliche Gesetzgebung setzte zur Mitte des 10. Jahrhunderts aus. An ihre Stelle traten Exhortationen der Bischöfe an den Diözesanklerus, und zwar von der Art der weit verbreiteten Admonitio generalis ›Fratres presbyteri‹, die die Priester daran gemahnte, sie hätten Rechenschaft abzulegen über die ihnen anvertrauten Gemeinden (de plebibus vobis commendatis) beziehungsweise Pfarrangehörigen (parrochiarii)50. Als Gesetzgeber betätigten sich die Bischöfe

44 Konrad von Megenberg, De limitibus parochiarum civitatis Ratisbonensis, hrsg. von Philipp Schneider, Regensburg 1906, S. 148f.: quod dominicis et festivis diebus nullus parochianus contempto suo proprio plebano missam alibi audiat quam in propria parochia sua et ibidem offerat solito more […] Non debet ergo unus presbiter alterius parochianum recipere in proprii presbiteri praeiudicium ad divina, ne quod sibi offerre debuit vel devocionem eius eidem subtrahat sicut patet per iura praedicta alias fur est et latro. 45 Cap. Frisingensia III c. 12, MGH Capit. episc. 3, S. 225: Admonemus, ut unusquisque presbiter populum sibi subiectum instruat et ei ex auctoritate canonica praecipiat. Chalon-sur-Saône c. 5 (813), MGH Conc. 2, 1 S. 275: ut […] sacerdotes […] a turpibus lucris et usuris non solum ipsi abstineant, verum etiam plebes sibi subditas abstinere instruant = Ansegis II, 36, MGH Capit. N.S. 1, S. 557. Isaak von Langres c. 4, 13, MGH Capit. episc. 2, S. 211: aliquis tam liber quam servus […] episcopo proprio vel suo sacerdoti aut archidiacono inobediens. 46 Hinkmar 3 c. 1, MGH Capit. episc. 2, S. 73. Quiercy c. 8, MGH Conc. 3, S. 398. 47 Capitula episcoporum 4, bearb. von Rudolf Pokorny (MGH Capit. episc. 4), Hannover 2005, S. 15–17. 48 Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 19), S. 78f. 49 Pokorny, Capitula episcoporum (wie Anm. 47), S. 17. 50 Ordo 14 Nr. 51, Die Konzilsordines des Früh- und Hochmittelalters, hrsg. von Herbert Schneider (MGH Ordines), Hannover 1996, S. 430–434, hier S. 431 Z. 281, S. 433 Z. 339. Vgl. auch eine an Laien und Priester gerichtete Predigt wohl aus dem Jahre 937, Josef Maß, Eine

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erst wieder nach 1200 mit ihren Synodalstatuten, die sich vielfach aus der Dekretalengesetzgebung speisten und die spätmittelalterliche Phase der bischöflichen Kontrolle des Diözesanklerus – und damit mittelbar der Pfarrei – begründeten und begleiteten51. Der Stärkung der bischöflichen Autorität gegenüber den sich formierenden Pfarreien diente die Einführung von Archidiakonen um die Mitte des 9. Jahrhunderts und von Dekanen nach der Wende zum 10. Jahrhundert. Obwohl bereits das Konzil von Chalon-sur-Saône 813 Archidiakone kannte, welche die Priester bedrückten52, gilt Hinkmar von Reims als Hauptgewährsmann für die Etablierung von Archidiakonen. Sie waren seine vornehmsten Helfer bei der Visitation der Erzdiözese und bei der Klerikerordination. Sein im Jahre 874 an zwei Reimser Archidiakone gerichtetes fünftes Kapitular untersagte ihnen die Ausbeutung der Priester auf den Landpfarreien (rusticanae parochiae) während ihrer Visitationen53. Ihre Begleitung sollten sie klein halten, nur kurz auf den Pfarrhöfen verweilen, durch ihre Nahrung und durch das Futter für die Pferde möglichst wenig zur Last fallen und diese auf die benachbarten Priester verteilen. Bereits 857/858 hatte sich Hinkmar im zweiten und dritten Teil seiner Collectio de ecclesiis et capellis über mögliche Mißbräuche während der bischöflichen oder archidiakonalen Visitation geäußert. Namentlich sollten die Visitatoren für die Ordination der Kleriker keine Gaben verlangen54. Im Bistum Metz wurden im Jahr 942 zwei Archidiakone installiert, die an Stelle der im 8. und 9. Jahrhundert bezeugten Chorbischöfe als Kontrolleure des Pfarrklerus amtierten, und zwar in je einem Archidiakonatssprengel55. Im Erzbistum Mainz bestellte frühestens Erzbischof Willigis (975–1011) die ersten Archdiakone56. Spätestens im 12. Jahrhundert waren sie jeweils Pröpste eines der

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Freisinger Synodenpredigt des 10. Jahrhunderts, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 47 (2003), S. 9–31. Herbert Schneider, »Seelsorge« in Synoldalordines und ihren Musteransprachen (9.– 12. Jahrhundert), in: La pastorale della chiesa (wie Anm. 21), S. 145–170, hier S. 168f. Oben bei Anm. 35. MGH Capit. episc. 2, S. 86–89. Hinkmar, Collectio de ecclesiis et capellis (wie Anm. 26), S. 104f., 109. Zur Datierung ebd., S. 18–20. Zu Hinkmars Archidiakonen vgl. Martina Stratmann, Hinkmar von Reims als Verwalter von Bistum und Kirchenprovinz (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 6), Sigmaringen 1991, S. 24–28. Franz Staab, Zur kirchlichen Raumerfassung im Mittelalter. Archidiakone, Chorbischöfe und Archidiakonate im Bistum Metz bis ins 13. Jahrhundert, in: Die alte Diözese Metz. L’ancien diocèse de Metz, hrsg. von Hans-Walter Herrmann, Saarbrücken 1993, S. 85–111, hier S. 104. Franz Staab, Die Wurzeln des zisterziensischen Zehntprivilegs. Zugleich: Zur Echtheitsfrage der Querimonia Egilmari episcopi und der Responsio Stephani V papae, in: DA 40 (1984), S. 21–54, hier S. 35f. mit Anm. 53. Georg May, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen, in: Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, hrsg. von Friedhelm Jürgensmeier, Bd. 2:

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Kollegiatstifte und oft, aber nicht durchweg, zudem auch Mainzer Domkanoniker. Die Kumulation von Domkanonikat und Stiftspropstei nebst der Funktion des Archidiakons findet sich vielfach auch sonst, so in Metz, in Köln57, in Hildesheim, in Verden58. Selbstverständlich residierten diese domkapitularischen Archidiakone nicht an den Archidiakonatskirchen, sondern erschienen an ihnen nur hin und wieder, namentlich zur Hegung des Sends. Man sollte daher von Archidiakonatskirchen sprechen und nicht, wie weithin üblich, von Archidiakonatssitzen. Zu Anfang des 12. Jahrhunderts besaß der Archidiakon, wie im Jahre 1109 in Metz, die Banngewalt59 und seit dem 13. Jahrhundert anstelle einer iurisdictio delegata eine iurisdictio ordinaria60. Obwohl ihn auch noch Innozenz III. einen oculus episcopi genannt hatte61, wurde aus ihm im Spätmittelalter eine Instanz, die Klerus und Laien vom Bischof abschottete. Die Bischöfe begegneten dieser Entwicklung seit der Mitte des 13. Jahrhunderts mit der Ausbildung der bischöflichen Offizialatsgerichtsbarkeit62.

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Günter Christ/Georg May, Erzstift und Erzbistum Mainz. Territoriale und kirchliche Strukturen, Würzburg 1997, S. 445–593, hier S. 505–512. Staab, Metz (wie Anm. 55), S. 109f. Wilhelm Janssen, Das Erzbistum Köln im späten Mittelalter 1191–1515. Teil 1 (Geschichte des Erzbistums Köln 2, 1), Köln 1995, S. 313–325. Thomas B. Becker, Bistümer, Archidiakonate und Landdekanate um 1450 (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft IX/4), Bonn 2008, S. 10f., 30f. Joseph Machens, Die Archidiakonate des Bistums Hildesheim im Mittelalter. Ein Beitrag zur Rechts- und Kulturgeschichte der mittelalterlichen Diözesen (Beiträge für die Geschichte Niedersachsens und Westfalens, Bd. 8, Ergänzungsheft), Hildesheim-Leipzig 1920, S. 125–127, 143. Urkundenbuch der Bischöfe und des Domkapitels von Verden, Bd. 1, bearbeitet von Arend Mindermann (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 13 = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 205), Stade 2001, S. 247f. Nr. 214, S. 366–368 Nr. 323 (Wahlkapitulationen von 1205 und 1231). Vgl. Cartulaire de l’abbaye de Gorze, hrsg. von Armand d’Herbomez (Mettensia 2), Paris 1898, Nr. 146 S. 256 (1109). Janssen, Erzbistum Köln 2, 1 (wie Anm. 57), S. 317f. Vgl. Nikolaus Hilling, Die bischöfliche Banngewalt, der Archipresbyterat und der Archidiakonat in den sächsischen Bistümern, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 80 (1900), S. 80–114, 323– 345, 443–468, 645–664, hier S. 85f., 90, 107f., 113. Innozenz III., Reg. 14, 45, Migne PL 216, Sp. 413 D: ne dioecesanus episcopus vel archidiaconus loci seu quilibet alius ordinarius iudex. Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Bd. 2 (Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland), Berlin 1878 (ND Graz 1959), S. 195. Janssen, Erzbistum Köln 2, 1 (wie Anm. 57), S. 317f., 320. Zum Umfang der archidiakonalen Gewalt vgl. Westfälisches UB 7, S. 767f. Nr. 1677 (1279), hier allerdings postuliert als ihm zustehendes Recht von dem Dekan des Kölner St. Georg-Stifts als geborenem Wattenscheider Dekan (!), Stefan Pätzold, Der mittelalterliche Landdekanat Wattenscheid in der Erzdiözese Köln, in: Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte 106 (2010), S. 26, 31–34. Zur archidiakonalen Kompetenz der Kölner Dekane siehe unten bei Anm. 69. X 1.23.7 (Friedberg 2, Sp. 151), in Anlehnung an den Clemensbrief, vgl. D. 93 c. 6 (Friedberg 1, Sp. 321). Georg May, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. Das Generalgericht zu Erfurt (Erfurter Theologische Studien 2), Leipzig

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Zu einer intermediären Gewalt konnte sich auch der Dekan entwickeln. Hinkmar zufolge wurde der Dekan vom Archidiakon oder Bischof gewählt63. Die Priester seines Dekanats (decania) versammelten sich allmonatlich.64 Regino von Prüm kannte neben weltlichen Dekanen, welche die Laien zum Gottesdienst anhalten und Säumige dem Priester anzeigen sollten65, auch geistliche Dekane oder Erzpriester. Sie hatten am Aschermittwoch den Lebenswandel der Büßer von deren Priestern zu erfragen, worauf dann der Bischof die Bußen nach den festgelegten Stufen festlegte66. Um 920 wurde offenbar in Trier an die Einführung von Dekanen gedacht. Sie hätten Kalendenkonferenzen mit ihren Mitpriestern einzuberufen und diese auf ihren Ruf und ihren Wandel zu kontrollieren gehabt67. Insgesamt wurden die Dekane im ostfränkisch-deutschen Reich seit dem 11. Jahrhundert und damit später als im Westreich eingeführt; im nördlichen Teil des Erzbistums Mainz hießen sie Erzpriester68. Eine Besonderheit zeichnet die

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1956, S. 36–59, 130f. May, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen (wie Anm. 56), S. 527– 537. Othmar Hageneder, Die geistliche Gerichtsbarkeit in Ober- und Niederösterreich. Von den Anfängen bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 10), Linz 1967, S. 259–288. Ingeborg Buchholz-Johanek, Geistliche Richter und geistliches Gericht im spätmittelalterlichen Bistum Eichstätt (Eichstätter Studien N. F. 23), Regensburg 1988, S. 23–28, 146–150. Hinkmar 5 c. 13, MGH Capit. episc. 2 S. 89: non inconsiderate decanum eligite (sc. die Archidiakone). Et si ego in propinquo sum, ad me illam electionem referte. Hinkmar, Collectio de ecclesiis et capellis (wie Anm. 26), S. 104 Z. 16f.: ut tales archidiaconi atque decani ab episcopis constituantur. Hinkmar 1 c. 15, MGH Capit. episc. 2 S. 42. Hinkmar 3 c. 1, MGH Capit. episc. 3 S. 73. Regino II c. 5 Frage 69, c. 395, hrsg. von Wasserschleben (wie Anm. 19), S. 215, 364, hrsg. von Hartmann (wie Anm. 19), S. 248f., 432f. Vgl. Emil Seckel, Die ältesten Canones von Rouen, in: Historische Aufsätze. Karl Zeumer zum sechzigsten Geburtstag, Weimar 1910, S. 611–635, hier S. 622f. Regino I c. 295, hrsg. von Wasserschleben (wie Anm. 19), S. 136f., hrsg. von Hartmann (wie Anm. 19), S. 155. Kapitular Erzbischof Ruotgers von Trier c. 13, MGH Capit. episc. 1, S. 65: ut omnibus kalendis archipresbyteri nostri suos consacerdotes ad concilium evocent. Vgl. Albert Heintz, Die Anfänge des Landdekanates im Rahmen der kirchlichen Verfassungsgeschichte des Erzbistums Trier (Trierer Theologische Studien 3), Trier 1951, S. 34–37. Franz-Reiner Erkens, Die Bistumsorganisation in den Diözesen Trier und Köln – ein Vergleich, in: Die Salier und das Reich. Bd. 2. Die Reichskirche in der Salierzeit, hrsg. von Stefan Weinfurter, Sigmaringen 1991, S. 267–302, hier S. 279f. Rudolf Pokorny, Capitula Sangallensia, in: MGH Capit. episc. 3, Hannover 1995, S. 112f. mit Anm. 6–10. Capitula Sangallensia (9./10. Jh.) c. 10, MGH Capit. episc. 3 S. 118: Ut nullus presbyter alterius parrochiam adiens presumat in ea sine licentia – si adsumus, nostra, sin autem, archidiaconi nostri – quampiam ecclesiam suscipere neque vel quisquam nostrorum clericum alterius parrochie sine consultu nostro aut archidiaconi audeat recipere. Quod si fecerit, volumus, ut decanus statim nobis innotescat. Heintz, Landdekanat (wie Anm. 67), S. 32f. Bernhard Opfermann, Die kirchliche Verwaltung des Eichsfeldes in seiner Vergangenheit, Leipzig 1958, S. 56–68. May, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen (wie Anm. 56), S. 555f. Wenn dort zu 1070 Geismar bei Göttingen im Archidiakonat Nörten als frühester Mainzer Beleg für den Landarchipresbyterat »jüngerer

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erstmals im Jahre 1080 sicher bezeugten, aber wohl bereits unter Erzbischof Anno etablierten Kölner Landdekane aus69. Sie gelangten in den Besitz des Sendrechtes und unterschieden sich damit beträchtlich von ihresgleichen in den anderen Diözesen70. Landkapitel, die unter dem Vorsitz des Dekans oder Erzpriesters jährlich oder halbjährlich zusammentraten, haben sich offenbar erst im 13. Jahrhundert gebildet71. Mit dem Send ist der Name desjenigen Instituts gefallen, dessen »Erfindung […]« die »wichtigste Neuerung des 9. Jahrhunderts auf dem Gebiet des Rechts« genannt worden ist72. Nachdem schon in der Antike die Bischöfe die Rechtsprechung nicht nur in kirchlichen Angelegenheiten besessen hatten, wurde mit der Einführung des Sends die Grundlage für die bischöfliche Jurisdiktion im Mittelalter geschaffen73. Kurz vor 880 gab es ein Sendgericht in Konstanz, das der Bischof während einer Visitation hegte. Zur Zeit Reginos von Prüm war das Institut vollständig entwickelt74. Mit dem Send unterwarf der Bischof nicht nur seinen Klerus, sondern auch die Laien seiner Gewalt. Diese Laien suchten er oder seine Mitarbeiter (ministri) als wanderndes Gericht in den Pfarrdörfern oder

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Ordnung« genannt wird, kann sich das lediglich auf die Zeugenliste einer Urkunde für Heiligenstadt stützen, Mainzer UB 1, S. 217 Nr. 326, in der an fünfter Stelle ein Adelmannus archipresbyter genannt wird, nicht aber Geismar, das erstmals 1370 als sedes-Kirche bezeugt ist, UB Göttingen 1, S. 104f. Nr. 121. Geismars und Nörtens Bezeichnung als Mutterkirchen (ecclesias matrum vocabulo nuncupatas) im Jahr 1055, Mainzer UB 1, S. 187 Nr. 296, besagt etwas über das relativ höhere Alter beider Kirchen und ihre erschließbare pfarrkirchliche Funktion innerhalb von jeweils Mainzer Grundherrschaften, vgl. Wolfgang Petke, Wie kam die Kirche ins Dorf ? Mittelalterliche Niederkirchenstiftungen im Gebiet des heutigen Niedersachsen und Harburgs, in: Gottes Wort ins Leben verwandeln. Festschrift für Inge Mager zum 65. Geburtstag, hrsg. von Rainer Hering/Hans Otte/Johann Anselm Steiger (Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, Beiheft 12), Hannover 2005, S. 33–68, hier S. 49–52. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 103–138. Die Bezeichnung besagt aber nichts über die Funktion Geismars als Sedes- beziehungsweise Nörtens als Archidiakonatskirche. Erkens, Bistumsorganisation (wie Anm. 67), S. 286f., 291–293. Janssen, Erzbistum Köln 2, 1 (wie Anm. 57), S. 313f., 325–327. Becker, Bistümer (wie Anm. 57), S. 11f. Vgl. May, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen (wie Am. 56), S. 557f. Janssen, Erzbistum Köln 2, 1 (wie Anm. 57), S. 330f. Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 19), S. 245. Giulio Vismara, La giurisdizione civile dei vescovi nel mondo antico, in: La giustizia nell’alto medioevo (secoli V–VIII) (Settimane di Studio 42, 1), Spoleto 1995, S. 225–251. Wilfried Hartmann, Der Bischof als Richter. Zum geistlichen Gericht über kriminelle Vergehen von Laien im früheren Mittelalter (6.–11. Jahrhundert), in: Römische Historische Mitteilungen 8 (1986), S. 103–124. Ders., Der Bischof als Richter nach den kirchenrechtlichen Quellen des 4. bis 7. Jahrhunderts, in: La giustizia nell’alto medioevo (secoli V–VIII) (Settimane di Studio 42, 2), Spoleto 1995, S. 805–837. Ders., Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 19), S. 130. Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 19), S. 254–256.

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Siedlungen und Pfarreien auf (per vicos publicos sive villas atque parochias) 75. Parochia meint in Reginos Sendhandbuch keineswegs nur einen Personalverband, sondern eine ortsbezogene und ortsansässige Gemeinde. Das ergibt sich zum Beispiel aus der den Klerikern auferlegten Pflicht, in die sonntägliche Fürbitte auch die Kranken aufzunehmen, die in der jeweiligen Gemeinde bettlägerig seien (qui in ipsa parochia lecto decumbent). Ihre Krankenlager standen nicht, wie man im Prinzip gemeint hat76, in einem jeweils erst zu konstituierendem Raum der Gemeinde, sondern konkret in den Behausungen von Angehörigen der Pfarrei77. Aus den Angehörigen eben dieser Pfarrei wurden auch die Sendschöffen berufen (ex plebe ipsius parochiae) 78. Sie hatten die Vergehen ihrer Pfarrgenossen dem bischöflichen Richter oder seinem Vertreter anzuzeigen. Also pfarreiweise unterwarfen die Sendgerichte, seit dem Hochmittelalter von den Archidiakonen abgehalten, die Gläubigen der kirchlichen Jurisdiktion. Sie konnten über die Reformation hinaus Bestand haben, so zum Beispiel in den Herzogtümern Jülich und Berg79. Im Jahr 1621 wurde im Namen des evangelischen Landesherrn im alten Sendort Großstöckheim bei Wolfenbüttel ein Sendgericht vom evangelischen Ortspfarrer gehalten80. Aber zurück ans Ende des Hochmittelalters! Wenn seit dem 13. Jahrhundert der Bischof, und zwar zunächst in südfranzösischen Synoden, als ordinarius bezeichnet wurde, kam damit in erster Linie seine richterliche Funktion zum Ausdruck81. Für die Summa Parisiensis (vor 1170) ist die Diözese der Bezirk des bischöflichen ius82. Das römischkanonische Prozeßrecht hatte seinen Siegeszug angetreten. 75 Regino, Rubrik zu Buch I, hrsg. von Wasserschleben (wie Anm. 19), S. 19, hrsg. von Hartmann (wie Anm. 19), S. 24f. 76 Unten Anm. 168. 77 Regino I c. 192, hrsg. von Wasserschleben (wie Anm. 19), S. 99, hrsg. von Hartmann (wie Anm. 19), S. 110f. 78 Regino II c. 2, hrsg. von Wasserschleben (wie Anm. 19), S. 207, hrsg. von Hartmann (wie Anm. 19), S. 236f. Vgl. Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 19), S. 256. 79 Janssen, Erzbistum Köln 2, 2 (wie Anm. 18), S. 131–145, hier S. 144. 80 Machens, Archidiakonate (wie Anm. 58), S. 111, 390 Nr. 6, S. 392f. Nr. 9. Jörg MüllerVolbehr, Die geistlichen Gerichte in den Braunschweig-Wolfenbüttelschen Landen (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte 3), Göttingen 1973, S. 260–262, 342f. Nr. 7 (zu Großstöckheim bei Wolfenbüttel, 1621). 81 Avril, Proprius sacerdos (wie Anm. 38), S. 483. 82 The Summa Parisiensis on the Decretum Gratiani, hrsg. von Terence P. McLaughlin, Toronto 1952, S. 187 zu C. 16 q. 7 c. 10: Duobus modis dicitur territorium. Territorium universitas agrorum vel ipsa area, in qua est ecclesia. Dicitur et territorium jus convocandi et conveniendi plebes ad synodum, ipse videlicet episcopatus. Si igitur quis episcopus in alterius episcopatu territorium habet, i. e. aream ipsam, in qua fundata est ecclesia, non ideo jus diœcesis. Vgl. Rosi Fuhrmann, »Duobus modis dicitur territorium«. Überlegungen zur Reziprozität von weltlicher Nutzung und kirchlichem Recht als Katalysator politischer Territorialisierung, in: Grenzen und Raumvorstellungen. Frontières et conceptions de l’espace, hrsg. von Guy P. Marchal (Clio Lucernencis 3), Zürich 1996, S. 163–196, hier S. 167, 181. Zur Datierung der

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Die Einhegung der Pfarreien in das Bistum ist ein langwährender Prozeß gewesen. Allerdings hat dieser seine entscheidenden Impulse im 9. Jahrhundert empfangen, und zwar sowohl hinsichtlich der Unterwerfung der Pfarrer unter die Autorität des Bischofs als auch der Unterwerfung der Laien zunächst unter den Pfarrer und dann unter den bischöflichen Send. Daß ihrerseits die Pfarreien noch in der Entwicklung begriffen waren, wurde angedeutet, ist aber unter Punkt V noch zu schärfen.

III.

Die Umformung der Eigenkirche zur Patronatskirche

Die bischöflichen Landkirchen der Karolingerzeit wurden nicht aus einer wie auch immer gearteten kirchlichen Amtsgewalt heraus fundiert, sondern im Rahmen der Grundherrschaft; sie waren somit nichts anderes als bischöfliche Eigenkirchen83. Die Rechtstatsache der früh-und hochmittelalterlichen Eigenkirche, die zu großen Teilen von einem laikalen Stifter fundiert und von diesem mit einem Priester besetzt wurde, wird dank des Werks von Stutz von niemandem mehr ernsthaft bestritten84. Im Gegensatz dazu ruft sie beim heutigen Kirchenvolk ungläubiges Staunen hervor und bei manchem Pfarrstelleninhaber, der mit Summa siehe Stephan Kuttner, Repertorium der Kanonistik (1140–1234). Prodromus corporis glossarum 1 (Studi e testi 71), Città del Vaticano 1937, S. 177f. – Vgl. Gabriel Le Bras, Institutions ecclésiastiques de la Chrétienté médiévale (Histoire de l’Église 12), Paris 1964, S. 367f. 83 Helmuth Stahleder, Bischöfliche und adelige Eigenkirchen des Bistums Freising im frühen Mittelalter und die Kirchenorganisation im Jahre 1315, in: Oberbayerisches Archiv 104 (1979), S. 117–188, 105 (1980), S. 7–69, hier S. 182–184. Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 22), S. 419. Enno Bünz, Bischof und Grundherrschaft in Sachsen. Zu den wirtschaftlichen Grundlagen bischöflicher Herrschaft in ottonischer Zeit, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, hrsg. von Michael Brandt/Arne Eggebrecht, Bd. 1, Hildesheim-Mainz 1993, S. 231–240, hier S. 235. Siegfried Haider, Zum Niederkirchenwesen in der Frühzeit des Bistums Passau (8.–11. Jahrhundert), in: Das Christentum im bairischen Raum. Von den Anfängen bis ins 11. Jahrhundert, hrsg. von Egon Boshof/ Hartmut Wolff (Passauer Historische Forschungen 8), Köln-Weimar-Wien 1994, S. 325–388, hier S. 328f. Franz Staab, Die Mainzer Kirche im Frühmittelalter, in: Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, hrsg. von Friedhelm Jürgensmeier, Bd. 1, Christliche Antike und Mittelalter, Teil 1, Würzburg 2000, S. 87–194, hier S.186–188. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 68), S. 49–55. – Von einer anfänglichen Vermögenseinheit des Bistums spricht May, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen (wie Anm. 56), S. 561, ohne sich präzise über die Zeitstellung zu äußern. Eine Vermögenseinheit für die gesamte Diözese bestand jedoch allenfalls noch im 5. Jh. Im 9. Jh. kann davon nur noch für den in den Bischofssitzen ansässigen Klerus die Rede sein, vgl. Ulrich Stutz, Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III., aus dem Nachlaß ergänzt und mit Vorwort versehen von Hans Erich Feine, Aalen 31972, S. 12–28, 41, 68f., 76–79. Peter Landau, Beneficium, in: TRE 5 (1980), S. 577–583, hier S. 578f. 84 Vgl. Susan Wood, The proprietary church in the Medieval West, Oxford 2006.

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einem gar noch adeligen Patron zu tun hat, mangels kirchengeschichtlicher Kenntnisse auf glattes Unverständnis. Opinio communis ist weiterhin, daß ohne die von weltlichen Grundherren gestiftete Eigenkirche der Ausbau des früh- und hochmittelalterlichen Pfarrsystems nicht möglich gewesen wäre85. Eigenkirchen auf dem Lande sind, wie erwähnt, in Gallien 441 und 506 erstmals bezeugt (Orange, Agde)86. Die Synode von Orleáns vom Jahre 511 – die erste gesamtfränkische Kirchenversammlung nach der Bekehrung Chlodwigs – konnte den konkurrierenden Ansprüchen von Bischof und laikalem Kirchenstifter ganz offensichtlich nicht ausweichen. Sie wies jedes Anrecht des Kirchenherrn auf Mitwirkung bei der Verwaltung der Kirche zurück: Dem Bischof gebühre die Verfügung (potestas) über alle bestehenden und noch zu errichtenden Kirchen87. Daß es dabei um die kirchlichen Einkünfte (Grundbesitz, die Oblationen, die Gaben bei Empfang der Sakramente) und um die Ein- und Absetzung der Priester ging, ergibt sich zur Mitte des 7. Jahrhunderts aus c. 14 der Synode von Chalon-sur-Saône: Nachdem sich die Grundherren der Kapellen auf dem Lande (oraturia, qui per villas fiunt) den Bischöfen widersetzt und ihre Priester der Aufsicht des Archdiakons entzogen hätten, wies man die Ernennung der Priester und die Disposition über das Kirchengut allein dem Bischof zu88. Bis zum Ende des 8. Jahrhunderts blieb die Haltung der auf ihre Autorität bedachten Bischöfe gegenüber dem laikalen Eigenkirchenbesitz reserviert bis ablehnend. Erst die Frankfurter Synode von 794 hat die Eigenkirche zum ersten Mal positiv berührt, ja, sie in das fränkische Kirchenrecht aufgenommen: »Von den Kirchen, die von Freien errichtet werden: Es ist erlaubt, sie zu verschenken und zu verkaufen, jedoch mit der Maßgabe, daß die Kirche nicht zerstört wird, sondern daß täglich ihre Rechte gewahrt werden«89. Das Kapitular von Salz (803) erlaubte jedermann die Errichtung von Kirchen, band sie aber an die Zustim85 Vgl. Theodor Schieffer, Reichskirche und Landeskirchen des 7. Jahrhunderts, in: Handbuch der Europäischen Geschichte, hrsg. von Theodor Schieder, Bd. 1, Stuttgart, 1976, S. 504–526, hier S. 505. Peter Landau, Eigenkirchenwesen, in: TRE 9 (1982), S. 399–404, hier S. 401f. Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 22), S. 416–419. Ders., Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 19), S. 23. Wilhelm Kohl, Bemerkungen zur Entstehung der Pfarrorganisation im alten Sachsen, vornehmlich im Bistum Münster, in: Ein Eifler für Rheinland-Pfalz. Festschrift für Franz-Josef Heyen zum 75. Geburtstag am 2. Mai 2003 (Quellen und Abhandlungen zur Mittelrheinischen Kirchengeschichte 105, 2), Mainz 2003, Teil 2, S. 915–931, hier S. 926. 86 Oben bei Anm. 23, 24. 87 Orléans c. 17, CC 148 A (wie Anm. 25), S. 9. 88 Chalon c. 14, CC 148 A (wie Anm. 25), S. 306: De oraturia, que per uillas fiunt […] quod conuenit emendare, ita dumtaxat ut in potestate sit episcopi et de ordinatione clericorum et de facultatem [!] ibidem collata. Vgl. Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 22), S. 400. 89 Conc. Francofurtense c. 54, Conc. 2, 1 S. 170: De ecclesiis, quae ab ingenuiis hominibus construuntur: licet eas tradere, vendere, tantummodo ut ecclesia non destruatur, sed serviuntur cotidie honores.

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mung des Ortsbischofs und machte zur Bedingung, daß eine bestehende ältere Kirche nicht an ihren Rechten geschmälert würde90. Das kaiserliche Kirchenkapitular von 818/19 setzte die Eigenkirche als gegeben voraus. Es gestand mit c. 9 ihrem Herrn das Präsentationsrecht für den Priester zu und verfügte, daß der vom Kirchenbesitzer Benannte nur dann vom Bischof abgelehnt werden dürfte, wenn er nach Lebenswandel und Lehre nicht den Anforderungen genügte. Damit hatte der Bischof zwar noch keine geistliche Aufsicht über den Eigenkirchenpriester, hätte aber ungeeignete Kandidaten zurückweisen können. Hinsichtlich der Einkünfte wollte es gewährleistet sehen (c. 10), daß zumindest eine Hufe nebst dem Pfarrhof sowie alle Zehnten und Oblationen von Abgaben an den Herrn (senior) befreit blieben91. Auf dieses Kapitel, welches das Eigenkirchenwesen endgültig ins fränkische Kirchenrecht integrierte92, ist noch zurückzukommen93. Schließlich erkannte auch die römische Synode von 826 das Eigenkirchenwesen an94. Damit war für Ulrich Stutz erreicht, worauf »seit der fränkischen Zeit das Eigenkirchenrecht« wie »auf zwei gesetzten Grundpfeilern ruhte«95. Die Eigenkirche war also mit gewissen Einschränkungen ein Besitztitel wie jeder andere auch, wurde vererbt und gegebenenfalls auch geteilt: Das Konzil von Chalon (813) hatte sich damit zu befassen, daß vier Erben die Einkünfte eines Altars in vier Teile teilten und für jedes Viertel je einen Priester bestellten.

90 Salz c. 3, MGH Capit. 1, S. 119. Quicumque voluerit in sua proprietate ecclesiam aedificare, una cum consensu et voluntate episcopi in cuius parrochia fuerit licentiam habeat; verumtamen omnino praevidendum est, ut aliae ecclesiae antiquiores propter hanc occasionem nullatenus suam iusticiam aut decimam perdant, sed semper ad antiquiores ecclesias persolvantur. 91 Capit. ecclesiasticum c. 9, 10, MGH Capit. 1, S. 277: Sanccitum est, ut unicuique ecclesiae unus mansus integer absque alio servitio adtribuatur, et presbyteri in eis constituti non de decimis neque de oblationibus fidelium, non de domibus neque de atriis vel hortis iuxta ecclesiam positis, neque de praescripto manso aliquod servitium faciant praeter ecclesiasticum. Et si aliquid amplius habuerint, inde senioribus suis debitum servitium impendant. Nach Hinkmars zweitem Kapitular sollte der mansus zwölf bunnuaria messen (1 bonuarium = ca. 4 Morgen) und vier Hörige haben, Hinkmar 2 c. 2, MGH Capit. episc. 2, S. 46. 92 Vgl. Stutz, Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens (wie Anm. 83), S. 259. Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 22), S. 409f. Hartmann, Synoden der Karolingerzeit (wie Anm. 25), S. 114f. 93 Unten bei Anm. 132. 94 Conc. Romanum c. 21, MGH Conc. 2, 2 S. 576: Monasterium vel oratorium constructum canonice a dominio constructoris invito non auferatur, liceatque illi presbytero, cui voluerit, cum consensu episcopi, ne malus sit, commendare, ita ut ad placitum episcopi sacerdos oboedienter recurrat. 95 Ulrich Stutz, Gratian und die Eigenkirchen, ZRG 32 Kan. 1 (1911), S. 1–33, hier S. 24.

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Selbstverständlich erwuchsen daraus Ärger und Streit. So sollte der Gottesdienst verboten bleiben, bis sich die Erben auf einen einzigen Priester geeinigt hätten96. Der Laienspiegel des Bischofs Jonas von Orléans (818–843) rügt, daß die Eigenkirchenherren ihrem Priester die Zehnten und Opfergaben nicht gönnten: »Ferner finden sich viele, mit wenig Grundbesitz und ohne Einkommen, die entweder auf ihrem Eigengut oder auf dem Lehen eines Großen Kirchen haben, bei denen dank der Frömmigkeit der Gläubigen viele Gaben und Zehnten eingehen. Solche belieben, durch Habsucht verleitet, zu sagen: »Der Priester verdient viel an meiner Kirche. Deshalb will ich, daß er von dem, was er doch eigentlich aus dem Meinigen zieht, mir nach Wunsch Dienst tue; sonst soll er meine Kirche nicht länger haben. Auch lassen die potentes die Anstellung von Priestern an solchen Kirchen nicht zu, ohne von ihnen die Gaben zu empfangen, die sie begehrten«97. Drastischer hatte sich Agobard von Lyon geäußert, wohl vor 822: »Es findet sich fast keiner, […] der keinen Hauspriester hat, nicht um ihm zu gehorchen, sondern von dem er erlaubten oder unerlaubten Gehorsam fordert, nicht allein in geistlichen, sondern auch in weltlichen Angelegenheiten. So gibt es viele, die entweder bei Tisch aufwarten oder den Wein mischen, die Hunde ausführen oder den Damen die Pferde leiten oder ein kleines Landgut versorgen […] Obwohl sie ihre Kleriker derart schimpflich behandeln; wenn sie sie dann zu Priestern geweiht haben wollen, bitten sie oder befehlen sie uns [dem Erzbischof]: ›Ich habe hier einen kleinen Kleriker, den ich mir aus meinen Knechten […] herangezogen habe […] und will, daß du ihn mir zum Priester weihest.‹ Sobald das geschehen ist, glauben sie, dass sie die höheren Geistlichen nicht mehr brauchen, und sie versäumen Gottesdienst und Predigt«98. Das war – aus Sorge 96 Chalon c. 26, MGH Conc. 2, 1, S. 278: Perlatum ad nos est, ut inter heredes eclesiae in rebus propriis constitutae dividantur, et tanta per eandem divisionem simultas oriatur, ut unius altaris quatuor partes fiant et singulae partes singulos habeant presbyteros; quod sine discordia et simultate nullo modo geri potest. Unde nobis visum est, quod huiuscemodi eclesiae inter heredes dividi non debeant, et si in contentionem venerint et simultates inter eos surrexerint, per quas sacerdos suo ibi officio canonicae fungi non possit, praecipiatur ab episcopo civitatis, ut nullo modo ibi missarum sollempnia celebrentur, donec illi ad concordiam redeant, et pari voto atque consilio eclesia illa sacerdotem canonice habeat, qui libere suum ibi ministerium peragere possit. 97 Jonas von Orléans, Migne PL 106, Sp. 204 C–D: Porro sunt plerique, qui possessionum limitibus coangustati et redditibus carentes, aut in iuris sui proprio aut certe ex munere alicuius potentis habent basilicas, ad quas religiosa devotio fidelium oblationum et decimarum magnam conferre solet copiam. Super qua huiuscemodi cupiditate ducti solent dicere: ›Ille presbyter multa de mea acquirit ecclesia, quapropter volo, ut de eo, quod de meo acquirit, ad votum meum mihi serviat, sin alias, meam ultra non habebit ecclesiam‹. Sed in talibus basilicis constitui non sinunt presbyteros, nisi ab eis munus, quod optant, accipiant. 98 Agobard ep. 11, MGH Epistolae 5, S. 203f. Übersetzung nach Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 22), S. 415. Zu Inhalt und Datierung auch Egon Boshof, Erzbischof Agobard von Lyon. Leben und Werk (Kölner historische Abhandlungen 17), Köln-Wien 1969, S. 76.

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um das Seelenheil aller – ein grundsätzlicher Angriff auf die Eigenkirchenherrschaft. In Burgund meldeten sich Mitte des 9. Jahrhunderts Stimmen zu Wort, welche den Laien grundsätzlich jede Verfügungsgewalt über die Kirchen genommen und diese nur geweiht wissen wollten, wenn sie zuvor dem Bischof überlassen worden wären99. Bereits Arbeo von Freising († 783) und seine Nachfolger waren schon einmal so verfahren100. Auch der sogenannte Benedictus Levita suchte den Laieneinfluß zurückzudrängen101. Hinkmar von Reims verfolgte dagegen eine vermittelnde Linie: Solange sein bischöfliches Aufsichtsrecht über die Eigenkirchenpriester gewahrt blieb und zum Beispiel Translationen mit seiner Kenntnis vonstattengingen, freilich ohne Gabe und Geschenk an den weltlichen Herrn102, nahm er das Eigenkirchenwesen hin; nur dessen Mißstände wollte er abgeschafft wissen103. Bemerkenswerterweise findet sich bei Hinkmar, und zwar überhaupt zum ersten Mal, der Gedanke, daß simonistische Praktiken das Seelenheil der Gläubigen gefährden könnten. Einem Grafen Theodulf schrieb der Erzbischof, er könne nur einen solchen Kleriker zum Priester bestellen, der für diesen heiligen Dienst keinen Preis gezahlt hätte (nullum precium inde donaverit)104. Dennoch regte sich bis ins 11. Jahrhundert kaum mehr Kritik am Eigenkirchenwesen. Die Stimme Abbos von Fleury († 1004) blieb vereinzelt105. Erst seit der Mitte des 11. Jahrhunderts wurde die mißbräuchliche Herrschaft der Laien über das Kirchengut und die Kirchen anstößig, erschallte der Ruf nach der libertas ec-

99 Valence c. 9 (855), MGH Conc. 3, S. 358f.: Item, quia parochiales presbyteri gravissime et indigne a saecularibus premuntur […]. Vgl. Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 22), S. 422. Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 19), S. 25. 100 Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 22), S. 417f. Stefan Esders/Heike Johanna Mierau, Der althochdeutsche Klerikereid. Bischöfliche Diözesangewalt, kirchliches Benefizialwesen und volkssprachliche Rechtspraxis im frühmittelalterlichen Bayern (MGH Studien und Texte 28), Hannover 2000, S. 105–108. 101 Benedictus Levita II, 69, Mansi 17 A, Sp. 933. Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 22), S. 423. 102 Hinkmar 1 c. 17, MGH Capit. episc. 2, S. 44f. 103 Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 22), S. 432f. Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 19), S. 25. 104 Flodoard von Reims, Historia Remensis III, 26, hrsg. von Hartmut Hoffmann (MGH SS 36), Hannover 1998, S. 337 Z. 19–21: adduc mihi talem clericum, qui aptus sit sacro ministerio, et ego illum inquiram et illi ecclesiam dabo et tunc illum ordinabo, si michi satisfactionem fecerit, quod nullum precium inde donaverit. Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 22), S. 432. 105 Abbo von Fleury, Liber apologeticus, Migne PL 139, Sp. 465 D–466 A: Est etiam alius error gravissimus, quo fertur altare esse episcopi et ecclesia alterius cuiuslibet domini. Cum ex domo consecrata et altari unum quiddam fiat, quod dicitur ecclesia, sicut unus homo constat ex corpore et anima.

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clesiae. Die Reform des 11. Jahrhunderts nahm ihren Ausgang bei Auswüchsen der laikalen Herrschaft über die Niederkirche. Den cc. 5 und 6 des Reimser Konzils von 1049 zufolge waren Laien im Besitz eines Drittels der Altareinkünfte (Zehnt, Oblationen, Sepulturabgaben) oder gar selber Diener des Altars106. Die Legatensynoden von Vienne und Tours von 1060 forderten – so wie schon die karolingischen Synoden – beim Empfang von Niederkirchen aus der Hand von Laien die Zustimmung des Ortsbischofs und untersagten jedwede Simonie107. Im Jahre 1078 haben der päpstliche Legat Hugo von Die und dann Gregor VII. die Laieninvestitur verboten108. Auch die beiden ersten Laterankonzilien haben den Laien eine Vollmacht über Kirchenbesitz und dessen Verleihung abgesprochen109. Entscheidend für weiterbestehende Rechte der Laien an den Kirchen wurde die neue Rechtsfigur des Patronats, die Gratian verdankt wird110. »War das Eigenkirchenwesen ein Ausdruck der Laienmacht in der Kirche, so begründete das neue Rechtsinstitut gleichsam ein Amt des Laien in der Kirche«111. Gratian beließ den Laien ein dominium an den Kirchen, da er nach c. 21 der römischen Synode von 826112 ein Eigentumsrecht für den Erbauer einer Kirche voraussetzte und 106 Uta-Renate Blumenthal, Ein neuer Text für das Reimser Konzil Leos IX. (1049)?, in: DA 32 (1976), S. 23–48, hier S. 30 c. 4–5: Laici altaria et queque ad altaria pertinent dimittant; hoc est: tertiam partem annonae, oblationes, sepulturam, atrium et censum, nec ullam consuetudinem in atrio accipiant propter hoc quod difinitum est. Ministerium aecclesiae vel atrii laici non habeant. Vgl. Karl August Frech, Regesta Imperii III,5,2, Köln u. a. 2011, Nr. 627. Über atrium siehe Joseph Balon, Grand Dictionnaire de Droit du Moyen Âge, Faszikel 5 (1973), S. 848. 107 Vienne c. 4, Mansi 19, Sp. 926 B (nur die ersten fünf Wörter). Tours c. 4, Mansi 19, Sp. 927 C: Nullus ecclesiam magnam vel parvam deinceps sine consensu episcopi, in cuius parochia est, a laicis praesumat accipere quolibet modo, sed neque a clerico vel monacho seu laico sub pretii alicuius venalitate. Quod si fecerit, et vendens et emens ea careat. Vgl. Rudolf Schieffer, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots für den deutschen König (Schriften der MGH 28), Stuttgart 1981, S. 80–82. 108 Hugo von Die, Poitiers c. 1, Mansi 20, Sp. 498 B: ut nullus episcopus, abbas, presbyter vel quaelibet persona de clero accipiat de manu regis vel comitis vel cuiuslibet laicae personae donum episcopatus vel abbatiae vel ecclesiae vel aliquarum ecclesiasticarum rerum, sed episcopus a suo metropolitano, abbas, presbyter et caeterae inferiores personae a proprio episcopo. – Gregor VII., Reg. VI, 5 b c. 3, MGH Epp. sel. 2, 2, S. 403: decernimus ut nullus clericorum investituram episcopatus vel abbatie˛ vel ecclesie˛ de manu imperatoris vel regis vel alicuius laice˛ persone˛, viri vel femine˛, suscipiat. Schieffer, Investiturverbot (wie Anm. 107), S. 165f., 171f. 109 Lateran I c. 8, Lateran II c. 25, in: Dekrete der ökumenischen Konzilien. Bd. 2 Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517), hrsg. von Josef Wohlmuth, Paderborn 2000, S. 190, 201. 110 Peter Landau, Jus patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 12), Köln-Wien 1975. 111 Peter Landau, Patronat, in: TRE 26 (1996), S. 106–114, hier S. 106. 112 Oben Anm. 94. Landau, Jus patronatus (wie Anm. 110), S. 5.

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dieses auch beibehielt. Allerdings hat er es empfindlich eingeschränkt: Dieses dominium war kein Herrschaftsrecht. Den Fundatores einer Kirche verbot er, diese zu verkaufen, zu verschenken oder als Eigentümer zu nutzen. Stattdessen sollten sie haben das Recht auf Vorsorge und Rat in Angelegenheiten der Kirche (ius providendi et consulendi), das Recht zur Auswahl des Geistlichen (ius inveniendi sacerdotem)113, worin sicher nur ein Recht zur Präsentation des Priesters gesehen werden darf, da Gratian an anderer Stelle den Laien das Recht zur Besetzung kirchlicher Benefizien gänzlich abspricht114, sowie das Recht, aus den Einkünften der Kirche in einer Notlage ihren Unterhalt zu empfangen115. Mit diesem Alimentationsrecht entwickelte Gratian selbständig einen Ersatz für das von ihm abgelehnte Eigentümernutzungsrecht. Hier war Gratian rechtsschöpferisch tätig. Rufin schuf in seiner um 1164 verfaßten Summe zum Dekret den Begriff ius patronatus, als er dieses der verbotenen dominativa potestas über Kirchen gegenüberstellte116. Eine erste Definition des ius patronatus hat nach 1171 Johannes Faventinus geboten: Ius patronatus est auctoritas vel potestas providendi ecclesie veniens ex beneficiis ante consecrationem collatis117. In der Rechtsdogmatik wurde also das Recht des Eigenkirchenherrn im Patronatsrecht gebunden und reduziert. Kern des Patronatsrechtes sollte die Präsentation des Pfarrerkandidaten an den kirchlichen Oberen sein zwecks Investitur mit den Spiritualien, und wurde es letztendlich auch. Faktisch sah es aber zunächst anders aus. Das IV. Laterankonzil (c. 32) beklagte offen, daß vielerorts die Patrone der Pfarrkirchen (patroni ecclesiarum parochialium) sich dermaßen deren Einkünfte zuschanzten (proventus earum […] vindicantes), daß die Priester nicht mehr angemessen versorgt seien, weshalb auch vielfach nur noch als Pfarrer amtierte, wer keine oder eine nur geringe Bildung habe (qui ullam vel modicam habeat peritiam literarum). Weil man dem Ochsen, der drischt, nicht das Maul verbinden und, wer dem Altar dient, auch vom Altar leben solle (1. Cor. 9.13), sei allen Gewohnheitsrechten zum Trotz dem Priester ein zurei113 Dict. post C. 16 q. 7 c. 30 (Friedberg 1, Sp. 809): Hic autem distinguendum est, quid iuris fundatores ecclesiarum in eis habeant, vel quid non? Habent ius providendi, et consulendi, et sacerdotem inveniendi; sed non habent ius vendendi, vel donandi, vel utendi tamquam propriis. Landau, Jus patronatus (wie Anm. 110), S. 4–6. 114 Dict. ante C. 16 q. 7 (Friedberg 1, Sp. 800): Quod autem ecclesias de manu laicorum nec abbati, nec alicui liceat accipere, omnium canonum testatur auctoritas. 115 Dict. ante C. 16 q. 7 c. 30 (Friedberg 1, Sp. 808): Fundatores ecclesiarum, si inopes esse ceperint, ab eisdem alimenta accipiant. 116 Summa decretorum ad C. 12 q. 7 c. 26, hrsg. von Heinrich Singer, Paderborn 1902 (ND Aalen 1963), S. 368. Zur Datierung von Rufins Summe vgl. André Gouron, Sur les sources civilistes et la datation des Sommes de Rufin et d’Etienne de Tournai, in: Bulletin of Medieval Canon Law New Series 16 (1986), S. 55–70. 117 Landau, Jus Patronatus (wie Anm. 110), S. 13 mit Anm. 48.

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chender Unterhalt zuzuweisen (ut, consuetudine qualibet episcopi vel patroni, seu cuiuslibet alterius non obstante, portio presbyteris ipsis sufficiens assignetur)118. – So war das Eigenkirchenwesen nicht mit einem Schlage beseitigt. »Unter dem Namen des ius patronatus an den Kirchen wurden die Kirchen selbst mit ihrem Vermögen übertragen, verschenkt und verkauft«119. Auf den Patronat haben Patrone im Erzbistum Trier und in Württemberg ihre Zehntherrschaft gegründet120, noch 1535 nach Gutdünken zu Gunsten Dritter über das Pfarrgut verfügt121 oder das Spolienrecht ausgeübt: auf Rügen bis zum Jahre 1296, im mainzischen Südniedersachsen noch 1424 und in Preußen noch 1427122. Manches blieb für Jahrhunderte von Kirche zu Kirche strittig, etwa die Frage der Baulast. Sie konnte in Trier bei dem Patronats- und Zehntherrn liegen oder aber beim Pfarrer oder bei der Fabrik123. Die sich seit dem späten 13. Jahrhundert verbreitenden Vikarieund Altarbenefizien in städtischen und ländlichen Kirchen verblieben in der Regel unter dem Patronat ihrer Stifter124. Wenig ist bekannt, daß der Codex von 1983 den Patronat als gemeinrechtliches Institut des katholischen Kirchenrechts 118 X 3.5.30 = Lateran IV c. 32, Wohlmuth, Dekrete 2 (wie Anm. 109), S. 249f. 119 Johannes Linneborn, Zur Geschichte der Inkorporation, in: Theologie und Glaube 7 (1915), S. 208–218, hier S. 214f. Vgl. Luzian Pfleger, Die elsässische Pfarrei. Ihre Entstehung und Entwicklung. Ein Beitrag zur kirchlichen Rechts- und Kulturgeschichte, Straßburg 1936, S. 95. 120 Carola Brückner, Das ländliche Pfarrbenefizium im Erzbistum Trier, in: ZRG 115 Kan. 84 (1998), S. 94–269, ZRG 116 Kan. 85 (1999), S. 298–386, hier Teil I, S. 232–248. Kurt Körber, Kirchengüterfrage und schmalkaldischer Bund (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 111/112), Leipzig 1913, S. 20f. 121 Jörn Sieglerschmidt, Territorialstaat und Kirchenregiment. Studien zur Rechtsdogmatik des Kirchenpatronatsrechts im 15. und 16. Jahrhundert (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 15), Köln-Wien 1987, S. 1–3, 27f. 122 Bengt Büttner, Die Pfarreien der Insel Rügen. Von der Christianisierung bis zur Reformation (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V, 42), Köln-Weimar-Wien 2007, S. 73f. Wolfgang Petke, Spolienrecht und Regalienrecht im hohen Mittelalter und ihre rechtlichen Grundlagen, in: Von Schwaben bis Jerusalem. Facetten staufischer Geschichte. Festschrift für Gerhard Baaken, hrsg. von Sönke Lorenz/Ulrich Schmidt (Veröffentlichungen des alemannischen Instituts 61), Sigmaringen 1995, S. 15–35, hier S. 35. Otto Günther, Eine Predigt vom preußischen Provinzialkonzil in Elbing 1427 und die »Ermahnung des Carthäusers«, in: Zeitschrift des westpreußischen Geschichtsvereins 59 (1919), S. 69–111, hier S. 100f. – Spuren des Regalienrechts (der Zwischennutzung) finden sich in Gestalt der Interkalarverwaltung noch im 17. Jahrhundert in oberdeutschen Landen, s. Rudolf Reinhardt, Die Beziehungen von Hochstift und Diözese Konstanz zu Habsburg-Österreich in der Neuzeit (Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit 2), Wiesbaden 1966, S. 253, 259–266. 123 Brückner, Pfarrbenefizium (wie Anm. 120), in: ZRG 116 Kan. 85 (1999), S. 314–319. 124 Sabine Graf, Das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar im Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Bistums Hildesheim 5), Hannover 1998, S. 169–199, S. 377–453. Peter Vollmers, Die Hamburger Pfarreien im Mittelalter. Die Parochialorganisation der Hansestadt bis zur Reformation (Arbeiten zur Kirchengschichte Hamburgs 24), Hamburg 2005, S. 164–206, S. 431–656. Büttner, Pfarreien Rügen (wie Anm. 122) S. 153–162, 213f.

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aufgehoben hat; in der Praxis werden bestehende Patronate aber respektiert125. Evangelische Landeskirchen, die bis in die 1970er Jahre der Ablösung der Patronate eher gefördert hatten, wissen sie heute angesichts schwindender Kirchenmitglieder und Finanzmittel wieder höher zu schätzen126.

IV.

Die Bildung des kirchlichen Benefiziums

Peter Moraw hat die kirchliche Pfründe als »eine der großen Abstraktionsleistungen der alteuropäischen Welt« gewürdigt127. Sie war deshalb abstrakt, weil sie neben ihrem dinglichen Gehalt, also der Versorgung mit allem Lebensnotwendigen, auch den Anspruch einer Person auf den Unterhalt daraus bezeichnete. Dabei spielte weniger das Individuum eine Rolle als das von diesem ausgeübte Amt128. Das findet seinen Ausdruck in dem auf einer Dekretale Bonifaz’ VIII. beruhenden Rechtssatz beneficium datur propter officium129. Radiziert war dieser Anspruch auf eine bestimmte Vermögensmasse130. Schon Carl Groß und Ulrich Stutz hatten den Ursprung des kirchlichen Benefiziums im Bereich der ländlichen Pfarrkirche gesucht131. Tatsächlich hat das Kirchenkapitular Ludwigs des Frommen mit der Freistellung der einen Kirchenhufe von Abgaben und Diensten eine bestimmte Vermögensmasse auszusondern gesucht. Diese war an den kirchlichen Dienst des Priesters (servitium ecclesiasticum), an seine Amtswaltung, gebunden beziehungsweise deren Voraussetzung132. Ansegis, Hinkmar, das Wormser Konzil von 868, Regino, Burchard, Ivo von Chartres und Gratian haben 125 Landau, Patronat (wie Anm. 111), S. 112. 126 Vgl. Eberhard Sperling, Zur Rechtslage der Patronate, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 21 (1976), S. 244–265. 127 Peter Moraw, Stiftspfründen als Elemente des Bildungswesens im spätmittelalterlichen Reich, in: Studien zum weltlichen Kollegiatstift in Deutschland, hrsg. von Irene Crusius (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 114. Studien zur Germania Sacra 18), Göttingen 1995, S. 270–297, hier S. 274. 128 Daniel Berger, Stift und Pfründe. Die Ausbildung der Kanonikerpräbende im Erzbistum Köln bis 1300 (Studien zur Kölner Kirchengschichte 38), Siegburg 2011, S. 11. 129 VI 1.3.15 (Friedberg 2, Sp. 943): officium […] propter quod beneficium ecclesiasticum datur. 130 Landau, Beneficium (wie Anm. 83), S. 578. 131 Carl Groß, Das Recht an der Pfründe. Zugleich ein Beitrag zur Ermittlung des Ursprunges des Jus ad rem, Graz 1887, S. 21: »Der Ursprung des kirchlichen Beneficialwesens steht im unmittelbaren Zusammenhange mit der allmäligen Errichtung von Kirchen auf dem Lande (außerhalb der bischöflichen Stadt)«. Ulrich Stutz, Lehen und Pfründe, in: ZRG 33 GA 20 (1899), S. 213–247, hier S. 220. 132 Capit. ecclesiasticum c. 10, MGH Capit 1, S. 277, Z. 25–29. Esders/Mierau, Klerikereid (wie Anm. 100), S. 248. Berger, Stiftspfründe (wie Anm. 128), S. 123. Dagegen spricht Ulrich Stutz, Ausgewählte Kapitel aus der Geschichte der Eigenkirche und ihres Rechtes, in: ZRG 57 Kan. 26 (1937), S. 1–85, hier S. 75 von zwei Vermögensmassen, für deren Scheidung jedoch »lediglich der Gegensatz von Zinsfreiheit und Zinspflicht maßgebend« gewesen sei.

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das Kapitular rezipiert133. Johannes VIII. bestätigte es 878 in seinem Schreiben an den Erzbischof von Tours (in erweiterter Form), und die Kölner Provinzialsynode von 887 hat sich ebenfalls darauf berufen134. Daß sich in der Dotation mit der Kirchenhufe das werdende Pfarramt greifen läßt, faßte Gabriel Fournier in den Satz: »La dotation constitua un élément de l’assise juridique et territoriale de la paroisse«135. In den bekannten Freisinger Kirchentraditionen an den Bischof und in der Hergabe dieser Kirchen zu beneficium an den einzelnen Kleriker, also ebenfalls im Bereich des Niederkirchenwesens, sehen Esders und Mierau die Anfänge des kirchlichen Benefizialwesens136. Die Kirchen seien »als Leihegut in Gestalt einer Pfründe vergeben« worden137, und zwar schon zu Ende des 8. Jahrhunderts und vom Bischof 138. Diese Lehen wurden jedoch mit der Leistung eines Treueids verbunden. Da das dem Amtscharakter angemessene kanonische Gehorsamsversprechen diesem Treueid nachgeordnet wurde139, sind – gegen die Autoren – die Freisinger Benefizien doch nur wohl Lehen im weltlichen Sinn und keine Alimentation für die Versehung eines kirchlichen Amtes. Daß das Kirchenkapitular Ludwigs des Frommen »eine vergleichbare Abschichtung« des Kirchenmansus »für die im Besitz der Bistümer befindlichen Niederkirchen eigentlich voraus(setzt)«140, ist eine petitio principii der beiden Autoren. Die Frühdatierung des geistlichen Benefiziums vor das Jahr 800 ist den Verfassern nach meinem Dafürhalten nicht gelungen. Abbo von Fleury nahm um 990 Anstoß daran, daß seine Zeitgenossen den einen Körper der Kirche aufteilten nach dem vom Bischof zu verleihenden altare und nach der ecclesia, für deren Leihe irgendein Herr zuständig sei141. In dem 133 Ansegis I, 85, MGH Capit. N.S. 1, S. 484. Hinkmar, Collectio de ecclesiis et capellis (wie Anm. 26), S. 94 Z. 13–18, S. 107 Z. 14–16. Worms 868 c. 50, Mansi 15 Sp. 878. Regino I c. 24, hrsg. von Wasserschleben (wie Anm. 19), S. 37, hrsg. von Hartmann (wie Anm. 19), S. 50f. C. 23 q. 8 c. 25 (Friedberg 1, Sp. 962 mit Anm. 326). 134 JE 3160. MGH Epp. 7 S. 104 Nr. 112. Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 19), S. 37. – Kölner Synode c. 4 (887), Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter. Bd. 1. 313–1099, bearb. von Friedrich Wilhelm Oediger (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 21,1), Bonn 1954–1961 (ND Düsseldorf 1978), S. 90 Nr. 264: Kein Laie quamvis religiosus soll ohne Zustimmung des Bischofs über Kirchengut verfügen noch aus dem Pfarrgut (ex dote ecclesie id est ex uno manso et quatuor mancipiis) Zins (census) fordern. Vgl. Hartmann, Synoden der Karolingerzeit (wie Anm. 26), S. 360. 135 Gabriel Fournier, La mise en place du cadre paroissial et l’évolution du peuplement, in: Cristianizzazione ed organizazzione ecclesiastica delle campagne nell’Alto Medioevo: Espansione e resistenze, Bd. 1 (Settimane di studio 28, 1), Spoleto 1982, S. 495–563, hier S. 508. 136 Esders/Mierau, Klerikereid (wie Anm. 100), S. 120–145, 249–252. 137 Esders/Mierau, Klerikereid (wie Anm. 100), S. 98. 138 Esders/Mierau, Klerikereid (wie Anm. 100), S. 142. 139 Text bei Esders/Mierau, Klerikereid (wie Anm. 100), S. 4, 77, sowie S. 68–72, 256f. 140 Esders/Mierau, Klerikereid (wie Anm. 100), S. 252. 141 Oben Anm. 105.

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schon im 10. Jahrhundert im heutigen Nordfrankreich wiederholt erwähnten altare wird von Franz Kerff der Ursprung des kirchlichen Benefiziums gesehen. Denn dem altare waren eigene Liegenschaften und namentlich die Oblationen der Gläubigen zugeordnet, der ecclesia vielfach der größere Teil der Zehnten142. Die dem Priester zugewiesenen Einkünfte und Liegenschaften – als letztere werden gelegentlich zwei Hufen genannt – erscheinen in der Überlieferung als presbyteratus oder beneficium presbyteri143. Das von den alten Leiheverträgen her bekannte Wort beneficium bezeichnete nun hier die Dotierung eines Klerikers für die Wahrnehmung seines kirchlichen Amtes144. Vergabungen der Pfarrereinkommen von Kirchen, die nicht mit Pfarrherren (personae) besetzt waren, an Klöster zur Förderung von deren Einkünften wurden für das 11. Jahrhundert in demselben Raum nachgewiesen. Es handelt sich um erste Inkorporationen. Da diese die Existenz des Benefiziums voraussetzen, ist dessen Ausbildung spätestens in das 11. Jahrhundert zu datieren145. Das Rechtsinstitut des kirchlichen

142 Franz Kerff, »Altare« und »ecclesia«. Zur Frühgeschichte des »beneficium ecclesiasticum«, in: Proceedings of the Ninth International Congress of Medieval Canon Law, Munich, 13–18 July 1992, hrsg. von Peter Landau/Joers Mueller (Monumenta Iuris Canonici. Series C: Subsidia, Bd. 10), Città del Vaticano 1997, S. 849–870, hier S. 867. Zur weiteren (altare = ecclesia) und engeren Bedeutung von altare s. aber Wolfgang Petke, Von der klösterlichen Eigenkirche zur Inkorporation in Lothringen und Nordfrankreich im 11. und 12. Jahrhundert, in: RHE 87 (1992), S. 34–72, 375–404, hier S. 59–62. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 191–283, hier S. 212–215. Bernard Delmaire, Le diocèse d’Arras de 1093 au milieu du XIVe siècle. Recherches sur la vie religieuse dans le nord de la France au Moyen Âge, Bd. 1 (Mémoires de la Commission départementale d’histoire et d’Archéologie du Pas-de-Calais 31, 1), Arras 1994, S. 110f. Wood, The proprietary church (wie Anm. 84), S. 697–701, 704–711. 143 J. F. Niermeyer/C. van de Kieft, Mediae Latinitatis Lexicon minus, überarbeitet von J. W. J. Burgers, Bd. 2 M–Z, Leiden-Darmstadt 22002, S. 1091f.: presbyteratus, 3. u. 4. Kerff, Altare (wie Anm. 142), S. 863. Bezeugt sind im 12. Jh. auch das cantuarium sacerdotis, Les chartes des évêques d’Arras (1093–1203), hrsg. von Benoît-Michel Tock (Collection de documents inédites sur l’histoire de France. Section d’histoire médiévale et de philologie. Série in-8o), Paris 1991, S. 191 Nr. 171 (1176), und das presbyterium – beides von Delmaire, Arras (wie Anm. 142), S. 151, allerdings nur als die congrua des Vikars an der inkorporierten Kirche gedeutet – sowie das feodum presbyterii, Petke, Inkorporation (wie Anm. 142), S. 396. Franz Kerff, ›Altar‹ und ›Person‹. Logische Divisionsprobleme und kirchliche Rechtswirklichkeit im 11. und 12. Jahrhundert, dargestellt an Beispielen aus der ehemaligen Diözese Tournai, in: Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter. Rezeption, Überlieferung und gesellschaftliche Wirkung antiker Gelehrsamkeit vornehmlich im 9. und 12. Jahrhundert, hrsg. von Johannes Fried (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien Bd. 27), München 1997, S. 269–296, hier S. 272f. mit Anm. 13. 144 Vgl. Landau, Beneficium (wie Anm. 83), S. 579. 145 Petke, Inkorporation (wie Anm. 142), S. 392. Franz Kerff, Altarbesitz und Inkorporation. Zu Vorformen der Inkorporation in Nordfrankreich während des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Licet preter solitum. Ludwig Falkenstein zum 65. Geburtstag, hrsg. von Lotte Kéry/ Dietrich Lohrmann/Harald Müller, Aachen 1998, S. 33–46. Wood, Proprietary church (wie Anm. 84), S. 701–704.

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Benefiziums ist augenscheinlich in Nordfrankreich seit dem 10. Jahrhundert entstanden, und zwar im Niederkirchenwesen146. Anders als beim Pfarrbenefizium erfolgte bei der Kanonikerpräbende die Radizierung auf ein bestimmtes Vermögen ursprünglich nur mittelbar. Das reservierte oder angewachsene Sondervermögen des Präbendalguts bestand als gemeinschaftlicher Vermögensfonds. Aus diesem empfing der Einzelne mittels verschiedener Reichnisse seinen Unterhalt. Während der Pfarrer sich unmittelbar selbst versorgte, brauchte der Kanoniker seinen Oberen, der ihm das Seine zuteilte147. Obwohl die Kanonikerpräbende nicht der Ursprung des Benefiziums war, begannen sich die Begriffe prebenda und beneficium miteinander zu vermengen. Das zeigt eine Dekretale Alexanders II. (1061–1073) an Klerus und Volk von Lucca. Sie verbot die simonistische Vergabe eines beneficium und erläuterte diesen Begriff mit dem Zusatz: quod quidam canonicam vel prebendas vocant148. Eine zweite Dekretale Alexanders II., die auf die Supplik eines Klerikers aus Verdun hin ergangen war, bezeichnete eine Kanonikerpräbende (canonica) einerseits als beneficium und andererseits als altaria149. Demnach hat Alexander II. die kirchenrechtliche Verwendung des Terminus beneficium in Nordfrankreich und auch dessen Synonym altare gekannt. So war er es, der den Begriff beneficium in seiner kanonistischen Bedeutung in das gemeine Kirchenrecht eingeführt hat150. Bei Gratian sind Präbende und Benefizium gleichgesetzt151 und begannen als zentrale Objekte des Benefizialrechts ihren Lauf in der Geschichte der spätmittelalterlichen Kirche. Das sich seit dem 12. Jahrhundert ausbildende

146 Anders zog noch Landau, Beneficium (wie Anm. 83), S. 579, den städtisch-stiftischen Bereich in Betracht. 147 Berger, Stiftspfründe (wie Anm. 128), S. 120. 148 C. 1 q. 3 c. 9 (Friedberg 1, Sp. 416). Peter Landau, Fälschungen zum Begriff des Benefiziums und der Simonie im Decretum Gratiani – Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des kirchlichen Benefiziums im kanonischen Recht und zu Papst Alexander II., in: Päpste, Pilger, Pönitentiarie. Festschrift für Ludwig Schmugge zum 65. Geburtstag, hrsg. von Andreas Meyer/Constanze Rendtel/Maria Wittmer-Butsch, Tübingen 2004, S. 3–13, hier S. 7 mit Anm. 33, mit gegenüber Friedberg berichtigter Klammersetzung: nullum deinceps episcoporum beneficium ecclesiae (quod quidam canonicam vel prebendas vocant) seu etiam ordines pro aliquo precio vel munere clericis clericis audeant umquam conferre. 149 C. 17 q. 2 c. 1 (Friedberg 1, Sp. 813f.). Text nach Ivo, Dekret 6.428, Migne PL 161, Sp. 538 C. Landau, Fälschungen (wie Anm. 148), S. 11 Anm. 58: Praesentium lator Cosaldus presbyter, ad limina apostolorum veniens, querelam apostolicae sedi deposuit, beneficium et altaria, quae per canonicam Virdunensis ecclesiae obtinere solebat, a quodam diacono, Richerio nomine, sibi ablata esse. 150 Landau, Fälschungen (wie Anm. 148), S. 12f. 151 Oben Anm. 148 und C. 1 q. 3 c. 2 (Friedberg 1, Sp. 412): ecclesias vel ecclesiastica beneficia (que quidam prebendas vocant).

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päpstliche Provisionswesen hat im späteren Mittelalter auch die Pfarrpfründen erfaßt152.

V.

Die Pfarreiorganisation und die Territorialisierung der Pfarrei

Die Erforschung der Stellung der Pfarrkirche im Raum wurde längere Zeit von zwei Begriffen beherrscht, die mehr verunklären als aufklären: Gemeint sind das »Pfarrnetz« und die »Urpfarrei« (oder »Urkirche«). Wenn man die Metapher vom Netz ernst nimmt153, gehört dazu der Fischer, der es ausgestellt oder ausgeworfen hat. Auf die Diözese übertragen, wären die Gläubigen die Fische, der Bischof der Fischer und die Pfarreien die Maschen, in denen sich die Gläubigen verfingen. Dieses Bild ist aber schief. Denn die Gläubigen werden nicht zufällig von der einen oder anderen Pfarrei eingefangen, sondern sind durch Geburt oder Lebensumstände an je eine, für sich bestehende Pfarrei gebunden. Auch eine Assoziation mit dem Schienen-, Straßen-, Linien- oder Telefonnetz verfängt nicht: Diese Netze ermöglichen die Bewegung oder die Kommunikation von Ort zu Ort. Für den Pfarrgenossen gibt es dagegen keine Fluktuation, sondern nur ein Leben in der einen, nämlich seiner Pfarrei. Auch bestanden und bestehen die Pfarreien für sich. Erst im Rahmen von Dekanaten und Archidiakonaten – oder heute von Kirchenkreisen und Sprengeln – sind sie zu größeren Teileinheiten einer Diözese oder Landeskirche zusammengefaßt. Allenfalls diese wären die Netze, wenn denn der Gläubige im Mittelalter für eine Pfarrei frei hätte optieren können. Auf dem Lande hing das davon ab, in wieweit er die Möglichkeit zur Mobilität besaß. 152 Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Bd. 3 Berlin 1883 (ND Graz 1959), S. 113–125, 131–133. Geoffrey Barraclough, Papal Provisions, Oxford 1935, S. 153–156. 153 Vom Pfarr- oder Pfarreinetz sprechen unter anderen Ulrich Stutz, Pfarre, Pfarrer, in: RE 15 (1904), S. 242 Z. 42. Wilhelm Classen, Die kirchliche Organisation Althessens im Mittelalter samt einem Umriß der neuzeitlichen Entwicklung (Schriften des Instituts für geschichtliche Landeskunde von Hessen und Nassau 8), Marburg 1929, S. 43f. Erich Frhr. von Guttenberg/Alfred Wendehorst, Das Bistum Bamberg. Teil 2: Pfarreiorganisation (Germania Sacra. 2. Abt.: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. 1: Das Bistum Bamberg), Berlin 1966, S. 34. Fournier, La mise en place (wie Anm. 135), S. 520, 524 (»réseau paroissial«). Franz Staab, Episkopat und Kloster. Kirchliche Raumerschließung in den Diözesen Mainz, Worms, Speyer, Metz, Straßburg und Konstanz im 7. Jahrhundert durch die Abtei Weißenburg, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 42 (1990), S. 13–56, hier S. 30f. Ders, Mainzer Kirche 1, 1 (wie Anm. 83), S. 187. Erkens, Bistumsorganisation (wie Anm. 67), S. 268, 271. Ders., Das Niederkirchenwesen im Bistum Passau (11.–13. Jahrhundert), in: MIÖG 102 (1994), S. 53–97, hier S. 56, 58f., 63, 68. May, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen (wie Anm. 56), S. 562. Rudolf Schieffer, Die Zeit des karolingischen Großreichs (714–887) (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte 2), Stuttgart 102005, S. 125.

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Von der Metapher des Netzes sollte man daher absehen; ihr ist der freilich blassere Begriff Pfarreiorganisation vorzuziehen. Wird das Pfarrnetz aufgegeben, entfällt auch die Verlockung, es sich zunächst weit und im Laufe des Hochmittelalters immer enger geknüpft vorzustellen, und zwar in der Regel vom Bischof als der obersten geistlichen Autorität der Diözese. Offensichtlich alte oder sehr alte Niederkirchen wurden und werden gelegentlich auch heute noch Urpfarreien, Urkirchen oder, wie von Ferdinand Pauly, Großpfarreien genannt154. Man rechnet sie zu einem ältesten Kernbestand von Taufkirchen, mit dem der Ortsbischof sein Bistum besetzt habe. Eine bischöflicherseits durchgeplante Pfarreiorganisation hat es im Frühmittelalter aber schon wegen des Eigenkirchenwesens nicht gegeben. Deshalb wird das Reden von Urpfarreien richtigerweise zunehmend vermieden155. Auch die alte Anschauung von Albert Werminghoff, daß »die Aufteilung der Diözesangebiete in Pfarrbezirke […] im 9. Jahrhundert grundsätzlich abgeschlossen« war156, wird nicht mehr geteilt. Da sich die Zahl der Pfarreien infolge des Landesausbaus bis zum Ende des 13. Jahrhunderts vervielfacht hat, war der Aufbau der Pfarreiorganisation ein langdauernder Prozeß. Die Pfarreigeschichte in Verbindung mit der Siedlungsgeschichte bleibt im Folgenden aber außer Betracht. Vielmehr soll es um die Bildung der Territorialpfarrei gehen im Zusam154 Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Freiburg i.Br. 1904, S. 375. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die Katholische Kirche, Köln-Wien 51972, S. 183f., 187, 403. Machens, Archidiakonate (wie Anm. 58), S. 59. Pfleger, Elsässische Pfarrei (wie Anm. 119), S. 18, 51. Albert K. Hömberg, Das mittelalterliche Pfarrsystem des kölnischen Westfalen, in: Westfalen 29, (1951), S. 27–47, hier S. 31. Heintz, Landdekanat (wie Anm. 57), S. 27–47, hier S. 23. Edmund E. Stengel, Urkundenbuch des Klosters Fulda, Bd. 1, Marburg 1913–1958, S. 438 Nr. 338, Vorbemerkung (»Täuferkirche«). Guttenberg/Wendehorst, Bamberg (wie Anm. 153), S. 36. Enno Bünz, Der Zehntbesitz des Würzburger Stifts Haug um Hammelburg und die mittelalterliche Besiedlung und Pfarreiorganisation an der Fränkischen Saale, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 54 (1993), S. 175–192, hier S. 182f. Ders., Karte II. Das Bistum Hildesheim zur Zeit Bernwards, in: Bernward von Hildesheim, Bd. 1 (wie Anm. 83), S. 469–474, hier S. 472. Sebastian Kreiker/Uwe Ohainski, Karte VI. Die Urpfarrei Elze, ebd., S. 485–487. Winfried Irgang, Aufbau und Entstehung der Seelsorgeorganisation im östlichen Mitteleuropa, in: La pastorale della chiesa (wie Anm. 21), S. 299–323, hier S. 320f. Richard Puza, Pfarrei, Pfarrorganisation. III. Urpfarreien (Landpfarreien), in: LMA 6, 1993, Sp. 2023f. Ferdinand Pauly, Siedlung und Pfarrorganisation im alten Erzbistum Trier. Zusammenfassung und Ergebnisse (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 25), Koblenz 1976, S. 337. – Hinschius kennt eine Urpfarrei noch nicht. 155 Stahleder, Freising (wie Anm. 83), S. 181. Karl Borchardt, Die geistlichen Institutionen in der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber und dem zugehörigen Landgebiet von den Anfängen bis zur Reformation, Bd. 2 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte 37/1), Neustadt 1988, S. 818 Anm. 44. Kohl, Entstehung der Pfarrorganisation (wie Anm. 85), S. 916 mit Anm. 2, S. 925f. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 68), S. 49f. 156 Adolf Werminghoff, Geschichte der Kirchenverfassung Deutschlands im Mittelalter, Bd. 1, Hannover-Leipzig 1905 (ND Stuttgart 1969), S. 82.

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menhang mit der, wie es Joseph Avril nannte, »lente maturation de l’ institution paroissiale«, der langsamen Reifung der Pfarrei als Institution157. Als einen entscheidenden Schritt hin zur Territorialpfarrei haben namentlich Ulrich Stutz, Karl Heinrich Schäfer und Ernst Perels und dann Josef Semmler die Zehnttermination Karls des Großen von 810/813 bewertet: ut terminum habeat unaquaeque aecclesia, de quibus villis decimas recipiat158. Stutz hatte in der »Pfarrei im eigentlichen Sinn« um 800 eine »Einrichtung vorwiegend vermögensrechtlichen Charakters« gesehen, »kraft welcher die Einwohner eines bestimmten Bezirks nur an eine einzige Kirche und deren Vorsteher für alle, nunmehr mit Gebührenentrichtung […] verbundenen Amtshandlungen sich halten mußten«159. Von dieser Auffassung prinzipiell abzurücken, besteht kein Anlaß. Offenbar bestimmt von der klassischen Latinität, wonach terminus das Grenzzeichen, die damit markierte Grenze, aber doch auch die Grenzmark bezeichnet, versteht Josef Semmler den terminus des Kapitulars als »genau abgegrenztes Zehnteinzugsgebiet«, das »durch Grenzverläufe zu umschreiben« gewesen wäre160. Der Einzugsbereich einer Pfarrei sei von nun an auf den Boden radiziert gewesen. Er bildete »einen Sprengel mit festen Grenzen«; an die Stelle der Personalpfarrei sei die Territorialpfarrei getreten161. Semmlers Beharren auf der alsbaldigen Ausbildung linearer Umschreibungen des Pfarrbezirks als einer Folge der karolingischen Zehnttermination blieb zu Recht nicht unwidersprochen, so von Gabriel Fournier162, der lineare Zirkumskriptionen in Südfrankreich vereinzelt erst im 10. Jahrhundert nachweisen kann163. Andererseits sieht Fournier wie Semmler in der Erhebung des Zehnten durchaus »un des constituants du ressort territorial des paroisses«164. Nach dem 157 Joseph Avril, Permanence de la pastorale post-carolingienne au temps de Gerbert et aux siècles suivants, in: Gerbert. Moine, évêque et pape: d’un millénaire à l’autre. Actes des journées d’étude, Aurillac 9–10 avril 1999, [hrsg. von Joël Fouilleron/Pierre Riché/Paul Poupard u. a.], Aurillac 2000, S. 139–151, hier S. 151. Vgl. Schneider, Seelsorge und Synodalordines (wie Anm. 51), S. 169. 158 Cap. ecclesiastica c. 10, MGH Capit. 1, S. 178 = Ansegis I, 149, MGH Capit. N. S. 1, S. 512. 159 Ulrich Stutz, Pfarre, Pfarrer, in: RE 15 (1904), S. 239–251, hier S. 242. Karl Heinrich Schäfer, Pfarrkirche und Stift im Deutschen Mittelalter (Kirchenrechtliche Abhandlungen 3), Stuttgart 1903 (ND Amsterdam 1962), S. 19f., 23. Ernst Perels, Die kirchlichen Zehnten im karolingischen Reiche. Diss. phil. Berlin 1904, S. 34f. 160 Josef Semmler, Zehntgebot und Pfarrtermination in karolingischer Zeit, in: Aus Kirche und Reich, Festschrift für Friedrich Kempf, hrsg. von Hubert Mordek, Sigmaringen 1983, S. 33– 44, hier S. 37. Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, ausgearbeitet von Karl Ernst Georges, Bd. 2, Hannover 111962, Sp. 3075 (terminus). 161 Semmler, Zehntgebot (wie Anm. 160), S. 41f. 162 Fournier, La mise en place (wie Anm. 135), S. 509, 511f. Die Existenz fest umgenzter Bezirke im 8.und 9. Jahrhundert bestritt bereits Stahleder, Freising (wie Anm. 83), S. 15. 163 Fournier, La mise en place (wie Anm. 135), S. 510–515, S. 554 Nr. 19 (906), S. 556 Nr. 22 (915), S. 557f. Nr. 24 (921). 164 Fournier, La mise en place (wie Anm. 135), S. 515.

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Urteil von Lauwers hätte Semmler den Territorialisierungvorgang bei der Pfarreibildung für die Karolingerzeit zumindest überbewertet165. Schließlich sind Zehntterminationen, das heißt lineare Grenzbeschreibungen, die den Höhenrücken, Straßen, Bächen und Flüssen folgen oder markante Punkte benennen, im Mittelrheingebiet erst seit der Humbach-Montabaurer Limitation von 959 und der Trierer von 960 für Mersch bezeugt, wie Roman Deutinger gezeigt hat. Ihnen schließen sich im Mainzer Erzbistum mit der Umschreibung für Mörschbach von 1006 erst im 11. Jahrhundert weitere Terminationen an166. Die vorgeblich älteren Zirkumskriptionen im Mittelrheingebiet sind Fälschungen aus dem 12. und 13. Jahrhundert, einer Zeit also, in der eine lineare Termination bei Bedarf ganz selbstverständlich praktiziert wurde: Als etwa in Goslar im Jahre 1108 die Frankenbergkirche abgepfarrt wurde, ist ihrem Sprengel derjenige Teil der Stadt zugeschlagen worden, der sich von den Straßen Berningi, Werenheri, Gezmani bis St. Simon und Judas sowie der Pfalzkapelle Unserer Lieben Frau nach Westen hin erstreckte. Noch heute trägt die Bäringerstraße ihren damals zuerst bezeugten Namen167. Zu Unrecht erklärte die Archäologin Élisabeth Zadora-Rio im Jahre 2005 eine solche Limitation zur Ausnahme und die eingangs erwähnte Pfarreidefinition des Hostiensis zur blutleeren Theorie. Stattdessen sieht sie in der Pfarrei ein Phänomen der Miträumlichkeit (»cospatialité«), das sich permanent neu erfinde! Allerdings besitze es eine territoriale Hülle, bei der die Absteckung einer Grenzlinie aber wiederum nachgeordnet sei168. 165 Lauwers, Paroisse (wie Anm. 8), S. 22 Anm. 41. 166 Roman Deutinger, Die ältesten mittelrheinischen Zehntterminationen, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 54 (2002), S. 11–36, hier S. 32–36. Zu Humbach (Rheinisches UB 2, S. 112–116 Nr. 205) noch Thomas Trumpp, Bäche als Grenzen und Grenzen als Bäche. Die Beschreibung der Ränder des Zehntbezirks der Urpfarrei Humbach (Montabaur) in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 26 (2000), S. 7–34. Mersch: Mittelrheinisches UB 1, S. 267 Nr. 207; zur Identifizierung der Ortsbezeichnungen siehe die Sachanmerkungen bei Camillo Wampach, Urkunden- und Quellenbuch zur Geschichte der altluxemburgischen Territorien bis zur burgundischen Zeit 1, Luxemburg 1935, S. 220–223 Nr. 169. Zu den Mainzer Urkunden Franz Staab, Echte Termineiurkunden aus dem früheren Mittelalter und Fälschungen Eberhards von Fulda, in: Fälschungen im Mittelalter. Teil III Diplomatische Fälschungen 1 (Schriften der MGH 33, 3), Hannover 1988, S. 283–313, hier S. 313 mit Anm. 54. 167 UB des Hochstifts Hildesheim 1, S. 150f. Nr. 165: omnes fines ville Goslariensis occidentales a plateis, que˛ dicunturBerningi, Werenheri, Gezmanni usque ad regis capellam et sancte Marie et ad terminum predicte˛ beati Petri e˛cclesie˛ cum universis […] donavimus. Vgl. Karl Frölich, Die Goslarer Straßennamen. Ein Beitrag zur städtischen Verfassungstopographie des Mittelalters und zur vergleichenden Straßennamenforschung (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 90), Gießen 1949, S. 22, 58f. Nr. 16. Graf, Goslar (Anm. 124), S. 48f., und Karte. 168 Élisabeth Zadora-Rio, Territoires paroissiaux et construction de l’espace vernaculaire, in: La paroisse. Genèse d’une forme territoriale (wie Anm. 8), S. 105–120, hier S. 115–118, Zitat S. 117: »Les territoires paroissiaux apparaissent comme des espaces en négociation permanente, constamment redéfinis par les usages. Ils sont le lieu d’une revendication d’ap-

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Man kann im Raum ein unbegrenztes Gebilde sehen, hingegen im Territorium einen von einer Gemeinschaft besetzten Bereich169. Eine Pfarrgemeinde ist eine solche Gemeinschaft. Ihr Mittelpunkt ist die Kirche als der Kultort, zu dem man sich aus den Siedlungen des Kirchspiels begibt, wie es grundherrschaftliche Verhältnisse170, Brauchtum und Gewohnheit erfordern. An die Kirche zahlte man in der Karolingerzeit auch den Zehnten, oder sollte es zumindest tun. Zu allem dem bedarf es nicht der Grenzlinie, die Semmler für eine Pfarrtermination postulierte. Wenn es denn mit Wilhelm Kohl zuträfe, daß das Bistum Münster noch um 1300 keine festen Pfarrgrenzen gekannt hätte171, dann gab es doch die bindende rechtliche Gewohnheit, wonach eine bestimmte Bauerschaft oder ein bestimmtes Gehöft dem Pfarrer einer bestimmten Pfarrei unterworfen waren. Schon nach Hinkmar von Reims hatte jeder Priester in seiner Parochie die ihm zehntpflichtigen Hufen zu ermitteln172. Im Jahre 875 wurden der Klosterpfarrei Werden zehn villulae als zehnt- und sendpflichtig zugelegt sowie alles, was sich zwischen den angeführten Orten befände (quicquid infra hec nominata loca continetur)173. Mit der Aufzählung der Lokalitäten war die Pfarrzugehörigkeit ausreichend verdeutlicht; der Markierung von lokalen Außengrenzen bedurfte es nicht. Eine Limitation nach Flüssen und

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partenance de la part des populations locales, mais la définition de la communauté paroissiale dans son enveloppe territoriale l’emporte sur celle du tracé des limites.« Vgl. Fuhrmann, Territorialisierung (wie Anm. 82), S. 164–168. Piroska Nagy, La notion de ›christianitas‹ et la spatialisation du sacré au Xe siècle: Un sermon d’Abbon de Saint-Germain, in: Médiévales 49 (2005), S. 121–140, hier S. 121. Zur Pfarrzugehörigkeit entsprechend den Grundherrschaften vgl. Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 1. Neu bearbeitet von Friedrich Wilhelm Oediger (Geschichte des Erzbistums Köln., hrsg. von Eduard Hegel u. a.), Köln 21972, S. 217 mit Anm. 14. Der Liber Valoris. Die Erzdiözese Köln um 1300, Heft 1, hrsg. von Friedrich Wilhelm Oediger (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 12. Erläuterungen zum geschichtlichen Atlas der Rheinlande 9), Bonn 1967, S. 39 Nr. 41–42, S. 40 Nr. 45. Vgl. Roger Sablonier, Das Dorf im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter. Untersuchungen zum Wandel ländlicher Gemeinschaftsformen im ostschweizerischen Raum, in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter, Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag, hrsg. von Lutz Fenske/Werner Rösener/Thomas Zotz, Sigmaringen 1984, S. 727–745, hier S. 736. Kohl, Entstehung der Pfarrorganisation (wie Anm. 85), S. 928 zum münsterschen Pfarrsystem: »Unleugbar bestand es um 1300, wenn auch die Pfarreien noch keine festen geographischen Grenzen aufwiesen, sondern reine Personalverbände waren.« Dazu aber unten bei Anm. 201. Hinkmar 2 c. 3, MGH Capit. episc. 2, S. 46: Quot mansos habeat in sua parrochia ingenuiles et serviles aut acolas, unde decimas accipiat. Rudolf Kötzschke, Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr. A. Die Urbare vom 9.– 13. Jahrhundert (Rheinische Urbare 2. Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 20), Bonn 1906 (ND Düsseldorf 1978), S. 34f. § 12 (875). Vgl. Oediger, Regesten Köln 1 (wie Anm. 134), S. 87 Nr. 253: has uillulas segregauit a quibus uel decime˛ […] debeant dari uel que˛ ad ipsam parroechiam et ad synodi conuentum debeant pertinere. Wilhelm Stüwer, Das Erzbistum Köln 3. Die Reichsabtei Werden an der Ruhr (Germania Sacra N. F. 12. Die Bistümer der Kirchenprovinz Köln), Berlin-New York 1980, S. 192.

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Bächen nahm an der Notiz von 875 erst eine Verfälschung frühestens aus dem 11. Jahrhundert vor174. Zugleich macht diese Termination deutlich, wie die Zehntpflicht mit der seit dem späteren 9. Jahrhundert dazukommenden Sendpflicht die Pfarrei konstituiert hat. Denn die Bewohner wie die Zehntherren wußten, wer zehnt- und sendpflichtig war und wer nicht. Auch ohne markierte und gar schriftlich hinterlegte Grenzbeschreibungen war ihre Parochie eine Territorialpfarrei. Da dagegen für Deutinger eine Territorialpfarrei nur ein solcher Bezirk ist, der durch eine Außengrenze umschrieben ist, datiert er diese statt in die Karolingerzeit erst in das Hochmittelalter175. Das ist zu spät, zumal es erst im Zuge des sich vom 9. zum 12. Jahrhundert mächtig intensivierenden Landesausbaus erforderlich wurde, wegen der zunehmenden Siedlungsdichte neben die Aufzählung von Siedlungen auch die Beschreibung von deren lokalen Grenzen treten zu lassen. Neue Kirchen, auch Eigenkirchen, durften nach dem Kapitular von Salz (803) und nach dem Mainzer Konzil von 813 bestehende ältere Kirchen an ihren Zehnten nicht schmälern176. Diese Vorgaben hätte allerdings zu riesigen Zehntbezirken führen müssen und sind deshalb nicht befolgt worden. Ludwigs des Frommen Kirchenkapitular konzedierte daher, daß in Rodungssiedlungen die in den Rodungen neu errichteten Kirchen zehntberechtigt werden.177. Streitigkeiten waren damit freilich programmiert: Denn was war eine villa nova und was dagegen nur eine Ausbausiedlung? Hier schuf erst das Konzil von Trebur 895 Klarheit: Ausbausiedlungen in der Nähe einer alten Kirche blieben dieser gegenüber zehntpflichtig. Ein eigenes Zehntrecht erhielten dagegen neue Kirchen in solchen Rodungen, die mindestens vier oder fünf Meilen von der Altsiedlung entfernt lagen: Der Grundherr sollte dann den neuen Zehnten der neuen Kirche entrichten178. 174 Oediger, Regesten Köln 1 (wie Anm. 134), S. 87 Nr. 253, Nachbemerkung (= Textzeuge B). 175 Deutinger, Zehntterminationen (wie Anm. 166), S. 36: »Der Übergang von der Personalzur Territorialpfarrei, für den die Festlegung genauer Bezirke charakteristisch ist, fällt jedenfalls erst in die Zeit der Rodung und Kolonisation im Hochmittelalter.« 176 Salz c. 3, oben Anm. 90. – Mainz c. 41 (813), MGH Conc. 2, 1 S. 271: ecclesiae antiquitus constitutae nec decimis nec aliis possessionibus priventur, ita ut novis oratoriis tribuantur. Rezipiert von Mainz (888) c. 13, Mansi 18, Sp. 68. Vgl. Hartmann, Synoden der Karolingerzeit (wie Anm. 26), S. 362. 177 Capit. ecclesiasticum c. 12, MGH Capit. 1 S. 277: Sanccitum est de villis novis et ecclesiis in eisdem noviter constructis, ut decimae de ipsis villis ad easdem ecclesias conferantur. 178 Trebur c. 14 (895), MGH Capit. 2 S. 221: Si quis autem in affinitate antiquae ecclesiae novalia rura excoluerit, decima exinde debita antiquae reddatur ecclesiae. Si vero in qualibet silva vel deserto loco ultra miliaria IV aut V vel eo amplius aliquod dirutum conlaboraverit et illic consentiente episcopo ecclesiam construxerit et consecratam perpetraverit, prospiciat presbyterum ad servitium Dei idoneum et studiosum, et tunc demum novam decimam novae reddat ecclesiae, salva tamen potestate episcopi. Vgl. Hartmann, Synoden der Karolingerzeit (wie Anm. 26), S. 368.

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Daß der Pfarrbereich und der Zehntbereich übereinstimmten, belegt das schon eingangs erwähnte c. 14 des Kapitulars Erzbischof Theodulfs von Orléans von vor 813: Kein Priester verführe die Gläubigen des Priesters einer anderen Pfarrei, daß sie zu seiner Kirche gelaufen kommen und unter Vernachlässigung ihrer zuständigen Kirche (propria ecclesia) ihre Zehnten ihm geben, sondern ein jeder Priester sei mit seiner Kirche und seinem Pfarrvolk zufrieden179. Nach dem ebenfalls schon angeführten Kapitular Herards von Tours (858) war terminus der karolingerzeitliche Begriff für den Zehntbezirk und gleichbedeutend mit Pfarrei.180 Das war aber bei weitem nicht die einzige Bedeutung des Wortes! In den fuldischen Traditionen bezeichnet terminus, im Plural verwendet, die Feldmark181. Als Zehntort war in der Karolingerzeit die Pfarrkirche vorgesehen. Als Ablieferungsort legte c. 19 von Chalon-sur-Sâone (813) diejenige Kirche fest, an der die Gläubigen ihre Kinder taufen ließen und wo sie im Jahreslauf die Messe hörten (ibi dent decimas suas, ubi infantes eorum baptizantur, et ubi per totum anni circulum missas audiunt)182. Der Zehntort war auch der Begräbnisort: Ubi decimam persolvebat vivus, sepeliatur mortuus183. Zugrunde gelegt sind agrarische Lebensverhältnisse. Auch ein Diplom Ottos I. für Volterra von 966 bestimmt pragmatisch, jeder solle an jene Taufkirche zehnten, bei der er wohne oder bei der er seinen Hof oder Vermögen besitze184. Ohne Schnede und Grenzstein war somit einem jedem klar, zu welcher Pfarrkirche und in welche Pfarrei er gehörte. Vergabungen von Kirchen nebst ihren Zehnten sind seit dem 10. Jahrhundert häufig185. Abpfarrungen, in Katalonien schon seit dem 9. Jahrhundert und in 179 Theodulf 1 c. 14, MGH Capit. episc. 1, S. 112f.: Nullus presbyter fidelibus sanctae dei ecclesiae de alterius presbyteri parrochia persuadeat, ut ad suam ecclesiam concurrant relicta propria ecclesia et suas decimas sibi dent, sed unusquisque sua ecclesia et populo contentus. Vgl. Radulf von Bourges (853–866) c. 15, MGH Capit. episc. 1, S. 244: Rubrik: De parrochianis et de parrochia alterius et de clericis alienis: […] Nec decimas alteri debitas audeat recipere, sed unusquisque sua ecclesia et populo contentus. 180 Herard von Tours c. 30, oben bei Anm. 14. Daß der Übergriff in den Zehntbezirk eines anderen verboten wird, legt nahe Ansegis I, 149, MGH Capit. N. S. 1, S. 512, oben Anm. 158. 181 Ernst Friedrich Johann Dronke, Codex diplomaticus Fuldensis, Kassel 1850, S. 176 Nr. 389 (819): in terminis uillarum Uestheim et Elsipa […] hobas et curtem. S. 182 Nr. 404 (823): res […] in terminis uillae Kizziche. S. 184 Nr. 408 (823): quicquid terrae arabilis et in siluis in terminis uillae Ostheim. S. 185 Nr. 410 (823): in eodem fonte qui est in terminis Chizzihheimero in pago Salageuue. S. 208 Nr. 472 (827) unam capturam in terminis uillae Sundheim. 182 Chalon c. 19 MGH Conc. 2, 1 S. 277. 183 Trebur (895) c. 15, MGH Capit. 2, S. 221f. Vgl. Fournier, La mise en place (wie Anm. 135), S. 516. 184 DO.I. 334 (966): sancimus ut unusquisque homo ad baptismales aecclesias decimas det in quibus habitare videtur vel curtes aut res habere dignoscitur. 185 DO.I. 99 (948): ecclesiam cum decimis suis. DO.I. 116 (950): ecclesiam unam cum decimis in loco Burg dicto constructam. Erzbischof Wichfried von Köln, Rheinisches UB 2, S. 201–203 Nr. 248 (941): ecclesiam in villa Brienich constructam cum universa decimatione ad illam

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Südfrankreich schon seit dem 10. Jahrhundert belegt186, sind in Deutschland seit dem 11. Jahrhundert dokumentiert: Bischof Immad von Paderborn (1051–1076) trennte drei Bauerschaften von dem Kirchort (Alt-) Lügde (Liuithi) und legte sie zu der neu errichteten und geweihten Kirche in Oesdorf (Odisthorp) östlich von Pyrmont187. Nach der in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entstandenen Gründungsgeschichte der Hildesheimer Kirche hatten sich von Elze an der Leine die Kirchen in Wallensen, Oldendorf und Eldagsen – alle drei westlich von Elze – dadurch abgepfarrt, indem sie das Taufrecht usurpierten188. Elze und Wallensen werden zum Jahr 1068 gleich noch einmal zu erwähnen sein189. Im 12. Jahrhundert und 13. Jahrhundert sind Abpfarrungen im Altsiedelland recht geläufig. Abpfarrungen haben die Existenz von Territorialpfarreien zur Voraussetzung. Für eine rechtmäßige Dismembration verlangte das kanonische Recht seit dem späten 12. Jahrhundert das Vorliegen einer iusta causa, da sie die Rechte der bisherigen Pfarrei schmälerte. Gerechte Gründe waren die Schwierigkeiten des Weges beim Kirchgang oder bei der Kirchfahrt und auch eine übergroße Zahl von Pfarrkindern in der bisherigen Pfarrei190. Die Errichtung einer Pfarrei war und blieb Sache des Bischofs. Von der Vorstellung, daß Feld und Wald lückenlos eingepfarrt und überall mit einem Zehntherrn zu rechnen wäre, ging die Regel des Eremitenordens der Grammontenser (1140 bis 1150) aus: »Erbittet aber mit frommem Flehen die Zehnten von Eurer Hände Arbeit vom Ortsbischof, von dem Priester, in dessen Parochie ihr leben werdet oder von jedwedem Zehntbesitzer. Wenn diese Zehnten euch dann überlassen werden, haltet sie keineswegs zurück, sondern gebt sie

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penitus pertinente. Erzbischof Anno von Köln, UB Siegburg S. 14 Nr. 8, Oediger, Regesten Köln 1 (wie Anm. 134), S. 319–321 Nr. 1060 (1075): aecclesiam in Bleisa cum dotali manso et decima et aecclesiam in Hanafo cum decimis et manso dotali, quas a canonicis Bunnensibus per concambium sumpsimus. Erzbischof Sigwin von Köln, Rheinisches UB 2, S. 262f. Nr. 278 (1085): aecclesiam in villa Suelme sitam cum decimatione omnique utilitate. Fournier, La mise en place (wie Anm. 135), S. 539, 544, 545, 547, 550. Erhard, Codex diplomaticus Westfalie 1, S. 114 Nr. 145: tres villas Odisthorp, Lauenhusun, Thesperi ad e˛cclesiam, que˛ in Odisthorpe sita et consecrata est, terminaret. Zu (Alt-) Lügde siehe Harald Kindl, Die Pfarreien des Bistums Paderborn bis zum Tode Bischof Meinwerks 1036, in: Felix Paderae civitas. Der heilige Liborius 836–1986, hrsg. von Hans Jürgen Brandt/Karl Hengst (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 24), Paderborn 1986, S. 48–101, hier S. 64. Oestorf östl. Pyrmont: Westfälisches UB 4, Register, S. 1365. Fundatio ecclesiae Hildensemensis c. 2, hrsg. von Adolf Hofmeister (MGH SS 30, 2), Leipzig 1926, S. 942 Z. 25–29. Vgl. Kreiker/Ohainski, Urpfarrei Elze (wie Anm. 154), S. 487 (Karte). Unten bei Anm. 204. Alexander III. X 3.48.3 [tit.: de ecclesiis aedificandis vel reparandis] (Friedberg 2, Sp. 652f.). Coelestin III. X 3.48.6 (Friedberg 2, Sp. 654). Franz Triebs, Die Lehre des kanonischen Rechts von der Teilung der Pfarrei, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 96 (1916), S. 361–383, 529–545, hier S. 367f., 376.

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getreulich den anderen Armen«191. Alexander III. wies wie die schon erwähnten Beschlüsse von Salz (803) und Mainz (813) in einer Dekretale an den Bischof von Brixen Rodungszehnten derjenigen Pfarrei zu, in der sie anfielen. Nur wenn sie in einer nicht sicher bestimmbaren Pfarrei aufwüchsen (non sunt in certa parochia), sollte sie sich der Bischof reservieren oder einer dritten Pfarrei zuweisen192. Es wird an den Fall gedacht worden sein, daß bisheriges Ödland, zum Beispiel im Gebirge, bewirtschaftet wurde. Die Territorialpfarrei ist also seit der Karolingerzeit existent und wurde im Laufe des Hochmittelalter so manifest, daß man seit dem 11. Jahrhundert dazu übergehen konnte, die Lage von Ländereien, zehntpflichtigen Höfen und sogar Grafschaften nach Parochien zu bestimmen193. Von zwei Forsten, die 1083 an Kloster Deutz gelangten, lag der eine in termino basilice˛, que˛ sita est in villa Rigemaga (Remagen) […], altera in termino e˛cclesie˛, que˛ est in villa Aescuuilere (Eschweiler über Feld).194 Bischof Wido von Osnabrück erwarb 1096/97 den Hof Hengelage im Kirchspiel (parrochia) Versmold195, zwei bewirtschaftete Hufen im Kirchspiel Hagen und eine unbesetzte Hufe im Kirchspiel Bramsche196. Bischof Werner von Münster verfügte 1134 über den Zehnten von Dünninghausen (Dunhinchusen) im Kirchspiel Beckum197, ein Nachfolger 1176 über einen Zehnten aus der Bauerschaft Marca im Kirchspiel Winterswijk198 und 1181 über einen Zins von drei Schillingen aus dem Kirchspiel Laar, von denen ein Schilling aus dem Haus des Albert, der zweite aus dem Haus des Berthold und der dritte aus dem Haus des Winemar in der Bauerschaft Altenburg erlöst werden soll191 Regula venerabilis viri Stephani Muretensis auctore Stephano de Liciaco, priore quarto Grandimontensi (a. 1139–1163) c. 32, in: Scriptores ordinis Grandimontensis, hrsg. von Jean Becquet (CC Cont. Med. 8), Turnhout 1968, S. 84: Quin etiam decimas laboris uestri ab ipso pontifice, et a sacerdote in cuius parochia manebitis, nec non a ceteris earum possessoribus, piis precibus postulate. Cum uero uobis datae fuerint, nequaquam eas retinere, uerum etiam ceteris pauperibus fideliter debetis reddere. 192 Alexander III. an den Bischof von Brixen, JL 13788 = X 3.30.13 (Friedberg 2, Sp. 560): Rubrik: Decimae novalium debentur ecclesiae, in cuius parochia surgunt; si vero non sunt in certa parochia, debentur dioecesano; qui potest sibi retinere, vel alteri ecclesiae concedere. Vgl. Oediger, Geschichte des Erzbistums Köln 1 (wie Anm. 170), S. 235. 193 Dazu für Clermont seit dem 12. Jh.: François Comte/Emmanuel Grélois, La formation des paroisses urbaines: Les exemples d’Angers et de Clermont (Xe–XIIIe siècles), in: Médiévales 49 (2005), S. 57–72, hier S. 67f. 194 Oediger, Regesten Köln 1 (wie Anm. 134), S. 347 Nr. 1151. Rheinisches UB 1 S. 209f. Nr. 143 (1083). 195 Osnabrücker UB 1, S. 184 Nr. 212 (1096): predium nomine Hengilaga in parrochia Fersmel. 196 Osnabrücker UB 1, S. 188 Nr. 216 (1097): in parrochia Hagen (Hagen) duos mansos possessos et in parrochia Bramezche˛ (Bramsche) unum mansum vastum. 197 Osnabrücker UB 1, S. 209 Nr. 255 (1134): in parrochia Bikeheim (Beckum) in villa que˛ dicitur Dunhinchusen. Dünninghausen im Kirchspiel Beckum: Westfälisches UB 8, S. 736 (Register). 198 Erhard, Codex diplomaticus Westfalie 2, S. 133 Nr. 381 (1176): decem moltia siliginis de decima quadam sita in parochia Winterswich in villa que dicitur Marca. Winterswijk in der holländischen Provinz Gelderland: Westfälisches UB 8, S. 861 (Register).

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ten199. Derselbe Bischof erwarb 1186 von Cappenberg einen Zehnten, der unter anderem aus einem Haus in Aldendorp im Kirchspiel Seppenrade zu zahlen war200. Angesichts solcher Lokalisierungen ist die schon erwähnte Auffassung von Wilhelm Kohl, das Bistum Münster habe noch um 1300 keine Pfarreien mit festen lokalen Grenzen gekannt201, nicht nachvollziehbar. Bemerkenswert ist die Lokalisierung von Komitaten nicht mehr nur nach Gauen, sondern auch nach Kirchspielen: Heinrich III. verlieh 1051 dem Bischof von Hildesheim einen Komitat der Brunonen, der sich über sechs Gaue erstreckte, darunter die Gaue Gretingau und Mulbeze, und namentlich über elf Kirchspiele, dabei die Pfarreien Hankensbüttel in der Südheide und Beedenbostel und Wienhausen östlich von Celle202. Hankensbüttel und Beedenbostel lagen im zuvor genannten Gretingau, Wienhausen an der Aller im aufgeführten Gau Mulbeze203. Heinrich IV. bestätigte 1057 diese Übertragung nahezu wortwörtlich. Unvollzogen blieb dagegen das 1068 von einem Hildesheimer Empfängerschreiber mundierte Diplom, das dem Bischof die Grafschaft eines Grafen Friedrich und von dessen Sohn Konrad in den Gauen Waledungun, Aringun und Guddingun beziehungsweise in den Kirchspielen Elze, Rheden, Freden und Wallensen verlieh204. In dem dann 1069 tatsächlich vollzogenen Diplom des Königs sind die Namen der Parochien ersetzt durch die geographische Angabe iuxta fluvios Lôyna et Alera, also durch die Leine und die Haller, die bei Nordstemmen von Westen kommend in die Leine fällt205. Obwohl das an der Spitze der Urkundenreihe stehende DH.III. 279 ein Kanzleiprodukt ist, wird die originelle Lokalisierung der Grafschaften mittels der Kirchspiele kaum in der Kanzlei erfunden worden sein; denn der Diktator (und Schreiber) Eberhard A war nach Paul Fridolin Kehr kein einfallsreicher Kopf: »Er war« – wie Kehr so unnachahmlich formulierte – »der typische Kanzleirat, eine durchaus subalterne Figur, unselbständig und doch konservativ«. So dürfte die in-parochia Angabe im 199 Erhard, Codex diplomaticus Westfalie 2, S. 157f. Nr. 417 (1181): Similiter in parochia Lare tres solidos, unum de domo Alberti, alium de domo Bertoldi, tercium de domo Winemari in Veteri urbe. 200 Erhard, Codex diplomaticus Westfalie 2, S. 186f. Nr. 465 (1186): de domo una in villa Aldendorp in parrochya Seprade. 201 Oben bei Anm. 171. 202 DH.III. 279: comitatum […] in publicis aecclesiarum parrochiis […] situm. Nachurkunde: DH.IV 22 (1057). 203 Vgl. Tania Brüsch, Die Brunonen, ihre Grafschaften und die sächsische Geschichte. Herrschaftsbildung und Adelsbewußtsein im 11. Jahrhundert (Historische Studien 459), Husum 2000, S. 152f. 204 DH.IV. 206 (1068): comitatum […] in his publicis aecclesiarum parroeochiis Alicga, Redun, Fredenon, Walenhvson situm. Elze, Rheden und Freden an der Leine, Wallensen westnordwestlich von Alfeld und südöstlich von Salzhemmendorf. 205 DH.IV. 219. Vgl. Hartmut Hoffmann, Grafschaften in Bischofshand, in: DA 46 (1990), S. 375–480, hier S. 409 mit Anm. 119.

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Umkreis des Hildesheimer Bischofs Azelin kreiert worden sein206. Da der Gau dem Bedürfnis nach exakter Lokalisierung offenbar nicht mehr genügte, sah man in der Nennung der Kirchspiele die bessere Lösung. Denn das Kirchspiel war nicht nur Siedlungsraum, sondern ein Rechtsbezirk. Die Kölner Sondergemeinden mit ihren seit den 1130er Jahren geführten Schreinskarten waren und hießen parochiae, Kirchspiele207. Als von Grenzen umfaßter locus wurde die parochia, wie erwähnt, bereits um 1250 vom Hostiensis bestimmt208. Im Spätmittelalter wird das Kirchspiel vielfach zur Lokalisierung bei Stiftungen oder bei Steuereintreibungen benutzt. Daß sein Bezirk als solcher nicht unmittelbar sinnlich wahrgenommen werden kann, erfährt heute jeder, der in eine Großstadt neu zuzieht und sich auf die Suche nach seinem Bezirksamt und vielleicht auch nach seiner zukünftigen Kirchengemeinde macht: Das Glockengeläut ist konfessionell indifferent. Die schließlich gefundene Gemeinde wird er dann allerdings vornehmlich in ihrer personalen Dimension und kaum in ihrer territorialen erleben.

VI.

Das Pfarrvolk und seine Rechte an der Kirche

Seit der Karolingerzeit durch den Pfarrzwang und seit dem IV. Laterankonzil durch die alljährliche private Pflichtbeichte seinem eigenen Priester (proprius sacerdos) unterworfen209, spielte das Pfarrvolk als Subjekt erst seit dem 12. Jahrhundert eine Rolle: als eine treibende Kraft bei Kirchengründungen, bei der Pfarrerwahl, bei der Verwaltung der Kirchenfabrik. Diese genossenschaftlichen Aktivitäten sind Ausdruck und Folge jener Freiheitsbewegung des 12. Jahrhunderts, die mit der Entstehung der Landgemeinde, der städtischen Kommune und auch der Universität ihre bis heute wirksamen Spuren hinterlassen hat210.

206 Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser. 5 Die Urkunden Heinrichs III., hrsg. von Harry Bresslau (†) und Paul Kehr (MGH DD), Berlin 1931, S. LI. Brüsch, Brunonen (wie Anm. 203), S. 183. 207 Manfred Groten, Die Anfänge des Kölner Schreinswesens, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 56 (1985), S. 1–21, hier S. 3f., 14f. 208 Oben bei Anm. 8. 209 Lateran IV c. 21, Wohlmuth, Dekrete 2 (wie Anm. 109), S. 245: Omnis utriusque sexus fidelis, postquam ad annos discretionis pervenerit, omnia sua solus peccata confiteatur fideliter, saltem semel in anno proprio sacerdoti. Avril, Proprius sacerdos (wie Anm. 38), S. 471f. Ohst, Pflichtbeichte (wie Anm. 19), S. 31–41. Schon im 10./11. Jahrhundert gibt es Hinweise auf die private Buße, Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 19), S. 314– 316. 210 Vgl. Dietrich Kurze, Zur historischen Einordnung der kirchlichen Bestimmungen des Andreanums, in: Zur Rechts- und Siedlungsgeschichte der Siebenbürger Sachsen (Siebenbürgisches Archiv 8), Köln-Wien 1971, S. 133–161, hier S. 142, 148, 157–159; Wiederabdruck

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Dorfgemeinschaften dotierten und errichteten ihre eigenen Kirchen und betrieben ihre Abpfarrung von der bisherigen Pfarrkirche. Die Äbtissin des Marienklosters in Gandersheim und weitere possessores in Sebexen, am äußersten nördlichen Rand des Erzbistums Mainz gelegen, errichteten 1145 eine Kirche, die Erzbischof Heinrich I. weihte und von † Weißwasser bei Kalefeld abpfarrte, indem er ihr das Tauf- und Sepulturrecht verbriefte; zudem verlieh er dem populus das Pfarrerwahlrecht, vorbehaltlich der Zustimmung des Propstes von Nörten als des zuständigen Archidiakons211. Nach der Lehre der Kanonisten führten drei Tatbestände zur Entstehung eines Patronats: die Bereitstellung eines Grundstücks für die Kirche, ihre Erbauung und ihre Dotierung: Patronum faciunt dos, edificatio, fundus212. Jeder dieser drei Tatbestände ließ selbständig einen Patronat entstehen und gegebenenfalls einen Kompatronat213. Diesen scheinen die Grundbesitzer in Sebexen zusammen mit der Äbtissin innegehabt zu haben; denn die Äbtissin war erst seit 1352 unangefochten alleinige Patronin der Pfarrei. Im Jahre 1147 errichteten die Bewohner (commorantes in villa) von (Salzgitter-) Ohlendorf in ihrem Ort eine Kirche (cappella), dotierten sie mit zwei Hufen und einem Grundstück und erbaten vom Hildesheimer Bischof ihre Trennung vom Kirchspiel Groß Flöthe. Dessen Kirche hatten sie aber weiterhin bei erforderlichen Reparaturen und Baumaßnahmen und beim Erwerb von Glocken und liturgischen Büchern zu unterstützen, so wie das auch alle anderen dorthin eingepfarrten Dörfer (villae) täten. Verliehen wurde den Ohlendorfern das Pfarrerwahlrecht. Die Fundierung, der Bau und die Dotierung waren dafür offenbar die rechtliche Voraussetzung. Einen Gemeindepatronat vermochten sie aber nicht zu behaupten. Im Spätmittelalter besaß die stiftshildesheimische Familie von Rössing den Patronat214. Das Kirchspiel Lühnde (Diözese Hildesheim) mußte gleich mehrfach Einbußen hinnehmen: Im Jahre 1117 wurde von ihm auf Initiative des Grafen Adalbert von Haimar das sieben Kilometer entfernte Dorf Evern abgepfarrt215. Als Bischof Adelog von Hildesheim 1178 die Dörfer Groß und Klein Lobke dismembrierte,

211

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in: Ders., Klerus, Ketzer, Kriege und Propheten. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Jürgen Sarnowsky/Marie-Luise Heckmann/Stuart Jenks, Warendorf 1996, S. 134f., 140, 150–152. Mainzer UB 2, S. 154–156 Nr. 78. Dietrich Kurze, Pfarrerwahlen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Gemeinde und des Niederkirchenwesens (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 6), Köln-Wien 1966, S. 156. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 68), S. 59f. Johannes Teutonicus († 1245), Glossa ordinaria ad C. 16 q. 7 c. 26 ad v. »Piae mentis«, Zitat nach Landau, Jus patronatus (wie Anm. 110), S. 18. Vgl. Sieglerschmidt, Territorialstaat (wie Anm. 121) S. 55–91. Landau, Jus Patronatus (wie Anm. 110), S. 16–28. Landau, Patronat (wie Anm. 111), S. 106f. UB des Hochstifts Hildesheim 1, S. 232f. Nr. 246. Kurze, Pfarrerwahlen (wie Anm. 211), S. 145f., 237. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 68), S. 61. UB des Hochstifts Hildesheim 1, S. 157 Nr. 174.

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waren die Einwohner (homines) der beiden Dörfer bereits zur Tat geschritten: Sie hatten in Groß Lobke eine Kirche gebaut und mit zwei Hufen dotiert. Der Lühnder Kirche, die sie durch die Überlassung einer Hufe entschädigten, blieben sie bei Reparaturen und bei Brand zur Hilfe verpflichtet. Ein Pfarrerwahlrecht erhielten sie offenbar nicht216. Eine Generation später, im Jahre 1207, waren es Nachbarn (cives) in Sehnde, die sich eine eigene Kirche errichteten, um bequemer den Gottesdienst aufsuchen zu können (pro divino servicio commodius frequentando). Lühnde entschädigten sie durch die Zahlung von zwei Mark Silber und durch die Überlassung einer Hufe, aus deren Erträgen jährlich zwei Schillinge für das Lühnder Lichtergut (luminaria) aufgewendet werden sollten217. Fälle wie diese, denen weitere aus Altsachsen (Osnabrück, Halberstadt) an die Seite gestellt werden könnten, sind vor mehr als vierzig Jahren von Dietrich Kurze gebührend bekannt gemacht worden; sie belegen die Existenz eines freien Bauernstandes, der selbstbewußt, aber auch opferbereit die Gestaltung der ihn unmittelbar betreffenden Pfarrverhältnisse in die Hand genommen hat. Im Bistum Hildesheim standen im 15. Jahrhundert achtzehn Landkirchen unter Gemeindepatronat218. Ob diese achtzehn alle von Gemeinden fundiert, errichtet oder dotiert worden sind, ist eine offene Frage; denn auch Patronate wechselten den Besitzer, wurden verlehnt, vererbt und verkauft. Daß sich die genossenschaftlichen Kräfte des 12. Jahrhunderts auch auf die Pfarreiorganisation auswirkten, markiert auf jeden Fall einen bedeutenden Wandel gegenüber dem Frühmittelalter219. Aktiv am Leben der Pfarrei beteiligt wurden Repräsentanten der Pfarrgemeinde schließlich durch die Verwaltung der Kirchenfabrik. Dem Unterhalt des Kirchengebäudes und speziell seiner Beleuchtung zugewendete Einkünfte und Vermögen sind seit dem 5. Jahrhundert bekannt. Sie hießen Fabrikvermögen (fabrica) oder Lichtergut (luminare, luminaria)220. Während das Lichtergut an klösterlichen und stiftischen Kirchen schon seit dem Frühmittelalter relativ gut

216 UB des Hochstifts Hildesheim 1, S. 365f. Nr. 383. Kurze, Pfarrerwahlen (wie Anm. 211), S. 147. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 68), S. 61f. 217 UB des Hochstifts Hildesheim 1 S. 588f. Nr. 617. Kurze, Pfarrerwahlen (wie Anm. 211), S. 147f. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 68), S. 62. 218 Vgl. Kurze, Pfarrerwahlen (wie Anm. 211), S. 254–257. 219 Gleich zwei bäuerliche Kirchen in einer Pfarrei sind freilich schon 993 in Riufarré bei Arles belegt, Fournier, La mise en place (wie Anm. 135), S. 562 Nr. 28. 220 Sebastian Schröcker, Die Kirchenpflegschaft. Die Verwaltung des Niederkirchenvermögens durch Laien seit dem ausgehenden Mittelalter (Veröffentlichungen des Görres-Gesellschaft für Rechts- und Staatswissenschaft 6), Paderborn 1934, S. 70–74. Novum glossarium Mediae Latinitatis, Fasz. L, bearb. Franz Blatt, Kopenhagen 1957, Sp. 215f. (luminare). Niermeyer/van de Kieft, Lexicon minus (wie Anm. 143), Bd. 1, A–L, S. 528 (fabrica). Brückner, Pfarrbenefizium (wie Anm. 120), in: ZRG 116 Kan. 85 (1999), S. 305.

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dokumentiert ist221, weiß man von Fabriken städtischer Pfarrkirchen erst seit dem 13. Jahrhundert; mit ihren farbenfrohen Details werden sie dann seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts durch die erhaltenen Rechnungen greifbar. Die Fabrik wurde von mindestens zwei der Pfarrgemeinde angehörenden Laien verwaltet222. Sie hießen je nach Landschaft Fabrikmeister, Heiltumspfleger, Zechmeister, Alderleute und in Schlesien und in Preußen Kirchenväter223. Fabrikvermögen an ländlichen Niederkirchen beziehungsweise Baulasten der Pfarrgemeinden werden im Trierer Raum seit dem 11. Jahrhundert erwähnt, laikale Kirchenpfleger aber erst seit dem 14. Jahrhundert224. Einzelne Kölner Niederkirchen auf dem Lande kennen Kirchenpfleger dagegen schon im 12. Jahrhundert225. Auch an ländlichen Pfarrkirchen Frankreichs sind seit der Mitte des 12. Jahrhunderts Fabriken bezeugt226. Daß das 1207 erwähnte Lühnder luminare schon von eigenen Pflegern verwaltet wurde, ist also möglich, aber nicht sicher. Anderthalb Jahrhunderte später, seit 1346, sind dagegen die Kirchenfabrik und Alderleute der Kirche von Wienhausen bezeugt, die immer Pfarrkirche gewesen und bis heute geblieben ist: Die Nonnen saßen und sitzen auf dem im 14. Jahrhundert an die Kirche angebauten Nonnenchor. Die den Alderleuten übergebenen Stiftungsurkunden hatten sich als besonderer, in der Pfarre verwahrter Bestand bis in die Gegenwart erhalten. Diese kostbaren Zeugnisse der Selbstverwaltung einer spätmittelalterlichen Landkirche gingen erst 1967 verloren – paradoxerweise im Zuge der Rückführung von einer Sicherheitsverfilmung227.

VII.

Schluß

Die Pfarrei war im Mittelalter Alltagserfahrung für jedermann. Nirgendwo sonst begegnete der Gläubige so unmittelbar der Kirche. Vom Früh- zum Hochmittelalter sind bei der Pfarrei als Institution folgende Wandlungen zu konstatieren: 221 Wolfgang Schöller, Die rechtliche Organisation des Kirchenbaues im Mittelalter vornehmlich des Kathedralbaues. Baulast – Bauherrenschaft – Baufinanzierung, Köln 1989, S. 124–132. 222 Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters: Politik, Wirtschaft und Verwaltung (VSWG Beihefte 177), Wiesbaden 2005, S. 34, 103f. 223 Schroecker, Kirchenpflegschaft (wie Anm. 220), S. 172–203. 224 Brückner, Pfarrbenefizium (wie Anm. 120), in: ZRG 116 Kan. 85 (1999), S. 311–319. 225 Oediger, Geschichte des Erzbistums Köln 1 (wie Anm. 170), S. 224 mit Anm. 1. Brückner, Pfarrbenefizium (wie Anm. 120), in: ZRG 116 Kan. 85 (1999), S. 319. 226 Michel Aubrun, La paroisse en France des origines aux XVe siècle, Paris 22008, S. 141. 227 Wolfgang Petke, Mittelalterliche Stifts- und Klosterkirchen als Pfarrkirchen, in: Frauenstifte, Frauenklöster und ihre Pfarreien, hrsg. von Hedwig Röckelein (Essener Forschungen zum Frauenstift 7), Essen 2009, S. 31–53, hier S. 50f. mit Anm. 101. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 167–188, hier S. 185, Anm. 101.

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1. Der Bischof hat seine Autorität über alle Pfarrkirchen allmählich durchgesetzt und ist spätestens im 12. Jahrhundert zum Inhaber der bischöflichen Jurisdiktionsgewalt über Klerus und Laien geworden. Als intermediäre Gewalten wurden Dekane und vor allem Archidiakone tätig. 2. Die laikale Eigenkirche wurde in das Bistum integriert und im 12. Jahrhundert durch die neue Rechtsfigur des Patronats vom direkten Zugriff der Laien befreit – zumindest der Theorie nach. Der Bischof erhielt das Recht der Eignungsprüfung des auf die Pfarrstelle präsentierten Klerikers und erteilte ihm die cura animarum. 3. Aus dem speziellen Kirchenmansus von 818/19 entwickelte sich, zuerst in Nordfrankreich im 10./ 11. Jahrhundert, das kirchliche Benefizium für den Unterhalt des Pfarramtsinhabers und überhaupt die Rechtsfigur der kirchlichen Pfründe. 4. Die Pfarrei wurde durch Zehntpflicht, Pfarrzwang und Send seit dem 9. Jahrhundert in einem langsamen Reifungsprozeß zur Territorialpfarrei. Seit dem 10. Jahrhundert wies man ihr zunehmend auch Außengrenzen zu. So eignete sie sich zur Lokalisierung von Landgütern und sogar von Grafschaften. Sie war mit der Diözese und mit dem Friedensbereich des Hauses der am eindeutigsten limitierte Rechtsbezirk des Hochmittelalters. 5. War die Pfarrgemeinde im 9. Jahrhundert nur ein Schemen, so brach sich die Mitwirkung des Pfarrvolkes am Gemeindeleben seit dem 12. Jahrhundert Bahn mit dem selbstbestimmten Kirchenbau, dem Erwerb des Pfarrerwahlrechts und der Verwaltung der Kirchenfabrik. Diese Initiativen sind Zeugnisse der kommunalen Bewegung der Epoche. Als Institution seit dem Hochmittelalter klar konturiert, ermöglicht die Pfarrei der Kirche ihr Wirken in der Welt.

Urpfarrei und Pfarreinetz. Über zwei Begriffe der Pfarreiforschung*

Das Hilfswörterbuch für Historiker von Eugen Haberkern und Joseph Friedrich Wallach definiert in seiner zweiten Auflage von 1964 die Urpfarrei folgendermaßen: »Urpfarrei (Altpfarrei, Großpfarrei, auch Mutterkirche) (=) älteste parochia einer Gegend, mit einer Gaukirche als Urpfarreisitz, die Ur(pfarrei)sprengel fielen daher mit einem Gau mehr oder minder zusammen, doch wird der Ausdruck Ur(pfarrei) auch für die Sprengel der daraus allgemein ausgegliederten Filialkirchen gebraucht.« Unverändert ist dieser fragwürdige Text in die siebente Auflage von 1987 übernommen worden.1 In der ersten Auflage von 1935 findet sich das Stichwort dagegen nicht. Daß der Terminus damals offenbar noch nicht sehr verbreitet war, bestätigt der sicherlich erweiterungsfähige Blick in die Literatur. Erstmals werden Urpfarreien genannt in dem Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts von Johann Baptist Sägmüller vom Jahre 1902. Nach Sägmüller hätten die Bischöfe »besonders gern die Erzpriester der Urpfarreien mit der Aufsicht über eine Reihe von Tochterkirchen« beauftragt.2 Erst in den 1920er Jahren treten die Urpfarrei beziehungsweise die Urpfarrkirche oder (niedere) Urkirche erneut auf, und zwar 1920 bei Joseph Machens über die Hildesheimer Archidiakonate, bei Johannes Bauermann in einem Aufsatz über den fuldischen Hof Schapdetten bei Nottuln (1927), bei Hermann Lauer in einer Arbeit zur Kirchengeschichte der Baar (1928) und bei Luzian Pfleger in seinen bekannten Abhandlungen zur Kirchengeschichte des Elsaß (1929).3 Ganz selbstverständlich * Erstveröffentlichung in: Stefan Pätzold, Reimund Haas (Hrsg.), Pro cura animarum. Mittelalterliche Pfarrkirchen an Rhein und Ruhr (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 43), Siegburg 2016, S. 27–43. 1 Eugen Haberkern, Joseph Friedrich Wallach, Hilfswörterbuch für Historiker, Bd. 2, 2. Aufl. 1964, S. 632, 7. Aufl. 1987, S. 632. 2 Johann Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts. Zweiter Teil, Freiburg 1902, S. 375. 3 Joseph Machens, Die Archidiakonate des Bistums Hildesheim im Mittelalter (Beiträge für die Geschichte Niedersachsens und Westfalens, Erg.-Heft 8), Hildesheim, Leipzig 1920, S. 27, 61. Johannes Bauermann, Ein westfälischer Hof des Klosters Fulda und seine Kirche, in: Festgabe

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und ohne jedwede Erläuterung gebrauchte Joseph Prinz den Terminus Urpfarrei 1934 in seiner bei Karl Brandi angefertigten Göttinger Dissertation über das Territorium des Bistums Osnabrück, bleibt damit in den 1930er Jahren aber allein, von dem Hannoveraner Bernhard Engelke in dessen Beitrag über Mindener Gaue und Archidiakonate von 1936/37 abgesehen.4 Die Belege häufen sich erst seit den 1950er Jahren. An der Spitze steht Hans Erich Feine mit seinen »Urkirchen der Großpfarreien« in der Erstauflage seiner kirchlichen Rechtsgeschichte von 1950.5 Es folgen Albert Heintz mit seiner Untersuchung der Anfänge der Trierer Landdekanate von 19516, Albert Karl Hömbergs Aufsätze über das mittelalterliche Pfarrsystem Westfalens von 1951 und 19527, Ferdinand Pauly mit einer beiläufigen Formulierung 1957 in seiner Dissertation über das Trierer Landkapitel Kaimt-Zell8, Berent Schwineköper 1958 in einer Erläuterung der kirchlichen Organisation des Saale-Elbegebietes9, Eduard Hegel mit seinen Studien zur Geschichte des Bistums Essen von 1960, Hömbergs 1965 aus dem Nachlaß publizierter Text über die kirchliche und weltliche Landesorganisation des südlichen Westfalen10, Guttenberg und Wendehorst in ihrem Bamberger

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für Ludwig Schmitz-Kallenberg, 1927, Wiederabdruck in: Ders., Von der Elbe bis zum Rhein. Aus der Landesgeschichte Ostsachens und Westfalens, Münster 1968, S. 247–284, hier S. 270. Hermann Lauer, Kirchengeschichte der Baar und des einst zur Landgrafschaft gehörenden Schwarzwaldes, Donaueschingen 2. Aufl. 1928, S. 43, 437, 438f. Luzian Pfleger, Die Entstehung der elsässischen Pfarreien, in: Archiv für elsässische Kirchengeschichte 4 (1929), Wiederabdruck: Ders., Die elsässische Pfarrei. Ihre Entstehung und Entwicklung, Straßburg 1936, S. 49f. Joseph Prinz, Das Territorium des Bistums Osnabrück (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 15), Göttingen 1934 (ND 1973), S. 63ff., 191, 194, 198. Bernhard Engelke, Die Grenzen, Gaue, Gerichte und Archidiakonate der älteren Diözese Minden, in: Hannoversche Geschichtsblätter N. F. 4 (1936/37) S. 97–141, hier S. 110, 124. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. 1 Die Katholische Kirche, Weimar 1950, S. 156f., 2. Aufl. 1954, S. 167f., 4. Aufl. 1964 = 5. Aufl. 1972, S. 183f. Albert Heintz, Die Anfänge des Landdekanates im Rahmen der kirchlichen Verfassungsgeschichte des Erzbistums Trier (Trierer Theologische Studien 3), Trier 1951, S. 23. Albert K. Hömberg, Das mittelalterliche Pfarrsystem des kölnischen Westfalen, in: Westfalen 29 (1951) S. 27–47. Ders., Studien zur Entstehung der mittelalterlichen Kirchenorganisation in Westfalen, in: Westfälische Forschungen 6 (1943–1952) S. 46–108, hier S. 58f., 66, 71, 81f., 92, 97, 105. Ferdinand Pauly, Das Landkapitel Kaimt-Zell. Siedlung und Pfarrorganisation im alten Erzbistum Trier [1] (Rheinisches Archiv 49), Bonn 1957, S. 193. Berent Schwineköper, Bistümer und Archidiakonate im 15. Jahrhundert, in: Otto Schlüter, Otto August, Atlas des Saale- und mittleren Elbegebietes, Teil 1, Erläuterungen, 2. Aufl. Leipzig 1958, S. 46. Eduard Hegel, Kirchliche Vergangenheit im Bistum Essen, Essen 1960, S. 46–49, 64. Albert K. Hömberg, Kirchliche und weltliche Landesorganisation (Pfarrsystem und Gerichtsverfassung) in den Urpfarrgebieten des südlichen Westfalen (Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung 10), Münster 1965.

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Pfarrkirchenwerk 1966 im Rahmen der Germania Sacra11, der Göttinger Kirchenhistoriker Hans-Walter Krumwiede 1964 und 199512, die bei Hermann Heimpel verfaßte Göttinger Dissertation von Alfred Bruns über den Mainzer Archidiakonat Nörten von 1967, Pater Iso Müller in Disentis ebenfalls 196713, Hans Patze im ersten Band seiner Niedersächsischen Landesgeschichte 1977, später dessen Schülerin Elke Weiberg im Jahre 199014, Matthias Werner 1980 in seinen Studien zum Lütticher Raum in der Karolingerzeit, Eckhard Freise in der Westfälischen Geschichte von 1983, Reinhard Vogelsang in der Göttinger Stadtgeschichte von 1987, Enno Bünz, Sebastian Kreiker und Uwe Ohainski anläßlich der Bernward-Ausstellung in Hildesheim 1993 und ebenfalls 1993 Richard Puza im Lexikon des Mittelalters15, Sabine Graf in ihrer Göttinger Dissertation von

11 Erich Frhr. von Guttenberg / Alfred Wendehorst, Das Bistum Bamberg. Teil 2, Pfarreiorganisation (Germania Sacra. 2. Abt. Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. 1 Das Bistum Bamberg), Berlin 1966, S. 23, 36. 12 Hans-Walter Krumwiede, Kirchengeschichte, in: Helmut Jäger (Hrsg.), Historisch-landeskundliche Exkursionskarte von Niedersachsen, Blatt Duderstadt (Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung 2, Teil 1), Hildesheim 1964, S. 27, 29. Ders., Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 1, 8. Jahrhundert-1806, Göttingen 1995, S. 32. 13 Alfred Bruns, Der Archidiakonat Nörten (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 17. Studien zur Germania Sacra 7), Göttingen 1967, S. 18f., 23, 39, 45. Iso Müller, Die Pfarreien bis zur Jahrtausendwende, in: Ders., Heinrich Büttner (Hrsg.), Frühes Christentum im schweizerischen Alpenraum, Einsiedeln, Zürich, Köln 1967, S. 57, 67, 132. 14 Hans Patze, Geschichte Niedersachsens, Bd. 1. Grundlagen und frühes Mittelalter (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 36,1), Hildesheim 1977, S. 690. Elke Weiberg, Das Niederkirchenwesen in der Erzdiözese Bremen im Mittelalter, insbesondere im Archidiakonat Hadeln und Wursten (Einzelschriften des Stader Geschichts- und Heimatvereins 30), Stade 1990, S. 89, 98. 15 Matthias Werner, Der Lütticher Raum in frühkarolingischer Zeit. Untersuchungen zur Geschichte einer karolingischen Stammlandschaft (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 62), Göttingen 1980, S. 153. Eckhard Freise, Vom Frühmittelalter bis zum Vertrag von Verdun, in: Westfälische Geschichte, Bd 1. Von den Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches. Hrsg. v. Wilhelm Kohl (Veröffentlichungen der Hist. Kommission für Westfalen 43,1), Düsseldorf 1983, S. 307. Reinhard Vogelsang, Die Kirche vor der Reformation. Ihre Institutionen und ihr Verhältnis zur Bürgerschaft, in: Ernst Böhme, Dietrich Denecke, HelgaMaria Kühn (Hrsg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1. Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, Hrsg. von Dietrich Denecke, Helga Maria Kühn, Göttingen 1987, S. 465–491, hier S. 465. Enno Bünz, Der Zehntbesitz des Würzburger Stifts Haug um Hammelburg und die mittelalterliche Besiedlung und Pfarreiorganisation an der Fränkischen Saale, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 54 (1993) S. 175–192, hier S. 182f. Ders., Karte II. Das Bistum Hildesheim zur Zeit Bernwards, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Hrsg. v. Michael Brandt, Arne Eggebrecht, Bd. 1, Hildesheim, Mainz 1993, S. 469–474, hier S. 472. Sebastian Kreiker, Uwe Ohainski, Zu den Anfängen der Pfarrorganisation im Bistum Hildesheim. Struktur und frühe Besiedlung der Urpfarrei Elze, in: Hildesheimer Jahrbuch für Stadt und Stift Hildesheim 65 (1994) S. 17–33, hier S. 18f. Richard Puza, Pfarrei, Pfarrorganisation. Urpfarreien (Landpfarreien), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München, Zürich 1993, Sp. 2023f.

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1998 und endlich Knut Schäferdiek und Thomas Trumpp im Jahre 2000.16 Aus dem frühen 21. Jahrhundert sind bislang zu nennen Winfried Irgang von 200417, Friedrich Prinz, der in der 10. Auflage des Gebhardt von 2004 von den Urpfarreien freilich nur noch in Anführungszeichen spricht18, sowie Paul Leidinger, der 2004, 2009 und 2012 an der Urpfarrei, und zwar nicht nur am Begriff, sondern auch an ihrer angeblichen Funktion im Sinne Hömbergs festhält.19 Wie das Handbuch des Bistums Essen von 1974 und die kommentierende Edition der Mindener Kirchenvisitationsprotokolle von 1650 durch Hans Nordsiek vom Jahre 2013 belegen, ist »Urpfarrei« ein auch jenseits der Mediävistik bekannt gewordener Ausdruck.20 Für die Begriffsgeschichte ist eine von Hömberg aus einer münsterschen Handschrift mitgeteilte Formulierung eines anonymen Verfassers aus dem Jahre 1812 interessant. Sie lautet: »Die Pfarrei Menden im Herzogthum Westphalen ist gewiß eine von den wenigen großen Urpfarreien Westphalens«.21 Eine solche Begriffsprägung ist für die Goethezeit ganz zeitgemäß, wollte diese doch die Dinge verstehen, indem sie sie in ihren Ursprüngen aufsuchte und betrachtete. Goethe liebte es, die Wörter mit dem Gradunterschied »ur-« zu versehen. Herder

16 Sabine Graf, Das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar im Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Bistums Hildesheim 5), Hannover 1998, S. 46. Knut Schäferdiek, Kirchliche Organisation, in RGA 16, 2000, S. 577. Thomas Trumpp, Bäche als Grenzen und Grenzen als Bäche. Die Beschreibung der Ränder des Zehntbezirks der Urpfarrei Humbach (Montabaur) in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts , in: Jb. für westdeutsche Landesgeschichte 26 (2000) S. 7–34. 17 Winfried Irgang, Aufbau und Entstehung der Seelsorgsorganisation im östlichen Mitteleuropa, in: La pastorale della Chiesa in Occidente dall’età ottoniana al concilio lateranense IV, Atti della quindicesima Settimana internazionale di studio Mendola, 27–31 agosto 2001, Mailand 2004, S. 299–323, hier S. 320. 18 Friedrich Prinz, Europäische Grundlagen deutscher Geschichte (4.–8. Jahrhundert) (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl.), Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 438. 19 Paul Leidinger, Zur Christianisierung des Ostmünsterlandes im 8. Jahrhundert und zur Entwicklung des mittelalterlichen Pfarrsystems. Ein Beitrag zum 1200-jährigen Bestehen des Bistums Münster, in: Westfälische Zeitschrift 154 (2004) S. 31, 39, Wiederabdruck nebst Nachträgen in: Ders., Von der karolingischen Mission zur Stauferzeit. Beiträge zur früh- und hochmittelalterlichen Geschichte Westfalens vom 8.–13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Kreises Warendorf), Warendorf 2012, S. 87, 97. Ders., Zur Christianisierung des kölnischen Westfalen südlich der Lippe, in: Harm Klueting (Hrsg.), Das Herzogtum Westfalen, Münster 2009, S. 47, Wiederabdruck nebst Nachträgen in: Ders., Von der karolingischen Mission (wie Anm. 19), S. 55 sowie S. 62. 20 Handbuch des Bistums Essen, 2. Ausgabe 1974, Bd. 1, Essen 1974, S. 29. Hans Nordsiek (Bearb.), Die Kirchenvisitationsprotokolle des Fürstentums Minden von 1650. Mit einer Untersuchung zur Entstehung der mittelalterlichen Pfarrkirchen und zur Entwicklung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Minden (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen NF 7), Paderborn 2013, S. 85, 97, 99, 131. 21 Hömberg, Landesorganisation (wie Anm. 10), S. 40, mit der Signatur StA Münster, Mscr. VII 5751.

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schrieb als erster emphatisch von Urchristentum und Urzeit.22 »Urchristentum« erscheint im Titel von Johann August Eberhards Werk »Der Geist des Urchristenthums« von 1807–08 und von Carl Venturinis »Geschichte des Urchristenthums in seiner natürlichen Gestalt« von 1807–09. Georg Gottfried Gervinus handelte über die Urgemeinden der Apostel und die Urgeschichte.23 Von der »Urpfarrei« spricht die Forschung aber, wie gesagt, erst seit Sägmüller, also seit knapp 120 Jahren. Paul Hinschius und Ulrich Stutz kennen eine »Urpfarrei« noch nicht. Sie ist kein Quellenbegriff. Auch wenn »Urpfarrei« heute etwas altväterlich anmutet, wäre der Terminus für die Bezeichnung der ältesten Pfarreien einer Diözese doch durchaus angemessen. Aber mit dem Begriff sind im Laufe der Jahrzehnte und besonders seit Hömberg Vorstellungen verknüpft worden, die ihn haben problematisch werden lassen. Von den zahlreichen, meist von der Historischen Kommission für Westfalen veröffentlichten Arbeiten des früh verstorbenen münsterschen Landeshistorikers Albert Karl Hömberg (1905–1963) sind die bereits erwähnten drei Publikationen zur Pfarrorganisation Westfalens von 1951, 1952 und 1965 einschlägig. Sie vertreten, abgesehen vom Problem des gegenseitigen Verhältnisses von Pfarreiorganisation und Gerichtsorganisation, folgende vier Thesen: 1.) Die ältesten Pfarrkirchen Westfalens wären von den missionierenden Bischöfen oder in deren Auftrag gegründet. Diese Kirchen wären – so Hömberg – keine grundherrlichen Kirchen gewesen. Sie wären als Missionskirchen älter als am Ort befindlicher bischöflicher Besitz.24 Das Eigenkirchenrecht – auch das des Bischofs – spielte bei ihrer Fundierung keine Rolle.25 2.) Planmäßig, wenn auch nicht auf einmal, wäre bei der Einführung des Christentums das Land in Urpfarreien aufgeteilt worden26, wodurch ein Netz von Urpfarreien entstanden sei.27 3.) Kriterien für die Identifizierung einer Urpfarrkirche seien die Größe ihres ursprünglichen Sprengels, ihr altes Patrozinium, am Pfarrort ehedem vorhanden gewesener bischöflicher Besitz – er spielt nun also doch eine Rolle! – und eine zentrale Lage an einer Fernstraße. Danach hätte es im südlichen Westfalen um 800 zwölf Urpfarrkirchen gegeben, davon im heutigen Bistum Essen nur Bochum, welche Hypothese zuletzt Stefan Pätzold 2008 zurückgewiesen hat. Die dem ehedem angeblich erzbischöflich-kölnischen Bochum nächst benachbarten

22 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, III. Abt. Leipzig 1936 (ND Bd. 24, München 1984), Sp. 2394, 2613. 23 Ebenda, Sp. 2419, 2421. 24 Hömberg, Pfarrsystem (wie Anm. 7), S. 31. 25 Hömberg, Kirchenorganisation (wie Anm. 7), S. 51. 26 Hömberg, Landesorganisation (wie Anm. 10), S. 58. 27 Hömberg, Kirchenorganisation (wie Anm. 7), S. 58f.

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Urpfarren wären Recklinghausen, Dortmund und Hagen gewesen.28 4.) Jünger seien die von 850 bis 920 entstandenen sogenannten »Stammpfarren«; sie werden von Hömberg nicht näher definiert. Offensichtlich versteht er darunter Tochterpfarreien der Urpfarreien. So hätte zum Beispiel Lüdenscheid als Stammpfarrei der Urpfarrei Hagen zu gelten.29 Diese Vorstellungen sind bei allem Respekt vor Hömbergs siedlungsgeschichtlichem Zugriff alsbald auf Kritik gestoßen, allerdings ohne daß am Ausdruck »Urpfarrei« Anstoß genommen worden wäre. Friedrich Wilhelm Oediger meinte 1956, »die Arbeit Hömbergs« – gemeint ist der Aufsatz über das Pfarrsystem des kölnischen Westfalen – »behauptet leider viel mehr, als wir wissen«.30 Seine Rezension von Hömbergs posthum erschienenen Buch über die Landesorganisation Westfalens bemängelte 1965 die Unwägbarkeiten hinsichtlich der Ausdehnung der Altpfarreien und bezüglich der Patrozinienüberlieferung ihrer Kirchen, maß aber den Erzbischöfen mit Hömberg eine bedeutende Rolle bei ihrer Errichtung zu.31 Eckhard Freise erachtete in der Westfälischen Geschichte von 1983 die Unterscheidung von älteren und jüngeren Urpfarrreien (mit letzteren meint Freise Hömbergs Stammpfarreien) als »zu großen Teilen hypothetisch«, verwendete aber – wie erwähnt – seinerseits durchaus den Terminus Urpfarrei.32 Walter Schlesinger setzte sich bereits 1954 mit den bis zum damaligen Zeitpunkt erschienenen Arbeiten Hömbergs zur kirchlichen und weltlichen Landesorganisation auseinander. Den Schwerpunkt legte er auf Hömbergs Sicht der Gerichtsverhältnisse. Er kam aber auch auf Hömbergs Anschauung von den Pfarreigründungen zu sprechen und hielt es für verfehlt, daß Hömberg dem Eigenkirchenrecht in Westfalen in der Frühzeit jegliche Bedeutung absprach. Zudem bemängelte Schlesinger, daß Hömberg »die modernen Begriffe des öffentlichen und privaten Rechts ins frühe Mittelalter hineinträgt.«33 In der Tat waren für Hömberg als Ergebnis der kölnischen Mission »die erzbischöflichen

28 Hömberg, Landesorganisation (wie Anm. 10), S. 20, 141 (Karte). – Stefan Pätzold, Von der Fiskalkapelle zur Pfarrkirche? Vermutungen zu den frühmittelalterlichen Anfängen der Bochumer Propsteikirche, in: Nathalie Kruppa (Hrsg.), Pfarreien im Mittelalter. Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn im Vergleich (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 238. Studien zur Germania Sacra 32), Göttingen 2008, S. 169–179. 29 Vgl. Hömberg, Landesorganisation (wie Anm. 10), S. 51f. 30 Friedrich Wilhelm Oediger, Die bischöflichen Pfarrkirchen des Erzbistums Köln, 1956, Wiederabdruck in: Ders., Vom Leben am Niederrhein, Düsseldorf 1973, S. 22 Anm. 28. 31 Friedrich Wilhelm Oediger, Besprechung, in: Westfälische Forschungen 18 (1965) S. 207–211. 32 Freise (wie Anm. 15), S. 307. 33 Walter Schlesinger, Bemerkungen zum Problem der westfälischen Grafschaften und Freigrafschaften, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 4 (1954) S. 262–277, Zitat S. 272, Wiederabdruck in: Ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Bd. 2, Göttingen 1963, S. 225.

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Kirchen von vornherein Pfarrkirchen öffentlich-rechtlichen Charakters«.34 Diese Sicht teilte noch im Jahre 2004 ausdrücklich Paul Leidinger, der dabei aber empfahl, den Terminus Urpfarrei vielleicht durch Missionspfarrei zu ersetzen und auf den Ausdruck Stammpfarrei zu verzichten.35 Eine solche Urpfarrei wäre nach Hömberg das zwischen Winterberg und Korbach gelegene Medebach deshalb geworden, »weil«, so malte sich Hömberg das aus, »eines Tages ein kölnischer Priester von der älteren Missionszelle in Wormbach aus auf der Heidenstraße über das Gebirge gewandert ist und hier jenseits des Grenzkammes ein Land gefunden hat, in das noch kein anderer christlicher Priester gekommen war. Er hat hier ein Kirchlein gebaut, die Leute aus den Höfen und Weilern der Umgebung sind zu ihm gekommen, und um die Kirche hat sich so das große Kirchspiel gebildet, das nun noch heute, nach fast 1200 Jahren, wegen dieser Begründung durch einen kölnischen Priester zum rheinisch-westfälischen und nicht zum hessischen Raum gehört.«36 Immerhin war Medebach im Jahre 1144 ein vormaliges Tafelgut der Kölner Erzbischöfe gewesen, dessen Kirche Arnold I. von Köln als Ordinarius loci damals neu geweiht hat. Von einer Missionszelle in Wormbach (bei Schmallenberg) ist allerdings keine Silbe überliefert37, und die »Heidenstraße« ist ein Phantasiename, der nach Alfred Bruns dem Nestor der westfälischen Landesgeschichte Johann Suibert Seibertz verdankt wird; zudem ist ihr Verlauf völlig ungesichert.38 Entscheidender ist, daß nach Hömbergs Vorstellung ein Seelsorgepriester eine Kirche in der Gegend östlich des Kahlen Asten missionierend einfach so hätte hinstellen können. Manfred Wolf hat in seinem von Paul Leidinger im Jahre 2012 harsch kritisierten Beitrag über die Petri-Kirche in Hüsten 2010 sehr zu Recht bemängelt, daß Hömberg nie gefragt hat, auf welche Weise Missionare und Bi34 Hömberg, Kirchenorganisation (wie Anm. 7), S. 51, 53. Zitat: Hömberg, Pfarrsystem (wie Anm. 7), S. 31. Vgl. ebenda, S. 33, und bereits Machens (wie Anm. 3), S. 42: »Alte Pfarrkirchen öffentlichen Rechtes«. 35 Leidinger, Ostmünsterland (wie Anm. 19), S. 32, Wiederabdruck: Ders., Von der karolingischen Mission (wie Anm. 19), S. 88. Ders., Kölnisches Westfalen (wie Anm. 19), S. 47–49, Wiederabdruck: Ders., Von der karolingischen Mission (wie Anm. 19), S. 55–57. 36 Hömberg, Kirchenorganisation (wie Anm. 7), S. 58. Vgl. Schlesinger, Bemerkungen, Wiederabdruck (wie Anm. 33), S. 230. 37 Vgl. Hömberg, Landesorganisation (wie Anm. 10), S. 3, 8f. Zu Medebach 1144 s. Richard Knipping, Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. 2: 1100–1205 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Düsseldorf, Bonn 1901, Nr. 420. Die Echtheit der Urkunde wird von Carl Haase, Die Entstehung der westfälischen Städte (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe I,11), Münster 4. Aufl. 1984, S. 25f., in Frage gestellt, jedoch für gegeben gehalten von Cornelia Kneppe, Medebach, in: Wilfried Ehbrecht (Hrsg.), Westfälischer Städteatlas Lfg. VII, Nr. 4, Altenbeken 2001. 38 Alfred Bruns, Die Straßen im südlichen Westfalen (Veröffentlichungen aus dem Archiv des Landschaftsverbandes 1), Münster 1992, S. 16.

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schöfe an das für eine Kirchengründung erforderliche Grundvermögen gelangt sein mochten.39 Eine Kirche des Frühmittelalters braucht immer Grund und Boden, auf dem sie erbaut und mit dem sie dotiert werden kann. So hat Matthias Werner an Hand der Echternacher Überlieferung eindrücklich gezeigt, wie der Missionar Willibrord († 739) mit Grundbesitz, der ihm von Adeligen in Toxandrien geschenkt worden war, in Ruimel und Walre an der Dommel Kirchen dotierte. In Bakel baute ein Grundbesitzer auf seinem Hof eine Kirche und gab diese dann an Willibrord. Dank der Förderung durch den Adel vereinigte Willibrord zahlreiche Eigenkirchen in seiner Hand und errichtete auf diese Weise kirchliche Stützpunkte im unmittelbaren Hinterland seines friesischen Missionsgebietes.40 Auch der Fundus der Fritzlarer Peterskirche wurde von einem fränkischen Adeligen an Bonifatius († 754) geschenkt. Die darauf wohl eher nur auf des Missionars Initiative und nicht mit eigener Hand errichtete Kirche behielt Bonifatius Zeit seines Lebens in seinem Besitz. Sie war seine Eigenkirche.41 In Haithabu-Schleswig gestattete der dänische König Horich dem Missionar Ansgar († 865) nach 849 den Bau einer Kirche und verlieh zudem noch ein Grundstück für eine Priesterwohnung.42 Im schwedischen Birka am Mälarsee hat König Olaf dem Missionar ebenfalls ein Grundstück zum Kirchenbau überlassen; Ansgar kaufte für den Priester ein Haus nebst Grundstück hinzu.43 Die so entstandenen Kirchen waren Eigenkirchen der Missionare und haben ihnen vor allem als Taufkirchen (ecclesiae baptismales) gedient. Weshalb Hömberg nicht diesen Quellenbegriff wählte, sondern auf seinen Urpfarrkirchen »öffentlich-rechtlichen Charakters« beharrte, kann nur vermutet werden. Zwar heißen Kirchen auf 39 Manfred Wolf, Die St. Petri-Kirche zu Hüsten – Kirchengründungen in der Missionszeit, in: SüdWestfalen Archiv 10 (2010) S. 9–27, hier S. 14. Leidinger, Kölnisches Westfalen, Nachtrag 2012, in: Ders., Von der karolingischen Mission (wie Anm. 19), S. 62. 40 Werner (wie Anm. 15), S. 143, 152f. Vgl. Edeltraud Balzer, Frühe Mission, adelige Stifter und die Anfänge des Bistumssitzes in Münster (I), in: Westfälische Zeitschrift 160 (2010) S. 23f. 41 Vita Bonifatii auctore Willibaldo c. 8, in: Vitae sancti Bonifatii archiepiscopi Moguntini, Hrsg. von Wilhelm Levison (MGH SSrer Germ 57), Hannover 1905, S. 10. Liudgeri vita Gregorii abbatis Traiectensis c. 3, Hrsg. von Oswald Holder-Egger (MGH SS 15,1), Hannover 1887, S. 70. Vgl. Michael Gockel, Fritzlar, in: Die deutschen Königspfalzen, Bd. 1 Hessen, Lieferung 4, Göttingen 1996, S. 463. Wolfgang Petke, Wie kam die Kirche ins Dorf ? Mittelalterliche Niederkirchenstiftungen im Gebiet des heutigen Niedersachsen und Harburgs, in: Rainer Hering, Hans Otte, Johann Anselm Steiger (Hrsg.), Gottes Wort ins Leben verwandeln. Perspektiven der (nord-)deutschen Kirchengeschichte. Festschrift Inge Mager zum 65. Geburtstag (Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, Beiheft 12), Hannover 2005, S. 43f. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 103–138, bei Anm. 48. Balzer (wie Anm. 40), S. 24. 42 Vita Anskarii auctore Rimberto c. 24, Hrsg. von Georg Waitz, MGH SSrerGerm 55, Hannover 1884, S. 52: ecclesiam illi fabricare permisit, tribuens locum in quo presbiter maneret. 43 Vita Anskarii, c. 28, S. 59: atrium unum ad oratorium dedit fabricandum; domnus quoque episcopus presbitero ad habitandum alterum cum domo emit.

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bischöflichem Grund und Boden im Westfrankenreich, in Sachsen, in Südwestdeutschland, im Elsaß und in Italien wiederholt ecclesiae publicae.44 Aber publicae sind sie wegen des ihnen zustehenden Taufrechtes, wegen der in ihnen gesungenen sonn- und festtäglichen missae publicae45 und des bei ihnen seit dem 9. Jahrhundert gehegten Sendgerichts, nicht aber wegen ihrer angeblich öffentlich-rechtlichen Funktion.46 Als eine Konstitution von 388 im Codex Theodosianus publicae ecclesiae und privatae ecclesiae unterschied, war die bischöfliche Eigentums- und Verwaltungseinheit des Kirchenguts der Antike bereits in Auflösung begriffen.47 Da Hömberg eine bestimmende Rolle des schon laut c. 9 (10) des Konzils von Orange von 441 praktizierten Eigenkirchenrechts bei der Fundierung der frühmittelalterlichen Pfarrkirchen prinzipiell verwarf 48, hat er auch ein bischöfliches Eigenkirchenrecht bei der Gründung der Altpfarreien verneint, obwohl er sich 44 Joseph Ahlhaus, Die Landdekanate des Bistums Konstanz im Mittelalter. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Kirchenrechts- und Kulturgeschichte (Kirchenrechtliche Abhandlungen 109–110), Stuttgart 1929 (ND 1991), S. 19. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 41), S. 53. Andrea Castagnetti, La pieve rurale nell’Italia Padana, Rom 1976, S. 130. Vgl. Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, Bd. 2, 3.–4. Aufl. Leipzig 1912, S. 226. 45 Vgl. Theodulf von Orléans († 821), Erstes Kapitular c. 45, Hrsg. v. Peter Brommer (MGH. Capitula episcoporum 1), Hannover 1984, S. 141: Ut missae, quae per dies dominicos peculiares a sacerdotibus fiunt, non ita in publico fiant, ut per eas populus a publicis missarum sollemnibus, quae hora tertia canonice fiunt, abstrahatur. 46 Vgl. Machens (wie Anm. 3), S. 27. Anders, als Schlesinger, Bemerkungen (wie Anm. 33), S. 225 nahelegt (»alle Rechte des Königs [werden] mit dem Worte publicus bezeichnet«) – vgl. auch ders., Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchungen vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen, Dresden 1941 (ND 1964), S. 110–116 – bedeutet publicus also keineswegs immer »königlich«. Nach Schlesinger aber Dieter Scheler, Zum Reichshof Bochum. Eine Replik, in: Bochumer Zeitpunkte 12 (2002) S. 32f., und nach letzterem Pätzold (wie Anm. 28), S. 162. Vgl. Thomas Kohl, Villae publicae und Taufkirchen – Ländliche Zentren im süddeutschen Raum, in: Peter Ettel, Lukas Werther (Hrsg.), Zentrale Orte und zentrale Räume des Frühmittelalters in Süddeutschland, Mainz 2013, S. 163. 47 Cod. Theod. 16, 5, 14, Hrsg. v. Theodor Mommsen, Paul Krüger, Theodosiani libri XVI cum constitutionibus Sirmondianis et leges novellae ad Theodosianum pertinentes, Bd. 1,2, Berlin 3. Aufl. 1962, S. 860: colligendarum congregationum vel in publicis vel in privatis ecclesiis careant facultate (sc. die Apollinaristen und andere Härektiker). Knut Schäferdiek, Das Heilige in Laienhand. Zur Entstehungsgeschichte der fränkischen Eigenkirche, in: Henning Schröer, Gerhard Müller (Hrsg.), Vom Amt des Laien in der Kirche. Festschrift für Gerhard Krause, Berlin, New York 1982, S. 134. Peter Landau, Eigenkirchenwesen, in: TRE 9 (1982) S. 400. 48 Conc. Arausicanum c. 9 (10), Hrsg. von Charles Munier, Concilia Galliae a. 314–a. 506 (Corpus Christianorum, Series Latina 148), Turnhout 1963, S. 80f.: Si quis episcoporum in alienae ciuitatis territorio ecclesiam aedificare disponit. Vgl. Jean Gaudemet, L’Église dans l’Empire Romain (IVe –Ve siècles), Paris 1958, S. 305. Winfried Hartmann, Der rechtliche Zustand der Kirchen auf dem Lande. Die Eigenkirche in der fränkischen Gesetzgebung des 7. bis 9. Jahrhunderts, in: Cristianizzazione ed organizazzione ecclesiastica delle campagne nell’Alto Medioevo: Espansione e resistenze, Bd. 1 (Settimane di studio 28, 1), Spoleto 1982, S. 399. – Hömberg, Kirchenorganisation (wie Anm. 7), S. 50f.

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1951 ein solches durchaus vorzustellen vermochte: »Die meisten Urkirchen und mehrere Stammpfarrkirchen […] waren mit erzbischöflichem Grundbesitz verbunden […]. Man könnte deshalb geneigt sein, den erzbischöflichen Grundbesitz in diesen Orten als das Primäre zu betrachten und die Gotteshäuser als Eigenkirchen anzusprechen, welche die Erzbischöfe als Grundherren auf ihren Besitzungen errichtet hätten; aber eine solche Klassifizierung würde der Entstehung und Charakter dieser Kirchen nicht gerecht werden. Grundherrliche Eigenkirchen […] haben […] in der Regel nur Kleinkirchspiele um sich zu bilden vermocht. Dagegen waren die erzbischöflichen Kirchen von vornherein Pfarrkirchen öffentlich-rechtlichen Charakters, zu denen ausgedehnte Großkirchspiele gehörten«.49 Die fixe Idee einer im Frühmittelalter als öffentlich-anstalthaft zu denkenden bischöflichen potestas ordinis und iurisdictionis und einer von den Missionaren »vorgenommenen Einteilung des Landes in Urpfarren«50 haben Hömberg zu seinen Konstruktionen gelangen lassen. Befremdlicherweise taucht allerjüngst, im Jahre 2013, bei dem in Mainz promovierten Thomas Kohl die ecclesia publica als eine »regelgerechte, ordentliche, öffentliche Pfarrkirche« wieder auf. Wenn er dabei den bekannten, von ihm aber nicht angeführten Kanon 21 des westgotischen Konzils von Agde (506) im Sinn gehabt haben sollte, dann sprach dieser nicht von regulären Kirchen, sondern vom rechtmäßigen und ordentlichen Gottesdienst in den (Land)kirchen (parrocias, in quibus legitimus est ordinariusque conuentus), außerhalb desselben ein Grundherr in seinem Oratorium (oratorium in agro) außer an den Hochfesten die Messe feiern lassen durfte.51 Kohl urteilt schließlich verwegen: »Die Bezeichnung dieser (Salzburger agilolfingerzeitlichen) Kirchen als bischöfliche Eigenkirchen, wie sie in der älteren Forschung üblich war, scheint […] völlig absurd.«52 Als Vertreter dieser älteren Forschung macht Thomas Kohl Wilhelm Störmer im Jahre 1973 und Helmuth Stahleder im Jahre 1979 namhaft.53

49 Hömberg, Pfarrsystem (wie Anm. 7), S. 31. 50 Vgl. Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Bd. 2, Berlin 1878 (ND Graz 1959), S. 40f. – Zitat: Hömberg, Landesorganisation (wie Anm. 10), S. 58. 51 Conc. Agathense c. 21, Hrsg. Munier (wie Anm. 48), S. 202f. – Auch Schäferdiek, Das Heilige (wie Anm. 47), S. 129, meint, der Kanon spreche von »regulären Landkirchen« Vgl. ebenda, S. 130: »öffentliche […] Landkirchen der Bistümer«. 52 Thomas Kohl, Villae publicae (wie Anm. 46), S. 169. Vgl. bereits Ders., Lokale Gesellschaften. Formen der Gemeinschaft in Bayern vom 8. bis zum 10. Jahrhundert (Mittelalter-Forschungen 29), Ostfildern 2010, S. 234. 53 Wilhelm Störmer, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkischdeutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 6,2), Stuttgart 1973, S. 357–374. Helmuth Stahleder, Bischöfliche und adelige Eigenkirchen des Bistums Freising im frühen Mittelalter und die Kirchenorganisation im Jahre 1315, in: Oberbayerisches Archiv 104 (1979) S. 180.

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Außerhalb Altbayerns hätte er an Autoren, welche die Anlage alter (Tauf)kirchen auf die Bischöfe und deren Grundherrschaften zurückführen, unter anderen nennen können Ulrich Stutz, Gerhard Kallen, Luzian Pfleger, Friedrich Wilhelm Oediger, Erich Freiherr von Guttenberg und Alfred Wendehorst, Ferdinand Pauly, Karl Heinemeyer, Knut Schäferdiek, Josef Semmler, Peter Landau, Manfred Balzer, Karl Borchardt, Andreas Hedwig, Siegfried Haider oder auch den Verfasser.54 Im Laufe des Mittalters sind diese bischöflichen Eigenkirchen vielfach in andere Hände übergegangen. Die verschiedentlich geringe Zahl bischöflicher Patronatskirchen im Spätmittelalter ist wiederholt konstatiert worden.55 Im Bistum Konstanz war sie deshalb so klein, weil dieses im Unterschied zum benachbarten Chur von Anfang an über wenig Grundbesitz verfügte.56 54 Ulrich Stutz, Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III., 1. Aufl. 1895, 3. Aufl. Aalen 1972, S. 67, 304f. Gerhard Kallen, Die oberschwäbischen Pfründen des Bistums Konstanz und ihre Besetzung (1275–1508) (Kirchenrechtliche Abhandlungen 45, 46), Stuttgart 1907 (ND 1965), S. 248. Pfleger, Elsässische Pfarrei (wie Anm. 3), S. 64–68. Oediger, Bischöfliche Pfarrkirchen (wie Anm. 30), S. 19f. Ders., Das Bistum Köln von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. Geschichte des Erzbistums Köln Bd. 1, 2. Aufl. Köln 1971, S. 221, 226, unterscheidet dann allerdings bischöflichen Eigenkirchenbesitz und bischöfliches Kircheneigentum ursprünglich »von Amtswegen«. Guttenberg / Wendehorst (wie Anm. 11), S. 15f., 18, 29. Ferdinand Pauly, Siedlung und Pfarrorganisation im alten Erzbistum Trier. Zusammenfassung und Ergebnisse (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 25), Koblenz 1976, S. 337, 461. Karl Heinemeyer, Das Erzbistum Mainz in römischer und fränkischer Zeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 39), Marburg 1979, S. 77, 172. Schäferdiek, Das Heilige (wie Anm. 47), S. 126. Josef Semmler, Mission und Pfarrorganisation in den rheinischen, mosel- und maasländischen Bistümern im 5. – 10. Jahrhundert, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell’Alto Medioevo: espansione e resistenze (Settimane di Studio 28,2), Spoleto 1982, S. 885. Peter Landau, Eigenkirchenwesen (wie Anm. 47), S. 399. Manfred Balzer, Grundzüge der Siedlungsgeschichte (800–1800), in: Westfälische Geschichte, Bd 1. (wie Anm. 15), S. 237, 241. Karl Borchardt, Die geistlichen Institutionen in der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber und dem zugehörigen Landgebiet von den Anfängen bis zur Reformation, Bd. 2 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte 37/II), Neustadt 1988, S. 818 Anm. 44. Andreas Hedwig, Die Eigenkirche in den urbarialen Quellen zur fränkischen Grundherrschaft zwischen Loire und Rhein, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt. 78 (1992) S. 6. Siegfried Haider, Zum Niederkirchenwesen in der Frühzeit des Bistums Passau (8.–11. Jahrhundert), in: Das Christentum im bairischen Raum. Von den Anfängen bis ins 11. Jahrhundert, Hrsg. von Egon Boshof und Hartmut Wolff (Passauer Historische Forschungen 9), Köln u. a. 1994, S. 328f. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 41), S. 46–55. S. auch Ders., Die Ausbildung des Pfarreiwesens im Schaumburger Land (9./10.–14. Jahrhundert), in: Stefan Brüdermann (Hrsg.), Schaumburg im Mittelalter (Schaumburger Studien 70), Bielefeld 2013 (2. Aufl. 2014), S. 200– 202; beide Aufsätze auch in diesem Band S. 103–138, S. 139–166. 55 Pfleger, Elsässische Pfarrei (wie Anm. 3), S. 67. Prinz, Osnabrück (wie Anm. 4), S. 71f. Oediger, Geschichte (wie Anm. 54), S. 223. Guttenberg / Wendehorst (wie Anm. 11), S. 19f. – Verhältnismäßig zahlreich waren die bischöflichen Kirchen im Bistum Hildesheim, Joseph Ahlhaus, Geistliches Patronat und Inkorporation in der Diözese Hildesheim im Mittelalter, Freiburg 1928, S. 72f., vgl. Hermann Kleinau, Ein neuer Text des Archidiakonats-Verzeich-

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Anders als Friedrich Prinz im Jahre 2004 hat Wilhelm Kohl 2003 den Ausdruck »Urpfarrei« nicht nur in Anführungszeichen gesetzt, sondern von der geradezu »irrigen Vorstellung von den ›Urpfarreien‹« im Sinne Hömbergs gesprochen. »Die fern aller historischen Möglichkeit liegende Theorie konnte nur auf dem Kartentisch eines Gelehrten des 19. oder 20. Jahrhunderts geboren werden, der generalstabsmäßig einen leeren geographischen Raum mit einem rationellen Netz von Kirchen überzog.«57 Der derart kontaminierte Begriff »Urpfarrei« wird zunehmend gemieden.58 Man sollte statt von der »Urpfarrei« von der Altpfarrei sprechen. Das hat – weitgehend unbeachtet – Karl Borchardt bereits 1988 vorgeschlagen; Enno Bünz ist ihm seit 2012 darin gefolgt.59 Analoge Bildungen wie »Altstadt« oder »Altstraße« sind längst in Gebrauch und haben sich bewährt. Zudem sind die Ortsnamen Altkirch/Altkirchen/Altenkirchen verschiedentlich belegt. Auch Taufkirche, als ecclesia baptismalis oft in den Quellen erwähnt und in Bayern und Oberösterreich in der Form »Taufkirchen« auch als Ortsname in Gebrauch, wäre angemessen. Dagegen zu umständlich sprach Adolph Tibus 1885 von der »ursprünglichen Pfarrei.«60 Zum Terminus Pfarreinetz kann ich mich kürzer fassen. An eine planvolle Knüpfung eines frühen, wenn auch noch weitmaschigen Pfarreinetzes durch die Missionare beziehungsweise die ersten Bischöfe denken in jüngerer Zeit offenbar

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nisse des Bistums Hildesheim, in: Braunschweigisches Jahrbuch 39 (1958) S. 87–100 (bischöfliche Patronate). Kallen (wie Anm. 54), S. 248f. Thomas Glauser, Die Entstehung der zugerischen Pfarreien, in: Peter Eggenberger, Thomas Glauser, Toni Hofmann, Mittelalterliche Kirchen und die Entstehung der Pfarreien im Kanton Zug (Kunstgeschichte und Archäologie im Kanton Zug 5), Zug 2008, S. 17 (freundlicher Hinweis von Dr. Sabine Arend, Heidelberg), der Anm. 20 allerdings den Begriff der Eigenkirche nur jeder nicht-bischöflichen Kirchengründung vorbehält. Prinz, Gebhardt (wie Anm. 18), S. 438. Wilhelm Kohl, Bemerkungen zur Entstehung der Pfarrorganisation im alten Sachsen, vornehmlich im Bistum Münster, in: Ein Eifler für Rheinland-Pfalz. Festschrift für Franz-Josef Heyen zum 75. Geburtstag am 2. Mai 2003 (Quellen und Abhandlungen zur Mittelrheinischen Kirchengeschichte 105,2), Mainz 2003, Teil 2, S. 926f. Vgl. obige Übersicht und Petke, Schaumburg (wie Anm. 54), S. 199. Stahleder (wie Anm. 53), S. 181. Borchardt (wie Anm. 54), S. 818 Anm. 44. Enno Bünz, Die Bauern und ihre Kirche, in: Carola Fey, Steffen Krieb (Hrsg.), Adel und Bauern in der Gesellschaft des Mittelalters. Internationales Kolloquium zum 65. Geburtstag von Werner Rösener, Korb 2012, S. 227 mit Anm. 22. Zweitveröffentlichung in: ders., Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.– 16. Jahrhundert (SMHR 96), Tübingen 2017, S. 159 Anm. 22. Ders., Die Pfarrei in der Stauferzeit. Romanische Stadt- und Dorfkirchen aus historischer Sicht (Vorträge im Europäischen Romanik Zentrum 3), Halle 2014, S. 30. Adolph Tibus, Gründungsgeschichte der Stifte, Pfarrkirchen usw. im Bereiche des alten Bistums Münster, Bd. 1, Münster 1885, S. 378, 388.

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nur noch Thomas Kohl und eindeutig Paul Leidinger.61 Aber dessen ungeachtet ist in der Literatur zum Niederkirchenwesen vielfach vom Pfarreinetz die Rede – auch bei meinem Vorredner Rudolf Schieffer62 oder, und sicher nicht als letztem, bei dem Neuzeitler Etienne François in Berlin in dessen Beitrag zur Pfarrhausausstellung des Deutschen Historischen Museums im Jahre 2013.63 Dabei scheint man sich des Bildgehalts der verwendeten Metapher nicht recht bewußt zu sein. Die Maschen eines Netzes, gleichgültig ob weit oder eng, sind so regelmäßig wie möglich und auf jeden Fall planvoll geknüpft. Wenn es demnach sinnvoll ist, von einem Schienen-, Straßen-, oder Telefonnetz mit ihren jeweiligen Knotenpunkten zu sprechen, wobei auch diese Netze ihre diversen Ausbau- oder auch Rückbauphasen kennen, so ist die Summe der Pfarrkirchen, wie sie sich seit dem späten 13. Jahrhundert in den Rationes decimarum Italiens oder diversen bischöflichen Subsidienregistern in Deutschland darstellt, keineswegs das Ergebnis eines geplanten Aufbauwerkes. Treffend hat Emil Friedberg 1895 in seinem Lehrbuch zum Kirchenrecht formuliert: »Deutschland (war) während des Mittelalters nicht in ein regelmäßiges oder gar planmäßiges Pfarrnetz getheilt«.64 Das erste Jahrhundert der Bamberger Bistumsgeschichte bietet nach Guttenberg / Wendehorst »durchaus nicht den Anblick einer planmäßig ins Werk gesetzten und rasch fortschreitenden kirchlichen Organisation auf dem platten Lande«65, und Wilhelm Janssen vermochte »Lenkungsfunktionen von bischöflicher Seite« bei der frühmittelalterlichen Pfarrorganisation nicht zu erkennen, spricht dann aber später doch von einer »Verdichtung des Pfarrnetzes« als einer Folge der Urbanisierung im Hochmittelalter.66 Auch Wilhelm Störmer konnte von der Metapher nicht lassen, als er – sich der unsystematisch gewachsenen Pfarreibildung voll bewußt – meinte, daß »das Pfarreinetz […] aber erst die abschlie-

61 Th. Kohl, Lokale Gesellschaften (wie Anm. 52), S. 240, 268. Ders., Villae publicae (wie Anm. 46), S. 168. Leidinger, Östliches Münsterland, Nachtrag 2012, in: Ders, Von der karolingischen Mission (wie Anm. 19), S. 167. 62 Rudolf Schieffer, Die Zeit des karolingischen Großreichs (714–887) (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte 10. Aufl.), Bd. 2, Stuttgart 2005, S. 125: » […] in den rechtsrheinischen Gebieten […] kam in der ersten Hälfte des 9. Jh. der kirchliche Aufbau mit der Errichtung einer Bistumsorganisation und der Schaffung eines zunächst sehr weitmaschigen Pfarrnetzes zum äußeren Abschluß.« 63 Etienne François, Das andere Pfarrhaus. Das katholische Pfarrhaus, in: Bodo-Michael Baumunk u. a. (Bearb.), Leben nach Luther. Eine Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, in Kooperation der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Internationalen Martin Luther Stiftung Erfurt, Berlin 2013, S. 195. 64 Emil Friedberg, Lehrbuch des katholischen und evangelischen Kirchenrechts, 4. Aufl. Leipzig 1895, S. 173. 65 Guttenberg / Wendehorst (wie Anm. 11), S. 31f. 66 Wilhelm Janssen, Kleine Rheinische Geschichte, Düsseldorf 1997, S. 60, 147f.

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ßende ›Perfektionsphase‹ der Diözesangewalt (gewesen ist).«67 Gemeint ist die Durchsetzung der bischöflichen Jurisdiktionsgewalt über die Pfarrkirchen der Diözese infolge der Kirchenreform. Auch für den Gläubigen stellte sich das Pfarreiwesen nicht als ein Netz dar. Denn er konnte sich zu Zehntleistung und Sakramentenempfang keineswegs zur Kirche seiner Wahl begeben. Er unterlag dem Pfarrzwang seines seit 1215 so genannten proprius sacerdos, von dem er sich im Spätmittelalter, wollte er sich auf Wallfahrt begeben, für seine zeitweilige Entlassung aus der Pfarrei einen Pilgerbrief erbitten mußte.68 Wenn Enno Bünz im Jahre 2013 formuliert, »der Begriff des Pfarreinetzes sollte vermieden werden, weil die Kirchenorganisation nicht das Ergebnis einheitlicher Planung war, die von den Bischöfen gestaltet oder koordiniert wurde«, dann greift er einen Vorschlag auf, den ich im Jahre 2009 auf einer ReichenauTagung über die Pfarrei im Spätmittelalter gemacht habe.69 Da auch der Terminus Pfarrsystem eine die Pfarreien aufeinander beziehende Ordnung suggeriert – allenfalls die Pfarrer, nicht aber die Gemeinden kommunizierten miteinander auf Synoden und Landkapiteln, in Bruderschaften und bei Prozessionen – , ist am ehesten von der Pfarreiorganisation zu sprechen. Die Pfarreiorganisation eines Bistums ist die Vereinigung von Niederkirchen verschiedenen Ursprungs unter dem Dach der bischöflichen Jurisdiktion. Wie differenziert die Rechtsstellung und die Abhängigkeit einer Niederkirche sein konnten, hat Wilhelm Janssen 1991 für die Kölner Diözese erörtert und bei der Pfarreiorganisation des Spätmittelalters zu Recht von einer »frappanten Regellosigkeit« gesprochen.70

67 Wilhelm Störmer, Die innere Entwicklung, in: Andreas Kraus, Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (Handbuch der bayerischen Geschichte 3,1), 3. Aufl. München 1997, S. 298. 68 Joseph Avril, A propos du ›proprius sacerdos‹: Quelques réflexions sur les pouvoirs du prêtre de paroisse, in: Stephan Kuttner/Kenneth Pennington (Hrsg.), Proceedings of the Fifth International Congress of Medieval Canon Law, Salamanca, 21–25 September 1976, Città del Vaticano 1980 (Monumenta Iuris Canonici, Series C. Subsidia 6), S. 471–486, hier S. 473f. Wolfgang Petke, Der rechte Pilger. Pilgersegen und Pilgerbrief im späten Mittelalter, in: Peter Aufgebauer, Christine van den Heuvel (Hrsg.), Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 232), Hannover 2006, S. 361–390. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 323–357. 69 Enno Bünz, Die Pfarreiorganisation um 1500, in: ders., Hartmut Kühne, Thomas T. Müller (Hrsg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung »Umsonst ist der Tod«, Petersberg 2013, S. 33. Wolfgang Petke, Die Pfarrei in Mitteleuropa im Wandel vom Früh- zum Hochmittelalter, in: Enno Bünz, Gerhard Fouquet (Hrsg.), Die Pfarrei im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 77), Ostfildern 2013, S. 46f. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 43–83 bei Anm. 153. 70 Wilhelm Janssen, Die Differenzierung der Pfarrorganisation in der spätmittelalterlichen Erzdiözese Köln, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 55 (1991) S. 58–83, Zitat S. 80.

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Abschließend sei noch auf eine weitere Vorstellung hingewiesen, die gern im Zusammenhang mit den Altpfarreien gehegt wird. Wegen der Mission eines Willibrord, eines Bonifatius oder eines Liudger († 809) hat man den von ihnen gegründeten Klöstern höchste Bedeutung für die Christianisierung der von ihnen erfaßten Lande zugemessen – zu Recht, sofern dabei an die Indienstnahme der Eigenkirchen der monastischen Gemeinschaften für die Pastorisierung der klösterlichen Untersassen gedacht wird. Es ist aber verbreitete Meinung, die Brüder hätten in eigener Person von sogenannten Missionszellen aus die Christianisierung betrieben. Hameln an der Weser oder Brunshausen bei Gandersheim galten als solche Missionsstationen von Fulda.71 Aber Hameln war, wie Klaus Nass gezeigt hat, keineswegs eine Missionszelle, sondern zunächst einmal eine 802 oder 812 gestiftete Eigenkirche des Grafen Bernhard († 826). Erst als sie nach dessen Tod an Fulda gefallen war, richtete die Abtei an ihr 851 ein Nebenkloster ein. Es diente als Außenstation der Bewirtschaftung der Fuldaer Besitzungen im Weserraum und der personellen Entlastung der Mutterabtei. Drei bis zum 11. Jahrhundert nicht namentlich erwähnte, zum Hamelner Besitzkomplex gehörende Kirchen, wahrscheinlich St. Petri in Hehlen, St. Martin in Groß Hilligsfeld und St. Crucis in Kirchwahlingen (südwestl. Walsrode), waren grundherrliche Eigenkirchen des Nebenklosters und mitnichten frühe Fuldaer Missionskirchen.72 Auch Hanns-Christoph Picker, der in seiner Kieler Dissertation von 2001 die hohe Wertschätzung des Klerikertums durch Abt Hrabanus Maurus († 856) herausstellte, den Fuldaer Priestermönchen eine bedeutende Rolle bei der Sachsenmission zusprach und sich dabei neben einer umstrittenen Bemerkung in Eigils Vita Sturmi auf die große Zahl von Priestern in der fuldischen Konventsliste von 781 berief, hat – wenn auch nur in einer Fußnote – eingeräumt: »Eine sichere Bestimmung des Fuldaer Beitrags zur Pfarrorganisation in Sachsen erlauben die Quellen nicht«.73 Laut Rudolf von Fulda († 865) hat dessen Lehrer 71 Michael Erbe, Studien zur Entwicklung des Niederkirchenwesens in Ostsachsen vom 8. bis zum 12. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 26. Studien zur Germania Sacra 9), Göttingen 1969, S. 50. 72 Klaus Nass, Untersuchungen zur Geschichte des Bonifatiusstifts Hameln. Von den monastischen Anfängen bis zum Hochmittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 83. Studien zur Germania Sacra 16), Göttingen 1986, S. 73–79, 110–127, 133–137; zu den erwähnten Kirchen ebd. S. 237, 240, 244. Zu Brunshausen s. ders., Fulda und Brunshausen: Zur Problematik der Missionsklöster in Sachsen, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 59 (1987) S. 1–62. 73 Hanns-Christoph Picker, Pastor Doctus. Klerikerbild und karolingische Reformen bei Hrabanus Maurus (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 186), Mainz 2001, S. 78–87, 111, Zitat S. 84 Anm. 67. – Die Vita Sturmi des Eigil von Fulda c. 23, Hrsg. v. Pius Engelbert (Historische Kommission für Hessen und Waldeck 29), Marburg 1968, S. 159: praedicando et baptizando cum suis presbyteris peregisset et per regiones quasque singulos presbyteros disponeret, ecclesias construxisset. Zur Bewertung s. Naß, Fulda und Brunshausen (wie Anm. 72), S. 2.

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Hrabanus sowohl an den Nebenklöstern der Brüder (per cellas […] fratrum) als auch in vielen anderen Klosterorten Kirchen errichtet und bei der Verwaltung fuldischer Besitzungen außer seinen Villici gern Priester besonders dort eingesetzt, wo bereits Kirchen bestanden.74 Priestermönche und deren Seelsorge erwähnt Rudolf nicht.75 Die Priestermönche, die Giles Constable im 8. und 9. Jahrhundert in wachsender Zahl in den klösterlichen Eigenkirchen die cura animarum ausüben sah, sind mit wenigen Ausnahmen tatsächlich erst im 11. und 12. Jahrhundert belegt. Das hat Carine van Rhijn im Jahre 2007 richtig gestellt.76 Die Admonitio generalis Karls des Großen von 789 hat Regularklerus und Säkularklerus klar voneinander geschieden.77 Für Hinkmar von Reims schlossen cura animarum und mönchische Lebensweise einander aus.78 So hielten sich Benediktiner von der Seelsorge in ihren grundherrlichen Pfarreien generell fern.79 Ein bekanntes Wort des Hieronymus lautet: Monachus autem non doctoris habet, sed plangentis officium. Dementsprechend hatte Oediger schon 1956 unterstrichen, daß die angelsächsischen Mönche peregrini waren, die ihre Berufung nicht darin sahen, ihre Umgebung seelsorgerlich zu betreuen.80 Eigentliche Wirkungsstätte des karolingerzeitlichen Mönches war, was bereits Ulrich Stutz 1895 äußerte, der Chor der

74 Rudolf von Fulda, Miracula (MGH SS 15,1), Hannover 1887, S. 330: Per cellas quoque fratrum sibi commissorum et per alia loca multa ad se pertinentia, in quibus prius non erant, ecclesias cum permissione episcopi sui construxit (sc. Hrabanus) […]. Erant etiam per diversas provincias praedia monasterio subiacentia […] quorum alia quidem per villicos ordinavit, alia vero, et maxima illa, in quibus ecclesiae fuerant, presbyteris procuranda atque disponenda commisit. 75 Anders – nach Picker (wie Anm. 73) – Arnold Angenendt, Offertorium. Das mittelalterliche Meßopfer (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen. Veröffentlichung des AbtHerwegen-Instituts der Abtei Maria Laach 101), Paderborn 2013, S. 141: »Sein (sc. Hrabans) Kloster Fulda war in der Sachsenmission tätig und betraute weiterhin Priestermönche mit der Seelsorge an klostereigenen Kirchen.« 76 Giles Constable, Monasteries, Rural Churches and the Cura animarum in the Early Middle Ages, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica (wie Anm. 48), Bd. 1, S. 365–372. Carine van Rhijn, Shepherds of the Lord. Priests und Episcopal Statutes in the Carolingian Period (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 6), Turnhout 2007, S. 6–8. 77 Die Admonitio generalis Karls des Großen c. 21, 75, 77f. Hrsg. v. Hubert Mordek, Klaus Zechiel-Eckes, Michael Glatthaar (MGH. Fontes iuris 16), Hannover 2012, S. 194f., 228–231. van Rhijn (wie Anm. 76), S. 41f. 78 Hinkmar, Viertes Kapitular c. 1, Hrsg. v. Rudolf Pokorny, Martina Stratmann (MGH. Capit. episc. 2), Hannover 1995, S. 80–82. 79 Semmler, Mission und Pfarrorganisation (wie Anm. 54), S. 861f., 885. 80 Hieronymus, Adversus Vigilantium c. 15, Hrsg. v. Jean-Louis Feiertag (Corpus Christianorum, Series Latina 79C), Turnhout 2005, S. 28. Migne PL 23, Sp. 367 A. Friedrich Wilhelm Oediger, Über die Bildung des Geistlichen im Späten Mittelalter, Leiden 1953, S. 17. Ders., Bischöfliche Pfarrkirchen (wie Anm. 30), S. 28.

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Klosterkirche und nicht die Niederkirche in der klösterlichen Villikation.81 Es waren also die Eigenkirchenherren, die Bischöfe, Äbte und weltlichen Grundherren, darunter selbstverständlich auch die Könige, welche die Pfarreiorganisation des jeweiligen Bistums grundgelegt und über Jahrhunderte lang aufgebaut und in den von ihnen fundierten Kirchen die cura animarum durch ihre Weltpriester haben versehen lassen.

81 Stutz, Benefizialwesens (wie Anm. 54), S. 166f. Vgl. Wolfgang Müller, Die Anfänge des Christentums und der Pfarrorganisation im Breisgau, in: Schau-ins-Land 94/95 (1976/1977) S. 118, 126. Arnold Angenendt, Monachi peregrini. Studien zu Pirmin und den monastischen Vorstellungen des frühen Mittelalters (Münstersche Mittelalterschriften 6), München 1972, S. 124–164. Ders., Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, 3. Aufl. Stuttgart u. a. 2001, S. 212f., 270f f., 366–368. Petke, Schaumburg (wie Anm. 54), S. 203.

Wie kam die Kirche ins Dorf ? Mittelalterliche Niederkirchenstiftungen im Gebiet des heutigen Niedersachsen und Harburgs*

Wenn im 11. Jahrhundert in Friesland »die kirchliche Verkündigung, der christliche Gottesdienst sich die bäuerliche Sphäre zunächst weitgehend über die adlige Eigenkirche, auf herrschaftlichem Wege also und in den Bahnen lokalen, regionalen Adelsansehens zu erschließen strebte«1 oder im 11. Jahrhundert in Sachsen »das Eigenkirchenrecht und nicht die bischöfliche Pastoralgewalt die Entwicklung (sc. des Pfarreinetzes) bestimmt«2, dann wird der Eigenkirche eine bedeutende Rolle bei der Ausbildung des Niederkirchenwesens im heutigen Niedersachsen zugewiesen. Der Begriff der Eigenkirche ist 1895 von Ulrich Stutz an Hand der Überlieferung entwickelt, in die kirchliche Verfassungsgeschichte eingeführt3 und als »église privée« beziehungsweise »proprietary church« oder »private church« von der französisch- und englischsprachigen Forschung adaptiert worden.4 Stutz definierte die Eigenkirche als »ein Gotteshaus, das dem Eigentum oder besser einer Eigenherrschaft derart unterstand, daß sich daraus nicht bloß die Verfügung in vermögensrechtlicher Beziehung, sondern die volle

* Erstveröffentlichung in: Rainer Hering, Hans Otte u. Johann Anselm Steiger (Hrsg.), Gottes Wort ins Leben verwandeln. Perspektiven der (nord-)deutschen Kirchengeschichte. Festschrift Inge Mager zum 65. Geburtstag (Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, Beiheft 12), Hannover 2005, S. 33–68. 1 Heinrich Schmidt: Kirchenbau und »zweite Christianisierung« im friesisch-sächsischen Küstengebiet während des hohen Mittelalters, in: NSJ 59, 1987, S. 66. 2 Ernst Schubert: Geschichte Niedersachsens, Bd. 2,1, Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, Hannover 1997 (= VHKNS 36. Geschichte Niedersachsens 2,1), S. 338. 3 Ulrich Stutz: Die Eigenkirche als Element des mittelalterlich-germanischen Kirchenrechts, Berlin 1895, ND Darmstadt 1955 (= Libelli 28). Ders.: Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens, Berlin 1895, 3. Aufl. ergänzt von Hans Erich Feine, Aalen 1972. Ders.: Eigenkirche, Eigenkloster, in: RE Bd. 23, 3. Aufl. 1913, S. 364–377. 4 Vgl. Peter Landau: Eigenkirchenwesen, in: TRE 9, 1982, S. 399–404. Bernard Delmaire: Église privée, in: Dictionnaire encyclopédique du Moyen Âge, hrsg. von André Vauchez u. Catherine Vincent, Bd. 1, Paris 1997, S. 515. Richard E. Sullivan: Parish, in: Dictionary of the Middle Ages, hrsg. von Joseph R. Strayer, Bd. 9, New York 1987, S. 411f.

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geistliche Leitungsgewalt ergab«.5 Er erfaßte damit die Tatsache, daß Kirchen im frühen Mittelalter propriae ecclesiae eines Laien, eines Klosters, eines Priesters oder eines Bischofs sein konnten6 – und zwar bei den Klerikern nicht nach Amtsrecht, sondern nach persönlichem Besitzrecht – und daß aus dieser Rechtsposition ein umfassendes Herrschafts- und Nutzungsrecht des Eigenkirchenherrn abgeleitet wurde.7 Charakteristisch ist das Recht des Herrn auf Einkünfte aus seiner Kirche und das Recht zu ihrer Besetzung. Infolge der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts wurde die Eigenkirchenherrschaft zum Patronatsrecht abgemildert.8 Nach der Lehre der Kanonisten führten drei Tatbestände zur Entstehung eines Patronats: die Bereitstellung eines Grundstücks für die Kirche, ihre Erbauung und ihre Dotierung: Patronum faciunt dos, edificatio, fundus.9 Jeder dieser drei Tatbestände ließ selbständig einen Patronat entstehen und gegebenenfalls einen Kompatronat.10 Im ersten Band der von Hans Patze begründeten Geschichte Niedersachsens fällt das Wort Eigenkirche auf den dem Niederkirchenwesen gewidmeten Seiten allerdings kein einziges Mal;11 dafür hat Hans-Walter Krumwiede im Eigenkirchenwesen der Karolingerzeit wenigstens »ein(en) für die bischöfliche Christianisierungsarbeit ergänzende(n) Beitrag des frankenfreundlichen sächsischen 5 Stutz: RE Bd. 23 (wie Anm. 3), S. 366, ND (wie Anm. 3), S. 53. 6 Als ecclesia … de proprietate ist die Eigenkirche belegt bei Hinkmar von Reims, Collectio de ecclesiis et capellis, hrsg. von Martina Stratmann, Hannover 1990 (= MGH. Fontes iuris 14), S. 91: ecclesiae … sive sint de regia dominatione, sive sint de episcopii vel monasterii inmunitate, sive sint de cuiuslibet liberi hominis proprietate. Erstmals positiv und nicht mehr nur abwehrend zur Wahrung der bischöflichen Jurisdiktion wird die Eigenkirche berührt auf der Frankfurter Synode von 794, MGH. Conc. 2,1, S. 171 c. 54: De ecclesiis, quae ab ingenuiis hominibus construantur: licet eas tradere, vendere, tantummodo ut ecclesia non destruatur, sed serviuntur cotidie honores, sowie im Kapitular von Selz von 803, MGH. Capit. 1, hrsg. von Alfred Boretius, 1883, S. 119 c. 3: Quicumque voluerit in sua proprietate ecclesiam aedificare, una cum consensu et voluntate episcopi in cuius parrochia fuerit licentiam habeat; verumtamen omnino praevidendum est, ut aliae ecclesiae antiquiores propter hanc occasionem nullatenus suam iusticiam aut decimam perdant, sed semper ad antiquiores ecclesias persolvantur. Vgl. Wilfried Hartmann: Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien, Paderborn 1989 (= Konziliengeschichte A 9), S. 114f., und grundlegend zur Frühgeschichte der Eigenkirche Ders.: Der rechtliche Zustand der Kirchen auf dem Lande. Die Eigenkirche in der fränkischen Gesetzgebung des 7. bis 9. Jahrhunderts, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell’alto medioevo: Espansione e resistenze, Spoleto 1982 (= SSAM 28,1), S. 397–441. 7 Landau: Eigenkirchenwesen (wie Anm. 4), S. 399. 8 Peter Landau: Patronat, in: TRE 26, Berlin, New York 1996, S. 106ff. 9 Johannes Teutonicus († 1245), Glossa ordinaria ad C. 16, q. 7, c. 26 ad v. »Piae mentis«, Zitat nach Peter Landau: Ius patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts, Köln, Wien 1975 (= FKRG 12), S. 18. 10 Landau: Ius Patronatus (wie Anm. 9), S. 16ff., 21ff. Landau: Patronat (wie Anm. 8), S. 106f. 11 Hans Patze: Geschichte Niedersachsens. Bd. 1, Grundlagen und frühes Mittelalter, Hannover 1977 (= VHKNS 36. Geschichte Niedersachsens 1), S. 689–694.

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Adels« gesehen, »ohne den es nicht zu dem in relativ kurzer Zeit entstandenen Netz von Pfarrkirchen gekommen wäre«.12 Soweit man sieht, hat für den sächsischen Raum anders als für Bayern aber noch niemand zu formulieren gewagt, daß im Frühmittelalter »grundsätzlich jede Kirche die Rechtsstellung einer Eigenkirche hatte – es gab somit Eigenkirchen der Herzöge bzw. der Könige, des Adels, der Bischöfe und der Klöster«.13 Denn anders als in Bayern ist es an der nördlichen Peripherie des Frankenreiches schwierig, die Rolle des Eigenkirchenwesens für die niederkirchlichen Verhältnisse aus Urkunden und Güterverzeichnisssen abzuleiten. Urbare mit ihren wertvollen Nachrichten über die Stellung der Niederkirchen in den mittelalterlichen Grundherrschaften, wie sie seit dem 9. Jahrhundert aus den Landschaften zwischen Loire und Rhein überliefert sind14, existieren, abgesehen von dem aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammenden Urbar des Werdener Filialklosters Helmstedt15 und einzelnen Corveyer Heberegistern des 11. und 12. Jahrhunderts nicht.16 Die Fuldaer und Corveyer Traditionen erwähnen, soweit sie Sachsen betreffen, kaum jemals eine adelige Niederkirche. Das ist in den bayerischen Traditionen – zum Beispiel in jenen an die Bischofskirchen Freising, Passau oder Regensburg – gänzlich anders.17 Hier lassen sich für das 9. Jahrhundert sogar Phasen erkennen, in denen die Bischöfe sich um die Unterwerfung adeliger 12 Hans-Walter Krumwiede: Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 1, Von der Sachsenmission bis zum Ende des Reiches 1806, Göttingen 1995, S. 32. 13 Siegfried Haider: Zum Niederkirchenwesen in der Frühzeit des Bistums Passau (8.– 11. Jahrhundert), in: Das Christentum im bairischen Raum. Von den Anfängen bis ins 11. Jahrhundert, hrsg. von Egon Boshof und Hartmut Wolff, Köln u. a. 1994 (= Passauer Historische Forschungen 9), S. 328f. 14 Vgl. Andreas Hedwig: Die Eigenkirche in den urbariellen Quellen zur fränkischen Grundherrschaft zwischen Loire und Rhein, in: ZRG 109 KA 78, 1992, S. 1–64. 15 Ruolf Kötzschke (Hrsg.): Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr. A. Die Urbare vom 9.– 13. Jahrhundert, Bonn 1906 (ND 1978) (= PGRGK 20 = Rheinische Urbare 2), § 7 S. 175f. Die Werdener Urbarüberlieferung des späten 9. Jahrhunderts zum sächsischen Emsgau und zu den südoldenburgischen Hase-, Leri- und Dersigau, ebd. S. 60, 65f., bietet nichts zu Kirchen, vgl. Wilhelm Hanisch: Südoldenburg. Beiträge zur Verfassungsgeschichte der deutschen Territorien, Vechta 1962, S. 24f. mit Anm. 11. 16 Nikolaus Kindlinger: Münsterische Beiträge zur Geschichte Deutschlandes hauptsächlich Westfalens, Bd. 2, Münster 1790, Urkunden S. 107–119 Nr. 18, Einkünfte der Küsterei (12. Jh.). – Eine Corveyer Heberolle des 11. Jahrhunderts mit Abgaben u. a. aus Meppen, Haselünne, Visbek und Barnstorf sowie das Registrum Erkenberti Corbeiensis abbatis [1107–1128], gedruckt bei Hans Heinrich Kaminsky: Studien zur Reichsabtei Corvey in der Salierzeit, Köln, Graz 1972 (= VHKW 10 = Abhandlungen zur Corveyer Geschichtsschreibung 4), S. 193–222, 223–239. 17 Die Traditionen des Hochstifts Freising, hrsg. von Theodor Bitterauf, 2 Bde., München 1905 u. 1909 (= QEBG N. F. 4,5), Nr. 7, 11, 13, 15, 19, 30, u. ö. Die Traditionen des Hochstifts Passau, hrsg. von Max Heuwieser, München 1930 (= QEBG N. F. 6), Nr. 2, 8, 12, 18, 19 u. ö. Die Tradtionen des Hochstifts Regensburg und des Klosters S. Emmeram, hrsg. von Josef Widemann, München 1943 (= QEBG N. F. 8), Nr. 3, 5, 9, 12, 17, u. ö.

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Eigenkirchen unter ihre Jurisdiktion bemühten: Bereits die Errichtung einer Kirche versuchten die Bischöfe von Freising von ihrer Zustimmung abhängig zu machen, und weihen wollten sie die Kirchen nur, wenn diese zuvor an sie aufgelassen wurden.18 Diese auf die Mehrung des bischöflichen Kirchenbesitzes zielende Güterpolitik hat den Bogen überspannt: Bereits unter Bischof Erchanbert (836–854) ist die Übertragung von Adelskirchen an das Bistum Freising signifikant zurückgegangen.19 Die auch für Sachsen zweifellos zu Recht herausgestellte Bedeutung des Eigenkirchenwesens für die Errichtung von Pfarreien beruht im Kern auf Analogieschlüssen. Zunächst überträgt man die Befunde aus besser durchleuchtbaren Landschaften; sodann nimmt man an, daß der Adel nicht nur Klöster gestiftet hat, was durch Urkunden und Fundationsberichte vielfach gut dokumentiert ist, sondern auf seinen Grundherrschaften eben auch Kirchen für die geistliche Versorgung seines Hauses und seiner familia. Und schließlich folgert man aus den zahllosen spätmittelalterlichen Altar- und Vikariestiftungen zu Recht, daß das ausgeprägte Stiftungswesen von Laien und Klerikern nicht nur ein Phänomen des ausgehenden, sondern auch des frühen und hohen Mittelalters gewesen sein muß und dabei auch die Errichtung von Pfarrkirchen umfaßt hat. Wenn überhaupt, kam es allenfalls dann zu Beurkundungen, wenn in irgendeiner Weise die Rechte Dritter berührt waren: die Weihegewalt des Ortsbischofs, Rechte einer in der Nachbarschaft schon bestehenden Pfarrei, Ansprüche von Verwandten des Stifters oder eines Lehnsherrn auf das Dotationsgut. Sonst hatte ein Stifter keinen Grund, in eigener Sache, was die Gründung einer Eigenkirche nun einmal war, urkunden zu lassen. Wie man längst beobachtet und auch ausdrücklich betont hat, »fehlen« also für das späte 8. und für das 9. Jahrhundert für das heutige Niedersachsen »direkte Aussagen über die Gründung eine Pfarrkirche vollkommen«.20 Die Frage, wie und wann denn die Kirche ins »Dorf«21 gekommen sei, läßt sich für das frühmittelalterliche Sachsen bis weit in

18 Stefan Esders u. Heike Johanna Mierau: Der altdeutsche Klerikereid. Bischöfliche Diözesangewalt, kirchliches Benefizialwesen und volkssprachliche Rechtspraxis im frühmittelalterlichen Baiern, Hannover 2000 (= MGH. Studien und Texte 28), S. 105f. 19 Esders u. Mierau: Klerikereid (wie Anm. 18), S. 108–120. 20 Patze: Geschichte Niedersachsens 1 (wie Anm. 11), S. 690. 21 Zu der erst im Hochmittelalter mit dem Verfall der Fronhofsverfassung anzusetzenden »Verdorfung« s. Roger Sablonier: Das Dorf im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter, in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschr. für Josef Fleckenstein, hrsg. von Lutz Fenske, Werner Rösener u. Thomas Zotz, Sigmaringen 1984, S. 727–745, hier S. 729f. Werner Rösener, Dorf III, b) α, in: LMA 3, Zürich 1986, Sp. 1277f. Franz Staab: Verfassungswandel in rheinhessischen Dörfern zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert, in: Das Dorf am Mittelrhein. Fünftes Alzeyer Kolloquium, Stuttgart 1989 (= Geschichtliche Landeskunde 30), S. 149–173. Als Fallskizze Hans-Martin Maurer: Von der frühmittelalterlichen Gutsorganisation zur frühneuzeitlichen Dorfverfassung. Aus der Geschichte des

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das Hochmittelalter nicht direkt aus den überlieferten Quellen beantworten. Die Vorstellungen über den Aufbau des Pfarreiwesens beruhen hier und in anderen Landschaften auf einer Kombination von politischer Geschichte, Verfassungsund Siedlungsgeschichte, Archäologie und Kunstgeschichte, der Kirchengeschichte und hier nicht zuletzt der Patrozinienkunde.22 Diese Vorgehensweise ist so kompliziert und vielfach auch so hypothetisch, daß sie nur noch von Fachleuten überprüft werden kann. Im Folgenden soll daher an relativ gut bezeugten Kirchenstiftungen deutlich gemacht werden, daß das Eigenkirchenwesen auch im mittelalterlichen Sachsen Realität war und keineswegs nur ein Konstrukt der Forschung. Anders als für das östliche Sachsen, für das östliche Mitteleuropa oder auch für das früh- und hochmittelalterliche Bistum Utrecht23 liegt ein solcher Überblick für das heutige Niedersachsen, abgesehen von einzelnen Hinweisen aus Friesland und Oldenburg24, nicht vor. Angesichts des Anstaltscharakters der heutigen Kirche ist der weitgehend eigenkirchenrechtliche Ursprung insbesondere der ländlichen Pfarrrkirchen nicht nur der weiteren Öffentlichkeit, sondern auch den Kirchengemeinden in der Regel unbekannt.

Gaudorfes Renningen, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 41, 1982, S. 502– 513. 22 Vgl. zum Beispiel Friedrich Wilhelm Oediger: Die Pfarrkirchen und die Gläubigen, in: Wilhelm Neuss u. Friedrich Wilhelm Oediger (Bearb.): Das Bistum Köln von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, Köln 1964 (Geschichte des Erzbistums Köln 1), S. 287–296. Erich Frhr. von Guttenberg † u. Alfred Wendehorst: Das Bistum Bamberg, 2. Teil: Die Pfarreiorganisation, Berlin 1966 (= GermSac Abt. 2: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. Bd. 1: Das Bistum Bamberg), S. 13–31. Für Ostsachsen, das ist der Raum östlich der Oker, vgl. Michael Erbe: Studien zur Entwicklung des Niederkirchenwesens in Ostsachsen vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, Göttingen 1969 (= VMPIG 26 = Studien zur GermSac 9). Diesem Verfasser freilich entgangen ist S. 15 Anm. 1 die auf der urkundlichen Überlieferung gründende und für Ostsachsen einschlägige Abhandlung von Heinrich Felix Schmid: Das Recht der Gründung und Ausstattung von Kirchen im kolonialen Teile der Magdeburger Kirchenprovinz während des Mittelalters, in: ZRG 44 KA 13, 1924, S. 1–214. Einwände gegen Methode und Prämissen der Arbeit von Erbe bei Klaus Nass: Fulda und Brunshausen. Zur Problematik der Missionsklöster in Sachsen, in: NSJ 59, 1987, S. 4f. 23 Regnerus Richardus Post: Eigenkerken en bisschoppelijk gezag in het diocees Utrecht tot de XIIIe eeuw, Utrecht 1928 (= BIMGU 13). Schmid: Gründung und Ausstattung (wie Anm. 22) S. 1–214. Ders.: Die rechtlichen Grundlagen der Pfarrorganisation auf westslavischem Boden und ihre Entwicklung während des Mittelalters, Weimar 1938 (Zusammendruck von bereits in der ZRG KA 1926 bis 1931 erschienenen Aufsätzen). 24 Menno Smid: Ostfriesische Kirchengeschichte, Pewsum 1974 (= Ostfriesland im Schutze des Deiches 6), S. 61–65. Heinrich Schmidt und Ernst Schubert: Geschichte Ostfrieslands, in: Schubert: Geschichte Niedersachsens 2,1 (wie Anm. 2), S. 917–919. Heinrich Schmidt: Mittelalterliche Kirchengeschichte, in: Oldenburgische Kirchengeschichte, hrsg. von Rudolf Schäfer in Gemeinschaft mit Joachim Kuropka, Reinhard Rittner, Heinrich Schmidt, Oldenburg 1999, S. 39–45.

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I.

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Mission und Kirchenbau

Im Zuge der Gewaltmission, welche die frühen Sachsenkriege Karls des Großen begleitete, sah man in der adeligen Eigenkirche zunächst aber offenbar keinen Weg, über den man die Sachsen zum Christentum bekehren könnte. Die vielleicht auf dem Lippspringer Hoftag im Juli 782, möglicherweise aber auch erst nach 797 verkündete Capitulatio de partibus Saxonie stellte die Sachsen nicht nur vor die Alternative Tod oder Taufe, sondern faßte eine zwangsweise Überziehung des Landes mit einem Pfarreinetz ins Auge: »Was die niedrigeren Fälle angeht, so stimmen alle darin überein, daß einer jeden Kirche ein Hof und zwei Hufen Landes von den Einwohnern eines Gaues, die zu jener Kirche gehören, übertragen werden, und daß je 120 Personen, sowohl Edelinge als auch Frilinge und Laten, einen Knecht und eine Magd für diese Kirche beisteuern sollen«.25 Ernst Schubert hat diese Planung einer »Heerlagermentalität« zugeschrieben und zutreffend geurteilt: »Jeder auch nur halbwegs erfahrene Bischof hätte die Versammlung belehren können, daß man in der hier vorgesehenen Weise gewiß keine Pfarrorganisation aufbauen konnte … Nur einem aus dem Sattel denkenden Krieger kann einfallen, eine Pfarrkirche nicht wie üblich auf Stiftungsgut zu begründen, sondern letztlich auf dem Beuterecht … Nur wer mit dem Schwert argumentiert, kann über den inneren Widerspruch dieser Bestimmung hinwegsehen, daß nämlich zunächst ein Kirchspielverband für eine noch gar nicht existierende Pfarrei allein zu dem Zwecke geschaffen werden muß, eine Kirche zu dotieren«.26 Es ist in der Tat äußerst befremdlich, daß man sich eine solche Maßnahme überhaupt hat einfallen lassen, anstatt für die Dotierung von Niederkirchen auf regionale und örtliche adelige Stifter zu setzen. Solche muß es spätestens seit dem Jahre 782 auch in Sachsen gegeben haben, nachdem damals in Lippspringe neben Franken auch sächsische Adelige in Sachsen als Grafen eingesetzt worden waren.27 25 Capitulatio de partibus Saxoniae, MGH. Capit. 1, S. 69 Nr. 36 c. 15: De minoribus capitulis consenserunt omnes. Ad unamquamque ecclesiam curte et duos mansos terrae pagenses ad ecclesiam recurrentes condonant, et inter centum viginti homines, nobiles et ingenuis similiter et litos, servum et ancillam eidem ecclesiae tribuant. 26 Ernst Schubert: Die Capitulatio de partibus Saxonie, in: Geschichte in der Region. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Schmidt, hrsg. von Dieter Brosius u. a., Hannover 1993, S. 3–28, Zitate S. 10. Zur Capitulatio siehe auch Matthias Springer: Die Sachsen, Stuttgart 2004 (= Urbantaschenbücher 598), S. 221–230, zur Datierung S. 222. 27 Ann. Mosellani zu 782, MGH. SS 16, 1859, S. 497. Ann. Laurishamenses zu 782, MGH. SS 1, 1826, S. 32. Chronicon Moissiacense, MGH. SS 1, 1826, S. 297. Ann. Maximiniani, MGH. SS 13, 1881, S. 21. Vgl. Schubert: Capitulatio (wie Anm. 26), S. 9 Anm. 24. Schubert, S. 9, bezieht c. 31 der Capitulatio (S. 30: Dedimus potestatem comitibus bannum mittere infra suo ministerio de faida vel maioribus causis in solidos LX; de minoribus vero causis comitis bannum in solidos XV constituimus) auf Grafen sächsischer Herkunft, die in Sachsen amtierten, was jedoch keineswegs sicher ist – vgl. Springer: Sachsen (wie Anm. 26), S. 226f. –, und sieht die

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Das Wirken eines Sturmi, eines Willehad, eines Liudger oder eines Ansgar wird verständlicherweise gern an Hand von deren Viten nacherzählt und analysiert.28 Wie neben und nach diesen prominenten Glaubensboten die Bekehrung und eine Seelsorge in Sachsen praktisch vonstattengegangen sein sollen, bleibt dagegen diffus. Verbreitet betrachtet man die Anfänge der Christianisierung der Sachsen als ein Werk Fuldas, Werdens oder Corveys und stellt sich offensichtlich vor, daß Mönche dieser Abteien predigend und taufend durch die sächsischen Lande gezogen seien29 – womöglich im Stil eines Francisco Solano (1549–1616), des »Wundertäters der Neuen Welt«, der als einzelner franziskanischer Wandermissionar 1593 in La Rioja im Vizekönigreich Peru vor 40 Kaziken und deren kriegerischem Gefolge Gottes Wort verkündet hat.30 Bestimmend für diese Vorstellung, die vermutlich von der Arbeit der Missionsgesellschaften des 19. Jahrhunderts geprägt ist, waren Arbeiten von Konrad Lübeck31 und nicht zuletzt der Aufsatz von Hans Goetting über »Das Fuldaer Missionskloster Brunshausen und seine Lage«, der bereits in seinem Titel das Bild missionierender Mönche evoziert.32 Allenfalls läßt man neben oder auch nach den Mönchen noch ein Wirken

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Bußgewalt dieser Grafen auf Fälle bis zu einer Höhe von 60 Schillingen begrenzt, womit diese Grafen diskriminiert worden wären. Doch im Gegenteil verleiht c. 31 den Grafen die Kompetenz, über die gräfliche Bannbuße von 15 Schillingen hinaus in an sich dem König vorbehaltenen Angelegenheiten unter dem Königsbann von 60 Schillingen zu richten; vgl. Robert Scheyhing: Eide, Amtsgewalt und Bannleihe. Eine Untersuchung zur Bannleihe im hohen und späten Mittelalter, Köln, Graz 1960 (= Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte 2), S. 236f. Richard E. Sullivan: The Carolingian Missionary and the Pagan, in: Speculum 28, 1953, S. 705–740. Walther Lammers: Formen der Mission bei Sachsen, Schweden und Abotriten, in: BDLG 106, 1970, S. 23–46. Erbe: Niederkirchenwesen (wie Anm. 22), S. 52: »Dabei bleibt es im übrigen auch zweifelhaft, ob das in einem bestimmten Dorf an Fulda überwiesene Gut in jedem Falle als Grund und Boden für eine neue Kirche verschenkt worden ist und nicht vielmehr dem Unterhalt der hier und im Gebiet ringsum tätigen Mönche gedient hat«. Ebenda S. 53: »Das Fuldaer Gut in Orten mit fränkischen Stützpunkten und damit wahrscheinlich seit sehr früher Zeit verbundenen Kirchen wird man bestimmt mit den geistlichen Aufgaben in Verbindung bringen können, welche die Fuldaer Mönche in diesen Ortschaften zu erfüllen hatten«. Vgl. Hans-Jürgen Prien: Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen 1978, S. 229. Konrad Lübeck: Das Fuldaer Eigenkloster Hameln, in: NSJ 16 (1939) S. 1–40. Ders.: Das Kloster Fulda und die Sachsenmission, in: Ders.: Fuldaer Studien 3, Fulda 1951 (= Veröffentlichungen des Fuldaer Geschichtsvereins 29), S. 47–74. Hans Goetting: Das Fuldaer Missionskloster Brunshausen und seine Lage, in: Harz-Zeitschrift 5/6, 1953/54, S. 9–27. Goetting hat seine Auffassung, daß Brunshausen eine fuldische Missionszelle gewesen wäre, in seinen späteren grundlegenden Arbeiten zu Gandersheim, Brunshausen und Hildesheim wiederholt ausgeführt: Hans Goetting: Das reichsunmittelbare Kanonissenstift Gandersheim, Berlin, New York 1973 (= GermSac NF 7. Das Bistum Hildesheim 1), S. 81, 253. Ders.: Das Benediktiner(innen)kloster Brunshausen. Das Benediktinerinnenkloster St. Marien vor Gandersheim. Das Benediktinerkloster Clus. Das Franziskanerkloster Gandersheim, Berlin, New York 1974 (= GermSac NF 8. Das Bistum Hil-

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der Bischöfe – in Südniedersachsen derer von Mainz – gelten.33 Dabei ist die eigentliche Wirkungsstätte des karolingerzeitlichen, nach der Reform des Benedikt von Aniane (816–818/19) lebenden Mönchs nicht die Pfarrei, sondern das Kloster. Die missionierenden angelsächsischen Mönche des 8. Jahrhunderts hatten in ihren peregrinationes wie ihre irischen Vorgänger immer noch die Askese und nicht die Heidenmission gesucht, auch wenn Winfried-Bonifatius seine angelsächsischen Landsleute aufgefordert hatte, dafür zu beten, daß Gott die Herzen der heidnischen Sachsen zum katholischen Glauben bekehren möge.34 Tatsächlich hat Bonifatius zwar Hessen, Bayern und Friesland betreten, aber nie Sachsen. Im Ganzen war die Bekehrung der Heiden eine Folge, nicht das Ziel der Pilgerfahrten der Mönche.35 Den aus Corbie stammenden Ansgar († 865) meinte sein Biograph, der Erzbischof Rimbert von Bremen († 888), dahingehend rechtfertigen zu müssen, jener habe alles für das Heil der Seelen nicht aus Unbeständigkeit, sondern aus Verantwortung vor Gott und aus Liebe zur Pilgerschaft (peregrinationis amore) auf sich genommen.36 Bezüglich der angeblichen Missionsklöster hat Klaus Nass 1986 und 1987 dargelegt, daß es sich bei jener Bonifatiuszelle, für die von 875/78 eine Mönchsund Schülerliste überliefert ist (Nomina fratrum de coenobio quod uocatur sancti Bonifatii cella)37, keineswegs um Brunshausen bei Gandersheim, sondern um das fünf Kilometer südwestlich des hessischen Alsfeld gelegene, erst im Jahre 825 geweihte Zell handeln dürfte und Brunshausen somit keine Fuldaer Missions-

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desheim 2), S. 22ff. Ders.: Die Hildesheimer Bischöfe von 815 bis 1221 (1227), Berlin, New York 1984 (= GermSac NF 20. Das Bistum Hildesheim 3), S. 43. Vgl. Alfred Bruns: Der Archidiakonat Nörten, Göttingen 1967 (= VMPIG 17 = Studien zur GermSac 7), S. 22, 38f. Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, hrsg. von Michael Tangl, Berlin 1916 (= MGH. Epp. sel. 1), S. 75 ep. 46 (ca. 738). Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius. Nebst einigen zeitgenössischen Dokumenten. Neu bearb. v. Reinhold Rau, Darmstadt 1968 u. ö. (= AQDGMA 4b), S. 134: ut deus et dominus noster Iesus Christus … convertat ad catholicam fidem corda paganorum Saxonum. Giles Constable: Monasteries, Rural Churches and the cura animarum in the early Middle Ages, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica (wie Anm. 6), S. 349–389, hier S. 356–359. Vgl. Arnold Angenendt: Monachi peregrini. Studien zu Pirmin und den monastischen Vorstellungen des frühen Mittelalters, München 1972 (= MMAS 6), S. 124–164. Ders.: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, 3. Aufl. Stuttgart u. a. 2001, S. 212f., 270ff., 366–368. Vita Anskarii auctore Rimberto, hrsg. von Georg Waitz, Hannover 1884 (= MGH. SSrerGerm 55), S. 26 c. 6: Hoc autem ideo scribere necessarium duximus, ne forte aliquis levitati assignet, quod vir Dei divinae conpunctionis instinctu et peregrinationis amore pro salute animarum suscepit. Annales necrologici Fuldenses, MGH SS 13, 1881, Appendix S. 218. Vgl. Nass: Fulda und Brunshausen (wie Anm. 22), S. 33 mit Anm. 165. Dazu die Weihenotiz dieses Zell [zu 825], Notae dedicationum Fuldenses, MGH. SS 15,2, 1888, S. 1287. Zu ihrer Datierung s. Nass, S. 37f.

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außenstelle war.38 Auch Hameln war keine Fuldaer Missionsstation, sondern zunächst einmal eine 802 oder 812 gestiftete Eigenkirche des Grafen Bernhard († 826). Erst als sie nach dessen Tod an Fulda gefallen war, richtete die Abtei an ihr 851 ein Nebenkloster ein. Diese monastische Außenstation diente der Bewirtschaftung der Fuldaer Besitzungen im Weserraum und der personellen Entlastung der Mutterabtei. Drei bis zum 11. Jahrhundert nicht namentlich erwähnte, zum Hamelner Besitzkomplex gehörende Kirchen – es könnte sich um die im 13. und 14. Jahrhundert als Hamelner Patronatskirchen bezeugten Kirchen St. Petri in Hehlen, St. Martin in Groß Hilligsfeld und St. Crucis in Kirchwahlingen (südwestl. Walsrode) handeln –, waren grundherrliche Eigenkirchen des Nebenklosters und mitnichten frühe Fuldaer Missionskirchen.39 Von Abt Hraban (822–842) heißt es bei Rudolf von Fulda, er habe 30 Kirchen auf fuldischen Besitzungen bauen lassen.40 Die seitens der Könige und der Gläubigen in verschiedenen Provinzen dem Kloster geschenkten Güter habe er verwalten lassen teils durch Villici und teils – und zwar dort, wo es Kirchen gab – durch Priester; diese, unter denen auch ein Priestermönch bezeugt ist, hatten an die Mutterabtei Servitien zu leisten.41 Die Christianisierung auf dem Lande erfolgte durch die Eigenkirchenpriester des Klosters. Wie groß unter diesen der Anteil von Priestermönchen war, ist offen. Doch muß man unter den Fuldaer Eigenkirchenpriestern gewiß mit Weltklerikern rechnen, die freilich ihre Erziehung im Kloster genossen haben werden. Als Cheitmar, der Fürst der Karantanen, den Bischof Virgil von Salzburg († 784) um die Bekehrung seines Volkes bat, entsandte dieser den Chorbischof Modestus und mit diesem seine Priester Watto, Reginbert, Cozharius und Latinus, den Diakon Ekihard und andere Geistliche. Modestus († um 763) hatte die Erlaubnis, Kirchen zu weihen, und so geschah es in Maria Saal, auf dem Lurnfeld 38 Klaus Nass: Fulda und Brunshausen (wie Anm. 22), S. 1–62. Nicht rezipiert von Peter Johanek: Der Ausbau der sächsischen Kirchenorganisation, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, Bd. 2 Katalog, hrsg. von Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff, Mainz 1999, S. 502. 39 Klaus Nass: Untersuchungen zur Geschichte des Bonifatiusstifts Hameln. Von den monastischen Anfängen bis zum Hochmittelalter, Göttingen 1986 (= VMPIG 83 = Studien zur GermSac 16), S. 73–79, 110–127, S. 133–137, (zu den erwähnten Kirchen:) S. 237, 240, 244. 40 Rudolfi miracula sanctorum in Fuldenses ecclesias translatorum, MGH. SS 15,1, 1887, S. 340 c. 14. 41 Ebenda, S. 330 c. 1: Erant etiam per diversas provincias praedia monasterio subiacentia, partim ex donis regum, partim ex liberalitate fidelium personarum … illuc collata; quorum alia quidem per villicos ordinavit (sc. Hraban), alia vero, et maxime illa in quibus ecclesiae fuerant, presbyteris procuranda atque disponenda commisit. Ebenda, S. 332 c. 3: …. presbyter unus ex fratribus nostris nomine Anthadus, praepositus locorum in illis partibus [Gegend zwischen Mainz und Seligenstadt] monasterio subiacentium, cui iniunctum erat, ut statutis temporibus inde necessaria fratribus amministraret. Vgl. Nass: Hameln (wie Anm. 39), S. 140. Nass: Fulda und Brunshausen (wie Anm. 22), S. 19.

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bei Spittal an der Drau und im oder am Aichfeld westlich St. Margarethen bei Knittelfeld.42 Der Salzburger Erzbischof Arn († 821), der sich 798 persönlich nach Kärnten begeben hatte, ließ seit 799 seinen Chorbischof Theoderich (799– nach 821) vor dem Volk predigen, es in der Lehre des Evangeliums unterrichten, neu errichtete Kirchen und Priester weihen und diese einsetzen.43 Von Priestern und nicht von Mönchen ist die Rede. Und es ist die Rede von slavischen Fürsten und Großen. Sie haben die Missionare eingeladen, und sie müssen es gewesen sein, die ihnen nicht nur ihre Wanderungen ermöglicht, sondern auch den Grund und Boden für die zu weihenden Kirchen zur Verfügung gestellt haben. Einige Belege für diesen Aspekt seien im Folgenden angeführt; damit wird hingeführt zu den praktischen Vorausetzungen für Kirchenbau und Kirchendotierung und somit hin zum Vorgang der Errichtung von Pfarrkirchen auf dem Lande. Die Vorstellung, daß die Missionare womöglich eigenhändig Missionskirchen errichtet hätten, dürfte wesentlich bestimmt sein durch den berühmten Bericht von der Fällung der Donareiche in Geismar bei Fritzlar durch Bonifatius sowie von Willibalds anschließendem Satz: Tunc autem summae sanctitatis antistes (sc. Bonifatius), consilio inito cum fratribus ligneum ex supradictae arboris metallo oratorium construxit eamque (!) in honore sancti Petri apostoli dedicavit.44 Aus dem von den Heiden verehrten Baum soll also der Missionar mit eigener Hand das Bauholz für seine Kirche gewonnen und diese sodann errichtet haben. Bonifatius erbaute (fabricavit) nun aber nicht nur die Kirche in Fritzlar, sondern auch die Michaelskirche in Amöneburg45 sowie 753/54 viele Kirchen in Friesland, nachdem er dort ebenfalls Heiligtümer der Heiden zerstört hatte.46 Im Gegensatz zu der Geismarer und Fritzlarer Szene, die als handgreifliche Akte des Bonifatius stilisiert sind und so bis heute ihre Wirkung ja auch nicht verfehlen, ist das Verb fabricare der späteren Baunachrichten schwerlich im Sinne von »verfertigen« – also dem praktischen Bauen – zu verstehen. Vielmehr ist es dahingehend zu

42 Herwig Wolfram: Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Das Weissbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien, Köln, Graz 1979 (= Böhlau Quellenbücher), S. 42–44 c. 5, Kommentar S. 90–94. 43 Ebenda, S. 48 c. 8, Kommentar S. 109–111. 44 Vita Bonifatii auctore Willibaldo, in: Vitae sancti Bonifatii archiepiscopi Moguntini, hrsg. von Wilhelm Levison, Hannover u. Leipzig 1905 (= MGH. SSrerGerm 57), S. 31f. c. 6. Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius (wie Anm. 34), S. 494 c. 6. 45 Vita Bonifatii c. 6, S. 35: duas videlicet e˛cclesias Domino fabricavit: unam quippe in Frideslare, quam in honore sancti Petri principis apostolorum consecravit, et alteram in Hamanaburch; hanc etiam in honore sancti Michaelis archangeli dedicavit. 46 Vita Bonifatii c. 8, S. 47: Per omnem igitur Fresiam pergens, verbum Domini paganico repulso ritu et erraneo gentilitatis more destructo, instanter praedicabat e˛cclesiasque, numine confracto dilubrorum, ingenti studio fabricavit.

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deuten, daß der Missionar die Errichtung der Kirchen veranlaßte, womit er noch nicht einmal selbst als Bauherr fungiert haben muß.47 Jeder Kirchenbau benötigt zuerst einmal ein Grundstück. Wer den Grund und Boden der Fritzlarer Peterskirche (und heutigen Stiftskirche) gestiftet hat, ist glücklicherweise überliefert: Fränkische Große (priores et prudentiores Francorum) hätten 723/24 von Tag zu Tag in immer größerem Umfang Bonifatius und seine Schüler beschenkt (sua offere). In Hessen und Thüringen hätten Bonifatius und die Seinen damit angefangen, von diesen Personen, die um Gottes und ihrer Seele willen stifteten, kleine Örtlichkeiten und Ländereien in Empfang zu nehmen und darauf Kirchen zu errichten. Einer dieser Orte läge in Thüringen und heiße Erfurt, ein anderer sei Fritzlar in Hessen.48 Nach diesem 790/91 in Utrecht aus der Feder Liudgers, des nachmaligen ersten Bischofs von Münster, geflossenen Zeugnis stammte also der Grund für den ältesten Fritzlarer Kirchenbau von einem adeligen Gönner des Missionars.49 Offenbar wegen des nicht-königlichen Grundbesitzes in Fritzlar hat Karl Martell 741/42 das Hessenbistum nicht dort, sondern auf der benachbarten königlichen Büraburg eingerichtet.50 Die Fritzlarer ecclesia blieb zu Lebzeiten des Bonifatius dessen Eigenkirche.51 In Dokkum im Ostergo, am Ort seines Martyriums, haben Friesen eine Petrus- und Bonifatiuskirche nebst einer Unterkunft für deren Diener errichtet.52 Sturmi, der erste Abt von Fulda († 779), hat 772 mit seinen Priestern den Sachsen gepredigt, sie aufgefordert, ihre Heiligtümer zu zerstören, ihre Haine zu 47 Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert. Redigiert v. Otto Prinz u. a., Bd. 2, München 1999, Sp. 1643ff., s.v. constructio, constructor, constructrix, construo. Die aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts stammende Vita altera Bonifatii c. 4, in: Vitae sancti Bonifatii archiepiscopi Moguntini (wie Anm. 44), S. 65, macht Bonifatius zum architectus, der bessser als die zeitgenössischen schlechten architecti die Bischofssitze Utrecht und Mainz statt mit Steinen mit der christlichen Lehre aufgebaut habe (statuit construere). Vgl. Günther Binding: Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als »sapiens architectus«, 2. Aufl. Darmstadt 1998, S. 281. – Zur Bauherrenschaft von hochmittelalterlichen Bischöfen, Äbten und Päpsten vgl. ebenda, S. 35–38. Wolfgang Giese: Zur Bautätigkeit von Bischöfen und Äbten des 10. bis 12. Jahrhunderts, in: DA 38, 1982, S. 388–438. Günther Binding: Bischof Benno II. von Osnabrück als »architectus et dispositor caementarii operis, architectoriae artis valde peritus«, in: ZDVKW 44, 1990, S. 53–66, hier S. 59. 48 Liudgeri vita Gregorii abbatis Traiectensis, c. 3 zu 723/24, MGH SS 15, 1, 1887, S. 70: Ibique coeperunt (sc. Bonifatius und seine Schüler) offerentibus propter amorem Dei et salutem animarum suarum modica loca territoriaque suscipere et in eis ecclesias construere … De quibus locis est unus in Thuringia nomine Erpesford, et alius in Hassis Frideshlar, cum ceteris nonnullis, quos initiaverunt electi Dei et excoluere cultu divino. 49 Vgl. Fred Schwind: Fritzlar zur Zeit des Bonifatius und seiner Schüler, in: Fritzlar im Mittelalter. Festschr. zur 1250-Jahrfeier, Fritzlar 1974, S. 74. Michael Gockel: Fritzlar, in: Die deutschen Königspfalzen. Bd. 1: Hessen, Lfg. 4–5, Göttingen 1996–2001, S. 491, 500. 50 Rudolf Schieffer: Über Bischofssitz und Fiskalgut im 8. Jahrhundert, in: HJ 95, 1975, S. 18– 32, hier S. 19f. 51 Vgl. Gockel: Fritzlar (wie Anm. 49), S. 463. 52 Vita Bonifatii c. 9 (wie Anm. 44), S. 56.

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vernichten und stattdessen heilige Kirchen zu bauen; der ausbrechende Sachsenkrieg bereitete Sturmis Wirken ein Ende.53 Es hatte hinsichtlich der Kirchen auf eine Beteiligung der Bekehrten gesetzt. In Friesland wurde der Angelsachse Liafwin (Lebuin) vor 776 aufgenommen von einer gewissen Avaerhild und anderen Gläubigen. Diese bauten dem Missionar ein Bethaus in Wilp westlich der Ijssel54 und ein zweites östlich des Flusses in Deventer, das dann von den Sachsen zerstört wurde.55 Liudger errichtete (fabricavit) auf Helgoland nach dem Jahr 787, sobald er sich mit mit dem dortigen Fürsten ins Benehmen gesetzt, dessen Sohn Landrich getauft und zum Priester geweiht hatte, anstelle der fana eine Kirche; im friesischen Leer besaß Liudger um 792 genauso eine Kirche wie im westfälischen Billerbeck56, wo er 809 sterben sollte. Willehad hat 780, wie seine Vita berichtet, in Wigmodien und in den friesischen Gauen damit begonnen, gestützt auf die Autorität Karls des Großen, Kirchen zu errichten und Priester an ihnen anzustellen.57 Einige dieser Priester werden namentlich genannt, weil sie beim Aufstand Widukinds 782 ihr Leben ließen.58 Im Jahre 785 kehrte Willehad nach Wigmodien zurück, ecclesias quoque destructas restauravit.59 Daß örtliche Herren daran beteiligt gewesen wären, hat der Verfasser seiner Vita nicht im Blick. Ganz anders Rimbert in seiner um 875 verfaßten Vita Anskarii! In HaithabuSchleswig gestattete der dänische König Horich dem Missionar Ansgar nach 849 den Bau einer Kirche und verlieh zudem noch ein Grundstück für eine Priesterwohnung.60 Im schwedischen Birka am Mälarsee hatte nach 830/31 der kö53 Die Vita Sturmi des Eigil von Fulda, hrsg. von Pius Engelbert, Marburg 1968 (= VHKH 29), S. 159 c. 23: … docebat eos, ut idola et simulacra vana derelinquerent, Christi fidem susciperent, deorum suorum templa destruerent, lucos succiderent, ecclesias sacras aedificarent. 54 Heute Gemeinde Voorst, niederl. Prov. Gelderland, Maurits Gysseling: Toponymisch woordenboek van België, Nederland, Luxemburg, Noord-Frankrijk en West-Duitsland (vóór 1226), Deel 2, N-Z, Tongeren 1960 (= Bouwstoffen en Studiën voor de Geschiedenis en de Lexicografie van het Nederlands 6,2), S. 1078. 55 Vita S. Liudgeri auctore Altfrido, hrsg. von Wilhelm Diekamp, Münster 1881 (= GQBM 4), I, 13, S. 18: Fecerunt autem ei (sc. Lebuin) oratorium in occidentali parte prefati fluminis in loco, qui Huilpa vocatur. Ebenda I, 14 S. 18f.: Post haec etiam aedificaverunt ei ecclesiam in litore orientali eiusdem fluminis in loco, cuius vocabulum est Daventre. 56 Vita S. Liudgeri I, 22 (wie Anm. 55), S. 26f., I, 28, S. 33f.: Venit quoque sacerdos idem ad ecclesiam suam in loco sitam, qui vocatur Billurbeki …, I, 29, S. 34: Dum igitur in Fresia docendi gratia ad aecclesiam suam venisset in loco, qui dicitur Hleri, iuxta fluvium Lade, … 57 Vita S. Willehadi [hrsg. von Albert Poncelet], in: ActaSS Novembris, tom. 3, Brüssel 1910, S. 844 c. 5: … per Wigmodiam ecclesias coepit construere ac presbyteros super eas ordinare, qui libere populis monita salutis ac baptismi conferrent gratiam. 58 Ebenda c. 6, S. 844. 59 Ebenda c. 8, S. 845. 60 Vita Anskarii (wie Anm. 36), S. 52 c. 24: … ecclesiam illi fabricare permisit, tribuens locum in quo presbiter maneret. Dazu S. 59 c. 28 (852/53): König Olaf in Birka atrium unum ad oratorium dedit fabricandum; domnus quoque episcopus presbitero ad habitandum alterum cum domo emit.

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nigliche Präfekt Hergeir, der von Ansgar getauft worden war, auf seinem Erbgut eine Kirche errichtet (in hereditate sua non multo post ecclesiam fabricavit).61 Für ihn ist also das bezeugt, wofür sich im frühmittelalterlichen Sachsen keine zeitgenössischen Belege beibringen lassen.

II.

Adelige Eigenkirchen in Sachsen im 10. und 11. Jahrhundert

Erst seit dem späten 10. und dem frühen 11. Jahrhundert sind in Sachsen Beurkundungen über die Stiftung von Niederkirchen überliefert. Wohl bald nach 970 fundierte die Widukind-Nachfahrin Aldburg, Mutter des Osnabrücker Bischofs Ludolf (967–978)62, auf ihrem Besitz (in villa nostre possessionis) in Essen (südsüdwestl. Cloppenburg) eine Kirche, die dem hl. Pankratius geweiht wurde und als dos zehn Hörigenfamilien in und bei Essen erhielt ad utilitatem presbiteri, ut servicium Dei penitus a clero possit perpetrari. Bischof Ludolf bekräftigte die Stiftung seiner Mutter mit dem bischöflichen Bann.63 Ebenfalls mit seinem bischöflichen Bann, den er durch sein Siegel beglaubigen ließ – dieses Siegel wurde um 1211 durch das heutige rückwärtig eingehängte, gefälschte Siegel ersetzt –, bestätigte im Jahre 1031 Bischof Branthog von Halberstadt die Stiftung der Magni-Kirche im präurbanen Braunschweig. Der Freie Hatheguard und seine Frau Atta hatten die Kirche für sich und die Ihren errichtet und mit zwei Hufen dotiert (hanc e˛cclesiam pro se suisque omnibus construxerunt, cui duos mansos … in dotem manciparunt). Der Brunone Graf Liudolf, von dem Hatheguard die beiden Hufen zu Lehen trug, konsentierte und ließ seinerseits auf dem Altar der Kirche für sein und seiner Verwandten Seelenheil ein nahegelegenes Landstück auf. Der Halberstädter Bischof weihte die Kirche und wies ihr ein Kirchspiel mit 17 namentlich genannten Siedlungen zu.64 Diese lagen östlich der Oker innerhalb

61 Vita Anskarii (wie Anm. 36), S. 32 c. 11. 62 Helmuth Kluger u. Angelika Spicker-Wendt: Osnabrugensis ecclesia, in: SEECO. Series V Germania, Bd. 1 Archiepiscopatus Coloniensis, hrsg. von Stefan Weinfurter u. Odilo Engels, Stuttgart 1982, S. 145f. 63 Osnabrücker UB, bearb. v. F. Philippi, Bd. 1, Osnabrück 1892 (ND 1969), S. 84f. Nr. 106. Regest: UB von Süd-Oldenburg, bearb. v. Gustav Rüthning, Oldenburg 1930 (= Oldenburgisches Urkundenbuch 5), S. 15 Nr. 14. Vgl. Schmidt: Mittelalterliche Kirchengeschichte (wie Anm. 24), S. 28. 64 UB des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe, hrsg. von Gustav Schmidt, Bd. 1, Leipzig1883 (= PPSA 17), S. 52 Nr. 71. UB der Stadt Braunschweig, Bd. 2/I, hrsg. von Ludwig Hänselmann, Braunschweig 1900, S. 1f. Nr. 1. Grundlegend zur Echtheit dieser Urkunde und zu ihren Siegelproblemen: Helmut Beumann: Die Urkunde für die Kirche St. Magni in Braunschweig von 1031, in: Festschr. für Berent Schwineköper zu seinem siebzigsten Geburtstag, hrsg. von Helmut Maurer und Hans Patze, Sigmaringen 1982, S. 187–209. – Nachurkunde von 1211: UB HHalb 1 S. 415f. Nr. 465. Vgl. Caspar Ehlers u. Lutz Fenske:

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eines Halbkreises mit einem Radius von rund sechs Kilometern, der im Norden bis Wenden reichte, im Osten bis † Huneshem (ehedem wenig westl. der heutigen Klosterkirche Riddagshausen) und im Süden bis † Ekthi (ehedem beim heutigen Schloß Richmond).65 Die Urkunde bietet nicht nur den Erstbeleg für den Namen Braunschweig66, sondern auch die älteste aus Sachsen überlieferte Pfarreitermination. St. Magni wurde in der Pentapolis Braunschweig die Pfarrkirche der Stadt Altewiek.

III.

Bischöfliche Eigenkirchen

Die romanische Dorfkirche in Idensen (südwestl. Wunstorf) mit ihrer aus der Erbauungszeit erhaltenen Ausmalung gilt zusammen mit Schwarzrheindorf als einer der bedeutendsten kirchlichen Kleinbauten des 12. Jahrhunderts in Deutschland.67 Die Kirche ist eine Stiftung des Bischofs Sigward von Minden (1120– 1140).68 Zu Lebzeiten seines Verwandten Adolf des Älteren von Schaumburg, also wohl vor 113069, hat Sigward als Bischof seinem Bistum Eigengüter (he˛c hereditatis nostre˛ predia) übertragen70, und zwar die sämtlich westlich der Leine gelegenen Villikationsnebenhöfe (vorwerc) 71 in Sorsum, in Beber am Nordostabhang

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Braunschweig, in: Die deutschen Königspfalzen. Bd. 4: Niedersachsen. Lfg.1–2, Göttingen 1999–2000, S. 106f. Nr. 1. Hermann Kleinau: Geschichtliches Ortsverzeichnis des Landes Braunschweig, Hildesheim 1967–1968 (= VHKNS 30 = Geschichtliches Ortsverzeichnis von Niedersachsen 2), Nr. 591 († Everikesbüttel), 2040 († Thüringesbüttel), 224 (Bienrode), 322 (Veltenhof), 2249 (Wenden), 320 (Rühme), 1368 († Markwarderode), 1570 († Ottenrode), 314 (Glismarode), 1063 († Hünessen), 643 († Friderikesrot), 1654 (Rautheim), 1413 († Mordorf), 1661 († Reindageroth), 1309 († Limbeck), 533 († Ekthe). Nicht bei Kleinau erfaßt ist † Hanroth, aufgegangen in Walle. Vgl. Wilhelm Bornstedt: 17 versunkene Dörfer unter den Straßen der Stadt Braunschweig ab 1031, (Braunschweig) 1981 (= Denkmalpflege und Geschichte. Der Stadtheimatpfleger für die Stadt Braunschweig), S. 45f., 58–61 u. Karte. Vgl. Ehlers u. Fenske: Braunschweig (wie Anm. 64), S. 43–45. Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Niedersachsen, Bremen. Bearb. v. Georg Weiss unter Mitarbeit von Georg Eichwalder u. a., München, Berlin 1992, S. 772. Zur Person des Bischofs s. Wolfgang Herpich u. Helmuth Kluger: Minda (Minden), in: SEECO (wie Anm. 62), S. 104. Wolfgang Petke: Kanzlei, Kapelle und königliche Kurie unter Lothar III. (1125–1137), Köln, Wien 1985 (FKPG 5), S. 343–348. Zu 1130 (?) als dem nicht sicher erschließbaren Todesjahr des zustimmenden und als Zeuge genannten Schaumburgers s. Helge Bei der Wieden: Schaumburgische Genealogie, 2. überarb. Aufl. Melle 1999 (= Schaumburger Studien 14), S. 9–11. Regesta Historiae Westfaliae. Accedit Codex diplomaticus, hrsg. von Heinrich August Erhard, Bd. 1, Münster 1847 (ND 1972), S. 148f. Nr. 189. Die Urkunde ist besiegelt, aber nicht datiert. Abbildung der Urkunde bei Heinrich Lathwesen: Das Amt Bokeloh mit seinen Dörfern Bokeloh, Idensen, Mesmerode, Wunstorf 1981, S. 120. Vgl. Leopold Schütte: Vorwerk. Eine Sonderform grundherrlichen Besitzes in Westfalen, in: Westfalen 58, 1980, S. 24–41.

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des Süntel, in Idensen, in Westrem († Westenem südwestl. vor Kolenfeld), in Kirchwehren und in Almhorst (südwestl. Seelze). Das Vorwerk in Sorsum (östl. Wennigsen am Deister) wies der Schenker zur Feier seiner Memorie dem Besitz des Mindener Kapitels zu.72 Von der Kirche in Idensen ist nach der Aufzählung der Villikationen ganz unvermittelt in der Urkunde die Rede: Sie soll vom Mindener Bischof nur einem solchen Pfarrer verliehen werden, der an der Kirche Präsenz halte (E˛cclesiam etiam in Idanhusen ab episcopo nulli concendendam nisi sacerdoti, qui ibidem stabiliter habitare Deoque fideliter seruire studuerit, constitui). Eine Baunachricht enthält die Sigward-Urkunde also keineswegs. Vielmehr wird die Existenz der Kirche vorausgesetzt. In den Blick genommen werden ihre künftige Kollatur durch den jeweiligen Mindener Ordinarius und die Idoneität des jeweils an ihr tätigen Seelsorgers. Als Bauherr von Idensen wird Sigward erstmals von dem Mindener Domherrn Heinrich Tribbe († 1464) benannt; ihm erschien – ein bemerkenswertes ästhetisches Urteil aus dem 15. Jahrhundert – Idensen im Blick auf im übrigen gleiche Kirchen als die schönste Dorfkirche (ecclesia villana), über die das Bistum verfügt.73 Der Augenschein und die baugeschichtliche und kunstgeschichtliche Analyse bestätigen dieses Urteil: Sigward war der Bauherr der heute glücklicherweise noch bestehenden Kirche.74 Nach einer stark beschädigten Weiheinschrift des Paulusaltars im südlichen Kapellenraum wurden dieser Altar und darüber hinaus wohl die ganze Kirche möglicherweise am 3. Februar 1134 von Sigward (?) geweiht.75 Er war es, der durch Schenkung seine Eigenkirche in Idensen umwandelte in eine Eigenkirche der Bischöfe von Minden; diese hatten bis 1648 den Patronat inne.76 Die Kirche 72 Das Mindener »Obödienzenverzeichnis a« identifiziert Sutherem demgegenüber mit Sorsum westl. Hildesheim, vgl. Necrologien, Anniversarien- und Obödienzenverzeichnisse des Mindener Domkapitels aus dem 13. Jahrhundert, hrsg. von Ulrich Rasche, Hannover 1998 (= MGH. Libri mem. N.S. 5), S. 32f. mit Anm. 189, S. 255 Z. 1. Dieses Sorsum liegt entgegen der Lokalisierung in Siegwards Urkunde jedoch östlich der Leine. 73 Die jüngere Bischofschronik [von Hermann Tribbe], in: Die Bischofschroniken des Mittelalters (Hermanns von Lerbek Catalogus episcoporum Mindensium und seine Ableitungen), hrsg. von Klemens Löffler, Münster 1917 (= VHKW [13] = Mindener Geschichtsquellen 1), S. 147f.: Ecclesiam in Idenhusen plumbo coopertam ex quadris lapidibus studiose muratam cum quatuor altaribus ex propriis sumptibus ad honorem undecim milium virginum fundavit. Intus picturis pulcherrimis decoravit … Haec, inquam, ecclesia ceteris paribus est pulchrior ecclesia villana, quam habet Mindensis sedis ecclesia. Die Zuschreibung dieser Fassung der Chronik an Tribbe statt an Hermann von Lerbeck durch Löffler S. XXXVI–XLVI hat sich in der orts- und kunstgeschichtlichen Literatur zu Idensen immer noch nicht herumgesprochen. 74 Ruth Ehmke: Der Freskenzyklus in Idensen, Bremen-Horn, 1958 (= Schriften des Niedersächsischen Heimatbundes N. F. 34). Hans J. Böker: Idensen. Achitektur und Ausmalungsprogramm einer romanischen Hofkapelle, Berlin 1995. 75 Eine Rekonstruktion des Wortlauts durch Böker: Idensen (wie Anm. 74), S. 9f. 76 [Georg Friedrich] Fiedeler: Das Dorf Idensen und dessen Pfarrkirche, in: ZHVNS Jg. 1856, Hannover 1859, S. 100.

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überstand die Zeitläufte als Pfarrkirche und war im Jahr 1525 dem Archidiakonat Apelern zugeordnet.77 Von einer grundherrlichen, dem Herren ebenso wie dessen bäuerlicher familia dienenden Kirche unterschied sie sich ihrer Funktion nach nicht. Darum ist es eine irrige Vorstellung, wenn Hans J. Böker von Idensen als einer »Hofkapelle« spricht, deren »Nutzung … durch den bischöflichen Hof die bäuerliche Gemeinde, sofern sie überhaupt zugelassen war, zu einer Randgruppe machte«.78 Wegen der Altaroblationen hätte der jeweilige Pfarrherr es sich strikt verbeten, daß die Zahl seiner Pfarrkinder künstlich klein gehalten worden wäre.79 Gerade in Minden ist im 12. Jahrhundert mehrfach von Eigenkirchen die Rede, welche vom regionalen Adel dem Bistum geschenkt wurden. Während Sigwards Pontifikat tradierte die Adelige Kunigunde die Kirche in Deckbergen (Thecber) (östl. von Rinteln)80 mit Zubehör nebst einer ebendort gelegenen Villikation dem Bischof.81 Der Edelherr Mirabilis († 1167), dessen Sitz der Siedlungsplatz Bruchhof südwestlich von Stadthagen war82, tradierte zur Zeit Bischof Werners (1153–1170) dem Bistum wohl 1160/63 beziehungsweise vor 1167 seine Kirchen in Jetenburg (aufgegangen in der Stadt Bückeburg), in Steinbergen am Wesergebirge (nordöstl. Rinteln) und in Schwarmstedt unweit der unteren Leine (südl. Fallingbostel).83 Nicht nur die Kirchen mit ihren Dotierungen wurden damals übertragen, wobei die Kirchendos von Schwarmstedt mit 18 Hufen für eine 77 Vgl. Ludwig August Theodor Holscher: Beschreibung des vormaligen Bisthums Minden nach seinen Grenzen, Archidiaconaten, Gauen und alten Gerichten, Münster 1877 (ND 1978), S. 131, 135. Bernhard Engelke: Die Grenzen, Gaue, Gerichte und Archidiakonate der älteren Diözese Minden, in: Hannoversche Geschichtsblätter 4, 1936/37, S. 127. 78 Böker: Idensen (wie Anm. 74), Untertitel, Zitat S. 90. 79 Zur Rolle der Oblationen für den Unterhalt der Pfarrer s. Wolfgang Petke: Oblationen, Stolgebühren und Pfarreinkünfte vom Mittelalter bis ins Zeitalter der Reformation, in: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, hrsg. von Hartmut Boockmann, Göttingen 1994 (= AAWG 3. Folge, 206), S. 26–58. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 249–283. 80 Zum Ortsnamen s. Wolfgang Laur: Die Ortsnamen in Schaumburg, Rinteln 1993 (= Schaumburger Studien 51), S. 110. 81 Stephan Alexander Würdtwein: Subsidia diplomatica ad selecta iuris ecclesiastici Germaniae, Bd. 6, Heidelberg 1775 (ND 1969), S. 329–331 Nr. 109. 82 Franz Engel: Der Edelherr Mirabilis als Siedlungsunternehmer im Dülwald (1951), Wiederabdruck in: Ders.: Beiträge zur Siedlungsgeschichte und historischen Landeskunde. Mecklenburg-Pommern-Niedersachsen, hrsg. von Roderich Schmidt, Köln, Wien 1970, S. 144–151. Laur: Ortsnamen Schaumburg (wie Anm. 80), S. 88. 83 Würdtwein: Subsidia diplomatica 6 (wie Anm. 81), S. 340–344 Nr. 114. Regesta Historiae Westfaliae. Accedit Codex diplomaticus, hrsg. von Heinrich August Erhard, Bd. 2, Münster 1851 (ND 1972), S. 73 Nr. 293. Beide Urkunden auch bei Annette von Boetticher u. Klaus Fesche: Die Urkunden des Neustädter Landes, Bd. 1: 889–1302, Bielefeld 2002 (= Quellen zur Regionalgeschichte 8), S. 57–60 Nr. 11, S. 61–65 Nr. 13. – Vgl. Dieter Brosius: Das Stift Obernkirchen 1167–1565, Bückeburg 1972 (= Schaumburger Studien 30), S. 13–15. Rasche: Necrologien (wie Anm. 72), S. 144f. mit Anm. 281–285.

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Niederkirche außergewöhnlich umfangreich war, sondern auch die in den Kirchorten gelegenen Villikationshöfe mit den von diesen abhängigen Mansen. Das Bistum Minden hat also in diesen Fällen nicht auf Grund irgendeiner bischöflichen Jurisdiktion, sondern als Empfänger von Schenkungen die Zahl der ihm gehörenden Niederkirchen erweitert. Genau das ist für die bayerischen Bistümer bereits seit dem 8. Jahrhundert bezeugt.84 Durch Schenkungen seitens der Könige und des Adels zu Grundbesitz gekommen, haben die Bistümer entweder bereits bei den Auflassungen Kirchen empfangen oder aber auf ihnen aufgelassenen Gütern als Eigenkirchenherren Niederkirchen fundiert. Die Martinskirche in Geismar (südl. Göttingen) gilt wegen ihres Patroziniums und wegen ihrer Funktion als Sedeskirche als Mainzer Gründung, ja als »Urpfarrei«.85 Dieser seit rund hundert Jahren eingeführte Begriff – er dürfte in Analogie zu dem von Heinrich E.G. Paulus stammenden Terminus »Urchristentum«86 gebildet worden sein – ist eine Schöpfung der Historiker, die heute damit sagen wollen, daß die betreffende Pfarrei zur ältesten Schicht des Pfarreinetzes der jeweiligen Diözese gehöre. Ihr Kirchspiel war ausgedehnt, sie verfügte über das Tauf- und Sepulturrecht, ihr Patrozinium deutet ein hohes Alter an, von ihr wurden jüngere Kirchspiele abgepfarrt.87 Die Quellen kennen den Begriff nicht. Sie unterscheiden Mutter- und Tochterkirchen (matres und filiae). Das tun sie wegen der Rechte der älteren Kirche (mater) gegenüber denjenigen der jüngeren, der filia. Bei diesen Rechten konnte es um das Tauf- und Sepulturrecht, den Besuch der Messe an den Hochfesten, die Beteiligung der Pfarrkinder der filia an der Baulast der mater und andere Beihilfen gehen.88 Der Begriff »Urpfarrei« soll nun aber nicht nur etwas über die Zeitstellung einer Kirchengründung besagen, sondern mehr oder minder deutlich ausgesprochen auch etwas über den Kirchengründer. Bei diesem denkt man in der Regel – wenn nicht gar an die Missionare – an den jeweiligen Diözesanbischof.89 Dabei bleibt

84 S. oben bei Anm. 17. 85 Bruns: Nörten (wie Anm. 33), S. 18f., 36. 86 Heinrich Erhard Gottlob Paulus: Das Leben Jesu, als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, 1–2, Heidelberg 1828. Werner Georg Kümmel: Urchristentum, in: RGG 6, 3. Aufl. Tübingen 1962, Sp. 1187. 87 Vgl. Hans Erich Feine: Kirchliche Rechtsgeschichte. Die Katholische Kirche, 5. Aufl. Köln, Wien 1972, S. 183f., 403. Richard Puza: Pfarrei, Pfarrorganisation, Urpfarreien (Landpfarreien), in: LMA 6, 1993, Sp. 2023f. 88 Vgl. unten bei Anm. 155, 159, 161, 179. 89 So zum Beispiel Albert K. Hömberg: Das mittelalterliche Pfarrsystem des kölnischen Westfalen, in: Westfalen 29, 1951, S. 31. Vgl. unten bei Anm. 115.

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aber zumeist im Dunkeln, auf Grund welcher Kompetenz dieser eine solche »Urpfarrei« gegründet haben soll.90 In Geismar befand sich nach einer Mainzer Heberolle von 1248/4991 ein erzbischöfliches Allod, also ein Vorwerk.92 Als Mainzer curtis wurde dieser Hof bereits einmal 1189/90 erwähnt.93 Verschiedene Indizien machen unabweisbar, daß Geismar der Vorort einer erzbischöflichen Villikation gewesen ist. Ihre Anfänge sind im 9. Jahrhundert zu suchen94, und die dortige Martinskirche dürfte eine eigenkirchenherrliche Gründung der Erzbischöfe von Mainz zunächst für ihre dortigen Hintersassen gewesen sein. Weniger wahrscheinlich hat bereits ein frommer sächsischer Vorbesitzer diese Kirche dotiert.95 Die Archidiakonatskirche St. Marien in Hofgeismar und die Archidiakonatskirche St. Peter in Nörten standen ebenfalls ursprünglich im Verband Mainzer Grundherrschaften. Das Marienstift in Hofgeismar ist erstmals 1138 bezeugt.96 Die oberhalb von Hofgeismar gelegenene Burg Schöneberg empfing 1152 Graf Hermann II. von Winzenburg als Mainzer Lehen.97 In Hofgeismar gab es einen erzbischöflichen Villikationshof; er ist wahrscheinlich 108298 sowie 1189/ 90 Die grundherrschaftliche Stellung des Bischofs im Blick hat bereits Luzian Pfleger: Die elsässische Pfarrei. Ihre Entstehung und Entwicklung. Ein Beitrag zur kirchlichen Rechtsund Kulturgeschichte, Straßburg 1936 (= FKGE 3), S. 45. Pflegers wichtige Abhandlung ist ein Zusammendruck mehrerer Beiträge für das Archiv für Elsässische Kirchengeschichte (= AEAl) 4, 1929–9, 1934. 91 H[einrich] A[ugust] Erhard: Erzbischöflich-Mainzische Hebe-Rolle aus dem 13. Jahrhundert, in: ZVGAWestfalens 3, 1840, S. 1–57, hier S. 43f., 46. 92 Hans Tütken: Geschichte des Dorfes und Patrimonialgerichts Geismar bis zur Gerichtsauflösung im Jahre 1839, Göttingen 1967 (= Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen 7), S. 114ff. 93 Mainzer UB, Bd. 2, Die Urkunden seit dem Tode Erzbischof Adalberts I. (1137) bis zum Tode Erzbischof Konrads (1200), Teil 2 (1176–1200), bearb. v. Peter Acht, Darmstadt 1971 (= Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission Darmstadt), Nr. 531 S. 881 Z. 2. 94 Vgl. Tütken: Geismar (wie Anm. 92), S. 49, 55–57, 65f. Reinhard Wenskus: Die frühen Besitz- und Herrschaftsverhältnisse im Göttinger Raum, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1, hrsg. von Dietrich Denecke u. Helga-Maria Kühn, Göttingen 1987, S. 14, 22. 95 Vgl. Tütken: Geismar (wie Anm. 92), S. 58. Mit Wenskus: Frühe Besitz- und Herrschaftsverhältnisse (wie Anm. 94), S. 14, dürfte die Mainzer Villikation auf konfisziertem Besitz eingerichtet worden sein. 96 Mainzer UB, Bd. 2, Die Urkunden seit dem Tode Erzbischof Adalberts I. (1137) bis zum Tode Erzbischof Konrads (1200), Teil 1 (1137–1175), bearb. v. Peter Acht, Darmstadt 1968 (= Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission Darmstadt), S. 4–6 Nr. 5. Vgl. Wilhelm Classen: Die kirchliche Organisation Althessens im Mittelalter samt einem Umriß der neuzeitlichen Entwicklung, Marburg 1929 (= Schriften des Instituts für geschichtliche Landeskunde von Hessen und Nassau 8), S. 245f. 97 Mainzer UB 2,1 (wie Anm. 96), S. 322f. Nr. 173. 98 Mainzer UB, Bd. 1, Die Urkunden bis zum Tode Erzbischof Adalberts I. (1137), bearb. v. Manfred Stimming, Darmstadt 1932 (Arbeiten der Historischen Kommission für den Volksstaat Hessen [4]), S. 261–263 Nr. 362. Zu dieser formal unechten, aber in Bezug auf die

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90 bezeugt.99 Auch noch in der Mainzer Heberolle von 1248/49 sind Einnahmen und Ausgaben aus diesem Hof genannt.100 In Nörten übergab im Jahre 1031 nach der Beendigung des Gandersheimer Streits im Jahre 1030 Erzbischof Bardo von Mainz (1031–1051) der Äbtissin Sophia I. von Gandersheim – sie war eine Schwester Ottos III. –, sowie dem Hildesheimer Dompropst und dem Hildesheimer Domdekan zwei aus dem Gandersheimer Stift entwichene adelige Mädchen.101 Baulichkeiten, welche diese prominenten Personen beherbergen konnten, werden also damals in Nörten vorhanden gewesen sein. Im Jahre 1055 fundierte Erzbischof Liutpold von Mainz in Nörten das Petersstift, dotierte es unter anderem mit dem Zehnten der villa Northun, nahm davon jedoch die decima des dortigen bischöflichen Villikationshofes (vorwerck) aus;102 denn dieser Zehnt war bereits von einem seiner Vorgänger dem St. Viktorstift in Mainz geschenkt worden.103 Zur Gründungsausstattung des Stifts schlug Liutpold auch noch die beiden Mutterkirchen (duas ecclesias matrum vocabulo nuncupatas) in Nörten selbst sowie im bereits erwähnten Geismar (bei Göttingen).104 Der eigenkirchenrechtliche Status der beiden Mutterkirchen änderte sich mit dieser Auflassung nicht. Nur der Eigenkirchenherr hatte gewechselt.105 Trotz der Stiftsgründung in Nörten hat dort weiterhin ein erzbischöflicher Hof bestanden; für ihn werden wie in Geismar bei Göttingen und in Hofgeismar 1248/49 Einnahmen und Ausgaben verzeichnet.106 Die Kirchen in Nörten und Geismar hatten wahrscheinlich seit dem 9. Jahrhundert der Seelsorge in den betreffenden Mainzer Grundherrschaften gedient. Daß die Mainzer als Missionare in das Leinetal gekommen wären107, ist nichts weiter als eine Vermutung. Der Mainzer Grundbesitz war viel eher die Voraussetzung für die Christianisierung des heutigen südlichen Niedersachsen als deren Folge.108 Vergleichend kann man durchaus an die Kolonisation Mittelamerikas 700 Jahre später denken: Das zu einem guten Teil aus der europäischen

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curtis … Houegeismari glaubhaften Urkunde s. Walther Heinemeyer: Die Urkundenfälschungen des Klosters Hasungen, in: Archiv für Diplomatik 4, 1958, S. 233, 239–241, 249. Mainzer UB 2,2 (wie Anm. 93), Nr. 531 S. 881 Z. 1. Erhard: Mainzer Hebe-Rolle (wie Anm. 91), S. 42f., 46. Vita Godehardi prior c. 36, MGH. SS 11, 1854, S. 194. Vgl. Otto Perst: Die Kaisertochter Sophie, Äbtissin von Gandersheim und Essen (975–1039), in: Braunschweigisches Jb 38, 1957, S. 35–37. Goetting: Hildesheimer Bischöfe (wie Anm. 32), S. 243, 247. Mainzer UB 1 (wie Anm. 98), S. 185–187 Nr. 296. Ebenda und Mainzer UB 2,1 (wie Anm. 96), S. 84–86 Nr. 44 (1143). Vgl. Bruns: Nörten (wie Anm. 33), S. 36. Mainzer UB 1 (wie Anm. 98), S. 187 Nr. 296. Vgl. Bruns: Nörten (wie Anm. 33), S. 36. Erhard: Mainzer Hebe-Rolle (wie Anm. 91), S. 44. Bruns: Nörten (wie Anm. 33), S. 22: »Wann die mainzischen Missionare in unser Gebiet einzogen, läßt sich nur innerhalb eines größeren Zeitraums bestimmen«. Vgl. Schubert: Geschichte Niedersachsens (wie Anm. 2), S. 54.

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Grundherrschaft ableitbare Zwangsarbeitssystem der Encomienda lieferte die Indianer der Karibik und Mexikos der Ausbeutung durch die Neusiedler aus – und der Missionierung. Das Formular einer solchen Indianerzuteilung (Repartimiento de Indios) konnte lauten: »Euch, Herrn NN, werden fünfzig oder hundert Indios des Kaziken NN anvertraut (encomendar), damit Ihr Euch ihrer auf Euren Landgütern und in Euren Bergwerken bedient, und Ihr sollt sie in den Lehren unseres heiligen katholischen Glaubens unterweisen«.109 Dieses Encomienda-System ist von franziskanischen Missionaren des frühen 16. Jahrhunderts als Grundlage ihrer Mission akzeptiert worden; Bartolomé de Las Casas besaß, solange er Weltpriester und noch nicht Dominikaner war, Kommenden auf Haiti und auf Cuba.110 Auch noch der Francke-Schüler Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719), der Begründer der evangelischen Kirche im indischen Tranquebar, brauchte für seine Mission zunächst den Rückhalt bei der dänischen Østasiatisk Handelscompanie. Die Anfänge seiner Tätigkeit gelten als letzte Ausläufer protestantischer Kolonialmission.111 Bischof Godehard von Hildesheim (1022–1038) hat nach dem Zeugnis des Wolfhere mehr als 30 Kirchen geweiht, ohne dafür verdienstvoller Weise ein Entgelt zu fordern – die Erhebung von Gebühren seitens des bischöflichen Konsekrators war im Hoch- und Spätmittelalter gang und gäbe. Von diesen leider nicht mit Namen genannten Kirchen (kiricas) hatte er einen Teil selbst fundiert; zur Errichtung des anderen soll er die Gläubigen durch sanfte Ermahnungen bewogen haben.112 Die Vermehrung der Hildesheimer Pfarreien war demnach in der Mitte des 11. Jahrhunderts im Gange. Sie stützte sich auf Eigenkirchen sowohl des Bischofs als auch der Laien.113 Daß die 1051, 1057 und 1068 zur Lagebeschreibung verschiedener Grafschaften erwähnten publicae aecclesiarum parrochiae in den Bistümern Halberstadt und Hildesheim – in Halberstadt: Schöningen, Watenstedt, Schöppenstedt, Lucklum und Atzum; in Hildesheim: Groß Stöckheim, Denstorf, Ringelheim, Beedenbostel, Hankensbüttel, Wienhausen, Elze, Rheden, Groß Freden und Wallensen114 – »alte Pfarrkirchen öffentlichen Rechts« gewesen wären115, ist 109 Das Formular ist aus Española (Haiti) überliefert durch Bartolomé de Las Casas: Werkauswahl, hrsg. von Mariano Delgado, Bd. 2: Historische und ethnographische Schriften, Historia de las Indias II, 13, Paderborn 1995, S. 209. Joseph Höffner: Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, 2. Aufl. Trier 1969, S. 180. 110 Vgl. Höffner: Kolonialismus und Evangelium (wie Anm. 109), S. 180–182, 190–197. 111 Vgl. Hans-Werner Gensichen: Missionsgeschichte der neueren Zeit, 2. Aufl. Göttingen 1969 (= KIG Bd. 4, Lfg. T), S. 17. 112 Vita Godehardi prior c. 37, MGH. SS 11, 1854, S. 195, Z. 19ff.: … quasdam ipse fundavit, quasdam vero suavidica ipsius exhortatio fideles Christi construere mandavit. 113 Vgl. Schubert: Geschichte Niedersachsens (wie Anm. 2) S. 338. 114 DH.III. 279 von 1051 (Nachurkunde 1057: DH.IV. 22), DH.IV. 206 von 1068 (Nachurkunde 1069: DH.IV. 219).

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ein Anachronismus. Vielmehr handelte es sich um Pfarrkirchen, die das Taufund Sepulturrecht besaßen und an denen der kirchliche Send abgehalten wurde – darum publicae!116 Denn die hildesheimischen Pfarreien Beedenbostel und Hankensbüttel erscheinen später als Sedeskirchen117 und die Pfarreien Groß Stöckheim, Denstorf, Ringelheim, Wienhausen, Elze, Rheden, Groß Freden und Wallensen als Archidiakonatskirchen.118 In Wienhausen befand sich eine bischöfliche curtis, die Bischof Godehard von Hildesheim besucht hat.119 Der Ort (predium) ging erst im Jahre 1052 offenbar zur Gänze durch eine Schenkung Heinrichs III. aus Fuldaer Besitz in denjenigen des Bistums über.120 Elze an der Leine, Königsgut und angeblich ursprünglich als Bistumssitz vorgesehen, dürfte von den Anfängen des Bistums Hildesheim her bischöflicher Besitz gewesen sein. Die Abpfarrungen von der Mutterpfarrei Elze werden in der aus dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts stammenden »Fundatio ecclesiae Hildensemensis« beklagt. Das soeben erwähnte Wallensen (westl. der Leine) wird dabei ausdrücklich als eine der Kirchen angeführt, die sich auf Kosten der mater Elze das Taufrecht angeeignet haben.121 Groß Stöckheim war im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts 115 So Joseph Machens: Die Archidiakonate des Bistums Hildesheim im Mittelalter. Ein Beitrag zur Rechts- und Kulturgeschichte der mittelalterlichen Diözesen, Hildesheim, Leipzig 1920 (= Beiträge für die Geschichte Niedersachsens und Westfalens, Ergänzungsheft zu Bd. 8), S. 42 Anm. 26. Die Vorstellung von bischöflichen Kirchen (= »Urpfarrkirchen«) als »Pfarrkirchen öffentlich-rechtlichen Charakters« auch noch bei Hömberg: Pfarrsystem Westfalen (wie Anm. 89), S. 31. 116 Ebenfalls als publica e˛cclesia wird 1065 die Kirche Hochfelden im Elsaß erwähnt, DH.IV. 152. Sie wird für die Zeit Heinrichs III. als mater ecclesia bezeichnet, DDH.IV., Anhang S. 683 Nr. IX. – Zur Sendgerichtsbarkeit s. Albert Michael Koeniger: Die Sendgerichte, in: BZThS 8, 1931, S. 34–40. Walter Hellinger: Die Pfarrvisitation nach Regino von Prüm, in: ZRG KA 79 (1962), S. 1–116, KA 80 (1963), S. 76–137. Nur für die Karolingerzeit ist bezeugt, daß die Grafen die Bischöfe zum Sendgericht begleiten und gegebenenfalls Amtshilfe leisten sollten, MGH. Capit. 1, Nr. 19 S. 45 c. 6 (769?), Nr. 90 S. 190 c. 6 (781?). Capit. 2, Nr. 259 S. 269 c. 10 (853), Albert Hauck: Send, Sendgericht, in: RE 18, 3. Aufl. Leipzig 1906, S. 210. 117 Vgl. Machens: Archidiakonate (wie Anm. 115), S. 113. Hermann Kleinau: Ein neuer Text des Archidiakonats-Verzeichnisses des Bistums Hildesheim, in: Braunschweigisches Jb 39, 1958, S. 98. Zur ältesten Schicht des Verzeichnisses und ihrer Datierung in die Jahre 1293– 1334 s. Sabine Graf: Das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar im Mittelalter, Hannover 1998 (Quellen und Studien zur Geschichte des Bistums Hildesheim 5), S. 144, 148. 118 Kleinau: Archidiakonats-Verzeichnis (wie Anm. 117), S. 88 (Elze), S. 89 (Freden-Alfeld), S. 90 (Ringelheim), S. 94 (Wallensen, Rheden), S. 96 (Groß Stöckheim), S. 97 (Denstorf), S. 98 (Wienhausen), S. 100.Vgl. Enno Bünz: Das Bistum Hildesheim zur Zeit Bernwards, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, hrsg. von Michael Brandt u. Arne Eggebrecht, Bd. 1, Hildesheim, Mainz 1993, S. 469–474 mit Karte II. 119 Vita Godehardi posterior, MGH. SS 11, 1854, c. 25, S. 209 Z. 38ff. 120 DH.III. 282 (1052). 1054 (ältere Drucke haben 1053) erfolgte die Verleihung des Marktrechtes in loco Huginhusen an das Bistum Hildesheim, DH.III. 326. 121 Fundatio ecclesiae Hildensemensis, hrsg. von Adolf Hofmeister, MGH. SS 30,2, Hannover 1926, S. 939–946, zu Wallensen c. 2, S. 942. Übersetzung bei Adolf Bertram: Hildesheims Domgruft und die Fundatio Ecclesie Hildensemensis, Hildesheim 1897, S. 4–17, zu Wal-

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Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

eine bischöfliche Villikation122 beziehungsweise eine Obödienz des Hildesheimer Domkapitels.123 Um die wahrscheinlich grundherrliche Basis auch der anderen publicae aecclesiarum parrochiae zu belegen, bedürfte es einer Analyse der örtlichen Besitzverhältnisse und einer Zusammenstellung und Untersuchung der bischöflichen und stiftischen Fronhöfe. Martin Last hat in seiner breit angelegten Studie zur spätmittelalterlichen Grundherrschaft in Norddeutschland im Falle Hildesheims nur die Villikationen des Domkapitels im Jahre 1382 erfaßt.124

IV.

Klösterliche Eigenkirchen

Die Zuordnung klösterlicher Eigenkirchen zu den abteilichen Villikationen läßt sich hervorragend aus dem Prümer Urbar vom Jahr 893 ablesen, das in einer 1222 entstandenen Abschrift des Cäsarius von Milendonk, des ehemaligen Abtes von lensen S. 8. Vgl. zur Bistumsgründung Goetting: Hildesheimer Bischöfe (wie Anm. 32) S. 36–38. Nunmehr aber Theo Kölzer: Zum angeblichen Immunitätsprivileg Ludwigs des Frommen für das Bistum Hildesheim, in: ArchDipl 59, 2013, S. 11–24. Zu den Abpfarrungen von Elze vgl. Sebastian Kreiker u. Uwe Ohainski: Die Urpfarrei Elze (mit den zugehörigen Archidiakonatssitzen und Pfarreien), in: Bernward von Hildesheim, Bd. 1 (wie Anm. 118), S. 485–487 mit Karte VI. dies., Zu den Anfängen der Pfarrorganisation im Bistum Hildesheim: Struktur und frühe Besiedlung der Urpfarrei Elze, in: Hildesheimer Jb für Stadt und Stift Hildesheim 65, 1994, S. 17–33. 122 UB des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe. Bearb. v. Hermann Hoogeweg, Bd. 2, Hannover, Leipzig 1901 (= QDGN 6), S. 27 Nr. 54, ohne Datum, zu 1222?, aus Kopialbuch, Orig. im Stadtarchiv Hildesheim, Urk. Nr. M 5; Abbildung von Urkunde und Siegel bei Gesine Schwarz: Geschichte des Dorfes Groß Stöckheim, Wolfenbüttel 2003 (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Wolfenbüttel 10), S. 16 Abb. 3 (unzutreffend zu 1191/92), und Abbildung des Siegels in: Abglanz des Himmels. Romanik in Hildesheim, hrsg. von Michael Brandt, Hildesheim 2001, S. 23, 27 Nr. 1.13 (unzutreffend Bischof Konrad I. zugewiesen). Der irrtümlich bereits von Goetting: Hildesheimer Bischöfe (wie Anm. 32), S. 477 mit Anm. 170, dem Bischof Konrad I. (1195–1199) zugeschriebene Siegelabdruck stammt jedoch von dem ersten der von Bischof Konrad II. (1221–1249) gebrauchten Siegelstempel, vgl. UB HHild 2, Tf. I Nr. 1, und nunmehr Isabelle Guerreau: Klerikersiegel der Diözesen Halberstadt, Hildesheim, Paderborn und Verden im Mittelalter (um 1000–1500) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 259), Hannover 2013, S. 69 Anm. 160. 123 Chronicon Hildesheimense, hrsg. von Georg Heinrich Pertz, MGH SS 7, 1846, S. 859 Z. 22f. Zur domstiftischen Obödienz Groß Stöckheim mit ihren Zubehörungen s. UB des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe. Bearb. v. Hermann Hooegweg, Bd. 6, Hannover 1911 (= QDGN 28), Nr. 6 S. 990. Vgl. Wolfgang Petke: Reichstruchseß Gunzelin († 1255) und die Ministerialen von Wolfenbüttel-Asseburg, in: Auf dem Weg zur herzoglichen Residenz. Wolfenbüttel im Mittelalter, hrsg. von Ulrich Schwarz, Braunschweig 2003 (= Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Landesgeschichte 40), S. 96 Anm. 315. 124 Martin Last: Villikationen geistlicher Grundherren in Nordwestdeutschland in der Zeit vom 12. bis zum 14. Jahrhundert (Diözesen Osnabrück, Bremen, Verden, Minden, Hildesheim), in: Hans Patze (Hrsg.): Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, Bd. 1, Sigmaringen 1983 (= VKAMAG 27,1), S. 369–450, hier Abbildung 8, und S. 448 Nr. 10.

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125

Prüm und nunmehrigen Mönches in Heisterbach, mit dessen Kommentierungen überliefert ist.125 Prümer Villikationen mit mindestens einer ecclesia, die verschiedentlich an das Kloster abgabepflichtig ist, finden sich unter anderem in Arnheim, in Bastogne in den Ardennen, in Etteldorf nördlich von Bitburg, in Montigny-sur-Chiers, in Odenbach am Glan (nördl. Lauterecken) oder in Villance bei Neufchâteau (belg. Prov. Luxemburg).126 Bischof Bernward von Hildesheim dotierte das Kloster St. Michael vor 1022 aus seinem Eigengut127 mit 18 Haupthöfen (dominicalis casa, curtis) mit zusammen 406 Hufen, zehn Mühlen und 13 namentlich genannten ecclesiae.128 Davon gehörten die in der Erzdiözese Mainz gelegenen Kirchen in Dassel, in Renshausen (nordöstl. Göttingen) und in Diemarden (südl. Göttingen an der Garte) zu Villikationen von zum Teil beträchtlichem Umfang. Dassel zählte dem kaiserlichen Bestätigungsdiplom zufolge zwölf Hufen, Renshausen 30 und Diemarden nicht weniger als 80, dazu eine Mühle und einen Weingarten (vinea). Barfelde (südöstl. Elze vor dem Hildesheimer Wald) war die Kirche der gleichnamigen Villikation mit 18 Hufen. Die Kirche Groß Dahlum in der Diözese Halberstadt lag zwischen der Villikation Schöningen mit 31 Hufen und Besitz in Schliestedt. Wie die übrigen Kirchen – Lenglern nordwestlich Göttingen im Erzbistum Mainz sowie die in der Hildesheimer Diözese gelegenen Kirchen von Ohrum, Sauingen, Everode, Burgstemmen, Lesse, Drütte und Sehlem – waren sie vor ihrer Schenkung an das Kloster Eigenkirchen des hochadeligen Stifters.129 St. Michael hat die Herrschaft über diese nun ihm gehörende Kirchen nach geistlichem Patronatsrecht bis in das Spätmittelalter in der Hildesheimer Diözese nur in Drütte, (Salzgitter-) Lesse und Ohrum bewahrt.130 Das Urbar des Werdener Nebenklosters St. Liudgeri zu Helmstedt aus der Mitte des 12. Jahrhunderts registriert anders als die eben betrachtete Bestätigungsurkunde für St. Michael in Hildesheim die Dotierung seiner sieben Ei-

125 Das Prümer Urbar, hrsg. von Ingo Schwab, Düsseldorf 1983 (= PGRGK 20 = Rheinische Urbare 5), S. 21ff. 126 Ebenda, S. 175 fol. 11v, S. 192 fol. 18v., S. 196 fol. 20v, S. 208f. 26v, S. 214 fol. 29v, S. 242 fol. 42v. Dazu S. 338 Karte 2. 127 S. Bernwards »Testament« von 1019, UB des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, Bd. 1, hrsg. von Karl Janicke, Leipzig 1896 (= PPSA 65), Nr. 62 S. 57 Z. 17ff.: … quod hereditario iure possedi aut seculari coemptione adquirere potui … totum usibus fratrum per manus advocati mei tradidi … Vgl. Goetting: Hildesheimer Bischöfe (wie Anm. 32), S. 217. 128 DH.II. 479 von 1022. Dazu das im 12. Jh. interpolierte DH.II. 260 zu 1013. 129 Vgl. ihre Kartierung durch Detlev Hellfaier: Früher Besitz des Klosters St. Michael zu Hildesheim im 11. Jahrhundert, in: Bernward von Hildesheim, Bd. 1 (wie Anm. 118), S. 479, Karte IV. 130 Vgl. Kleinau: Archidiakonats-Verzeichnis (wie Anm. 117) S. 91, 96. Joseph Ahlhaus: Geistliches Patronat und Inkorporation in der Diözese Hildesheim im Mittelalter, Freiburg i.Br. 1928, S. 33–35.

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genkirchen.131 Über die geringste dos im Umfang von anderthalb Hufen verfügte die Walpurgiskapelle in † Streplingerode (aufgegangen im nördl. mittelalterlichen Stadtgebiet von Helmstedt)132; die umfangreichste Ausstattung von sieben Hufen hat die Kirche Rhode (im Hasenwinkel zwischen der Schunter und der Uhrau nordwestl. Helmstedt) mit ihren Pertinenzhufen in Ahmsdorf, Uhry, Schliestedt, Alversdorf und Runstedt aufzuweisen. Alleringersleben und (Ost-) Badeleben (ostsüdöstl. beziehungsweise südöstl. Helmstedt) waren die Kirchen gleichnamiger Villikationsnebenhöfe. Die e˛cclesia in Berge mit zwei Hufen in Helmstedt selber und einer halben Hufe in Wolsdorf war die Kirche eines klösterlichen Nebenhofs in der Siedlung Helmstedt – Villikationshaupthof war das südlich gelegene † Seedorf 133 – und wurde mit dem Patrozinium St. Stephan die unter dem Patronat des Abtes von Werden stehende Pfarrkirche der zukünftigen Stadt.134 Helmstedts Eigenkirchenbesitz war bescheiden, aber er ist in keiner anderen sächsischen Grundherrschaft so genau dokumentiert wie hier. Dagegen ist anders als für St. Michael seine Provenienz aus adeligem Stiftervermögen, hier etwa aus demjenigen der Liudgeriden des 9. Jahrhunderts, nicht bezeugt. Doch hat auch er primär der Seelsorge an den Hintersassen des Klosters gedient und nicht, wie man postuliert hat, einer hier nun »Werden-Helmstedter Mission«.135

131 Kötzschke: Werdener Urbare (wie Anm. 15), S. 175f. Vgl. Eduard Mutke: Helmstedt im Mittelalter. Verfassung, Wirtschaft, Topographie, Wolfenbüttel 1913 (= Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Geschichte 4), S. 17–26, Beilage 4: Grundbesitzkarte. Klaus Nass: Der Besitz des Klosters St. Ludgeri Helmstedt Mitte des 12. Jahrhunderts, in: Geschichtlicher Handatlas von Niedersachsen, bearb. v. Gudrun Pischke, Neumünster 1989, S. 11f., und Karte 22. Die Nennung einer Kirche in † Seedorf durch Erbe: Niederkirchenwesen (wie Amm. 22), S. 59, beruht auf einem Irrtum. 132 Mutke: Helmstedt (wie Anm. 131), S. 31f., 75, und Beilage 5: Der Stadtplan von 1745. Niedersächsischer Städteatlas. 1. Abt. Die Braunschweigischen Städte, bearb. v. Paul Jonas Meier, 2. Aufl. Braunschweig, Hamburg 1926 (= VHKN), S. 24f. u. Tafel VIII Nr. 13. Kleinau: Geschichtliches Ortsverzeichnis Braunschweig (wie Anm. 65), S. 271 Nr. 920, 3a. 133 Vgl. Niedersächsischer Städteatlas (wie Anm. 132), S. 28, 30. Kleinau: Geschichtliches Ortsverzeichnis Braunschweig (wie Anm. 65), S. 563f. Nr. 1895f. 134 Mutke: Helmstedt (wie Anm. 131), S. 30, 75–79. Niedersächsischer Städteatlas (wie Anm. 132), S. 24. Kleinau: Geschichtliches Ortsverzeichnis Braunschweig (wie Anm. 65), S. 270f. Nr. 920, 3a. Ulrike Strauss: Das ehemalige Augustinerchorfrauenstift Marienberg bei Helmstedt. Beiträge zu seiner Geschichte bis zur Reformation, Braunschweig 1993 (= Beihefte zum Braunschweigischen Jahrbuch 1), S. 21–25. 135 So Erbe: Niederkirchenwesen (wie Anm. 22), S. 61.

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V.

127

Genossenschaftliche und herrschaftliche Kirchengründungen vom 12. bis zum frühen 15. Jahrhundert

Seit dem 12. Jahrhundert häufen sich die Urkunden über die Errichtung von Pfarreien in Norddeutschland genauso wie auch in anderen Landschaften der Altsiedelgebiete136, auch wenn ihre Zahl immer noch überschaubar bleibt. Dabei laufen freiheitlich-genossenschaftliche und herrschaftliche Stiftungen parallel, wobei die genossenschaftlichen Aktivitäten Ausdruck und Folge jener Freiheitsbewegung des 12. Jahrhunderts sind, die mit der Entstehung der Landgemeinde137, der städtischen Kommune und auch der Universität ihre bis heute wirksamen Spuren hinterlassen hat. Durch das Privileg Erzbischof Friedrichs von Bremen wohl vom Jahre 1113 haben holländische Siedler die Bruchlandschaft östlich von Bremen urbar gemacht und dabei das Kirchspiel Horn gegründet: Der Erzbischof, der zum Zeitpunkt der Beurkundung den Umfang der Besiedlung noch nicht absehen konnte, hatte zugestanden, daß die Siedler dort, wo es ihnen günstig schiene, Kirchen errichten könnten (Ecclesias in prefata terra, ubi eis congruum videretur, constitui concessimus) und traf unter anderem Regelungen hinsichtlich der Kirchenzehnten. Die Pfarrkinder dagegen verpflichteten sich, die einzelnen Kirchen mit je einer Hufe zum Unterhalt des Pfarrers zu dotieren (Parrochiani vero nichilominus singularum ecclesiarum suis ecclesiis mansum unum in dotem ad predictos usus sacerdotis se daturos confirmant). Die zukünftigen ecclesiae wurden vom Erzbischof dem Priester Heinrich, dem offensichtlichen Wortführer der mit Namen genannten sechs Siedlervertreter, verliehen.138 Die Errichtung der Kirchen und ihre Ausstattung waren also Sache der Kolonisten und somit ihrer Selbstorganisation. Das 1187 erstmals erwähnte Kirchspiel Horn im 1188 so

136 Vgl. Guttenberg u. Wendehort: Bamberg (wie Anm. 22), S. 23–26. 137 Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen, hrsg. von Theodor Mayer, Bd. 1–2, Konstanz, Stuttgart 1964 (= VKAMAG 7–8). 138 Oorkondenboek an Holland en Zeeland tot 1299. Bd. 1: Eind von de 7e eeuw tot 1222, bearb. v. A.C.F. Koch’ s-Gravenhage 1970, S. 201–204 Nr. 98 (zu wahrscheinlich 1113); alle älteren Drucke haben 1106. Urkunden und erzählende Quellen zur deutschen Ostsiedlung im Mittelalter, hrsg. von Herbert Helbig u. Lorenz Weinrich, Teil 1, Darmstadt 1968 u. ö. (= AQDGMA 26a), S. 42–45 Nr. 1. Vgl. Ludwig Deike: Die Entstehung der Grundherrschaft in den Hollerkolonien an der Niederweser, Bremen 1959 (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen 27), S. 14–19. Karl Reinecke: Die Holländerurkunde Erzbischof Friedrichs I. von Hamburg-Bremen und die Kolonisation des Kirchspiels Horn, in: Bremisches Jb 52, 1972, S. 5–20. Adolf E. Hofmeister: Besiedlung und Verfassung der Stader Elbmarschen im Mittelalter, Teil II, Hildesheim 1981 (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 14), S. 7f.

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bezeichneten Hollerland (Hollandria) östlich von Bremen ist durch Kolonisierung des Unlandes entstanden.139 Im Zuge eines 1142 zwischen dem Bremer Erzbischof Adalbero, der Herzogin Gertrud von Sachsen, Albrecht dem Bären und Siedlern geschlossenen Vertrages wurden Hollerkolonien auch westlich der Weser im Stedingerland, und zwar im Bruchland östlich der Ollen, angelegt.140 Wieder war die Urbarmachung der Pfarrhufen und die Errichtung und Dotierung der Kirchen Sache der Neusiedler: Concedimus eciam, ut ad honorem dei ecclesiam construant constructeque predium, quo sacerdos ibidem missas celebrando, baptizando, mortuos sepeliendo ministraturus se pascat, conferant. Für das Sendgericht schuldeten sie einem vom Erzbischof Beauftragten (rector) Gehorsam. Damals entstand das Kirchspiel Altenesch mit den Siedlungen Süderbrock, Ochtum, Sannau, Deichshausen, Edenbüttel und Lemwerder.141 Von den verfassungs- und sozialgeschichtlich bedeutsamen Rechtssatzungen dieser und ähnlicher Siedlerprivilegien sei hier nur festgehalten, daß als Kolonisten Freie erwünschter waren als Unfreie. Waren letztere als Siedler angenommen, wurden für den Fall ihres Todes oder ihrer Rückforderung durch ihren Herrn besondere Regelungen getroffen. Die Hufen wurden zwar zu freier Erbleihe besessen, aber dennoch konnten sich im Kolonistengebiet im Spätmittelalter Grundherrschaften etablieren.142 Obwohl die oben erwähnte Kirche von Horn von den Siedlern erbaut wurde und daher nach kanonistischer Lehre wenigstens deren Kompatronat hätte unterstehen können143, betrachtete sich Erzbischof Hartwig II. von Bremen offensichtlich deshalb als ihr Herr, weil sich die dos der Kirche, obschon von den Siedlern mit eigenen Händen dem Bruchland abgewonnen, nach dem Recht der freien Erbleihe in seinem Obereigentum befand. Im Jahre 1187 übertrug er die Pfarrkirche dem Kanonikerstift St. Ansgar in Bremen.144 Kirchenstiftungen durch Pfarreingesessene belegen die Kraft der sich im 12. Jahrhundert auch auf dem Lande regenden genossenschaftlichen Bewegungen. Diese sind in Sachsen auch außerhalb der Kolonistengebiete bezeugt. Im Jahre 1162 sah sich der gewählte Mainzer Erzbischof Konrad veranlaßt, Rittern und Nachbarn (milites et ceteri cives) in Uder an der oberen Leine die Annahme

139 Bremisches UB, Bd. 1, hrsg. von R. Ehmck u. W. von Bippen, Bremen 1873, S. 73–75 Nr. 66 (1187), S. 85f. Nr. 74 (1188). 140 Hamburgisches UB, bearb. v. Johann Martin Lappenberg, Bd. 1, Hamburg 1842, S. 155–157 Nr. 165. Die Urkunden Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sachsen und Bayern, bearb. v. Karl Jordan, Weimar 1941–1949 (= MGH. [Fürsten- und Dynastenurkunden 1]), S. 1–3 Nr. 2. Helbig u. Weinrich, Urkunden (wie Anm. 138), S. 114–119 Nr. 24. 141 Deike: Hollerkolonien (wie Anm. 138), S. 29f. 142 Deike: Hollerkolonien (wie Anm. 138), S. 61, 63ff., 81ff. 143 S. oben bei Anm. 10. 144 Oben Anm. 139. Vgl. Deike: Hollerkolonien (wie Anm. 138), S. 65.

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des vom Heiligenstädter Propst investierten und von ihm bestätigten Pfarrers ausdrücklich zu befehlen.145 Die Dorfkirche in Sebexen, rund 16 Kilometer nördlich von Northeim unweit der mittelalterlichen Mainzer Diözesangrenze gegen das Bistum Hildesheim gelegen, kann auf eine für unser Thema einschlägige Gründungsgeschichte zurückblicken. Um das Jahr 1145 hatten die Äbtissin Udalhild des Gandersheimer Marienklosters146 und andere possessores ville˛, von denen ein Friedrich, ein Regenhard und Lothar mit Namen genannt werden, eine capellula im Dorf (villa) Sebexen durch ihr frommes Werk (pio labore) errichtet. Als Erzbischof Heinrich I. von Mainz an den äußersten Rand seiner Diözese gekommen war (in extremo parrochie˛ nostre˛ constituti), um die nach einem Brand wiederhergestellte Kirche in † Weißenwasser (nordöstl. Kalefeld am Hang des Kahlberges) zu weihen, traten die genannten Personen an ihn mit der Bitte heran, auch ihre besagte Kapelle zu konsekrieren. Der Erzbischof stieg 1145 in das Tal von Sebexen hinab, weihte die Kirche und vermehrte die Gottesdienste, die dort bisher wenig beliebt gewesen wären, um das Fest des Kirchweihtages (hec etsi minus accepta debita tamen deo servitia complevimus, ut memoria consecrationis nostre˛ in perpetuum ibidem celebraretur et esset). Darüber hinaus gestattete er dem populus, sich unter Zustimmung des Propstes von Nörten – als des zuständigen Archidiakons – einen eigenen Priester zu wählen, verlieh das Tauf- und Sepulturrecht, löste (absolvimus) Sebexen von der Kirche in Weißenwasser und legte der nunmehrigen Pfarrkirche noch die Siedlung † Barolueshusun (ehedem ein Kilometer südwestl. Sebexen) bei, da das Pfarrvolk aufgrund seiner Armut kaum imstande sei, einen eigenen Pfarrer mit dem Nötigen zu versehen und die Kirche in ihrem Bau zu unterhalten.147 Die Begründung, welche die hiermit vollzogene Dismembration rechtfertigen sollte, ist recht konstruiert und erfüllt keineswegs die kanonisch geforderte Voraussetzung der iusta causa, als die vielfach die Ge-

145 Mainzer UB 2,1 (wie Anm. 96), S. 475f. Nr. 267: Mandamus igitur vobis et sub obtentu gratie nostre precipimus, quatenus omni contradictione sopita presentium latorem, Paganum nomine … benigne sicut pastorem vestrum suscipiatis et, sicut diligitis gratiam nostram, iustitie sue in omnibus assistere velitis. Zu bäuerlichen cives als Nachbarn beziehungsweise Verbandsgenossen s. Gerhard Köbler: Civis und ius civile, in: ZRG GA 83, 1966, S. 58f. Klaus Schwarz: Bäuerliche cives in Brandenburg und benachbarten Territorien, in: BDLG 99, 1963, S. 103–134. Reinhard Wenskus: Wort und Begriff »Bauer«. »Bauer« – Begriff und historische Wirklichkeit (1975), Wiederabdruck in: Ders.: Ausgewählte Aufsätze zum frühen und preußischen Mittelalter, Sigmaringen 1986, S. 22–39, hier S. 37. 146 Vgl. Goetting: Brunshausen (wie Anm. 32), S. 102ff., 143. 147 Mainzer UB 2,1 (wie Anm. 96), S. 154f. Nr. 78. Danach Druck bei Michael Erbe: Pfarrkirche und Dorf. Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Niederkirchenwesens in Nordwest- und Mitteldeutschland vom 8. bis zum 16. Jahrhundert, Gütersloh 1973 (= TKTG 19), S. 59f. Nr. 34. Zu den Ortslagen von Barolueshusun und Weissenwasser s. Willershausen am Harz. Umrisse einer Dorfgeschichte, hrsg. von Heiko Jäckel u. a., Willershausen 1998, Karte 1.

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fährlichkeit oder die Weite des Kirchwegs angeführt wurden.148 Auch hätte die angebliche Armut des populus von Sebexen, die zur Rechtfertigung der Umpfarrung auch noch von Barolueshusun herhalten mußte, den Erzbischof eher davon abhalten müssen, Sebexen zur Pfarrei zu erheben. Aber die Grundeigentümer in Sebexen, bei denen es sich neben der Äbtissin um offensichtlich freie Leute handelte, haben es eben doch vermocht, sich eine Kirche mit einem eigenen Pfarrer ins Dorf zu holen und sich sogar das Pfarrerwahlrecht verbriefen zu lassen. Sie scheinen auch den Patronat in der Form des Kompatronats über die Kirche erworben und lange Zeit behauptet zu haben; denn erst seit 1352 hat die Äbtissin von St. Marien den Patronat unangefochten besessen.149 Im übrigen ist für die 1145 gestiftete Kirche in Sebexen das St. Martins-Patrozinium bezeugt, wenn auch erst zum Jahr 1535.150 Wie der Fall dieser Kirche also lehrt, kann nicht jede südniedersächsische Martinskirche unbesehen als eine Mainzer Gründung des 8./9. Jahrhunderts angesehen werden. Dem Bischof Philipp von Osnabrück legten die Pfarreingesessenen (parrochiani) von Cappeln (südöstl. Cloppenburg) im Jahre 1159 mit großer Kümmernis dar, sie machten sich wegen des häufig ausfallenden Gottesdienstes (propter frequentem officii divini defectum) Sorgen um ihr Seelenheil. Der Bischof trennte ihre Kirche von der mater Emstek ab und gewährte der neuen Pfarrei das Pfarrerwahlrecht. Über eine Kompensation des Pfarrherrn von Emstek und über die dos der neuen Pfarrkirche verlautet nichts;151 die Pfarrgenossen von Cappeln haben ihr Pfarrerwahlrecht bis zum Jahre 1380 behauptet. 1482 lag der Patronat beim Osnabrücker Domscholaster.152 Das Pfarrerwahlrecht erwarben 1187 auch die Bauerschaften von Schemde, Mühlen und Holthausen, als sie sich durch Bischof Arnold von Osnabrück von der Kirche in Damme (westl. des Dümmer) abpfarren ließen. Auf eigene Kosten hatten sie (homines) ihre Pfarrkirche in Steinfeld errichtet (de suo patrimonio et eleemosynis con148 X 3.48.3. X 3.48.6 (= Friedberg 2, Sp. 652f., 654). Vgl. Franz Triebs: Die Lehre des kanonischen Rechts von der Teilung der Pfarrei, in: AKathKR 96, 1916, S. 361–383, 529–545, hier S. 367f., 376. 149 Goetting: Brunshausen (wie Anm. 32), S. 138. – Dietrich Kurze: Pfarrerwahlen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Gemeinde und des Niederkirchenwesens, Köln, Graz 1966 (= FKRG 6), S. 156, erwägt einen Kompatronat der Sebexener Stifter mit der Äbtissin. 150 Kurze: Pfarrerwahlen (wie Anm. 149), S. 156 Anm. 39. Urkunde: StA Wolfenbüttel 14 Urk 201. Dieser frühere Beleg nicht erfaßt in: Die mittelalterlichen Kirchen- und Altarpatrozinien Niedersachsens, Ergänzungsband, hrsg. von Hans-Walter Krumwiede, Göttingen 1988 (= Studien der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 11/2), S. 82. 151 Osnabrücker UB 1 (wie Anm. 63), S. 246 Nr. 307. Danach Druck bei Erbe: Pfarrkirche und Dorf (wie Anm. 147), S. 61 Nr. 36. Vgl. Schmidt: Mittelalterliche Kirchengeschichte (wie Anm. 24), S. 39. 152 Kurze: Pfarrerwahlen (wie Anm. 149), S. 158f. Joseph Prinz: Das Territorium des Bistums Osnabrück, Göttingen 1934 (= Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachens 15), S. 81 Nr. 148.

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struxerunt).153 Gestützt auf die Urkunde von 1187 übten die Eingesessenen der Bauerschaften Mühlen, Schemde und Holthausen das Pfarrerwahlrecht noch im Jahre 1916 aus, während die Bewohner des Pfarrdorfes Steinfeld und der Bauerschaft Harpendorf nur angehört wurden, wen sie zum Pfarrer verlangten.154 Die Bewohner (commorantes in villa) von (Salzgitter-) Ohlendorf errichteten 1147 in ihrem Ort eine Kirche (capella), dotierten sie mit zwei Hufen und einem Grundstück und erlangten von Bischof Bernhard von Hildesheim die Trennung von dem Kirchspiel Groß Flöthe. Die dortige Kirche hatten sie jedoch weiterhin bei notwendigen Reparatur- und Baumaßnahmen sowie beim Erwerb von liturgischen Büchern und von Glocken so zu unterstützen, wie das alle anderen nach Groß Flöthe eingepfarrten Dörfer (villae) täten. Darüber hinaus hatten sie an die Kirche in Groß Flöthe jährlich acht Schillinge zu entrichten, bis sie ihr nach vier Jahren eine Hufe übertragen hätten, die eben diesen Ertrag abwerfen werde.155 Sendpflichtig blieben die Ohlendorfer Bauern weiterhin nach (Salzgitter-) Barum, dessen Kirche als mater bezeichnet wird. Barum war Archidiakonatskirche.156 Verliehen wurde den Ohlendorfern das Recht der Wahl des Pfarrers. Der Bau und die Dotierung ihrer Kirche waren dafür offenbar die Voraussetzung. Den Gemeindepatronat konnten die Ohlendorfer später nicht behaupten. Im Spätmittelalter übte die Familie von Rössing das Patronatsrecht aus.157 Bischof Adelog von Hildesheim dismembrierte 1178 die Dörfer Groß und Klein Lobke von der Mutter- und Archidiakonatskirche Lühnde, zwischen Lehrte und Hildesheim gelegen.158 Die Einwohner (homines) beider Dörfer hatten in Groß Lobke eine Kirche gebaut (edificare) und diese mit zwei Hufen dotiert. Die Lühnder Kirche entschädigten sie durch die Schenkung einer Hufe, die jährlich zehn Schillinge einbrachte. Doch blieben die Pfarreingesessenen (parochiani) gegenüber der Lühnder Kirche zur Hilfe bei Reparaturen oder bei Brand verpflichtet sowie zum Besuch des dort abgehaltenen Sends.159 Die Lühnder Kirche hatte schon 1117 die Abpfarrung von Evern (sieben Kilometer nordöstl. Lühnde) hinnehmen müssen. Initiator dieser Minderung war Graf Adalbert von Haimar 153 Osnabrücker UB 1 (wie Anm. 63), S. 310f. Nr. 390. Danach Druck bei Erbe: Pfarrkirche und Dorf (wie Anm. 147), S. 61f. Nr. 37. – Kurze: Pfarrerwahlen (wie Anm. 149), S. 158, 322, 506. 154 Nicolaus Hilling: Eine Pfarrerwahl aus der Diözese Münster im Jahre 1916, in: AKathKR 96, 1916, S. 638–641. 155 UB HHildesheim 1 (wie Anm. 127), S. 232f. Nr. 246. Danach Erbe: Pfarrkirche und Dorf (wie Anm. 147), S. 60 Nr. 35. 156 Machens: Archidiakonate (wie Anm. 115), S. 101. Kleinau: Archidiakonats-Verzeichnis (wie Anm. 117), S. 91. 157 Vgl. Kurze: Pfarrerwahlen (wie Anm. 149), S. 145f., 164. 158 Andreas Kleine-Tebbe: Zur mittelalterlichen Baugeschichte der Martinskirche in Lühnde, in: Hildesheimer Jahrbuch für Stadt und Stift Hildesheim 68, 1996, S. 13–47. 159 UB HHildesheim 1 (wie Anm. 127), S. 365f. Nr. 383. Danach Erbe: Pfarrkirche und Dorf (wie Anm. 147), S. 36f. Nr. 9.

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gewesen.160 Wie im Jahre 1178 waren es dann im Jahr 1207 abermals Pfarreingesessene, und zwar jetzt jene in Sehnde (südl. Lehrte), die eine weitere Abpfarrung von Lühnde durchsetzten. Um bequemer den Gottesdienst besuchen zu können (pro divino servicio commodius frequentando) bauten sich die Sehnder eine Kirche (capella), entschädigten Lühnde durch die Zahlung von zwei Mark Silber und die Überweisung einer Hufe, aus deren Erträgen jährlich zwei Schillinge für das Lühnder Fabrikgut (luminaria) aufgewendet werden sollten, blieben aber zum Besuch des an der Mutter- und Archidiakonatskirche tagenden Sends sowie zur Unterstützung bei unabwendbaren Baumaßnahmen verpflichtet.161 Diese Dismembrationsurkunde wie auch schon jene von 1178 haben Vertreter der Gemeinden jeweils bezeugt: hier einzelne cives in Synede, im Falle von Groß Lobke verschiedene mit Namen genannte parochiani. Innerhalb von nur neunzig Jahren hat also die Initiative von Laien in dem alten Kirchspiel Lühnde mit den Auspfarrungen von Evern, Groß und Klein Lobke und Sehnde drei neue Pfarreien geschaffen. Nach den angeführten Fällen aus dem Osnabrückischen, aus Sebexen und aus dem Hildesheimischen, denen aus dem Halberstädtischen weitere hinzugefügt werden könnten162, existierte in den genannten Landschaften im 12. Jahrhundert ein freier Bauernstand, der selbstbewußt, aber auch opferbereit die Gestaltung der ihn unmittelbar betreffenden Pfarrverhältnisse in die Hand genommen hat.163 Inwieweit die 18 Landkirchen, die im Bistum Hildesheim im 15. Jahrhundert unter Gemeindepatronat standen, in jedem Fall von Gemeinden fundiert, errichtet oder dotiert worden sind, ist eine offene Frage; denn es ist auch mit sekundär erworbenen Patronatsrechten zu rechnen.164 Einige herrschaftliche Dorfkirchengründungen des Spätmittelalters, die abschließend in den Blick genommen werden, führen vor die Tore Hamburgs, also der Stadt, welche die letzte akademische Wirkungsstätte der Jubilarin gewesen ist. Westlich von Jork im Alten Land trifft man auf die jeweils nur wenige Kilometer von einander entfernt liegenden Siedlungen Steinkirchen, Mittelnkirchen und Neuenkirchen. Steinkirchen liegt westlich der unweit in die Elbe mündenden Lühe, Mittelnkirchen und Neuenkirchen östlich des Flüßchens. Mit ihren heutigen Namen sind die drei Siedlungen seit dem 14. Jahrhundert bezeugt.165 Entstanden sind sie im 12. Jahrhundert im Zuge der Kolonisation der Elbmarschen; 160 UB HHildesheim 1 (wie Anm. 127), S. 157 Nr. 174. Danach Erbe: Pfarrkirche und Dorf (wie Anm. 147), S. 35 Nr. 8. 161 UB HHildesheim 1 (wie Anm. 127), S. 588f., Nr. 617. Danach Erbe: Pfarrkirche und Dorf (wie Anm. 147), S. 37 Nr. 10. 162 Vgl. Kurze: Pfarrerwahlen (wie Anm. 149), S. 261–268. 163 Vgl. Kurze: Pfarrerwahlen (wie Anm. 149), S. 258. 164 Vgl. Kurze: Pfarrerwahlen (wie Anm. 149), S. 254–257. 165 Adolf E. Hofmeister: Besiedlung und Verfassung der Stader Elbmarschen im Mittelalter, Teil I, Hildesheim 1979 (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 12), S. 117.

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sie weisen die charakteristischen Marschhufenfluren auf.166 Anfänglich wurde das ganze Siedelgebiet nach der Lühe mit dem Namen Lu bezeichnet. Der Name galt sowohl für das westlich der Lühe in der Erzdiözese Bremen gelegene Steinkirchen als auch für das östlich der Lühe zur Diözese Verden gehörende Mittelnkirchen.167 Die Lühe, die Elbe und – im heutigen Hamburger Stadtgebiet – die Norderelbe und die Dove Elbe waren ehedem die Grenze zwischen dem Bistum Verden und dem Erzbistum.168 Das bremische Lu, also das heutige Steinkirchen, ist seit 1230 bezeugt169, die Kirche im Verdener Lu, also diejenige in Mittelnkirchen, seit 1221.170 In deren Kirchspiel, in parochia Lu citerioris, stiftete im Jahre 1270 der Adelige Johann Schulte von der Lühe eine weitere Pfarrkirche.171 Die Schulte von der Lühe sind seit 1256 sicher bezeugt; ihr Name deutet darauf hin, daß sie sich als Inhaber des Schulzenamtes an der Lühe etabliert haben.172 Johann Schulte von der Lühe dotierte die in Neuenkirchen zu lokalisierende neue Pfarrkirche auf Grund und Boden, der sein Eigengut war (in fundo, qui ad ipsum 166 S. Die Flurkarten von Steinkirchen, Mittelnkirchen und Neunkirchen nach der Kurhannoverschen Landesaufnahme von 1764–1786, in: Geschichtlicher Handatlas von Niedersachsen (wie Anm. 131), S. 18 und Karte 43,10. Hofmeister: Elbmarschen II (wie Anm. 138), S. 10ff., S. 357 mit Flurkarte für Mittelnkirchen von 1875, Karte Nr. 7. 167 Hofmeister: Elbmarschen I (wie Anm. 165), S. 98f. 168 Bernhard Engelke: Die Grenzen und Gaue der älteren Diözese Verden, in: NSJ 21, 1949, S. 63–92, hier S. 64f., S. 69, und Karte nach S. 64. Vgl. Gerhard Streich: Kirchliche Gliederung um 1500. Stifte und Klöster vor der Reformation, in: Geschichtlicher Handatlas von Niedersachsen (wie Anm. 131), S. 14, Karte 32. Ders.: Klöster, Stifte und Kommenden in Niedersachsen vor der Reformation: mit einem Quellen- und Literaturanhang zur kirchlichen Gliederung Niedersachsens um 1500, Hildesheim 1986 (VHKNS 2 = Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 30), Karte. 169 Das Stader Copiar, hrsg. von Wilhelm von Hodenberg, Hannover 1850 (= Bremer Geschichtsquellen 1), S. 96 Nr. 1: Thetgerscop et Lv sint una obediencia cum bannis et decimis perpetuo decanatui annexa. Vgl. Urkunden, Regesten, Nachrichten über das Alte Land und Horneburg 780–1300, Bd. 1, bearb. v. Gerhard Röper u. a., 2. Aufl. Jork 1987 (= Veröffentlichungen des Vereins für Förderung und Erhaltung Altländer Kultur 2), S. 212 Nr. 213. 170 UB der Bischöfe und des Domkapitels von Verden (Verdener UB, 1. Abt.), Bd. 1: Von den Anfängen bis 1300, bearb. v. Arend Mindermann, Stade 2001 (= Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 13 = VHKNS 205), S. 283f. Nr. 254: Lu. Vgl. Hofmeister: Elbmarschen I (wie Anm. 165), S. 98f. 171 UB Verden 1 (wie Anm. 170), S. 571–573 Nr. 531. Im abschriftlich überlieferten Urkundentext ist der im Druck gebotene Wortlaut in parochia Lu superioris in nostra diocesis im Blick auf das Bremer Lu ( jenseits des Flusses = Steinkirchen) zu Lu citerioris zu emendieren. Vgl. UB Verden 1, S. 592f. Nr. 551 (1274): in parochia ecclesie antique Lu citra aquam. Entsprechend UB Verden 1 S. 572: homines in 12 mansis superioribus] homines in 12 mansis citerioribus, darüber hinaus ecclesia matriculis] ecclesia matricialis – assignabis] assignabit. Zu verbessern ist auch das Kopfregest: Die mansi unius qua(n)drantem et dimidium sind nicht »eine Viertelhufe und eine halbe Hufe«, sondern anderthalb Viertelhufen, vgl. UB Verden 1 S. 593: de altero dimidio quadrante mansi. Der Quadrant ist ein charakteristisches Flächenmaß der Hollerkolonien und maß eine Viertelhufe, Hofmeister: Elbmarschen II (wie Anm. 138), S. 32f. 172 Hofmeister: Elbmarschen II (wie Anm. 138), S. 157.

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de patrimonio suo dinoscitur pertinere) mit anderthalb Viertelhufen – also einer 3/8 Hufe –, auf denen die Kirche auch errichtet wurde, sowie mit einem Hof in Nottensdorf (südl. Neuenkirchen vor Buxtehude).173 Die Bewohner von zwölf Hufen diesseits der Lühe wurden von Mittelnkirchen abgepfarrt und Neuenkirchen zugelegt, hatten aber weiterhin den Send in Mittelnkirchen zu besuchen. Sollten sich die in Mittelnkirchen verbliebenen Pfarreingesessenen oder die Abgepfarrten (qui ad novam sunt parochiam deputati) der Dismembration widersetzen, wurden ihnen vom Bischof Kirchenstrafen angedroht. Demnach rechneten Kirchenstifter und Bischof durchaus mit Widerstand innerhalb der jetzt getrennten Gemeinden. Die Umlegung erfolgte erkennbar über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Mitgespielt hat allerdings der Pfarrer von Mittelnkirchen. Er wird in der in Verden beurkundeten Verhandlung als Zeuge genannt. Der Kirchenstifter, der sich beziehungsweise seinem nächsten Erben das Präsentationsrecht und somit den Patronat über Neuenkirchen vorbehielt, entschädigte den durch die Abpfarrung in seinen Einkünften geschmälerten Priester Johannes von Mittelnkirchen mit der Überlassung des Zehnten einer Hufe in Mittelnkirchen und viereinhalb Mark Pfennige aus einer nicht näher bezeichneten Stelle in derselben Pfarrei. Nur vier Jahre später haben Johann Schulte von der Lühe und seine nun ebenfalls genannte Frau Hildeburg ihre Pläne geändert. Nach Neuenkirchen war ein gewisser Ekkehard als Pfarrer berufen worden, aber alsbald gestorben. Jetzt, im Jahre 1274, stiftete das Ehepaar in Neuenkirchen ein Benediktinerinnenkloster. Der Konvent sollte mit Nonnen aus Buxtehude besetzt und auf dem vom Stifter selbst bewohnten Hof (curia) unterkommen. Dieser lag neben dem Grundstück der Pfarrkirche. Als Ausstattung des Klosters war diejenige der Pfarrkirche von 1270 vorgesehen. Darüber hinaus wurde dem Kloster eine mit Namen genannte halbe terra174 von Moor zur Torfgewinnung überwiesen. Der Propst des Klosters sollte über die Bewohner Neuenkirchens die Sendgerichtsbarkeit innehaben und offenbar auch die Pfarrechte wahrnehmen.175 Die Klostergründung an diesem Ort kam tatsächlich zustande, aber der Konvent blieb nur kurze Zeit. Im Jahre 1286 zog er um nach Neukloster (westl. vor Buxtehude).176

173 UB Verden 1 (wie Anm. 170), S. 592–594 Nr. 551 (1274). Dazu UB Verden 1 S. 571f. Nr. 531 (1270). Vgl. Anm. 170. 174 Als feste Besitzeinheit begegnet terra auch westlich von Bremen an der Unterweser, Adolf E. Hofmeister: Seehausen und Hasenbüren im Mittelalter. Bauer und Herrschaft im Bremer Vieland. Mit einer Quellensammlung von Andreas Röpcke, Bremen 1987 (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen 54), S. 129. 175 UB Verden 1 (wie Anm. 170), S. 592f. Nr. 551. Streich: Kirchliche Gliederung (wie Anm. 168), Karte 32. Ders.: Klöster, Stifte und Kommenden (wie Anm. 168), Karte, lokalisiert Neuenkirchen irrtümlich westl. der Lühe in der Erzdiözese Bremen. 176 UB Verden 1 (wie Anm. 170), S. 648f. Nr. 613, S. 649f. Nr. 614.

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Die Kirche in Hamburg-Moorburg (Bezirk Harburg)177 wurde 1309 von dem Ortsherrn, dem Ritter und Bremer Lehnsmann Willekin von Stade und dessen Sohn Arnold, für die Bewohner des Glindesmoor und der Flur Redwisch erbaut.178 Für die Abpfarrung wurde der Pfarrer von Wilstorf (Bezirk Harburg), einer spätestens vor 1538 mit der Harburger Kirche vereinigten Patronatskirche des Hamburger Domdekans179, durch eine alljährliche Zahlung von fünf Mark seitens der Schöffen und des Schultheiß der Marsch entschädigt; der Glöckner von Wilstorf erhielt von den von Stade eine jährliche Rente von ebenfalls fünf Mark, die in einigen Stücken Marschland angelegt waren. Als Willekin 1334 als Patron einen Kleriker auf die Pfarrei präsentierte, wurde ihm seitens des Bremer Erzbischofs das Patronatsrecht bestritten.180 Die näheren Umstände dieser Auseinandersetzung sind nicht bekannt. Einem Zusammenwirken von Herrschaft und Genossenschaft verdankt die 1388 gegründete Pfarrkirche auf der Elbinsel Stillhorn ihre Existenz (heute Kirchdorf, Ortsamtsgebiet Wilhelmsburg, Bezirk Harburg). Der Adelige Otto Grote und einige coloni pociores hatten die Errichtung einer neuen Kirche auf besagter Insel geplant (instauracione nove ecclesie parochialis in dicta insula erigende), und zwar wegen der durch immer wieder zu befürchtende Fluten gefährlichen Wege (maxime periculis viarum, que aquis inundantibus in illis partibus non improvide timeri poterint).181 Da ihr bisheriger Pfarrherr, der Rektor des Kirchspiels Avenberge auf der Elbinsel Ochsenwerder182, wegen der Minderung seiner Einkünfte Einspruch erhob, einigte man sich 1388 vor Bischof Jo177 Eine Kartierung des welfischen Amtes Harburg unter Einbeziehung der Elbinseln von um 1600 bietet Johannes Mellinger: Atlas des Fürstentums Lüneburg um 1600, hrsg. von Peter Aufgebauer u. a.: Bielefeld 2001 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 41), Karte XVIII (S. 20). 178 Dietrich Kausche: Regesten zur Geschichte des Harburger Raumes 1059 bis 1527, Hamburg 1976 (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 12), S. 25f. Nr. 95. UB der Bischöfe und des Domkapitels von Verden (Verdener UB, 1. Abt.), Bd. 2: 1300–1380, bearb. v. Arend Mindermann, Stade 2004 (= Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 21 = VHKNS 220), S. 61f. Nr. 79. Vgl. Dietrich Kausche: Zur Geschichte der Kirchen der Diözese Verden im Hamburger Raum während des Mittelalters, in: Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte 48, 1962, S. 134f. Die Moorburger Kirche St. Maria Magdalena wurde 1597 an ihren jetzigen Platz verlegt, ebenda S. 134 Anm. 56. 179 Dietrich Kausche: Die Kirchen der Dorfschaft Wilstorf bei Harburg, in: JGNKG 76, 1978, S. 123–137. 180 Kausche: Regesten Harburger Raum (wie Anm. 178), S. 37 Nr. 138 (1334), S. 39 Nr. 145 (1335). 181 Nikolaus Staphorst: Historia ecclesiae Hamburgensis diplomatica, das ist: Hamburgische Kirchen-Geschichte, Teil I, Bd. 2, Hamburg 1725, S. 665f. Kausche: Regesten Harburger Raum (wie Anm. 178), S. 99 Nr. 350. Zu kanonisch erforderlichen Begründung, die hier einmal tatsächlich zutraf, s. oben Anm. 148. 182 Kausche: Kirchen Diözese Verden (wie Anm. 178), S. 137.

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hannes II. von Verden, der die Kirchengündung im Blick auf die durch sie erfolgende amplificatio divini cultus für rechtens erklärte, auf eine Entschädigung: Auch wenn die Stillhorner Kirche noch nicht geweiht sei, hätten Rektor und Kirchenpfleger (rector et iurati) auf Stillhorn dem Pfarrer auf dem Ochsenwerder jährlich zwischen dem 25. Dezember und dem 5. Januar in signum dimissionis 6 Mark Lüneburger Pfennige zu zahlen. Der Kirchenbau wurde ins Werk gesetzt. Im Jahre 1397 übertrug der Verdener Archidiakon von Hitfeld dem Otto Grote das Präsentationsrecht auf die Kirche.183 Ein Blick auf die Insel Altenwerder, ein heute entvölkertes Industrie- und Hafengebiet (Ortsamtsgebiet Süderelbe, Bezirk Harburg), möge den tour d’horizon beschließen. Im Jahre 1418 kamen Erzbischof Johannes II. von Bremen und die Herzöge Bernhard I. und Wilhelm I. von Braunschweig-Lüneburg überein, den Altenwerder, der ihnen je zur Hälfte als Gerichts- und Grundherren gehörte, einzudeichen.184 Die Abgaben der Landleute wurden fixiert und ihre genaue Hälftelung zwischen den Vögten von Erzbischof und Herzögen festgelegt. Gericht nach sächsischem Recht sollten beide Vögte gemeinsam halten und die Gerichtsgefälle untereinander genau teilen. Darüber hinaus waren die Fürsten übereinkommen, die Landleute zum Bau einer Kirche anzuhalten. Diese sollten sie mit je einem Schilling je Morgen – einem erheblichen Betrag! – dotieren und das Geld jeweils am 11. November ihrem Pfarrherrn übergeben. Außerdem waren die Pfarreingesessenen gehalten, ihrem zukünftigen Pfarrer Haus und Scheune zu bauen und zu unterhalten sowie ihm zu seiner Nahrung so viel Ackerland zu überlassen, wie dieser mit einem Pfluge bestellen könne. Die Präsentation des Pfarrherrrn, der von allen Abgaben frei sei, solle bei der Erstbesetzung durch den Erzbischof und danach im Wechsel mit den Herzögen erfolgen. Vier Jahre später, 1422, hatte sich die dos der noch zu errichtenden Kirche verändert. Die kürzlich trotz einer 1419 zwischen dem Erzbischof und den Herzögen ausgebrochenen Fehde185 kultivierten zehn Morgen, die zur Fundation und zur Dotierung einer Kirche oder Kapelle insbesondere zur Vermehrung des Gottesdienstes bestimmt seien, zog der Erzbischof auf Grund kirchlichen Rechts ein und verlieh sie mit der künftigen Kirche einem Verdener Kleriker, da das Recht der Erstbesetzung ihm zustehe.186 Der tatsächlich zustande gekommene Kompatronat von Erzbischof und welfischen Herzögen führte bis zum Jahre 1671 immer wieder zu Streitig-

183 Kausche: Kirchen Diözese Verden (wie Anm. 178), S. 138f. 184 Kausche: Regesten Harburger Raum (wie Anm. 178), S. 174f. Nr. 533. 185 Vgl. Konrad Elmshäuser: Der werdende Territorialstaat der Erzbischöfe von Bremen (1236–1511) I. Die Erzbischöfe als Landesherren, in: Geschichte des Landes zwischen Elbe und Weser, Bd. 2, hrsg. von Hans-Eckhard Dannenberg und Heinz-Joachim Schulze, Stade 1995, S.184. 186 Kausche: Regesten Harburger Raum (wie Anm. 178), S. 180f. Nr. 549.

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keiten um die Besetzung der Gertrudenkirche auf dem Altenwerder.187 In vorliegendem Zusammenhang ist von Interesse, daß es die Herrschaft war, welche zur Kirchengründung schritt. Von ihr wurde den Siedlern gesagt, was sie zu bauen und was sie zu zahlen hatten. Von der freiheitlichen Kolonisationsbewegung des 12. und 13. Jahrhunderts, von der sich 1388 auf Stillhorn noch ein Rest erhalten hatte – dort waren neben dem Ortsherrn potente Siedler Mitstifter der Kirche gewesen188 –, war 1418/20 auf Altenwerder nicht mehr die Rede. So ist man am Anfang des 15. Jahrhundert, zumindest in diesem Einzelfall, wieder bei dem Gerichts- und Grundherrn, der die Kirche im Dorf stiftet. Neben den Gründungen der Landgemeinden beziehungsweise, wenn politisch organisiert, der »Landesgemeinden« (universitates)189 vor allem des 12. und 13. Jahrhunderts sind es vor allem die grundherrschaftlichen Eigenkirchen, die seit dem späteren 12. Jahrhundert – zumindest der Theorie nach – in der Rechtsfigur des Laien- oder geistlichen Patronats das – vorgebliche – Netz der Niederkirchen geknüpft haben. Wie gezeigt werden konnte, ist im Mittelalter auch im Gebiet des heutigen Niedersachsen der Zusammenhang von Grundherrschaft und Niederkirchenwesen in der Gestalt der Eigenkirche gegeben.190 Dieser Zusammenhang sollte nicht unterschätzt191 und die Eigenkirche nicht lediglich als Fremdkörper oder Ergänzung in einem idealerweise nur vom Bischof zu organisierenden Parochialsystems gesehen werden. Da in unserem Raum Dismembrationsurkunden doch eher selten und Kirchenstiftungsurkunden geradezu rar sind, wird die ortskirchengeschichtliche Arbeit gut daran tun, so weit wie eben möglich die mittelalterlichen Grundbesitzverhältnisse im Ort abzuklären; denn unter den jeweiligen Grundherren wird man am ehesten denjenigen zu suchen haben, der die Kirche ins Dorf geholt hat. Die gelegentlich sehr lange Geschichte noch heute bestehender Kirchenpatronate ist den Gemeinden in der Regel nicht bekannt oder wird hin und wieder als feudales Relikt geradezu denunziert. In Zeiten, in denen wegen knapper Finanzmittel allenthalben nach Stiftern und Stiftungen 187 Kausche: Kirchen Diözese Verden (wie Anm. 178), S. 140. 188 S. oben bei Anm. 181. 189 Vgl. Adolf E. Hofmeister: Bremen und seine »Länder«. Mittelalterliche Landesgemeinden im Bereich der Freien Hansestadt Bremen, in: Festschr. für Hartmut Müller, hrsg. von Adolf E. Hofmeister, Bremen 1998 (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen 62), S. 56f. 190 Vgl. oben bei Anm. 1, 2, 12. 191 In diesem Sinn auch Helmuth Stahleder, Bischöfliche und adelige Eigenkirchen des Bistums Freising im frühen Mittelalter und die Kirchenorganisation im Jahre 1315, in: Oberbayerisches Archiv 104 (1979), S. 117–188, hier 182–184. Enno Bünz: Bischof und Grundherrschaft in Sachsen. Zu den wirtschaftlichen Grundlagen bischöflicher Herrschaft in ottonischer Zeit, in: Bernward von Hildesheim, Bd. 1 (wie Anm. 118), S. 235, und – für das Erzbistum Mainz nachdrücklich – Franz Staab: Die Mainzer Kirche im Frühmittelalter, in: Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, hrsg. von Friedhelm Jürgensmeier, Bd. 1, Christliche Antike und Mittelalter, Teil 1, Würzburg 2000, S. 186–188.

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gerufen wird, wird man bei der Ablösung von Patronaten behutsamer, als im letzten Jahrhundert geschehen192, zu verfahren haben, vor allem neue Formen kirchlichen Stiftungswesens finden und dabei möglicherweise auch ungewohnte Wege des Gemeindeaufbaus gehen müssen.

192 Vgl. Eberhard Sperling: Zur Rechtslage der Patronate, in: ZEvKR 21, 1976, S. 244–265.

Die Ausbildung des Pfarreiwesens im Schaumburger Land (9./10.–14. Jahrhundert)*

Im Mittelalter entstanden, zählt die Pfarrei zu den wenigen damals ausgebildeten Einrichtungen, die noch heute existieren. Sie hat sich seit der Karolingerzeit entwickelt und ist ein historisch gewachsenes Institut von offensichtlich langer Dauer, auch wenn sich die Pfarrgemeinden wegen des Schwundes ihrer Mitglieder derzeit in Deutschland vielfach in der Krise befinden. Seit geraumer Zeit ist eine nicht unbeträchtliche Zahl von Forschern an der Pfarrei interessiert.1 Ihrer Gestalt im Spätmittelalter widmete sich die Frühjahrstagung 2009 des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte auf der Insel Reichenau.2 Daß man sich des Pfarreiwesens auch auf einer Tagung über Schaumburg im Mittelalter annimmt, bedarf keiner weit hergeholten Begründung. Nicht nur gibt es noch heute Pfarreien, sondern im Hohen und Späten Mittelalter ging auch im Schaumburgischen die Pfarrei wirklich einen jeden Christenmenschen an, waren doch alle, sofern nicht Mönch oder Nonne, Pfarrkinder und als solche dem Pfarrzwang des für sie zuständigen Pfarrers, des jeweiligen proprius sacer-

* Erstveröffentlichung in: Stefan Brüdermann (Hrsg.), Schaumburg im Mittelalter (Schaumburger Studien 70), Bielefeld 2013 (2. Aufl. 2014), S. 187–215. 1 Wolfgang Petke, Die Pfarrei. Ein Institut von langer Dauer als Forschungsaufgabe, in: Enno Bünz und Klaus-Jochim Lorenzen-Schmidt (Hrsg.), Klerus, Kirche und Frömmigkeit im spätmittelalterlichen Schleswig-Holstein, Neumünster 2006 (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 41), S. 17–49, als Zweitveröffentlichung diesem Band S. 11–42. Enno Bünz, Die mittelalterliche Pfarrei in Deutschland. Neue Forschungstendenzen und -ergebnisse, in: Nathalie Kruppa (Hrsg.), Pfarreien im Mittelalter. Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn im Vergleich, Göttingen 2008 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 238. Studien zur Germania Sacra 32), S. 27–66; erweiterte Neufassung: Einleitung. Die spätmittelalterliche Pfarrei als Forschungsgegenstand und Forschungsaufgabe, in: Ders., Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.–16. Jahrhundert (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation), Tübingen 2017, S. 3–76. 2 Vgl. Wolfgang Petke, Die Pfarrei in Mitteleuropa im Wandel vom Früh- zum Hochmittelalter, in: Enno Bünz und Gerhard Fouquet (Hrsg.), Die Pfarrei im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 77), Ostfildern 2013, S. 21–60, als Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 43–83.

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Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

dos,3 unterworfen. Nichts war so sehr wie die Pfarrei der Schnittpunkt von Kirche und Welt.4 Die Pfarrei mit Pfarrkirche, Pfarrgemeinde und Pfarrer war für jeden eine nicht nur sonntägliche, sondern eine alltägliche Realität, jahraus, jahrein, von der Taufe bis zum Tode. Gefragt werden soll im Folgenden nach der Entstehung der Pfarreien in Schaumburg. Dabei wird unter Schaumburg der Raum verstanden, wie ihn Gudrun Husmeier ihrem verdienstvollen historischen Ortsverzeichnis zu Grunde gelegt hat.5 Die karolingerzeitlichen Anfänge des Pfarreiwesens sind im Schaumburgischen allerdings nicht dokumentiert und darum nicht im Detail nachzuzeichnen. Denn wenn in der Frankenzeit in Sachsen gelegene Güter an Fulda und Corvey tradiert wurden, wird dabei so gut wie nie die Übertragung auch einer Kirche erwähnt. Das war in den fuldischen Traditionen aus dem Mainund Rheingebiet sowie in den süddeutschen Schenkungen an Lorsch, Freising oder Regensburg gänzlich anders.6 Hameln, die nach 826 an Fulda gelangte 3 Joseph Avril, A propos du ›proprius sacerdos‹: Quelques réflexions sur les pouvoirs du prêtre de paroisse, in: Stephan Kuttner/Kenneth Pennington (Hrsg.), Proceedings of the Fifth International Congress of Medieval Canon Law, Salamanca, 21–25 September 1976, Città del Vaticano 1980 (Monumenta Iuris Canonici, Series C. Subsidia 6), S. 471–486, hier S. 473f. 4 Vgl. Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert, Göttingen 1988 (Die Kirche in ihrer Geschichte Bd. 2, Lieferung F 1), S. 34. 5 Gudrun Husmeier, Geschichtliches Ortsverzeichnis für Schaumburg, Bielefeld 2008 (Schaumburger Studien 68. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 239). Er wird nur im Süden mit Hemeringen und Lachem in der 1640 von Braunschweig in Besitz genommenen Vogtei Lachem leicht überschritten sowie mit Wiedensahl und Idensen im Norden, die 1640 ebenfalls braunschweigisch wurden, vgl. Günther Schmidt, Die alte Grafschaft Schaumburg, Göttingen 1920 (Studien und Vorarbeiten zum historischen Atlas Niedersachsens 5), S. 30f., 36, 65. 6 Vgl. Wolfgang Petke, Wie kam die Kirche ins Dorf ? Mittelalterliche Niederkirchenstiftungen im Gebiet des heutigen Niedersachsens und Harburgs, in: Rainer Hering, Hans Otte und Johann Anselm Steiger (Hrsg.), Gottes Wort ins Leben verwandeln. Perspektiven der (nord-) deutschen Kirchengeschichte. Festschrift für Inge Mager zum 65. Geburtstag, Hannover 2005 (Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, Beiheft 12), S. 33–68, S. 35– 37 zur Überlieferung und S. 45ff. zu Pfarrkirchenstiftungen in Sachsen seit dem 10. Jahrhundert. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 103–138. – Thomas Vogtherr hat 2008 geäußert, »es fehlt in Niedersachen weitgehend das Bemühen, das Aussehen der frühen Pfarrorganisation zu erforschen, nach ältesten und alten Pfarrkirchen zu suchen, sie zu erforschen (sic!) – übrigens auch archäologisch – und das Netz der frühen Pfarreien so zu erfassen, daß deutlich wird, wie man sich die christliche Kirche des 9. und 10. Jahrhunderts in Niedersachsen eigentlich unterhalb der Ebene der Bistümer vorstellen soll«, Ders., Landesgeschichte und territoriale Kirchengeschichte. Überlegungen am Beispiel Niedersachsens, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 106 (2008), S. 179–199, hier S. 186. Den zuvor genannten Aufsatz sowie diverse andere Arbeiten – auch zur Archäologie – hat Vogtherr allerdings nicht zur Kenntnis genommen: Wilhelm Lüders, Die Fuldaer Mission in den Landschaften nördlich des Harzes, in: Zeitschrift des Harzvereins 68, 1935, S. 50–75. Konrad Lübeck, Zur Missionierung des nördlichen Harzgebietes, in: Zeitschrift des Harzvereins 73, 1940, S. 32–56. Alfred Bruns, Der Archidiakonat Nörten, Göttingen 1967 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 17. Studien zur Germania Sacra 7), S. 16–23, 38–44.

Die Ausbildung des Pfarreiwesens im Schaumburger Land

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Eigenkirche des Grafen Bernhard, wird nicht in einer Urkunde erwähnt, sondern erst vor 869 in einem Brief des fuldischen Abtes Thioto.7 Solange die luftige Hypothese vermieden und der enge Konnex mit der Überlieferung gewahrt werden, ist in Schaumburg, wie schon Dieter Brosius andeutete, nicht weiter zurück als bis in das 11. Jahrhundert zu gelangen,8 von wenigen begründeten Annahmen abgesehen. Der folgende Beitrag gliedert sich in die drei Abschnitte 1. Die Bistumskirche Minden und die Archidiakonate, 2. Die Grundherrschaft und die Pfarrkirche, und 3. Die Schaumburger Pfarrkirchen im Altsiedel- und im Rodungsland bis ins 14. Jahrhundert.

Michael Erbe, Studien zur Entwicklung des Niederkirchenwesens in Ostsachsen vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, Göttingen 1969 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 26. Studien zur Germania Sacra 9), hier S. 49–58, mit den für diese Arbeit charakteristischen Hypothesen. Elke Weiberg, Das Niederkirchenwesen in der Erzdiözese Bremen im Mittelalter, insbesondere im Archidiakonat Hadeln und Wursten, Stade 1990 (Einzelschriften des Stader Geschichts- und Heimatvereins 30), S. 50–56. – Walter Janssen, Königshagen. Ein archäologisch-historischer Beitrag zur Siedlungsgeschichte des südwestlichen Harzvorlandes, Hildesheim 1965 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 64), S. 180–193. Klaus Grote, Die Martinskirche in Sieboldshausen. Zur älteren Baugeschichte einer mittelalterlichen Erzpriesterkirche, in: Göttinger Jahrbuch 29, 1981, S. 91–124. Ders., Die Kirche St. Laurentius in Altmünden. Archäologische und baugeschichtliche Untersuchung der Kirchenruine in der Vorgängersiedlung Hann. Mündens, Hann. Münden 1996. Ders., Bernshausen. Archäologie und Geschichte eines mittelalterlichen Zentralortes am Seeburger See, Bonn 2003 (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beiheft 16), S. 181–191. Stefan Hesse, Ausgrabungen an der romanischen Wüstungskirche in Vriemeensen bei Meensen, Ldkr. Göttingen. Ein Vorbericht, in: Göttinger Jahrbuch 44, 1996, S. 7–14. Ders., Die mittelalterliche Siedlung Vriemeensen im Rahmen der südniedersächsischen Wüstungsforschung unter besonderer Berücksichtigung von Kleinadelssitzen, Neumünster 2003 (Göttinger Schriften zur Vor- und Frühgeschichte 28), S. 157–176. Dietrich Denecke, Kirchen und Kapellen im späten Mittelalter wüstgefallener Siedlungen im südlichen Niedersachsen. Bestand, Relikte, Untersuchungen, in: Hans-Heinrich Hillegeist (Hrsg.), Heimat- und Regionalforschung in Südniedersachsen. Aufgaben, Ergebnisse, Perspektiven, Duderstadt 2006 (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Südniedersächsische Heimatforschung 18), S. 198–226. 7 Klaus Nass, Untersuchungen zur Geschichte des Bonifatiusstifts Hameln. Von den monastischen Anfängen bis zum Hochmittelalter, Göttingen 1986 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 83. Studien zur Germania Sacra 16), S. 93. 8 Dieter Brosius, Kirchengeschichte, in: Ehrhard Kühlhorn, Gerhard Streich (Hrsg.), Blatt Stadthagen. Historisch-landeskundliche Exkursionskarte von Niedersachsen, Hildesheim 1985 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 2, 9), S. 64.

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1.

Die Pfarrei als Institut von langer Dauer

Die Bistumskirche Minden und die Archidiakonate

Die außerholsteinischen Lande der Schaumburger Grafen lagen im Mittelalter im Bistum Minden. Dieses Bistum ist wohl erst nach der endgültigen Befriedung Sachsens, das heißt nach 803/04 errichtet worden.9 Erkanbert, sein erster Bischof († 830), war zunächst Missionsbischof, der seine Bekehrungsarbeit nicht vor 785 aufgenommen haben dürfte. Als seine frühesten Missionskirchen gelten Kirchohsen an der Weser südlich von Hameln und Minden selbst, wo sich Karl der Große 798 mit seinem gegen die Sachsen aufgebotenen Heer aufgehalten hat. Beide Orte und ihr Umland dürften den Kern für die neue sächsische Diözese gebildet haben.10 Kirchohsen, eine der späteren Mindener Archidiakonatskirchen,11 gehörte wie bekanntermaßen auch Minden nie zur Herrschaft Schaumburg. Mindener Archidiakonatskirchen im Schaumburgischen waren überhaupt nur Apelern sowie die Stiftskirche Obernkirchen.12 Daß nur prinzipiell, nicht aber generell den zu Archidiakonatskirchen erhobenen Pfarrkirchen ein höheres Alter zugebilligt werden darf, zeigt die Geschichte von Obernkirchen. Die Pröpste des um 1163 gegründeten Augustinerchorfrauenstifts waren dank bischöflichem Privileg seit 1181 auch Archidiakone.13 Schon 1167 waren bischöflicherseits die Kirchen (ecclesiae) von Obernkirchen und Vehlen von der Jurisdiktion des Apelerner Archidiakons eximiert worden.14 Ein jüngeres Alter der 1167 zum ersten Mal erwähnten Pfarrkirche von Obernkirchen erschließt sich aus der komparativen Form des Ortsnamens Obernkirchen. Sie setzt die Existenz einer tiefer gelegenen Kirche voraus. Bei ihr wird es sich um die Kirche des soeben ge9 Nass (wie Anm. 7), S. 68f. Hans Jürgen Brandt, Minden – Domstift St. Petrus und Gorgonius, in: Karl Hengst (Hrsg.), Westfälisches Klosterbuch, Teil 1, Münster 1992 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 44. Quellen und Forschungen zur Kirchen- und Religionsgeschichte 2), S. 593–606, hier S. 594. Jetzt zu folgen ist der völligen Neubewertung der Anfänge der sächsischen Bistümer durch Theo Kölzer, Die Anfänge der sächsischen Diözesen in der Karolingerzeit, in: Archiv für Diplomatik 61, 2015, S. 11–38; zu Minden ebd. S. 20 und das zweifelhafte DD LdFr. Dep.*123. 10 Nass (wie Anm. 7) S. 69–71. 11 Ludwig August Theodor Holscher, Beschreibung des vormaligen Bisthums Minden nach seinen Grenzen, Archidiaconaten, Gauen und alten Gerichten, Münster 1877 (ND Osnabrück 1978), S. 52–57. Der Erstbeleg für einen Kirchohsener Archidiakon datiert erst von 1258, Hermann Hoogeweg (Bearb.), Westfälisches Urkundenbuch, Bd. 6. Die Urkunden des Bisthums Minden vom J. 1201–1300, Münster 1898, S. 203f. Nr. 698. 12 Vgl. Hermann Heidkämper, Die schaumburg-lippische Kirche, kurzer Überblick über ihre Entwickelung vor und nach der Reformation, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 5, 1900, S. 349–409, 356–358. 13 Urkunde Annos von Minden von 1181, Dieter Brosius, Nach achthundert Jahren. Fünf Urkunden zur Geschichte des Stifts Obernkirchen, Rinteln 1967 (Schaumburger Heimathefte 14), S. 24–27, Nr. 2. 14 Urkunde Werners von Minden von 1167, Brosius, Nach achthundert Jahren (wie Anm. 13), S. 23f. Nr. 1.

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nannten, zwei Kilometer westlich gelegenen Vehlen handeln.15 Dort lag ein bischöflich mindensches Vorwerk, das Bischof Eilbert von Minden vor 1059 zusammen mit einem Vorwerk in Apelern und weiterem Grundbesitz an den Billungerherzog Bernhard II. († 1059) zu Lehen gab.16 Da, wie noch zur Sprache kommen wird, viele alte Kirchen einen grundherrschaftlichen Ursprung haben,17 kann (!) die Vehlener Kirche von den Mindener Bischöfen als den dortigen Grundherren errichtet worden sein. Unter Verweis auf die Rolle Vehlens als Gogerichtsort wird seine Kirche allerdings noch jüngst als Schaumburgs älteste Taufkirche bezeichnet.18 Diese gerichtliche Funktion des Ortes besagt über das Alter der Kirche aber gar nichts; denn entgegen älterer Auffassung gehören die Gogerichte nicht einer angeblich altsächsischen,19 sondern einer jüngeren, ins Hoch- und Spätmittelalter datierenden Gerichtsorganisation an.20 Wegen der räumlichen Nähe kann nicht auch Obernkirchen, wie behauptet worden ist, eine Urpfarrei sein,21 davon ganz abgesehen, daß dieser künstlich geprägte Begriff mit seiner archaisierenden Anmutung erkenntnishemmend ist, worauf ebenfalls noch zuückzukommen sein wird.22 Apelern war, weil erwiesenermaßen als Archidiakonatskirche älter als Obernkirchen, vor diesem und auch vor Vehlen der kirchliche Vorort für die nördlich und östlich des Bückeberges gelegenen Lande, das heißt, für den westlichen Teil des früh- und hochmittelalterlichen Marstemgaus.23 Das hohe, wahrscheinlich in die Karolingerzeit zurückreichende Alter von Apelern und wohl auch seiner 15 Vgl. Dieter Brosius, Das Stift Obernkirchen 1167–1565, Bückeburg 1972 (Schaumburger Studien 30), S. 9. 16 Stephan Alexander Würdtwein, Subsidia diplomatica ad selecta iuris ecclesiastici Germaniae, Bd. 6, Heidelberg 1775 (ND 1969), S. 312 Nr. 99. Vgl. Hans-Joachim Freytag, Die Herrschaft der Billunger in Sachsen, Göttingen 1951 (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 20), S. 47. 17 S. unten bei Anm. 70ff. 18 Husmeier (wie Anm. 5), S. 588, Nr. 503, 7. Mit Vorbehalt: Brosius, Kirchengeschichte (wie Amn. 8), S. 64. 19 So Schmidt, Schaumburg (wie Anm. 5), S. 7. Richard Blohm, Die Hagenhufendörfer in Schaumburg-Lippe, Oldenburg 1943 (Provinzialinstitut für Landesplanung und Niedersächsische Landes- und Volksforschung Hannover-Göttingen. Reihe A, 2, 10. Schriften des Niedersächsischen Heimatbundes N. F. 10), S. 20. 20 Karl Kroeschell, Zur Entstehung der sächsischen Gogerichte, in: Wilhelm Wegener (Hrsg.), Festschrift für Karl Gottfried Hugelmann, Bd. 1, Aalen 1959, S. 295–313. Götz Landwehr, Die althannoverschen Landgerichte, Hildesheim 1964 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 62), S. 144–180. Vgl. Leopold Schütte, Wörter und Sachen aus Westfalen 800 bis 1800, Münster 2007 (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 17), S. 285. Heiner Lück, Go, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 2, 2. Aufl. Berlin 2012, Sp. 432–438. 21 Bernhard Engelke, Die Grenzen, Gaue, Gerichte und Archidiakonate der älteren Diözese Minden, in: Hannoversche Geschichtsblätter N. F. 4, 1936/37, S. 97–141, hier S. 110, 124. 22 S. unten bei Anm. 55ff. 23 S. unten bei Anm. 51.

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Kirche wird durch die prominenten Grundherren nahegelegt, die dort seit dem 9. Jahrhundert bezeugt sind: Corvey, Fulda und, wie bereits angeführt, auch Minden mit einem an die Billunger verlehnten Vorwerk.24 1162 und 1169 hatten sowohl Heinrich der Löwe als auch Albrecht der Bär umfangreichen Besitz in Apelern, darunter auch die damals ersterwähnte Kirche.25 Diese Besitzverhältnisse lassen den sicheren Schluß zu, daß beide Fürsten sie von den Billungern ererbt hatten, und zwar über die Schwestern Eilika und Wulfhild, die Töchter des letzten Billungerherzogs Magnus († 1106). Die billungische Besitzstellung in Apelern könnte auf allodifizierte Mindener Lehen zurückgehen. Ob Minden, Fulda oder Corvey die ersten Eigenkirchenherren in Apelern waren, läßt sich dagegen nicht sicher entscheiden. Auch ist das Patrozinium der Kirche leider unbekannt.26 Doch legt die spätere Funktion als Archidiakonatskirche nahe, daß noch im 11. Jahrhundert der Mindener Bischof dortiger Eigenkirchenherr war. Die Kirchengründung selbst dürfte ins 9. Jahrhundert datieren.27 – Neben Apelern zählte auch Vehlen zum billungischen Erbe der Welfen und Askanier, was 1167 und 1171 bezeugt ist. Auch die Alte Bückeburg am östlichen Ortsrand von Obernkirchen (nördlich und oberhalb des Hühnerbachs) mit ihrer Kapelle war billungisch-askanisches Erbe, das 1180/81 an Obernkirchen geschenkt wurde.28 Archidiakone, die der Stärkung der bischöflichen Gewalt in den sich festigenden Diözesen dienen sollten, gibt es seit der Mitte des 9. Jahrhunderts, und zwar zuerst unter Erzbischof Hinkmar in der Erzdiözese Reims. Ihre erste Aufgabe war die Vertretung des Erzbischofs bei der Visitation der Pfarrer – dabei

24 Husmeier (wie Anm. 5), S. 42 Nr. 22, 15. 25 Karl Janicke (Hrsg.), Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, Bd. 1, Leipzig 1896 (ND 1965) (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 65), S. 314 Nr. 327 (1162): quarta pars beneficii pertinentis ad ecclesiam. Ebd. S. 329f. Nr. 347 (1169) = Karl Jordan (Hrsg.) Die Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sachsen und Bayern, Leipzig, Weimar 1941–1949 (ND 1995) (MGH. Laienfürsten- und Dynastenurkunden 1), S. 117f. Nr. 80: … partem … terciam ecclesie˛ in Appelderen. Dazu die Bestätigungen Adelogs von Hildesheim und Annos von Minden von 1178 und 1182, UB HHild 1 S. 371–374 Nr. 387, S. 403f. Nr. 416. 26 Vgl. Brosius, Kirchengeschichte (wie Anm. 8), S. 68. 27 Vgl. bereits Holscher (wie Anm. 11), S. 131, 133. 28 Vehlen: Jordan (wie Anm. 25) S. 108f. Nr. 75 (1167). Heinrich August Erhard (Hrsg.), Regesta Historiae Westfaliae. Accedit Codex diplomaticus, Bd. 2, Münster 1851 (ND 1972), S. 113 Nr. 352 (1171). – Alte Bückeburg: ebd. S. 153 Nr. 410 (1180), S. 160 Nr. 421 (1181). Martin Last, Burgen des 11. und frühen 12. Jahrhunderts in Niedersachsen, in: Hans Patze (Hrsg.), Die Burgen im deutschen Sprachraum, Bd. 1, Sigmaringen 1976 (Vorträge und Forschungen 19, 1), S. 477f. mit Abb. 28, S. 482, 490, 492, 504, 508. Husmeier (wie Anm. 5), S. 29f. Nr. 8. Hans-Wilhelm Heine, Schaumburger Land – Burgenland. Die mittelalterlichen Burgen der alten Grafschaft Schaumburg, Oldenburg 2010 (Wegweiser zur Vor- und Frühgeschichte Niedersachsens 29), S. 33f.

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sollten sie den Visitierten möglichst wenig mit ihrer Beköstigung und dem Futter für die Pferde zur Last fallen.29 Aus dem Westfrankenreich griff das Institut der Archidiakone langsam ins Ostfrankenreich über. Im Erzbistum Mainz bestellte erst Erzbischof Willigis (975–1011) die ersten Archidiakone.30 Spätestens im 12. Jahrhundert waren die Mainzer Archidiakone jeweils Pröpste eines der erzbischöflichen Kollegiatstifte und oft, wenn auch nicht durchweg, zudem auch Mainzer Domkanoniker. Die Kumulation von Domkanonikat und Stiftspropstei nebst der Funktion des Archidiakons findet sich vielfach auch sonst, so in Metz, in Köln31 oder in Hildesheim und Verden.32 Selbstverständlich residierten diese domkapitularischen Archidiakone nicht an den Archidiakonatskirchen, sondern erschienen in ihnen nur aus besonderem Anlaß, namentlich zur Hegung des Sends. Man sollte daher nicht, wie weithin üblich, von Archidiakonatssitzen sprechen, sondern von Archidiakonatskirchen. Seit dem 13. Jahrhundert besaß der Archidiakon anstelle einer vom Bischof herrührenden iurisdictio delegata eine iurisdisdictio ordinaria.33 Obwohl ihn auch noch Innozenz III. den oculus episcopi, das Auge des 29 Martina Stratmann (Hrsg.), Hinkmar von Reims, Collectio de ecclesiis et capellis, Hannover 1990 (MGH. Fontes iuris 14), S. 104f., 109. Zur Datierung s. ebd. S. 18–20. Zu Hinkmars Archidiakonen s. Martina Stratmann, Hinkmar von Reims als Verwalter von Bistum und Kirchenprovinz, Sigmaringen 1991 (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 6), S. 24–28. 30 Franz Staab, Die Wurzeln des zisterziensischen Zehntprivilegs. Zugleich: Zur Echtheitsfrage der Querimonia Egilmari episcopi und der Responsio Stephani V papae, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40, 1984, S. 21–54, hier S. 35f. mit Anm. 53. Georg May, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen, in: Günter Christ und Georg May, Erzstift und Erzbistum Mainz. Territoriale und kirchliche Strukturen, Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 2. Würzburg 1997, S. 445–592, hier S. 505–512. 31 Franz Staab, Zur kirchlichen Raumerfassung im Mittelalter. Archidiakone, Chorbischöfe und Archidiakonate im Bistum Metz bis ins 13. Jahrhundert, in: Hans-Walter Herrmann (Hrsg.), Die alte Diözese Metz. L’ancien diocèse de Metz, Saarbrücken 1993 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volkskunde 19), S. 85– 111, hier S. 109f. Wilhelm Janssen, Das Erzbistum Köln im späten Mittelalter 1191–1515. Teil 1, Köln 1995 (Geschichte des Erzbistums Köln 2, 1), S. 313–325. Thomas B. Becker, Bistümer, Archidiakonate und Landdekanate um 1450, Bonn 2008 (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft IX/4), S. 10f., 30f. 32 Joseph Machens, Die Archidiakonate des Bistums Hildesheim im Mittelalter. Ein Beitrag zur Rechts- und Kulturgeschichte der mittelalterlichen Diözesen, Hildesheim u. a. 1920 (Beiträge für die Geschichte Niedersachsens und Westfalens, Bd. 8, Ergänzungsheft), S. 125–127, 143. Zu Verden s. unten bei Anm. 41. 33 Innozenz III., Reg. 14, 45, Migne, Patrologia Latina, Bd. 216, Sp. 413 D: dioecesanus episcopus vel archidiaconus loci seu quilibet alius ordinarius iudex. Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland (Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland), Bd. 2, Berlin 1878 (ND 1959), S. 195. Janssen, Erzbistum Köln 2, 1 (wie Anm. 31), S. 317f., 320. Zum Umfang der archidiakonalen Gewalt vgl. Westfälisches Urkundenbuch, Bd. 7. Die Urkunden des kölnischen Westfalens vom J. 1200–1300, Münster 1908, S. 767f. Nr. 1677 (1279), hier allerdings als ihm zustehendes Recht

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Bischofs, genannt hatte,34 wurde aus ihm im Spätmittelalter eine Instanz, die Klerus und Laien vom Bischof abschottete. Die Bischöfe begegneten dieser Entwicklung seit der Mitte des 13. Jahrhunderts mit der Ausbildung der bischöflichen Offizialatsgerichtsbarkeit.35 Die schon erwähnten Nachrichten von 1167 bezüglich des damals bereits bestehenden Archidiakonats Apelern und von 1181 über den neu errichteten Archidiakonat Obernkirchen sind die ältesten Belege für eine Archidiakonatseinteilung der Mindener Diözese. Ebenfalls 1181 wird erstmals ein Archidiakon in Wunstorf 36 erwähnt und dann 1227 erstmals der Archidiakonat und ein Archidiakon in Lübbecke.37 Jedoch hat bereits nach der Mitte des 11. Jahrhunderts Bischof Eilbert (1055/56–1080) dem Mindener Martinstift den Bann (bannum) über die Stadt Minden (civitas) verliehen, das Stift also mit der Ausübung der Sendgerichtsbarkeit betraut und es damit faktisch zum Archidiakon der Stadt gemacht.38 Die Gliederung der Diözese in Archidiakonatssprengel hat also im Bistum Minden im 11. Jahrhundert eingesetzt und war zu Ende des 12. Jahrhunderts etabliert. 1230 wurde die Propstei des Johannisstifts in Minden auf immer mit den Archidiakonaten Mandelsloh und Landesbergen verbunden mit der Maßgabe, daß immer nur ein Domkanoniker Propst werden solle.39 Der Archidiakonat Landesbergen (nördlich von Loccum) ging damit in Mandelsloh auf. Bis 1381 war die Zahl von zwölf Mindener Archidiakonaten erreicht.40 Die Verwaltung von Archidiakonaten durch Domkanoniker war, wie schon erwähnt, seit dem 12. Jahrhundert verbreitet. Die Domkanoniker in Verden ließen sich ihre Ansprüche auf die Archidiakonate des Bistums in den bischöflichen Wahlkapi-

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vom Dekan des Kölner St. Georg-Stifts als geborenem Wattenscheider Dekan (!) postuliert, Stefan Pätzold, Der mittelalterliche Landdekanat Wattenscheid in der Erzdiözese Köln, in: Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte 106, 2010, S. 19–46, hier S. 26, 31–34. X 1.23.7 (= Emil Friedberg, Corpus iuris canonici, Leipzig 1879 [ND 1959] Bd. 2, Sp. 151), in Anlehnung an den Clemensbrief, vgl. D. 93 c. 6 (Ebd. Bd. 1, Sp. 321). Georg May, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. Das Generalgericht zu Erfurt, Leipzig 1956 (Erfurter Theologische Studien 2), S. 37ff. May, Geistliche Ämter (wie Anm. 30), S. 527–537. Othmar Hageneder, Die geistliche Gerichtsbarkeit in Ober- und Niederösterreich. Von den Anfängen bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts, Linz 1967 (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 10), S. 260ff. Ingeborg Buchholz-Johanek, Geistliche Richter und geistliches Gericht im spätmittelalterlichen Bistum Eichstätt, Regensburg 1988 (Eichstätter Studien N. F. 23), S. 68–71. Wilhelm von Hodenberg (Hrsg.), Calenberger Urkundenbuch. 9. Archiv des Stifts Wunstorf, Hannover 1855–1859, S. 3 Nr. 4, S. 25f. Nr. 35. Vgl. Engelke (wie Anm. 21), S. 124. Hoogeweg, Westfälisches UB 6 (wie Anm. 11), S. 44 Nr. 167. Heinrich August Erhard (Hrsg.), Regesta Historiae Westfaliae. Accedit Codex diplomaticus, Bd. 1, Münster 1847 (ND 1972), S. 115 Nr. 147. Vgl. Engelke (wie Anm. 21), S. 130. Hoogeweg, Westfälisches UB 6 (wie Anm. 11), S. 59 Nr. 212. Holscher (wie Anm. 11), S. 51f. Engelke (wie Anm. 21), S. 125 und Karte: Die ältere Diöcese Minden.

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tulationen von 1205 und 1231 verbriefen.41 Daß in Obernkirchen der Propst des dortigen Augustinerchorfrauenstifts Archidiakon war, ist eher eine Ausnahme. Jedoch war es in der Diözese Halberstadt unter dem Reformbischof Reinhard geradezu zum Prinzip erhoben worden, daß die Pröpste von Augustinerchorherrenstiften zu Inhabern von Kleinarchidiakonaten erhoben wurden.42 Seit der Wende zum 14. Jahrhundert folgte dann auch Obernkirchen der generellen Entwicklung. Seitdem war wiederholt ein Mindener Domkanoniker Propst von Obernkirchen und damit auch dortiger Archidiakon.43 Im Jahre 1181 umfaßte der Archidiakonatssprengel von Obernkirchen die capellae von Vehlen und Kirchhorsten und die Kapellen (capellae) in Lerbeck, Dankersen, Petzen, Kleinenbremen, Meinsen, Jetenburg, Sülbeck, Meerbeck und Bruchhof, den Siedlungsplatz des Edelherrn Mirabilis südwestlich von Stadthagen,44 das heißt, er erstreckte sich mehr oder minder über das nördliche und nordwestliche Vorland des Bückeberges und reichte mit Kleinenbremen und Lerbeck an den nordwestlichen Rand des Wesergebirges. In der Bestätigungsurkunde Bischof Konrads von Minden (1218–1236) für Obernkirchen ist nicht mehr von capellae, sondern allein von ecclesiae die Rede, die mit Namen genannt werden.45 Diesen Wechsel in der Terminologie sollte man aber nicht zu hoch veranschlagen; denn Wilhelm Janssen hat am Beispiel der kölnisch-rheinischen Überlieferung gezeigt, daß die Begriffe capella und ecclesia keine unbedingt

41 Arend Mindermann (Bearb.), Urkundenbuch der Bischöfe und des Domkapitels von Verden, Bd. 1, Stade 2001 (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 13. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 205), S. 247f. Nr. 214, S. 366–368 Nr. 323 (Wahlkapitulationen von 1205 und 1231). Thomas Vogtherr, Die älteste Wahlkapitulation im Bistum Verden aus dem Jahre 1205, in: Hans-Joachim Schulze (Hrsg.), Landschaft und regionale Identität. Beiträge zur Geschichte der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden und des Landes Hadeln, Stade 1989 (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der Ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 3), S. 74–83. 42 Karlotto Bogumil, Das Bistum Halberstadt im 12. Jahrhundert. Studien zur Reichs- und Reformpolitik des Bischofs Reinhard und zum Wirken der Augustiner-Chorherren, Köln, Wien 1972 (Mitteldeutsche Forschungen 69), S. 191–195. 43 Brosius, Obernkirchen (wie Anm. 15), S. 65, 205f. 44 Brosius, Nach achthundert Jahren (wie Anm. 13) S. 26 Nr. 2. 1167 war Vehlen ecclesia, s. oben bei Anm. 14. Zu Bruchhof und seiner Lage s. Franz Engel, Der Edelherr Mirabilis als Siedlungsunternehmer im Dülwald (1951), Wiederabdruck in Ders., Beiträge zur Siedlungsgeschichte und historischen Landeskunde. Mecklenburg, Pommern, Niedersachsen, hrsg. von Roderich Schmidt, Köln, Wien 1970, S. 144–151. Wolfgang Laur, Die Ortsnamen in Schaumburg, Rinteln 1993 (Schaumburger Studien 51), S. 88. Husmeier (wie Anm. 5), S. 95f., Nr. 78. Heine, Schaumburger Land (wie Anm. 28), S. 37–39. 45 Carl Wilhelm Wippermann, Regesta Schaumburgensia, Cassel 1853, S. 57f. Nr. 102. Holscher (wie Anm. 11), S. 146.

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verläßliche Auskunft über den rechtlichen Status einer Niederkirche geben.46 Allerdings fällt auf, daß Bruchhof, das offenbar stets Kapelle blieb,47 in der Aufzählung der ecclesiae durch Bischof Konrad nun fehlt. Die Siedlungen des südlichen Schaumburger Landes an der Bückeburger Aue und an der Weser zwischen Fischbeck und Rinteln lagen im Archidiakonat Kirchohsen48 und waren damit der Jurisdiktion eines Sendortes unterworfen, der – wie erwähnt – außerhalb der Herrschaft lag. Im Norden hin zum Steinhuder Meer gehörten Altenhagen, Bergkirchen und Steinhude zum Archidiakonat Wunstorf 49 und im Nordwesten Frille und Wiedensahl zum Archidiakonat Mandelsloh.50 Bis hierher kann festgehalten waren, daß sich das Pfarreiwesen im Schaumburger Land innerhalb des Bistums Minden und seit dem Hochmittelalter in dessen Archidiakonaten Apelern und Kirchohsen, seit 1181 im von Apelern dismembrierten Archidiakonat Obernkirchen entfaltet hat. Die Archidiakonatskirche Apelern lag im Westteil der bis an die Leine reichenden alten Siedlungslandschaft des Marstemgaus, die Archidiakonatskirche Obernkirchen im nur zweimal bezeugten Buckigau.51 Der Schaumburger Teil des Archidiakonats Kirchohsen reichte über den Norden des sich von Rinteln bis Kemnade beidseitig der Weser erstreckenden Tilithigaus.52 Man weiß heute, daß die Gaue des frühen und hohen Mittelalters nicht Verwaltungs- und Jurisdiktionsbezirke waren, sondern alte Siedlungslandschaften und Siedlungskammern.53 Von ihnen nahm die hochmittelalterliche Binnenkolonisation ihren Ausgang. Daß die alten Kirchen in diesen Altsiedelräumen im 11./12. Jahrhundert zu Archidiakonatskirchen mit ihren zentralörtlichen Funktionen erhoben wurden, liegt sehr nahe, 46 Wilhelm Janssen, Die Differenzierung der Pfarrorganisation in der spätmittelalterlichen Erzdiözese Köln. Bemerkungen zum Verhältnis von »capella dotata«, »capella curata« und »ecclesia parrochialis«, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 55, 1991, S. 58–83. 47 Vgl. Holscher (wie Anm. 11), S. 153 Nr. 10, S. 163 Nr. 8. Brosius, Kirchengeschichte (wie Anm. 8), S. 67. 48 Husmeier (wie Anm. 5), S. 116 Nr. 100 (Deckbergen), S. 148 Nr. 133 (Exten), S. 157 Nr. 139 (Fischbeck), S. 170 Nr. 149 (Fuhlen), S. 190 Nr. 162 (Großenwieden), S. 214 Nr. 182 (Hattendorf), S.256 Nr. 219 (Hohenrode), S. 363 Nr. 308 (Möllenbeck), S. 433 Nr. 377 (Rehren), S. 487 Nr. 417 (Rumbeck), S. 536 Nr. 461 (Segelhorst), S. 559 Nr. 475 (Steinbergen). 49 Husmeier (wie Anm. 5), S. 33 Nr. 12 (Altenhagen), S. 77 Nr. 54 (Bergkirchen), S. 563 Nr. 478 (Steinhude). 50 Husmeier (wie Anm. 5), S. 167 Nr. 146 (Frille), S. 630 Nr. 534 (Wiedensahl). 51 Holscher (wie Anm. 11), S. 131, 165 (mit der Lokalisierung Apelerns in den Buckigau). Engelke (wie Anm. 21), S. 108f., 109f. 52 Holscher (wie Anm. 11), S. 54. Engelke (wie Anm. 21), S. 111f. 53 Peter von Polenz, Landschafts- und Bezirksnamen im frühmittelalterlichen Deutschland. Untersuchungen zur sprachlichen Raumerschließung, Bd. 1, Marburg 1961. Wolfgang Hessler, Mitteldeutsche Gaue des frühen und hohen Mittelalters, Berlin 1957 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Kl. 49, Heft 2), S. 13f. Michael Borgolte, Gau, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München, Zürich 1989, Sp. 1141. Schütte (wie Anm. 20), S. 284.

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wobei Ausnahmen wie der Fall des jüngeren Obernkirchen möglich und lehrreich sind. Eine Koinzidenz von Siedlungslandschaft, dem geistlichen Jurisdiktionsbezirk des Archidiakonats und der weltlichen Gerichtsorganisation war nicht geplant;54 sie konnte sich aber aus den tatsächlichen Siedlungs- und Herrschaftsverhältnissen ergeben. 54 Das nehmen dagegen für den Schaumburger Raum an Holscher (wie Anm. 11), S. 165, Engelke (wie Anm. 21), S. 112, 124 und passim, und generell Heinrich Böttger, Diöceanund Gaugrenzen Norddeutschlands zwischen Oder, Main, jenseits des Rheins, der Nord- und Ostsee, von Ort zu Ort schreitend festgestellt, Abt. 1–2, Halle 1874–1875 (zu Minden Abt. 2, S. 62–125). Gegen die Gleichsetzung von Gau- und Archidiakonatsgrenzen wandte sich bereits Schmidt, Schaumburg (wie Anm. 5), S. 5f.

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2.

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Die Grundherrschaft und die Pfarrkirche

Die Archidiakonatskirche Apelern gilt Bernhard Engelke als eine der Mindener »Urpfarreien«.55 Dieser seit rund hundert Jahren eingeführte Begriff – er könnte in der Geschichtsforschung in Analogie zu dem von Heinrich E.G. Paulus 1828 verwendeten Terminus »Urchristentum«56 gebildet worden sein – ist eine Schöpfung der Historiker, die damit auch noch heute sagen wollen, daß die betreffende Pfarrei zu den ältesten Pfarrkirchen der jeweiligen Diözese gehörte. Ihr Kirchspiel wäre ausgedehnt, ja, mit Ferdinand Pauly in Trier, eine Großpfarrei gewesen, sie hätte über das Tauf- und Sepulturrecht verfügt, ihr Patrozinium deutete ein hohes Alter an, von ihr wären jüngere Kirchspiele abgepfarrt worden.57 Bernhard Engelke meinte: »Diese Urpfarreien schlossen sich noch eng an die Gaueinteilungen an, je eine, zwei oder drei solcher Urpfarreien entspre-

55 Engelke (wie Anm. 21), S. 124. 56 Heinrich Erhard Gottlob Paulus, Das Leben Jesu, als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, Bd. 1–2, Heidelberg 1828. Werner Georg Kümmel, Urchristentum, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, 3. Aufl. Tübingen 1962, Sp. 1187–1193. 57 Vgl. Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Freiburg i. Br. 1904, S. 375. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die Katholische Kirche, 5. Aufl. Köln, Wien 1972, S. 183f., 187, 403. Machens, Archidiakonate Hildesheim (wie Anm. 32), S. 59. Luzian Pfleger, Die elsässische Pfarrei. Ihre Entstehung und Entwicklung. Ein Beitrag zur kirchlichen Rechts- und Kulturgeschichte (Forschungen zur Kirchengeschichte des Elsaß 3), Straßburg 1936, S. 45, 60. Pflegers schon differenzierende, auch sonst wichtige Abhandlung ist ein Zusammendruck mehrerer Beiträge aus dem Archiv für Elsässische Kirchengeschichte, Bände 4, 1929, bis 9, 1934. Albert K. Hömberg, Das mittelalterliche Pfarrsystem des kölnischen Westfalen, in: Westfalen 29, 1951, S. 27–47, hier S. 31. Albert Heintz, Die Anfänge des Landdekanates im Rahmen der kirchlichen Verfassungsgeschichte des Erzbistums Trier, Trier 1951 (Trierer Theologische Studien 3), Trier 1951, S. 23. Edmund E. Stengel, Urkundenbuch des Klosters Fulda, Bd. 1, Marburg 1913–1958, S. 438 Nr. 338, Vorbemerkung (»Urkirche«). Erich Frhr. von Guttenberg/Alfred Wendehorst, Das Bistum Bamberg. Teil 2: Pfarreiorganisation, Berlin 1966 (Germania Sacra. 2. Abt.: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. 1: Das Bistum Bamberg), S. 36. Ferdinand Pauly, Siedlung und Pfarrorganisation im alten Erzbistum Trier. Zusammenfassung und Ergebnisse, Koblenz 1976 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 25), S. 337. Enno Bünz, Der Zehntbesitz des Würzburger Stifts Haug um Hammelburg und die mittelalterliche Besiedlung und Pfarreiorganisation an der Fränkischen Saale, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 54, 1994, S. 175–192, hier S. 182f. Ders, Karte II. Das Bistum Hildesheim zur Zeit Bernwards, in: Michael Brandt/Arne Eggebrecht (Hrsg.), Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Bd. 1, Hildesheim, Mainz 1993, S. 469–474, hier S. 472. Sebastian Kreiker u. Uwe Ohainski, Karte VI. Die Urpfarrei Elze, ebd., S. 485–487. Richard Puza, Pfarrei, Pfarrorganisation, Urpfarreien (Landpfarreien), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München, Zürich 1993, Sp. 2023f. Winfried Irgang, Aufbau und Entstehung der Seelsorgsorganisation im östlichen Mitteleuropa, in: La pastorale della Chiesa in Occidente dall’età ottoniana al concilio lateranense IV, Atti della quindicesima Settimana internazionale di studio Mendola, 27–31 agosto 2001, Mailand 2004, S. 299–323, hier S. 320. – Hinschius, Kirchenrecht (wie Anm. 33), Bd. 1–6, 1869–1897, kennt eine Urpfarrei noch nicht.

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chen einem altsächsischen Gau«.58 Ihre alten Verbände, so Engelke weiter, hätten sich insbesondere dadurch gelockert, »daß viele Grundherren auf ihrem Eigen und mit eigenen Mitteln Kirchen erbauten und unterhielten, und für diese Eigenkirchen völlige Freiheit von der Urpfarrei, in der sie lagen, in Anspruch nahmen«.59 Der lange Zeit bei Historikern beliebte Begriff »Urpfarrei« soll nun aber nicht nur etwas über die Zeitstellung und die Raumerfassung einer Kirche besagen, sondern mehr oder minder deutlich ausgesprochen auch etwas über ihren Ursprung und somit über ihren Gründer. Bei diesem denkt man in der Regel – wenn nicht gar an die Missionare – dann doch an den jeweiligen Diözesanbischof.60 Gelegentlich ist davon die Rede, es habe sich bei diesen bischöflichen »Urpfarreien« um »alte Pfarrkirchen öffentlichen Rechts« gehandelt – was immer das heißen soll.61 In der Regel bleibt aber dunkel, auf Grund welcher Kompetenz der Bischof eine solche »Urpfarrei« gegründet hat. Mehr oder minder explizit wird das Ensemble der Urpfarreien als ein ältestes, planmäßig errichtetes Pfarreisystem betrachtet, durch das der Bischof die Gläubigen seines Sprengels erfaßt hätte. Die grundherrliche Eigenkirche hätte diese ursprüngliche und einheitliche Organisation des Bistums gestört und durchlöchert. Schließlich seien an den Urpfarreien wenigstens Archidiakone angesiedelt worden. Die Quellen kennen aber gar keine Urpfarrei. Vielmehr unterscheiden sie Mutterkirchen und Tochterkirchen (matres und filiae). Das tun sie wegen der Rechte der älteren Kirche (mater) gegenüber denjenigen der jüngeren, der filia, vor allem hinsichtlich des Tauf- und Sepulturrechts. Die mit der »Urpfarrei« verknüpfte Vorstellung von einer einheitlich vom Bischof durchorganisierten frühmittelalterlichen Diözese ist ein Konstrukt, das die Wirklichkeit verfehlt. In jüngeren Arbeiten zur Pfarrreiorganisation wird der Terminus daher richtigerweise bewußt vermieden beziehungsweise verworfen.62 58 Engelke (wie Anm. 21), S. 124. Dr. Bernhard Engelke (1872–1958), Jurist und von 1905 bis 1920 in Linden und von 1920 bis 1935 in Hannover städtischer Beamter (Senator, Stadtrat, Dezernent), mit 63 (!) Jahren zum 1. April 1935 in den Ruhestand versetzt, ist mit zahlreichen Publikationen zur Numismatik und zur niedersächsischen Landesgeschichte und hier speziell zu den altsächsischen Gauen und zu den Diözesangrenzen hervorgetreten, Friedrich Busch, Nachruf Bernhard Engelke, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 31, 1959, S. 378f. Dirk Böttcher, Klaus Mlynek, Waldemar R. Röhrbein, Hugo Thielen, Hannoversches Biographisches Lexikon. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Hannover 2002, S. 109. 59 Engelke (wie Anm. 21), S. 124. 60 So zum Beispiel Hömberg (wie Anm. 57), S. 31. 61 Machens, Archidiakonate Hildesheim (wie Anm. 32), S. 42 Anm. 26. Die Vorstellung von bischöflichen Kirchen (= »Urpfarrkirchen«) als »Pfarrkirchen öffentlich-rechtlichen Charakters« auch bei Hömberg (wie Anm. 57), S. 31. 62 Helmuth Stahleder, Bischöfliche und adelige Eigenkirchen des Bistums Freising im frühen Mittelalter und die Kirchenorganisation im Jahre 1315, in: Oberbayerisches Archiv 104, 1979, S. 117–188, 105, 1980, S. 7–69, hier S. 181. Karl Borchardt, Die geistlichen Institutionen in

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Eine einzige, auf die Stadt und den Stadtbezirk (civitas) bezogene Kirche gab es in der Spätantike. Die diversen Kirchengebäude in der Stadt, in denen der Ortsbischof seine Stationsgottesdienste feierte, solange es noch nicht die eine Kathedralkirche gab, waren kirchlich-bischöfliches Eigentum. Während Papst Pelagius I. noch um 555–560 die bischöfliche Leitung jeder einzelnen Kirche eines Bistums als eine Selbstverständlichkeit betrachtete,63 wurden in Gallien längst grundherrliche Kirchen geduldet – seit den Synoden von Orange (441) und Agde (506).64 Diese von Grundherren gebauten und für den Priesterunterhalt dotierten Kirchen nennt die Forschung seit 1895, seit den bahnbrechenden Forschungen von Ulrich Stutz, »Eigenkirchen« – ein Begriff, der als »église privée« beziehungsweise als »proprietary church« oder »private church« von der französisch- und englischsprachigen Forschung adaptiert worden ist.65 Stutz hatte erkannt, daß Oratorien im frühen Mittelalter eigene Kirchen (propriae ecclesiae) eines Laien, eines Klosters, eines Priesters oder eines Bischofs sein konnten66 und daß aus dieser Rechtsposition ein umfassendes Herrschafts- und

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der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber und dem zugehörigen Landgebiet von den Anfängen bis zur Reformation, Bd. 2, Neustadt 1988 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte 37/II), S. 818 Anm. 44. Wilhelm Kohl, Bemerkungen zur Entstehung der Pfarrorganisation im alten Sachsen, vornehmlich im Bistum Münster, in: Johannes Mötsch (Hrsg.), Ein Eifler für Rheinland-Pfalz. Festschrift für Franz-Josef Heyen zum 75. Geburtstag am 2. Mai 2003, Mainz 2003 (Quellen und Abhandlungen zur Mittelrheinischen Kirchengeschichte 105, 2), S. 916, 925f. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 6), S. 49f. Wilfried Hartmann, Der rechtliche Zustand der Kirchen auf dem Lande. Die Eigenkirche in der fränkischen Gesetzgebung des 7. bis 9. Jahrhunderts, in: Cristianizzazione ed organizazzione ecclesiastica delle campagne nell’Alto Medioevo: Espansione e resistenze (Settimane di studio 28, 1), Spoleto 1982, S. 397–441, hier S. 404. Charles Munier (Hrsg.), Concilia Galliae a. 314 – a. 506, Turnhout 1963 (Corpus Christianorum 148), Orange c. 9 (10), S. 81: Quod si etiam saecularium quicumque ecclesiam aedificauerit et alium magis quam eum in cuius territorio aedificat inuitandum putauerit, tam ipse cui contra constitutionem ac disciplinam gratificari uult, quam omnes episcopi qui ad huiusmodi dedicationem inuitantur a conuentu abstinebunt. Agde c. 21, ebd. S. 202f.: Si quis etiam extra parrocias, in quibus legitimus est ordinariusque conuentus, oratorium in agro habere uoluerit, reliquis festiuitatibus ut ibi missas teneant propter fatigationem familiae iusta ordinatione permittimus; Pascha uero, Natale Domini, Epiphaniam, Ascensionem Domini, Pentecosten et Natale sancti Ioannis Baptistae, uel si qui maximi dies in festiuitatibus habentur, nonnisi in ciuitatibus aut in parrociis teneant. Vgl. Peter Landau, Eigenkirchenwesen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9, 1982, S. 399–404. Bernard Delmaire, Église privée, in: André Vauchez und Catherine Vincent (Hrsg.), Dictionnaire encyclopédique du Moyen Âge, Bd. 1, Paris 1997, S. 515. Richard E. Sullivan, Parish, in: Joseph R. Strayer (Hrsg.), Dictionary of the Middle Ages, Bd. 9, New York 1987, S. 411–417, hier S. 411f. Als ecclesia … de proprietate ist die Eigenkirche belegt bei Hinkmar von Reims (wie Anm. 29), S. 91: ecclesiae … sive sint de regia dominatione, sive sint de episcopii vel monasterii inmunitate, sive sint de cuiuslibet liberi hominis proprietate. Erstmals positiv und nicht mehr in Abwehr zur Wahrung der bischöflichen Jurisdiktion wird die Eigenkirche berührt auf der Frankfurter Synode von 794, in: Albert Werminghoff (Hrsg.), Concilia aevi Karolini, Bd. 2,

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Nutzungsrecht des Eigenkirchenherrn an der Kirche abgeleitet war.67 Charakteristisch ist das Recht des Herrn auf Einkünfte aus seiner Kirche und das Recht zu ihrer Besetzung. Die teilweise skandalöse Nutzung der Niederkirche durch die Eigenkirchenherren – und nicht der Streit um die Einsetzung von Reichsbischöfen – gab den Anstoß zur Kirchenreform des 11. Jahrhunderts. Eine ihrer Folgen war die Schaffung der Rechtsfigur des Patronats Mitte des 12. Jahrhunderts durch den Kirchenrechtslehrer Gratian. In ihr war die Eigenkirchenherrschaft zum Patronatsrecht abgemildert.68 Davon abgesehen, daß ohne die von weltlichen Grundherren gestiftete Eigenkirche der Ausbau des früh- und hochmittelalterlichen Pfarreiwesens nicht möglich gewesen wäre,69 wurden auch die bischöflichen Landkirchen der Karolingerzeit nicht aus einer wie auch immer gearteten kirchlichen Amtsgewalt heraus fundiert, sondern im Rahmen der Grundherrschaft; sie waren somit nichts anderes als bischöfliche Eigenkirchen.70 Dafür gibt es schlagende Belege

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1, Hannover 1906 (ND 1997) (MGH Concilia 2, 1), S. 171 c. 54: De ecclesiis, quae ab ingenuis hominibus construuntur: licet eas tradere, vendere, tantummodo ut ecclesia non destruatur, sed serviuntur cotidie honores, sowie im Kapitular von Selz von 803, in: Alfred Boretius (Hrsg.), Capitularia regum Francorum, Bd. 1, Hannover 1883 (ND 1984) (MGH Capitularia 1), S. 119 c. 3: Quicumque voluerit in sua proprietate ecclesiam aedificare, una cum consensu et voluntate episcopi in cuius parrochia fuerit licentiam habeat; verumtamen omnino praevidendum est, ut aliae ecclesiae antiquiores propter hanc occasionem nullatenus suam iusticiam aut decimam perdant, sed semper ad antiquiores ecclesias persolvantur. Vgl. Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien, Paderborn 1989 (Konziliengeschichte A 9), S. 114f., und grundlegend zur Frühgeschichte der Eigenkirche Ders., Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 63), S. 397–441. Landau, Eigenkirchenwesen (wie Anm. 65), S. 399. Peter Landau, Patronat, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 26, Berlin, New York 1996, S. 106–114. Vgl. Theodor Schieffer, Reichskirche und Landeskirchen des 7. Jahrhunderts, in: Theodor Schieder (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. 1, Stuttgart 1976, S. 504–526, hier S. 505. Peter Landau, Eigenkirchenwesen (wie Anm. 65), S. 401f. Hartmann, Kirchen auf dem Lande (wie Anm. 63), S. 417. Ders., Kirche und Kirchenrecht um 900. Die Bedeutung der spätkarolingischen Zeit für Tradition und Innovation im kirchlichen Recht, Hannover 2008 (Schriften der MGH 58), S. 23. Kohl, Pfarrorganisation (wie Anm. 62), S. 926. Stahleder, Freising (wie Anm. 62), S. 182–184. Enno Bünz, Bischof und Grundherrschaft in Sachsen. Zu den wirtschaftlichen Grundlagen bischöflicher Herrschaft in ottonischer Zeit, in: Brandt/Eggebrecht (wie Anm. 57), S. 231–240, hier S. 235. Siegfried Haider, Zum Niederkirchenwesen in der Frühzeit des Bistums Passau (8.–11. Jahrhundert), in: Egon Boshof und Hartmut Wolff (Hrsg.), Das Christentum im bairischen Raum. Von den Anfängen bis ins 11. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 1994 (Passauer Historische Forschungen 8), S. 328– 388, hier S. 328f. Franz Staab, Die Mainzer Kirche im Frühmittelalter, in: Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.), Christliche Antike und Mittelalter, Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 1, Teil 1, Würzburg 2000, S. 87–194, hier S. 186–189. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 6), S. 46–55. – Von einer anfänglichen Vermögenseinheit des Bistums spricht May, Geistliche Ämter (wie Anm. 30), S. 561, ohne sich über die Zeitstellung genauer auszulassen. Für die gesamte Diözese bestand eine Vermögenseinheit jedoch allenfalls noch im 5. Jh. Im 9. Jh. kann davon nur noch für den in den Bischofssitzen ansässigen Klerus die Rede sein, vgl.

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zum Beispiel für die späteren Mainzer Archidiakonatskirchen Nörten und Hofgeismar.71 Deutlich ist die Kongruenz von Archidiakonatsort und bischöflichem Besitz auch in den Mindener Archidiakonatsorten Apelern, Mandelsloh, Ahlden, (Mark)Lohe, Sulingen, Lübbecke und Rehme.72 In Lübbecke und Rehme befanden sich auch domkapitularische Obödienzen des 12. und 13. Jahrhunderts.73 Daß, wie behauptet worden ist, Mainzer – und analog um Pattensen Mindener – Kleriker als Missionare in das obere und untere Leinetal gekommen wären74, ist nichts weiter als bare Vermutung. Denn der Mainzer oder Mindener Grundbesitz war viel eher die Voraussetzung für die Christianisierung der ihn bewirtschaftenden Untersassen als deren Folge.75 Ein Missionar oder Missionsbischof brauchte für ein erfolgreiches Wirken die Gunst eines einheimischen Großen, der ihm Grund und Boden für die Errichtung einer Kirche und für den Unterhalt des Priesters zur Verfügung stellte. Das war bei Bonifatius 723/24 bei der Errichtung der Peterskirche in Fritzlar nicht anders als bei Ansgar vor 865 in Haithabu.76 Im Zuge seiner 772 dann gescheiterten Sachsenmission hat Abt Sturmi von Fulda in bestimmten Gegenden Priester angesetzt und Kirchen errichtet (oder errichten lassen) sowie die sächsischen Heiden belehrt, sie möchten die Tempel ihrer Götter zerstören, die Haine niederhauen und heilige Kirchen bauen – wohlgemerkt die Heiden! 77 Auch der Grund und Boden dieser Gotteshäuser hätte von ihren Eigentümern zur Verfügung gestellt werden müssen. – Bistümer und Abteien wurden im Frühmittelalter von König und Adel in großzügiger Weise mit

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Ulrich Stutz, Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III. Aus dem Nachlaß ergänzt und mit Vorwort versehen von Hans Erich Feine, Aalen 3. Aufl. 1972, S. 12–23, 41, 68f., 76–79. Peter Landau, Beneficium, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 5, 1980, S. 577–583, hier S. 578f. – Die grundherrschaftliche Stellung des Bischofs im Blick hat bereits Luzian Pfleger, Elsässische Pfarrei (wie Anm. 57), S. 45f. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 6), S. 50–52. Dieter Scriverius, Die weltliche Regierung des Mindener Stifts von 1140 bis 1397. Bd. 2. Lage und Geschichte des bischöflichen Lehnguts, Marburg 1974, S. 31, 109, 124, 130, 169, 230, 242. Ulrich Rasche, Necrologien, Anniversarien- und Obödienzenverzeichnisse des Mindener Domkapitels aus dem 13. Jahrhundert, Hannover 1998 (MGH Libri memoriales et necrologia Nova Series 5), S. 256 (Lübbecke), S. 245f., 323f. (Rehme). Bruns (wie Anm. 6), S. 22: »Wann die mainzischen Missionare in unser Gebiet einzogen, läßt sich nur innerhalb eines größeren Zeitraumes bestimmen«. Vgl. Ernst Schubert, Geschichte Niedersachsens, Bd. 2, 1, Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, Hannover 1997 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 36. Geschichte Niedersachsens 2, 1), S. 54 (zu Corvey). Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 6), S. 42–45. Pius Engelbert, Die Vita Sturmi des Eigil von Fulda. Literarkritisch-historische Untersuchung und Edition, Marburg 1968 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 29), c. 23 S. 159: … sanctas quoque basicilicas aedificarent … Cum … per regiones quasque singulas presbyteros disponeret, ecclesias construxisset.

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Grundbesitz bedacht, in Minden genauso wie überall sonst, nur daß man in die frühen Mindener Verhältnisse keinen Einblick hat. Nach der bischöflichen Besitzstellung in den späteren Archidiakonatsorten zu urteilen, hat aber auch der Bischof von Minden als Grundherr in den Vororten seiner Villikationen für die Seelsorge an seinen Untersassen bischöfliche Eigenkirchen fundiert und dotiert. Eine solche bischöflich-grundherrliche Kirche ist offenbar, wie erwähnt, auch Vehlen unterhalb von Obernkirchen gewesen.78 Ihr Fall zeigt aber, daß nicht jede bischöfliche Eigenkirche zu einer Archidiakonatskirche erhoben werden mußte oder konnte. Wie die bischöflichen Grundherren haben auch Stifte und Klöster ihre Villikationen mit Eigenkirchen besetzt oder aber haben sich Hufen oder ganze Villikationen mitsamt ihren Eigenkirchen von adeligen Stiftern schenken lassen. Die eingangs erwähnten süddeutschen, aber auch die fuldischen Quellen für das Rhein-Maingebiet legen darüber Zeugnis ab. Genauso, als Grundherren, werden neben den Bischöfen von Minden oder Paderborn, neben Fulda und Corvey auch die frühen Kanonissenstifte Wunstorf, Möllenbeck und Fischbeck auf ihren Grundherrschaften im späteren Schaumburger Land Kirchen errichtet haben. Sicherlich diese Vorstellung hat Dieter Brosius 1985 die etwas gewundene Formulierung finden lassen, daß die »frühen Stiftsgründungen … die geistliche Durchdringung des Landes (förderten)«.79 Daß Frauenkommunitäten nur mittelbar, und zwar durch die Pfarrkirchen in ihren Villikationen, zur Christianisierung beitragen konnten, verstand und versteht sich von selbst. Aber auch für den karolingerzeitlichen Mönch ist die eigentliche Wirkungsstätte nicht die Pfarrei, sondern der Chor der Klosterkirche. Die missionierenden angelsächsischen Mönche des 8. Jahrhunderts hatten in ihren Pilgerfahrten (peregrinationes) wie ihre irischen Vorgänger immer noch die Askese der Pilgerfahrt in die Fremde und nicht die Heidenmission gesucht. Aufs Ganze gesehen war die Bekehrung der Heiden eine Folge, nicht das Ziel der Pilgerfahrten der Mönche.80 So war auch Hameln, wie Klaus Nass schlagend gezeigt hat, keineswegs eine Fuldaer Missionsstation, sondern zunächst einmal eine 802 oder 812 gestiftete Eigenkirche des Grafen Bernhard († 826). Erst als sie nach dessen Tod an Fulda gefallen war, richtete die Abtei an ihr 851 ein Nebenkloster ein. Diese monasti78 S. oben bei Anm. 16. 79 Brosius, Kirchengeschichte (wie Anm. 8), S. 64. 80 Giles Constable, Monasteries, Rural Churches and the cura animarum in the early Middle Ages, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica (wie Anm. 63), S. 349–389, hier S. 356–359. Vgl. Arnold Angenendt, Monachi peregrini. Studien zu Pirmin und den monastischen Vorstellungen des frühen Mittelalters, München 1972 (Münstersche Mittelalterschriften 6), S. 124–164. Ders., Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, 3. Aufl. Stuttgart u. a. 2001, S. 212f., 270ff., 366–368.

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sche Außenstation diente der Bewirtschaftung der Fuldaer Besitzungen im Weserraum und der personellen Entlastung der Mutterabtei. Drei bis zum 11. Jahrhundert nicht namentlich erwähnte, zum Hamelner Besitzkomplex gehörende Kirchen außerhalb Schaumburgs – St. Petri in Hehlen, St. Martin in Groß Hilligsfeld und St. Crucis in Kirchwahlingen (südwestl. Walsrode) –, waren grundherrliche Eigenkirchen des Nebenklosters und mitnichten frühe Fuldaer Missionskirchen.81

3.

Die Pfarrkirchen im Altsiedelland und im Rodungsland

Es scheint also sinnvoll zu sein, bei der Suche nach den ältesten Kirchen im später Schaumburger Land auf früh bezeugte Grundherren zu achten, wie hier für Vehlen und Apelern sowie für die außerschaumburgischen Archidiakonatskirchen bereits geschehen. Die älteste belegte Niederkirche im Schaumburgischen ist diejenige von Meerbeck nordwestlich von Stadthagen, und zwar zum Jahr 1031. Hier gab es einen Villikationshaupthof, der aus dem väterlich-immedingischen Erbe des Paderborner Bischofs Meinwerk stammte. Der Bischof gab die Villikation in Meerbeck nebst Kirche (Merebeke cum ecclesia) dem von ihm gestifteten Kloster Abdinghof, gelegen vor der Domimmunität zu Paderborn.82 Das 1589 bezeugte Bartholomäuspatrozinium von Meerbeck läßt an die Bartholomäuskapelle denken, die Meinwerk am Südtrakt der Kaiserpfalz in Paderborn errichten ließ.83 Denselben Weg aus dem Erbe des sächsischen Hocharistokraten nahm das bereits in der fuldischen Überlieferung zum 8./9. Jahrhundert genannte Großenwieden, an der Weser westlich von Hessisch Oldendorf 81 Nass (wie Anm. 7), S. 73–79, 110–127, 133–137; zu den erwähnten Kirchen ebd. S. 237, 240, 244. 82 DH.II. 262 (1013): Meerbeck unter den principales cortes. Franz Tenckhoff (Hrsg.), Vita Meinwerci, Hannover 1921 (MGH SSrerGerm [59]), c. 210, S.123: in dotem eius predia he˛c sollempniter delegans Withun, Gelondorph, Merebeke cum ecclesia. Husmeier (wie Anm. 5), S. 349f. Nr. 298. Zu Villikationshof und Kirche in Meerbeck s. Franz Engel, Die ländlichen Siedlungen und ihre Geschichte, in: Der Landkreis Schaumburg Lippe, Bremen-Horn 1955 (Die deutschen Landkreise. Reihe D: Die Landkreise in Niedersachsen 12), S. 103–117, hier S. 110, nach S. 114, Taf. 31, Abb. 62, Wiederabdruck in: Ders., Beiträge zur Siedlungsgeschichte (wie Anm. 44), S. 162–196, hier S. 179, nach S. 176, Abb. 74. 83 Vita Meinwerci c. 155 S. 82. Heinz Bauer, Friedrich Gerhard Hohmann, Der Dom zu Paderborn, 2. Aufl. Paderborn 1969, S. 14. Hermann Bannasch, Das Bistum Paderborn unter den Bischöfen Rethar und Meinwerk, Paderborn 1972 (Studien und Quellen zur Westfälischen Geschichte 12), S. 246. Sveva Gai und Sven Spiong, Großbaustelle Paderborn, in: Christoph Stiegemann, Martin Kroker (Hrsg.), Für Königtum und Himmelreich. 1000 Jahre Bischof Meinwerk von Paderborn, Regensburg 2009, S. 238–243, hier S. 240f., 242, Abb. 2.

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gelegen84, nur daß dort – gegen Holscher und Husmeier – 1031 eine Kirche noch nicht sicher bezeugt ist. Diese wird erstmals 1146 erwähnt.85 Wie zweihundert Jahre zuvor in Hameln hätte man also in Meerbeck eine ursprünglich adelige Eigenkirche auf einer Grundherrschaft, die schließlich unter die Herrschaft eines Klosters gelangte. Fischbeck gilt als der älteste urkundlich erwähnte Ort des Schaumburger Landes. König Arnulf von Kärnten schenkte 892 dem Grafen Ekbert Güter unter anderem in Fischbeck.86 Otto I. überließ 955 der Adeligen Helmburg zur Gründung eines Kanonissenstifts 95 Hufen, von denen sechs in der villa Fischbeck lagen.87 Das königliche Gut (predium) war in Fischbeck nur eines unter anderen. Fuldaer Domanialland im Umfang von 29 von Hameln abhängigen Hufen mit 60 tributarii (Zinsern) ist 1015 bis 1050 bezeugt, ferner noch im 13. Jahrhundert eine Hamelner curia mit neun Hufen im Eigenbau und fünf Litenhufen.88 Von einer Niederkirche in Fischbeck ist zwar nie die Rede, aber eine so eindrucksvolle Massierung von herrschaftlichem Grund und Boden dürfte kaum ohne Kirche oder Kapelle existiert haben. So dürfte die Fischbecker Stiftskirche die Nachfolge einer bereits vorhandenen fuldischen oder königlichen Niederkirche angetreten haben. Denn vielfach haben Kollegiat- und Stiftskirchen auch als Pfarrkirchen fungiert.89 Die 1469 dem Stift inkorporierte Pfarrkirche im Dorf Fisch-

84 Ernst Friedrich Johann Dronke, Traditiones et Antiquitates Fuldenses, Fulda 1844, c. 41, 53 S. 98. Heinrich Meyer zu Ermgassen (Hrsg.), Der Codex Eberhardi des Klosters Fulda, Bd. 2, Marburg 1996 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 58), S. 189 Nr. 53. 85 Holscher (wie Anm. 11), S. 78, und Husmeier (wie Anm. 5), S. 190 Nr. 162, 7 beziehen cum ecclesia der Vita Meinwerci (wie Anm. 82) nicht nur auf Meerbeck, sondern auch auf Großenwieden. Dafür wäre aber cum ecclesiis erforderlich. Erst 1146 ist die Kirche in Großenwieden sicher bezeugt, Heinrich Finke (Bearb.), Westfälisches Urkundenbuch, Bd. 5. Die Papsturkunden Westfalens bis zum Jahre 1378, Münster 1888, S. 19–21 Nr. 54: Widun cum ecclesia, Merbeke cum ecclesia. 86 DArn 102. Husmeier (wie Anm. 5), S. 155f. Nr. 139, 1–2. 87 DO.I. 174. Heinrich Lathwesen und Brigitte Poschmann (Bearb.), Urkundenbuch des Stiftes Fischbeck, Teil 1, Rinteln 1978 (Schaumburger Studien 39), S. 7f. Nr. 1. 88 Dronke (wie Anm. 84), c. 43, 66, S. 124. Meyer zu Ermgassen (wie Anm. 84), S. 267 Nr. 66. Otto Meinardus (Hrsg.), Urkundenbuch des Stifts und der Stadt Hameln, Bd. 1, Hannover 1887 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 2), S. 18 Nr. 22, S. 104f. Nr. 169. Nass (wie Anm. 7), S. 211. Heinrich Riesch, Die Wirtschaftsverfassung auf dem Grundbesitz des Stiftes Hameln im Mittelalter, Diss. phil. Freiburg/Br. 1920, S. 25f., 68–71, 77–80. 89 Karl Heinrich Schäfer, Pfarrkirche und Stift im Deutschen Mittelalter. Eine kirchenrechtsgeschichtliche Untersuchung (Kirchenrechtliche Abhandlungen 3), Stuttgart 1903 (ND 1962). Wolfgang Petke, Mittelalterliche Stifts- und Klosterkirchen als Pfarrkirchen, in: Hedwig Röckelein (Hrsg.), Frauenstifte, Frauenklöster und ihre Pfarreien, Essen 2009 (Essener Forschungen zum Frauenstift 7), S. 31–53. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 167–188.

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beck90 dürfte einer hochmittelalterlichen Auslagerung der Pfarrfunktion aus der Stiftskirche ihre Existenz verdanken und somit jünger sein. Wahrscheinlich andere Verhältnisse herrschten beim Kanonissenstift Möllenbeck, das von der Adeligen Hildburg und dem Priester Folchart fundiert und 896 von Arnulf von Kärnten bestätigt worden war.91 Denn als Möllenbeck gestiftet wurde, lag es laut dem Arnulfdiplom innerhalb der Flurgrenze des vier Kilometer östlich gelegenen Exten (infra terminos villae, quae noncupatur Achriste), so daß die in Exten 1280 bezeugte Kilianskirche Möllenbecks Kirchspielkirche gewesen sein könnte.92 Grundherrschaften des Mindener Domkapitels und des Mindener Dompropstes sind in Exten erst spät, im 13. und 14. Jahrhundert, dokumentiert.93 In Möllenbeck war vor der Stiftsimmunität eine Marktsiedlung (villa) entstanden, die den Zeitgenossen im Jahre 1182/83 als eine zugleich mit dem Stift gegründete Siedlung galt (specialiter autem villam ipsam de Mulinpeche, quam bone memorie Hiteburg mulier et F. presbiter, cum ipsum monasterium fundaverunt, … dederunt).94 Das Tauf- und Sepulturrecht der dort entstandenen und nach dem Patrozinium sichtlich jüngeren Marktkirche St. Nikolai95 hat der Mindener Bischof 1281 an die Stiftskirche übertragen.96 Jedoch sollte weiterhin in der Nikolaikirche Gottesdienst gefeiert werden. Das noch 1353 und 1355 erwähnte oppidum Möllenbeck ist im späteren 14. Jahrhundert wüst gefallen.97 In Algesdorf nordwestlich vor Rodenberg reichte der vom 9. bis ins 11. Jahrhundert nachweisbare Grundbesitz der Klöster Corvey (einige Grundstücke) und Fulda (zwei Hufen) zur Bildung einer grundherrlichen Eigenkirche offenbar

90 Lathwesen/Poschmann, UB Fischbeck (wie Anm. 87), S. 215–217 Nr. 196: parrochialis ecclesia dicti loci. Dieter Brosius, Die Grafschaft Schaumburg und die römische Kurie im späten Mittelalter, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 100, 2002, S. 7–20, hier S. 13. 91 DArn 147. Franz Engel und Heinrich Lathwesen (Bearb.), Urkundenbuch des Klosters Möllenbeck bei Rinteln. Teil I: Das Kopiar von 896–1470, Rinteln 1965 (Schaumburger Studien 10), S. 81–83 Nr. 71. 92 Hans-Walter Krumwiede (Hrsg.), Die mittelalterlichen Kirchen- und Altarpatrozinien Niedersachsens. Begonnen von Edgar Hennecke. Ergänzungsband, Göttingen 1988, S. 91. Husmeier (wie Anm. 5), S. 148 Nr. 133, 7. 93 Husmeier (wie Anm. 5), S. 149 Nr. 133, 15. 94 Privileg Lucius’ III. (1182/83), Engel/Lathwesen, UB Möllenbeck (wie Anm. 91), S. 79f. Nr. 70. In den Enumerationes bonorum der Papstprivilegien des 12. Jahrhunderts bezeichnet locus ipse grundsätzlich den Stifts- oder Klosterort. 95 Engel/Lathwesen, UB Möllenbeck (wie Anm. 91), S. 153 Nr. 136: kostede, de ghelegen ys by Sunte Nicolaus Kerchave to Molenbeke (1383). 96 Engel/Lathwesen, UB Möllenbeck (wie Anm. 91), S. 145f. Nr. 123. Hoogeweg, Westfälisches UB 6 (wie Anm. 11), S. 385 Nr. 1210. 97 Engel/Lathwesen, UB Möllenbeck (wie Anm. 91), S. 160f. Nr. 145, S. 162f. Nr. 147. Husmeier (wie Anm. 5), S. 363 Nr. 308, 2.

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nicht aus.98 Stattdessen war Algesdorf nach Grove (nordöstlich vor Rodenberg) eingepfarrt, was aber erst zu 1600 zu belegen ist.99 Ob in Hattendorf die eine fuldische Hufe, die Herzog Bernhard I. oder Bernhard II. zu Lehen trugen,100 mit der erst 1339 bezeugten Pfarrkirche in Verbindung gebracht werden kann,101 steht dahin. Älteste Teile der Bausubstanz der Kirche sollen aus dem Ende des 12. Jahrhunderts datieren.102 Die frühe Nennung von Hattendorf und seine Lage, eingebettet zwischen dem Bückeberg, dem Süntel und dem Wesergebirge auf intramontanem Lößboden, machen aber ein noch höheres Alter seiner Kirche wahrscheinlich. Das kann auch für Hülsede zwischen Süntel und Deister unweit der oberen Rodenberger Aue zutreffen, wo dieselben Billunger zwei Hufen von Fulda zu Lehen hatten;103 die Pfarrkiche in Hülsede wird freilich erst 1300 erwähnt. Damals war ihr Kollationsrecht vom Mindener Bischof als Lehen ausgetan.104 Der jetzt zweijochige Gewölbebau mit eingezogenem Chorjoch stammt aus der Zeit um 1300.105 Ehedem billungisches Gut lag offensichtlich auch in Frille an der Bückeburger Aue knapp vor deren Mündung in die Weser; als Kirchort wird Frille aber erst 1289 genannt.106 Einer adeligen Stiftung wird sehr wahrscheinlich auch die Kirche von Deckbergen am südlichen Fuß des Wesergebirges verdankt. Zwischen 1120 und 1140 gab sie die Adelige Kunigunde nebst einem Vorwerk und allem Zubehör dem Bischof Sigward von Minden.107 An der bis heute erhaltenen romanischen Saalkirche aus dem 12. Jahrhundert amtierte 1230 ein Priester (sacerdos).108 Als Pfarrei ist Deckbergen offenbar aber erst 1347 belegt.109 Hin98 Klemens Honselmann (Hrsg.), Die alten Mönchslisten und die Traditionen von Corvey, Teil 1, Paderborn 1982 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 10. Abhandlungen zur Corveyer Geschichtsschreibung 6), S. 126 § 255. Dronke (wie Anm. 84), c. 41, 115 S. 102. Meyer zu Ermgassen, Codex Eberhardi, Bd. 2 (wie Anm. 84), S. 196 Nr. 115. Nass (wie Anm. 7), S. 301. 99 Husmeier (wie Anm. 5), S. 26 Nr. 4, 8. Schmidt, Schaumburg (wie Anm. 5), S. 51. 100 Dronke (wie Anm. 84), c. 41, 115 S. 102. Meyer zu Ermgassen (wie Anm. 84), S. 196f. Nr. 115. Nass (wie Anm. 7), S. 301. 101 Werner Bentrup, Kirchen in Schaumburg, Stadthagen 1987, S. 58 (ohne Nachweis). Husmeier (wie Anm. 5), S. 214 Nr. 182, 7. 102 Georg Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Bremen, Niedersachsen, bearb. v. Gerd Weiß u. a., München, Berlin 1992, S. 657. 103 Dronke (wie Anm. 84), c. 41, 115 S. 102. Meyer zu Ermgassen (wie Anm. 84), S. 196 Nr. 115. Nass (wie Anm. 7), S. 301. 104 Scriverius, Bd. 2 (wie Anm. 72), S. 32f. Husmeier (wie Anm. 5), S. 267 Nr. 227, 7. 105 Dehio (wie Anm. 102), S. 766. 106 Husmeier (wie Anm. 5), S. 166f. Nr. 146, 2, 7, 8. Hoogeweg, Westfälisches UB 6 (wie Anm. 11), S. 451 Nr. 1423: Theodericum … in parrochia Vriledhe manentem (1289). 107 Würdtwein, Subsidia diplomatica 6 (wie Anm. 16), S. 329f. Nr. 109. 108 Carl Wilhelm Wippermann (Hrsg.), Urkundenbuch des Stifts Obernkirchen in der Grafschaft Schaumburg, Rinteln 1855, S. 16f. Nr. 41, Hoogeweg, Westfälisches UB 6 (wie Anm. 11), S. 61 Nr. 218 (Regest), (zu 1230). Dehio (wie Anm. 102), S. 378f. 109 Stephan Alexander Würdtwein, Subsidia diplomatica ad selecta iuris ecclesiastici Germaniae, Bd. 9, Frankfurt, Leipzig 1776 (ND 1969), S. 427–430 Nr. 90. Ernst Friedrich

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weise auf eine grundherrschaftliche Stellung der Mindener Bischöfe im Ort sind ganz schwach.110 – Auf ererbtem adeligem Eigengut Bischof Sigwards stand die Pfarrkirche im heute nicht mehr schaumburgischen Idensen, die der Bischof zu Lebzeiten Adolfs I. von Schaumburg, also wohl vor 1130, dem Bistum Minden übertragen hatte;111 Idensen ist mit Schwarzrheindorf in Bonn-Beuel einer der bedeutendsten kirchlichen Kleinbauten der Romanik in Deutschland. – Die sechs Hufen, die 1033 dem Mindener Moritzkloster in Hohenrode südöstlich von Rinteln am linken Weserufer von Bischof Siegbert verliehen wurden,112 haben keine Spuren hinterlassen.113 Die Kirche in Hohenrode soll Heinrich von Lerbeck zufolge Bischof Anno von Minden 1172 den Aposteln Petrus und Andreas geweiht haben.114 Ein sacerdos Hermann wird 1289 und 1299 genannt, ohne daß der Pfarreicharakter der Kirche im Mittelalter bezeugt ist.115 Hemeringen nordwestlich von Hameln hatte 1150 eine Peterskirche. In ihrem Besitz wußte sich 1150 ein Priester Eberhard gegen Angriffe des Mindener Domscholasters Godebold mit Hilfe eines päpstlichen Exekutionsmandats an Abt Wibald von Corvey zu behaupten.116 Die Auseinandersetzungen, die 1150 um die Hemeringer Kirche ausgefochten wurden, legen nahe, daß sie über attraktive Einkünfte verfügte und daher wohl schon damals Pfarrkirche war. Wer der Stifter war, ist offen. Der Zehnte des Kirchspiels Hemeringen ging um 1300 beim Mindener Domkapitel zu Lehen.117 Auch ein Kleriker (clericus) in Lachem, in der Nachbarschaft von Hemeringen gelegen, hat um 1150 den erwähnten Eberhard belästigt.118 Lachem ist vermutlich ebenfalls bereits im 12. Jahrhundert Kirchspiel

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Mooyer, Die vormalige Grafschaft Schaumburg in ihrer kirchlichen Eintheilung, Bückeburg 1858 (ND 1978), S. 26. – Die Angaben bei Husmeier (wie Anm. 5), S. 116 Nr. 100, 8, führen nicht zu einem Beleg für die Existenz eines Kirchspiels Deckbergen vor 1347. Vgl. Scriverius, Bd. 2 (wie Anm. 72), S. 7. Erhard, Codex diplomaticus, Bd. 1 (wie Anm. 38), S. 148f. Nr. 189. Die Urkunde ist besiegelt, aber nicht datiert. Abbildung der Urkunde bei Heinrich Lathwesen, Das Amt Bokeloh mit seinen Dörfern Bokeloh, Idensen, Mesmerode, Wunstorf 1981, S. 120. Vgl. Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 6), S. 46f. DKo.II. 192. Vgl. Husmeier (wie Anm. 5), S. 257 Nr. 219, 15. Die Jüngere Bischofschronik c. [26], in: Klemens Löffler (Hrsg.), Mindener Geschichtsquellen. Bd. 1: Die Bischofschroniken des Mittelalters (Hermanns v. Lerbeck Catalogus episcoporum Mindensium und seine Ableitungen, Münster 1917 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Provinz Westfalen [13]), S. 161. Vgl. Husmeier (wie Anm. 5), S. 256 Nr. 219, 7, 8. Philipp Jaffé (Hrsg.), Monumenta Corbeiensia, Berlin 1864 (ND 1964) (Bibliotheca rerum Germanicarum, Bd. 1), S. 396f. Nr. 268 (e˛cclesiam beati P. de Hemeringen), S. 402 Nr. 275, S. 433–436 Nr. 305–307; Martina Hartmann (Hrsg.), Das Briefbuch Abt Wibalds von Stablo und Corvey, Hannover 2012 (MGH Briefe d. dt. Kaiserzeit 9, 2), S. 524–526 Nr. 245, S. 527f. Nr. 246, S. 595–601 Nr. 279–281. Scriverius, Bd. 2 (wie Anm. 72) S. 12. Jaffé (wie Anm. 116), S. 433 Nr. 303; Hartmann (wie Anm. 116), S. 592–594 Nr. 277.

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gewesen.119 Die Herzöge von Braunschweig hatten hier 1265 Besitz und die Grafen von Schaumburg 1260 und 1319; der Zehnte gehörte zur Obödienz Nordhemmern des Mindener Domkapitels.120 Hohnhorst östlich der unteren Rodenberger Aue soll um 1300 Kirchspielort auch für Beckedorf gewesen sein. Damit wäre spätestens um 1300 der Pfarreicharakter von Hohnhorst gegeben. Das 1898 abgerissene zweijochige Schiff seiner Kirche wies romanische Bausubstanz auf. 1471 war das Schiff um einen spätgotischen Chor erweitert worden.121 Pfarrer werden in Hohnhorst zu 1412 und 1440 erstmals genannt.122 Grundherr war im Hochmittelalter eine Adelige mit Namen Gerburga, die 1121–1140 ihren Besitz dem Bistum Minden tradierte.123 Sie oder spätestens der Bischof dürften die Kirchenstifter gewesen sein. Mehr oder minder hypothetisch können noch weitere, erst im 13. und 14. Jahrhundert erstmals erwähnte Kirchen mit älteren Grundherren als Stiftern in Verbindung gebracht werden: Weibeck nördlich Fischbeck mit dem Moritzkloster in Minden, wie schon Ursula Maack 1974 angenommen hat,124 Segelhorst nördlich von Hessisch Oldendorf mit den Schaumburger Grafen125 und Nenndorf mit Fulda oder dem Bischof von Minden.126 Der zuletzt im Jahr 1167 als lebend bezeugte Edelherr Mirabilis dürfte mit dem miles Herbert, dem Inhaber einer Mindener Laienpfründe, identisch sein.127 Zu seinem Besitz zählten bis zu ihrer Schenkung an Minden die Kirchen in Jetenburg – heute im nordöstlichen Stadtgebiet von Bückeburg128 – und in Steinbergen

119 Vgl. Mooyer (wie Anm. 109), S. 44. Holscher (wie Anm. 11), S. 76. 120 Hoogeweg, Westfälisches UB 6 (wie Anm. 11), S. 217 Nr. 733 (1260), S. 247f. Nr. 820 (1265). Robert Krumbholtz/Joseph Prinz (Bearb.), Westfälisches Urkundenbuch, Bd. 10. Die Urkunden des Bistums Minden 1301–1325, 2. Aufl. Münster 1977, S. 233 Nr. 630 (1319). Wilfried Dammeyer, Der Grundbesitz des Mindener Domkapitels, Minden 1957 (Mindener Jahrbuch N. F. 6), S. 232. Rasche (wie Anm. 73), S. 254 Z. 23, S. 258 Z. 14. 121 Heinrich Munk, Hohnhorst. Die Geschichte eines Kirchdorfes im Landkreis Schaumburg, Stadthagen 1993, S. 41, 46–49. Dehio (wie Anm. 102), S. 744. 122 Munk, Hohnhorst (wie Anm. 121) S. 67. 123 Würdtwein, Subsidia diplomatica 6 (wie Anm. 16), S. 324f. Nr. 106 (1121–1140). Husmeier (wie Anm. 5), S. 259–261 Nr. 220, 7, 15. Zu Beckedorf s. ebd. S. 65f. Nr. 45, 7, 15. 124 Ursula Maack, Die Flurnamen des schaumburgischen Wesertals, Rinteln 1974 (Schaumburger Studien 32), S. 32. 125 Wippermann, UB Obernkirchen (wie Anm. 108) S. 16f. Nr. 41, Hoogeweg, Westfälisches UB 6 (wie Anm. 11), S. 61 Nr. 218 (Regest) (zu 1230). Vgl. Husmeier (wie Anm. 5), S. 535–538 Nr. 461, 15. Die ebd. S. 536 Nr. 461, 2, 7, angeführte »Pfarrkirche« ist zum genannten Jahr 1230 aber lediglich als ecclesia belegt, an der ein sacerdos tätig war. 126 Vgl. Husmeier (wie Anm. 5) S. 55–58 Nr. 38, 7, 15. 127 Rasche (wie Anm. 73), S. 144f., 257 Z. 17f.: in anniversario domini Herberti militis; der Befund ist nicht berücksichtigt von Brage Bei der Wieden, Mirabilis, Edelherr, in: Hubert Höing, (Hrsg.), Schaumburger Profile. Teil 1, Bielefeld 2008, S. 207–210, der im übrigen Vita und Besitzstellung des Mirabilis umreißt. 128 Blatt Stadthagen (wie Anm. 8), Stadtplan Stadt Bückeburg.

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nordöstlich Rinteln129 sowie die namentlich allerdings erst 1181 erwähnte Kapelle in Bruchhof,130 die an das Mindener Moritzkloster gelangt ist.131 Die Pfarrkirchen Jetenburg und Steinbergen sind sicherlich jünger als die eingangs behandelten Kirchen, werden aber bereits von den Vorfahren des Mirabilis gestiftet worden sein. Nach dem Nekrolog von St. Moritz in Minden war tatsächlich Mirabilis der Stifter der Kapelle in seinem Ansitz Bruchhof gewesen (suam … mansionem que˛ vulgo Brok dicitur),132 den er zum Ausgangspunkt der Aufsiedlung des auch die Stadthäger Ebene bedeckenden Dül-Waldes gewählt hatte.133 Diese Kapelle oder – um dem eigentümlichen Wortlaut der Urkunde genau zu folgen – der Ansitz Brok (ipsum etiam locum) beziehungsweise die dort lebenden Ministerialen waren durch Bischof Werner von Minden bereits 1158/61 vom Pfarrzwang der Kirche in Sülbeck südwestlich von Bruchhof befreit worden.134 Mit dieser offenbar aber nicht realisierten Auspfarrung von Bruchhof aus Sülbeck135 besitzt man eine im Schaumburger Land sonst nur noch für Wiedensahl überlieferte Beurkundung einer Dismembration. Diverse Rodungsdörfer der Hagenkolonisationen erhielten allerdings gar keine eigene Pfarrkirche, sondern wurden in ein älteres Kirchspiel hineingegründet und blieben in diesem eingepfarrt: Das askanische Auhagen in Bergkirchen,136 Hülshagen wahrschein-

129 Würdtwein, Subsidia diplomatica 6 (wie Anm. 16), S. 340f. Nr. 114: … videlicet in Broke cum omnibus suis appendiciis et pertinentiis cum mancipiis utriusque sexus, ministeriales quoque suos cum prediis et mancipiis … ecclesiam in Geteneburg cum omnibus attinentibus … ecclesiam in Stenburch cum omnibus suis appendiciis et mancipiis, tribus videlicet mansis dotalibus … [zu 1160/1163]. Zur Datierung s. Rasche (wie Anm. 73), S. 144 Anm. 282. 130 S. oben bei Anm. 44. 131 Erhard, Codex diplomaticus, Bd. 2 (wie Anm. 28), S. 73 Nr. 293 [zu 1158/1161]. Zur Datierung s. Rasche (wie Anm. 73), S. 144 Anm. 282. Husmeier (wie Anm. 5), S. 96 Nr. 78, 7. 132 Erhard, Codex diplomaticus, Bd. 2 (wie Anm. 28), S. 73 Nr. 293 [zu 1158/1161]. – Nekrolog von Kloster St. Moritz, Rasche (wie Anm. 73), S. 144 Anm. 281, nach StA Münster, Msc VII 2718, fol. 1v–32r, zum 29.7.: Obiit Mirabilis laicus, fundator ecclesie in Pallude, frater noster. Nachtrag: pro cuius memoria dicentur maiores vigilie pro se et suis, quod monasterium in villis (?) benefecerat. – 1245 hieß der Wohnplatz in palude domini Mirabilis, Hoogeweg, Westfälisches UB 6 (wie Anm. 11), S. 129 Nr. 450, im Jahre 1281 curia dicta Mirabilisbrock, ebd., S. 384f. Nr. 1209, 1212. 133 Engel, Mirabilis (wie Anm. 44), S. 144–151. Zum ehemaligen Dül-Wald s. Ders., Siedlungen in Schaumburg-Lippe (wie Anm. 82), nach S. 114, Abb. 53, 54, Wiederabdruck in: Ders., Beiträge zur Siedlungsgeschichte (wie Anm. 44), nach S. 176, Abb. 65, 66. 134 Erhard, Codex diplomaticus, Bd. 2 (wie Anm. 28), S. 73 Nr. 293 [zu 1158/1161]: Ipsum etiam locum ecclesiastica libertate et immunitate confirmantes, cimiterium in eodem consecrauimus, et ministerialibus ibidem commorantibus, ipsique de curia familie˛, sepulturam, uisitationem, unctionem et alia necessaria exinde preberi auctoritate nostra statuimus, Meinhardo sacerdote de Sulbike, cuius parrochie˛ idem locus antea attinebat, collaudante et omne ius suum exinde nobis resignante. 135 Vgl. oben bei Anm. 47. 136 Blohm (wie Anm. 19), S. 39. Husmeier (wie Anm. 5), S. 50f. Nr. 32, 8.

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lich in Lauenhagen,137 Krebshagen offenbar in Stadthagen,138 Lüdersfeld in Lindhorst,139 Niedernwöhren,140 Nordsehl141 und Pollhagen in Meerbeck,142 Obernwöhren in Heuerßen,143 Sachsenhagen, wie aber erst um 1600 überliefert, in Bergkirchen,144 Vornhagen in die Hagensiedlung Probsthagen,145 Wendthagen in Sülbeck.146 Verschiedentlich wurden die Neusiedlungen aber auch eigene Kirchorte. Bergkirchen, das, ohne Hagenhufendorf zu sein, einer Ausbauphase nach der Mitte des 12. Jahrhunderts angehört, war 1272 ein eigenes Kirchspiel.147 Der romanische Kernbau der weithin sichtbar auf einem Bergrücken gelegenen Kirche stammt bereits aus dem 12. Jahrhundert.148 In der von den Grafen von Roden im frühen 13. Jahrhundert angelegten Siedlung Altenhagen bei Hagenburg sind 1471 – also spät – die Kirche, ihre Fabrikmeister (olderlude) und ihr Nikolaipatrozinium sowie 1479 ihr kerckhere bezeugt.149 Der Kirchenpatronat im Hagenhufendorf Lauenhagen war 1253 ein Lehen des Herzogs Albert von Sachsen-Lauenburg vom Bischof von Minden.150 In dem seit 1244 bezeugten Hagenhufendorf Kathrinhagen unter dem Südhang des Bückeberges amtierten 1339 ein Pfarrherr (rector ecclesie) und 1413 ein plebanus.151 Der Name rührt von 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147

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Blohm (wie Anm. 19), S. 39. Husmeier (wie Anm. 5), S. 270f. Nr. 228, 8 Husmeier (wie Anm. 5), S. 306 Nr. 262, 8. Blohm (wie Anm. 19), S. 31. Husmeier (wie Anm. 5), S. 338f. Nr. 291, 7, 8. Husmeier (wie Anm. 5), S. 373 Nr. 324, 8. Blohm (wie Anm. 19), S. 31, Husmeier (wie Anm. 5), S. 385 Nr. 333, 8. Husmeier (wie Anm. 5), S. 422 Nr. 365, 8. Husmeier (wie Anm. 5), S. 397f. Nr. 341, 8. Brosius, Kirchengeschichte (wie Anm. 8), S. 47. Vgl. Husmeier (wie Anm. 5), S. 495 Nr. 425, 8. Blohm (wie Anm. 19), S. 35. Husmeier (wie Anm. 5), S. 596f. Nr. 511, 7, 8. Blohm (wie Anm. 19), S. 35. Husmeier (wie Anm. 5), S. 613 Nr. 522, 8. Wilhelm von Hodenberg (Hrsg.), Calenberger Urkundenbuch 3, Archiv des Stifts Loccum, Hannover 1858, S. 11 Nr. 8, S. 12 Nr. 9 (1183). Ders., Hoyer Urkundenbuch 6, Archiv des Klosters Nendorf, Hannover 1848, S. 15f. Nr. 21 (1272). Husmeier (wie Anm. 5), S. 77 Nr. 54, 2, 7. Dehio (wie Anm. 102), S. 213. Ludwig Tielking, Urkunden der Kirche zu Altenhagen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 14, 1909, S. 222 Nr. 1, S. 224 Nr. 2. – Mooyer (wie Anm. 109), S. 20, und Heinrich Munk, 600 Jahre Hagenburg, 1378–1978, Hagenburg 1978, S. 175, nennen bereits zu 1461 einen Dietrich Sartorius als kerkher und zu 1470 einen Pfarrer Johann Alberti ( jeweils ohne Nachweise). – Die Siedlung wird 1247 als mindensches Lehen der Grafen von Roden erstmals erwähnt, s. Würdtwein, Subsidia diplomatica 6 (wie Anm. 16), S. 423 Nr. 167, Wippermann, Regesta Schaumburgensia (wie Anm. 45), S. 73 Nr. 138. Würdtwein, Subsidia diplomatica (wie Anm. 16), S. 430f. Nr. 173 (1253). Blohm (wie Anm. 19), S. 63, 65. Husmeier (wie Anm. 5), S. 325 Nr. 279, 2, 7, 8. Hoogeweg, Westfälisches UB 6 (wie Anm. 11), S. 119 Nr. 419 (1244). Mooyer (wie Anm. 109), S. 65f. Nr. 8 (1339). Wippermann, UB Obernkirchen (wie Anm. 108), S. 226f. Nr. 387 (1413). – Wieso nach Scriverius, Bd. 2 (wie Anm. 72), S. 7f., und Husmeier (wie

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der Katharinen-Kapelle im Mindener Dom her, die von Graf Adolf III. von Schaumburg († 1225) mit dem Novalzehnten der Rodungssiedlung dotiert worden war.152 Probsthagen an der Bornau nordöstlich von Stadthagen ist seit 1312 als Pfarrort belegt.153 Die gotische Kirche birgt ein Kreuzigungsrelief, das in das 13. Jahrhundert datiert wird.154 Eine Kirche in Stadthagen (Indago comitis) mit einem sacerdos begegnet aber bereits 1230 bei der Ersterwähnung der von Graf Adolf III. oder Graf Adolf IV. vom Schaumburg gegründeten Siedlung.155 Der von 1248 bis 1286 genannte plebanus Jordanus dürfte Pfarrer und die Kirche daher bald nach ihrer Errichtung Pfarrkirche gewesen sein.156 Die dem hl. Martin geweihte Kirche stand anfänglich, bis zum Jahre 1329, unter gräflichem Patronat.157 Nach der Kanonistik des 13. Jahrhunderts führten drei Tatbestände zur Entstehung eines Kirchenpatronats: die Dotierung, die Erbauung und die Bereitstellung eines Grundstücks für die Kirche: Patronum faciunt dos, edificatio, fundus.158 Jeder dieser drei Tatbestände ließ selbständig einen Patronat entstehen und gegebenenfalls einen Kompatronat.159 Wenn also die Grafen bis 1329 als Kirchenpatrone in Stadthagen auftraten, ist zu schließen, daß sie dort nicht nur Siedlungsgründer, sondern auch Kirchenstifter waren. Als solche fungierten die Schaumburger vor 1238 auch in ihrer Gründungsstadt Rinteln, auf der linken

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Anm. 5) S. 116 Nr. 100, 8, S. 278 Nr. 235, 8, Kathrinhagen im 13. Jahrhundert nach Deckbergen eingepfarrt gewesen wäre, ist nicht nachvollziehbar. Wenn in dem für Minden überlieferten sogenannten Archidiakonatsverzeichnis aus dem 17. Jahrhundert im Archidiakonat Kirchohsen auf Deckbergen unmittelbar Kathrinhagen folgt, s. Holscher (wie Anm. 11), S. 51f., 53, 69f., besagt das über eine einstige Kirchspielzugehörigkeit Kathrinhagens nichts. Zur Katharinenkapelle s. Rasche (wie Anm. 73), S. 64f. mit Anm. 8, S. 135 Anm. 250. Blohm (wie Anm. 19) S. 34, 92. Krumbholtz/Prinz, Westfälisches UB 10 (wie Anm. 120), S. 135 Nr. 371 (1312). Holscher (wie Anm. 11), S. 162 (zu 1339). Husmeier (wie Anm. 5), S. 425 Nr. 368, 8. Dehio (wie Anm. 102), S. 1100. Wippermann, UB Obernkirchen (wie Anm. 108), S. 16f. Nr. 41 (1230). Holscher (wie Anm. 11), S. 155. Wippermann, UB Obernkirchen (wie Anm. 108), S. 91–92 Nr. 179 (1329), 180 (Inkorporation von St. Martin in das Stift Obernkirchen durch Bischof Ludwig von Minden, 1329). Das Martinspatrozinium ist seit 1324 belegt, ebd. S. 81f. Nr. 164, vgl. Husmeier (wie Anm. 5) S. 551 Nr. 471, 7. Seine Wahl für eine im 13. Jahrhundert fundierte Kirche zeigt schlagend, daß nicht jedes Martinspatrozinium in Sachsen unbesehen als Beleg für eine karolingerzeitliche Gründung der betreffenden Kirche gewertet werden darf. Vgl. die Gründung der Martinskirche in Sebexen in der Erzdiözese Mainz im Jahr 1145 bei Petke, Kirche ins Dorf (wie Anm. 6), S. 59f. Johannes Teutonicus († 1245), Glossa ordinaria ad C. 16, q. 7, c. 26 ad v. »Piae mentis«, Zitat nach Peter Landau, Ius patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts, Köln, Wien 1975 (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte 12), S. 18. Landau, Ius Patronatus (wie Anm. 158), S. 16ff., 21ff. Landau, Patronat (wie Anm. 68), S. 106f.

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Weserseite gegenüber dem älteren Kirchort Altrinteln rechts des Flusses angelegt,160 sowie wohl spätestens um 1300 mutmaßlich auch in ihrer Gründungsstadt Oldendorf, die aber erst 1387 als Pfarrort bezeugt ist.161 So deutlich wie in Stadthagen liegen die Gründungsumstände einer Pfarrei im Schaumburgischen nur selten zutage. Mit einer Ausnahme: Durch eine Urkunde Bischof Volkwins von Minden vorzüglich dokumentiert ist die Abpfarrung der Kapelle in Wiedensahl von der rund zehn Kilometer westlich auf dem rechten Weserufer gelegenen Pfarrkirche in Windheim 1277.162 Eine Kapelle in der noch heute eindrucksvollen Hagenhufensiedlung Wiedensahl mit ihrer doppelseitig entlang der Straße angeordneten Gehöften hatte Bischof Otto von Minden (1265/ 67–1275) geweiht. Sie genügte 1277 nicht mehr für den Empfang der Sakramente. Die zu große Entfernung zum Kirchort, die als kanonisch notwendigerweise anzuführener Rechtsgrund oft nur topisch genannt wurde, war hier tatsächlich einmal gegeben. Die Kapelle in Wiedensahl wurde nun zur Pfarrkirche erhoben. Zudem wurden die Bewohner von Rosenhagen, †Wagenrode und von der Loccumer Grangie Büchenberg (Bockeneberge) in sie eingepfarrt. Zukünftige Neusiedlungen oder Hagen (alie ville vel indagines) im Kirchspiel Windheim sollten aber in diesem verbleiben – es sollte also gelten, was soeben für die nicht zu Kirchorten avancierten Hagenhufendörfer konstatiert wurde. Als Entschädigung empfing die Windheimer Kirche von den Wiedensahlern jährlich ein Pfund Wachs für das Lichtergut und Hilfe bei der Reparatur des Friedhofs und des Kirchendachs; zudem hatten sich die Wiedensahler zum Send in Windheim 160 Horst-Rüdiger Jarck (Bearb.), Urkundenbuch des Klosters Rinteln, Rinteln 1982 (Schaumburger Studien 43), S. 14–16 Nr. 4 (1238), S. 21f. Nr. 13 (1257). Ders., Rinteln, in: Ulrich Faust, Die Frauenklöster in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen, St. Ottilien 1984 (Germania Benedictina 11. Norddeutschland), S. 512–519, hier S. 512f. Gerd Steinwascher, Die frühe Geschichte des Klosters Rinteln und ihre Bedeutung für den Aufbau der Grafschaft Schaumburg, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 58, 1986, S. 143–176, hier S. 163, 172. Hinsichtlich der zisterziensischen Observanz des Klosters Altrinteln beziehungsweise Rintelns ist zu beachten, daß Zisterzienser (Zisterzienserinnen) noch im frühen 13. Jahrhundert als (reformierte) Benedikiner(innen) galten, allerdings gemäß zisterziensischer Ordnung. Vgl. das große Zisterzienserordensprivileg der Päpste … statuentes, ut ordo monasticus, qui secundum deum et beati Benedicti regulam atque institutionem Cisterciensium fratrum … perpetuis temporibus inviolabiliter observetur, Michael Tangl (Hrsg.), Die päpstlichen Kanzleiordnungen von 1200–1500, Innsbruck 1894, S. 229 Nr. 1, § 3, und konkret zum Beispiel Innozenz III. 1205 für Walkenried, Josef Dolle (Bearb.), Urkundenbuch des Klosters Walkenried, Bd. 1. Von den Anfängen bis 1300, Hannover 2002 (Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Landesgeschichte 38. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 210), S. 103–107 Nr. 57. – Husmeier (wie Anm. 5), S. 453–458 Nr. 395, 1, 2, 7–9. 161 Lathwesen/Poschmann, UB Fischbeck (wie Anm. 87), S. 149 Nr. 141. Vgl. Husmeier (wie Anm. 5) S. 233–235 Nr. 204, 1–2, 7–8. 162 Hoogeweg, Westfälisches UB 6 (wie Anm. 11), S. 350 Nr. 1110. Blohm (wie Anm. 19), S. 35f., 68f. Husmeier (wie Anm. 5), S. 629f. Nr. 534, 7, 8.

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einzufinden. Entschädigt wurden zudem der Pfarrer und der Küster (campanarius) in Windheim für die ihnen nun entgehenden Einkünften von den jetzt abgepfarrten Wiedensahlern Pfarrkindern. Dotiert hatte die neue Pfarrkirche in Wiedensahl das Kloster Loccum. Dieses erhielt darum auch den Patronat, den es bemerkenswerterweise bis heute innehat. Noch 1305 führte Loccum in Wiedensahl, im Dül-Wald und im Wald Nordwich bei Lüdersen Rodungen durch.163 Mit diesem für das Schaumburger Land einmaligen Text soll es sein Bewenden haben. Es könnte deutlich geworden sein, daß die Schaumburger Pfarreien grundherrlichen Ursprungs sind, wobei bis zum 12. Jahrhundert die Bischöfe von Minden, die alten Klöster Corvey und Fulda sowie die Billunger oder auch der Edelherr Mirabilis erkennbar eine Rolle als Fundatoren spielten, obwohl erst spät, im Jahre 1031, mit dem immedingischen Meerbeck die erste Pfarrkirche im Schaumburgischen erwähnt wird. Im 13. und 14. Jahrhundert wurden die gewachsenen Pfarrverhältnisse überraschend oft respektiert; denn viele Hagenhufensiedlungen erhielten keine eigene Pfarrkirche. Gelegentlich gingen aber Siedlungs- und Pfarreigründung wie in Stadthagen auch Hand in Hand. Auch die Schaumburger Pfarreien erweisen sich genauso wie der zuletzt erwähnte, nunmehr über 700 Jahre alte Patronat des Klosters Loccum in Wiedensahl als Institutionen von langer Dauer, die aus dem Mittelalter stammen und noch heute lebendig sind.

163 Krumbholtz/Prinz, Westfälisches UB 10 (wie Anm. 120), S. 41 Nr. 130. Ebd., S. 44 Nr. 137.

Mittelalterliche Stifts- und Klosterkirchen als Pfarrkirchen*

Das Kollegiatstift St. Bartholomäus in Frankfurt am Main, gemeinhin »Dom« genannt, war seit der Goldenen Bulle Wahlstätte und seit Maximilian II. 1562 Krönungskirche der römisch-deutschen Könige und Kaiser. Darüber hinaus war St. Bartholomäus jahrhundertelang – bis zum Jahre 1452 – die einzige Pfarrkirche der Stadt. Als Pfarraltar (altare parrochie) diente der Kreuzaltar.1 An diesem Kreuzaltar vor dem Lettner fanden auch die Kaiserkrönungen statt; beide sind 1711 abgebaut worden.2 Das Recht zur Verleihung des Pfarraltars lag beim Stiftspropst, der als Inhaber des Mainzer Archidiakonats Frankfurt zugleich die Spiritualienleihe vornahm.3 Der von ihm eingesetzte Pfarrherr (plebanus) war zumeist ein Stiftskanoniker; er blieb hinsichtlich seiner Amtswaltung dem Dekan und dem Kapitel zu Gehorsam verpflichtet. Diesem Pleban waren im 13. Jahrhundert die Messen an Gründonnerstag, zu Ostern sowie zur Kirchweihe vorbehalten; sie wurden am Pfarraltar gesungen. Um auch dem Dekan einen Anteil an den Opfergaben zu gewährleisten, feierte dieser die Messen an Karfreitag und Ostersonnabend, und zwar am Hochaltar.4 Zu Anfang des 14. Jahrhunderts versuchte der Frankfurter Pleban und Kanoniker Siegfried von Hildesheim seine pfarrherrlichen Kompetenzen auf Kos* Erstveröffentlichung in: Frauenstifte, Frauenklöster und ihre Pfarreien, hrsg. v. Hedwig Röckelein (Essener Forschungen zum Frauenstift 7), Essen 2009, S. 31–53. 1 Herbert Natale, Das Verhältnis des Klerus zur Stadtgemeinde im spätmittelalterlichen Frankfurt, Diss. phil., Frankfurt am Main 1957, S. 52 (Kapitelsstatut von 1444). 2 Der Kaiserdom zu Frankfurt a.M. Beiträge zur Geschichte des Bartholomäus-Stiftes und seiner Kirche. Aus dem handschriftlichen Nachlasse des Canonicus Johann Georg Batton. Mit Anmerkungen hrsg. von Ernst Kelchner, Frankfurt a.M. 1869, S. 21, 26f. 3 UB Frankfurt 1 S. 234 Nr. 488 (1284). Wolf Erich Kellner, Das Reichsstift St. Bartholomäus zu Frankfurt am Main im Spätmittelalter (Studien zur Frankfurter Geschichte, Bd. 1), Frankfurt am Main 1962, S. 83. Günter Rauch, Pröpste, Propstei und Stift von Sankt Bartholomäus in Frankfurt. 9. Jahrhundert bis 1802 (Studien zur Frankfurter Geschichte, Bd. 8), Frankfurt 1975, S. 288–290 und Anm. 1769 (mit unzutreffender Erklärung vorgenannter Urkunde). UB Frankfurt 2 S. 46 Nr. 40 (1) (1315). 4 UB Frankfurt 1 S. 134f. Nr. 275 (1267). Ebenda S. 142–144 Nr. 290 (1269). Vgl. Kellner, St. Bartholomäus (wie Anm. 3), S. 84f.

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ten des Kapitels zu erweitern.5 Die Auseinandersetzung eskalierte derart, daß die Stiftskanoniker und Vikare zu Ostern 1313 die Gottesdienste des Pfarrers und seiner Helfer durch Glockengeläut und Orgellärm gestört haben (campanarum sono et organorum strepitu) – angeblich zumindest!6 Denn gegen diese Beschuldigung verwahrte sich das Kapitel entschieden und erklärte, in Wahrheit habe der Pfarrer an diesem Festtag den Chordienst behindert: Mutwillig habe er die Neuerung eingeführt, zu Ostern Gottesdienst am Choraltar statt am Pfarraltar zu feiern.7 Tatsächlich hatte sich der Pleban nichts Geringeres in den Kopf gesetzt, als die gesamte Bartholomäuskirche für den Pfarrgottesdienst zu okkupieren. So bot er den Beweis an, besagte Kirche sei Pfarrkirche und von den Kirchenpflegern im Namen der Bürger und Pfarrkinder von Frankfurt errichtet worden (quod dicta parrochialis ecclesia facta est et constructa per dictos magistros fabrice nomine civium et parrochianorum Frankinfordensium).8 Den Chor ausgenommen, sei die Kirche speziell und vorzugsweise für den Gebrauch des Plebans und seiner Pfarrkinder aus der Frankfurter Pfarrei bestimmt. Dementsprechend gelte sie auch nicht als Stiftskirche, wo sich Kanoniker versammelten, sondern tatsächlich als Pfarrkirche und werde als solche auch bezeichnet (Item, quod dicta ecclesia non conventus, ubi canonici colliguntur, sed parrochia reputetur ut est, et communiter sic vocatur).9 Für diese Behauptung konnte er auch einen Zeugen aufbieten: Der Laie Gilbert Beier bestätigte die Einlassungen des Pfarrherrn: Im allgemeinen werde von den Leuten oder Pfarrkindern, wenn sie zur Kirche gingen, auf Deutsch gesagt, wir wullen geen zu˚ der pharren.10 Der Zeuge Ekkehard, Vikar an St. Bartholomäus, wagte sich nicht so weit vor wie Gilbert, sondern meinte, quod est conventualis et parrochialis ecclesia et vocatur ecclesia collegiata et parrochialis.11 Auch sei die Kirche, wie er von den Alten erfahren habe, zunächst eine Stiftskirche gewesen, bevor die Stadt Frankfurt erbaut worden sei (Et dicit, quod fuerit ecclesia conventualis, ante quam opidum Franckinfordense esset constructum, ut habet ex relacione seniorum) – ein schöner Beleg dafür, welche Vorstellung ein damaliger Frankfurter von der Frühgeschichte seiner Stadt hatte!12 Was den Kirchenbau anbelangt, so schränkte der erste Zeuge gegenüber der Einlassung des Plebans ein: Für ihn, Gilbert, stehe fest, daß ein bestimmter Teil der Kirche, nämlich acht 5 UB Frankfurt 2 S. 55 Nr. 50 (1316): magister Sifridus de Hildensheym, plebanus ibidem et canonicus (sc. ecclesie Franckinfordensis). 6 UB Frankfurt 2 S. 29 Nr. 35 (1315). Vgl. Kellner, St. Bartholomäus (wie Anm. 3), S. 85–90. 7 UB Frankfurt 2 S. 25 Nr. 34 (5) (1315). Vgl. Kellner, St. Bartholomäus (wie Anm. 3), S. 87. 8 UB Frankfurt 2 S. 27 Nr. 35 (18) (1315). 9 UB Frankfurt 2 S. 27 Nr. 35 (19–20) (1315). 10 UB Frankfurt 2 S. 34 Nr. 36 (VI, 21) (1315). 11 UB Frankfurt 2 S. 35 Nr. 36 (VII, 20–21) (1315). 12 Ebenda S. 35 Nr. 36 (VII, 19) (1315).

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Gewölbe (testudines), durch die Kirchpfleger sowie von den Almosen der Bürger der Stadt Frankfurt erbaut worden sei.13 Der Pleban drang mit seiner Behauptung, St. Bartholomäus sei immer nur Pfarrkirche gewesen, nicht durch. Ein Schiedsspruch bestätigte im Jahr 1315 sowohl seine Rechte als auch die althergebrachten Rechte von Dekan und Kapitel, und zwar an Hochaltar, Pfarraltar, Seitenaltären (altaria collateralia), an den Oblationen zu genannten Festtagen, an den an die Altaristen gegebenen Opfergaben, an den Vasa sacra, an den liturgischen Gewändern.14 Ganz im Sinne der über 100 Jahre alten Lehre von Karl Heinrich Schäfer lag im Fall von St. Bartholomäus die Pfarrseelsorge in der Hand eines Säkularkanonikerstifts.15 Darüber hinaus gelang es dem Stift bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts, seine Position als alleiniger Inhaber der Pfarrechte in Frankfurt zu behaupten, und zwar sowohl gegenüber dem seit 1317/1321 bestehenden Leonhardstift als auch gegenüber dem 1325 gegründeten Liebfrauenstift.16 Seit 1401 begann jedoch der Rat auf die Errichtung von weiteren Pfarreien in der Stadt zu dringen.17 Während er die Steuerfreiheit des Weltklerus 1407 zu beseitigen verstand18, sollte er das Ziel der Errichtung neuer Pfarreien erst ein halbes Jahrhundert später erreichen. Zu Pfarrkirchen wollte er die Peterskapelle in der Frankfurter Neustadt und die Dreikönigskapelle in Sachsenhausen erhoben wissen und gab dafür 1433/1434 in einer Supplik an den Papst auch Gründe an: Der Umfang der Frankfurter Pfarrei und die Zahl ihrer Seelen sei groß und die Tore der Vorstädte würden besonders bei Kriegsläuften verschlossen; so könnten die Geistlichen des nachts oft nicht dorthin gelangen, um Sterbenden die Sakramente zu reichen sowie um Kinder zu taufen.19 Neu war in einer weiteren Supplik die Klage, daß Frankfurt sehr volkreich sei und die eine Pfarrkirche für 12000 Kommunikanten nicht ausreiche. An den Hochfesten und Ablaßtagen 13 Ebenda S. 34 Nr. 36 (VI, 19) (1315): […] quod sibi constet, quod pars ipsius ecclesie, videlicet octo testudines, facte sint per predictos magistros fabrice ecclesie nomine civium et parrochie dicti opidi et de elemosinis ipsorum. 14 UB Frankfurt 2 S. 47f. Nr. 40 (1315 Nov. 29). 15 Karl Heinrich Schäfer, Pfarrkirche und Stift im Deutschen Mittelalter. Eine kirchenrechtsgeschichtliche Untersuchung (Kirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 3), Stuttgart 1903 (ND 1962). Ders., Die Kanonissenstifter im Deutschen Mittelalter. Ihre Entwicklung und innere Einrichtung im Zusammenhang mit dem altchristlichen Sanktimonialentum (Kirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 43–44), Stuttgart 1907 (ND 1965). 16 Natale, Klerus (wie Anm. 1), S. 50f. 17 Natale, Klerus (wie Anm. 1), S. 53. Kellner, St. Bartholomäus (wie Anm. 3), S. 95. 18 Konrad Bund, Frankfurt am Main im Spätmittelalter, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen (Veröff. d. Frankfurter Hist. Kommission, Bd. 17), Sigmaringen 1994, S. 103. 19 Natale, Klerus (wie Anm. 1), S. 54f. Zur Lage der Peterskirche vor der Friedberger Pforte der Neustadt und der Dreikönigskirche in Sachsenhausen s. Frankfurt am Main, Die Geschichte der Stadt, 1994, S. 208 (Merianstich von 1628).

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stauten sich die Leute bis in den Kreuzgang, und es gebe eine unwürdige Drängelei. Auch bei der Beichte kämen der Pfarrer und seine drei Gehilfen bei 12000 Pfarrangehörigen nicht zurecht20 – ein trotz der zu unterstellenden Übertreibung willkommener Beleg, welche Bevölkerungszahl für Frankfurt damals in etwa anzusetzen ist.21 Diese Vorstellungen der Frankfurter übermittelte Papst Nikolaus V. seinem Legaten Nikolaus von Kues, stellte aber anheim, die genannten Kapellen nicht abzupfarren, sondern zu Filialkirchen von St. Bartholomäus mit Tauf- und Sepulturrecht zu erheben.22 Einwände des Stifts, darunter die Einlassung, daß die Pfarrkirche (!) für die Aufnahme aller Pfarrangehörigen tatsächlich zu klein sei, sich aber niemals alle Pfarrkinder an einem Festtag in ihr versammelten, fruchteten wenig. Nikolaus von Kues erhob 1452 die Dreikönigskapelle in Sachsenhausen und die Peterskapelle in der Neustadt zu Filialkirchen mit dem Recht, alle Sakramente zu spenden mit Ausnahme der Taufe. Diese sollten die Täuflinge weiterhin in der Mutterkirche St. Bartholomäus empfangen, dort freilich jetzt aus der Hand ihres jeweiligen Kuratpriesters.23 Als der Pfarrer von St. Bartholomäus am dritten Adventsonntag des Jahres 1452 dem Volk die Errichtung der beiden neuen Filialpfarreien verkündete – das tat er erst, nachdem der Rat zum fünften Mal darauf gedrungen hatte –, erwähnte er dessen Initiative mit keiner Silbe: Die Errichtung der beiden neuen Pfarreien sei auf Befehl des Herrn Papstes geschehen, ließ er verlauten.24 – Das Stift dürfte schließlich auch deshalb endlich eingelenkt und auf sein Monopol verzichtet haben, weil die Größe der Bevölkerung eine Neuordnung der Frankfurter Pfarrverhältnisse unabweisbar machte. Vor allem aber hatte der Rat zugesagt, die beiden neuen Pfarrer aus der Stadtkasse zu besolden.25 Nicht nur in Frankfurt, sondern bis 1260 auch in Aachen26, in Wetzlar27, in Limburg bis zum Jahre 180328 und anderwärts waren die dortigen Stiftskirchen 20 Natale, Klerus (wie Anm. 1), S. 60. 21 Demgegenüber nimmt Bund, Frankfurt im Spätmittelalter (wie Anm. 18), S. 53, für das Jahr 1440 weniger als 9000 Einwohner an. 22 Stephan Alexander Würdtwein, Diocesis Moguntina in Archidiaconatus distincta. Tomus II, qui continet diplomata CCLXXVI sive commmentationes V, VI et VII, Mannheim 1772, Commentatio septima de archidiaconatu ecclesiae collegiatae ad S. Bartholomaeum Francofurti, S. 507–513 Nr. 168. Repertorium Germanicum. 6. Nikolaus V., bearb. von Josef Friedrich Abert (†) und Walter Deeters, Rom u. a. Nr. 1230 (zu 1451). 23 Natale, Klerus (wie Anm. 1), S. 68f. Würdtwein, Diocesis Moguntina in Archidiaconatus distincta (wie Anm. 22), S. 514–518 Nr. 169. 24 Natale, Klerus (wie Anm. 1), S. 71. 25 Natale, Klerus (wie Anm. 1), S. 72. Würdtwein, Diocesis Moguntina in Archidiaconatus distincta (wie Anm. 22), S. 518–520 Nr. 170. 26 Regesten der Reichsstadt Aachen, Bd. 1, bearb. von Wilhelm Mummenhoff, Bonn 1961, S. 73ff. Nr. 152, 153 (1260). Hermann Klauser, Der Erzpriester von Aachen (Archipresbyter Plebanus Aquensis). Eine kirchenrechtsgeschichtliche Studie, in: Zs. d. Aachener Geschichtsvereins 74/75, 1962/63, S. 163–298, hier S. 180–182.

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für Jahrhunderte die alleinigen Inhaber der Pfarrechte in ihren Städten. Diese Erscheinung hatte Karl Heinrich Schäfer, dem ja die Lehre von den auch pfarrkirchlichen Funktionen von Stiftskirchen zu verdanken ist, merkwürdigerweise nicht erwähnt, obwohl er sie von seiner Geburtsstadt Wetter bei Marburg her gekannt haben muß; denn das nicht unbedeutende Kanonissenstift Wetter war ebenfalls alleiniger Pfarrherr der Stadt gewesen.29 Von Matthias Theodor Kloft abgesehen30, sind solche langwährenden stiftischen Pfarrmonopole von der überörtlichen Forschung noch nicht herausgestellt worden. ***

27 Urkundenbuch der Stadt Wetzlar, bearb. von Meinhard Sponheimer, Bd. 2: 1214–1350 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Bd. 8, 2), Marburg 1943, S. 2 Nr. 4 (Inkorporation der Pfarrei, 1221), S. 73f. Nr. 125 (Vergleich über die an den Pfarraltar geopferten Gaben, 1279), S. 179f. Nr. 374 (Dekan und Kapitel über eine ecclesie nostre, parrochie et fabricae gemachte Stiftung, 1329), S. 186f. Nr. 394, S. 188–190 Nr. 397 (Streitschlichtung zwischen Kapitel und Pfarrer der Wetzlarer Pfarrei [parrochia Wetslariensis], 1332). Vgl. Wolf-Heino Struck, Über die Baufabrik der Pfarr- und Stiftskirche zu Wetzlar im Mittelalter. Zwei Gültregister des Chorgeleuchts aus dem 14. Jahrhundert, in: Nassauische Annalen 86, 1975, S. 40–72, hier S. 41. 28 Matthias Theodor Kloft, Marderpelz und Sackkutte – zwischen officium divinum und persönlicher Seelsorge. Geistliches Leben im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Limburg zwischen dem Stift St. Georg, der Pfarrei St. Nikolaus und anderen geistlichen Institutionen, in: Geistliche Zentralorte zwischen Liturgie, Architektur, Gottes- und Herrscherlob: Limburg und Speyer, hrsg. von Caspar Ehlers und Helmut Flachenecker (Deutsche Königspfalzen, Bd. 6), Göttingen 2005, S. 207–277, hier S. 220f. 29 August Heldmann, Zur älteren Geschichte des Stiftes, der Kirche und Stadt Wetter und der Burg Mellnau, in: Zs. d. Vereins f. Hessische Geschichte 34, NF 24, 1899, S. 69–148, hier S. 86– 92, 113. Karl Heinrich Schäfer, Zur älteren Geschichte von Stadt und Stift Wetter, Marburg 1921, S. 18–20. – Schäfer, geboren 1871, nach einem Studium der evangelischen Theologie 1902 zum Katholizismus konvertiert, lange am Campo Santo tätig, von 1920 bis 1934 Archivar am Reichsarchiv Potsdam, dort aus politischen Gründen entlassen, ist nach Verbüßung einer wegen planmäßig organisierter Zersetzungsarbeit verhängten zweijährigen Zuchthausstrafe – er und seine Frau waren von einer Hausangestellten wegen des Hörens von Feindsendern denunziert worden – am 29. Januar 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen ums Leben gekommen, s. Bernhard Stasiewski, Karl-Heinrich Schäfer, in: HistJb 62/69, 1949, S. 985–987. Felix Escher, Bekenner in der Diktatur, in: Bekenntnis zu Potsdam: Pater Raymundus Bruns (1706–1780), Peter Joseph Lenné (1789–1866), Karl Heinrich Schäfer (1871–1945). Katholische Persönlichkeiten im protestantischen Preußen, hrsg. von Gert Adler, Potsdam 1997, S. 61–79. Enno Bünz, Frauenstifte – Frauenklöster und ihre Pfarreien: Strategien zu ihrer Erforschung aus historischer Sicht. Zugleich eine Erinnerung an Karl Heinrich Schäfer (1871– 1945), in: Frauenstifte, Frauenklöster und ihre Pfarreien, hrsg. v. Hedwig Röckelein (Essener Forschungen zum Frauenstift 7), Essen 2009, S. 19–29, hier S. 20–23. 30 Kloft, Marderpelz und Sackkutte (wie Anm. 28), S. 221.

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Daß die alten Säkularkanonikerstiftskirchen – bei Ausnahmen wie zum Beispiel St. Cassius in Bonn31 – in der Regel Pfarrfunktionen wahrgenommen haben, ist zwar seit Schäfer Allgemeingut der Forschung, hat aber auf kunstgeschichtlicher Seite noch im Jahre 2000 verwundert.32 Ähnliches gilt für die Pfarrverhältnisse an Klosterstandorten, die bereits im Jahre 1960 die Aufmerksamkeit von Friedrich Wilhelm Oediger erregt hatten.33 Obwohl sich 1997 die Göttinger Dissertation »Vita communis und Pfarrseelsorge« von Heike Johanna Mierau sowie 2002 ein Beitrag von Katrinette Bodarwé der Klosterpfarrei am Ort beziehungsweise der Auslagerung pfarrkirchlicher Funktionen in eine jeweils besondere Kirche neben der Stifts- oder Klosterkirche gewidmet haben34, ist man sich der Tatsache so bewußt nicht, daß nicht nur in den Stiftskirchen der Kanonissenstifte35, sondern auch in den Klosterkirchen von Mönchen und Nonnen durchaus Pfarraltäre stehen und Pfarrgottesdienste gefeiert werden konnten. Anders ist nicht zu erklären, daß im Westfälischen Klosterbuch von 1992/2003, das in wünschenswerter Klarheit und vielfach erfolgreich auch die »Stellung des Klosters im Pfarrverband« zu prüfen gefordert hat36, in zusammenfassenden Darstellungen des Werks nicht ganz glücklich von der »gegebenenfalls angeschlossenen Pfarr-

31 Dietrich Höroldt, Das Stift St. Cassius zu Bonn von den Anfängen der Kirche bis zum Jahre 1580 (Bonner Geschichtsblätter, Bd. 11), Bonn 1957, S. 36–44. 32 Clemens Kosch, Zum Projekt einer zeichnerischen Veranschaulichung der sakralen »Binnentopographie« des Hochmittelalters in ehemaligen Konventskirchen Kölns. Methodische Überlegungen am Beispiel von St. Andreas, in: Kölnische Liturgie und ihre Geschichte. Studien zur interdisziplinären Erforschung des Gottesdienstes im Erzbistum Köln, hrsg. von Albert Gerhards und Andreas Odenthal (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, Bd. 87), Münster 2000, S. 127–142, hier S. 129 Anm. 8: »In zwei Stiftskirchen der Stadt – St. Aposteln und St. Kunibert – hatte sogar [!] die zugeordnete Pfarrgemeinde Hausrecht«. 33 Friedrich Wilhelm Oediger, Mönche und Pfarrseelsorge im Erzbistum Köln, in: Zur Geschichte und Kunst im Erzbistum Köln. Festschrift für Wilhelm Neuss. Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 5), Düsseldorf 1960, S. 40–47, Wiederabdruck: Ders., Vom Leben am Niederrhein, Düsseldorf 1973, S. 107–114. 34 Heike Johanna Mierau, Vita communis und Pfarseelsorge. Studien zu den Diözesen Salzburg und Passau im Hoch- und Spätmittelalter (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, Bd. 21), Köln u. a. 1997, S. 309ff. Katrinette Bodarwé, »Kirchenfamilien« – Kapellen und Kirchen in frühmittelalterlichen Frauengemeinschaften, in: Herrschaft, Liturgie und Raum. Studien zur mittelalterlichen Geschichte des Frauenstifts Essen, hrsg. von Katrinette Bodarwé und Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 1), Essen 2002, S. 111–131. 35 S. die Beiträge von Klaus Gereon Beuckers über Essen Christian Popp über Gandersheim in diesem Band S. 77ff., 151ff. 36 Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung bis zur Aufhebung, hrsg. von Karl Hengst (Quellen und Forschungen zur Kirchenund Religionsgeschichte, Bd. 2; Veröffentlichung der Historischen Kommission für Westfalen, Bd. 44), 3 Bde., Münster 1992–2003, hier Bd. 1, S. 12 »2.3.2 Inkorporierte Pfarreien, Patronatsrechte, bzw. Stellung im Pfarrverband«.

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gemeinde«37, die in der Kirche zu versorgen war, die Rede ist oder auch – befremdlich unpräzise – von »pastoralem Einfluß«, den die frühen Kanonissenstifte Westfalens »zumeist nur an ihrem Standort und eventuell einzelnen, in der näheren Umgebung gelegenen Kirchen« gehabt hätten.38 – Im Brandenburgischen Klosterbuch wird die Stellung des Klosters zur Ortspfarrei, wenn überhaupt, im Abschnitt »Religiöses und spirituelles Wirken« unter den Punkten »5.1 Einfluß auf andere Institutionen« oder »5.2 Geistliche Tätigkeit« abgehandelt, und das nur selten und ganz beiläufig.39 Demgegenüber soll im folgenden ein wegen des beschränkten Raums notwendig begrenzter Überblick geboten werden, wonach Kloster- und Stiftskirchen auch als Pfarrkirchen gedient haben (oder auch nicht). Das Phänomen ist auch dem heutigen Kirchenrecht vertraut. Der Codex Iuris Canonici von 1983 legt im Geist des II. Vatikanischen Konzils den Vorrang der pfarrlichen Seelsorge für den Fall fest, daß eine Kirche zugleich Pfarr- und Konventskirche ist.40 Die Kanonistik nennt eine an einer solchen Kirche angesiedelte Pfarrei heute Klosterpfarrei.41 *** Die Domkirchen hatten die Pfarrechte über ihre Siedlungen monopolisiert, nachdem sich die Kathedrale als der kultische Einheitsraum gegen die frühmittelalterliche Kirchenfamilie mit ihrer liturgisch genutzten Mehrzahl von

37 Gisela Muschiol, Architektur, Funktion und Geschlecht: Westfälische Klosterkirchen des Mittelalters, in: Hengst, Westfälisches Klosterbuch (wie Anm. 36), Bd. 3, S. 791–811, hier S. 808. 38 Johannes Meier, Stifte und Klöster bei der Organisation und Durchführung der Seelsorge in Westfalen, in: Hengst, Westfälisches Klosterbuch (wie Anm. 36), Bd. 3, S. 385–401, hier S. 386. 39 Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, hrsg. von Heinz-Dieter Heimann u. a., Bde. 1–2, Berlin 2007, Bd. 1, S. 10, 417 (Diesdorf, im Zusammenhang mit den Friedhöfen), S. 715, Bd. 2, S. 887 (Mühlberg, Elbe), S. 1483. 40 CIC Can. 510 § 3. Vgl. Heribert Hallermann, Pfarrei und pfarrliche Seelsorge. Ein kirchenrechtliches Handbuch für Studium und Praxis (Kirchen- und Staatskirchenrecht, Bd. 4), Paderborn 2004, S. 85, 204f. 41 Heinrich Flatten, Klosterpfarreien im Erzbistum Köln, in: Die Kirche und ihre Ämter und Stände. Festgabe […] Joseph Kardinal Frings zum goldenen Priesterjubiläum, hrsg. von Wilhelm Corsten, Augustinus Frotz, Peter Linden, Köln 1960, S. 151: »In einer Klosterpfarrei dient die Kirche zumeist sowohl dem pfarrlichen wie dem klösterlichen Gottesdienst. Das führt zu der Frage, ob solch eine Klosterpfarrkirche den Rechtsstand einer ecclesia saecularis oder ecclesia religiosa besitzt.« Demgegenüber subsumierte Alfons Fehringer, Die Klosterpfarrei. Der Pfarrdienst der Ordensgeistlichen nach geltendem Recht mit einem geschichtlichen Überblick, Paderborn 1958, auch inkorporierte Kirchen fern vom Klosterort der »Klosterpfarrei«. Zur Klosterpfarrei im engeren Sinn s. ebenda, S. 125ff.

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Kirchen durchgesetzt hatte.42 Diese alleinige Verwaltung der Seelsorge gaben sie aus freien Stücken oder auch auf Druck der Laien seit dem 11. Jh. auf. Seitdem entstanden in den Suburbien die Kaufleute- oder Marktkirchen. Der nunmehrigen Dompfarrei blieben ehrenhalber oder auch zwangsweise zuletzt die Ministerialen unterworfen, so in Passau, Osnabrück, Minden oder Magdeburg, und zwar schließlich in der Form von Personalpfarreien.43 Pfarrfunktionen dieser karolingerzeitlichen Kirchen wurden im Hochmittelalter auch an unmittelbar angebaute oder in größter Nähe errichtete Annexkirchen ausgelagert. So wurde südlich des Kölner Doms die Kirche Johannes Evangelista in Curia die Pfarrkirche für die Ministerialen des Erzbischofs44, während St. Maria im Pesch (in pasculo = zur Wiesen) direkt nördlich am Dom als Kuratkirche der Hausgenossen und Lehnsträger des Domklerus diente.45 Auch an den alten Stiftskirchen entstanden bis um 1200 unmittelbar benachbarte Annexkirchen, in welche die Pfarrseelsorge ausgelagert werden konnte: In Aachen, gegenüber dem Chor des Marienstifts gelegen, um 1300 die Kirche St. Foillan46, in Maastricht parallel zur Südseite der Servatiusstiftskirche um 1200 die Kirche Sankt Johannes47, neben der Freckenhorster Stiftskirche mit ihrem be-

42 Vgl. Angelus Albert Häussling, Mönchskonvent und Eucharistiefeier. Eine Studie über die Messe in der abendländischen Klosterliturgie des frühen Mittelalters und zur Geschichte der Meßhäufigkeit (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, Bd. 58), Münster 1973, S. 302. 43 Johann Dorn, Zur Geschichte der Personalpfarreien, in: ZRG 37 KA 6, 1916, S. 341–383. Speziell Osnabrück und Minden bieten eine reiche, hier aus Raumgründen leider nicht darstellbare Überlieferung zu den Dompfarreien. 44 Johann Dorn, Der Ursprung der Pfarreien und die Anfänge des Pfarrwahlrechts im mittelalterlichen Köln, in: ZRG 36 KA 5, 1915, S. 140f. Toni Diederich, Stift – Kloster – Pfarrei. Zur Bedeutung der kirchlichen Gemeinschaften im Heiligen Köln, in: Köln. Die romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hrsg. von Hiltrud Kier und Ulrich Krings (Stadtspuren, Bd. 1. Denkmäler in Köln), Köln 1984, S. 57. Eduard Hegel, Das mittelalterliche Pfarrsystem und seine kirchliche Infrastruktur in Köln um 1500 (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft IX/1), Köln 1992, S. 14. 45 Diederich, Stift – Kloster – Pfarrei (wie Anm. 44), S. 57. Hegel, Das mittelalterliche Pfarrsystem (wie Anm. 44), S. 14 (mit irrtümlicher Lokalisierung der Kirche an die Domsüdseite). 46 Heinrich Lichius, Die Verfassung des Marienstifts in Aachen bis zur französischen Zeit, in: Zs. d. Aachener Geschichtsvereins 37, 1915, S. 1–140, hier S. 57f. Klauser, Erzpriester (wie Anm. 26), S. 207 Anm.12, S. 222 mit Anm. 9. Zur Lage s. Karl Faymonville, Die Kunstdenkmäler der Stadt Aachen. 2: Die Kirchen der Stadt Aachen mit Ausnahme des Münsters (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 10,2), Düsseldorf 1922, S. 56. 47 P(ierre) Doppler, Verzameling van charters en bescheiden betrekkelijk het Vrije Rijkskapittel van St. Servaas te Maastricht, in: Publications de la Société Historique et Archéologique dans le Limbourg 66, 1930, S. 262f., 267 Nr. 76–78, 86 (1218–1220). Th. J. van Rensch, Parochies in Meddeleeuws Maastricht, in: Munsters in de Maasgau. Archeologie en Kerkgeschiedenis in Limburg. Bundel aangebonden aan Pater A.J. Munsters M. S. C. bij zijn tachtigste verjaardag (Werken uitgegeven door Limburgs Geschied- en Oudheidkundig Genootschap gevestigt te Maastricht, Bd. 9), Maastricht 1986, S. 139–157, hier S. 142. Vgl. auch Joachim Deeters,

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rühmten Taufbecken von 1129 wohl schon im 11. Jahrhundert die 70 Meter westlich gelegene Petrikapelle.48 Pfarraltar blieb allerdings der in der Vierung der Stiftskirche plazierte Bonifatiusaltar.49 Motive für die Ausgliederungen der Pfarrdienste aus den Kathedralen in die Marktkirchen und aus den Stiftskirchen in die Annexkirchen werden selten genannt. Die Lettner in den Bischofs- und Kollegiatkirchen sowie auch Pfarrkirchen50 belegen den Wunsch des Klerus nach Exklusivität und nach ungestörtem Chordienst. In verschiedenen Kollegiatstiften des Erzbistums Rouen werden im 13. Jahrhundert die Kanoniker beim Stundengebet von Laien belästigt, welche die im Chor exponierten Reliquien verehrten und dabei schwatzten.51 Besser dokumentiert ist der Wunsch der Laien, am Tag und vor allem des Nachts für die Spendung des Viaticums die in ihrer Kirche verwahrten Hostien erreichen zu können. Das war schon aus Frankfurt zu hören.52 In Rochester (Kent) klagten 1283 die Pfarrkinder, daß die ihnen als Gemeindekirche dienende Kathedrale des

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Servatiusstift und Stadt Maastricht. Untersuchungen zu Entstehung und Verfassung (Rheinisches Archiv 73), Bonn 1970, S. 54, 95f. Uwe Lobbedey, Zur Baugeschichte der Petrikirche in Freckenhorst, in: Warendorfer Schriften 3, 1973, S. 25–27. Ders., Zur Baugeschichte von Kirche und Kloster zu Freckenhorst, in: Kirche und Stift Freckenhorst. Jubiläumsschrift zur 850. Wiederkehr des Weihetages der Stiftskirche in Freckenhorst am 4. Juni 1979, Freckenhorst 1979, S. 69–93, hier S. 79. Fred Kaspar, Peter Barthold, Geschichte, Nutzungen und bauliche Veränderungen der Petri-Kapelle, in: Freckenhorst 851–2001. Aspekte einer 1150jährigen Geschichte, hrsg. von Klaus Gruhn (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Kreises Warendorf, Bd. 38), Freckenhorst 2000, S. 45–58, hier S. 55 (mit Ansicht von 2000). Vgl. Bodarwé, Kirchenfamilien (wie Anm. 34), S. 122f. Wilhelm Kohl, Das Bistum Münster 3. Das (freiweltliche) Damenstift Freckenhorst (Germania Sacra, NF Bd. 10. Die Bistümer der Kirchenprovinz Köln), Berlin u. a. 1975, S. 19, 165. Anna Nilsén, Focal Point of the Sacred Space. The Boundary between Chancel and Nave in Swedish Rural Churches. From Romanesque to Neo-Gothic (Acta Universitatis Upsaliensis, Figura Nova Series, Bd. 30), Uppsala 2003. Monika Schmelzer, Der mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum. Typologie und Funktion (Studien zur internationalen Architekturund Kunstgeschichte, Bd. 33), Petersberg 2004. N. J. G. Pounds., A History of the English Parish, Cambridge 2000, S. 446–450. Journal des visites pastorales d’Eude Rigaud, archevêque de Rouen, 1248–1269, hrsg. von Théodose Bonnin, Rouen 1852, S. 137 (1252): Seculares morantur in choro dum celebratur officium propter reliquias, ordinavimus, quod reliquie ostendantur in alio altari et prorsus eiciantur seculares a choro, S. 385f. (1260): Reliquie taliter extra chorum seu cancellum ponerentur, quod seculares passim non transirent coram canonicis nec possent loqui cum aliquo transeundo, S. 432 (1262): reliquie ponerentur super altare sancti Michaelis vel extra chorum, ita quod seculares non possent transire per chorum, vgl. Schäfer, Pfarrkirche und Stift (wie Anm. 15), S. 195. Erzbischof Anno von Köln soll sich sein Grab außerhalb des Chores der Siegburger Klosterkirche deshalb gewählt haben, damit es auch während des Stundengebets von den einfachen Leuten besucht werden könnte, Vita Annonis archiepiscopi Coloniensis III c. 4, hrsg. von Rudolf Köpke, MGH SS 11, Hannover 1854, S. 499. – Dorn, Personalpfarreien (wie Anm. 43), S. 380 Anm. 1 spricht hinsichtlich der Inanspruchnahme von Nebenkirchen unbestimmt von einer »Entlastung der Kathedralen«. S. oben bei Anm. 19.

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Nachts verschlossen sei.53 Die Sache war auch 1327 nicht bereinigt. Anders als vom Erzbischof von Canterbury vorgeschlagen, war auf Kathedralgrund zwischenzeitlich keine eigene Pfarrkirche erbaut worden. Auch hatte der Konvent keine ständige Nachtwache in der Kathedrale eingerichtet. Das ist erstaunlich, weil zumindest in großen Kirchen die Anstellung von Nachtwächtern weithin üblich gewesen zu sein scheint.54 Nun sollte in Rochester am nördlichen Seitenschiff der Kathedrale eine von außen zugängliche Kapelle angebaut werden, deren Schlüssel die Pfarrkinder zu verwahren hätten. Der nächtliche Zugang in die Kirche sollte den Parochianen dagegen künftig verwehrt sein, das Weihnachtsfest, Allerheiligen und das Nikolausfest ausgenommen.55 *** Angesichts eines Taufsteins und der auf das Taufsakrament weisenden Inschrift im Bogenfeld des auf die Vorkirche hinausgehenden Westportals des hirsauischen Thalbürgel bei Jena räumte der Kunsthistoriker Friedrich Möbius redlicherweise ein: »Daß Klosterkirchen zu den Taufkirchen gehören und damit Pfarrechte besitzen konnten, ist uns so geläufig nicht«.56 Tatsächlich aber konnten Abteikirchen von Benediktinern pfarrkirchliche Funktionen ausüben: Anläßlich der Weihe der Abteikirche von Werden an der Ruhr im Jahre 875 umschrieb der Erzbischof deren Zehnt-, Pfarr- und Sendsprengel. Er schloß auch die Bauerschaft Velbert ein.57 Velbert liegt elf Kilometer südlich von Werden, gehörte noch 53 Michael Franklin, The Cathedral as Parish church, in: Church and City 1000–1500. Essays in honour of Christopher Brooke, hrsg. von David Abulafia u. a., Cambridge 1992, S. 173–198, hier S. 179f. 54 Vgl. Translatio sancti Epiphanii c. 5, hrsg. von G.H. Pertz, MGH SS 4, Hannover 1841, S. 249. Vita Annonis I c. 33, MGH SS 11 (wie Anm. 51), S. 480. Vgl. überdies den 980 von Erzbischof Warin von Köln angewiesenen Unterhalt für die nächtlichen Wächter der Stiftskirche von St. Ursula, Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100, Bd. 2: Elten – Köln, St. Ursula, bearb. von Erich Wisplinghoff (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 57), Düsseldorf 1994, S. 368–371 Nr. 328 (ad sustentandas quoque custodum vires inibi circumspecte et solerter pernoctantium), oder Thietmar I, 12 über die nachts bewachte Kaufleutekirche in Magdeburg, Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, hrsg. von Robert Holtzmann (MGH SSrerGerm, NS Bd. 9), Berlin 1935, S. 16f. 55 Franklin, Cathedral (wie Anm. 53), S. 196, appendix 1 (1327). 56 Friedrich Möbius, Klosterkirche Thalbürgel (Schnell Kunstführer, Heft 2043), Regensburg 1992, S. 14. Die nicht mehr im Original überlieferte Inschrift lautete: AD . PORTAM . CELI . PRIOR . EST . HEC . PORTA . FIDELI . AMEN / HEC . EST . ABLVTIS . BAPTISMATE . PORTA . SALVTIS, Luise und Klaus Hallof, Porta fidelis. Die Inschrift am Westportal der Klosterkirche Thalbürgel, in: Philologus 134, 1990, S. 103–110. Der heute im Portal dargebotene Text wird einer fehlerhaften Rekonstituierung von 1862/63 verdankt, ebenda, S. 106. 57 Rudolf Kötzschke, Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr. A. Die Urbare vom 9.–13. Jahrhundert (Rheinische Urbare 2. Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichts-

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1391 zur Werdener Pfarrei und wurde erst später, im 16. Jahrhundert, zum jüngeren Werdener Kirchspiel St. Klemens im Born gerechnet.58 Gegen Ansprüche dieser Klemenskirche sowie der rund 500 Meter nördlich des Klosters Werden gelegenen Kirche St. Lucius hatten Abt und Konvent um 1103 die Pfarrechte ihrer Abteikirche zu behaupten:59 Nach einem damaligen Synodalentscheid durfte in den derzeitigen Kapellen St. Klemens und St. Lucius nur in Notfällen getauft werden. Das Chrisam war aus der Klosterkirche als der Mutterkirche zu holen. Vor allem aber hatten bei dieser auch weiterhin alle Beerdigungen stattzufinden.60 – Der Taufstein der Werdener Abteikirche und der Pfarraltar St. Peter standen im Westriegel; von dem Altar trug dieser Westriegel den Namen Peterskirche. Sie dürfte ähnlich einer cluniazensischen galilaea als Vorkirche gedient haben. Der Peterskirche nach Westen vorgelagert ist noch das im frühen 12. Jahrhundert errichtete Paradies.61 Konvents- und Pfarrkirche sind in Werden unter einem – wenn auch vielfältig gestalteten – Dach vereint. Benediktiner-Priorate haben das officium und die Gemeindemesse vielfach in ein und derselben Kirche gefeiert. Den Mönchen wurde dabei, wie zum Beispiel im Reimser Priorat Meerssen bei Maastricht, der Chor vorbehalten, während die Gemeinde das Schiff genutzt hat.62

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kunde, Bd. 20), Bonn 1906 (ND 1978), S. 34f. § 12 (875). Vgl. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter. Bd. 1. 313–1099, bearb. von Friedrich Wilhelm Oediger (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 21, 1), Bonn 1954–1961 (ND Düsseldorf 1978), S. 87 Nr. 253. Wilhelm Stüwer, Das Erzbistum Köln 3. Die Reichsabtei Werden an der Ruhr (Germania Sacra, NF Bd. 12. Die Bistümer der Kirchenprovinz Köln), Berlin u. a. 1980, S. 192. Peter Jakobs, Geschichte der Pfarreien im Gebiete des ehemaligen Stiftes Werden an der Ruhr (Beiträge zur Geschichte des Stiftes Werden, Bd. 2), Düsseldorf 1893, S. 68f. Stüwer, Werden (wie Anm. 57), S. 193f., 287. St. Klemens im Born lag südlich außerhalb des engeren Stadtgebietes, St. Lucius nördlich der Stadt und ursprünglich außerhalb von deren Mauern, ebenda S. 195f. Stüwer, Werden (wie Anm. 57), S. 192. Niederrheinisches UB 1 S. 169f. Nr. 262. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. 2. 1100–1205, bearb. von Richard Knipping (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 21, 2), Bonn 1901 (ND 1964) Nr. 27 (1103). Peter Jakobs, Geschichte der Pfarreien im Gebiete des ehemaligen Stiftes Werden an der Ruhr (Beiträge zur Geschichte des Stiftes Werden, Bd. 3), Düsseldorf 1894, S. 411–413 Anlage 4: parrochia parrochialis ecclesiae sancti Ludgeri sub turri appellata turris sancti Petri (1391). Stüwer, Werden (wie Anm. 57), S. 18f. Vgl. Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Essen, hrsg. von Paul Clemen (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz Bd. 2, 3), Düsseldorf 1893, S. 81, 86f. (Fig. 36, 39). Wilhelm Effmann, Die karolingisch-ottonischen Bauten zu Werden. Bd. 1 Stephanskirche, Salvatorkirche, Peterskirche, Straßburg 1899, S. 184ff. Vgl. Wolfgang Petke, Reimser Urkunden- und Siegelfälschungen des 12. und 13. Jahrhunderts für Priorat und Pfarrei Meerssen, in: Hermann Jakobs und Wolfgang Petke, Papsturkundenforschung und Historie (Studien und Vorarbeiten zur Germania Pontificia, Bd. 9), Köln u. a. 2008, S. 212 Nr. 1 (1135), S. 216 Nr. 4 (1136), S. 235 Nr. 20 (1178).

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Die Beziehungen nachkarolingerzeitlicher Benediktinerabteien zu den Pfarrechten am Klosterort sind uneinheitlich. Nach den Forschungen von Heike Johanna Mierau über die Verhältnisse in den Diözesen Salzburg und Passau konnte eine Abteikirche Pfarrkirche sein wie zum Beispiel Altenburg im Waldviertel.63 Zuweilen hat sie diese Funktion aber auch abgeschüttelt: Die sechs Kilometer südwestlich vor Pfaffenhofen gelegene wittelsbachische Burg Scheyern wurde um 1119 von einem Benediktinerkonvent bezogen.64 Die Klostergründung erfolgte in ein bestehendes Kirchspiel hinein oder aber wurde mit einer Pfarreigründung verbunden. Jedenfalls war die Klosterkirche auch Pfarrkirche. Der Lärm des Pfarrvolkes (strepitus popularis) wurde dem hirsauisch geprägten Konvent dann binnen zwanzig Jahren so lästig, daß er unweit auf Klostergrund eine besondere Pfarrkirche errichtete und 1144 das Pfarrvolk durch den Bischof Otto von Freising an diesen Neubau weisen ließ: In ihm hatten die Pfarrkinder künftig die Messe zu hören und bei ihm ihre Angehörigen zu beerdigen. Die Taufe, die Palmweihe und die Kreuzprozesssionen aber blieben der Klosterkirche als Mutterkirche vorbehalten.65 Die dem hl. Martin geweihte Gemeindekirche lag nordöstlich von der Klosterkirche ganze 150 Meter entfernt!66 Im 13. Jahrhundert erneuert und dem Kloster inkorporiert, wurde sie 1805 abgerissen. Seitdem dient die Abteikirche wieder als Pfarrkirche.67 Der Ruhe halber hatte man hier die Gemeindekirche ausgegliedert, wollte aber den Vorrang der Klosterkirche als mater ecclesie gewahrt wissen. Im 1024 gegründeten Kloster Brauweiler soll der Gemeindegottesdienst, der am Kreuzaltar der Abteikirche gefeiert wurde, die Brüder gestört haben.68 Jedenfalls hat Abt Wolfhelm um 1080 nördlich der Kirche eine Laurentiuskapelle 63 Mierau, Vita communis und Pfarrseelsorge (wie Anm. 34), S. 431f. 64 Gerhard Streich, Burg und Kirche während des deutschen Mittelalters. Untersuchungen zur Sakraltopographie von Pfalzen, Burgen und Herrensitzen, Bd. 2 (Vorträge und Forschungen, Sonderbd. 29, 2), Sigmaringen 1984, S. 474f. Hermann Jakobs, Die Hirsauer. Ihre Ausbreitung und Rechtsstellung im Zeitalter des Investiturstreits (Kölner Historische Abhandlungen, Bd. 4), Köln 1961, S. 49, 96–98. 65 Die Urkunden und die ältesten Urbare des Klosters Scheyern, bearb. von Michael Stephan (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte, NF Bd. 36, 2), München 1988, S. 23– 25 Nr. 8 (1144). Vgl. Dorn, Personalpfarreien (wie Anm. 43), S. 380f. Anm. 1. 66 Stephan, Scheyern (wie Anm. 65), S. 162 Nr. 92 (Urbar von 1216–1220): Prima e˛cclesia parrochitana prope nos sita et in honore sancti Martini per nos e˛dificata […]. Volker v. Volckamer, Das Landgericht Pfaffenhofen und das Pfleggericht Wolznach (Historischer Atlas von Bayern, Altbayern, Bd. 14), München 1963, nach S. 267, Abb. 1 (Abb. eines Stichs von 1693–1708 mit der Ansicht beider Kirchen). 67 Stephan, Scheyern (wie Anm. 65), S. 24 Nr. 8, Vorbemerkung. 68 Erweiterte Fassung (16. Jh.?) der Vita Wolfhelmi, bei Hermann Pabst, Die Brauweiler Geschichtsquellen, in: Archiv d. Ges. f. ältere deutsche Geschichtskunde 12, 1874, S. 106: Idem vir […] animadvertit fratres suos non modicum gravari propter seculares laicos, quibus illo in tempore divina more parrhochiales ecclesie in altari sancte Crucis celebrantur […]. Zur Datierung der Fassung s. ebenda S. 112 mit Anm. 1.

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errichtet, die 1085 vom Kölner Erzbischof geweiht wurde; diese Kapelle erwarb das Tauf- und Sepulturrecht.69 Nach der Vita des Abtes Wolfhelm wären damals also die Brüder auf Separierung von den Laien bedacht gewesen. Anders verhielt sich der Konvent im Spätmittelalter. Seit dem 14. Jahrhundert warb er mit Kirchweih, Wallfahrt und Ablaß um den Besuch der Abteikirche und um die Gaben der Laien.70 *** Der Arbeit von Mierau ist auch der Nachweis zu verdanken, daß die Stiftskirchen von Augustinerchorherren eher nur ausnahmsweise als Pfarrkirchen fungierten.71 Damit kann ernsthaft nicht mehr die Rede davon sein, die Chorherren seien im 12. Jahrhundert der Seelsorgeorden schlechthin gewesen.72 Die Abteikirche des vor 1073 gestifteten Benediktinerklosters Steinfeld in der Nordeifel hatte anfänglich sowohl als Konvents- als auch als Pfarrkirche gedient. Als das Kloster 1121 mit Augustinerchorherren aus Springiersbach besetzt wurde, lagerte der Erzbischof die Pfarrseelsorge, welche dem Volk ex more im Münster zuteil ge69 Oediger, Regesten Köln 1 (wie Anm. 57), Nr. 1171 (1085). Walter Bader, Die Benediktinerabtei Brauweiler bei Köln. Untersuchungen zu ihrer Baugeschichte. Nach dem hinterlassenen Manuskript von Erika Huyssen (Denkmäler deutscher Kunst hrsg. vom Deutschen Verein für Kunstwissenschaft), Berlin 1937 S. 121f., zur Lage der Kapelle ebenda S. 32 Abb. 9. Erich Wisplinghoff, Das Erzbistum Köln 5. Die Benediktinerabtei Brauweiler (Germania Sacra, NF Bd. 29. Die Bistümer der Kirchenprovinz Köln), Berlin u. a. 1992, S. 25, 75, 165. 70 Wisplinghoff, Brauweiler (wie Anm. 69), S. 121f. 71 Mierau, Vita communis und Pfarrseelsorge (wie Anm. 34), S. 418–422. Anders Karl Heinrich Schäfer, Die Pfarreigenschaft der regulierten Stiftskirchen, in: ZRG 45 KA 14, 1925, S. 161–171. Zu Schäfers Halberstädter Belegen s. die Präzisierungen bei Karlotto Bogumil, Das Bistum Halberstadt im 12. Jahrhundert. Studien zur Reichs- und Reformpolitik des Bischofs Reinhard und zum Wirken der Augustiner-Chorherren (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 69), Köln u. a. 1972, S. 107–130. Schäfers Ausgangsbeleg, die Urkunde Reinhards von Halberstadt für Kaltenborn von 1120 (UB Halberstadt 1 S. 112–116 Nr. 147) ist eine Verfälschung aus dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts, Böhmer-Petke, Regesta Imperii IV, 1, 1: Lothar III., Köln u. a. 1994, Nr. †492 S. 317f. 72 So Franz Josef Schmale, Kanonie, Seelsorge, Eigenkirche, in: HistJb 78, 1959, S. 38–63. Karl Bosl, Regularkanoniker und Seelsorge in Kirche und Gesellschaft des europäischen 12. Jahrhunderts (Abhandlungen der bayerischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse, NF Bd. 86), München 1979. Dagegen bereits Peter Classen, Gerhoch von Reichersberg und die Regularkanoniker in Bayern und Österreich, in: La vita comune del clero nei secoli XI e XII, 1. Atti della settimana di studio, Mendola, settembre 1959. (Miscellanea del Centro di Studi Medioevali, Bd. 3), Mailand 1962, S. 304–340. Stefan Weinfurter, Salzburger Bistumsreform und Bischofspolitik im 12. Jahrhundert. Der Erzbischof Konrad I. von Salzburg (1106–1147) und die Regularkanoniker (Kölner historische Abhandlungen, Bd. 24), Köln u. a. 1975. Beide sind nicht rezipiert von Cosimo Damiano Fonseca, La pastorale dai monaci ai canonici regolari, in: La pastorale della Chiesa in Occidente dell’età ottoniana al concilio lateranense IV (Atti della quindicesima settimana internazionale di studio, Mendola, 27–31 agosto 2001), Mailand 2004, S. 3–26.

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worden war, an eine im Atrium des Klosters gelegene Kapelle aus.73 Auch nachdem sich Steinfeld vor 1135 dem Verband von Prémontré angeschlossen hatte, blieb diese Kirche die örtliche Pfarrkirche mit allen Seelsorgerechten.74 Die dem Kloster schließlich inkorporierte Andreaspfarrkirche lag im Klosterhof vor der Abteikirche, und zwar in der Verlängerung von deren südlichem Seitenschiff; sie ist 1802 abgebrochen worden.75 Auch anderswo haben die Prämonstratenser den Pfarrgottesdienst nicht in ihre Konventskirchen hineingezogen: Im bayerischen Osterhofen blieb die Pfarrkirche bestehen, auch nachdem 1138 im Ort die Stiftskirche eines Prämonstratenserkonvents errichtet worden war.76 Die Burg Arnstein über der Lahn wurde im Jahre 1139 den Prämonstratensern zur Gründung eines Stifts übergeben.77 Zu Füßen des Burgbergs lag am Ufer des Flusses die Pfarrkirche St. Margareten. Diese ehemalige Eigen- und Grabkirche der frühen Arnsteiner wurde 1156 mit ihren Pfarrechten dem Stift inkorporiert.78 An Stelle des Abtes versah ein Arnsteiner Kanoniker als Kaplan die Pfarre. Seit 1815 ist diese stets vom Stift besetzte Kirche, die der Klostersiedlung als Pfarrkirche gedient hat, ruinös.79

73 Urkundenbuch der Abtei Steinfeld, bearb. von Ingrid Joester (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 60), Köln u. a. 1976, S. 1f. Nr. 2: Curam etiam parrochialem, cuius dispensatio ad idem monasterium pertinet, placuit nobis transferre in capellam in atrio eiusdem cenobii sitam, ad quam populus ex more conveniens christiane˛ sacramenta gratie˛ in divini celebratione officii et tradenda baptismi gratia et agendis defunctorum exequiis sicut oportet inveniat. Schäfer, Pfarrkirche und Stift (wie Anm. 15), S. 202. Friedrich Wilhelm Oediger, Steinfeld. Zur Gründung des ersten Klosters und zur Verwandtschaft der Grafen von Are und Limburg, in: Aus Geschichte und Landeskunde. Franz Steinbach zum 65. Geburtstag, hrsg. von Max Braubach u. a., Bonn 1960, S. 37–49. Wiederabdruck in: Friedrich Wilhelm Oediger, Vom Leben am Niederrhein, Düsseldorf 1973, S. 95– 106, hier 95f. 74 Joester, UB Steinfeld (wie Anm. 73), S. 23f. Nr. 26: Baptismalem videlicet ecclesiam in atrio suo sitam cum omnibus decimis suis et infra terminos eiusdem baptismalis ecclesie parochialis censum undecim marcarum singulis annis solvendarum (1187). 75 Ingrid Joester, Alltagsleben in der Prämonstratenserabtei Steinfeld im 18. Jahrhundert, in: Studien zum Prämonstratenserorden, hrsg. von Irene Crusius und Helmut Flachenecker (Veröff. d. Max-Planck-Instituts f. Geschichte, Bd. 185. Studien zur Germania Sacra, Bd. 25), Göttingen 2003, S. 567–598, hier S. 590f., nach S. 596 (Reproduktion einer Ansicht des Klosterkomplexes von vor 1736 mit der Legende 4 Parochiale templum). Vgl. Ernst Wackenroder, Die Kunstdenkmäler des Kreises Schleiden (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 11, 2), Düsseldorf 1932, S. 382–384 (Abb. 241–243), S. 423. 76 Mierau, Vita communis und Pfarrseelsorge (wie Anm. 34), S. 537f. 77 Bruno Krings, Das Prämonstratenserstift Arnstein a. d. Lahn (1139–1527) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, Bd. 48), Wiesbaden 1990, S. 52–56. 78 Mittelrheinisches UB 1 S. 653f. Nr. 597 (1156). Krings, Arnstein (wie Anm. 77), S. 4f., 81. 79 Krings, Arnstein (wie Anm. 77), S. 377. Abbildungen von 1723 und 1808: Ebenda Tf. II/3. II/4. Streich, Burg und Kirche (wie Anm. 64), Bd. 2, S. 510 (Abb. 197).

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Abteikirchen von Zisterziensern sind im 12. und 13. Jahrhunderts niemals auch Pfarrkirchen gewesen. Bereits die Instituta des Generalkapitels von Cîteaux von circa 1147 bis um 1179 schlossen Laien, die außerhalb der Klostermauern lebten, von Opfergang und Messe in der Abteikirche aus, den Feiertag Mariä Lichtmeß ausgenommen.80 Frauen war bereits das Passieren der Klosterpforte grundsätzlich untersagt.81 Stattdessen entfaltete sich die Seelsorge seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an den Pfortenkapellen. Bei ihnen handelt es sich offenbar um eine Eigentümlichkeit der Zisterzen. Es gab sie in Clairvaux ebenso wie im niederheinischen Kamp82, in Altenberg im Bergischen Land83, im oberbayerischen Raitenhaslach84, im niederösterreichischen Lilienfeld.85 ***

80 Narrative and legislative Texts from early Cîteaux, hrsg. von Chrysogonus Waddell (Studia et Documenta, Bd. 9), Cîteaux 1999, S. 335 Nr. 27: Ad confessionem, ad sacram communionem, ad sepulturam, neminem extraneum preter hospites et mercenarios nostros intra monasterium uidelicet morientes recipimus, sed nec oblationem ad missam in conuentu, nisi in purificatione Sancte Marie. 81 Ebenda Nr. 7, S. 327: (feminae), […] nec monasterii portam ingredi permittuntur. Vgl. darüber hinaus die Generalkapitelsbeschlüsse von 1190 und 1222, Übertretungen in Barbeaux und Altzella betreffend, Twelfth-century statutes from the Cistercian General Chapter, hrsg. von Chrysogonus Waddell (Studia et Documenta, Bd. 12), Cîteaux 2002, S. 205 Nr. 38: In Sequanae portu, quia mulieres in anniversario Regis ingressae sunt Oratorium, tam Abbas quam monachi uno die sint in pane et aqua. Statuta Capitulorum Generalium Ordinis Cisterciensis ab anno 1116 ad annum 1786, ed. Joseph Maria Canivez, Bd. 2, 1221–1261 (Bibliothèque de la Revue d’histoire ecclésiastique, Bd. 10), Löwen 1934, S. 17 Nr. 23: De abbate de Cella Sanctae Mariae in Thuringia, qui celebrasse dicitur in abbatia sua mulieribus praesentibus […]. Nach dem Kapitelsstatut von 1158 konnten allerdings Abteikirchen nach ihrer Weihe für neun Tage von Frauen besucht werden, Waddell, Twelfth-century statutes (wie oben) S. 69 Nr. 7: Novem dies possunt femine intrare basilicas nostras cum nouiter dedicantur. Die Verführbarkeit der Mönche durch die Frau artikulierte Bernhard von Clairvaux, Sermones super cantica canticorum, Sermo 65, 4 (S. Bernardi opera, Bd. 2), Rom 1958, S. 175: Cum femina semper esse, et non cognoscere feminam, nonne plus est quam mortuum suscitare? 82 Vgl. Gregor Müller, Die Kapelle bei der Klosterpforte, in: Cisterzienser-Chronik 33, 1921, S. 81–84 (freundlicher Hinweis von Dr. Waldemar P. Könighaus, Göttingen). 83 Die Altenberger Pfortenkapelle war eine Laienstiftung des 13. Jahrhunderts, Urkundenbuch der Abtei Altenberg, Bd. 1. 1138–1400, bearb. von Hans Mosler (Urkundenbücher der geistlichen Stiftungen des Niederrheins, Bd. 3), Bonn 1912, S. 199 Nr. 282 Anm. 1, S. 222f. Nr. 314 (erwähnt im Jahr 1273), S. 301 Nr. 405 (1287, Verweisung der Frauen, denen das Betreten der Klosterkirche nach der Ordensregel verboten sei, zwecks Ablaßgewinnung an die Pfortenkapelle: mulieribus, quibus ipsam ecclesiam de constitucione Cisterciensis non licet ingredi, que in festis predictis ad capellam iuxta portam causa devocionis accesserint, supradictam indulgenciam misericorditer elargimur). Zur Lage dieser Marienkapelle s. Hans Mosler, Das Erzbistum Köln 1. Die Cisterzienserabtei Altenberg (Germania Sacra, NF Bd. 2. Die Bistümer der Kirchenprovinz Köln), Berlin 1965, S. 21f. 84 Die Urkunden des Klosters Raitenhaslach 1034–1350, bearb. von Edgar Krausen (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte, NF Bd. 17,1), München 1977, S. 290–292 Nr. 360

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Daß vom 13. Jahrhundert bis zur Reformation in einer »dritte(n), alteuropäischterritoriale(n) Phase« von Stiftsgründungen viele Kollegiatstifte an bestehenden, zumeist städtischen Pfarrkirchen fundiert wurden, ist spätestens seit den Studien von Peter Moraw allgemein bekannt.86 Weniger bewußt scheint der überörtlichen Forschung zu sein, in welcher erklecklichen Zahl seit dem 13. Jahrhundert Konvente von Reuerinnen87, Dominikanerinnen88, Clarissen und AugustinerChorfrauen, vor allem aber von Zisterzienserinnen, an bestehenden, vornehmlich städtischen Pfarrkirchen gestiftet worden sind. Da diese Kirchen in den allermeisten Fällen Gemeindekirchen blieben, fanden unter einem Dach Chorgebet, Konvents- und Gemeindemesse statt. – Dabei ist das Phänomen nicht auf die Frauenkommunitäten beschränkt: Der Deutsche Orden siedelte seine Kommenden gern an bestehenden Pfarrkirchen an und ließ sich diese inkorporieren, so geschehen in der Altstadt und Neustadt von Mühlhausen / Thüringen, in Weimar, in Saalfeld oder in der Neustadt von Göttingen.89 Die Seelsorge für die Brüder und die Pfarrgemeinde übten dort dann Pfarrkomture aus. – Die

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(1277), S. 291f. Nr. 362–364 (1277). Mierau, Vita communis und Pfarrseelsorge (wie Anm. 34), S. 514–516. Die Urkunden des Zisterzienserstiftes Lilienfeld 1111–1892, bearb. von Gerhard Winner (Fontes rerum Austriacarum II, Bd. 81), Wien 1974, S. 101 Nr. 206. Ihr Friedhof ist 1458 bezeugt, ebenda S. 422 Nr. 1145. 1497 heißt sie Pfarrkirche in Porta, ebenda S. 452 Nr. 1244. Mierau, Vita communis und Pfarrseelsorge (wie Anm. 34), S. 512–514. Peter Moraw, Über Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift (Veröffentlichungen d. Max-PlanckInstituts f. Geschichte, Bd. 68. Studien zur Germania Sacra, Bd. 14), Göttingen 1980, S. 9–37, hier S. 32. Sabine Graf, Das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar im Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Bistums Hildesheim 5), Hannover 1998, S. 161–166, 413, über die 1235/37 an der Goslarer Frankenbergkirche angesetzten Magdalenerinnen. Carola Jäggi, Frauenklöster im Spätmittelalter. Die Kirchen der Klarissen und Dominikanerinnen im 13. und 14. Jahrhundert (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 34), Petersberg 2006, S. 189 mit Anm. 50. – An die Pfarrkirche St. Marien der Neustadt von Lemgo wurden 1306 Dominikanerinnen aus Lahde (Diözese Minden), umgesiedelt. Der Konvent erhielt vom Stadtherrn Graf Simon zur Lippe den Patronat über die drei Lemgoer Pfarrkirchen St. Johannis, St. Nikolai und eben St. Marien, Westfälisches Urkundenbuch 10. Die Urkunden des Bistums Minden 1301/1325. Bearb. von Robert Krumbholtz und Joseph Prinz, 2. Aufl. 1977, S. 61f. Nr. 170 (1306). Hans-Peter Wehlt, Lemgo, Dominikanerinnen, in: Hengst, Westfälisches Klosterbuch (wie Anm. 36), Bd. 1, S. 499–508, hier S. 499–501. Jäggi, Frauenklöster (wie oben), S. 30. Daß St. Marien Pfarrkirche blieb, wird weitgehend ausgeblendet von Cornelia Halm, Klosterleben im Mittelalter. Die Dominikanerinnen in Lemgo. Von der Klostergründung bis zur Reformation (Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen Vereins für das Land Lippe, Bd. 71), Detmold 2004, S. 49, 60, 62. Anders als in Wienhausen, s. unten bei Anm. 112, hatte in St. Marien die Dekanin unter anderen den Organisten und den Kalkanten zu bezahlen, und hütete die Sakristanin eine beträchtliche Zahl von Vasa sacra und liturgischen Gewändern, Halm, S. 142, 145–149. Vgl. Klaus Militzer, Von Akkon zur Marienburg. Verfassung, Verwaltung und Sozialstruktur des Deutschen Ordens 1190–1309 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, Bd. 56), Marburg 1999, S. 203f., 272, 274, 278.

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signifikante Häufung der Gründung von Frauenkommunitäten an Pfarrkirchen dürfte dem Bestreben der Stifter zu verdanken sein, die Ökonomie der Klöster auf eine sichere Grundlage zu stellen; denn in der Regel wurde das Pfarrbenefizium dem Kloster inkorporiert. Ein städtisches Pfarrbenefizium konnte sehr einträglich sein. Für St. Michael in Jena bringt Enno Bünz das Problem der Fundierung eines Frauenklosters an einer Stadtpfarrkirche bereits im Titel eines Aufsatzes aus dem Jahre 2004 auf den Punkt: »Klosterkirche – Bürgerkirche. St. Michael in Jena im späten Mittelalter«.90 Von ihrem wohl einmaligen Beichterker abgesehen, der um 1500 als eigenes Architekturelement vor die Außenwand der im nördlichen Seitenschiff errichteten Nonnenempore angebaut worden ist91, deutet heute wenig darauf hin, daß Jenas Hauptpfarrkirche auch die Kirche eines Zisterzienserinnenklosters gewesen ist. Und doch war dies von 1295 bis 1525/26 der Fall! Den klausurierten Kanonissen und Klosterfrauen hat das Zweite Laterankonzil (1139) die Nutzung des Sanktuariums und eine gemeinsame Liturgie mit Kanonikern und Mönchen untersagt.92 Spätestens jetzt besetzten Nonnen und Kanonissen einen speziellen Chor oder eine Empore.93 Dagegen bereits seit dem 6. Jahrhundert war es den Laien verwehrt, sich nach dem Offertorium94 während des Meßkanons am Altar aufzuhalten.95 90 Enno Bünz, Klosterkirche – Bürgerkirche. St. Michael in Jena im späten Mittelalter, in: Inmitten der Stadt. St. Michael in Jena. Vergangenheit und Gegenwart einer Stadtkirche, hrsg. von Volker Leppin und Matthias Werner, Petersberg 2004, S. 105–137. 91 Claudia Mohn, Mittelalterliche Klosteranlagen der Zisterzienserinnen. Architektur der Frauenklöster im Mitteldeutschen Raum (Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege, Bd. 4), Petersberg 2006, S. 158f. Grundrisse ebenda, S. 156f. Abb. 145, 146. 92 Lateran II c. 27, in: Dekrete der ökumenischen Konzilien. Bd. 2. Konzilien des Mittelalters: Vom ersten Laterankonzil (1123), bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517), hrsg. von Josef Wohlgemuth, Paderborn 2000, S. 202f. 93 Gisela Muschiol, Liturgie und Klausur. Zu den liturgischen Voraussetzungen von Nonnenemporen, in: Studien zum Kanonissenstift, hrsg. von Irene Crusius (Veröff. d. Max-PlanckInstituts f. Geschichte, Bd. 167. Studien zur Germania Sacra, Bd. 24), Göttingen 2001, S. 129– 148, speziell S. 140ff. Dies., Architektur, Funktion und Geschlecht (wie Anm. 37), S. 806 mit dem Hinweis, daß Zisterzienserinnen auch in kleinsten einschiffigen Kirchen, die nur für den Gebrauch des Konvents und nicht für Laien bestimmt gewesen seien, Westemporen hatten. Vgl. noch Mohn, Klosteranlagen der Zisterzienserinnen (wie Anm. 91), S. 37ff. Margit Mersch, Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Vallis Dei in Brenkhausen im 13. und 14. Jahrhundert (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen, Bd. 45), Mainz 2007, S. 225 mit Anm. 1367. In schweizerischen Zisterzienserinnenkirchen sind die Emporen vielfach erst nachtridentinisch, Jäggi, Frauenklöster (wie Anm. 88), S. 16. 94 Vgl. Reginonis libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis II, 5, Interrogatio 89, hrsg. von Friedrich Wilhelm Hermann Wasserschleben, Leipzig 1840 (ND 1964), S. 216. Das Sendhandbuch des Regino von Prüm II, 5, Frage 89, hrsg. und übersetzt von Wilfried Hartmann (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. 42), Darmstadt 2004, S. 250: Si oblationem, id est panem et vinum, viri et feminae ad missas offerunt, et, si non

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Die 1051 bezeugte Kirchspielkirche Wienhausen an der Aller im Bistum Hildesheim war spätestens seit 1054 Eigenkirche des Bischofs.96 Ihr Sprengel umfaßte nach Westen den acht Kilometer entfernten Ort Westercelle97 und nach Süden zunächst auch das zehn Kilometer entfernte Dorf Bröckel. An der Pfarrkirche in Wienhausen hat Agnes, die Witwe des welfischen Pfalzgrafen Heinrich († 1227), ein Zisterzienserinnenkloster gestiftet, zu dessen Dotierung Bischof Konrad von Hildesheim im Jahr 1233 in erheblichem Maße beitrug. Er überließ dem Kloster die als matrix ecclesia bezeichnete Kirche, die zu verleihen als bisheriges bischöfliches Recht herausgestellt wird, und zwar mit ihrem Seelsorgerecht und ihrer Dotierung (sive in cura sive in dote).98 Damit wurde die Pfarrkirche dem Konvent inkorporiert. Obwohl 1233 nicht ausgeführt, dürfte von Anbeginn der Propst als Vertreter des Konvents die Pfarrechte wahrgenommen und ihre Verwaltung an einen oder bald mehrere amovible Vikare delegiert haben, zumal dem Propst 1233 auch noch der Archidiakonat Wienhausen verliehen worden war (bannum […] sicut eum […] Sifridus archidiaconus tenuit). Das Sendgericht wird er zweimal im Jahr in und vor der Wienhäuser Kirche gehegt haben; denn im Jahre 1308 ließen sich die Bürger im zehn Kilometer entfernten Celle vom Sendbesuch in Wienhausen befreien und erreichten, daß der Propst den Send für sie künftig in Celle hielt.99 Als die Pfarrkirche des eben

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viri, coniuges pro illis offerrant, pro se suisque omnibus, ut in canone continetur? Josef Andreas Jungmann, Missarum sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Bd. 2, Freiburg 1952, S. 1–88. Joseph Braun, Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung, Bd. 2, München 1924, S. 656f. Jean Hubert, La place faite aux laics dans les églises monastiques et dans les cathédrales aux XIe et XIIe siècles, in: I laici nella »Societas christiana« dei secoli XI et XII (Miscellanea del Centro di Studi Medioevali 5. Pubblicazioni dell’Università Cattolica del Sacro Cuore. Contributi, Serie terza, Varia, Bd. 5), Mailand 1968, S. 470–487, hier S. 477–480, S. 485ff. (zur cluniazensischen galilea). Jäggi, Frauenklöster (wie Anm. 88), S. 18 mit Anm. 56f. (über den Zugang von Frauen zum Presbyterium anläßlich der Kirchweihe und an Karfreitag nach den dominikanischen Statuten von 1249), S. 252. DH.III. 282 (1052). DH.III. 326 (1054). Vgl. die Zehnt- und Kirchenübertragungen in der Gründungsurkunde Konrads von Hildesheim für Wienhausen von 1233, Origines Guelficae Bd. 3, Hannover 1752, S. 715–717 Nr. 226: ecclesia Westerscielle cum redditibus suis, videlicet urna mellis et manso. Ebenda. Vgl. Chronicon Hildesheimense, MGH SS 7, Hannover 1846, S. 860 Z. 20f.: cui conventui ecclesiam eiusdem ville parrochialem attribuit (sc. Bischof Konrad). Joseph Machens, Die Archidiakonate des Bistums Hildesheim im Mittelalter (Beiträge für die Geschichte Niedersachsens und Westfalens, Erg. Heft 8), Hildesheim u. a. 1920, S. 223 (zitiert nach HStA Hannover, Cop. IX 265, S. 105, 1943 verbrannt). Orig.: Klosterarchiv (= KlA) Wienhausen Orig. 147. Abschrift: HStA Hannover, Cop. IX 02 [Kopialbuch des Klosters Wienhausen, maschinenschriftl. Abschrift der handschriftl. Kopiensammlung des H. Böttger] Nr. 178: pro eo quod sanctae synodo, quam ex antiqua constitutione bis in anno Winhusen querere tenebamur, infra munitiones ac menia predicte civitatis debet de cetero presidere. Vgl. Dieter Brosius, Urkundenbuch der Stadt Celle (Lüneburger Urkundenbuch, 17. Abteilung), Hannover 1996, S. 6 Nr. 6.

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erwähnten Bröckel 1380 vom Hildesheimer Bischof dem Kloster inkorporiert wurde100, dürfte mit der Unterwerfung der cura animarum unter das forum des Propstes und der Anstellung eines kündbaren Priesters, der der Erbauung des Pfarrvolkes in Wort und Werk dienen sollte, derselbe rechtliche Status verbrieft worden sein, nach dem die Wienhäuser Kirchspielleute bereits seit 1233 lebten. Dieser Status ließ sie jedoch nicht zu bloßen Objekten in den Händen des Klosters und seines Propstes werden. Vermutlich weil die Wienhäuser Kirche auch Sendkirche war mit einem regelmäßigen Zustrom vieler Menschen, vermochten die Laien ihr Recht an der Kirche zu behaupten; denn obwohl sie 1233 dem Kloster verliehen worden war, ist sie zumindest seit dem 14. Jahrhundert bis zum heutigen Tage stets Eigentum der Pfarrgemeinde geblieben. Dementsprechend hatte sich bei der Wienhäuser Kirche und zuletzt in deren Pfarrarchiv ein Urkundenbestand der Kirchenfabrik erhalten101, der neben der archivalischen Überlieferung des Klosters erwachsen ist und mit dieser nichts zu tun hat. Empfänger der 1346 einsetzenden Urkunden sind das Gotteshaus St. Alexander und dessen ratmannen, olderlude, vorstende und kerksworen.102 Im Jahre 1437 wurden Ghereke Engelken unde Cord Smed, nu tor tyd olderlude des godeshuses unde kerkspeldes to Winhusen tätig, also wie üblich zwei Kirchgeschworene.103 Die Zeitgenossen wußten genau zwischen dem Kloster und der Kirche zu unterscheiden: Der Knappe Werner von Opperhausen überließ 1346 dem godeshus tho Winhusen unde nicht deme clostere eine Rente104, ebenso 80 Jahre später im Jahre 1420 ein gewisser Ebeling Wolters.105 Ein schätzenswerter Überrest der Verwaltung der Wienhäuser Kirche ist eine aus dem Jahre 1505 erhaltene Kirchenrechnung der Kirchenpfleger. Sie verzeichnet unter anderem Ausgaben für ein Retabel (Item hebbe wy gegeven vor de tafel aller Engel altars VIII gulden), für zwei Kirchenfahnen, für die Orgel, für das Schreiben eines Vespermeßbuches (vor eyn nyghe vesperal tho scrivende), für zwei Missalien oder für die Verlegung eines Steinwegs in der Kirche von der Kirchentür bis zur Taufe (Item hebbe wy gegeven vor den steynwegh von der 100 UB Hochstift Hildesheim Bd. 6 S. 270–272 Nr. 396 (1380). 101 Pfarrarchiv (= PfA), Wienhausen, Photos der Originalurkunden Nr. 1–24. Die Originale werden seit der Rückgabe von der 1967 im Staatsarchiv Bückeburg durchgeführten Sicherheitsverfilmung vermißt. Zum Urkundenbestand s. das im Juni 1950 von Dr. Helmut Speer angelegte Findbuch, S. 52–60 Nr. 1–24. Je ein Satz Abzüge befinden sich auch im Landeskirchlichen Archiv, Hannover, und im HStA Hannover. 102 PfA Wienhausen Urk. 3 (1368). Urk. 6 (1409). Urk. 16 (1469). Urk. 20 (1513). 103 PfA Wienhausen Urk. 13 (1437). Vgl. Sebastian Schröcker, Die Kirchenpflegschaft. Die Verwaltung des Kirchenvermögens durch Laien seit dem ausgehendenMittelalter (Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft, Bd. 67), Paderborn 1934, S. 99f. Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung (VSWG-Beihefte, Bd. 177), Wiesbaden 2005, S. 103f. 104 PfA Wienhausen Urk. 1 (1346). 105 PfA Wienhausen Urk. 10: godeshuse to Winhusen und nicht deme clostere (1420).

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kerckdor beth by de dope tho makende I gulden).106 Der Fußboden der Wienhäuser Kirche war also sonst noch nicht mit Steinen ausgelegt! Irritierenderweise war in der kunsthistorischen Literatur zeitweise von zwei Kirchen in Wienhausen die Rede, und zwar von einer »Nonnenkirche« mit den Patronen Maria, Alexander und Laurentius und von einer »Gemeindekirche« St. Marien.107 Dabei meinte Nonnenkirche den berühmten Nonnenchor, der im ersten Drittel des 14. Jahrhundert im Westen an die damalige Gemeindekirche angebaut worden ist. Eine Nonnenkirche hat es aber in Wienhausen nie gegeben; dem Grunde nach eigentlich auch keine Klosterkirche, von der gelegentlich die Rede ist.108 Denn Wienhausen ist ein Kloster, das an eine bestehende Kirche gestiftet worden ist. Diese Kirche war und ist stets Pfarrkirche geblieben. Gerade in den Urkunden der Kirchenfabrik wird als ihr Titelheiliger der hl. Alexander genannt.109 Aber auch die Äbtissin stellte im Spätmittelalter nicht etwa die hl. Maria, sondern Alexander als Patron heraus: Als sie um 1518 dem Propst-Archidiakon Wulbrand von Oberg einen Kleriker auf die Fabian- und Sebastiankapelle präsentierte, nannte sie sich abbatissa monasterii sanctimonialium domini Alexandri in Wynhausen ordinis Cisterciensis Hildensemensis diocesis.110 Besagte Kapelle war vor 1359 von den Nonnen gestiftet und dem Pestheiligen Sebastian gewidmet worden; sie lag östlich der Kirche auf dem Gemeindefriedhof.111 106 PfA Wienhausen Urk. [sic!] 23 (1505), Bl. 1v. Die Rechnung ist im Findbuch S. 60 Nr. 23 nicht als solche erkannt, sondern als »Schuldenverzeichnis [?]« bezeichnet. 107 Die Kunstdenkmale des Landkreises Celle, bearb. von Joachim Bühring und Konrad Maier. Teil II. Wienhausen. Kloster und Gemeinde (Die Kunstdenkmale des Landes Niedersachsen, Bd. 34, 2), Hannover 1970, S. 12f., 16f., und Abb. Nr. 6–8, Nr. 16–17. Dagegen zutreffend spricht Mohn, Klosteranlagen der Zisterzienserinnen (wie Anm. 91), S. 235, von Nonnenchor und Gemeindekirche als den zwei Baugliedern der einen Kirche. 108 Konrad Maier, Materialien zur Frühgeschichte der Klosterkirche in Wienhausen und ihrer Baulichkeiten, in: Niedersächsische Denkmalpflege 6, 1970, S. 102–121, hier S. 102. 109 PfA Wienhausen Urk. 2 (1361), 3 (1368), 16 (1469), 19 (1486). Dazu eine Urkunde der Kirchenmeister über die Verwaltung einer Memorienstiftung von 1514, KlA Wienhausen Orig. 549: in den achte dagen sancti Alexandri vnsers hilligen patronen […] Van den renthen der vpgedachten summen schal men deme vpgemelten patronen sunte Alexanders tho synen buweten unde besten bruken. Abschrift: HStA Hannover, Cop. IX 02 Nr. 618. 110 HStA Hannover, Cop. IX 02 Nr. 641. 111 [Horst Appuhn], Chronik des Klosters Wienhausen mit Totenbuch (Bomann-Archiv, Bd. 3– 4), 2. Aufl. Celle 1968, Abs. 9f. KlA Wienhausen Orig. 283 (1359): […] cum capella in cimiterio nostro ad honorem incliti martiris sancti Sebastiani per elemosinas intra nos collectas sit constructa et consecrata. Abschrift HStA Hannover, Cop. IX 02 Nr. 319. Vgl. Heiko Leerhoff, Wienhausen, in: Germania Benedictina, Bd. XII: Norddeutschland. Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg, bearb. von Ulrich Faust OSB, St. Ottilien 1994, S. 756–796, hier S. 760. Zur Lage s. Bühring und Maier, Kunstdenkmale Celle (wie Anm. 107), S. 61, und dies., Kunstdenkmale Celle, Bildband, Teil II, Abb. Nr. 2 (Plan von 1723): Kirchhoff. Ebenda im Kreuzhof der Closterkirchhoff.

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Die laikale Kirchenpflegschaft bei dem Kloster Wienhausen, die auch für Wein, Kohle, Wachs, für Organisten- und Kalkantenlohn aufzukommen hatte112, war kein Einzelfall: Am Benediktinerinnenkloster Walsrode in der Diözese Minden waren es laut Schiedsspruch von 1411 ebenfalls die von den Pfarrkindern gewählten Kirchenpfleger, denen der Bau und der Unterhalt der Kirche oblagen. Wenn ihnen der Propst dabei behilflich sein wollte, so sollte das seine Sache sein.113 Einvernehmlich schlossen 1523 der Klosterpropst, der Rat der Stadt und die Kirchenpfleger (olderlude) mit dem aus Walsrode gebürtigen Bildschnitzer Hans Brüggemann einen Vertrag über die Lieferung eines Marienretabels für den Frühmessaltar in der Kirche seiner Heimatstadt.114 Anders als Brüggemanns Bordesholmer Altar hat sich dieses Werk nicht erhalten oder ist vielleicht auch gar nicht geschaffen worden. Ganz so einträchtig wie 1523 waren Kloster und Gemeinde aber nicht immer miteinander ausgekommen: Drei Jahrzehnte früher, im Jahr 1492, hatte der Propst nicht einsehen wollen, daß nicht die Kirchenpfleger und die Fabrik, sondern Propst und Konvent für die Bezahlung des Ablutionsweins aufzukommen hätten, der den Pfarrkindern an Gründonnerstag, an Ostersonnabend und zu Ostern nach der Kommunion gereicht wurde. Die Spendung von Spülwein verdankte sich der Seelgerätstiftung einer verstorbenen Klosterjungfrau: Sie hatte sich der Frauen und Kinder erbarmt, die sie durch den Genuß von Ablutionswasser großer gesundheitlicher Gefahr ausgesetzt sah (men water plach to ghevende […] dat doch velen frouwen und kinderen nicht wol bequam und grote varheit waß).115 Propst und Konvent gestanden 1492 zu, daß das Volk an Gründonnerstag, an Fronleichnam und zu Weihnachten Ablutionswein genießen dürfte. Diesen hätten aber die Pfleger zu beschaffen.116 Kurz: Die Walsroder Kirche diente sowohl dem Frauenkonvent als auch der Pfarrgemeinde als Gotteshaus. Sie war, wie 1487 bei einer nach einem Brand vollzogenen Weihe des

112 PfA Wienhausen Urk. 23, Bl. 2r: < Item mothe wy hebben jarlickes in der kerken vor I guldene wyn [gestrichen].> Item mothe wy hebben vor ½ gulden koele. Item dem organisten ½ gulden. Item dem de de belge trid ½ gulden jarlikes. Item hebbe wy gegeven in den jarn vor berorth anderthalffhundert gulden vor was, jarlickes seven gulden. Wein scheint 1505 nicht fällig geworden oder von anderer Seite übernommen worden zu sein. 113 Otto Jürgens, Ein Amtsbuch des Klosters Walsrode (Veröffentlichungen zur niedersächsischen Geschichte, Bd. 2), Hannover 1899, S. 30f. (Schiedsspruch von 1411). 114 Hans Huth, Künstler und Werkstatt der Spätgotik. 2. Aufl. Darmstadt 1967, S. 138 Nr. 32. 115 Jürgens, Amtsbuch Walsrode (wie Anm. 113), S. 34–36 (Protokoll von 1492, freundlicher Hinweis von Edgar Müller, M.A., Göttingen). Zu Ablutionswein und Kinderkommunion s. Peter Browe, Die Kinderkommunion im Mittelalter, Wiederabdruck in: Ders., Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiewissenschaftliche Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht, hrsg. von Hubertus Lutterbach und Thomas Flammer (Vergessene Theologen, Bd. 1), Münster u. a. 2003, S. 95, 97. 116 Jürgens, Amtsbuch Walsrode (wie Anm. 113), S. 36 (Urkunde von 1493).

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Hochaltars formuliert wird, ecclesia cenobii parrochialis in Walsrode.117 Ähnliches war schon eingangs über die Stiftskirche St. Bartholomäus in Frankfurt zu lesen gewesen, deren repräsentativen Pfarrturm, an dem seit 1415 gebaut wurde, die gemeinsam von Stift und Rat verwaltete Kirchenfabrik finanzierte. *** Damit ist der Kreis geschlossen: Ausgenommen die Kirchen der Zisterzienser, sicher auch der Grammontenser, der Kartäuser sowie der männlichen Bettelorden, konnten Kloster- und Stiftskirchen gleichzeitig sowohl Konvents- als auch Pfarrkirche sein. Wenn Kommunitäten an bereits bestehenden Pfarrkirchen gegründet wurden, haben diese ihre Funktion für die Gemeindeseelsorge in der Regel bewahrt. Die jeweiligen Verhältnisse sind aber verschieden und von Fall zu Fall zu prüfen. Die überörtliche Forschung hat die Möglichkeit der auch pfarrkirchlichen Funktion einer Klosterkirche bislang eher vernachlässigt: Sie hatte vorrangig das zönobitische Ideal der Scheidung von der Welt im Blick. Sobald die Klosterkirche auch als Pfarrkirche diente, war sie als Mittelpunkt der Pfarrei aber geradezu ein Schnittpunkt von Kirche und Welt.118

117 Lüneburger Urkundenbuch, hrsg. von Wilhelm Frhr. von Hodenberg, Abt. 15: Archiv des Klosters St. Johannis zu Walsrode, Celle 1859, S. 228f. Nr. 337 (Urkunde von 1496, die nun noch den Termin des Kirchweihtages auf Sonntag nach Johannis bestimmt). Dieter Brosius, Walsrode, in: Germania Benedictina, Bd. XI: Norddeutschland. Die Frauenklöster in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen, bearb. von Ulrich Faust OSB, St. Ottilien 1984, S. 534–541, hier S. 537, nennt als Datum eines Großbrands das Jahr 1482. 118 Vgl. Albert Werminghoff, Verfassungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittelalter, 2. Aufl. 1913 (ND 1991), S. 160. Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 2, Lfg. F), Göttingen 1988, S. 34.

II. Pfarreinkünfte

Von der klösterlichen Eigenkirche zur Inkorporation in Lothringen und Nordfrankreich im 11. und 12. Jahrhundert*

Im Jahre 1102 wurde die Marienkirche in Insmingen (aecclesia … apud Asmingiae villam) in der Diözese Metz von Graf Dietrich II. von Bar dem Benediktinerkloster Saint-Mihiel an der Maas mit allem Zubehör für immer (ex integro cum omnibus appendiciis … perpetualiter) übereignet, nachdem die an ihr lebenden clerici allen Mahnungen zum Trotz ihren Lebenswandel nicht geändert hatten1. Die Kirche, an der eine Klerikergemeinschaft lebte, als sie durch die gräfliche Schenkung klösterliche Eigenkirche wurde, wird knapp ein Jahrhundert später im Jahre 1197 als parrochialis aecclesia bezeichnet. In diesem Jahre hat sie Bischof Bertram von Metz nebst einem Zehntdrittel sowie ihren gesamten Oblationen und Zuwendungen und allem Zubehör den Mönchen von Saint-Mihiel verliehen2. Die Mönche, so führt die darüber ausgefertigte Urkunde näher aus, seien seit alters her Gründer (fundatores) der Kirche und rechtmäßige Besitzer von zwei Dritteln des Zehnten gewesen. Die jetzige Verleihung sei erfolgt mit der Zustimmung des zuständigen Archidiakons zu freiem und ungeschmälertem * Dem Aufsatz liegt ein vor dem Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte e. V. am 7. 10. 1987 auf der Insel Reichenau gehaltener Vortrag zum Thema »Probleme des Niederkirchenwesens im Mittelalter« zu Grunde, vgl. Protokoll über die Arbeitstagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte v. 6.-9. 10. 1987 (Masch.), und war zur Veröffentlichung in einem Band der »Vorträge und Forschungen« vorgesehen. Da es dem Herausgeber Herrn Peter Johanek (Münster) im September 1991 zweifelhaft schien, ob der Band jemals publiziert werden könnte, hat er der Bitte um Freigabe des Manuskripts zur Veröffentlichung an dieser Stelle dankenswerterweise stattgegeben. Erstveröffentlichung in: Revue d’Histoire Ecclésiastique 87 (1992) S. 34–72, 375–404. 1 André Lesort, Chronique et chartes de l’abbaye de Saint-Mihiel (Mettensia, 6), Paris, 1912, S. 202 Nr. 59. 2 Lesort, Saint-Mihiel (wie Anm. 1), S. 406 Nr. 139: … parrochialem aecclesiam Sanctae Mariae de Asmanges, de qua vos fundatores antiquitus et duarum partium decimae legitimi possessores extiteratis, terciam quoque ipsius decimae partem, oblationes et obventiones aecclesiae ipsius universas ceteraque omnia ad ipsam ubique pertinentia … in perpetuum libere et quiete possidenda concedimus, eo scilicet modo, quod vos in ea vicarium constituetis, ei benefitium de quo honestam valeat habere sustentationem assignantes et inde synodalia et alia, que ad aecclesiae nostrae (sc. der Metzer Kirche) iura pertinent, etiam possit exsolvere.

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Besitz und mit der Maßgabe, daß die Mönche einen Vikar anstellten und ihm ein solches Benefizium zuwiesen, von dem dieser einen angemessenen Unterhalt beziehen, die Synodalabgaben leisten und allen rechtmäßigen bischöflichen Ansprüchen genügen könnte. Unzweifelhaft ist mit der Urkunde von 1197 die Pfarrkirche Insmingen der Abtei Saint-Mihiel inkorporiert worden: Aussteller der Urkunde war der Ordinarius loci. Der Archidiakon hatte der Verleihung zugestimmt. Seit dem Jahre 1102 war die Kirche Insmingen im Besitz des 1197 erneut mit ihr begabten Klosters gewesen. Wenn seine Mönche 1197 als fundatores der Pfarrkirche Insmingen bezeichnet wurden, dann hat der Verfasser der Urkunde offenbar eine Anleihe beim kanonischen Recht gemacht. Gratian hatte in seinem Dekretbuch die Rechte der fundatores an deren Kirchen erörtert, dabei freilich allein die laikalen Eigenkirchenherren und nicht die kirchlichen Institutionen im Blick gehabt3. Hinsichtlich des Besitzrechtes von Klöstern und Stiften an ihren Kirchen sprach Gratian von einem ius territorii, das seiner Lehre zufolge das Recht auf die Investitur der Priester seitens des Klosters nicht mit einschloß4. Zwei Drittel des Zehnten von Insmingen besaßen die Mönche von Saint-Mihiel bereits als klösterliche Eigenkirchenherren. Das dritte Drittel hatten sie bestimmt deshalb bisher nicht nutzen können, weil es dem Seelsorger der Pfarrei zugestanden hatte5. Die Verleihung dieses letzten Zehntdrittels sowie aller Oblationen und Einkünfte hatte zum Ziel, sämtliche Nutzungsrechte an der Kirche den Mönchen zu übertragen. Freilich sollten sie einen Vikar anstellen, der die Seelsorge wahrnahm. Sein Benefizium wurde im Umriß beschrieben, aber nicht detailliert bestimmt.

Die Inkorporation: Definition und Zweck Insmingen ist im Jahre 1197 der Benediktinerabtei Saint-Mihiel inkorporiert worden. Unter einer Inkorporation wird hier und im folgenden jener in der Regel vom Ortsbischof und gelegentlich von dem für die Kirche zuständigen Archidiakon vollzogene Rechtsakt verstanden, durch den das Nutzungsrecht am Pfründegut (Beneficium) einer Kapelle, einer Filial- oder Pfarrkirche an eine

3 C. 16 q. 7 und Dictum post c. 30 C. 16 q. 7, vgl. Peter Landau, Ius patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, 12), Köln-Wien, 1975, S. 4. 4 C. 16 q. 5*. Vgl. Landau, Ius patronatus (wie Anm. 3), S. 47. 5 Vgl. unten bei Anm. 146.

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Kommunität – Kloster, Stift, Hospital und später auch Universität – verliehen wurde, welche die betreffende Kirche bereits zu Eigen besaß6. Inkorporationsurkunden wie diejenige von 1197 für Saint-Mihiel sind seit dem Ende des 12. Jahrhunderts in Deutschland auch außerhalb Lothringens bekannt. Allerdings ist ihre Verbreitung bisher nur für die Bistümer Passau, Regensburg, Salzburg, Augsburg und für das ehemalige kölnische Westfalen näher untersucht worden7. Auch im Bistum Utrecht sind Inkorporationsurkunden seit dem Jahre 1181 und insbesondere aus dem 13. Jahrhundert überliefert8. Zweck der Inkorporation war es, dem begünstigten Institut in vermögensrechtlicher Hinsicht einen Vorteil zu gewähren. Durch die Einverleibung wurde ein Kloster zum Nutznießer der Präbende an der betreffenden Kirche abzüglich des Benefiziums für den Vikar, für das nach den entsprechenden Dekretalen Alexanders III. und Innozenz’ III. die Bezeichnung Kongrua üblich wurde9. Durch die Einverleibung trat das Stift oder Kloster an der inkorporierten Kirche in die Stellung des Pfarrherrn ein. Bereits mehrere Jahrzehnte, bevor Innozenz IV. in seinem Dekretalenapparat zu Kanon 61 des IV. Laterankonzils dieses Rechtsverhältnis mit der juristischen Fiktion erfaßte, das begünstigte Institut werde als Prälat der inkorporierten Kirche vorgestellt10, findet sich die Anschauung, daß das Kloster in Gestalt des Abtes an der inkorporierten Pfarrkirche die Stellung des Pfarrherrn innehatte, in oberlothringischen Urkunden.

6 Vgl. Dominikus Lindner, Die Inkorporation im Bistum Regensburg während des Mittelalters, in: Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, 67, Kanonistische Abteilung, 36 (1950), S. 252. Ders., Zur Inkorporationsfrage, in: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht, 3 (1952), S. 33. Peter Landau, Inkorporation, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 16, BerlinNew York, 1987, S. 163–166. 7 Lindner, Regensburg (wie Anm. 6), S. 205–327. Ludwig Wahrmund, Das Patronatsrecht und seine Entwicklung in Österreich, 2 Bde., Wien, 1894–1896, Bd. 1, S. 138ff. Wilhelm Zedinek, Die rechtliche Stellung der klösterlichen Kirchen, insbesondere Pfarrkirchen, in den ehemaligen Diözesen Salzburg und Passau und ihre Entwicklung bis zum Ausgang des Mittelalters, Passau, 1929. Rudolf Hohl, Die Inkorporation im Bistum Augsburg während des Mittelalters. Diss. phil., Freiburg i. Br., 1960 (Masch.), insbes. S. 58ff. Wilhelm Mauren, Über die Kircheninkorporationen des Mittelalters im Herzogtum Westfalen. Diss. iur., Münster, 1943 (Masch.). 8 R. R. Post, Eigenkerken en bisschoppelijk gezag in het dioces Utrecht tot de XIIIe eeuw (Bijdragen van het instituut voor middeleeuwsche geschiedenis der Rijks-Universiteit te Utrecht, 13), Utrecht-Leipzig-München, 1928, S. 144ff. 9 X 3.5.12 (1164–79). X 1.10.2 (1199). X 3.5.30 (= c. 32 des Lateranense IV). Vgl. Julius Bombiero-Kremenac´, Geschichte und Recht der »portio congrua« mit besonderer Berücksichtigung Österreichs, in: Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, 42, Kanonistische Abteilung, 11 (1921), S. 42ff.

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Inkorporationen in Oberlothringen im 12. Jahrhundert Im Jahre 1173 verlieh der Elekt Friedrich von Metz der Äbtissin und der Abtei von Saint-Pierre-aux-Nonnains die Pfarrkirche (barrochialem ecclesiam) Saint-Vit, que ante portam vestram sita iure fundatoris ad vos pertinere cognoscitur, vobis et ecclesie vestre iure proprii pastoris perpetuo, libere et quiete possidendam, damit dem Mangel des Konventes abgeholfen werde (inopiam sublevari)11. Des weiteren ist in derselben Urkunde von der Besoldung eines Vikars (presbiter, qui vester ibi vicarius erit), von dessen Präsentation bei Archidiakon und Bischof, von der Verleihung der cura animarum an ihn sowie von anderen seine Stellung betreffenden Regelungen die Rede. Da die Pfarrkirche bereits in klösterlichem Besitz war, steht fest, daß sie im Jahre 1173 durch das bischöfliche Privileg dem Kloster inkorporiert worden ist. Die Abtei Saint-Pierre sollte die Pfarrkirche von nun an nach dem Recht eines proprius pastor besitzen. Bereits im Jahre 1169 hatte Friedrichs Vorgänger Bischof Dietrich dem Marien- und Theobald-Stift in Metz die Kirche (parrochialis ecclesia) von Mars-laTours inkorporiert, das Benefizium des Vikars bestimmt und für den Fall, daß bei säumiger Zinszahlung – offenbar der Kanoniker an den Archidiakon – die Kirche versiegelt würde (si pro censu negligenter retento ecclesia forte sigillata fuerit), festgelegt, daß die fratres … tamquam proprii pastores ecclesie super hoc tam episcopo quam archidiacono respondere habebunt12. Als im Jahre 1172 den Augustinerchorherren von Salival die Kirche (ecclesia) Dommartin inkorporiert und nicht ihnen selber, sondern ihrem Vikar die Seelsorge übertragen wurde, legte Bischof Friedrich von Metz fest: Vos synodos observabitis, vos iura synodalia persolvetis, vos cuncta ad proprium pastorem spectantia tam pro vobis quam pro ovibus vestris administrabitis. Der Vikar hingegen sollte allein für eigene und nicht für Vergehen seiner Gemeinde dem Archidiakon und dem Bischof Rechenschaft schuldig sein13. Hier war durch die Inkorporation das Stift Pfarrherr der einverleibten Kirche nicht nur in vermögensrechtlicher Hinsicht geworden; vielmehr sollte es dem Bischof auch für die Seelsorge und die Kirchenzucht in Dommartin verantwortlich sein, obwohl diese faktisch von einem Vikar wahrgenommen wurden. 10 Innocentii quarti pontificis maximi super libros quinque decretalium, c. 31 (In Lateranensi X 3.5) de praebendis v. pleno, Francofurti ad Moenum, 1570, S. 366va: sed tantum alia ecclesia fingitur praelatus illius ecclesiae. 11 Michel Parisse, Hrsg., 1. Les évêques de Metz. C. Thierri III, Ferri, Thierri IV 1163–1179 (Actes des princes lorrains. 2ème série. Princes ecclésiastiques), Nancy, 1977, S. 77 Nr. 41; Druck bereits bei Martin Meurisse, Histoire des évêques de l’église de Metz, Metz, 1634, S. 423. 12 Parisse, Metz (wie Anm. 11), S. 34 Nr. 15. 13 Parisse, Metz (wie Anm. 11), S. 74 Nr. 38; Charles Louis Hugo, Sacri et canonici ordinis Praemonstratensis Annales, 2 tom., Nanceii, 1734–1735, t. 1,2, prob. Sp. CCCCLVII f.

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Zu den seit der Karolingerzeit beschreibbaren Rechten und Pflichten eines proprius sacerdos und namentlich zu seinem Recht, die Beichte abzunehmen und den Pfarrzwang auszuüben, hat Joseph Avril eine Studie vorgelegt14, die jedoch auf die Stellung eines mit einer Inkorporation bedachten Klosters als Pfarrherrn nicht eingeht. In vorliegendem Zusammenhang, in dem in aller Kürze der Zweck der Inkorporation zu umreißen ist, belegen die angeführten Urkunden, daß nach der Auffassung eines oder mehrerer Metzer Notare bereits der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts das durch eine Einverleibung begünstigte Stift oder Kloster an der ihm inkorporierten Kirche die Stellung eines Pfarrherrn (proprius pastor) innehatte. Dominikus Lindner hat für Südostdeutschland einen den lothringischen Urkunden vergleichbaren Text nachgewiesen, der allerdings sehr viel jünger ist; er stammt erst aus dem Jahre 137415.

Inkorporationen in Oberlothringen im 11. Jahrhundert Während bisher Urkunden angeführt worden sind, welche – und zwar in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts – das Rechtsverhältnis der Einverleibung gestiftet haben, soll im folgenden auf ein in den neunziger Jahren des 12. Jahrhunderts bereits bestehendes Inkorporationsverhältnis eingegangen werden. Seine Betrachtung führt zu dem Problem, seit wann in Lothringen und in Nordfrankreich das Phänomen der Inkorporation nachzuweisen ist. Im Suburbium der Abtei Saint-Mihiel (Diözese Verdun) lag die Pfarrkirche (parrochialis ecclesia) St. Stephan, deren Geistlicher (clericus) mit dem Abt über den Umfang seiner Präbende im Streit lag, so daß im Jahre 1194 Bischof Albert von Verdun regelnd eingreifen und das Benefizium des Klerikers detailliert beschreiben mußte. Zu dessen Präbende sollten unter anderem 150 Zehnt-Garben zählen, 15 Garben Hanf, zwei Maß Wein, je zwei Ferkel und Lämmer, sodann die Stolgebühren von Beichte, Taufe, der Rekonziliation von Wöchnerinnen, von Heiraten und Leichenbegängnissen und bei Privatmessen die Oblationen bis zu einem Betrag von drei Pfennigen. Von allem anderen, worunter vor allem die nicht aufgeführten Meßoblationen namentlich an Sonntagen und Hochfesten zu verstehen sind, sollte der Geistliche ein Viertel erhalten. Alles übrige ging an den 14 Joseph Avril, A propos du ›proprius sacerdos‹: Quelques réflexions sur les pouvoirs du prêtre de paroisse, in: Proceedings of the Fifth International Congress of Medieval Canon Law (Monumenta iuris canonici. Series C. Subsidia, 6), Città del Vaticano, 1980, S. 471–486. 15 Urkundenbuch des Landes ob der Enns, 11 Bde., Wien, 1852–1956, Bd. 8, S. 698 Nr. 688: … die vorgenannten briester, die den ordenn zu Pulgarn ann sich genombenn habenn, die ehegenannte pfarrkirchenn … besitzenn und besingen sollenn und pfarrherr da sein sollenn unnd innhabenn sollenn mit inn selber oder mit laybriestern. Lindner, Zur Inkorporationsfrage (wie Anm. 6), S. 38 Anm. 28.

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Abt; denn dieser war der proprius pastor der Pfarrkirche16. Der Kleriker kann daher nur ein Vikar und die Kirche, an der er tätig war, dem Kloster inkorporiert gewesen sein. Der Bischof von Verdun hat hier im Jahre 1194 keine Inkorporation vollzogen, sondern in ein bestehendes Inkorporationsverhältnis eingegriffen, um ein Einvernehmen über die Kongrua des Vikars zu erzielen. Die Einverleibung muß daher schon früher erfolgt sein. Dem Text von 1194 zufolge hatte sich bereits Bischof Heinrich von Verdun (1181–1186) mit der Angelegenheit befassen müssen. Aber auch dieser hat die Inkorporation nicht vorgenommen; denn nach einer auf die Jahre 1145 bis 1152 zu datierenden Notitia wurde bereits damals zwischen dem Abt und dem Geistlichen an St. Stephan eine Einigung über den Umfang der Präbende erreicht. Diese Urkunde bezeichnet den Geistlichen als vicarius; seine Präbende hatte im wesentlichen denselben Umfang wie jene seines Nachfolgers im Jahre 1194: Drei Viertel der Oblationen gingen an den Abt, während der Vikar das restliche Viertel und nur bei Taufen, Beichten, der Rekonziliation, bei Privatmessen und Eheeinsegnungen alle Gaben bezog17. Aus der 16 Lesort, Saint-Mihiel (wie Anm. 1), S. 398 Nr. 135: Ego Albertus … compositionem … terminavi inter domnum abbatem Sancti Michaelis, proprium pastorem parrochialis ecclesiae Sancti Stephani, et Hugonem clericum … Hugo itaque suscipiet messem CL gelinarum, unde quarta pars erit frumenti, quarta pars siliginis, cetera tremesii; suscipiet etiam XV manipulos de cannava et duos sextarios vini pro commendatione decimarum, et duos porciculos, et duos agnos, et beneficia confessionum et baptizandorum, et reconciliationem mulierum, de nuptiis vero bannum et missas, et duas tantum sponsi et sponse oblationes, oblationes etiam peregrinorum singulariter ab eo peras et baculos accipientium, et deductus mortuorum et elemosinas albatorum absque oblationibus. In privatis etiam missis, que pro defunctis celebrabuntur, si unus singulariter nummus oblatus fuerit, eiusdem Hugonis erit; si vero duo vel si etiam tres, ipsius nichilominus erunt; si autem usque ad quatuor nummos vel amplius oblatio creverit, quarta parte Hugo contentus erit. Preter ista in omnibus aliis nihil penitus preter quartam partem accipiet; reliqua vero abbas, qui proprius pastor est, libere … possidebit … Nos itaque compositionem istam, in presentia domni Henrici predecessoris nostri factam et modo in presentia nostra recognitam, laudamus et approbamus … Zu den Gaben bei Gelegenheit der Beichte, der Eheschließung, der Rekonziliation der Wöchnerinnen, der Segnung von Pilgerbörse (pera) und Pilgerstab und der Beerdigung von gerade getauften Kindern (albati) vgl. Georg Schreiber, Kurie und Kloster, 2 Bde. (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 65–68), Stuttgart, 1910, Bd. 2, S. 149ff., Ders., Mittelalterliche Segnungen und Abgaben, in: Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, 63, Kanonistische Abteilung, 32 (1943), Wiederabdruck in Ders., Gemeinschaften des Mittelalters (Gesammelte Abhandlungen, 1), Münster, 1948, S. 244f. Ders., Liturgie und Abgabe. Bußpraxis und Beichtgeld an französischen Niederkirchen des Hochmittelalters, in: Historisches Jahrbuch, 76 (1957), S. 6–8. Michel Parisse, Recherches sur les paroisses du diocèse de Toul au XII siècle: L’église paroissiale et son desservant, in: Le istituzioni ecclesiastiche della »Societas christiana« dei secoli XI–XII. Diocesi, pievi et parrocchie (Miscellanea del Centro di Studi medioevali, 8), Milano, 1977, S. 565f. 17 Lesort, Saint-Mihiel (wie Anm. 1), S. 324 Nr. 95: Vicarius, qui et capellanus eiusdem abbatis, hoc habebit proprii iuris: quicquid in confessionibus, in baptisteriis, in feminarum iacentium reconciliationibus et in privatis missis acceperit, totum sui iuris erit; oblatio, quam post

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Oblationenteilung, der Präbendenzumessung und der Bezeichnung des funktionierenden Geistlichen als vicarius ist zu schließen, daß auch im Jahre 1145/ 1152 die Pfarrkirche St. Stephan dem Benediktinerkloster Saint-Mihiel bereits inkorporiert gewesen ist. Die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Einverleibung vollzogen worden sein könnte, führt zurück bis in das 11. Jahrhundert. Im Jahre 1068/69 hat Bischof Dietrich von Verdun dem Kloster Saint-Mihiel das altare ecclesiae, que ibi est in suburbio, ei loco (sc. dem Kloster) perpetuo habendum verliehen und verfügt: Predictum igitur altare ab omni episcopi iure liberum esse concessi, ut exceptis exeniis nichil ultra episcopus pro eo exigeret, sed sine omni precio secundum abbatis voluntatem sacerdotem inibi collocaret18. Der Bischof verlieh dem Kloster das altare der im Suburbium gelegenen Kirche, bei der es sich nur um die später unter dem Namen des hl. Stephan bezeugte Pfarrkirche handeln kann, befreite es offensichtlich von der redemptio altarium19 und gewährte dem Abt das Präsentationsrecht für den an der Kirche amtierenden Geistlichen. Mit Sicherheit ist spätestens durch dieses Privileg die Stephanskirche eine klösterliche Eigenkirche geworden. Ob es sich bei der Urkunde bereits um ein Inkorporationsprivileg handelt, was die Verleihung des altare der Kirche nahelegen könnte20, ist offen zu lassen. Doch spätestens in den Jahren nach 1068/69 und vor 1145/52 ist die Stephanskirche inkorporiert worden. Daß es in Oberlothringen bereits im 11. Jahrhundert Inkorporationen gegeben hat, lehrt der Blick auf zwei weitere Urkunden für Saint-Mihiel. Im Jahre 1088 hat Bischof Pibo von Toul dem Priorat der Abtei Saint-Mihiel in Bar-le-Duc die dortige Marienkirche verliehen, ea tamen conventione interposita, ut Teodericus, ipsius ecclesiae pastor, tota vita sua pastoris privilegium retineret, nisi Dei amore et monachorum dilectione spontaneus relinquere vellet. Post hunc vero Teodericum dotem cum decimis, luminaria cum oblationibus et elemosinis … monachis concessimus, und zwar mit der Maßgabe, daß der Abt oder der Konvent dem Archidiakon eine geeignete Person (congruam personam) präsentierten, welche benedictionem in eodem primo die et in tercio sponsus et sponsa proprie obtulerint, capellani propria erit, sed de oblatione parentum et amicorum vel quorumlibet, qui tunc simul obtulerint, quartam partem habebit. De omnibus autem iusticiis sextarium vini tantummodo habebit. Ceterum in omnibus oblationibus et elemosinis et in omnibus beneficiis, quecumque et quomodocumque ad parrochiam provenerint, abbas ex integro tres partes habebit, et quartam capellano dabit. 18 Lesort, Saint-Mihiel (wie Anm. 1), S. 149 Nr. 38. Bei den exenia dürfte es sich um das alljährlich an den Bischof von den Niederkirchen zu entrichtende cathedraticum handeln, vgl. N.-N. Huyghebaert, Saint Léon IX et la lutte contre la simonie dans le diocèse de Verdun, in: Studi Gregoriani, 1 (1947), S. 428. Zum cathedraticum vgl. Schreiber, Kurie und Kloster (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 80–82, Post, Eigenkerken (wie Anm. 8), S. 113–116. 19 Vgl. unten bei Anm. 63ff. 20 Vgl. unten bei Anm. 71–78.

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die cura animarum vom Bischof empfangen sollte21. Kirchendos und Zehnten, Lichter, Oblationen und Spenden fallen dieser Urkunde zufolge nach Verzicht, Weggang oder Tod des derzeitigen Pfarrers Dietrich, welcher das pastoris privilegium besitzt, an das Kloster Saint-Mihiel beziehungsweise an dessen in Bar-leDuc bestehende Zelle. Daß hier eine Inkorporation vollzogen worden ist, zeigt das Jahr 1119/1121, in dem Bischof Richwin von Toul dem Kloster den Besitz der Pfarrkirche in Bar-le-Duc bestätigte und die Präbende des an ihr tätigen Geistlichen bestimmte; dieser Geistliche wird als Vikar bezeichnet. Er sollte als Präbende ein Viertel aller Oblationen genießen und die Gaben und Oblationen bei Privatmessen zur Gänze und vom Garben- und Kleinzehnt wiederum ein Viertel erhalten; Wachs- und Kerzengaben gingen vollständig an das Kloster wie auch alle der Kirche geschenkten Immobilien22. Eine Urkunde aus Gorze zeigt, daß die für Saint-Mihiel zu Ende des 11. und zu Anfang des 12. Jahrhunderts bezeugten Inkorporationen keine Einzelfälle sind. Im Jahre 1064 gab Bischof Dietrich von Verdun dem Gorzer Priorat Amel die Kirchen (altaria) in Jeandelize und Domprix; die Kirche Jeandelize, etwa auf halbem Wege zwischen Amel und Gorze in jeweils etwa 12 Kilometer Entfernung gelegen, ist schon im Jahre 903 als Gorzer Eigenkirche bezeugt23. Bischof Dietrich legte im Jahre 1064 fest, daß die im Priorat Amel lebenden Brüder die beiden Altäre für immer besitzen sollten: … personis morientibus, quae illis duobus locis deserviunt, liceat preposito loci conducere vicarium quem voluerit, officio idoneum, et facta conventione presentare archidiacono ad curam animarum sine ullo tamen precio suscipiendam promovendum. Des weiteren sollte gegenüber dem Send des Archidiakons der Prior (prepositus et prior) pflichtig sein und das

21 Lesort, Saint-Mihiel (wie Anm. 1), S. 171 Nr. 46. 22 Lesort, Saint-Mihiel (wie Anm. 1), S. 254 Nr. 71: Confirmamus itaque tibi tuaeque in perpetuum possidend(um) ecclesiae altare parrochiale de Barrovilla, quod aecclesiae tuae beatae memoriae predecessor noster Pibo episcopus cum omni integritate legitime donavit ad usum monachorum ibi … famulantium. Sane vicarius inde presbiter tuo tuorumve conductu successorum concilio presentabitur et a Tullensi episcopo, qui fuerit, curam animarum suscipiat, a te autem tuove successore prebenda investietur tibique tuisve fidelitatem successoribus faciet. Prebenda autem presbiteri nunc et in futurum haec erit: Quarta pars eorum omnium mobilium, quae ad altare offerentur; sane si res immobilis aut fundus offeretur, id totum sine partitione, cera etiam cum candelis monachorum erit. Si defunctus extraneus in locum sepeliendus afferetur et fundum, domum, archam, lectos forte obtulerit, monachorum tantum erit; per cetera presbiter quartum partietur. Idem presbiter in privata quam cantabit missa forte offeretur vel in confessionibus seu baptisteriis aut in sepultura albatorum VIIII dierum superstitum, panes etiam et candelae nuper nuptarum vel mulierum partu resurgentium, totum presbiteri sine conparticipe erit; in garbis et minutis decimis quarta portione contentus erit. Qui siquidem presbiter episcopo et archidiacono ac decano de omnibus reditibus et consuetudinariis aecclesiae exactionibus solus respondebit. 23 Armand d’Herbomez, Cartulaire de l’abbaye de Gorze (Mettensia, 2), Paris, 1898, S. 155 Nr. 86.

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schuldige Servitium leisten24. Laut dieser Urkunde darf also der Prior nach seinem Ermessen einen geeigneten Vikar anwerben (conducere), mit ihm einen Vertrag schließen (conventionem facere), der – wie andere Fälle zeigen werden25 – zweifellos den Umfang der Vikarspräbende zum Gegenstand hat, und soll danach den Kleriker dem Archidiakon zum Empfang der cura animarum präsentieren, die ohne Geld, wahrscheinlich ohne die redemptio altarium, zu verleihen sei. Hier werden Vikare deshalb tätig, weil die klösterlichen Eigenkirchen, an denen sie funktionieren sollten, dem Kloster inkorporiert worden sind. Das bischöfliche Privileg von 1064 für Gorze ist daher eine Inkorporationsurkunde. Allerdings knüpft sie die Inkorporation der zwei Kirchen an die Bedingung, daß sie jeweils erst nach dem Tode jener personae, welche derzeit Jeandelize und Domprix versehen (quae illis duobus locis deserviunt), vollzogen werden soll. Diese personae sind also Geistliche, und die Urkunde bietet keine Handhabe, in ihnen jemand anders zu erblicken als die derzeit dort amtierenden Ortsgeistlichen. Diesen Befund aus dem Jahre 1064 gilt es für die folgenden Ausführungen im Auge zu behalten.

Bisherige Datierung der frühesten Inkorporationen Nach der überwiegenden Meinung deutschsprachiger Autoren, die sich – von Peter Landau abgesehen26 – vornehmlich auf Urkunden des eingangs angeführten Typs stützen, ist das Institut der Inkorporation allenfalls im 12. Jahrhundert entstanden und erst seit dem 13. Jahrhundert zur Blüte gelangt27. Allerdings hat Dominikus Lindner bemerkt, daß sich die Synode von Lillebonne in 24 d’Herbomez, Gorze (wie Anm. 23), S. 238 Nr. 137. 25 Vgl. unten bei Anm. 170ff. 26 Landau, Inkorporation (wie Anm. 6) und Ders., Die Inkorporation als Problem der kirchenrechtshistorischen Forschung, Protokoll über die Arbeitstagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte v. 6.-9. 10. 1987, S. 35f. (Masch.). 27 Vgl. Franz X. Barth, Hildebert von Lavardin (1056–1133) und das kirchliche Stellenbesetzungsrecht (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 34–36), Stuttgart, 1906, S. 241. Lindner, Regensburg (wie Anm. 6), S. 224ff. Ders., Die Lehre von der Inkorporation in ihrer geschichtlichen Entwicklung, München, 1951, S. 14f. Ders., Zur Inkorporationsfrage (wie Anm. 6), S. 36. Ders., Inkorporation, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, Freiburg i. Br., 1960, S. 680f. Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, 4 Bde., Wien-München, 1–2, 2. Aufl. 1960–1962, 3–4, 1959–1966, Bd. 2, S. 417. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, Köln-Wien, 5. Aufl. 1972, S. 399ff. mit Anm. 11. Vgl. auch die Arbeiten oben unter Anm. 7. – Anders jedoch Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland. System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, 6 Bde., Berlin, 1869–1897 (ND Graz, 1959), Bd. 2, S. 436ff., der die Entstehung der Inkorporation schon in das 9. Jh. datiert. – Der Beginn der Praxis von Inkorporationen bleibt undeutlich bei H. Zapp, Inkorporation, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Lfg. 2, München-Zürich, 1990, Sp. 427f.

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der Normandie im Jahre 1080 in ihrem Kanon 12 mit den Folgen beschäftigte, welche als Inkorporationen zu deutende Kirchenübertragungen für die an den einverleibten Kirchen tätigen Geistlichen zeitigen konnten28. Offenbar wurde diesem Hinweis bisher nicht nachgegangen. Schließlich waren schon Arnold Pöschl in Reimser Urkunden des 11. und 12. Jahrhunderts Formulierungen aufgefallen, welche ihn an Inkorporationen denken ließen; Pöschl hat sich aber mit ihnen nicht näher beschäftigt und sich vor allem deshalb den Weg zu einer angemessenen Deutung versperrt, weil er meinte, eine »eigentliche Inkorporation« und »Inkorporationen im engeren Sinne« erst seit der Mitte des 13. Jahrhunderts annehmen zu dürfen29. Die französische Forschung dagegen rechnet, ohne in nähere Untersuchungen eingetreten zu sein – abgesehen von der soeben vorgelegten Pariser Thèse von Bernhard Delmaire30 –, mit Inkorporationen seit dem 10. Jahrhundert. Freilich gelten auch ihr das 13. und das 14. Jahrhundert als die eigentliche Zeit des Inkorporationsinstituts31. Das sich so oft auf französische Quellen stützende 28 Mansi 20 col. 557: Si donatur monachis ecclesia, presbyter, qui eiusdem tenet ecclesiam, honorifice teneat quicquid de eadem ecclesia haberet antequam monachi eam haberent. Et tanto melius, quanto sanctioribus associatur hominibus. Eo autem mortuo vel aliquatenus deficiente abbas idoneum quaerat presbyterum … Si vero presbyter cum monachis religiose vivere voluerit, videat ut ecclesia, quam episcopali licentia intravit, honeste tractetur, tamen in vestimentis quam libris et caeteris ecclesiae serviendae necessariis secundum eiusdem ecclesiae facultatem. Quod si presbyter cum monachis vivere noluerit, tantum ei det abbas de bonis ecclesiae unde et bene vivere et ecclesiae servitium convenienter valeat adimplere … Presbyter vero episcopo suo iuste sit subditus et episcopales redditus persolvat. Quae vero superabundant, in usus monasterii sui abbas habeat. Hoc idem in ecclesiis canonicorum observetur. Lindner, Die Lehre von der Inkorporation (wie Anm. 27), S. 1 Anm. 1. Vgl. auch Bombiero-Kremenac´, Portio congrua (wie Anm. 9), S. 35ff., der (S. 39f. Anm. 1) beiläufig ohne näheren Nachweis bemerkt, daß die Klöster im 11. und 12. Jh. ihren Reichtum auf die Einkünfte der ihnen einverleibten Kirchen gründeten. Zur Interpretation des obigen Kanons vgl. Lindner, Zur Inkorporationsfrage (wie Anm. 6), S. 36. 29 Arnold Pöschl, Die Inkorporation und ihre geschichtlichen Grundlagen, in: Archiv für Katholisches Kirchenrecht, 107 (1927), S. 48, 497, Zitate S. 556. Ders., Die Inkorporation und ihre geschichtlichen Grundlagen, in: Archiv für Katholisches Kirchenrecht, 108 (1928), S. 53 Anm. 1. 30 Bernard Delmaire, Le diocèse d’Arras du XIe au XIVe siècle. Thèse pour le doctorat d’État, Université Paris I, 1988, S. 126ff., S. 135ff. Herrn Michel Parisse (Nancy), der mich auf diese Arbeit aufmerksam machte und der auch sonst während seiner Jahre an der Mission Historique Française en Allemagne in Göttingen vielfältige Hinweise und Anregungen gab, und Herrn Bernard Delmaire, der mir die Benutzung seines Werkes gestattete, danke ich sehr. 31 Vgl. Pierre Imbart de la Tour, Les paroisses rurales du IXe au XIe siècle, Paris, 1900, S. 247f. Ursmer Berlière, L’exercice du ministère paroissial par les moines dans le haut moyen âge, in: Revue Bénédictine, 39 (1927), S. 349. Guillaume Mollat, in: Ferdinand Lot, Robert Fawtier, Histoire des Institutions françaises au Moyen Age, 3 tom., Paris, 1957–1962, t. 3, S. 215. Jean Gaudemet, Le Gouvernement de l’Eglise à l’Epoque Classique 2. Le Gouvernement local (Histoire du Droit et des Institutions de l’Eglise en Occident, 8,2), Paris, 1979, S. 288. Unklar bleibt der zeitliche Ansatz für die Entstehung des Inkorporationswesens bei A. Vanrie, Notes

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klassische Werk von Georg Schreiber zum Kloster- und Niederkirchenwesen sowie die während der letzten Jahre vorgelegten Untersuchungen von Jean Avril, Jean Becquet, Michel Parisse und Henri Platelle zum Niederkirchenwesen in Frankreich beziehungsweise Lothringen enthalten eine Fülle wichtiger Beobachtungen insbesondere zur Vermögenssituation des Pfarrklerus, unterscheiden dabei aber nicht, ob sich die von ihnen benutzten Quellen auf Vikare an inkorporierten Kirchen oder auf Pfarrer an klösterlichen Eigenkirchen beziehen32. In England hat G. W. O. Addleshaw beobachtet, daß eine große Zahl von Inkorporationen in der zweiten Hälfte des 12. und während des 13. Jahrhunderts vollzogen wurde33. Als älteste Stiftung von Vikarien und somit als älteste Inkorporation gilt ihm die Übereignung von vier Kirchen durch den Yorker Erzbischof Thomas (1109–114) oder dessen Nachfolger Thurstan (1114–1140) an das Benediktiner-Priorat Holy-Trinity, wobei dessen Brüder verpflichtet wurden, den an den Kirchen tätigen Geistlichen eine ausreichende Sustentation zu gewähren34. Christopher R. Cheney und B. R. Kemp konstatieren bei ihrer Beschäftigung mit dem niederen Klerus Englands zwar das Inkorporations- und Vikarswesen und sehen deren Anfänge im 12. Jahrhundert, jedoch wird das sur l’incorporation des églises paroissiales au moyen âge, in: Hommage au Professeur Paul Bonenfant (1899–1965), Bruxelles, 1965, S. 47–55. 32 Schreiber, Kurie und Kloster (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 49ff. Ders., Mittelalterliche Segnungen und Abgaben (wie Anm. 16), S. 224, 230–232, 244–248, 261. Joseph Avril, Le gouvernement des évêques et la vie religieuse dans le diocèse d’Angers (1148–1240), 2 tom., Lille, 1977, t. 1, S. 162–170. Ders., Recherches sur la politique paroissiale des établissements monastiques et canoniaux (XIe–XIIIe s.), in: Revue Mabillon, 59 (1976–80), S. 453–517. Jean Becquet, La paroisse en France aux XI et XII siècles, in: Le istituzioni ecclesiastiche della »Societas christiana« dei secoli XI–XII. Diocesi, pievi e parrocchie (Miscellanea del Centro di Studi medioevali, 8), Milano, 1977, S. 199–229, bes. S. 207ff. Parisse, Recherches paroisses Toul (wie Anm. 16), S. 559–570. Henri Platelle, Les paroisses du décanat de Lille au Moyen Age, in: Mélanges de science religieuse, 25,2 (1968), S. 67–88, 115–141. Ders., La paroisse et son curé jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Orientations de la recherche actuelle, in: Actes du 109e congrès national des sociétés savantes, Dijon, 1984. T. 1. L’encadrement religieux des fidèles au Moyen Age et jusqu’au Concile de Trente, Paris, 1985, S. 11–26. Vgl. auch Michel Aubrun, La paroisse en France des origines au XVe siècle, Paris, 1986. Marcel Pacaut, Recherche sur les revenus paroissiaux. L’exemple des églises »Clunisiennes« (10e–12e siècles), in: Histoire de la paroisse. Actes de la Onzième Rencontre d’Histoire Religieuse tenue à Fontevraud les 2 et 3 octobre 1987 (Université d’Angers. Centre de Recherches d’Histoire Religieuse et d’Histoire des Idées), Angers, 1988, S. 33–43, hier S. 37. 33 G. W. O. Addleshaw, Rectors, Vicars and Patrons in twelfth and early thirteenth century Canon Law, in: St. Anthony Hall Publications, 9 (1956), S. 8f., 14. Vgl. auch bereits R. A. R. Hartridge, A History of Vicarages in the Middle Ages, Cambridge, 1930, S. 25ff., 29f., 209ff. (hier mit Belegen des 12. Jh. auch aus Troyes, der Normandie und der Diözese Lüttich). 34 Addleshaw, Rectors (wie Anm. 33), S. 14. Die undatierte Urkunde ist jetzt gedruckt in English episcopal acta, vol. 5, York 1070–1154, ed. Janet E. Burton, Oxford, 1988, S. 27 Nr. 29: Th. dei gratia Ebor(acensis) archiepiscopus … Has autem omnes ecclesias concedo et confirmo predictis monachis tenendas et habendas in proprios usus sibi et successoribus suis imperpetuum, salva in eisdem ecclesiis competenti vicaria ei qui in ipsis ministrabit assignanda.

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jeweilige Recht, nach dem ein Benefizium besessen wurde, insbesondere von Kemp nur beiläufig berücksichtigt, während Cheney für die Zeit vor dem IV. Laterankonzil mit mindestens zweihundert bis dreihundert Vikarien in England rechnet35. In den Niederlanden, genauer im Bistum Utrecht, hat R. R. Post Inkorporationen zutreffend erst seit der Wende zum 13. Jahrhundert festgestellt36. Das steht im Einklang mit der allgemeinen Verbreitung des Inkorporationsinstituts in Deutschland, wenn auch eine vorläufige Durchsicht der Quellen erste vereinzelte Inkorporationen in der Erzdiözese Köln seit dem Jahre 1094, in der Erzdiözese Mainz seit 1123 und in der Erzdiözese Trier seit dem Jahre 1142 zu Tage gefördert hat37.

Ziel der Untersuchung Einigen der bisher angeführten Urkunden, denen weitere hinzugefügt werden können38, ist zu entnehmen, daß in Oberlothringen die Inkorporation bereits in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts bekannt gewesen ist. Im folgenden soll gezeigt werden, daß auch im Norden Frankreichs bereits seit der Mitte des 11. Jahrhunderts die Einverleibung von Niederkirchen in Klöster und Stifte weit verbreitet gewesen und in Niederlothringen seit der ersten Hälfte des 12. Jahr35 C(hristopher) R. Cheney, From Becket to Langton. English Church Government 1170–1213, Manchester, 1956, S. 122–136. B. R. Kemp, Monastic possession of parish churches in England in the 12th century, in: Journal of Ecclesiastical History, 31 (1980), S. 133–160, bes. S. 147. – Nach Ulrich Rasche, Vom »Consilium modernius« zur »res exosa«. Die Kircheninkorporation in England im 12. und 13. Jh., in: ZRG 115 KA 84 (1998) S. 1–93, sind Inkorporationen in England bereits seit um 1100 bezeugt, werden jedoch erst seit 1160–70 zu einer Massenerscheinung. 36 Post, Eigenkerken (wie Anm. 8), S. 85f., 150ff. 37 Erste Inkorporationen in der Erzdiözese Köln: Theod. Jos. Lacomblet, Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins, 4 Bde., Düsseldorf, 1840–1858, Bd. 1, S. 162 Nr. 251; Friedrich Wilhelm Oediger, Die Regesten der Erzbischöfe von Köln, Bd. 1, Bonn, 1954–1961, Nr. 1212 (1094). – Lacomblet Bd. 1 S. 173 Nr. 268; Richard Knipping, Die Regesten der Erzbischöfe von Köln, Bd. 2, Bonn, 1901, Nr. 40 (1106). – Lacomblet Bd. 1 S. 282 Nr. 41; Knipping Bd. 2 Nr. 827 (1165). – In Mainz: Manfred Stimming, Mainzer Urkundenbuch, Bd. 1, Darmstadt, 1932, S. 415 Nr. 513 (1123). – Peter Acht, Mainzer Urkundenbuch, Bd. 2,1–2, Darmstadt, 1968–1971, Bd. 2,1, S. 176 Nr. 91 (1146). – In Trier: Heinrich Beyer, Urkundenbuch zur Geschichte der jetzt die preußischen Regierungsbezirke Coblenz und Trier bildenden mittelrheinischen Territorien, 3 Bde., Koblenz, 1860–1874, Bd. 1, S. 583 Nr. 527 (1142). – Ebda., Bd. 2, 1865, S. 94 Nr. 54 (1182). 38 Pibo von Toul für Saint-Evre (1072), Luysiane Douche, Actes de Pibon et de Ricuin évêques de Toul de 1069 à 1124, Mém. Maît., Nancy, 1985, S. 86 Nr. 2; Migne PL 157 col. 419. Richer von Verdun für Saint-Paul (1094–1107), Jean-Paul Evrard, 3. Les évêques de Verdun A. Des origines à 1107 (Actes des princes lorrains. 2ème série. Princes ecclésiastiques), Nancy, 1977, S. 174 Nr. 85.

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hunderts geübt worden ist. Dabei sind die aus dem 11. und 12. Jahrhundert stammenden Urkunden der Erzbischöfe von Reims und der Bischöfe von Thérouanne, Arras, Noyon-Tournai, Cambrai, Lüttich und Utrecht die wichtigsten Quellen. Abgesehen von Utrecht und Reims39, gibt es für die genannten Bistümer keine Urkundenbücher, weshalb sich die Untersuchung auf Stichproben aus Chartulareditionen und Urkundenbüchern einzelner monastischer Gemeinschaften und Stifte und einige wenige Blicke in den Urkundenfonds von SaintRemi vor Reims beschränkt.

Das Vokabular in Bischofsurkunden der Kirchenprovinz Reims In den Urkunden der genannten Bistümer werden im 11. Jahrhundert Vikare an klösterlichen Eigenkirchen oder charakteristische Präbendenzumessungen, wie sie seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts aus Saint-Mihiel oder Gorze überliefert sind, nicht erwähnt. Dagegen wurden seit dem zweiten Drittel des 11. Jahrhunderts mit zunehmender Häufigkeit bis etwa zum Jahre 1200 von den Bischöfen den Klöstern Niederkirchen (altaria, ecclesie) verliehen unter Bedingungen, die bezeichnet werden als altare … concedere impersonaliter ([1034/35] Reims, 1109 Cambrai), als altaria … impersonaliter conferre (1106 Reims) oder als altaria … libere absque persona … contradere (1101 Noyon-Tournai)40. Die Formen, unter denen diese Kirchen von den Klöstern besessen werden sollten, werden beschrieben als personaliter … tenere (1103 Arras), als impersonaliter tenere (1100 und 1128 Reims), mit sine personis, sine redemptione tenere (1046 Cambrai), tenere absque personis et absque redemptione (1057 Cambrai und seitdem häufig 39 Patrick Demouy, Actes des archevêques de Reims d’Arnoul à Renaud II. (Recueil des actes de princes champenois. 1ère série. Les princes ecclésiastiques. Les archevêques de Reims), Thèse de troisième cycle, Nancy, 1982 (Masch.). Für die von Herrn Michel Parisse vermittelte Möglichkeit, diese Arbeit benutzen zu können, sage ich dem Autor meinen verbindlichen Dank. Dasselbe gilt für die Arbeit von Michèle Courtois, 59. Chartes originales antérieures à 1121 conservées dans le Département du Nord, Mém. Maît., Nancy, 1981 (Masch.). Schließlich konnte ich im Sommer 1991 dank des großen Entgegenkommens des Herrn Bearbeiters die in Vorbereitung befindliche Edition der Urkunden von Noyon-Tournai von Jacques Pycke, Actes des évêques de Noyon et de Tournai (VIIe s.–1146 (1148)), einsehen, deren (vorläufige) Nummern mit der freundlich gewährten Erlaubnis des Herrn Herausgebers den von mir benutzten älteren Editionen im folgenden beigegeben werden. 40 [1034/35] Reims: Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 15; Migne PL 142 col. 1405. – 1109 Cambrai: Charles Duvivier, Recherches sur le Hainaut ancien du VIIe au XIIe siècle, 2 tom., Bruxelles, 1865–1866, t. 2, S. 493 Nr. 97. – 1106 Reims: Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 144; Arch. dép. Marne, Annexe Reims, 56 H 1031, Cart. A von Saint-Remi fo 310v. – 1101 Noyon-Tournai: Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 169 Nr. 904; Charles Duvivier, Actes et documents inédits intéressant la Belgique, Bruxelles, 1898, S. 298; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 78.

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in allen nördlichen Diözesen der Kirchenprovinz Reims), per suppositam personam tenere (1143 Noyon-Tournai) oder ad personam … tenere (1099 Cambrai). Kirchen (altaria) waren oder wurden libera et inpersonata (1111 Cambrai); man konnte sie inpersonare (1110 Cambrai), und es konnte das Verbot einer repersonatio ausgesprochen werden (1113 Cambrai)41. Weiter erhielten die Klöster das Recht, ein Pfarrbenefizium (altare) sine persona (1074 Cambrai, seitdem häufig) zu besitzen. Ein solches Benefizium konnte personatu francum verliehen (1077 Cambrai), sine personatu (Reims 1076), sub personatu (1088 Noyon-Tournai), absque personatu sub perpetua libertate besessen (1108 Noyon-Tournai) oder libere et in personatu gegeben werden (1126 Cambrai). Schließlich wurde den Klöstern der Personat von Kirchen (ecclesiarum personatus) übertragen (1154 Reims) oder das Recht verliehen, ecclesiam … liberam ab omni debitione substituende in futurum persone zu besitzen (1158–60 Lüttich)42. Überdies werden in zahlreichen nordfranzösischen Bischofsurkunden personae in der Narratio, der Corroboratio oder der Zeugenreihe erwähnt. Die Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich der angeführten Begriffe werden durch die folgende Urkunde des Reimser Erzbischofs Manasse vom Jahre 1106 für die Abtei Saint-Remi illustriert: … Quocirca ego Manasses, indignus Remorum archiepiscopus, in mutatione personarum quorumdam altarium ecclesiam beati Remigii animadvertens pati detrimentum, ea predicte ecclesie, que personaliter ante tenuerat, impersonaliter deinceps tenenda concedo et legalibus per-

41 1103 Arras: Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 172 Nr. 907; Duvivier, Actes (wie Anm. 40), S. 163. – 1100 Reims: Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 122; Pierre Varin, Archives administratives de la ville de Reims, 3 tom., Paris, 1839–1848, t. 1,1, S. 252. – 1128 Reims: Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 208; Reims, Bibl. Municipale Ms. 1843, Cartulaire de Saint-Nicaise fo 13–13v. – 1046 Cambrai: Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 66 Nr. 608; André Le Glay, Glossaire topographique de l’ancien Cambrésis (Mémoires de la société d’émulation de Cambrai, 19, 2e partie), Cambrai, 1849, S. 5 Nr. 3. – 1057 Cambrai: Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 73 Nr. 704; Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 397 Nr. 49. – 1143 NoyonTournai: F.-H. d’Hoop, Recueil des chartes du prieuré de Saint-Bertin, à Poperinghe, Bruges, 1870, S. 16 Nr. 15. – 1099 Cambrai: Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 481 Nr. 91. – 1111 Cambrai: Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 195 Nr. 924; Lille, Arch. dép. Nord 4 G 107 Nr. 1467. – 1110 Cambrai: Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 494 Nr. 97 bis. – 1113 Cambrai: Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 507 Nr. 103. 42 1074 Cambrai: Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 415 Nr. 56. – 1077 Cambrai: Ebda., S. 428f. Nr. 62 bis. – 1076 Reims: Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 51; Guillaume Marlot, Histoire de la ville, cité et université de Reims, 4 tom., Reims, 1843–1846, t. 3, S. 711 Nr. 31. – 1088 Noyon-Tournai: Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 127 Nr. 820; E. Hautcoeur, Cartulaire de l’Eglise collégiale de Saint-Pierre de Lille, 2 tom., Lille-Paris, 1894, t. 1, S. 12 Nr. 6; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 45. – 1108 Noyon-Tournai: Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 186 Nr. 916; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 119; Lille, Arch. dép. Nord 4 G 107 Nr. 1464. – 1126 Cambrai: Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 534 Nr. 115. – 1154 Reims: Marlot, Histoire Reims, t. 3, S. 751 Nr. 86. – 1158–60 Lüttich: Duvivier, Actes (wie Anm. 40), S. 142.

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sonis et sigilli nostri munimine confirmatum esse volo43. Als der Erklärung bedürftig erscheinen die Formulierungen personaliter tenere und impersonaliter tenere, der Begriff legalis persona und der von dem Nomen persona abgeleitete, allerdings in dieser Urkunde nicht erscheinende, aber schon oben zitierte terminus personatus. Ernest Champeaux, der sich in neuerer Zeit zuletzt mit dem Personat beschäftigt hat, begann seinen im Jahre 1929 veröffentlichten Beitrag mit dem wenig ermutigenden Satz: »L’origine et la nature du personat sont restées des énigmes pour les historiens du droit canonique«. Tatsächlich hat Champeaux zwar zutreffend festgestellt, daß Personat und Vikariat sowie Personat und die redemptio altarium nicht notwendig miteinander verknüpft sind44, aber er hat die Bedeutung der unter der angegebenen Terminologie vollzogenen Übertragungen von Altären oder Kirchen an Klöster und Stifte nicht geklärt. Zudem wurde die Studie von Champeaux nicht rezipiert45. Dasselbe Los widerfuhr hinsichtlich der hier zu behandelnden Urkunden dem Werk von Hans Rheinfelder aus dem Jahre 192846. Rheinfelder deutet die Bestimmung altare personaliter beziehungsweise sub personatu tenere dahin, daß durch sie der Bischof den jeweiligen Priester mit der Versehung des Altardienstes beauftragen wollte. Hingegen hieße impersonaliter tenere oder liber a personatu, daß »das Kloster oder die betreffende Kirche … dann selbst einen Geistlichen mit dem Altardienst (beauftragte)«47. Danach wäre es in den Urkunden außer um Kirchenübertragungen allein um die Regelung der Präsentation und Ernennung der Geistlichen gegangen. Das war jedoch nicht der Fall. Vielmehr bestimmten die Urkunden, ob ein Kloster eine Kirche mit einem Pfarrer beziehungsweise einem Inhaber des Pfarrbenefiziums besitzen sollte, der dessen Früchte genoß, 43 Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 114; Arch. dép. Marne, Annexe Reims, 56 H 1031, Cart. A de Saint-Remi fo 310v. 44 Ernest Champeaux, Quelques observations qui doivent précéder une étude du personat au XIe siècle, in: Mélanges Paul Fournier, Paris, 1929, S. 53–69. 45 Ohne in spezielle Untersuchungen einzutreten, setzen M. H. Koyen, De prae-gregoriaanse hervorming te Kamerijk (1012–1067), Tongerlo, 1953, S. 179, und Platelle, Les paroisses du décanat de Lille (wie Anm. 32), S. 74, unzutreffenderweise die Befreiung einer Pfarrkirche von der persona mit der Befreiung des klösterlichen Eigenkirchenherrn oder des Priesters von der Verpflichtung zur Leistung der redemptio altarium an den Bischof in eins, vgl. unten bei Anm. 70, 108, 109. Demgegenüber und mit einem Resultat, daß ungefähr dem Ergebnis unserer Untersuchung gleichkommt, jetzt Delmaire, Arras (wie Anm. 30), S. 135: »L’individu persona des Xe–XIIe siècles disparaît et l’établissement bénéficiaire devient à sa place persona (communautaire)«. Allerdings weicht Delmaires Verständnis hinsichtlich der Funktion einer persona von dem unseren ab, vgl. Anm. 62. 46 Hans Rheinfelder, Das Wort »Persona«. Geschichte seiner Bedeutung mit besonderer Berücksichtigung des französischen und italienischen Mittelalters (Zeitschrift für Romanische Philologie. Beihefte, 77), Halle, 1928. 47 Rheinfelder (wie Anm. 46), S. 105.

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oder ob ein Kloster sich im Besitz einer Kirche befinden sollte, an welcher kein Pfarrer funktionierte, so daß die Nutzung des Benefiziums an das Kloster fallen konnte.

These: Eine Kirche sine / absque persona ist inkorporiert Die These lautet also, daß eine impersonaliter oder absque / sine persona zu besitzende Kirche inkorporiert worden ist. Wenn diese These zutrifft, dann wären in der Erzdiözese Reims vom Jahre 1034/35 bis zum Jahre 1139 etwa 35 Einverleibungen vollzogen worden, davon 18 bis zum Jahre 1100. Im Bistum Cambrai, dessen Bischofsurkunden uns nicht geschlossen vorliegen, würden vom Jahre 1046 bis zum Jahre 1139 sogar mindestens rund 60 Inkorporationen zu verzeichnen sein. Die Zahl und die Zeitstellung dieser Inkorporationen wären bemerkenswert und widersprächen der bisherigen Lehrmeinung in Deutschland. So ist im folgenden zu klären, was in der Reimser Erzdiözese und in den nördlichen Bistümern der Reimser Kirchenprovinz unter persona und personatus verstanden worden ist. Dabei ist vorab zu bemerken, daß, wie aus dem Reimser Text vom Jahre 1106 (legalis persona) zu erschließen und anderwärts spätestens seit dem 11. Jahrhundert vielfach bezeugt, der Begriff persona im kirchlichen Bereich auch den geistlichen Amts- und Würdenträger, einen Archidiakon, Prälaten oder Inhaber einer Dignität bezeichnet hat, weshalb eine solche Dignität und deren Benefizium ebenfalls personatus hießen48. Ein freilich spätes Bremer Synodalstatut vom Jahre 48 Vgl. Carolus Dufresne / Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, t. 5, Paris, 1845, S. 216, und zum Beispiel Erzbischof Manasse von Reims für Saint-Remi (1096), Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 104; Marlot, Histoire Reims (wie Anm. 42), t. 3, S. 721 Nr. 45: … personarumque a u t e n t i c a r u m testimoniis roborari precipimus. Signum Manasse archiepiscopi, S. Rogeri archidiaconi, S. Manasse archidiaconi, S. Radulfi prepositi, S. Richeri cantoris, … presbyterorum, … diaconorum, … subdiaconorum. – Bischof Odo von Cambrai für Anchin (1111), Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 499 Nr. 99: … sigilli nostri impressione auctorizavi et subtersignatarum personarum testimonio sub anatemate corroboravi. Signum mei Odonis episcopi, signum Theoderici archidiaconi, (…) signum Iohannis archidiaconi, signum Erlebaldi sanctae Mariae (= Domstift) prepositi, signum Erlebaldi decani, signum Guerinbaldi, Mazelini canonicorum. – Bischof Burchard von Cambrai (1122), Le Glay, Glossaire topographique (wie Anm. 41), S. 36 Nr. 26: … consilio personarum nostrarum et totius civitatis absolvimus. – Bischof Nikolaus von Cambrai für Corbie (1154–1156), Alphonse Wauters, Analectes de diplomatique, in: Bulletin de la Commission royale d’histoire, Bruxelles, 4e série, 7 (1880), S. 343 Nr. 13: … Cum sit autem solidius quicquid apud personas a u t h e n t i c a s constituitur, eorum, quorum presentia inter constituendum non defuit, nomina in testimonium subnotantur. S. prepositi Theoderici et eorum altarium archidiaconi. S. Iohannis, Adlardi, Radulfi, Everardi archidiaconorum. – In der Diskussion während der Reichenauer Herbsttagung 1987 (Protokoll S. 43) hat Herr Schwineköper auf die Bedeutung von persona als »Amtsperson« auch im weltlichen Bereich hingewiesen: Der sich als perso-

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1328 bezieht in einem Kanon neben bestimmten Dignitäten ausdrücklich eine personam ecclesiasticam alias in dignitate seu personatu constitutam, das heißt jedwede kirchliche Person in Amt und Würden, mit ein49. Weiter ist vorauszuschicken, daß kirchliche Würdenträger und namentlich einzelne Kanoniker vielfach ein oder mehrere Pfarrbenefizien besessen haben, deren Früchte sie genossen, ohne daß sie persönlich die cura animarum in den betreffenden Pfarreien versahen. Auch sie waren und hießen dann persona des betreffenden Benefiziums (altare, ecclesia)50.

Der Terminus persona Dagegen war sicherlich kein kirchlicher Würdenträger gemeint, als im Jahre 1027 Erzbischof Ebal von Reims bei der Übertragung der Kirche (altare, ecclesia ville) von Trépail an der Marne an das Kollegiatstift La Trinité in Châlons bestimmte, ut defuncta persona, cui commissa est eiusdem altaris providentia cum animarum cura, alia substituatur a Remensis sedis archipresule, quam ei presentaverint fratres ipsius ecclesie (sc. des Stifts) exhibitis ab eiusdem loci provisore eidem archiepiscopo duabus libris Remensis monete pro sibi debita altaris redemptione, archidiacono vero tercia pro renovanda conventione, decano quoque quinque solidis, ut vestitura corroboretur canonice51. Vielmehr wird hier die Bestellung des Pfarrers an der stiftseigen gewordenen Kirche geregelt; denn die persona kann nur der Pfarrer sein, wenn ihr die Versehung des Altars (altaris providentia) nebst der cura animarum aufgegeben und sie der provisor loci ist. Die Reimser Urkunde sieht im übrigen vor, daß der neue Pfarrer nach der Präsentation durch die Kanoniker den Altar vom Reimser Erzbischof zurückzukaufen hat; an den naliter constitutus bezeichnende Notar der Notariatsinstrumente sei offenbar nicht nur »persönlich«, sondern »in amtlicher Eigenschaft erschienen«. In diesem Sinne sei ergänzt, daß die zufolge den Instrumenten personaliter befragten Zeugen (ad premissa personaliter vocatis et rogatis) »von Amts wegen« gehört worden sein dürften. Dazu jedoch nichts bei Peter-Johannes Schuler, Geschichte des südwestdeutschen Notariats. Von seinen Anfängen bis zur Reichsnotariatsordnung von 1512 (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts. Freiburg im Breisgau, 39), Bühl/Baden, 1976, S. 277. Hilfreich ist auch der weitere Hinweis von Herrn Schwineköper, daß mit den mercatores personati der Freiburger Gründungsurkunde (Walter Schlesinger, Das älteste Freiburger Stadtrecht. Überlieferung und Inhalt, in: Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 83 (1966), S. 97) »mit amtlichen Aufgaben betraute Kaufleute gemeint« sein dürften. Schlesinger, a.a.O., S. 98, glossiert mercatores personati mit »angesehene Kaufleute«. 49 R. Ehmck / W. v. Bippen, Bremisches Urkundenbuch, 6 Bde., Bremen, 1873–1902, Bd. 2, S. 296 Nr. 300. 50 Vgl. unten bei Anm. 134. 51 Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 12; Châlons, Arch. dép. Marne 1 G 1130, Cart. de la Trinité de Châlons fo 12–12v.

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Pfarreinkünfte

Archidiakon muß er eine als Terz bezeichnete Abgabe für die Erneuerung der conventio – wohl hinsichtlich des Benefiziums – und an den Reimser Domdekan fünf Schillinge für die rechtsgültige Verleihung (vestitura) offenbar der Spiritualien zahlen. Die legalis persona, wie sie in der Narratio heißt, hatte also an drei Instanzen Gebühren zu entrichten, bevor sie ihre Präbende genießen konnte. Über Leistungen des Geistlichen an das Kollegiatstift als Eigenkirchenherrn, die aus einem jährlichen Zins bestanden haben könnten52, verlautet in der Urkunde nichts. Wenn in Bazancourt, einer Kirche (altare ville), welche sub clericali persona im Jahre 1053 der Abtei Saint-Remi übereignet wurde, die dortige persona starb oder ein Verbrechen beging, auf Grund dessen sie zum Verlust ihres personatus verurteilt wurde (iudicetur personatum amittere), dann sollte ihr Nachfolger nach der Präsentation durch den Abt die cura animarum erhalten, und zwar ohne irgendwelche Geldzahlungen53. Im Jahre 1078 wurde für den Tod der persona von Trépail (defuncto clerico, qui persona loci illius existeret) bestimmt, daß die Kanoniker von La Trinité deren Nachfolgerin wählen sollten, nur wurde jetzt im Unterschied zum Jahre 1027 jede Geldzahlung, also wohl auch eine redemptio altarium, erlassen54. Von personae, quae illis duobus locis deserviunt, sprach die bereits erwähnte Gorzer Urkunde vom Jahre 106455. Als im Jahre 1088 die Pfarrkirche von Hasnon (altare sancti Marcellini parrochiae Hasnoniensis) der dortigen Abtei sub personatu übertragen wurde, regelte der Bischof von Cambrai die Einsetzung der jeweiligen persona altaris in der Weise, daß für den Fall, daß die Vorgängerin wegen eines Vergehens des Personats verlustig gehen werde (personatu privabitur), der Abt für die Ernennung einer anderen (pro restauratione alterius) 30 Schillinge zahlen sollte56. Die heiligen Öle hatte der Geistliche beim Bischof einzuholen, und zwar entweder persönlich oder durch einen Boten zum bekannten Termin, also zweifellos am Gründonnerstag57. Auf Grund dieser Bestimmungen ist in der persona von 52 Zum Zins, der von Eigenkirchenpriestern an ihre klösterlichen Eigenkirchenherren zu entrichten war, vgl. Ulrich Stutz, Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens, Bd. 1,1, Berlin, 1895 = ND Aalen, 1972, S. 174–179, Schreiber, Kurie und Kloster (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 75, 84. Kemp, Monastic possession of parish churches (wie Anm. 35), S. 149, und unten bei Anm. 183, 207. 53 Gallia christiana 10 instr. Sp. 21 Nr. 18; Arch. dép. Marne, Annexe Reims, 56 H 117. 54 Paul Pélicier, Cartulaire du chapitre de l’église cathédrale de Châlons-sur-Marne par le chantre Loarin, Paris, 1897, S. 186; Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 58. 55 S. oben bei Anm. 24. 56 Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 449 Nr. 73. 57 Oleum et chrisma vel per se vel per legatum suum statuto tempore accipiet. Zur Einholung der heiligen Öle vgl. Schreiber, Kurie und Kloster (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 187. Ders., Die Wochentage im Erlebnis der Ostkirche und des christlichen Abendlandes (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, 11), Köln, 1959, S. 158f. Arnold Angenendt, Die Liturgie und die Organisation des kirchlichen

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Hasnon der funktionierende Pfarrer zu erblicken. Auch die in den zuvor angeführten Texten für die jeweiligen personae getroffenen Regelungen gelten für Pfarrgeistliche. Diese an klösterlichen Eigenkirchen tätigen Pfarrer waren Inhaber des Personats. Detaillierter als im Jahre 1053 in Reims wird 1088 in Hasnon ausgeführt, daß ihnen der Personat bei Kontumaz gegenüber dem bischöflichen Sendgericht und bei Ungehorsam sowohl gegenüber dem Bischof als auch gegenüber dem Abt entzogen werden konnte58. Die Klöster besaßen die betreffenden Kirchen sub clericali persona (1053 Reims) oder sub personatu (1088 Cambrai). Wenn also an diesen Kirchen Pfarrer angestellt waren, dann müssen diese auch Nutznießer des Pfarrbenefiziums gewesen sein. Wie die bisherigen Texte zumindest andeuten, konnte der Personat auch das Pfarrbenefizium mit allen seinen Gerechtsamen oder, um die Urkunde Pibos von Toul vom Jahre 1088 für Gorze zu zitieren, das pastoris privilegium sein59. Danach wäre das Pfarrbenefizium im 11. Jahrhundert ausgebildet gewesen60. Daß diese Pfarrer (personae) ihrerseits Vikare bestellten, welche sie mit der Wahrnehmung der cura animarum beauftragten und mit einem Teil der Früchte des Benefiziums entlohnten, ist ohne weiteres vorstellbar und möglich. Nur ist davon in den bisher zitierten Reimser Urkunden des 11. Jahrhunderts keine Rede. Diese charakterisieren die personae vielmehr als Inhaber des Personats – des Benefiziums – und als tatsächlich funktionierende Pfarrer61. Ihr Wirken hatte die Beschäftigung von Vikaren nicht notwendig zur Voraussetzung62.

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Lebens auf dem Lande, in: Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo, 28,1 (1982), S. 205f. Ders., Kaiserherrschaft und Königstaufe (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung, 15), Berlin u. a., 1984, S. 36f. Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 449 Nr. 73: Et si forte ipsa persona episcopo inobediens a iudicio sinodali se substraxerit vel sibi vel abbati rebellis extiterit, personatu privabitur. Vgl. oben bei Anm. 21. Die Entstehung des Pfarrbenefiziums und deren Datierung sind im Grunde noch immer ungeklärt. Die Untersuchungen von Imbart de la Tour, Paroisses rurales (wie Anm. 31), und Stutz, Benefizialwesen (wie Anm. 52), S. 168ff., 254ff., 404ff., brechen vor dem 11. Jahrhundert ab. Vgl. Peter Landau, Beneficium, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 5, Berlin-New York, 1980, S. 579. Ders., Beneficium, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München-Zürich, 1980, S. 1906. Vgl. bereits Hinschius, System des Katholischen Kirchenrechts (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 110 Anm. 5: »Daher heisst persona, personatus in Frankreich und England soviel wie Pfarrer und Pfarrei«, oder K. Major / B. Blitt, Notes on Some Terms in Ecclesiastical Records, in: The Lincolnshire Historian, 10 (1952), S. 351f.: »The priest in charge of the parish in its simplest form was as early as the twelfth century known as rector or parson (persona) … The benefice which he enjoys may be called in medieval records ecclesia, rectoria or personatus. He had cure of the souls …«. Vgl. auch Hartridge, A History of Vicarages (wie Anm. 33), S. 50, 210. Vgl. bereits Champeaux, Personat (wie Anm. 44), S. 58ff. Unzutreffend, weil sie für das Institut des Personats seinem Wesen nach die Einsetzung eines Vikars für charakteristisch

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Pfarreinkünfte

Die redemptio altarium Im Jahre 1027 in Reims und 1088 in Cambrai wurde festgelegt, daß entweder der Abt oder der zukünftige Geistliche das Recht der Versehung des Altars nebst der Ausübung der cura animarum vom Bischof käuflich zu erwerben hatte. Diese sogenannte redemptio altarium, die in Frankreich im 11. Jahrhundert verbreitet war, bezeugt das Eindringen lehnsrechtlicher Vorstellungen in das kirchliche Ämterwesen63. So wie der Lehnsherr das relevium forderten die Bischöfe für die Erteilung der cura die redemptio. Nach dieser Anschauung fiel ein kirchliches Benefizium nach dem Tode seines Inhabers in derselben Weise an den Bischof zurück wie das weltliche Lehen beim Mannfall. Bei den Zeitgenossen konnte so der Eindruck entstehen, als befänden sich die Benefizien der klösterlichen Eigenkirchen immer nur befristet und nur für die Zeit, solange der jeweilige Pfarrer amtierte, in klösterlichem Besitz. In der Kirchenprovinz Reims war die redemptio altarium offenbar besonders in der Diözese Noyon-Tournai noch in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts eine selbstverständlich geübte Praxis64. Hier waren im Jahre 1088 bei der mutatio

halten, sind dagegen die dahingehende Auffassung von Heinrich Schaefer, Pfarrkirche und Stift im Deutschen Mittelalter (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 3), Stuttgart, 1903, (ND Amsterdam, 1962), S. 70–80, und die Definition bei J. J. Hoebanx, L’abbaye de Nivelles des Origines au XIVe siècle (Académ. Royale de Belgique. Cl. des Lettres. Mémoires. Collection in8o, 46), Bruxelles, 1952, S. 205: »La persona est le detenteur – généralement personne morale – du titre pastoral qui ne supporte aucune des charges de la paroisse, mais les abandonne à un remplaçant, le vicarius perpetuus. La persona se contente de toucher la grosse part des revenus paroissiaux et laisse la ›portion congrue‹ au vicaire. Il tombe sous le sens que les abbayes, propriétaires d’un certain nombre d’églises paroissiales, considèrent d’un mauvais oeil cette pratique du personat, laquelle permet à l’évêque de placer ses amis et ses protégés dans des cures rapportant des revenus intéressants. La persona est un véritable parasite qui s’interpose entre l’abbaye et l’église. Aussi, les religieux nivellois … vont-ils mettre tout en oeuvre pour se substituer euxmêmes à la persona«. – Delmaire, Arras (wie Anm. 30), S. 129f., sieht in den personae bischöfliche Vertraute. Ihre Ernennung seitens des Bischofs sei gegen die laikalen Eigenkirchenherren gerichtet gewesen und dokumentiere die auf Grund karolingischer Tradition relativ starke Stellung des nordfranzösischen Episkopats gegenüber dem Pfarrklerus und den Kirchenherren. Das mag im Einzelfall zutreffen, ist jedoch aus den hier benutzten Quellen nicht abzuleiten. Eine Auseinandersetzung mit der Auffassung von Herrn Delmaire kann hier nicht erfolgen, da dessen Arbeit noch nicht publiziert ist. 63 Vgl. Luc Compain, Étude sur Geoffroi de Vendôme (Bibliothèque de l’école des hautes études, 86), Paris, 1891, S. 184–186. Imbart de la Tour, Paroisses (wie Anm. 31), S. 337f. Barth, Hildebert von Lavardin (wie Anm. 27), S. 254f. Schreiber, Kurie und Kloster (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 49f. Champeaux, Personat (wie Anm. 44), S. 53f. Huyghebaert, Saint Léon (wie Anm. 18), S. 427. 64 Maurits Gysseling / A. C. F. Koch, Diplomata belgica ante annum millesimum centesimum scripta. 1. Teksten, Bruxelles, 1950, S. 200 Nr. 95; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 19 (1047). – Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 139 Nr. 830; Hautcoeur, Saint-Pierre de Lille (wie Anm. 42), t. 1, S. 13 Nr. 7; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 53 (1091). – Benjamin E.

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dem Bischof von der persona 10 und sodann jährlich 5 Schillinge zu zahlen65. In Cambrai belief sich die Höhe der redemptio im selben Jahre auf 30 Schillinge66. Die Befreiungen von der redemptio setzen in der Erzdiözese Reims mit dem Jahre 1040 und in der Diözese Cambrai mit dem Jahre 1057 ein67. So heißt es im Jahre 1040 bei Guido von Reims für Saint-Vanne in Verdun bezüglich der Kirche (altare) von Vivier-au-Court, ut persona defuncta alteri persone ad opus monachorum altare reddatur absque omni pecunia, talisque sit personarum successio per secula68. Dieser Beleg zeigt wie andere des 11. Jahrhunderts69, daß personae auch ohne Forderung oder Zahlung der redemptio ernannt werden konnten. Das aber bedeutet, daß personae nicht besondere Kleriker waren, welche sich darauf spezialisiert hätten, ihr Amt durch die während der Reformzeit als Simonie geltende redemptio zu erlangen. Vielmehr waren personae alle Kleriker, die ein Benefizium besaßen. Zu ihnen zählten auch die Pfarrer. Wenn sie Pfarrer an einer

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Ch. Guérard, Cartulaire de l’abbaye de Saint-Bertin (Collection des cartulaires de France, série 1,17,3), Paris, 1840, S. 206 Nr. 31; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 59 (1093). Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 127 Nr. 820; Hautcoeur, Saint-Pierre de Lille (wie Anm. 42), t. 1, S. 12 Nr. 6; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 45: quod quotiens persona immutata fuerit, X tantum solidos episcopo tribuat, et unoquoque anno in festivitate sanctorum Simonis et Iude V solidos similiter solvat. Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 449 Nr. 73: Persone autem altaris talis conditio maneat, ut cum defuncta fuerit, pro restauratione alterius solidos XXXta episcopus ab abbate accipiat. Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 17; Migne PL 142 col. 1406 Nr. 2. Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 397 Nr. 44. Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 18; Migne PL 142 col. 1407 Nr. 3; H. Bloch, Die älteren Urkunden des Klosters S. Vanne zu Verdun, in: Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und Altertumskunde, 10 (1898), S. 444 Nr. 38. Guido von Reims für Saint-Pierre d’Avenay (1050), Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 23; Louis Paris, Histoire de l’abbaye d’Avenay, 2 tom., Paris, 1879, t. 2, S. 7O f.: ea videlicet ratione ut si horum altarium persone morte prevente fuerint vel aliquod crimen commiserint propter quod personatum amittere possint, abbatisse eiusdem ecclesie, alias michi vel successori meo, loco earum subrogandas liceat representare, que canonice altaribus possint deservire. Et ut hoc gratis fiat, nec ab aliquibus successoribus meis, vel archidiaconis eorum, precium pro his altaribus exigatur, modis omnibus … prohibemus. – Guido von Reims für Saint-Remi (1053), Gallia christiana 10 instr. Sp. 21 Nr. 18; Arch. dép. Marne, Annexe Reims, 56 H 117: sub clericali persona … tradidi … ut si eadem persona aliquid criminis commiserit, unde iudicetur personatum amittere …, ab abbate … altera presentata, absque aliqua conventione seu pecunie largitione substituatur. – Manasse von Reims für La Trinité in Châlons (1078) (wie Anm. 54). – Rainald von Reims für Saint-Pierre d’Avenay (1086), Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 69; Paris, Histoire d’Avenay t. 2, S. 71: ut cum persona prefati altaris obierit vel aliquid propter quod a personatu decidat commiserit, alia ante nos vel ante eum, qui post nos Remensi cathedre presidebit, persona deducatur, et ita stabili successione ad eiusdem altaris personatum absque pecunie exactione subrogetur. – Vgl. Champeaux, Personat (wie Anm. 44), S. 55f.

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Pfarreinkünfte

klösterlichen Eigenkirche waren, dann mußte je nach deren Privilegienstand die redemptio entrichtet werden oder nicht70.

Redemptio altarium und personae in c. 3 von Clermont (1095) Den Tatbestand, daß die Bischöfe Frankreichs die redemptio altarium verlangten, hat der Kanon 3 in der Überlieferung Cencius-Baluze des Konzils von Clermont vom Jahre 1095 im Blick. Dieser Kanon richtet sich gegen die Bischöfe. Das in seiner Begründung entworfene Bild von der Praxis der redemptio steht mit den urkundlich überlieferten Verhältnissen im Einklang. Den Klöstern verliehene Kirchen und Zehnten, welche in Gallien gemeinsprachlich als altaria bezeichnet werden, würden öfters von den Bischöfen unter bemäntelter Habgier wiederverkauft, nachdem die Kleriker gestorben seien oder gewechselt hätten, welche sie personae nennen würden. Der Kanon bestimmte, daß die Klöster jene Kirchen und Zehnten, die sie zwar durch redemptio erworben hätten, aber länger als 30 Jahre besäßen, ungeschmälert behalten dürften vorbehaltlich eines jährlich an die Bischöfe zu zahlenden Zinses. Im übrigen wurde hinfort die Praxis der redemptio verboten71. Die Begründung des Kanons führt zunächst den in Frankreich gebrauchten Begriff altaria ein. So würden dort Kirchen und Zehnten genannt. Tatsächlich

70 Die Befreiung von der redemptio altarium gewährte im Jahre 1051 Dietrich von Verdun, offenbar ohne persona als terminus technicus für »Pfarrer« zu verwenden, Lesort, SaintMihiel (wie Anm. 1), S. 140 Nr. 34: … ut, si proprius pastor obierit, abbas … aliam convenientem personam ad presentiam episcopi deducat, et per laudem archidiaconi et decani curam animarum suscipiat, et hoc sine aliqua redemptione fiat, quatenus quod gratis accipitur gratis detur. Vgl. Huyghebaert, Saint Léon (wie Anm. 18), S. 426f. 71 Robert Somerville, The Councils of Urban II vol. 1. Decreta Claromontensia (Annuarium Historiae Conciliorum. Supplementum, 1), Amsterdam, 1972, S. 122: Quia quidam simoniace pravitatis ramus in Galliarum partibus iam diutius inolevit ut ecclesie vel decime, que vulgari vocabulo apud eos altaria nuncupantur, monasteriis date, sepius ab episcopis sub palliata avaritia venduntur mortuis nimirum seu mutatis clericis, quos personas vocant. Nos auctore Deo venalitatem omnem tam ex rebus quam ex ministeriis ecclesiasticis propellentes hoc ulterius fieri auctoritate apostolica prohibemus. Sicut et prebendas omnes venundandas interdicimus. Porro quecumque altaria vel decimas ab annis XXX et supra huiuscemodi redemptione monasteria possedisse noscuntur, quiete deinceps et sine molestia qualibet eis possidenda firmamus salvo utique episcoporum censu annuo, quem ex eisdem altaribus habere soliti sunt. Zur wiederholt bezeugten dreißig- oder sogar vierzigjährigen Ersitzungsfrist s. zum Beispiel Hermann Meinert, Papsturkunden in Frankreich NF. 1 Champagne und Lothringen (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. Dritte Folge, 3), Berlin, 1932, S. 187 Nr. 11 (1114), S. 208 Nr. 25 (1129). Vgl. Ulrich Stutz, Ausgewählte Kapitel aus der Geschichte der Eigenkirche, in: Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, 57, Kanonistische Abteilung, 26 (1937), S. 52.

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sind in Frankreich – neben der Bezeichnung des Altars als Gegenstand – zwei Bedeutungen von altare zu unterscheiden. Erstens kann altare für die ecclesia eines Ortes stehen, ohne daß die Rechtstitel an dieser Kirche und ihre Vermögensmassen, also einerseits die Kirchendos (Widdem, Wittum) für das Kirchengebäude und den Pfarrhof und andererseits die Einkünfte aus der Sakramentsverwaltung, näher unterschieden sind72. Vielfach ist für diese weitere Bedeutung von altare auch in Frankreich der Begriff ecclesia üblich. Zweitens verstand man in Frankreich seit der Jahrtausendwende unter altare im engeren Sinne insbesondere die Einkünfte aus dem Altardienst, also die Einkünfte aus den Oblationen und Kasualien, und das dem Pfarrer zustehende Zehntdrittel und unterschied sie vom Kirchengebäude (ecclesia), von der dos und dem atrium, von den daraus zu beziehenden Abgaben und den restlichen zwei Dritteln des Zehnten, die sich im Besitz des Eigenkirchenherrn befinden mochten73. Gegen diese weit verbreitete Scheidung hatte Abbo von Fleury vergeblich angekämpft74. 72 Vgl. Lietbert von Cambrai für Saint-Sépulcre (1070), Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 410 Nr. 53: duo trado altaria, altare videlicet de Bullari cum appenditiis suis et altare de Brugeletis cum multa familia. – Gerhard II. von Cambrai (1089), Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 129 Nr. 822; Le Glay, Glossaire topographique (wie Anm. 41), S. 17 Nr. 12: altare de Thun villa citra aquam sitam. – Balderich von Noyon für Mont-Saint-Quentin (1102), Thomas Gousset, Les actes de la province ecclésiastique de Reims, 4 tom., Reims, 1842–1844, t. 2, S. 158; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 84: … quod presbyter in eidem loco Deo serviens curam animarum eidem altari pertinentium gerat. – Simon von Noyon für Ourscamps (1130), Gousset, Actes Reims t. 2, S. 203; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 205: Nos quoque apud Luruillam omnem terram arabilem pertinentem ad dotem ipsius altaris uillulae et omnem decimam ipsius terrae eisdem fratribus donavimus. – Liethard von Cambrai für Vaucelles (1133), Gousset, Actes Reims t. 2, S. 213: … quicquid in parochia de Vinciaco excepta dote altaris praedictae parochiae excoluerit. Zum Gebrauch von altare an Stelle von ecclesia in den nordfranzösischen Quellen vgl. Post, Eigenkerken (wie Anm. 8), S. 66 Anm. 2, Becquet, Paroisse (wie Anm. 32), S. 207 Anm. 76, Parisse, Recherches paroisses Toul (wie Anm. 16), S. 561. 73 Vgl. Reimser Konzil 1049 (?), Uta-Renate Blumenthal, Ein neuer Text für das Reimser Konzil Leos IX. (1049)?, in: Deutsches Archiv, 32 (1976), S. 30 c. 5: Laici altaria et queque ad altaria pertinent dimittant; hoc est: tertiam partem annonae, oblationes, sepulturam, atrium et censum, nec ullam consuetudinem in atrio accipiant propter hoc quod difinitum est. C. 6: Ministerium aeclesiae vel atrii laici non habeant. Über atrium vgl. Joseph Balon, Grand Dictionnaire de Droit du Moyen Age, t. 5, Namur, 1973, S. 848. – Synode von Lillebonne c. 4 (1080), Mansi 20 col. 561: Nullus laicus in redditibus altaris, vel in sepultura, vel in tertia parte decimae aliquid habeat. – Meinhard von Troyes für das Kollegiatstift St. Marien in Rosnay (1035), Charles Lalore, Cartulaire de l’abbaye de la Chapelle-aux-Planches (Collection des principaux cartulaires du diocèse de Troyes, 4), Paris-Troyes, 1878, S. 155 Nr. 26: ut quoddam altare cum ecclesia in honore Sancte Marie dedicata cum omni redditione, que ad illud altare et ad ecclesiam pertinent, concederemus. – Lietbert von Cambrai für die Domkirche (1075), Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 93 Nr. 803; Le Glay, Glossaire topographique (wie Anm. 41), S. 12 Nr. 8: Preterea mediam partem totius alodii de Ogeio cum altari et dimidia

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Im Einzelfall läßt sich allerdings sehr oft nicht sicher beurteilen, ob der Begriff altare im weiteren oder im engeren Sinn gebraucht worden ist. Zudem kann die Terminologie der Quellen hinsichtlich ein und derselben Kirche uneinheitlich sein. Die Kirche Haren (Diözese Lüttich) wurde als ecclesia dem Kloster Corbie im Jahre 1158/1159–1160 inkorporiert. Bei der Bestätigung durch Papst Alexander III. im Jahre 1163 erscheint dieselbe Kirche als altare apud Hares cum personatu et appenditiis75. Daß sie dem Kloster inkorporiert war, läßt sich aus der Bestätigung des personatus erschließen76. Daher dürfte hier der Begriff altare nicht speziell die Erträge aus dem Altardienst meinen, sondern das Kirchengebäude, die Kirchendos oder sogar die Kirche insgesamt bezeichnen. Weder die terminologische noch die tatsächliche Scheidung scheint so konsequent durchgeführt gewesen zu sein, wie man annimmt77. Der Kanon 3 von Clermont be-

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ecclesia trado … – Gerhard von Cambrai für die Domkirche (1081), Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 114 Nr. 814, Le Glay, Glossaire topographique (wie Anm. 41), S. 15 Nr. 10: … presbiter, qui in altari eius ville cantaturus est … de reditibus huius altaris et ecclesiae refectio fiat in refectorio canonicis sanctae Mariae. – Gerhard von Cambrai für Saint-Martin (1089), Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 129 Nr. 822; Le Glay, Glossaire topographique (wie Anm. 41), S. 17 Nr. 12: altare de Thun … condonarem sine persona et ab omni consuetudine et redemptione liberum, exceptis illis obsoniorum debitis, quae a ceteris eiusdem archidiaconatus iuste persolvuntur dimidiis ecclesiis. Über das dem Bischof jährlich zu entrichtende obsonium vgl. unten Anm. 200. – Pibo von Toul an Paschal II. für das Stift Chaumonzey (1103–1104), Migne PL 163 col. 447 C: altare parochialis ecclesiae, de qua controversia inter eos et Romaricenses habetur, tali conditione contuli, ut quemadmodum hactenus presbyter, qui ecclesiam habuerat, a mea manu altare susceperat, sic deinceps qui ecclesiam habere vellet, a manu abbatis illius loci altare susciperet. – Bartholomäus von Beauvais für Breteuil (1164), Gousset, Actes Reims (wie Anm. 72), t. 2, S. 295: in castro Britoliensi ecclesiam sancti Cyrici cum altari et omnibus consuetudinibus atrii eiusdem ecclesie et cum omni decima et tractu. – Die Deutung von L. Voet, Bodium – redecima, in: Archivum Latinitatis Medii Aevi. Bulletin Du Cange, 20 (1950), S. 206–232, hier S. 217f., daß altare im engeren Sinn die Einkünfte des Pfarrers einschließlich seines Zehntdrittels bezeichne, während die restlichen zwei Drittel des Zehnten, die in Flandern wiederholt als bodium erscheinen, in der Hand des Eigenkirchenherrn liegen konnten, wird insbesondere durch die angeführten Kanones der Konzilien von Reims 1059 (?) und Lillebonne gestützt. Aimoin von Fleury, Vita Abbonis c. 8, Migne PL 139 col. 396 B: Est etiam alius error gravissimus, quo fertur altare esse episcopi et ecclesiam alterius cuiuslibet domini. Cum ex domo consecrata et altari unum quoddam fiat, quod dicitur ecclesia, sicut unus homo constat ex corpore et anima. Duvivier, Actes (wie Anm. 40), S. 142. Johannes Ramackers, Papsturkunden in Frankreich NF 4. Picardie (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Kl. Dritte Folge, 27), Göttingen, 1942, S. 208 Nr. 91. Vgl. unten bei Anm. 152. Eine eingehende Untersuchung fehlt. Recht summarisch sind die Angaben bei Paul Hinschius, Zur Geschichte der Inkorporation und des Patronatsrechts, in: Festgaben für August Wilhelm Heffter, Berlin, 1873, S. 10f. Imbart de le Tour, Paroisses (wie Anm. 31), S. 271f. Ulrich Stutz, Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 15, Leipzig, 1904, S. 17 s. v. Patronat. Heinrich Wirtz, Donum, investitura, conductus ecclesiae. Ein Beitrag zur Geschichte des kirchlichen Stellenbesetzungsrechtes auf Grund rheinischer Urkunden

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zeichnet mit ecclesia = altare die Kirche als ganze, aber hebt dabei, indem die Zehnteinkünfte mit genannt sind, speziell auf die aus ihr zu ziehenden Erträge78, damit auch auf den Altardienst und letztlich wohl auf das Pfarrbenefizium ab. Der Kanon 3 sagt dann, nachdem er die Bezeichnung altare eingeführt hat, unter welchem Namen in Frankreich die Inhaber der Kirchen bekannt sind. Diese clerici würden personae heißen. Der Kanon gibt also zunächst die geläufigen Begriffe und setzt dann die in Frankreich üblichen Bezeichnungen hinzu. Das geschieht sicherlich, um Mißverständnissen vorzubeugen und die Möglichkeit ausweichender Interpretationen von vornherein abzuschneiden. In dem einen wie in dem anderen Fall handelt es sich um Glossierungen, die klarstellen sollen, was und wer gemeint ist. Durch den Parallelismus der Erläuterungen scheint es ausgeschlossen, daß im Falle der Kirchen und Zehnten eine Übersetzung vorläge, dagegen im Falle der clerici die Spezifizierung einer bestimmten Gruppe von Geistlichen. Deshalb ist mortuis nimirum seu mutatis clericis, quos personas vocant zu übersetzen »nach Tod oder Wechsel der G e i s t l i c h e n , die sie p e r s o n a e « nennen, nicht hingegen – wie Rheinfelder es tut – »j e n e r Geistlichen, die man p e r s o n a e nenne«79. Diese Übersetzung läßt an eine besondere Gruppe von Geistlichen denken, etwa an solche Kanoniker, die sich auf das Anhäufen von kirchlichen Benefizien spezialisiert hatten. Eine solche besondere Gruppe von Klerikern kann auch deshalb nicht gemeint sein, weil es dem Kanon 3 zumindest nach der Überlieferung Cencius-Baluze gar nicht um die Kleriker geht, sondern um die Bischöfe. Ihre Forderung des Rückkaufs einer Stelle an einer klösterlichen Eigenkirche für deren Wiederbesetzung ist Thema des Kanons und wird von ihm verboten. Die Klöster sollen hinfort nicht mehr verpflichtet sein, die Benefizien an ihren Kirchen nach Tod oder Weggang der bisherigen Inhaber (personae) gegen Geld von den Bischöfen wieder einzulösen. Unter diesen personae sind sowohl Kanoniker, welche Pfründen häuften und die mit ihnen verbundene Verpflichtung zur Wahrnehmung der cura animarum notwendigerweise nur durch Vikare wahrnehmen konnten, als auch persönlich an der Kirche funkvornehmlich des 12. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, 48, Kanonistische Abteilung, 4 (1914), S. 122. Lindner, Zur Inkorporationsfrage (wie Anm. 6), S. 23. Koyen, De prae-gregoriaanse hervorming (wie Anm. 45), S. 170–172. Jacques Choux, Recherches sur le diocèse de Toul au temps de la réforme Grégorienne. L’épiscopat de Pibon (1069–1107), Nancy, 1952, S. 66f. Bereits genauer Paul Thomas, Le droit de propriété des laïques sur les églises et le patronage laïque au moyen âge (Bibliothèque de l’école des hautes études. Sciences réligieuses, 19), Paris, 1906, S. 76–80, ebda. S. 78: »Le mot altare y (sc. in den Urkunden) signifie souvent les revenus d’une église, d’une chapelle, comme les dîmes et les offrandes«, und – für Flandern – grundlegend Voet, Bodium – redecima (wie Anm. 73), S. 214–218. 78 Vgl. Giles Constable, Monastic tithes from their origins to the twelfth century, Cambridge, 1964, S. 92f. 79 Rheinfelder, Persona (wie Anm. 46), S. 100.

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tionierende Pfarrer und in jedem Fall die Nutznießer der jeweiligen Benefizien zu verstehen. Die Kanones von Clermont sind wahrscheinlich keiner Endredaktion unterzogen worden. Auch deshalb überliefern die kanonistischen Sammlungen teilweise ganz verschiedene der in Clermont tatsächlich oder wahrscheinlich gefaßten Beschlüsse. Zudem haben die Autoren, welchen die Überlieferung zu verdanken ist, den Text einzelner Kanones erheblich modifiziert80. Das trifft auch für den Kanon 3 zu. Die redemptio altarium behandeln c. 2 der 9-Büchersammlung81, c. 16 der Florentiner Sammlung82 und c. 6 der Pariser Sammlung83. Die Fassungen dieser Sammlungen sind deutlich gegen die redemptio gerichtet. Dagegen findet die redemptio in c. 7 der Oxforder Sammlung84 und in c. 5 des Liber Lamberti85 keine und in c. 2 von Sdraleks Wolfenbütteler Fragmenten86 nur andeutungsweise Erwähnung. Vielmehr befassen diese sich mit der zeitlich befristeten Vergabe von Kirchen und belegen damit deren hohe Wertschätzung als Vermögenstitel. Denn der c. 2 der 9-Büchersammlung87 und der mit ihm identische Wortlaut des c. 2 der Wolfenbütteler Fragmente ist wohl dahin zu verstehen, daß Klöster und Stifte sich Niederkirchen befristet übertragen (inkorporieren?) ließen; denn nach diesen Kanones sollen Klöster durch (bischöfliches) Privileg verliehene Kirchen für immer besitzen. Kirchen aber, die sie auf Grund des Rechtstitels einer persona

80 Vgl. Somerville, Decreta Claromontensia (wie Anm. 71), S. 20ff., 39ff. 81 Somerville, Decreta Claromontensia (wie Anm. 71), S. 72: Iudicatum est ab omni sinodo ut altaria et ecclesie, que monasteriis perpetualiter date sunt astipulatione privilegiorum, in perpetuum habeant. Illa vero altaria et ecclesie, que sub nomine persone ad tempus ecclesiis vel monasteriis date sunt, defunctis personis statim in potestatem episcopi redeant; nec ulterius huiusmodi donationes episcopi faciant nec ab eis aliqui accipiant. 82 Ebda., S. 109: Ecclesie vel altaria, mortuis vicariis, in manibus illorum redeant, qui dederant, neque amplius ullo modo dentur, sed aut perpetualiter dentur, aut teneantur. Omnem venditionem, omnem redemptionem omnimodo prohibemus. 83 Ebda., S. 111: Ut ecclesie, que monasteriis monachorum sive perpetualiter sive ad personam semel donantur, defunctis vicariis nec redonentur nec redimere cogantur. 84 Ebda., S. 114: Qui dant ecclesias non dent ad tempus sed vel perpetuo dent vel perpetuo retineant. 85 Ebda., S. 75: Ut altaria congregationibus canonicorum vel monachorum per personas data mortuis personis libera redeant in manus episcoporum, nisi fuerint illis per episcoporum scripta vel privilegia confirmata. 86 Max Sdralek, Wolfenbüttler Fragmente. Analekten zur Kirchengeschichte des Mittelalters aus Wolfenbüttler Handschriften (Kirchengeschichtliche Studien, 1–2), Münster, 1891, S. 133: Iudicatum est ab omni sinodo ut altaria et ecclesie, que monasteriis perpetualiter date sunt astipulatione privilegiorum, in perpetuum habeant. Illa vero altaria et ecclesie, que sub nomine persone ad tempus ecclesiis vel monasteriis date sunt, defunctis personis statim in potestatem episcopi redeant nec ulterius huiusmodi donationes episcopi faciant nec ab eis aliqui accipiant. – Vgl. Somerville, Decreta Claromontensia (wie Anm. 71), S. 40. 87 Wie Anm. 81.

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– die in das Kloster eingetreten war? – und deshalb befristet erlangt hatten, sollten an den Bischof zurückfallen. Der c. 16 der Florentiner Sammlung, der c. 6 der Pariser und der c. 7 der Oxforder Sammlung sprechen davon, daß bestimmte Niederkirchen von den Klöstern nur befristet besessen worden seien. Diese Fassungen können dadurch entstanden sein, daß ihren Redaktoren die Praxis der redemptio bekannt war, die den Eindruck vermitteln konnte, daß die Klöster ihre Kirchen nicht auf immer besaßen, sondern vom Bischof jeweils auszulösen hatten. Der c. 5 des Liber Lamberti spricht schließlich von Kirchen, welche durch deren geistliche Inhaber (per personas) an Klöster geschenkt worden waren. Solche Kirchen sollten die Klöster nur mit bischöflicher Zustimmung behalten dürfen88. In Lamberts Fassung will dieser Kanon die bischöflichen Rechte an den Niederkirchen gegenüber den Klöstern gewahrt wissen89. Den Fall, daß ein ins Kloster eintretender Priester diesem seine Kirche ohne bischöfliche Lizenz übereignete, hat der Kanon 13 der 32-Kanon-Synode im Blick, deren Text in den Jahren 1085–1090 auf den Namen Gregors VII. in Südwestfrankreich gefälscht wurde90: Nullus presbyter volens monachus fieri ecclesiam monachis relinquat nisi ex licentia episcopi91. Konkrete Fälle solcher Übertragungen sind bezeugt92. Der Text des Kanon 3 von Clermont in der Fassung Cencius-Baluze erschien am 3. Dezember 1095 nahezu wortwörtlich im Privileg Urbans II. für Saint-Bertin. Darin bestätigte der Papst dem Kloster unter Abt Lambert jene Kirchen, für die es zwar die redemptio gezahlt hatte, welche es aber seit mehr als 30 Jahren besaß93. 88 Wie Anm. 85. – Wenn Sdralek, Wolfenbüttler Fragmente (wie Anm. 86), S. 26, Lamberts c. 5 dahin erklärt, »daß dagegen solche (Altäre), die einer bestimmten Person im Kloster auf Lebenszeit verliehen worden sind, nach dem Tode derselben dem Bischof heimfallen«, dann ist ihm offensichtlich nicht klar, daß persona den Inhaber eines Benefiziums bezeichnete. 89 Vgl. Constable, Monastic tithes (wie Anm. 78), S. 91 Anm. 2. 90 Vgl. Paul Fournier, Le Liber Tarraconensis, étude sur une collection canonique du XIe siècle, in: Mélanges Julien Havet, Paris, 1895, S. 259–281. 91 Julius v. Pflugk-Harttung, Acta pontificum Romanorum inedita, 3 Bde., Tübingen 1881, Stuttgart 1884–1886, Bd. 2, S. 125 Nr. 161. 92 Vgl. Kemp, Monastic possession of parish churches (wie Anm. 35), S. 139f. 93 Johannes Ramackers, Papsturkunden in Frankreich NF 3. Artois (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. Dritte Folge, 23), Göttingen, 1940, S. 36 Nr. 4; JL 5600a: Quia uero quidam simoniacae prauitatis ramus in Galliarum partibus iam diutius adoleuit, ut ecclesiae, quae uulgari uocabulo apud uos altaria nuncupantur, monasteriis datae sepius ab episcopis sub palliata auaritia uenundentur mortuis nimirum seu mutatis clericis, quos personas uocant, nos auctore Deo uenalitatem omnem tam ex misteriis (!) quam ex rebus aecclesiasticis propellentes hoc ulterius fieri auctoritate apostolica prohibemus. Porro quaecumque altaria uel decimas ab annis triginta et supra sub huiusmodi redemptione monasterium uestrum possedisse cognoscitur, quiete deinceps et sine molestia qualibet uobis uestrisque successoribus possidenda firmamus, saluo utique episcoporum censu annuo, quem ex eis hactenus habuerunt: aecclesiam uidelicet de Stenkerka in Taruanensi parrochia, aecclesiam de … Das Privileg ist kopial aus dem späten 18. Jh. überliefert. Vgl. Somerville, Decreta Claromontensia (wie Anm. 71), S. 139 mit Anm. 4.

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Für sie sei zukünftig an den jeweiligen Bischof nur noch ein jährlicher Zins zu entrichten. Betroffen war von dieser Begünstigung des Klosters auch Bischof Gerhard von Thérouanne, der schließlich am 18. Oktober 1097 mit kaum verhohlener Verärgerung die Urkunde Urbans II. approbierte: Abt Lambert habe, ließ der Bischof in der Narratio seiner Urkunde wissen, die Klosterbesitzungen von Saint-Bertin unter päpstlichen Schutz stellen lassen und dabei auch einige Kirchen (altaria) im Bistum Thérouanne hinzugefügt, que a nostro sive cuiuslibet Morinensis episcopi iure ita pendebant, ut defunctis personis in nostram deliberationem redirent. ›Quecunque, inquiens (sc. Urban II.), altaria vel decimas, ab annis triginta et supra monasterium vestrum possedisse cognoscitur, quiete deinceps et sine molestia qualibet vobis successoribusque vestris possidenda firmamus, salvo utique censu episcopi annuo, quem ex eis hactenus habuit‹. Quodque predictus abbas absque meo et archidiaconorum canonicorumque nostrorum assensu, quod non debuerat, expetiit ad nos rediens, ut ratum manere concederemus, humili ac pia devotione expostulavit. Nach dem Recht des jetzigen und eines jeden Bischofs von Thérouanne waren bislang die im Bistum gelegenen Kirchen des Klosters Saint-Bertin in die Hände des Ordinarius zurückgefallen, der die redemptio an ihnen geltend gemacht hatte. Jetzt entsprach Gerhard zwar der Bitte um Bestätigung der Papsturkunde, ließ sich aber den Verzicht auf die redemptio bezahlen; denn Abt Lambert mußte ihm verschiedene Ländereien und den Domkanonikern eine bestimmte Kirche abtreten94. Der Text ist bemerkenswert, weil er zeigt, wie ein Bischof sich nur unwillig dem päpstlichen Verbot der redemptio altarium fügte. Bischof Ivo von Chartres versuchte das Verbot der redemptio altarium sogar zu umgehen. Im Jahre 1091/92 hatte er noch geklagt, daß, qui altari non serviunt, de altari vivunt, und den Mißbrauch gegeißelt, viele versuchten gemäß dem unter seinen Vorgängern geübten Brauch, unter Vorschützung des Rechtstitels eines Pfarrers (sub nomine personae) Kirchen von ihm zu kaufen95. Dieser Brief Ivos, der nicht nur das Problem der redemptio altarium, sondern auch das Problem der nicht residierenden Besitzer von Benefizien anprangert, welche zwar die Präbende erwerben, aber nicht selber den Altardienst versehen wollen, hat mit dazu geführt, daß die ältere Forschung in einer persona per definitionem den

94 Guérard, Saint-Bertin (wie Anm. 64), S. 242 Nr. 31. 95 Ivo ep. 12 Migne PL 162 col. 25 B: Multa enim inordinata fieri video in domo Dei, quae me torquent, maxime quod apud nos qui altari non serviunt, de altari vivunt. A quo sacrilegio, cum eos absterrere velim monendo, increpando, excommunicando altaria a me redimere volunt sub nomine personae, sicut a praedecessoribus meis ex prava consuetudine redemerunt. Zur Zeitstellung des Briefes und zu Ivos Versuch, Mietpriester zu beseitigen, vgl. Rolf Sprandel, Ivo von Chartres und seine Stellung in der Kirchengeschichte (Pariser Historische Studien, 1), Bonn, 1962, S. 143f., 184.

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nicht residierenden Pfarrer oder Kanoniker erblickt hat96. Im Jahre 1099 mußte Paschal II. die Bischöfe Richer von Sens und Ivo von Chartres ermahnen, daß sie die Klöster in deren Kirchenbesitz nicht beeinträchtigten. Die Bischöfe seien selber in Clermont gewesen, als Urban geboten habe, die seit 30 Jahren durch Rückkauf durch die (oder: für die)97 Vikare (sub vicariorum redemptione) besessenen Kirchen den Klöstern ungestört zu belassen. Sie aber würden diesem eindeutigen Gebot mit Spitzfindigkeiten begegnen, indem sie sich an die Wörter klammerten und bei den Pfarrern durchaus die redemptio forderten. Es sei grundsätzlich für die Verleihung von Kirchen nichts zu verlangen98. Bemerkenswerterweise weiß auch Abt Gottfried von Vendôme von einem Clermonter Verbot der redemptio für klostereigene Kirchen, welche von Vikaren besessen wurden. Seine Beschwerde gilt dem Bischof von Angers, der für klösterliche Kirchen jetzt einen jährlichen Zins fordere, während früher, vor dem in Clermont verhängten Verbot des Rückkaufs der Kirchen, durch oder für die Vikare für viele Jahre nur einmalig eine Abgabe habe entrichtet werden müssen99. 96 Vgl. Champeaux, Personat (wie Anm. 44), S. 54. 97 Vgl. unten Anm. 99. 98 Migne PL 163 col. 36 B; JL 5820: Ipsi enim Avernensi concilio adfuistis, in quo presidente predecessore nostro bone memorie papa Urbano considentibus Galliarum episcopis decretum est, ut altaria, que ab annis triginta et sub vicariorum redemptione monasteria possedisse noscuntur, quiete deinceps et sine molestia qualibet monasteriis ipsis firma permaneant. Vos autem huic simplicitati incongruas duplicitates innectitis et personarum redemptionem mutatis nominibus extorquere conamini. Verum oportet nos huiusmodi versutiis sinceritate veritatis apostolice obviare. Precipimus ergo, ut decretum illud omnino teneatur integre, nec super illud quidquam ulterius pro eisdem altaribus exigatis. 99 Gottfried ep. lib. I, 27, Migne PL 157 col. 68 A: Decretum illud, quod idem dominus papa Urbanus in Avernensi concilio statuit contra simoniam, que sub nomine vicariorum olim fieri solebat ab episcopis, annulare machinatur (sc. der Bischof von Angers). Redemptionem etenim ecclesiarum, que in illo magno concilio heretica pravitas vocata est et ab apostolica sede damnata, licet in pluribus annis non nisi semel per vicarios fieret, nunc sub nomine annui census a simplicitate nostra extorquere conatur. – Gottfried ep. lib. III, 12, Migne PL 157 col. 119–120 A: Redemptionem ecclesiarum, que vulgari vocabulo altaria nuncupantur, beatus vir ille (sc. Urban II.) simoniacam pravitatem vocavit et apostolica auctoritate damnavit. Illa tamen magica et simoniaca pecunia aliquando in triginta, aliquando vero in quadraginta, aliquando etiam in sexaginta annis solvebatur episcopis. Qui autem redemptionem altarium, que in pluribus annis non nisi semel per vicarios fieri solebat, heresim vocavit et condemnavit, sub nomine annui census pro redemptione vicariorum sive altarium annuam pecuniam extorquere dedocuit, non precepit, imo omnia, quecunque abbates et monachi in ecclesiis sub redemptione vicariorum tenuerant, ut quiete deinceps et sine cuiuslibet exactione pecuniae possiderent, beatorum apostolorum Petri et Pauli auctoritate firmavit. Nam si in pluribus annis non nisi semel, ut dictum est, per vicarios pecunia pro altaribus dabatur episcopis, et pecuniam ipsam apostolica auctoritate probatum sit simoniam esse, singulis annis episcopis pro vicariis altarium pecuniam dare, quid est aliud, quam pro plurimorum annorum simonia, per annos singulos, sub nomine census annuam simoniam exercere? … Pecunia itaque pro ecclesiis sub palliata cupiditate extorta, que redemptio altarium dicitur, ab apostolica sede damnata, sive per vicarios rarius, sive pro vicariis frequentius, sub qualiscunque nomine vel

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Gottfrieds Briefe wissen nichts von dem laut Kanon 3 in der Überlieferung von Cencius-Baluze und im Privileg Urbans II. von 1095 für Saint-Bertin100 in Clermont den Bischöfen zugestandenen jährlichen Zins. Sie wissen auch wie offenbar bereits Ivo von Chartres nichts von einem Verbot der redemptio beim Wechsel der personae. Stattdessen spricht der Abt von Vendôme ausdrücklich von einem in Clermont behandelten decretum vicariorum, und offensichtlich auch Ivo und sogar Paschal II. selber betrachteten den Clermonter Kanon als ein vor allem die Vikare an klösterlichen Kirchen betreffendes Dekret. Mit Sicherheit wurde in Clermont die redemptio altarium verboten. Aber unter den französischen Bischöfen und Äbten scheint keine Einmütigkeit darüber bestanden zu haben, ob dieses Verbot sowohl für Inhaber von Pfarrbenefizien an klösterlichen Eigenkirchen als auch für Vikare gelten sollte. Vikare an klösterlichen Kirchen waren Ivo und Paschal II. und zur Zeit des Papstes Honorius II. auch dem Abt Gottfried von Vendôme eine selbstverständliche Erscheinung. Da das Institut von Vikaren an Kirchen in klösterlichem Besitz deren Inkorporation voraussetzt, ist durch die zuletzt angeführten Quellen ein terminus ante für die Entstehung des Inkorporationswesens gewonnen. Denn daß um das Jahr 1100 die Begriffe vicarii und personae synonym seien und ein und denselben Pfarrklerus mit einem identischen Rechtsstand hinsichtlich der von ihnen genossenen Benefizien bezeichnet hätten, ist wohl auszuschließen. Ein wenn auch aus England und erst aus den Jahren 1154–61 stammender Brief Erzbischof Theobalds von Canterbury unterscheidet streng die persona einer Kirche vom Vikar, namentlich bezüglich deren Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem klösterlichen Kirchenherrn101. Wie es angesichts der Entstehung und der Redaktion der Clermonter Kanones nicht überrascht, begann bald nach dem Konzil der Inhalt des Kanon 3 auch in Papsturkunden zu verschwimmen. Schon als im Jahre 1099 Urban II. zugunsten von Saint-Remi vor Reims dem Bischof Ingelram von Laon das Verbot der redemptio einschärfte, wurde in seiner Urkunde behauptet, daß er zwar die personae abgeschafft, nicht aber den Klöstern ihr altes Recht an den Kirchen genommen

occasione extorqueatur, simoniaca pravitas esse nulla ratione dubitatur … Et ne ulterius de decreto vicariorum dubitetis, illud vobis (sc. Bischof von Angers) transcriptum mittimus. 100 S. oben Anm. 93. 101 The Letters of John of Salisbury ep. 63, ed. William James Millor / Harold Edgeworth Butler / Christopher Nugent Lawrence Brooke, Vol. 1. The Early Letters (1153–1161) (Oxford Medieval Texts), London, 1955, S. 104f.: Illos vero (sc. frühere Inhaber der Kirche), a quibus monachi se prefatam quantitatem recepisse dicebant, asserebat iam dictae ecclesiae non fuisse personas sed conducticios sacerdotes … Ipsorum quoque monachorum testimonio utebatur, contra eos proferens scriptum, quo nobis persuaserant praedictum Segarum non personam praedictae ecclesiae sed uicarium ipsumque conducticium extitisse. Vgl. unten bei Anm. 174.

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habe102. Da der Papst unmöglich die Inhaber jedweder Benefizien und daher auch die Pfarrgeistlichkeit hat beseitigen wollen, könnte in seinem Privileg in starker Verkürzung an solche Kleriker gedacht worden sein, welche kirchliche Ämter kauften, ohne diese Ämter selber auszuüben. Viel wahrscheinlicher ist aber, daß die Mönche von Saint-Remi beim Papst mit der Absicht vorstellig geworden waren, den Bischof von Laon zu veranlassen, eine bestimmte Kirche, und zwar Saint-Quentin in Corbeny, ihrem Kloster zu inkorporieren. Denn eine Urkunde Bischof Ingelrams von Laon für Saint-Remi vom Jahre 1101 spricht zwar ebenfalls von der Abschaffung der personae durch päpstliches Dekret, verfügt dann aber unter Zustimmmung des Klerus und des zuständigen Archidiakons, daß SaintRemi die Kirche Saint-Quentin, welche sie seit langem per personas besitze, wegen gewisser Zehntstreitigkeiten zwischen dieser Kirche und den Besitzungen der Reimser Abtei in Corbeny103 sowie wegen der Gefahr des Ämterkaufs bei der Neuwahl einer persona künftig perpetualiter sine persona besitzen solle104. Auch in späteren Papsturkunden herrschte gelegentlich Unklarheit darüber, was in Frankreich unter personae und personatus verstanden wurde105. Vor der Erörterung des Verbotes der redemptio altarium nach dem Tode oder Weggang der Kleriker, quos personas vocant, durch den Kanon 3 des Konzils von Clermont waren oben einige Fälle aus Reims angeführt worden, in denen zwar von der redemptio befreit wurde und dennoch personae an den betreffenden Niederkirchen weiter amtierten106. Schon dieser Befund legt die Annahme nahe, daß es sich bei Formulierungen wie sine personis, sine redemptione oder absque personis et absque redemptione oder liberum et a persona et a redemptione, welche seit dem Jahre 1046 in zunehmendem Maße namentlich in der Diözese Cambrai begegnen107, nicht jeweils um ein Hendiadyoin handeln kann, das einen

102 Gallia christiana 10 instr. Sp. 191; JL 5778: … etenim personas removimus, non tamen antique possessionis ius abstulimus monasteriis. 103 In Corbeny befand sich ein Priorat von Saint-Remi, Migne PL 143 col. 617; JL 4177 (1049). 104 Marlot, Histoire Reims (wie Anm. 42), t. 3, S. 724 Nr. 49: Erat enim in Corbiniaco villa ipsius beati Remigii quoddam nostrum altare in honore sanctissimi martyris Quintini, cuius decimae rebus illius immixtae integritatem possessionis eius videbantur mutilare et aliquando causa altercationis existere. Hoc quidem ecclesia beati Remigii longo tempore per personas tenuerat. Emanante autem apostolicae sedis sententia de ablatione huiusmodi personarum, ne earum subrogatio venditionis fieret occasio, … tradidi praedictum altare sancti Quintini sancto Remigio in manu abbatis sui Azenarii perpetualiter sine persona tenendum salvo tamen iure episcopali. 105 Vgl. unten bei Anm. 155. 106 Vgl. oben bei Anm. 69. 107 1046 Cambrai: Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 66 Nr. 608; Le Glay, Glossaire topographique (wie Anm. 41), S. 5 Nr. 3. – 1057 Cambrai: Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 72 Nr. 703; Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 395 Nr. 48. – 1075 Cambrai: Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 95 Nr. 804; Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 419 Nr. 58.

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einzigen Sachverhalt, nämlich die Befreiung von der redemptio, meint108, sondern um die Verleihung zweier verschiedener Rechte, und zwar sowohl der Befreiung von der redemptio als auch von einer an der betreffenden Kirche bepfründeten persona. Es wurde die Befreiung von einem an der Kirche bepfründeten und funktionierenden Pfarrer verliehen, wenn die betreffende persona nicht nur das Pfarrbenefizium genoß, sondern auch die cura animarum wahrnahm. Oben wurden Fälle dargestellt, in denen die persona der Pfarrherr einer Gemeinde war109. Der klösterliche Besitz einer Kirche libera et a persona et a redemptione würde dann bedeuten, daß diese ohne die Verpflichtung zur Zahlung der redemptio und frei von einer die Pfarrpfründe nutzenden Person besessen werden sollte. Für die Plausibilität dieser Interpretation spricht außer den bisherigen Beobachtungen das argumentum e silentio, daß, was schon vor Clermont beginnt, gegen Ende des 11. Jahrhunderts die Erwähnung einer redemptio allmählich aus den Urkunden verschwindet, während Kirchen weiterhin sine personis übertragen wurden. Die letzten Formulierungen absque personis et absque redemptione beziehungsweise exactione finden sich in Cambrai in den Jahren 1095, 1097, 1101 und 1111110. Die Bestimmung in der Urkunde Eugens III. von 1145 für Saint-Remi 108 So die nicht explizite, sondern nur angedeutete Auffassung von M. H. Koyen und H. Platelle (s. oben Anm. 45), die offensichtlich auch Ludwig Falkenstein, Zur Stellung des Reimser Metropolitankapitels in Stadt, Diözese und Kirchenprovinz während des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Proceedings of the Sixth International Congress of Medieval Canon Law, hrsg. v. Stephan Kuttner / Kenneth Pennington (Monumenta Iuris Canonici. Series C: Subsidia, 7), Città del Vaticano, 1985, S. 554, vertritt, wenn er den folgenden Artikel der von ihm auf Grund des ältesten Textzeugen vor die Mitte des 12. Jh. und vermutungsweise vor 1096 datierten Wahlkapitulation der Reimser Erzbischöfe (ed. Marlot, Histoire Reims (wie Anm. 42), t. 3, S. 718, 720 Nr. 44; Gallia christiana 10 instr. col. 34): Vt altaria que in communi obtinemus absque personis in prouidentia prepositi habeantur nec in eis seu in his que priuatim possidemus diuinum interdicatur officium, nisi synodali et canonicorum consentiente decreto, folgendermaßen paraphrasiert: »Der Dompropst verfügt über die dem Kapitel gemeinsam gehörenden Kirchen, und zwar ohne die Verpflichtung zur Leistung der ›persona‹; weder über sie noch über Kirchen einzelner Kanoniker darf ein Interdikt verhängt werden, ausser durch Synodalbeschluss und mit Zustimmung der Kanoniker«. Der Dompropst verfügt vielmehr über die vom Kapitel gemeinsam besessenen, inkorporierten Kirchen (vgl. unten bei Anm. 201ff.), und über diese und über die von den Kanonikern einzeln besessenen Kirchen darf nur mit Konsens des Kapitels oder durch Synodalbeschluß ein Interdikt verhängt werden. Ein Interdikt schmälerte den Ertrag eines (Pfarr)benefiziums, insbesondere jenen aus Oblationen und Spenden, empfindlich. Von ihm wären die Kanoniker als Nutznießer der Benefizien inkorporierter Kirchen unmittelbar betroffen, weshalb sie sich die Zustimmung zu seiner Verhängung vorzubehalten suchten. 109 S. oben bei Anm. 51. 110 Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 150 Nr. 838 (1095); Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 481 Nr. 91 (unrichtig zu 1099). – Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 160 Nr. 844; Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 473 Nr. 87 (1097). – Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 167 Nr. 902; Lille, Arch. dép. Nord 1 H 34 Nr. 385 (1101). – Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 200 Nr. 928; Lille, Arch. dép. Nord 1 H 35 Nr. 388 (1111).

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omnes autem ecclesias, que de iure eiusdem monasterii esse noscuntur, ab omni personali successione liberas manere censemus111, kann aus der Erwägung, daß nicht alle Eigenkirchen der Remigiusabtei inkorporiert gewesen sein können und auch nicht waren112, eigentlich nur auf die redemptio bezogen werden. Die Verleihung der Kirche Coulommes an Saint-Remi absque personarum vicissitudine im Jahre 1104 durch Erzbischof Manasse von Reims nutzte die Gelegenheit, daß die Kirche gerade vakant war, und dürfte die Befreiung von jeder Wiederbesetzung durch eine persona bezweckt haben113. Hingegen begegnen wie bereits seit dem 11. Jahrhundert nach der Wende zum 12. Jahrhundert ohne eine eigene Erwähnung der redemptio überaus zahlreich Formulierungen wie exclusa persona (1117 Cambrai), inpersonaliter (1124 Reims) und oft liberum et sine persona, zum Beispiel 1137 in Cambrai114. Privilegien Paschals II. sprechen noch zu Anfang des 12. Jahrhunderts von einer personalis redemptio115. Das Attribut soll wie in der Wendung personalis venalitas116 vom Jahre 1115 offenbar nur klarstellen, daß es sich bei der redemptio um Geschäfte handelt, welche bei der Ernennung von Benefizieninhabern und damit auch Pfarrern getätigt wurden.

Vorläufiges Ergebnis und seine Überprüfung Bis hierher ist unter der Vergabung einer Kirche sine persona die Verleihung des (Pfarr)benefiziums dieser Kirche mit der Maßgabe zu verstehen, daß dieses von einer Person nicht genutzt werden soll. Die Richtigkeit dieser Deutung könnte nun mit der Erwägung bestritten werden, daß, wo keine Person und also auch kein Pfarrherr eingesetzt werden soll, automatisch auch die Möglichkeit der Erhebung einer redemptio seitens des Bischofs entfallen müßte. Das ist jedoch 111 Varin, Archives administratives (wie Anm. 41), t. 1,1, S. 311; Migne PL 180 col. 1070 C; JL 8800. 112 Vgl. unten bei Anm. 206. 113 Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 137; Marlot, Histoire Reims (wie Anm. 42), t. 3, S. 725 Nr. 51: Manasses … considerantes itaque per altare de Colummis, quod ecclesia sancti Remigii per successionem personarum hucusque tenuerat, in mutatione persone occasione accepta prefatum monasterium rerum suarum sustinere dispendium interventu abbatis Azenerii illud sancto Remigio contulimus et absque personarum vicissitudine perpetuo tenendum concessimus. 114 Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 220 Nr. 947; Lille, Arch. dép. Nord 1 H 36 Nr. 395 (1117). – Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 185; Migne PL 163 col. 1430 (1124). – Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 548 Nr. 117 bis (1137). 115 Johannes Ramackers, Papsturkunden in den Niederlanden (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. Dritte Folge, 8–9), Berlin, 1933–1934, S. 89 Nr. 4 (1103). – Migne PL 163 col. 111 A (1103); JL 5938 (1103). 116 JL 6471.

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nicht der Fall. Denn auch bei der Einsetzung von Vikaren haben, wie erwähnt, um 1100 verschiedene Bischöfe die redemptio gefordert117, und bereits die Urkunden Dietrichs von Verdun vom Jahre 1064 für Gorze118 oder Pibos von Toul vom Jahre 1072 für die Abtei Saint-Evre in Toul belegen die Möglichkeit der Zahlung der redemptio bei der Ernennung von Vikaren119. Da die Urkunden gelegentlich davon sprechen, eine Kirche sei gerade in die Verfügungsgewalt des Bischofs gelangt und werde nun impersonaliter oder absque persona dem Kloster verliehen120, könnte weiter vermutet werden, die Vergabe absque persona wolle nur besagen, daß die Kirche zur Zeit vakant sei. Jedoch scheidet auch diese Möglichkeit aus; denn im Jahre 1098 ist aus Arras für die Abtei Hasnon überliefert, diese solle ein altare … omni tempore a persona absolutum besitzen121. Die Formulierung absque persona tenere hebt also auf die Bedingung ab, unter der zukünftig eine Kirche von einem Kloster besessen werden soll. Endlich könnte im Sinne von Hans Rheinfelder die Wendung sine persona dahin gedeutet werden, daß sie dem Kloster das Anstellungsrecht oder genauer das Wahl- und Präsentationsrecht für die jeweilige persona, je nach den Umständen also auch für den funktionierenden Pfarrer, verbriefen wollte122. Auf Kosten des Abtes mochten der Bischof oder der in einer Pfarrei ansässige Ortsadel das Präsentationsrecht auf das Benefizium einer klösterlichen Eigenkirche beanspruchen. Immerhin rief der Kanon 4 von Clermont in der Überlieferung von Cencius-Baluze den Äbten in Erinnerung, daß die Anstellung der Pfarrkleriker an klösterlichen Eigenkirchen stets nach Konsultation des Bischofs zu erfolgen habe und das Recht zur Erteilung der cura allein beim Diözesanherrn liege123. Der Herrschaft der Äbte über ihre Kirchen scheint demnach die Tendenz 117 Vgl. oben bei Anm. 97ff. 118 Wie Anm. 24: … vicarium … ad curam animarum sine ullo tamen precio suscipiendam promovendum. 119 Wie Anm. 38: … ut decedentibus vicariis … ipsi (sc. die Brüder) eadem altaria redimere nequaquam compellentur. 120 [1034/35] Reims: Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 15; Migne PL 142 col. 1405. – 1089 Reims: Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), S. 228 Nr. 75; Varin, Archives administratives (wie Anm. 41), t. 1,1, S. 239 Nr. 67. – 1093 Reims: Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 82; Varin, Archives administratives (wie Anm. 41), t. 1,1, S. 244 Nr. 72. – 1102 Reims: Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 129; Arch. dép. Marne, Annexe Reims 56 H 268. 121 Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 475 Nr. 88. 122 Vgl. Rheinfelder, Persona (wie Anm. 46), S. 105. 123 Somerville, Decreta Claromontensia (wie Anm. 71), S. 123: Sane quia monachorum quidam episcopis ius suum auferre contendunt, statuimus ne in parrochialibus ecclesiis, quas tenent, absque episcoporum consilio presbiteros collocent; sed episcopi parrochie curam cum abbatum consensu sacerdoti committant, ut eiusmodi sacerdotes de plebis quidem cura episcopo rationem reddant. Abbati vero pro rebus temporalibus ad monasterium pertinentibus debitam subiectionem exhibeant, et sic cuique sua iura serventur. Vgl. bereits c. 6 der Synode von Poitiers (1078), Mansi 20 col. 498, und dann Gratian C. 16 q. 2 c. 6.

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innegewohnt zu haben, sich gegenüber den Bischöfen zu verselbständigen. Über Ambitionen des Ortsadels hinsichtlich der Benefizien klösterlicher Eigenkirchen gibt es zumindest im Untersuchungsgebiet hingegen fast keine urkundlichen Nachrichten124. Daß das mit der Wendung sine persona verbriefte Recht sich jedoch nicht in der Gewährung der Wahl und der Präsentation erschöpfte, zeigt eine Urkunde vom Jahre 1101 aus Noyon-Tournai, welche der Abtei Anchin die Kirche Templeuve libere absque persona et absque omni emptionis vel redemptionis exactione verlieh und hinzufügte: Concedimus etiam, ut tu (sc. abba) vel tui successores presbiterum in eadem ecclesia constituatis, qui curam animarum a me … suscipiat125. Ein solcher oder ein ähnlicher Passus begegnet auch anderweitig, insgesamt aber seltener126. Daß Wahl und Präsentation für Pfarrer und Vikare an klösterlichen Kirchen beim Abt lagen, scheint daher aus der Sicht der Bischöfe eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein, die nicht eigens verbrieft werden mußte. Vielmehr beschäftigte die Bischöfe die Präsentationspflicht der Äbte, das heißt die Respektierung des bischöflichen Anstellungsrechts des an klösterlichen Eigenkirchen tätigen Klerus, dessen Kern der Empfang der cura animarum aus des Hand des Ordinarius loci gewesen ist. Auch wenn dieser Klerus an klösterlichen Kirchen tätig war, beanspruchte der Episkopat über ihn die Jurisdiktion127. Wenn also Templeuve von der persona befreit wurde, dem Abt von Achin aber in derselben Urkunde das Recht zur Einsetzung eines presbiter zugestanden wurde, dann liegt die Annahme nahe, daß persona und presbiter sich in ihrer jeweiligen Rechtsstellung an der Kirche von Templeuve unterschieden haben dürften. Bislang wurde geprüft, was der Begriff persona und die Wendungen sine persona oder absque persona oder impersonaliter bezeichnen mochten. Immer wieder war auf die Bedeutung »Person als Inhaber eines Benefiziums« bezie124 Vgl. aber unten bei Anm. 138, 149. 125 Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 169 Nr. 904; Duvivier, Actes (wie Anm. 40), S. 298; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 78. 126 Verdun 1047–52: Wahl und Präsentation des Pfarrers (oder Vikars?) durch den Abt, Verleihung der cura durch den Archidiakon, Bloch, S. Vanne (wie Anm. 68), S. 50 Nr. 43. – Verdun 1055: Wahl und Präsentation des Vikars durch den Abt, Verleihung der cura durch den Archidiakon, d’Herbomez, Gorze (wie Anm. 23), S. 230 Nr. 129. – Toul 1072: Wahl des Vikars durch den Abt, cura vom Bischof, Migne PL 157 col. 419. – Reims 1125: Wahl des Vikars durch den Abt, cura vom Bischof, Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 194; Migne PL 189 col. 1058. 127 Reims 1053: Präsentation des Pfarrers durch den Abt, cura vom Bischof, Gallia christiana 10 instr. Sp. 21 Nr. 18. – Noyon-Tournai 1093: Präsentation des Pfarrers (persona) durch Abt und Mönche, cura vom Bischof, Guérard, Saint-Bertin (wie Anm. 64), S. 206 Nr. 31; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 59. – Cambrai 1105: cura vom Bischof an den Vikar, Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 182 Nr. 912; Lille, Arch. dép. Nord 1 H 35 Nr. 386. – Cambrai 1109: cura vom Bischof an den Vikar, Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 493 Nr. 97. Vgl. Avril, Angers (wie Anm. 32), t. 1, S. 150f.

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hungsweise »Pfarrer« und auf die Bedeutung »Kirchen ohne Person«, »ohne Pfarrer« zurückzukommen. So lautet das bisherige Ergebnis, daß in Nordfrankreich im 11. und 12. Jahrhundert die Bischöfe Niederkirchen an Klöster gegegeben haben, und zwar, um Bischof Lietbert von Cambrai aus dem Jahre 1076 zu zitieren, alia (sc. altaria) sine personis, alia cum personis128. Über den Sinn, welcher der Vergabe einer Kirche »ohne Pfarrer« innewohnte, schweigen sich die bisher herangezogenen und viele andere Urkunden aus. Er war den Zeitgenossen offenbar dermaßen klar, daß nähere Erklärungen nicht erforderlich schienen.

Die Verleihung sine / absque persona bedeutet Inkorporation Im folgenden ist zu zeigen, daß, wie bisher nur verschiedentlich angedeutet, die Verleihung einer Kirche ohne Pfarrer den Zweck verfolgte, das Kloster durch die Zuwendung des bisher einem Pfarrer (persona) zustehenden Benefiziums zu begünstigen, dem Kloster also die betreffende Kirche zu inkorporieren. Eine persona besaß einen personatus. Sie konnte ihn, wie im Jahre 1053 in Reims erwähnt, verlieren129, und ein personatus konnte, wie im Jahre 1099–1110 in Noyon-Tournai bezeugt ist, verliehen werden130. Auf den Personat einer Kirche sollte im Jahre 1086 in Reims eine persona ohne Verpflichtung zur Zahlung einer redemptio gewählt werden131. Die cura animarum und der personatus der Kirche in Koekelare waren von Ratbod von Noyon dem Kleriker Tankred übergeben worden, der im Jahre 1106 den Bischof Balderich darum bat, diese Kirche nebst jener in Ruislede, welche er ebenfalls sub eodem personatu besaß, dem Kloster Saint-Bertin zu verleihen; der in Ruislede anzustellende sacerdos sollte vom Bischof die cura empfangen132. Hier ist also wie anderswo bezeugt, daß ein Kleriker zwei und mehr Personate innehaben konnte133.

128 Für das Stift Saint-Aubert in Cambrai, Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 103 Nr. 808; Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 422 Nr. 60. 129 Wie Anm. 53. 130 Cuicumque autem personatum committere canonici (sc. von Saint-Pierre in Lille) voluerint, absque omni exactione curam animarum episcopus tradat, Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 183 Nr. 913; Hautcoeur, Saint-Pierre de Lille (wie Anm. 42), t. 1, S. 18 Nr. 11; Pycke, NoyonTournai (wie Anm. 39), Nr. 128. 131 … ad eiusdem altaris personatum absque pecunie exactione subrogetur, Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 69; Paris, Histoire d’Avenay (wie Anm. 69), t. 2, S. 71. 132 Guérard, Saint-Bertin (wie Anm. 64), S. 223 Nr. 12; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 110. 133 Burchard von Cambrai für Domstift Cambrai (1121), Le Glay, Glossaire topographique (wie Anm. 41), S. 33 Nr. 23: altaria etiam de Felcheriis et Haurancurth, redditione et petitione Hugonis, sancte Marie canonici, qui eorumdem persona erat, … conferimus. Noyon-Tournai

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In Noyon-Tournai 1086 und 1130 und in Lüttich im Jahre 1163 gab es aber auch wie vielfach andernorts den Fall, daß ein Personat von mehreren Klerikern besessen wurde134. Damit ist das bisherige Ergebnis, eine persona könne auch ein Pfarrer gewesen sein, keineswegs widerlegt. Denn es waren verschiedene Texte anzuführen, nach denen der persona die cura übertragen worden war und diese selbst der funktionierende Pfarrer sein sollte135.

Die Bedeutung von personatus Bislang konnte gezeigt werden, daß eine persona nicht nur ein höherer kirchlicher Amtsträger gewesen ist, sondern auch ein Pfarrer sein konnte und immer der Inhaber eines personatus war. Der noch ausstehende Nachweis, daß der Personat das Recht auf das Benefizium ist, ist im folgenden zu erbringen. Wie soeben belegt wurde, konnte ein Kleriker der Inhaber mehrerer Personate sein. Er betrieb dann nichts anderes als Pfründenhäufung. Eine persona konnte ihren personatus durch einen Vikar verwalten lassen, den sie unter Umständen reichlich mit Einkünften ausstattete. Diesen Fall und zugleich den Rechtsinhalt des Begriffes personatus beleuchtet ein Streit, der sich zu Anfang des 12. Jahrhunderts in der Diözese Cambrai zugetragen hat.

Personatus nach einer Supplik Bischof Burchards von Cambrai (1118–1121) Der Archidiakon Radulf von Cambrai hatte mit bischöflichem Konsens die ihm ehedem von Bischof Manasse (1093–1103) verliehene Kirche (altare) Monasterium nebst deren Filiale Frasne mit dem Einverständnis Bischof Burchards von 1125, d’Hoop, Recueil prieuré de Poperinghe (wie Anm. 41), S. 12 Nr. 10; Pycke, NoyonTournai (wie Anm. 39), Nr. 191. 134 Noyon-Tournai 1086: René Poupardin, Quatre chartes anciennes d’évêques de Noyon provenant de la collection Phillipps, Chauny, 1910, S. 4 Nr. 1; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 38: altare de Luilli … ad eorum usum personas Razelinum et Eustachium immutavi, sicque eis (sc. Kanoniker von Saint-Quentin) perpetuo tenendum in personatum concessi, ea scilicet conditione, quod personis istis decedentibus aliam prefati canonici … presentent … – Noyon-Tournai 1130: Hugo, Annales (wie Anm. 13), t. 1,2, prob. Sp. CLV; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 206: altare de Monte Benehem, quod decedentibus personis in nostra manu redierat … concedimus. – Lüttich 1163: Charles Piot, Cartulaire de l’abbaye de Saint-Trond, 2 tom. (Collection de chroniques Belges inédites, 12,1–2), Bruxelles, 1870–1874, t. 1, S. 105 Nr. 79: … ipse personatus predicte ecclesie, sicut eum frater Wazo de Leodio et magister Henricus de Sancto Trudone habuerunt … Weitere Belege bei Champeaux, Personat (wie Anm. 44), S. 60f. 135 Vgl. oben bei Anm. 51.

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Cambrai (1116–1130) der Abtei Anchin geschenkt. Dagegen erhoben ein Lütticher, aus Monasterium gebürtiger Kleriker namens Hellin und der Abt der Martinsabtei in Tournai, deren Besitzungen teilweise in Nachbarschaft der vergabten Kirche lagen, während einer bischöflichen Synode Einspruch: ›Audivimus quia domnus Radulfus archidiaconus vester (sc. des Bischofs) altare de Monasterio cum appenditio suo Frasne abbati Aquicinensi et ecclesie ipsius per manum vestram iniuste quidem contradidit, quod ego (sc. Hellin) iam per XVcim annos quiete possedi et synodales conventus executus synodalia iura per quotannis persolvi. Ipse enim domnus Radulfus predictum altare et redditus coram legitimis testibus mihi tradiderat, et ut redditus synodales domno Guuicherio et ministris eius persolveretur benigne concesserat‹136. Darauf räumte Radulf auf derselben Synode zwar sogar ein, daß er die ›redditus predicti altaris domno Hellino sicut asserit in vita ipsius libere et quiete possidendos‹ übertragen hätte, ›sed personatum illius altaris numquam deposui nec in manu episcopi reddidi, nec canonico iuditio aliquatenus amisi‹. Auch sei richtig, daß er dem Bischof Odo (1105–1113), ›ut prefato Hellino concederet, reddere volui (zu ergänzen: prefatum personatum)‹, jedoch habe er dazu den Bischof nicht zu bewegen vermocht. Diese Aussagen bewertete der anwesende Abt von Anchin dahin, daß die strittige Kirche rechtmäßig ihm übertragen worden sei und daß ›domnus Hellinus numquam aliquid donum ab ullo episcopo receperit‹. Als die darauf um Urteil gefragte Synode sich zu keiner Entscheidung aufraffen konnte, lud der Kleriker Hellin den Archidiakon Radulf und den Abt von Achin vor den Kardinallegaten Kuno von Palästrina mit der Begründung, daß der Archidiakon ihm eine vormalige Verleihung nicht ex integro belassen habe. Gegen diese Appellation an den Legaten verwahrte sich nun der Bischof (… exoratum volumus, quatinus inordinate appellationis presumptionem canonica districtione compescatis et istorum ius canonicum absque retractione diffiniatis). Das Urteil des Legaten in dieser Angelegenheit ist leider nicht überliefert. Die Standpunkte der Parteien sind indessen deutlich. Da der Kleriker Hellin die Einkünfte der Kirche auf Lebenszeit und faktisch genoß, war er seiner Meinung nach der Inhaber des Personats. Der Personat bestünde demnach im Genuß der 136 Supplik Burchards von Cambrai an Kardinalbischof Kuno von Palästrina († 9. August 1122) (ohne Datum), Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 229 Nr. 955 (zu 1114–1123 und mit Fehlern, die hier stillschweigend verbessert sind); Lille, Arch. dép. Nord 1 H 35 Nr. 395. Die Datierung ergibt sich aus der Weihe Burchards von Cambrai im Jahre 1116, vgl. Gerold Meyer v. Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., 7 Bde., Leipzig, 1890–1909 (ND Berlin, 1964–1965), Bd. 7, S. 13 mit Anm. 12, M. Chartrier, Burchard, in: Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastique, t. 10, Paris, 1938, col. 1230, und den Legationen Kunos von Palästrina nach Frankreich, vgl. Theodor Schieffer, Die päpstlichen Legaten in Frankreich (Historische Studien Ebering, 263), Berlin, 1935, S. 203–212, Rudolf Hüls, Kardinäle, Klerus und Kirchen Roms 1049–1130 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 48), Tübingen, 1977, S. 113–116.

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Altarfrüchte. Demgegenüber hebt die Einlassung des Archidiakons darauf ab, daß nicht die tatsächliche Nutzung der Altareinkünfte, sondern das Recht auf diese Nutzung und gegebenenfalls auch auf deren Verleihung das Wesen des personatus ausmachen. So ist dem Text nicht nur zu entnehmen, daß Inhaber von Altareinkünften diese weitgehend oder vollständig an den funktionierenden Seelsorger übergeben haben, welcher sich dann – obschon rechtlich nur ein Vikar – in der Stellung einer persona gesehen hat, sondern daß der personatus das Recht auf das jeweilige Benefizium gewesen ist. Der Archidiakon hat dem Bischof sein Recht auf das von ihm dem Hellin auf Lebenszeit faktisch verliehene Benefizium niemals aufgelassen. Latent war mit dem Benefizium auch in vorliegendem Fall die Pflicht zur Ausübung des Seelsorgeamtes verbunden: Nur war diese an den Kleriker Hellin delegiert; denn wenn Hellin die Sendpflichten erfüllte, dürfte er auch die cura animarum ausgeübt haben.

Personatus nach Reimser Urkunden für Cluny (1091–1099, 1125) Daß der personatus das Recht auf das Benefizium war – im Jahre 1146 wurden in einem Privileg Eugens III. für Bayeux die Begriffe personatus und beneficium synonym gebraucht137 –, wird durch einen anderen Fall bestätigt. Dieser zeigt zudem, daß die Übertragung des personatus einer Kirche an ein Kloster die Inkorporation der betreffenden Kirche in das begünstigte kirchliche Institut darstellte. Schwierigkeiten, welche die Erzbischöfe von Reims mit den Herren von Pleurs wegen der Kirche (altare) Tours-sur-Marne hatten, führten zur Mundierung von vier Urkunden, welche die Rechte einer persona und die Bedeutung des Begriffes personatus erkennen lassen und zugleich eine Inkorporation bezeugen. Die Herren von Pleurs138 hatten sich die Kirche Tours-sur-Marne angeeignet, bis sie diese dem Erzbischof Rainald von Reims unter der Bedingung aufließen, daß dieser sie der Abtei Cluny übertrüge. Das hat der Erzbischof getan. Im Jahre 1091 verlieh er der Abtei die Kirche (altare) Tours absque persona perpetualiter tenendum139. Eine Notitia des Erzbischofs Manasse von Reims vom Jahre 1099 137 Johannes Ramackers, Papsturkunden in Frankreich NF 2. Normandie (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. Dritte Folge, 21), Göttingen, 1937, S. 110 Nr. 42: ut ecclesiam de Heriz, quam donatione et concessione Roberti de Nouo Burgo ecclesie sue (sc. dem Domstift) acquisierat et in beneficium succentorie deputauerat … confirmaremus. Nos itaque …prefatam ecclesiam cum terris, decimis et omnibus pertinentiis suis … in personatum succentorie perpetuis temporibus manere decernimus. 138 Vgl. Michel Bur, La formation du comté de Champagne vers 950 – vers 1150 (Publications de l’Université de Nancy II. Mémoires des Annales de l’Est, 54), Nancy, 1977, S. 268. 139 Aug. Bernard / Alexandre Bruel, Recueil des chartes de l’abbaye de Cluny, 6 tom., Paris, 1876–1904, t. 5, S. 8 Nr. 3661.

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führte darüber hinaus aus140, Rainald habe die Übertragung absque persona unter der Bedingung vollzogen, daß der Priester in Tours, welcher seinerzeit den Personat und das »Pfarramt«141 innehatte (presbiter loci illius, qui tunc temporis personatum parrochiamque tenebat), diese lebenslang genießen sollte, sofern er sich nichts zuschulden kommen ließe; nach seinem Tode aber sollte Cluny das, was ihm gehöre, nämlich den Personat, auf immer erhalten (quod suum erat, scilicet predictum personatum, perpetuo tenendum reciperet). Jedoch zur Zeit des Erzbischofs Manasse sei dem Priester der Personat mit dem »Pfarramt« gerichtlich aberkannt worden, worauf die Abtei den Personat und die Pfarreigerechtsame in Besitz genommen hätte (eidem presbytero sepedictus personatus cum parrochia abiudicatus fuisset, ecclesiam Cluniacensem eundem personatum et parrochiam recepisse). Der abgesetzte Priester gab sich aber nicht geschlagen. Er hatte den Personat innegehabt und zugleich das »Pfarramt« und hatte damit also auch die Sakramentsverwaltung, die cura animarum, wahrgenommen. Daher, so ließ er sich vernehmen, rechnete er vieles von den Einkünften des Altars seiner Inhaberschaft des personatus zu. Sie gehörten rechtmäßig ihm; denn er stammte aus dem Ort. Seine Bewohner seien auf Grund von Verwandtschaft bereit gewesen, eher ihm und seinen knappen Mitteln aufzuhelfen, als die Einkünfte von Laien aus unrechtmäßig besessenen (kirchlichen) Abgaben zu bestreiten142. Erzbischof Manasse setzte nun, um die Gefahr eines Konfliktes zwi140 Ebda., S. 78 Nr. 3732; Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 115. 141 Diese Bedeutung von parrochia, sofern unter »Pfarramt« die Pfarrgewalt mit der cura animarum verstanden wird, ergibt sich aus dem Kontext. Kanon 4 von Clermont (wie Anm. 123) spricht von der vom Bischof zu verleihenden parrochie cura. Zur älteren Bedeutung von parrochia als bischöfliche Gewalt über bestimmte Orte (= Diözese) vgl. Carolus Dufresne / Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, t. 5, Paris, 1845, S. 102ff. – In der Corbie inkorporierten Kirche Haren (Diözese Lüttich) wurde 1158/59–60 der Vikar ins »Pfarramt« eingesetzt, Duvivier, Actes (wie Anm. 40), S. 142: ut vicario, qui a preposito (ve)stro ad officium parrochiale constituendus est. Im Jahre 1169 verlieh der Elekt Dietrich von Metz an das Kollegiatstift St. Marien und St. Theobald in Metz parrochialem et pastoralem curam der inkorporierten Kirche Mars-la-Tour, Parisse, Metz (wie Anm. 11), S. 34 Nr. 15. Zum Begriff vgl. auch Gabriel Fournier, La mise en place du cadre paroissial et l’évolution du peuplement, in: Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo, 28, 1 (1982), S. 526f. mit Anm. 36. – In obigem Sinn zu derselben Stelle auch Pacaut, Recherche (wie Anm. 32), S. 36: »parocchia commence à être employé, concerne avant tout, semble-t-il, un droit, un office. Il est à la fois la charge paroissiale elle-même, c’est-à-dire la cura animarum, et les droits et revenus qui lui sont affectés, en gros ce qu’on va appeler par la suite un bénéfice. On peut se demander si on ne tend pas à lui substituer, à la fin du XIe siècle, le terme de personatus, que l’on note en 1099 …« 142 Porro saepe replicatus presbyter, dum personatum et praefatam simul parrochiam solitus esset regere multa de redditibus altaris omnia sui iuris esse asserens personatui suo vindicavit, utpote vir, qui eiusdem loci oriundus extiterat et cuius opes exiguas homines villae illius amoris et consanguinitatis causa de suo magis volebant augeri, quam laicorum de rebus male possessis facultates ditari. – Kirchliche Einkünfte und Ämter in Laienhand hat die konziliare Gesetzgebung insbesondere seit der Synode von Reims 1049 immer häufiger verboten: 1049

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schen den Mönchen und dem künftigen Priester der Pfarrei (presbiterum in parrochia saepe memorata substituendum) zu bannen, im Jahre 1099 fest, daß der Priester von Wein und Korn und von den Oblationen die Hälfte empfangen sollte, deren Gesamtheit überlicherweise an einen solchen Priester fiele, der den Personat innehabe und zugleich das »Pfarramt« ausübe (ita ut presbiter parrochiae saepe fatae deserviturus, vini et annonae, oblationumque m e d i a m partem reciperet, cuius videlicet t o t u m presbyter, qui personatum simul et parrochiam tenebat, accipere solitus esset). Weiter wurde der Anteil des Priesters an den bei Beerdigungen dargebrachten Gaben bestimmt. Die übrigen Oblationen, die bei Heiraten, bei der Rekonziliation der Wöchnerinnen und bei Gedächtnismessen anfielen, wurden zur Gänze dem Priester zugewiesen. Der Text ist für das Verständnis von persona und personatus sowie für den Nachweis, daß Inkorporationen in Nordfrankreich schon im 11. Jahrhundert vollzogen wurden, von großer Bedeutung. Ihm zufolge gelangte eine Kirche an eine Abtei, welche diese zukünftig ohne persona besitzen sollte. Der derzeitige Priester hatte den personatus inne und das »Pfarramt«. Erst nach seinem Tode oder Weggang fielen personatus und Amt an das begünstigte Institut. Was ist der personatus? Wer ihn – wie hier zunächst noch der Pfarrer – innehat und zugleich die cura animarum versieht, kann die Höhe der Einnahmen, die aus dem Pfarrdienst fließen, auf Grund verwandtschaftlicher Beziehungen und durch den Grad der Intensität seiner Seelsorge bestimmen. Die Gaben von Wein und Korn143 Reims c. 3, Mansi 19 col. 742: Ne quis laicorum ecclesiasticum ministerium vel altaria teneret nec episcoporum qui(libet) consentirent. Vgl. Blumenthal, Ein neuer Text für das Reimser Konzil Leos IX. (wie Anm. 73), S. 30 c. 5, 6. Lateran 1059 c. 5, MGH Const. 1, S. 547 Nr. 384: Deinde ut decimae et primiciae seu oblationes vivorum et mortuorum aecclesiis Dei fideliter reddantur a laicis et ut in dispositione episcoporum sint. 1080 Lillebonne c. 4, Mansi 20 col. 556: Nullus laicus in redditibus altaris, vel in sepultura, vel in tertia parte decimae aliquid habeat, nec pecuniam pro horum venditione vel donatione aliquatenus habeat. 32-KanonSynode c. 1 (wie Anm. 91), S. 125. 1095 Clermont c. 18 nach der Überlieferung des Liber Lamberti, hrsg. Somerville, Decreta Claromontensia (wie Anm. 71), S. 78: Unde et interdictum est omnibus laicis ne amplius altaria vel ecclesias sibi retineant. Vgl. Barth, Hildebert von Lavardin (wie Anm. 27), S. 124, 198, Thomas, Le droit de propriété des laïques (wie Anm. 77), S. 78, Peter Landau, Eigenkirchenwesen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9, Berlin-New York, 1982, S. 402. 143 … vini et annone, oblationumque mediam partem. Im Jahre 1125 (unten Anm. 147) erhält der Priester ex communi oblatione panem, vinum et donavium. Es handelt sich also bei Wein und Korn (= Brot) um Gaben aus der gemeinsamen Darbringung durch die Gläubigen während der Meßfeier. Vgl. Georg Schreiber, Untersuchungen zum Sprachgebrauch des mittelalterlichen Oblationenwesens. Ein Beitrag zum kirchlichen Abgabenwesen und zum Eigenkirchenrecht. Diss. theol., Freiburg i. Br., 1913, S. 26f. Josef A. Jungmann, Missarum sollemnia, 2 Bde., Wien-Freiburg-Basel, 5. Aufl. 1962, Bd. 2, S. 1ff., 40ff., 51ff. Adalbert Mayer, Triebkräfte und Grundlinien der Entstehung des Meßstipendiums (Münchener theologische Studien. Kanonistische Abteilung, 34), München, 1976, S. 197–201. Arnold Angenendt, Missa specialis. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung der Privatmessen, in: Frühmittelalterliche Studien, 17 (1983), S. 158–163, 176f. Vgl. auch Anm. 186.

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sowie die Oblationen und damit die Erträge des Personats können so, wie der betreffende Priester ja auch argumentiert, an Umfang zunehmen. Den Rechtstitel auf die Früchte des vom funktionierenden Priester versehenen Altardienstes besitzt der Inhaber des Personats. Wenn der Inhaber des Personats und der persönlich die cura wahrnehmende Priester identisch sind, was hier vor der Vergabe der Kirche Tours an Cluny der Fall gewesen ist, dann erhält der Priester alles von Wein und Korn und sämtliche Gaben der Gemeindeglieder an oder auf den Altar. In Zukunft soll nicht der am Altar von Tours amtierende Priester, sondern die Abtei Cluny den Personat besitzen. Über die Erträge aus der cura animarum wird seitens des Ordinarius loci neu bestimmt. Ein Teil fällt an Cluny als Eigentümer des Personats und der andere Teil an den faktischen Seelsorger. Dessen Teil beläuft sich nur auf die Hälfte der Gaben und Oblationen, die ein Priester empfangen würde, der sowohl den Personat besäße als auch die Seelsorge wahrnähme. Aus diesen Regelungen lassen sich folgende Schlüsse ziehen: 1. Der Personat ist der Rechtstitel auf die vollen Erträge eines Benefiziums. 2. Die persona ist der Inhaber dieses Rechtstitels. 3. Die Urkunde versucht, indem sie sowohl von personatus parrochiaque als auch von personatus cum parrochia spricht, Benefizium und Offizium begrifflich zu erfassen, zu scheiden und zugleich deren wechselseitigen Bezug zu artikulieren. 4. Durch Übertragung des Rechtstitels auf das Benefizium an die Abtei Cluny wird diese dessen Inhaber. Damit wird das Benefizium dem Kloster inkorporiert. 5. Der zukünftige Priester in Tours ist nicht mehr ein Pfarrherr, welcher Inhaber des Pfarrbenefiziums ist, sondern ein Vikar. 6. Die Bemessung seiner Präbende – der spätere Terminus portio congrua steht der Urkunde noch nicht zur Verfügung – überläßt der Erzbischof nicht dem Kloster, sondern nimmt sie als zuständiger Bischof aus seiner amtlichen Sorge für die cura animarum vor, die in dem betreffenden Ort durch den von ihm bestimmten Umfang der Versorgung des Vikars gewährleistet wird. Die in den Jahren 1091 und 1099 vollzogene Inkorporation von Tours-surMarne in die Abtei Cluny, die an dem Ort ein Priorat einrichtete144, hatte im Jahre 1125 ein Nachspiel, weil der dortige Priester den Groß- und den Kleinzehnten beanspruchte145. Bemerkenswerterweise war vom Zehnten, von dem im Untersuchungsgebiet in der Regel ein Drittel dem Pfarrherrn und zwei Drittel dem Eigenkirchenherrn zustanden146, keine Rede gewesen. Zweifellos sollte damals der gesamte Zehnte den Mönchen gehören. Jetzt erhielt der Vikar-Priester zwar 144 Vgl. Guy de Valous, Le monachisme clunisien des origines au XVe siècle, 2 tom., Paris, 1970, t. 2, S. 207. 145 Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 195; Migne PL 189 col. 1059. 146 Vgl. Voet, Bodium – redecima (wie Anm. 73), S. 220f. Delmaire, Arras (wie Anm. 30), S. 148. Schreiber, Kurie und Kloster (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 143. Kemp, Monastic possession of parish churches (wie Anm. 35), S. 142. Vgl. oben bei Anm. 2, 5, 73.

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wiederum keinen Anteil an den Zehnten, aber die Oblationenteilung wurde neu geregelt: Die Meßoblationen an Sonntagen erhielt der Priester, was eine Verdoppelung gegenüber dem Jahre 1099 bedeutet, und von den Meßoblationen der auf der Kirchendos lebenden Gemeindeglieder die Hälfte147. Alles übrige ging an die Mönche. Das, was montags bei der Messe in die Hände des Priesters gegeben wurde, sollte dieser zur Hälfte behalten148. Weitere Bestimmungen legten die Anteile von Priester und Mönchen an den Gaben der übrigen Tage, an milden Gaben und an Stiftungen von Sterbenden fest. Eine gleichzeitige Urkunde bestätigte nach schweren Übergriffen der Herren von Pleurs, die Teile des Zehnten, der Oblationen und der Altarfrüchte ihren Frauen und Töchtern mit in die Ehe gegeben und die Verleihung der Pfarrei an sich gerissen hatten – offenbar war die Übergabe der Kirche von Tours und deren Inkorporation von ihnen niemals respektiert worden – dem Kloster erneut die Inkorporation. Cluny sollte die Kirche personaliter besitzen und nach Abscheiden des derzeitigen, von den Herren von Pleurs eingesetzten Geistlichen seinerseits den Priester bestimmen149. Nach dem Zusammenhang, in welchen die Urkunde gehört, und nach dem sonst in Reims üblichen Diktat wäre das Wort impersonaliter zu erwarten gewesen. Das Adverb personaliter begegnet im entsprechenden Kontext in Reimser erzbischöflichen Urkunden nur hier. Offensichtlich darf die Terminologie der Quellen hinsichtlich ihrer Systematik und Konsequenz nicht überfordert werden. Nach dem Sinn der ganzen Reimser Urkundenfolge für Clunys Kirche Tours-surMarne kann die Wendung altare … personaliter tenendum nur besagen wollen, daß jetzt das Kloster die persona der ihm inkorporierten Kirche sein soll.

147 … ut singulis dominicis de misse celebratione ex communi oblatione panem, vinum et donavium, medietatem quoque oblationis parochianorum ad beneficium presbyteratus pertinentium habeat; reliqua omnia sint monachorum. Ein im Jahre 1122 zwischen den Äbten von Saint-Amand und Saint-Martin in Tournai getroffenes Übereinkommen spricht von den supra dotem altaris manentes, Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 525 Nr. 111. 148 Porro secunda feria ex his omnibus, que in missarum celebrationibus ad manum eius venerint, medietatem accipiat. Zu den Oblationen ad manus presbyteri und ihrer Hälftelung vgl. Schreiber, Kurie und Kloster (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 99f., 147, 155. 149 Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 194; Migne PL 189 col. 1058: … altare eo tenore resignaverunt videlicet ut illud … venerabilibus fratribus personaliter tenendum concederem … memoratum altare ipsis iure perpetuo personaliter possidendum contradidi … hoc solum interposita pactione, iam dictis dominis de Plagaiotri id humiliter postulantibus, quatenus presbyter loci illius, qui per eos tunc personatum parochiamque tenebat, quoad viveret, nisi forte propriis exigentibus culpis eam amittere contingeret, libere et quiete possideat; eo autem viam universe carnis ingresso … ecclesia Cluniacensis, quod suum est, videlicet altare et personatum cum suis pertinentiis iure perpetuo possidendum reciperet, liberam deinceps habens facultatem substituendi in eadem ecclesia … quem voluerit sacerdotem.

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Ergebnis Wenn also ein Kloster eine Kirche sine oder absque persona erhielt oder, wie während des 12. Jahrhunderts vielfach belegt, einem Kloster der personatus einer Kirche verliehen wurde, dann sind damit Inkorporationen vollzogen oder bestätigt worden. In Urkunden der Kirchenprovinz Reims erscheint, soweit bisher bekannt, dabei im 11. und in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts nicht der Begriff vicarius als Bezeichnung für den in Zukunft an der einverleibten Kirche tätigen Geistlichen. Daß, abgesehen von den seltenen Fällen, in denen die inkorporierte Kirche von einem Mitglied des begünstigten Stifts versehen werden sollte150, die Verleihung des Personats an ein Kloster gleichwohl die Einsetzung eines Geistlichen zur Folge hatte, der rechtlich die Stellung eines Vikars innehatte, ist jedoch soeben für das cluniazensische Tours-sur-Marne gezeigt worden. Inkorporation und Einsetzung eines Priesters, der dabei als vicarius bezeichnet wird, sind dagegen im Jahre 1166 in der Diözese Lüttich bezeugt, als der Abtei Waulsort an der Maas die Kirche (ecclesia) Falmagne einverleibt wurde. Der Abt von Waulsort, welcher die Investitur und den Personat empfing und an die Stelle der bisherigen persona investita, also des bisherigen Pfarrherrn, trat, sollte die Seelsorge per vicarium suum versehen151. Der Urkunde, mit der Erzbischof Johannes von Trier im Jahre 1200 dem Domkapitel die Pfarrkirchen Perl und Ochtendung verliehen hat, läßt sich wie den zuletzt besprochenen Texten für Anchin in der Diözese Cambrai, für das cluniazensische Tours-sur-Marne in der Erzdiözese Reims und für das Lütticher Waulsort entnehmen, daß der personatus das Recht auf das Benefizium mit allen seinen Früchten gewesen ist; denn der personatus der Kirche (ecclesia) Perl wurde mit der Gesamtheit des einem ordentlichen Pfarrer zukommenden Einkommens (personatum ecclesie prefate cum omni integritate porcionis, que legittimum contingit pastorem) dem Domkapitel wie einem einzigen und rechtmäßigen Pfarrer (tamquam uni persone et legitimo pastori) zur Verbesserung der Nahrung verliehen. Sowohl in Perl als auch in dem gleichzeitig inkorporierten Ochtendung sollte das Kapitel je einen Vikar anstellen (vicarium ponet et loca-

150 Manasse von Reims für die regulierten Chorherren von Toussaints-en-l’Isle (Diözese Châlons) (1078), Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 57; Châlons, Arch. dép. Marne H 362: … voluit etiam ut unius de canonicis loci illius persona existeret et ut ei defuncto alter idem canonicus in persona succederet. 151 Georges Despy, Les chartes de l’abbaye de Waulsort, t. 1 (Collection de chroniques belges inédites, 57, 1), Bruxelles, 1957, S. 384 (hier S. 386) Nr. 40: Statuentes, ut loco persone investite, qua hactenus sacerdotes investiebantur, ipse abbas investituram et personatum … suscipiat … et curam animarum nobis (sc. dem Bischof) commissarum per vicarium suum explebit.

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bit)152. Wie eingangs gezeigt, ist die Bestellung einer kirchlichen Korporation oder deren Vorstehers zum legitimus oder proprius pastor einer Kirche in den Trierer Suffraganbistümern Toul, Metz und Verdun mehrfach schon für das 12. Jahrhundert bezeugt. Für die Trierer Erzdiözese ist das Verständnis der Inkorporation mittels der Analogie, daß die begünstigte Kommunität die einverleibte Kirche so wie ein rechtmäßiger Pfarrer besitze, im Jahre 1200 offenbar neu. Der hierbei für das Benefizium verwendete Begriff personatus dürfte aus der benachbarten Kirchenprovinz Reims vermittelt worden sein. Ein Personat bezeichnete gegen Ende des 12. Jahrhunderts wahrscheinlich bereits jedwedes Benefizium, nicht nur die Präbende eines Pfarrers und, wenn ein Zeugnis aus dem Jahre 1186 für die Abtei Saint-Remi verallgemeinert werden darf, auch schon die Präbende eines Vikars. Der Umfang der Früchte, welche der Priester von Pauvre (presbiter de Polra) aus dem ihm gegen einen jährlichen Zins verliehenen Personat des Ortes (redditus personatus predicte ville) im Jahre 1186 bezog, machen wahrscheinlich, daß es sich bei diesem personatus um das Benefizium eines Vikars gehandelt hat. Denn als Erträge des von dem Kirchherrn Abt Simon von Saint-Remi dem Priester Thomas auf Lebenszeit übertragenen Personats werden genannt ein Zwölftel des Groß- und Kleinzehnten, ein Drittel jener Oblationen, welche während der Tagesmesse des Weihnachtsfestes gegeben werden, ein Drittel der Oblationen an Ostern sowie ein Drittel der Gaben bei Begräbnissen von Kopfzinsern153. Tatsächlich war Pauvre der Abtei Saint-Remi inkorporiert. Der personatus … ecclesie de Pooria war im Jahre 1154 von Anastasius IV. mit anderen Personaten dem Kloster bestätigt worden154.

152 Beyer, Mittelrhein. UB (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 221 Nr. 181. Zu den betreffenden Kirchen vgl. Ferdinand Pauly, Siedlung und Pfarreiorganisation im alten Erzbistum Trier (Veröffentlichungen des Bistumsarchivs Trier, 6), Trier, 1961, S. 311–313 (zu Ochtendung), und Ders., Siedlung (Veröffentl. d. Bistumsarchivs Trier, 16), Trier, 1968, S. 150f. (zu Perl). 153 Arch. dép. Marne, Annexe Reims, 56 H 330, Urkunde Erzbischof Wilhelms von Reims für Saint-Remi: Redditus personatus predicte uille in omnibus commodis toto tempore uite sue percipiendos eidem Thome concessit sub annuo trecensu quinquaginta solidorum, quorum viginti solidi in octauis epiphanie, viginti in pascha, et decem in pentecosten ei (sc. dem Abt) persoluentur. Domum etiam de Polra cum horreo et gardino pro decem solidis censualibus in festo omnium sanctorum preposito loci illius singulis annis reddendis et duos jornales terre pro sex denariis eidem abbati in natali Domini annuatim soluendis sepedicto Thome concessit. Redditus autem ad personatum de Polra pertinentes hii sunt: Videlicet duodecima pars tam maioris quam minoris decime et tercia pars oblationum in natali Domini misse illius solummodo, qua cantatur ›Puer natus est nobis‹, et tercia pars oblationum in pascha Domini et tercia pars oblationum mortuorum illorum, qui sunt capita domus. 154 Meinert, Papsturkunden in Frankreich NF 1. Champagne und Lothringen (wie Anm. 71), S. 256 Nr. 64.

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Persona, personatus, impersonaliter in Papsturkunden für nordfranzösische Empfänger Bis hierher ist gezeigt worden, daß Wendungen wie absque persona, sine persona, impersonaliter concedere, impersonaliter tenere, impersonare, personatum concedere, altare in personatu concedere oder ecclesia cum personatu die Inkorporation oder den Besitz einer einverleibten Kirche bezeichnen. Das gilt auch für die mißverständlichen Formulierungen altare sine personatu oder altare ab omni personatu libere, die gelegentlich insbesondere in Papsturkunden begegnen. In der päpstlichen Kanzlei scheint manchmal bei der Umformulierung der zur Bestätigung eingereichten Urkunden in das Diktat der päpstlichen Privilegien Unsicherheit darüber geherrscht zu haben, was die nordfranzösischen Klöster unter einem altare sine persona oder unter einer impersonaliter besessenen Kirche verstanden. Die Kirche (altare) Saint-Julien, vor Saint-Remi gelegen und bislang sub obtentu persone besessen, wurde der Abtei im Jahre 1124 inpersonaliter verliehen, also inkorporiert155. Unter den im Jahre 1145 von Eugen III. bestätigten Besitzungen des Remigius-Klosters erscheint auch die ecclesia S. Juliani, und zwar sine personatu156. Mit dieser Wendung, die Saint-Remi im Besitz der Kirche, jedoch fälschlich »ohne das Pfarrbenefizium«, erscheinen lassen konnte, war der Sinn der Verleihung vom Jahre 1124 nur dann nicht in sein Gegenteil verkehrt, wenn sine personatu dahin verstanden wurde, daß der Personat nur vom Kloster und von keiner anderen persona besessen werden sollte. Im Jahre 1157 bestätigte Hadrian IV. der Abtei Corbie die Kirchen (altaria) Neerijse und Bertem ita videlicet quod ab omni personatu sint libera157. Die Vorurkunde des Bischofs Nikolaus von Cambrai macht zweifelsfrei klar, daß es Corbie war, das den Personat innehatte und damit die Kirchen frei vom Personat einer anderen persona besaß158. Die Fassung der Besitzliste des Privilegs Alexanders III. vom Jahre 1163 ist dann wieder eindeutig; sie bestätigt der Abtei die

155 Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 185; Marlot, Histoire Reims (wie Anm. 42), t. 3, S. 735 Nr. 65; Migne PL 163 col. 1430. 156 JL 8800; Varin, Archives administratives (wie Anm. 41), t. 1,1, S. 311; Migne PL 180 col. 1069 C: In episcopatu Remensi ecclesiam sanctorum martyrum Timotheii et Apollinaris cum omnibus que ad eam pertinent, ecclesiam S. Juliani sine personatu, Satiacum cum ecclesia … 157 Ramackers, Papsturkunden in Frankreich NF 4. Picardie (wie Anm. 75), S. 193 Nr. 77; JL 10243. 158 Wauters, Analectes de diplomatique (wie Anm. 48), S. 343 Nr. 13: … altare de Bertehen cum appendicio eius scilicet Sancto Medardo ab antecessoribus nostris Corbeiensi ecclesie rationabiliter collatum liberum et ab omni persona alia absolutum venerabili Nicholao eiusdem abbati eidem indulgemus … Altare quoque de Nederisca cum appendicio suo Heldeberga inpersonatu(m) dono nostro eidem carissimo nostro … contradimus.

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altaria de Berthem et de Hyscha cum personatu159. Überhaupt scheint Alexander III. der erste Papst gewesen zu sein, in dessen Urkunden und Briefen an französische und englische Empfänger der Begriff personatus in der Regel sachgemäß verwendet worden ist. Wenn hingegen ein Kloster Kirchen cum personis oder sub personatu besaß, dann wird damit in der Regel ausgedrückt, daß die betreffenden Benefizien in der Hand von Klerikern oder Pfarrern, sie also nicht inkorporiert waren160. Wenn ein Kloster im Besitz einer inkorporierten Kirche war, dann stand ihm das Präsentationsrecht für den Vikar an dieser Kirche zu161. Jedoch erschöpfte sich das Recht des an ein Kloster verliehenen Personats keineswegs in der Befugnis, dem Bischof den Vikar zu präsentieren162. An nicht inkorporierten, im 12. Jahrhundert zunächst noch nach Eigenkirchenrecht und dann unter geistlichem Patronat innegehabten Niederkirchen besaßen die Klöster das Recht, den Pfarrer zu nominieren. Wibald von Stablo nannte diesen Vorgang im Jahre 1149 gegenüber Bischof Hartbert von Utrecht personam … presentare163. Auch im Bistum Utrecht hießen die Inhaber von Pfarrbenefizien personae, und zwar auch im 13. Jahrhundert. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, daß, was in Utrecht im 13. Jahrhundert gelegentlich geschieht, der Patronat mit seinem Recht, die persona zu präsentieren, als personatus bezeichnet wurde, was manchmal zu komplizierten Rechtsstreitigkeiten geführt hat164. Daß ein im 12. Jahrhundert erwähnter Personat nur ein Patronat gewesen wäre, wie Johannes Ramackers in

159 Ramackers, Papsturkunden in Frankreich NF 4. Picardie (wie Anm. 75), S. 208 Nr. 91. – Innozenz II. bestätigte am 4. April 1138 Saint-Ghislain neben anderen zwei von Bischof Nikolaus von Cambrai vergabte Kirchen (altaria) , id est de Harcheias et de Blato … exceptis hiis, que Cameracensibus episcopis et ministris eorundem inde debentur, ab omni personatu et exactione libera manere, Ramackers, Papsturkunden in den Niederlanden (wie Anm. 115), S. 128 Nr. 32. Nikolaus hatte 1138 verliehen altare etiam de Blateren libera et sine persona salvis nostris et ministrorum nostrorum debitis, Gallia christiana 3 instr. S. 2 Nr. 3. 160 Vgl. zum Beispiel Cambrai 1088: Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 449 Nr. 73. – Noyon-Tournai 1090: Hautcoeur, Saint-Pierre de Lille (wie Anm. 42), t. 1, S. 13 Nr. 7; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 53. – Noyon-Tournai 1093: Guérard, Saint-Bertin (wie Anm. 64), S. 206 Nr. 31; Pycke, Noyon-Tournai (wie Anm. 39), Nr. 59. 161 Vgl. oben bei Anm. 151. 162 Daher ist das Regest von Meinert, Papsturkunden in Frankreich NF 1. Champagne und Lothringen (wie Anm. 71), S. 208 Nr. 91, das personatus mit »Recht der Pfarrerbestellung« glossiert, unzutreffend. 163 Samuel Muller Fz., Oorkondenboek van het Sticht Utrecht, Bd. 1, ’s-Gravenhage, (1920)1925, S. 361 Nr. 398; Philipp Jaffé, Monumenta Corbeiensia (Bibliotheca Rerum Germanicarum, 1), Berlin, 1864, S. 297 Nr. 177. 164 Im Jahre 1253 urkundete ein Laie: personatui ecclesie in Westerlo … renuntiavi, Frans Ketner, Oorkondenboek van het Sticht Utrecht, Bd. 3, ’s-Gravenhage, 1949, S. 78 Nr. 1287. – Im Jahre 1257 verlieh ein Laie dem Kapitel von Kortrijk das ius patronatus seu personatus, ebda., S. 164 Nr. 1394. Vgl. Post, Eigenkerken (wie Anm. 8), S. 162f., 170.

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einem Regest formuliert hat und Jean Becquet einmal beiläufig bemerkt165, ist nach den obigen Ausführungen auszuschließen. Der Begriff ius patronatus zur Bezeichnung des Rechtsinstituts des Patronats erscheint erstmals in der zwischen 1157 und 1159 verfaßten Summa des Rufinus166. Mit den hier länger erörterten, da zuvor nicht richtig gedeuteten Formulierungen in Urkunden des 11. und 12. Jahrhunderts in der Kirchenprovinz Reims wurde der Vorgang beziehungsweise das Institut der Inkorporation bezeichnet. Dieser Nachweis ist auch für die Geschichte der Entstehung des kirchlichen Benefiziums von Bedeutung. Denn eine Inkorporation konnte nur erfolgen, wenn das Benefizium bereits existierte. Die zahlreichen Inkorporationen zwingen zu dem Schluß, daß in Nordfrankreich im 11. Jahrhundert die Bildung des kirchlichen Benefiziums und damit auch des Pfarrbenefiziums vollzogen war.

Inkorporationen in Lothringen und Nordfrankreich seit dem 11. Jahrhundert Abschließend ist nach den Modalitäten und den möglichen Ursachen der nun nicht mehr nur in den Diözesen Toul, Metz und Verdun, sondern auch in der Kirchenprovinz Reims und hier insbesondere in der Diözese Cambrai bezeugten Praxis der Einverleibungen zu fragen, die hier zum Teil über 100 Jahre früher geübt wurde als in den deutschen Bistümern östlich des Rheins.

Vikarspräbende Die Inkorporationsurkunde des Erzbischofs Manasse von Reims vom Jahre 1099 für Cluny ist der bisher früheste bekannte Fall, in welchem die Vikarspräbende, die im folgenden der Kürze halber auch als Kongrua bezeichnet werden soll167, detailliert beschrieben worden ist168. Die Inkorporation im Bistum Verdun vom Jahre 1064, von der eingangs die Rede war, überließ es dem Abt von Gorze und dem Vikar, in einer Übereinkunft auszuhandeln, welchen Umfang die Vikarspräbende haben sollte169; von den tatsächlichen Bezügen des Vikars hören wir darum nichts. Bei solchen Verträgen (conventiones) blieb es offenbar bis weit in 165 Ramackers, Papsturkunden in den Niederlanden (wie Anm. 115), S. 325 Nr. 184 (1177). Becquet, Paroisse (wie Anm. 32), S. 212 Anm. 126. 166 Vgl. Landau, Ius patronatus (wie Anm. 3), S. 11. 167 Zur Kongrua-Gesetzgebung des 12. und 13. Jahrhunderts vgl. Bombiero-Kremenac´, Portio congrua (wie Anm. 9), S. 31ff., 41ff. 168 Vgl. oben bei Anm. 140–142. 169 Vgl. oben bei Anm. 24.

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das 12. Jahrhundert. Als Richwin von Toul im Jahre 1119/24 der Abtei Saint-Evre deren Prioratskirche Gondrecourt inkorporierte, legte er kategorisch fest: Porro exinde vicarius presbyter prebenda, quae inter eum et priorem loci convenerit, contentus sit170. Bischof Stephan von Metz bestimmte im Jahre 1130 bei einer Einverleibung für Saint-Symphorien, daß es für den vicarius sacerdos mit dem Lohn (merces) sein Bewenden haben möge, so wie sich der Abt mit dem Vikar verständigte171. In der Diözese Lüttich verlangte Bischof Heinrich im Jahre 1147 bei der Inkorporation mehrerer Kirchen in und bei Meerssen in das Kloster Saint-Remi vor Reims, an ihnen Präbenden auszuweisen, von denen die Vikare angemessen leben könnten. Im übrigen sollten diese Vikare keine presbyteri annuales sein172. Damit verlangte der Ortsbischof, daß die Abtei Saint-Remi lebenslängliche Vikare, also vicarii perpetui, anstellte173. Bischof Arnulf von Lisieux behielt sich um das Jahr 1177–79 die Kongruazumessung für den Vikar vor, als er seinem Kanoniker Gervasius das Benefizium einer bestimmten Kirche übertrug: Ego uero personatum ecclesie illius canonico nostro, Geruasio nomine, profusa liberalitate donaui, distributione tamen bonorum inter personam et uicarium, qui ecclesie deseruiret, meo nimirum arbitrio reseruata174. Der Vikar führte sich allerdings dann recht unerfreulich auf, lebte mit der Mutter des minderjährigen Grundherrn im Konkubinat und flüchtete schließlich, so daß ein Nachfolger gesucht werden mußte, dem der Bischof ebenfalls die Kongrua zumaß. Das zweimalige Eingreifen des Ordinarius war im Falle des Domherrn Gervasius deshalb erforderlich, weil dieser früher bei der Ausstattung von Vikaren gar zu knauserig verfahren war175. Bischöflicherseits im Detail fixierte Vikarspräbenden sind im Untersuchungsgebiet erst seit der Wende zum 12. Jahrhundert überliefert und fanden offenbar 170 Douche, Actes (wie Anm. 38), S. 365 Nr. 113; Augustin Calmet, Histoire ecclésiastique et civile de la Lorraine, 3 tom., Nancy, 1728, preuves t. 1, S. 532. 171 Michel Parisse, Hrsg., 1. Les évêques de Metz. B. Étienne de Bar (Actes des princes lorrains. 2ème série. Princes ecclésiastiques), Nancy, 1977, S. 68 Nr. 30; Metz, Arch. dép. Moselle H 1340 Nr. 1. 172 Simon Pierre Ernst, Histoire du Limbourg, 7 tom., Liège, 1837–1852, t. 6, S. 4 Nr. 2 (fehlerhaft); Maastricht, Rijksarchief, Chronolog. lijst Nr. 23: decedentibus illis, qui personatus tenent, ipsa (sc. ecclesia von Saint-Remi) earundem ecclesiarum personatus optineat et presbiteros non annuales, sed qui de episcopali seruitio respondeant, saluo iure tam archidiaconi quam episcopi, ibidem constituat et prebendam unde honeste uiuere possint de eisdem ecclesiis eis diuidat. 173 Vgl. die Collectio Wigorniensis IV, 42, hrsg. Hans-Eberhard Lohmann, in: Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, 53, Kanonistische Abteilung, 22 (1933), S. 115f., Alexander III. an Bartholomäus von Exeter: … quia nolumus, quod in ecclesiis Dei annui, sed perpetui vicarii debeant constitui. 174 Ep. 136, an Alexander III., Frank Barlow, Hrsg., The Letters of Arnulf of Lisieux (Camden third series, 61), London, 1939, S. 206f. 175 Ebda., S. 207: … assignata nimirum ei benefitiorum congrua portione, arbitrio sane meo, quia ante consueuerat aliis quod necesse erat cum nimia tribuere parcitate.

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nur langsam Verbreitung. Die Kongrua an der dem Kloster Saint-Mihiel vor 1145/ 52 inkorporierten Pfarrkirche wurde schon erwähnt; hier ging – statt wie in dem cluniazensischen Tours-sur-Marne im Jahre 1099 die Hälfte – nur ein Viertel der Oblationen an den Vikar176. Der Vikar in Vaucouleurs in der Diözese Toul erhielt 1119/22 wiederum die Hälfte177 und der Vikar in Saint-Nicolas de Neufchâteau im selben Bistum im Jahre 1123 ein Drittel aller Altarfrüchte178. Ebenfalls ein Drittel aller Oblationen und ein Drittel des Kleinzehnten bekamen um 1124 die Vikare in Stenay und Monzay in der Diözese Verdun179. Diese Drittelung der Oblationen scheint im 12. Jahrhundert in Toul, Metz, Trier und auch in Lüttich mehr oder weniger zur Regel geworden zu sein180 und begegnet im Jahre 1131 auch im Bistum Arras. Dort hatte es zwischen dem Prior von Saint-Pry als Herrn der inkorporierten Kirche Haut-Bruay und dem dortigen Vikar Streit um die Kongrua gegeben, so daß die erste uns bekannt gewordene, aus einem Reimser Suffraganbistum stammende Kongruabeschreibung urkundlich festgehalten wurde181. Der Prior, quia personatum prefate ecclesie habebat et tenebat, wollte dem Vikar (presbyter) nur ein Drittel der Zehnten (messium) und aller Oblationen zugestehen, mußte ihm aber schließlich mit gewissen Ausnahmen von allen Oblationen und Gebühren die Hälfte überlassen. Von der Kirchendos, auf der auch das Pfarrhaus des Vikars gestanden haben müßte, ist in den Inkorporationsurkunden des 11. und 12. Jahrhunderts selten die Rede. In Toul im Jahre 1088 und in Metz im Jahre 1140 ging sie durch die Inkorporation in die Verfügungsgewalt der Klöster über182. In der Erzdiözese Reims wird im Jahre 1125 das feodum presbyterii beziehungsweise das benefi176 S. oben Anm. 17. 177 Douche, Actes (wie Anm. 38), S. 312 Nr. 96; Jacques Laurent, Cartulaire de l’abbaye de Molesme, 2 tom., Paris, 1907–1911, t. 2, S. 205 Nr. 696. 178 Douche, Actes (wie Anm. 38), S. 346 Nr. 106; Gallia christiana 13 instr. Sp. 486ff. 179 d’Herbomez, Gorze (wie Anm. 23), S. 258 Nr. 148. 180 Vgl. Dietrich von Metz bezüglich des Vikars von Mars-la-Tour (1169), wie oben Anm. 12. – Johannes von Trier für Orval (1193), Hippolyte Goffinet, Cartulaire de l’abbaye d’Orval, t. 1 (Collection de chroniques Belges inédites, 19,1), Bruxelles, 1879, S. 109 Nr. 70, wo unter anderem nur der dritte Teil des einem Pfarrer zustehenden Zehntdrittels der Präbende des Vikars zugewiesen wurde. – Albero von Lüttich für Saint-Hubert (1126), Godefroid Kurth, Chartes de l’abbaye de Saint-Hubert, t. 1 (Collection de chroniques Belges inédites, 30,1), Bruxelles, 1903, S. 95 Nr. 79. – Archidiakon Alexander von Lüttich für Saint-Trond (1160), Piot, Saint-Trond (wie Anm. 134), t. 1, S. 94 Nr. 71. Zu der hier erscheinenden Bezeichnung des Vikars als persona vgl. unten Anm. 207. 181 Daniel Haigneré, Les chartes de Saint-Bertin, t. 1, Saint-Omer, 1886, S. 66 Nr. 166. Unter den messes ist möglicherweise nur ein Drittel des dem Pfarrer zustehenden Zehntdrittels zu verstehen. 182 Lesort, Saint-Mihiel (wie Anm. 1), S. 171 Nr. 46: dotem cum decimis, luminaria cum oblationibus et elemosinis. – Parisse, Étienne de Bar (wie Anm. 171), S. 117 Nr. 51: Harum etiam ecclesiarum altaria, quoniam dotes earum partesque decime, que sacerdotibus cedebant, … in manibus vestris … concedimus.

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cium presbyteratus des Vikars erwähnt183. Um die Kirchendos mit den Pfarrhufen und dem Grund und Boden für die Kirche, den Kirch- sowie den Pfarrhof ging es bei den Einverleibungen offenbar am allerwenigsten. Sie stellten sogar eher Lasten dar, und die Erträge namentlich der Pfarrhufen ließen sich nicht ohne weiteres steigern. Vor allem war der vom Pfarrer für seine Kirche an das Kloster zu entrichtende Zins in der Regel fixiert184 und ließ sich darum nur gegen seinen Widerstand erhöhen. Entsprechende Versuche der Kirchherren spiegeln sich im Kanon 7 des III. Laterankonzils (1179) wider, der Bischöfen, Äbten und anderen Prälaten verbot, den Kirchen neue Zinse aufzuerlegen oder alte zu erhöhen185.

Oblationen und Stolgebühren Hingegen war der Ertrag aus den Oblationen, den Stolgebühren, den Spenden und nicht zuletzt dem Zehnten unmittelbar von der Zahl der Pfarrangehörigen abhängig. Im 11. und 12. Jahrhundert, der Epoche des großen Bevölkerungswachstums in West- und Mitteleuropa, sind darum die Oblationen und Zehnten zu einer Einnahmequelle geworden, deren Ergiebigkeit den klösterlichen Eigenkirchenherren nicht verborgen geblieben sein kann186. Der Weg, sich an ihnen 183 Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 194; Marlot, Histoire Reims (wie Anm. 42), t. 3, S. 732 Nr. 62: salvo iure suo (sc. des Priesters) in iis, que ad feodum presbyterii pertinere noscuntur. – (wie Anm. 145): medietatem quoque oblationis parochianorum ad beneficium presbyteratus pertinentium habeat (sc. der Priester). – Stutz, Ausgewählte Kapitel (wie Anm. 71), S. 76f., definiert auf der Grundlage französischer Quellen des 10. und 11. Jahrhunderts das feodum presbiterale als die zinsfreie(n), dem Priester zustehende(n) Vollhufe(n). Auch noch beim folgenden Beleg von 1118 ist offenbar das dem Pfarrer zustehende Land gemeint: prenominatum altare ecclesie sancti Remigii salvo in omnibus iure episcopali et sacerdotis beneficio, quod cantuarium dicimus, non inminuto iure perpetuo possidendum concessimus, Arch. dép. Marne, Annexe Reims, 56 H 1029, Cart. B von Saint-Remi S. 74b; Marie-Josèphe Gut-Bondil, Les actes des évêques de Châlons des origines à 1201. Étude diplomatique et catalogue. Position de thèses de l’École des chartes, Paris, 1955 (Masch.), S. 93f. Nr. 34. Denn 1138 heißt es bezüglich derselben Kirche Courtisols: nos dedisse ipsi et capitulo sancti Remigii personatum ecclesie sancti Martini de Curiaausorum liberum et absolutum sicut eum ante tenuerat Hugo clericus salva tamen conscriptionem, quam de cantuario eiusdem parrochie firmavimus, Cart. B v. Saint-Remi S. 77b. 184 Vgl. unten Anm. 207. 185 Mansi 22 Sp. 221: Prohibemus insuper, ne novi census ab episcopis vel abbatibus aliisve prelatis imponantur ecclesiis nec veteres augeantur nec partem redituum suis usibus appropriare presumant. 186 Die wirtschaftliche Bedeutung der Oblationen ist bereits betont worden von Georg Schreiber, Kirchliches Abgabenwesen an französischen Eigenkirchen aus Anlaß von Ordalien, in: Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, 36, Kanonistische Abteilung, 5 (1915), S. 417f., Wiederabdruck in Ders., Gemeinschaften des Mittelalters (Gesammelte Abhandlungen, 1), Münster, 1948, S. 153f. Zu der Vielfalt der Opfergaben und Spenden und der Form ihrer Darbringung im Hoch- und Spätmittelalter vgl. Ders., Mittelalterliche Segnun-

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einen Anteil zu verschaffen und sie in die Verfügungsgewalt des Klosters zu überführen, war die Inkorporation. Der Vikar empfing, wie die letzten Urkunden gezeigt haben, von den Oblationen und den Stolgebühren allenfalls eine Hälfte, ein Drittel oder auch nur ein Viertel. Den Bischofsurkunden des 11. und 12. Jahrhunderts zufolge sollten die durch die Inkorporation anfallenden Früchte der Präbende der Kanoniker (1074 Reims)187, den Kranken (1102 Reims)188 oder überhaupt dem Vermögen des privilegierten Klosters zukommen (1154 Reims)189.

Begründungen für Inkorporationen Die Begründungen für die Vornahme von Einverleibungen waren unterschiedlich. Beim Wechsel der Präbendeninhaber oder Pfarrer würde Saint-Remi Schaden leiden, weshalb ihm Erzbischof Manasse von Reims im Jahre 1106 die Kirche Tannay inkorporierte190. Denkt man an Verwandte, an Kinder und Konkubinen eines Klerikers oder Pfarrers191, dann läßt sich leicht vorstellen, wie bei dessen Weggang oder Tod mitgenommen wurde, was nicht niet- und nagelfest war. Zudem beanspruchten Söhne und andere Verwandte des Pfarrherrn die Nachfolge im Benefizium einer vakanten Kirche, wie Dekretalen Papst Alexan-

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gen und Abgaben (wie Anm. 16), S. 213–282, Renate Kroos, Opfer, Spende und Geld im mittelalterlichen Gottesdienst, in: Frühmittelalterliche Studien, 19 (1985), S. 502–519. Zum Opfer der Gläubigen während der Messe vgl. oben Anm. 143. Ein fast druckreifes Werk von Georg Schreiber über die Oblationen ist während des Zweiten Weltkrieges in Münster den Bombardierungen zum Opfer gefallen, vgl. Ders., Deutsche Weingeschichte (Werken und Wohnen. Volkskundliche Untersuchungen im Rheinland, 13), Bonn, 1980, S. VIII. Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 49; Henri d’Arbois de Jubainville, Histoire des ducs et des comtes de Champagne, 7 tom., Paris, 1859–1869, t. 1, S. 489 Nr. 51: ad prebendam canonicorum habendam sine persona concessi. Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 129; Arch. dép. Marne, Annexe Reims, 56 H 268: ad usus infirmorum contuli et absque persona perpetualiter tenendum concessi. Marlot, Histoire Reims (wie Anm. 42), t. 3, S. 751 Nr. 86: subscriptarum ecclesiarum personatus concedimus … Hec inquam omnia, sicut a personis possidebantur, ecclesie tue (sc. Saint-Remi) in perpetuum conferimus, ut eis decedentibus, qui nunc habent, non quilibet mortalium, sed patronus noster sanctus Remigius succedat et per famulantes sibi monachos usque in finem seculi teneat, ea videlicet distinctione, ut annonam ecclesiarum predictarum conventus habeat, donationum vero reditus ceteraque omnia thesauro deputentur. Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 144; Arch. dép. Marne, Annexe Reims, 56 H 1031, Cart. A de Saint-Remi fo 310v: in mutatione personarum quorumdam altarium ecclesiam beati Remigii animadvertens pati detrimentum, ea predicte ecclesie, que personaliter ante tenuerat, impersonaliter deinceps tenenda concedo. Vgl. Olga Dobiache-Roidestvensky, La vie paroissiale en France au XIIIe siècle d’après les actes épiscopaux, Paris, 1911, S. 164ff., Bernhard Schimmelpfennig, Zölibat und Lage der Priestersöhne vom 11. bis zum 14. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, 227 (1978), S. 36f.

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ders III. zu entnehmen ist192. Offenbar auf die Abwehr von erblich begründeten Nachfolgeansprüchen hob bereits im Jahre 1095 Bischof Manasse von Cambrai ab, als er seinem Domstift die Kirche von Caintaing-sur-Escaut einverleibte: Concessi ut altare illud integrum et ab omni persona et herede absolutum hec perpetualiter possideret ecclesia193. Im Jahre 1140 inkorporierte Bischof Stephan von Metz zwei Kirchen, weil deren Pfarrer die Kirchendos, die Meßgewänder, die liturgischen Geräte und das den Geistlichen zustehende Zehntdrittel verpfändet hätten; deshalb würden jetzt Vikare eingesetzt194. Ihnen war besser beizukommen, solange sie nicht auf Lebenszeit angestellt, also noch keine vicarii perpetui waren. Allerdings wurde die Ernennung von vicarii perpetui schon 1147 von Bischof Heinrich von Lüttich und zwanzig Jahre später von Alexander III. gefordert195, um dem von den Kirchenherren geübten Mißbrauch zu steuern, Vikare für jeweils nur ein Jahr anzustellen. Die Hoffnung, daß sich Vikare generell besser hielten als Pfarrer, dürfte jedoch getrogen haben. Eine angebliche Dekretale Alexanders III., überliefert als Kanon des Konzils von Westminster (1175), hat Vikare im Blick, die sich zu Inhabern der Benefizien aufschwangen und sich gegen ihre persone widerspenstig zeigten196.

192 X 2.28.4; JL 12253: Personas ecclesiarum in tua diocesi consistentium ita tuis et dominorum fundi authenticis scriptis praemunias, ut, quum aliquam illarum decedere forte contigerit, decedentis filius vel vicarius seu alius quilibet personatum ecclesiae vacantis viro idoneo conferendi tibi viam praeripere aliqua calliditate non possit. Vgl. Cheney, From Becket to Langton (wie Anm. 35), S. 127f. – X 1.17.4; JL 14138: Conquerente nobis M. clerico auribus nostris innotuit quod, quum R. presbyter ecclesiam B. Marie de Vicum tanquam persona diutius habuisset, et post mortem eius idem Milo a Richardo Paciford domino fundi fuisset presentatus, R. filius eius presbyteri in sacerdotio genitus institutionem ipsius clerici nisus est impedire … mandamus quatenus, si publicum est et notorium, patrem predicti R. clerici habuisse in predicta ecclesia personatum, filium eius ibidem ministrare aut eiusdem ecclesiae personatum (Varianten haben: presbyteratum) habere nullatenus patiaris. Vgl. Mary G. Cheney, Roger, Bishop of Worcester, Oxford, 1981, S. 326 Nr. 19. 193 Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 153 Nr. 840; Le Glay, Glossaire topographique (wie Anm. 41), S. 21 Nr. 14. 194 Parisse, Étienne de Bar (wie Anm. 171), S. 117 Nr. 51; Metz, Arch. dép. Moselle, H 2155 Nr. 1: Harum etiam ecclesiarum altaria, quoniam dotes earum partesque decime, que sacerdotibus cedebant, et sacratas vestes cum vasis altaris a presbiteris invadiari et ab ecclesiis penitus alienari spe nobis conquesti estis, in manibus vestris vestrorumque successorum abhinc iure perpetuo manere concedimus … Vos autem … in his prenominatis ecclesiis nullo contradicente vicarios arbitrii vestri voluntate ponatis. 195 Wie oben Anm. 172 und Anm. 173. 196 X 5. 31. 6; Dorothy Whitelock, Martin Brett, Christopher Nugent Lawrence Brooke, Councils & Synods with other documents relating to the English Church, vol. 1, 2 (1066–1204), Oxford, 1981, S. 988 c. 12 (auch Mansi 21 Sp. 1182 c. 6 als Kanon von Tours vom Jahre 1163): Illud etiam de vicariis, qui personis fide vel sacramento obligati sunt, duximus statuendum, quod si fidei vel sacramenti religione contempta personatum sibi falso assumentes contra personas se erexerint, super hoc in iure vel confessi vel convicti fuerint, de cetero in eodem episcopatu ad officii sui executionem non admittantur. Zum Überlieferungszusammenhang dieses

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Die Bischöfe verloren durch die Inkorporation von Pfarrbenefizien nichts, so wenig wie sich auch in der Pfarrei an der Seelsorge etwas änderte, sobald diese von einem Vikar ausgeübt wurde197. Der Besuch des Sends des Archidiakons und der bischöflichen Synoden wurde für die inkorporierte Kirche zumeist dem Vikar198, gelegentlich aber auch dem begünstigten Kloster zur Pflicht gemacht199. Der nach Kanon 3 des Konzils von Clermont den Bischöfen für eine klösterliche Kirche zugestandene Zins wurde ebenfalls entweder vom Kloster oder vom Vikar entrichtet200. Schon im Jahre 1057 begünstigte Bischof Lietbert von Cambrai sein Domkapitel durch Inkorporationen, weil dieses wegen Krieg und Teuerung in Not und Armut geraten sei201. Unter Feuersbrunst und Beraubung hatte die Abtei Saint-

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Kanons vgl. C. N. L. Brooke, Canons of English Church Councils in the Early Decretal Collections, in: Traditio, 13 (1957), S. 478 Nr. 12, Whitelock, Brett, Brooke, op. cit., S. 975. Vgl. auch Post, Eigenkerken (wie Anm. 8), S. 155. Erzbischof Rainald von Reims im Jahre (1095), Demouy, Actes Reims (wie Anm. 39), Nr. 94; René Poupardin, Cartulaire de Saint-Vincent de Laon, in: Mémoires de la soc. de l’histoire de Paris et de l’Ile de France, 29 (1902), S. 192: … absque personarum successione … quatinus in eadem ecclesia presbiter substitueretur, qui et synodis nostris interesset et archidiacono et decano exactiones, collectiones, ceterasque, quas ibidem hucusque Remensis ecclesia habuit, redderet consuetudines. – Cambrai 1113 für Saint-Denis betreffend Solesmes, Le Glay, Glossaire topographique (wie Anm. 41), S. 32 Nr. 22: … sine persona … ea equidem ratione ut abbate et eiusdem loci monachis e frequentatione conventuum episcopalium, quorum longe sunt relaxatis, presbiter altari prelibato cantaturus cura de manu episcopi recepta episcopi et ministrorum suorum capitula adeat et de synodalibus respondeat. – Archidiakon Simon von Lüttich (1232), St. Bormans / E. Schoolmeesters / E. Poncelet, Cartulaire de l’église St. Lambert de Liège, 6 tom., Bruxelles, 1893–1933, t. 1, S. 298 Nr. 230: … ut fructus ecclesie de Latines in usus suos convertat … qui etiam sacerdos episcopo et archidiacono seu decano loci in omnibus iuribus suis tenebitur respondere. Verdun 1064, d’Herbomez, Gorze (wie Anm. 23), S. 238 Nr. 137: quique (sc. der Vikar) etiam de servitio archidiaconi, cum ad easdem villas causa habende synodi venerit, suggerat preposito predicti cenobii, ut ipsum servitium sicut convenit ordinet et construat. – Verdun 1126, d’Herbomez, Gorze, S. 261 Nr. 149: Servitium vero archidiaconi, cum ad synodum tenendam bis in anno ad eandem venerit villam, prepositus providebit. Metz 1130, Parisse, Étienne de Bar (wie Anm. 171), S. 68 Nr. 30: vos autem censum archidiacono persolvatis. – Utrecht 1181, Muller, Oorkondenboek Sticht Utrecht (wie Anm. 163), Bd. 1, S. 451 Nr. 505: salvo eo, quod sacerdotem idoneum … procurabunt (sc. die Mönche), et obsonia episcopalia, archydiaconalia et decanalia, prout ipsa debet ecclesia, suo tempore solvent, et in synodalibus nichil amplius, quam quod sortis eorum est, usurpabunt. – Die Höhe des dem Bischof zu zahlenden obsonium belief sich in Cambrai im Jahre 1081 auf 12 Pfennige jährlich, Courtois, Chartes (wie Anm. 39), S. 114 Nr. 814; Le Glay, Glossaire topographique (wie Anm. 41), S. 15 Nr. 10: presbiter, qui in altari eius ville cantaturus est, XIIcim denarios michi et successoribus meis episcopis in festivitate sancti Luce evangeliste per singulos annos in obsonium solvet. Zu obsonium und cathedraticum vgl. Post, Eigenkerken (wie Anm. 8), S. 113–116, Huyghebaert, Saint Léon (wie Anm. 18), S. 428. Duvivier, Recherches (wie Anm. 40), t. 2, S. 395 Nr. 48.

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Trond gelitten, weshalb ihr Heinrich von Lüttich im Jahre 1163 zwei Kirchen inkorporierte202. In Saint-Remi vor Reims ist zu Anfang des Jahres 1165 von drückenden Schulden ob praesentium malorum ingruentiam die Rede203. Offenbar erwuchsen sie tatsächlich aus nur aktuellen unglücklichen Umständen. Denn der frühgotische Chor und die Fassade der großartigen Remigiuskirche sind seit dem Jahre 1165 entstanden204, ohne daß sich die Abtei finanziell übernommen hätte. Debitis non valde gravamur, schrieb der Bauherr, Abt Petrus de Celle, in der ersten Hälfte der siebziger Jahre an Johannes von Salisbury205. Im Jahre 1154 waren seiner Abtei von Erzbischof Samson elf bisherige Eigenkirchen einverleibt worden, was die Reimser Erzbischöfe Heinrich und Wilhelm 1167 und 1178 bestätigten206. Daher könnten die Klöster keineswegs nur wegen drückender Not, sondern auch zur Förderung ihrer Bauten bei den zuständigen Diözesanbischöfen um Inkorporationen nachgesucht haben.207 Inkorporationsurkunden würden dann für den Kirchenbau eine ähnliche Rolle gespielt haben wie seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die von den Bauherren erbetenen Ablaßbriefe. Daß die Inkorporation in wirtschaftlicher Hinsicht für das begünstigte Institut Vorteile bot, wurde in der Kirchenprovinz Reims und in den Diözesen Toul, Metz und Verdun bereits im 11. Jahrhundert erkannt. Die Inkorporation war der Weg, über den sich die klösterlichen Eigenkirchenherren ihren Anteil an den zweifellos wachsenden Erträgen der Niederkirchen sicherten. Dieser Weg war darum im 12. Jahrhundert nicht dermaßen neu, wie der Lütticher Dompropst und Archidiakon Alexander glauben machen wollte, als er im Jahre 1160 anläßlich einer Inkorporation zugunsten von Saint-Trond sagen ließ: Nam karitas temporis, sterilitas terre, defectus rerum temporalium, quedam quasi nova genera morborum nova requirunt medicamenta208. Das Heilmittel der Inkorporation war auch 202 Piot, Saint-Trond (wie Anm. 134), t. 1, S. 105 Nr. 79. 203 JL 11143; Migne PL 200 col. 327 A. 204 Vgl. Anne Prache, Saint-Remi de Reims. L’oeuvre de Pierre de Celle et sa place dans l’architecture gothique (Bibliothèque de la société française d’archéologie, 8), Genève, 1978, S. 55ff., 71ff. 205 Ep. 121 Migne PL 202 col. 571 B. – Dietrich Lohrmann, Kirchengut im nördlichen Frankreich (Pariser Historische Studien, 20), Bonn, 1983, S. 182f., spricht von einer finanziellen Überforderung des Klosters, ohne den Brief des Abtes zu berücksichtigen. 206 Reims 1154: (wie Anm. 189). – Arch. dép. Marne, Annexe Reims, 56 H 78, Erzbischof Heinrich (1167). – Ebda., Erzbischof Wilhelm (1178). 207 Einige zur Baufinanzierung im 13. Jh. in Deutschland und Frankreich vollzogene Inkorporationen verzeichnet Wolfgang Schöller, Die rechtliche Organisation des Kathedralbaues: Baulast – Bauherrschaft – Baufinanzierung, Köln 1989 S. 267–270. 208 Piot, Saint-Trond (wie Anm. 134), t. 1, S. 94 Nr. 71. Es ging um die Kirche von Aelst, welche sich schon im Jahre 1107 im Besitz von Saint-Trond befand, ebda., S. 29 Nr. 22; JL 6138. Die Kirche hatte bis zum Jahre 1160 dem Kloster einen Zins gezahlt: … eapropter consuetudinem prefate ecclesie, que usque tempora nostra quinque solidos et sex denarios et quatuor capones

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in der Diözese Lüttich schon seit den zwanziger Jahren des 12. Jahrhunderts bekannt209. Es war bereits im 11. Jahrhundert in Lothringen und Nordfrankreich angewandt und wahrscheinlich dort auch entwickelt worden. Erst seit der Mitte des 12. Jahrhunderts wurden auch am Rhein und in den östlichen Reichsgebieten Kirchen in nennenswerter Zahl einverleibt. Die so offenkundige Verzögerung ist vermutlich aus dem hier später als in Lothringen und in Nordfrankreich einsetzenden großen Bevölkerungswachstum zu erklären. Erst mit ihm nahmen Oblationen, Stolgebühren, Spenden und Zehnten in einem solchen Umfange zu, daß es den klösterlichen Kirchenherren lohnend und notwendig erschien, sich durch die Inkorporation der Benefizien ihren Anteil an ihnen zu sichern.

Zusammenfassung Durch Inkorporation, die vom Bischof oder seinem Archidiakon zu vollziehen war, wurde ein Stift oder Kloster zum beständigen pastor legitimus einer Pfarrei. Die cura animarum nahm selten ein Mönch oder Kanoniker wahr; zumeist wurde solvebat, hoc modo permutavit (sc. der Abt), ut persona ecclesie illius in omnibus tertiam partem habeat tam magne decime quam minute. Due vero partes integre per omnia fratrum necessitatibus impenderentur, et pro hac descripta prebenda idem frater Otto (= der Priester) concilium, synodum, obsonium et cetera que alii compares sui debet procurare. Der hier erscheinende Begriff persona müßte nach den obigen Darlegungen die Annahme ausschließen, daß die Urkunde eine Inkorporation vornimmt. Doch so wie personatus 1186 in Reims wahrscheinlich (vgl. oben bei Anm. 153) und in einer Dekretale Coelestins III. (JL 16616; X 1.17.13) mit Sicherheit eine Vikarspräbende bezeichnete, stand der Terminus persona seit dem Ende des 12. Jahrhunderts im Begriff, auch auf Vikare angewendet zu werden, was aus der Sicht des Pfarrvolkes ohne weiteres verständlich erscheint, da auch der Vikar der Inhaber des geistlichen Amtes in der Gemeinde war. Vgl. zur Verwendung von persona für den Vikar die Urkunde Johanns von Trier für Orval (1193), Goffinet, Cartulaire Orval (wie Anm. 180), t. 1, S. 109 Nr. 70: Vicarius igitur habebit tertiam partem tertie partis decime, que competit supradictis fratribus; tertiam partem nichilominus habebit in omnibus oblationibus festivis et cotidianis. Si … acciderit vicarium sepedicte ecclesie viam universe carnis ingredi, eliget abbas personam, et electam presentabit eam archidiacono; archidiaconus vero … investiet eam dono vicarie sub stipendio supradicto eique curam iniunget animarum. Predicta autem persona fidelitatem faciet abbati de servando suo iure. Vgl. auch die Urkunden Johanns von 1205 und Dietrichs von Trier von 1232, Goffinet, Cartulaire Orval (wie Anm. 180), t. 1, S. 143 Nr. 104, S. 226 Nr. 193. Auch Hartridge, A History of Vicarages (wie Anm. 33), S. 217, erblickt in der persona der Urkunde für Saint-Trond einen Vikar. Ganz abgesehen von ihren geistlichen Funktionen, konnten die Vikare im Laufe des 12. Jh. in wirtschaftlicher Hinsicht verschiedentlich in die Stellung von Pfarrern einrücken, vgl. Kemp, Monastic possession of parish churches (wie Anm. 35), S. 150–152. Zur Erweiterung des englischen parson (< persona) auf Vikare und Kleriker jeglicher Art vgl. auch The Oxford Dictionary, vol. 11, Oxford, 2. Aufl. 1989, S. 257. 209 Albero von Lüttich für Saint-Hubert (1126), Kurth, Saint-Hubert (wie Anm. 180), S. 95 Nr. 79. Heinrich von Lüttich für das Reimser Priorat Meerssen (1147) (wie Anm. 172).

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ein Vikar eingesetzt. Intention der Inkorporation war, den größeren Teil der Früchte des Pfarrbenefiziums dem begünstigten Institut zuzuwenden. Der Vikar empfing lediglich einen geringeren Teil der Erträgnisse. Diese Vikarspräbende hieß seit Alexander III. und Innozenz III. portio congrua. Die Anfänge des Inkorporationsinstituts werden von der deutsch- und englischsprachigen Forschung ins 12. Jahrhundert datiert. Als Blütezeit gilt das 13. Jahrhundert. Jedoch sind in Oberlothringen in den Diözesen Toul und Verdun Inkorporationen bereits im 11. Jahrhundert bezeugt. Auch in der Erzdiözese Reims und in den nördlichen Bistümern der Reimser Kirchenprovinz wurden Pfarrkirchen bereits seit dem 11. Jahrhundert inkorporiert. Denn zahlreiche bischöfliche Urkunden verliehen klösterliche Eigenkirchen (altaria / ecclesiae) an die jeweiligen Gemeinschaften mit der Maßgabe, daß diese nun absque / sine persona zu besitzen seien. Die Interpretation der Begriffe persona und personatus zeigt, daß persona den Rektor (Pfarrer) und personatus das Benefizium (Pfarrbenefizium) bezeichnete. Die Verleihung des personatus einer klösterlichen Eigenkirche oder einer Kirche sine persona an das geistliche Institut bedeutete deren Einverleibung. Das Inkorporationswesen ist damit über 100 Jahre älter, als bisher angenommen, und wahrscheinlich in Nordfrankreich entwickelt worden. Vikarspräbenden werden seit dem Jahre 1099 (Tours-sur-Marne) detailliert beschrieben. Dabei wird die große wirtschaftliche Bedeutung nicht nur der Zehnten, sondern auch der Oblationen deutlich, deren größerer Teil an das Kloster fiel.

Summary By appropriation deeds, only obtainable from the bishop or his archdeacon, a religious house became the pastor legitimus (rector, incumbent) of the parish, i. e. a corporate non-resident rector, while a vicar served the cura animarum. The major part of the revenues of the parochial benefice was ceased to the appropriator, while the vicar received only a minor proportion, which was later, since Alexander III and Innocent III, called portio congrua. According to English and German scholars appropriations began to take place in the 12th century and reached their heyday in the 13th century. In Lorraine, in the bishoprics of Toul and Verdun, however, appropriations are attested to have occurred as early as in the 11th century. Since that time, appropriations took place also in Northern bishoprics of the province of Reims and in the diocese of Reims itself. Many episcopal charters granted to religious houses the privilege of possessing their parish-churches thence absque or sine persona or of receiving the personatus of these, meaning that these parish-churches, until then Eigenkirchen of the monasteries, were appropriated. Most probably this evolution of canon law had its origin in Northern France. However, appropriations tooke place there about

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one century earlier than in Germany and in England. Benefices of vicars were defined in detail since 1099 (first example in the appropriated parish of Tourssur-Marne). In addition to the tithes, the offerings to the altar were of great economic importance. Their major proportion was attributed to the appropriating religious house.

Résumé L’incorporation, réalisée par l’évêque ou par son archidiacre, faisait d’une collégiale (ou d’un monastère) le curé de droit (pastor legitimus) d’une paroisse. Il arrivait parfois que la charge pastorale (cura animarum) fût assurée par un moine ou un chanoine, mais la plupart du temps elle était confiée à un vicaire. Pour l’établissement qui en bénéficiait, l’incorporation présentait un intérêt matériel évident: titulaire du bénéfice, le monastère ou la collégiale en percevaient les revenus et n’en remettaient au desservant qu’une faible part, que l’on appelle depuis Alexandre III et Innocent III la portio congrua. A suivre les historiens anglais et allemands, l’incorporation est connue dès le XIIe siècle et devient très fréquente à partir du XIIIe siècle. Cependant, dans les diocèses de Toul et de Verdun, des chartes épiscopales attestent l’usage de l’incorporation dès le XIe siècle. Dans le nord de la province de Reims et dans la diocèse de Reims l’incorporation d’églises paroissiales était aussi très repandue. En effet, dès le XIe siècle, beaucoup de chartes épiscopales concédèrent aux établissements monastiques ou canoniaux les églises particulières (altaria, ecclesiae) que ceux-ci possédaient, sous réserve qu’ils les possédassent désormais sine ou absque persona. En général, le terme persona désignait le recteur (le curé) et le terme personatus le bénéfice (paroissial). La concession du personatus d’une église particulière relevant d’un monastère ou d’une église sine persona à cet établissement ecclésiastique signifiait l’incoporation de cette église. Le système de l’incorporation, nouvel élément du droit canonique, est donc antérieur d’une centaine d’années à la date communément reçue et il s’est développé vraisemblablement dans le nord de la France. Dès 1099 (à Tours-sur-Marne), on trouve des descriptions detaillées des prébendes du vicaire. Elles prouvent l’importance économique non seulement des dîmes mais aussi des offrandes dont, le plus souvent, le vicaire ne gardait qu’une faible partie, la grosse part revenant à la persona communautaire.

Oblationen, Stolgebühren und Pfarreinkünfte vom Mittelalter bis ins Zeitalter der Reformation*

Auf dem Wormser Reichstag forderten die Stände am 19. Februar 1521 vom erwählten römischen Kaiser Karl V. Abhilfe gegen Beschwerden, durch die sie von der römischen Kurie bedrückt würden. Der Herrscher antwortete am 2. März mit der Aufforderung, die Klagen schriftlich vorzulegen. Ein Ausschuß der Kurfürsten und Fürsten machte sich darauf im März 1521 in großer Eile ans Werk1. Die dadurch überlieferten Wormser Gravamina der deutschen Nation sind in vier Hauptabschnitte gegliedert. Im zweiten Abschnitt Beschwerd von den erzbischofen, pischofen und prelaten allein heißt es in Art. 45: Von grosser absenz der pfarren. Es werden auch die underthanen mit totenbesingnus, selgeredt, tauf und beichtgelt, auch in raichung der sacrament und andern vil sachen, darumb sonder gelt erfordert wurdet, von den pfarrern und iren vicarien, viceplebanen, capellan und pfarrgesellen manigfaltig beschwerd und ubernommen. Auch seien jene Pfarren, welche den Klöstern inkorporiert seien oder von anderen Kirchherren und Prälaten besessen würden, durch Absenzen über Gebühr beansprucht. Unter diesen Kirchherren seien manche, die dotem beneficii, den widemhoff und zehend der pfarren inen selbst vorbehalten, wiewol sie nach satzung der recht selbst zu residirn schuldig sein, das dadurch vil vicarien und pfarrverweser ir geburlich aufenthaltung nit gehaben mugen und sich allain der stolen, als der opfer, beichtgeld, sepultur, totenbesingnus, selgeredt und dergleichen zusteenden, so sie von raichung der sacramenten mermals wider der armen vermugen * Erstveröffentlichung in: Hartmut Boockmann (Hrsg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts (AbhhAkad.Göttingen, 3. Folge Nr. 206), Göttingen 1994, S. 26–58. 1 RTA JR 2 S. 661, 670f. Nr. 96, Vorreden. Vgl. L. v. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, hrsg. v. P. Joachimsen, Bd. 1, 1925 S. 331f., B. Gebhardt, Die Gravamina der deutschen Nation gegen den römischen Hof. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Reformation, 2 1895 S. 103–106, R. Wohlfeil, Der Wormser Reichstag von 1521 (Gesamtdarstellung), in: Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, hrsg. v. F. Reuter, 1971 S. 86– 89, H. Scheible, Die Gravamina, Luther und der Wormser Reichstag 1521, in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 39 (1972) S. 167ff., 182ff. E. Wolgast, Gravamina nationis germanicae, in: TRE 14 (1985) S. 131f.

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uberflussig erfordern und zu zeiten mit dem pan einzubringen understeen, sich mussen benugen lassen; welichs die pischof und prelaten billich strafften2. Die Spendung der Sakramente nur gegen Geld und die daraus folgende Bedrückung des Pfarrvolkes durch stolen – hier näher bezeichnet als Opfer, Beichtgeld, Begräbnis, Trauergottesdienst und Seelenmesse – finden im Text eine bemerkenswerte Erklärung. Der ganze Mißbrauch sei eine Folge der Inkorporation beziehungsweise ein Ausfluß der Absenz der eigentlichen Inhaber von Pfarrbenefizien. Da entgegen den kanonischen Satzungen Inkorporationsherren und Pfarrherren nicht nur nicht residierten, sondern ihren Vertretern, nämlich den Vikaren und Pfarrverwesern, sogar die Pfründendos, den Pfarrhof und den Zehnten sperrten, seien diese für ihren Unterhalt allein auf die aus der Sakramentenverwaltung erwachsenen Gaben, also auf die Opfer und die Stolgebühren, sowie auf die Seelgeräte angewiesen. Selbst der Kirchenbann würde zur Beitreibung der Gaben eingesetzt. Wie im folgenden gezeigt werden soll, haben die Not der Vikare und Pfarrverwalter oder die grosse absenz an den Pfarren jedoch keineswegs die Fiskalisierung der Sakramentenspendung ausgelöst oder begründet. Vielmehr waren die Opfergaben bei Empfang der Kommunion, der Taufpfenning, der Beichtpfennig oder die Gaben bei der Einleitung der Wöchnerin das ganze Mittelalter hindurch bis hin in den Anfang des 20. Jahrhunderts wichtige Bestandteile der Pfarreinkünfte. Ihre Bedeutung wurde von der Forschung bislang unterschätzt3. Der Wormser Artikel wurde in leicht veränderter Fassung in die Gravamina der weltlichen Stände vom Nürnberger Reichstag des Jahres 1523 übernommen. Inkorporation und Nicht-Residenz dienen daher auch dem Nürnberger Beschwerdeartikel zur Erklärung der Stolgebühren. Die Rubrik lautet aber nun, das man das arm volk mit geltnemung umb die sacrament beswert4. Der Akzent liegt

2 RTA JR 2 S. 685f. § 45. Vgl. auch ebenda S. 690 § 62: Wie das gemain volk mit begengnussen und selgeredt belestigt wurdet … Eine kritische Haltung gegenüber den Inkorporationen wegen der sich aus ihnen ergebenden unzureichenden Sustentation der Pfarrvikare bezeugt bereits c. 17 der Provinzialsynode von Trier von 1310, Mansi 25 Sp. 253f.: … per incorporationes huiusmodi, per quas redditus et decimae a parochialibus ecclesiis subtrahuntur, licet de iure communi pertineant ad easdem, plurimis eisdem parochialibus presbyteris pro hospilitate tenenda, et episcopalibus iuribus exsolvendis non suppetant facultates … 3 Dagegen überschätzt werden die Stolgebühren bei M. Kaiser, Stolgebühren, in: LThK 9 (21964) Sp. 1092: »Der Geistliche an einer Eigenkirche bezog daraus (sc. den Stolgebühren) den Hauptteil seiner Einkünfte«. Grundlage dieser Angabe ist möglicherweise die allerdings differenziertere Aussage von Georg Schreiber, Kirchliches Abgabenwesen an französischen Eigenkirchen aus Anlaß von Ordalien, in: ZRG KA 5 (1915), Wiederabdruck in: Ders., Gemeinschaften des Mittelalters (Gesammelte Abhandlungen 1, 1948 S. 153f.: » … insbesondere für manche Eigenkirchengeistlichen waren diese Oblationen wirtschaftlich weit wertvoller als der Zehnt …« 4 RTA JR 3 Nr. 110 S. 683 § 66. Die Rubrik ist aus RTA JR 2 Nr. 96 S. 690 § 61, übernommen.

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jetzt nicht mehr auf der Absenz der Pfarrherrn und deren beschwerlichen Folgen, sondern auf der Spendung der Sakramente um Geld. Wenn sich 1521 und 1523 sogar die Reichsstände dieses Gravamen annahmen, sie es jedoch schließlich ganz hinter die Glaubenssache zurücktreten ließen, dann nimmt es nicht wunder, daß auch die Bauern über Opfer und Stolgebühren Klage führten. Dorfmeister und Gemeinde zu Wendelstein in Mittelfranken hielten am 19. Oktober 1524, also einige Monate nach dem Ausbruch des Bauernkrieges, ihrem Pfarrer vor: Item, dieweil wir verschiner Zeit von der Pfaffhait manigfeltig sein bemüet und angefochten worden, als mit Opfern, Seelgerecht, Belonungen und andern erdichten Dingen, dadurch wir in Unkosten sein gefürt worden. Und so wir nun durch das Evangelion bericht werden, das es der Herr umbsunst gibt und nit umb Gelt sol verkauft werden, ist das unser Mainung und endlicher Beschluß, das man weder dir noch einem andern solcher Ding aus Gerechtigkeit kains geben sol5. Der Renchener Vertrag zwischen den Bauern und den Herren der Ortenau vom Oktober 1525 garantierte den Pfarrern den Genuß des ganzen Großzehnten und der Pfarrgefälle, aber darüber hinaus sollte ein Pfarrher … sich keiner andern Nebenschinderei in der Kirchen, es si Opfer-, Bicht- oder ander Nebengelt befleißigen, vielmehr eim jeden sinem Pfarrkinde one alle sonder Belonung gewertig sein6. Ähnlich lauteten Forderungen der Bauern von Schaffhausen und von Steingaden7. Die Zahl dieser Zeugnisse ist jedoch gering, wenn man sie am weitverbreiteten Verlangen nach Abschaffung etwa des Kleinzehnten mißt8. Nach den in den Städten seit Anfang des 16. Jahrhunderts lautgewordenen Forderungen nach Senkung oder Abschaffung der Gebühren für Beichte, Trauung und Begräbnis9 und nach den Flugschriften und Pamphleten10 könnte erwartet werden, daß sich 5 Günther Franz, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte der Neuzeit 2) 1963 S. 316 Nr. 97 (1524 Oktober 19). Zum sich hier artikulierenden, gegen den Pfarrer als Herrn gerichteten neuen Gemeindeverständnis vgl. G. Pfeiffer, Das Verhältnis von politischer und kirchlicher Gemeinde in den deutschen Reichsstädten, in: W. P. Fuchs, (Hrsg.), Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, 1966 S. 79f., H. J. Goertz, Aufstand gegen den Priester, in: Bauer, Reich und Reformation. Festschrift Günther Franz, 1982 S. 196f. Die Bibelstellen, welche die Verfasser der bäuerlichen Forderungen im Sinn hatten, sind Apg. 8, 18–25, und Matth. 10, 8. 6 Franz, Quellen (wie Anm. 5) S. 565 Nr. 197. 7 Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg, Aktenband 51980 S. 246f. Nr. 88, S. 165 Nr. 31. 8 Vgl. Franz, Quellen (wie Anm. 5) S. 152, 155, 166, 202 u. ö. 9 Vgl. A. Störmann, Die städtischen Gravamina gegen den Klerus am Ausgange des Mittelalters und in der Reformationszeit (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 24–26) 1916 S. 52–55. S. auch unten Anm. 15. 10 Vgl. Johann Eberlin von Günzburg, Bundesgenoss VII, hrsg. v. L. Enders (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts Nr. 139–141. Flugschriften aus der Reformationszeit 11) Halle 1896 S. 71f., 74, oder die im Jahre 1521 entstandene Flugschrift Martin Bucers »Ain schöner dialogus Und gesprech zwischen aim Pfarrer und aim Schulthayß, betreffend allen übel Stand der gaystlichen Und boß handlung der weltlichen. Alles mit

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auch die Artikel der Bauern dieser Beschwerde häufiger, als geschehen, angenommen hätten11. Die Bauern ließen es jedoch nicht bei Forderungen bewenden, sondern stellten die dem Grunde nach ehedem freiwillig gewesene Leistung ein. Da Opfer im Gottesdienst und die Spenden anläßlich von Hochzeit, Taufe, Rekonziliation, Beichte, Beerdigung und Exequien sowie Seelenmessen als gute Werke nach lutherischer Lehre keine Gerechtigkeit vor Gott mehr vermittelten, gingen sie offenbar so rasch zurück, daß der Unterhalt der Pfarrer in ernstliche Gefahr geriet. Einer nach 1524 entstandenen Satire über die schwer krank liegende Seelenmesse gelten als von ir gewichen … ire bundsgenoßen, als begrebnus, vigilien, dritt, sibent, dreißigst und alle jarzeiten sampt dem opfer12. Am 31. Oktober 1525 schrieb Luther dem Kurfürsten Johann von Sachsen, das die pfarren allenthalben so elend liegen. Da gibt niemand, da bezalet niemand, opffer und seelpfennige sind gefallen, Zinse sind nicht da odder zu wenig, so acht der gemeyn man widder prediger noch pfarrer13.

geytzigkayt beladen etc.«, in: Martin Bucer, Frühschriften 1520–1524, hrsg. v. R. Stupperich (Martin Bucers Deutsche Schriften 1) 1960 S. 452 Z. 23ff.: (Pfarrer:) Ursach das ir uns schuldig seind zuo opffern, zehenden zuo geben, beychtgelt, tauffgelt, Sacramentgelt Und des mer … (Schulthayß:) … Woher ist man eüch sollichs alles schuldig, das man eüch sol so vil brot und wein, schmaltz, mel und ayer und gelt opffern, Das ir mit ewern bolsterm men verfressent?, S. 456 Z. 11ff.: (Schulthayß:) … Ir habt vor gehort, das irs umbsunst thon solt. So habt ir überall groß zyns Und gült darauff gesetzt Und kan euch nyemandt erfüllen. Dann so yemandt etwan aines seinr verwandtn oder sunst zuo besingen lassen wyll, es sey mit vigill, besincknus, Sybent, Dreyßgast oder Jartag, was des ist, So habt ir ain sollich wochenmarckt darauß gemacht Mit dem auffschlag, es sey auff dise vorgemelte stuck oder auff wachs, glockengelt Und was des ist, mit sampt dem opffer, das manicher armer kaum zuo bezallen sovil hat Und sein haußradt oder kuo im stal darumb verkauffen und versetzen muoß etc., S. 465 Z. 17: (Schulthayß:) Auch wann zway in aim dorff mit todt abgond, so besingent irs nit mitainnander, sunder nachainander als von des opffers wegen. Vgl. Stupperich, a. a. O. S. 396–399. 11 H. J. Cohn, Anticlericalism in the German Peasants’ War 1525, in: Past and Present 83 (1979) S. 3–31, betrachtet den Klerus vornehmlich in seiner Stellung als des von den Bauern angefeindeten Landesherrn; nur am Rande (S. 22f.) kommmt Cohn auf die Ablehnung des Großzehnten sowie des Kleinzehnten, jedoch mit keiner Silbe auf die Verweigerung von Opfern und Stolgebühren zu sprechen. – Anders als der Kleinzehnte wurde der große Zehnt, weil iuris divini – vgl. Georg Schreiber, Untersuchungen zum Sprachgebrauch des mittelalterlichen Oblationenwesens. Ein Beitrag zur Geschichte des kirchlichen Abgabewesens und des Eigenkirchenrechts. Diss. theol. Freiburg i. B., 1913 S. 20 –, von den Bauern überwiegend zugestanden, vgl. Otto Brunfels, Vom Pfaffenzehnten, in: A. Laube/H. W. Seiffert, Flugschriften der Bauernkriegszeit, 1975 S. 160 Nr. 17: Redlich ursach ist, so zehenden nemen, verkünder des wortts Gotts oder einer gemeynen christenheit vorstendig und nütz seind. 12 Ein Klegliche Botschaft an den Bapst die Selmess betreffend welche krank ligt vnd wil sterben. Sampt einem Gesprech etslicher Personen, hrsg. v. O. Schade, Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd. 2, 21863 S. 255. 13 WA Br. 3 Nr. 937.

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Das Opfer oder der Opfergang waren weder, wie man gemeint hat, eine »fiskalische Entartung« erst des Spätmittelalters14, noch sind Opferpfennige und Stolgebühren mit der Reformation oder dem Tridentinum verschwunden. Eine wort- und begriffsgeschichtliche Untersuchung für Stolgebühr liegt offenbar nicht vor. Der bislang älteste bekannte Beleg für stole im Sinne von Stolgebühr ist der eingangs zitierte Text aus Worms vom Jahre 152115. Wenige Monate später begegnet er im September 1521 in derselben Bedeutung in der Flugschrift »Von dem pründtmarkt der Curtisanen und Tempelknechten«16. Einige von Georg Schreiber gefundene Zeugnisse für stola im Sinne einer Abgabe datieren von 1452 und von um 1500 und stammen aus den Diözesen Straßburg und Konstanz17. Das jüngere Kirchenrecht versteht unter Stolgebühren oder Stoltaxen jene Abgaben, die dem Pfarrer anläßlich der Spendung von Sakramenten und Sakramentalien (Abendmahl, Beichte, Taufe, Trauung, Begräbnis) und weiterer Kasualien wie der Muttersegnung oder verschiedener Weihehandlungen zu entrichten sind18. Ihren Namen, der seit dem späten 17. und dem 18. Jahrhundert – insbesondere seit der Verwerfung des Beichtpfennigs durch Philipp Jacob Spener19 – gut bezeugt ist20, tragen sie von der Stola, dem liturgischen diakonalen und priesterlichen Parament, das Priester und Diakon zu ihren 14 So Hans Bernhard Meyer, Luther und die Messe. Eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung über das Verhältnis Luthers zum spätmittelalterlichen Meßwesen (Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 11) 1965 S. 171, vgl. auch ebenda S. 146, 148. 15 M. Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch 2, 1876 Sp. 1209, verzeichnet aus einer Freiburger Urkunde von 1316 (F. J. Mone, Urkunden zur Geschichte der Grafen von Freiburg, 14. Jahrhundert, in: ZGORh 12 [1861] S. 238:) alse es … ze der stole geopfert were. 16 Hrsg. O. Schade, Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Bd. 3, 21863 S. 69: … und sol man dem selben priester mit muotmaßen weltlicher oberkeit so vil guots schaffen daß er gesunt und krank wol versehen si und sol man eim pfarrer in die versehung siner notturft kein stol, das ist opfer, lipfäl, bichtgelt oder ander zuofel rechnen, wan die zuofel gond uf und ab und sind ungewis, ich wil geschwigen ungötlich. 17 Schreiber, Untersuchungen zum Sprachgebrauch des mittelalterlichen Oblationenwesens (wie Anm. 11) S. 12f. 18 Über die Agenden der evangelischen Kirchen für die Kasualien vgl. P. Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus, 1921 S. 286ff., Ders., Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands. 2: Die Zeit der Aufklärung und des Rationalismus, 1939 S. 223ff. 19 Ph. J. Spener, Theologische Bedencken … Erster Theil, Halle 1700 c. 2 sectio 34–38 S. 314– 324. Vgl. P. Grünberg, Philipp Jakob Spener Bd. 2, 1905 S. 92. Paul Schoen, Das Evangelische Kirchenrecht in Preußen 2, 2, 1910 S. 556. 20 Vgl. Johann Heinrich Zedler, Großes Vollständiges Universal-Lexikon 27, 1741 (ND 1961) S. 1288 s. v. Pfarr-Gebühren, Ebenda 40, 1744 (ND 1962) S. 348 s. v. Stolae Jura. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm Bd. 10, 3, 1957 S. 197 s. v. Stolgebühr, Stolgebühren. – I. Riedle, Das pfarrliche Recht der Stolgebühren und seine Bedeutung im kirchlichen Pfründewesen. Eine Rechtsstudie aus den Zeitfragen, München, Wien o. J. (1897), bietet nichts zur Wortgeschichte.

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Amtsverrichtungen anlegen. Anders als 1523 in Worms ist es in Kirchengeschichte und Kirchenrecht wie bereits in einigen oberdeutschen Urkunden des 15. Jahrhunderts üblich geworden, den Begriff für jene Gebühren zu reservieren, die anläßlich der Kasualien anfallen. Der Terminus, nicht aber die von ihm bezeichnete Sache, ist spätmittelalterlich beziehungsweise nachmittelalterlich. Dagegen werden die Gaben während des Gottesdienstes, insbesondere die Gaben zur Eucharistie und die Spenden der Kommunikanten, in den Quellen beziehungsweise von der Literatur als oblatio, als offertorium, Opfer oder Opferpfennig bezeichnet21. Die Rubrik einer in den Liber extra aufgenommenen Dekretale definiert: Oblationis nomine intelligitur quicquid offertur ecclesiae quocunque modo, in missa vel extra, et in ecclesia vel extra22. Idealerweise bestand das Corpus der Pfarrpfründe aus dem Nutzungsrecht an der Pfarrdotation (dem Pfarrwidem), welche nach dem Kirchenkapitular Ludwigs des Frommen von 818/819 und auch noch nach den Lokationsurkunden des 12. Jahrhunderts mindestens den Umfang einer dienstfreien Hufe haben sollte23. Ferner gehörten zum Pfarrbenefizium das Nutzungsrecht am Pfarrhof, den man sich als bäuerlichen Wirtschaftsbetrieb vorzustellen hat – nicht von ungefähr dürfte auf der Provinzialsynode von Elbing im Jahre 1427 geklagt worden sein, 21 Schreiber, Untersuchungen zum Sprachgebrauch des mittelalterlichen Oblationenwesens (wie Anm. 11) S. 5–15, 17ff., 34ff., mit dem ergänzenden Hinweis (S. 14f.) auf die Biberacher Überlieferung – vgl. Schilling (wie unten Anm. 108) S. 169 –, wonach die Gläubigen zumindest bei Exequien das Opfergeld dem Priester auf das Ende der Stola legten und diese küßten. Vgl. auch oben Anm. 16. 22 X 5.40.29 Rubr. 23 MGH Capit. 1 Nr. 138 S. 277 c. 10: Sanccitum est, ut unicuique ecclesiae unus mansus integer absque alio servitio adtribuatur, et presbyteri in eis constituti non de decimis neque de oblationibus fidelium, non de domibus neque de atriis vel hortis iuxta ecclesiam positis neque de praescripto manso aliquod servitium faciant praeter ecclesiasticum. Et si aliquod amplius habuerint, inde senioribus suis debitum servitium impendant (= C. 23.8.25). Vgl. F. Israël/W. Möllenberg, Urkundenbuch des Erzstifts Magdeburg Bd. 1: 937–1192 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt NF 18) 1937 S. 373 Nr. 299 (1159): … unum mansum ecclesie ad usum sacerdotis in dotem dedi. Vgl. U. Stutz, Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III. Aus dem Nachlaß ergänzt und mit Vorwort versehen von H. E. Feine, 31972 S. 254, 400ff., F. X. Künstle, Die deutsche Pfarrei und ihr Recht zu Ausgang des Mittelalters (Kirchenrechtliche Abhandlungen 20) 1905 S. 91ff., W. Hartmann, Der rechtliche Zustand der Kirchen auf dem Lande. Die Eigenkirche in der fränkischen Gesetzgebung des 7. bis 9. Jahrhunderts, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell’Alto Medioevo: espansione e resistenze (Settimane di Studio 28) Spoleto 1982 S. 410. Ders., Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Konziliengeschichte: Reihe A, Darstellungen [9]) 1989 S. 163. Im Bereich der deutschen Ostsiedlung des 12. und 13. Jahrhunderts ist vielfach die 2-Hufen-Dos üblich gewesen, vgl. Heinrich Felix Schmid, Die rechtlichen Grundlagen der Pfarrorganisation auf westslavischem Boden und ihre Entwicklung während des Mittelalters, 1938 S. 96f., 387f., welche bereits die 785 von Karl dem Großen erlassene Capitulatio de partibus Saxonie c. 15 vorgesehen hatte, MGH Capit. 1 S. 69: Ad unamquamque ecclesiam curte et duos mansos terrae pagenses ad ecclesiam recurrentes condonant …

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daß die Pfarrer alciorem curam habent animalium quam animarum24 –, weiter der Anspruch auf den Zehnten oder auf wenigstens den dritten Teil desselben25, das Recht an Stiftungen für das Totengedächtnis, schließlich die Sendbußen und endlich das Bezugsrecht von den bei priesterlichen Amtshandlungen anfallenden Gaben und Gefällen, eben den Oblationen und Stolgebühren26. Der Kirchenzehnt (Feldzehnt, Blutzehnt) ist unstrittig ein wichtiger Bestandteil des Pfründeneinkommens gewesen, wenn ihn denn der Pfarrer beziehen oder wenigstens ein Drittel von ihm genießen konnte. Vielfach war das aber nicht der Fall, weil der Zehnt, der immer die lukrativste Rente des Mittelalters darstellte, dem Pfarrbenefizium entzogen war und sich in der Hand des Eigenkirchenherrn oder Patrons, eines bischöflichen Lehnsmannes oder eines Klosters befand. Keine der vier Göttinger Pfarrkirchen bezog Feldzehnten, nachdem der ursprünglich wahrscheinlich erzbischöflich-Mainzer Zehnt, der auf der Göttinger Feldmark erhoben wurde, zunächst in der Hand der Grafen von Everstein gewesen und im Jahre 1305 vom Zisterzienserkloster Walkenried erworben worden war27. Zu erwähnen ist auch der Personalzehnt. Augustins Gebot, de milicia, de negocio et de artificio redde decimas, wurde Jahrhunderte lang wahrscheinlich überhaupt nicht befolgt, bis Gratian es in sein Dekretbuch aufnahm28 und Dekretalen der Päpste Lucius III. und Innozenz III. die Erhebung des Personal24 O. Günther, Eine Predigt vom preußischen Provinzialkonzil in Elbing 1427 und die »Ermahnung des Carthäusers«, in: ZWestprG 59 (1919) S. 99. Vgl. E. O. Kuujo, Die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Pfarrkirchen in Alt-Livland (Annales academiae scientiarum Fennicae 79, 2) Helsinki 1953 S. 157. 25 Vgl. U. Stutz, Das karolingische Zehntgebot, in: ZRG 42 GA 29 (1908) S. 5–49, E. Perels, Die Ursprünge des karolingischen Zehntrechts, in: AUF 3 (1911) S. 233–250, J. Linneborn, Verzeichnis der Vorlesungen, die an der Bischöfl. philos.-theol. Fakultät zu Paderborn während des Wintersemesters 1915/16 gehalten werden. Mit einer Abhandlung: Die Kirchenbaupflicht der Zehntbesitzer im früheren Herzogtum Westfalen, Paderborn 1915 S. 7–9 mit Anm. 17, S. 16ff., J. Semmler, Zehntgebot und Pfarrtermination in karolingischer Zeit, in: Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift F. Kempf, hrsg. v. H. Mordek, 1983 S. 33–44. 26 Vgl. Host. III, De parochiis § 2 In quibus consistit ius parochiale = Henricus de Segusio (Hostiensis), Summa una cum summariis et adnotationibus Nicolai Superantii, Lyon 1537 (Neudruck Aalen 1962) f. 169va-b, wonach das ius parrochiale besteht in der cura animarum, dem Zehnt, der Sepultur, der Bußgewalt, jedweden Einkünften (proventus) und den Oblationen (in oblationibus unde parochiani singulis diebus dominicis et festivis debent ad propriam ecclesiam convenire). 27 Vgl. Die Urkunden des Stifts Walkenried 2, 1 (UB des historischen Vereins für Niedersachsen Heft 3) 1855 S. 35 Nr. 657 (1305). UB der Stadt Göttingen 1 (UB des historischen Vereins für Niedersachsen Heft 6) 1863 S. 342 Nr. 311, S. 343 Nr. 313, S. 345 Nr. 318 (1384). UB des Klosters Walkenried 2. Bearb. v. J. Dolle (VeröffHistKommNdersachsBremen 241) Hannover 2008 S. 69 Nr. 793 (1305). Vgl. R. Wenskus/O. Mörke, in: D. Denecke/H.-M. Kühn, Göttingen, Geschichte einer Universitätsstadt 1, 1987 S. 22, 281. 28 C. 16 q. 1 c. 66.

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zehnten einschärften29. Die Kanonisten Henricus de Segusio und Johannes von Freiburg lehrten gar, daß ein Personalzehnt von Erträgen aus Wissenschaft, Militärdienst und Jagd erhoben werde30. Konrad von Megenberg gestattete wie bereits der Liber Extra und wie der Hostiensis vor Zahlung den Abzug von Auslagen – anachronistisch gesagt, von Werbungskosten –, räumte aber schließlich ein, daß der Personalzehnt vielerorts und so auch in Regensburg nicht entrichtet werde31. Das Pfarrbuch von St. Gallus in Pappenheim, das der Pfarrer Stefan Aigner im Jahre 1511 offenbar kurz nach seinem dortigen Amtsantritt anlegte, verzeichnet am oder um den Gallustag fällige Personalzehnten; auch würde auf dem Schloß Pappenheim Personalzehnt gegeben; jedoch hat Aigner dieses Zehntrecht in einem alten Register gefunden, das er seinem Pfarrbuch inserierte32. Von einer Bezehntung von Handelstätigkeit ist keine Rede. Luthers Gegner Johann Eck hat als Pfarrer in Ingolstadt Personalzehnten eingehoben, erlangte davon aber weniger als einer seiner Vorgänger33. Ob es sich dabei tatsächlich um einen Personalzehnten im Sinne der Kanonistik handelte, ist aller-

29 X 3.30.20: Noveris igitur, quod, si de artificio, vel negotiatione et agricultura, quam infra terminos parochiae, in qua moratur, exercet … aequum est, ut illi ecclesiae decimae personales reddantur ab eis, in qua ecclesiastica percipiunt sacramenta. – X 3.30.28. 30 Host. III, De decimis et primitiis § 3 Quot sint = Henricus de Segusio (Hostiensis) (wie Anm. 26) f. 170va: Quot sint eius species. Due. Sunt personales ut que debentur ex negociatione vel artificio, seu scientia vel militia, seu venatione. Johannes von Freiburg, Summa confessorum I, 15 q. 2, Lutetia Parisiorum 1519f. 38vb – 39ra: Personales sunt ut que debentur ex negociatione vel artificiciis, seu scientia vel militia, seu venatione. Vgl. M. Hamm, H. Ulmschneider, Die ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds, Bd. 6–7, Quellenkommentar, 1991 S. 804 Z. 3 Zehnt. 31 X 3.30.28 Rubr.: Negotiator de lucro decimam solvit deductis expensis, quas facit de pecunia decimata; expensae vero, quae fiunt pro habendis fructibus, non deducuntur, et de fructibus solvitur decima, etiam non deductis expensis factis pro se restauranda. Host. III, De decimis et primitiis § 8 Et qualiter = Henricus de Segusio (Hostiensis) (wie Anm. 26) f. 171ra. Konrad von Megenberg, De limitibus parochiarum civitatis Ratisbonensis, hrsg. v. Philipp Schneider, 1906 S. 150–152: de militia, de venacione, de advocacione, de artificio, de negociacione et similibus … de quibus expense ante solucionem decimarum deducendae sunt … Sed in Ratispona et in pluribus aliis locis personales decime non solvuntur … 32 K. Schornbaum/W. Kraft, Pappenheim am Ausgang des Mittelalters in kirchlicher Hinsicht auf Grund des Pfarrbuches des Pfarrers Stefan Aigner, in: ZsBayrKG 7 (1932) S. 156f.: Modus decimarum in Bappenhaim, quem collegi (sc. Stefan Aigner) ex quodam antiquo registro. Item Walpurgis colligitur decima de pecoribus. – Galli vel post colligitur decima personalis. – Item Bappenham dat omnes decimas in hunc, qui sequitur, modum: vitulus 1 d., Kitz 1 d., Ymmen 1 d., porcellus decimus, agnus decimus vel 3 d. pro 1, auca decima vel 1 d., pullus decimus, aneta decima … item in castro datur decima personalis, item in eorum pauhöfen et cum omnibus aliis. 33 J. Greving (Hrsg.), Johann Ecks Pfarrbuch für U. L. Frau in Ingolstadt. Ein Beitrag zur Kenntnis der pfarrkirchlichen Verhältnisse im sechzehnten Jahrhundert (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 4–5) 1908 S. 56f.

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dings unsicher34. In Straßburg wurde 1220 über den Bezug von Personalzehnten zugunsten eines Kollegiatstifts entschieden, und eine Straßburger Synode befahl im Jahre 1252 den Priestern, den Gläubigen bekannt zu geben, diese seien zur Entrichtung auch von Personalzehnten verpflichtet35. Demnach war auch in der Diözese Straßburg die Leistung des Personalzehnten nicht allgemein üblich. Im Jahre 1502 nannte der Basler Pfarrer Ulrich Surgant unter den Exkommunikationsgründen die Nichtzahlung von Zehnten; als zehntpflichtig galten ihm nicht nur die Feldfrüchte, sondern auch Mahlgut, Fischerei, Heu und Wolle, also Zehnten von den Gewerben des Müllers, Fischers und Schäfers36. Daß Surgant einen generellen Personalzehnten kannte37, ist wenig wahrscheinlich. Während eine Studie über den Personalzehnten im deutschsprachigen Raum offenbar nicht vorliegt38, hat man in England eine in den jeweiligen Städten, Diözesen und Pfarreien sehr unterschiedliche Praxis der Entrichtung des Personalzehnten beobachtet39. Dort wurden Gewinne aus Handel und Handwerk im Spätmittelalter gelegentlich bezehntet40. Vorbildliche Zahler von Personalzehn34 So auch Joh. B. Götz, Das Pfarrbuch des Stephan May in Hilpoltstein vom Jahre 1511. Ein Beitrag zum Verständnis der kirchlichen Verhältnisse in Deutschland am Vorabend der Reformation (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 47–48) 1926 S. 113. 35 W. Wiegand, UB der Stadt Straßburg 1, 1879 S. 148f. Nr. 184 (Streit zwischen dem Propst von St. Thomas und dem Pfarrer von St. Andreas): … plebanus prefatus cum suo patrono decimas percipiet prediales; personales vero ad prepositum pertinebunt … Ebenda S. 278f. Nr. 366, c. 8: … item denunciari precipimus per omnes nostre civitatis et diocesis parrochiarum sacerdotes, fideles non solum ad prediales immo et ad decimas personales teneri. Vgl. L. Pfleger, Die elsässische Pfarrei. Ihre Entstehung und Entwicklung. Ein Beitrag zur kirchlichen Rechtsund Kulturgeschichte (Forschungen zur Kirchengeschichte des Elsaß 3) Straßburg 1936 S. 310. 36 Ulrich Surgant, Manuale curatorum, predicandi prebens modum, tam latino quam vulgari passim quoque gallico sermone practice illuminatum. Cum certis aliis ad curam animarum pertinentibus omnibus curatis tam conductibilis quam salubris, (Argentine:) Joannes Schottus 1516f. 103r: De iure communi de omnibus fructibus decime dari debent; de fructibus molendini, piscariis, feno, lana decime integraliter sunt solvende. Über die frühen, seit 1503 vorliegenden Ausgaben des Manuale vgl. Dorothea Roth, Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatorum des Joh. Ulrich Surgant (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 58) 1956 S. 13. 37 So Pfleger, Die elsässische Pfarrei (wie Anm. 35) S. 310 Anm. 4. 38 Vgl. E. Sehling, in: A. Hauck (Hrsg.), RE 21 (31908) S. 636. Schoen, Das Evangelische Kirchenrecht in Preußen (wie Anm. 19) S. 562 Anm. 7. – E.O. Kuujo, Das Zehntwesen in der Erzdiözese Hamburg-Bremen bis zu seiner Privatisierung (Annales academiae scientiarum Fennicae Sarja – Ser. B 62, 1) Helsinki 1949 S. 93f., hält den Personalzehnt für »überall in Westeuropa sehr selten«. – Nach dem Preußischen Allgemeinen Landrecht Th. II. Tit. XI. § 921, hrsg. v. H. Hattenhauer, 1970 S. 574, ist der Personalzehnt unstatthaft: Ein Personalzehent von dem, was durch bloßen menschlichen Fleiß erworben worden, soll nirgend weder gefordert, noch gegeben werden; jedoch soll er in Ostpreußen und Litauen eingeführt gewesen sein, vgl. Schoen, a. a. O. 39 A. G. Little, Personal Tithes, in: The English Historical Review 60 (1945) S. 67–88. 40 Little, S. 76–80.

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ten de scientia waren um 1500 die Mitglieder des Peterhouse College in Cambridge. Dr. William Burgoyne, auf dem von Lady Margret gestifteten Lehrstuhl für Theologie von 1506 bis 1511 der Vorgänger des Erasmus von Rotterdam, zehntete von 1507 bis 1520 jährlich 6 s. 8 d. von seinen Hörergeldern an das Peterhouse College als den Inkorporationsherrn der Kirche Little St. Mary, in deren Pfarrbezirk er lebte41. Die Oxforder Pfarrei St. Thomas bezog im Jahre 1460 60 s. 9 d. aus Personalzehnten gegenüber 62 s. 3 1/2 d. aus Oblationen auf den Hochaltar42. Im Jahre 1535 belief sich der Anteil des Personalzehnten an Einkommen ländlicher Pfarreien in den Diözesen Worcester, Gloucester und Surrey im Durchschnitt auf zwischen 5 bis 10 %43. In Italien werden Personalzehnten in Venedig erwähnt; dort entwickelten sie sich seit dem 12. Jahrhundert zu einer Art Erbschaftssteuer, die nach dem Tode des Erblassers zugunsten des Bischofs von Olivolo-Castello als des Ordinarius loci als rectum decimum (»decima funebre«, »decima dei morti«) fällig wurde. Ebenfalls im 12. Jahrhundert gestattete die Kommune von Genua dem Erzbischof anstelle des gewöhnlichen Feldzehnten die Erhebung einer decima maris von allen im Hafen einlaufenden Schiffen44. Die zehntberechtigten Kirchen und die Kanonisten haben also die Bezehntungsmöglichkeiten der Erträge der neuen urbanen Wirtschaft des Hochmittelalters durchaus wahrgenommen, aber nicht allgemein durchgesetzt. Eingehende Studien fehlen. Generell dürfte der Umfang der Opfer umgekehrt proportional zur Höhe des eingeforderten Personalzehnten gewesen sein. Der Anteil von Oblationen und Stolgebühren am Pfarrpfründeneinkommen und ihr zunehmender Abgabencharakter sind im folgenden an Hand einiger Quellen bis ins Zeitalter der Reformation zu skizzieren. Dabei werden nach der Terminologie des Dekretalenrechts und verschiedener mittelalterlicher Quellen, welche unter Beobachtung der kirchlichen Hierarchie von der Bischofskirche als der ecclesia maior oder magna und von der Pfarrkirche als ecclesia minor oder 41 Little, S. 82. – Zu William Burgoyne († 1523) vgl. A. B. Emden, A Biographical Register of the University of Cambridge to 1500, Cambridge 1963 S. 108f. Über das Peterhouse College vgl. Damian Riehl Leader, A History of the University of Cambridge. Vol. 1. The University to 1546 (A History of the University of Cambridge 1) Cambridge 1988 S. 60–78. Über den Aufenthalt des Erasmus in Cambridge (1511–1514) vgl. D. F. S. Thomson/H. C. Porter (Ed.), Erasmus and Cambridge. The Cambridge Letters of Erasmus, Toronto 1963, J. Huizinga, Erasmus, deutsch v. W. Kaegi, Basel 1928 S. 83–91, George Faludy, Erasmus of Rotterdam, London 1970 S. 135–142, Leader, a. a. O. S. 277f., 291–297. 42 Little (wie Anm. 39) S. 85. 43 Little, S. 87f. 44 C. E. Boyd, Tithes and Parishes in Medieval Italy. The Historical Roots of a Modern Problem, Ithaca-New York 1952 S. 197–199, B. Betto, Decime ecclesiastiche a Venezia fino al sec. XIVe motivi di contrasto fra il vescovo e la città, in: Archivio veneto, ser. 5a, 113 (1979) S. 23–54, A. Castagnetti, La decima da reddito signorile a privilegio economico dei ceti cittadini. Linee di ricerca, in: Italia Sacra. Studi e documenti di storia ecclesiastica 35 (1985) S. 216f. Anm. 2.

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parva sprechen45, sowie nach dem Vorgang etwa Leopold von Rankes und der jüngeren deutschen kirchlichen Rechtsgeschichte Pfarreien zum Niederkirchenwesen gerechnet46. Zu Recht hat man jüngst darauf hingewiesen, daß dieser gut einhundert Jahre alte kirchengeschichtliche Ordnungsbegriff der Umgangssprache allerdings fremd geblieben ist47.

45 C. 13 q. 2 c. 6 (Vgl. Synode von Trebur c. 15 [895], MGH Capit. 2 S. 221f.): Ubicumque temporum uel locorum facultas tulerit, apud maiorem ecclesiam, ubi sedes est episcopi, sepulturae celebrentur. – X 3.5.8 (= Konzil von Tours c. 1, Mansi 21 Sp. 1176 [1163]): Maioribus ecclesiae beneficiis in sua integritate manentibus indecorum nimis videtur, ut minorum clericorum praebendae patiantur sectionem … – Gerhoch von Reichersberg, Opusculum de edificio Dei c. 162, MGH Ldl 3, 1897 S. 193: Unde constat, quod factum est in magnis posse quoque fieri in parvis aecclesiis: ut videlicet regantur a monachis utentibus earum decimis. Neque enim vel monachi vel claustrales canonici sine periculo utuntur decimis plebium, nisi habeant curam earum. – Idung, Argumentum super quatuor questionibus, hrsg. v. R. B. C. Huygens, Le moine Idung et ses deux ouvrages »Argumentum super quatuor questionibus« et »Dialogus duorum monachorum« (Biblioteca degli studi medievali 11) Spoleto 1980 S. 82 Z. 912–915: … si monachis licet magnas regere parochias, cur non liceat regere parvas, cum hoc monasticae humilitati magis conveniat? Quid est episcopatus nisi magna parrochia? – E. Caspar (Hrsg.), Das Register Gregors VII. Nr. VII, 14 a c. 1 (MGH Epp. sel. 2, 2) 1923 S. 480: … si quis deinceps episcopatum vel abbatiam de manu alicuius laice˛ persone˛ susceperit, nullatenus inter episcopos vel abbates habeatur … Similiter etiam de inferioribus ecclesiasticis dignitatibus constituimus (1080). – Synode von Lambeth c. 1 (1281), F.M. Powicke/ C.R.Cheney, Councils & synods with other documents relating to the English Church vol. II. A.D. 1205–1313. Part II 1265–1313, Oxford 1964 S. 895: in huiusmodi minoribus ecclesiis (sc. parochialibus) est concessum (freundlicher Hinweis von Edgar Müller M.A.). – Die Legatensynoden von Vienne und Tours (1060) c. 4, Mansi 19 Sp. 926f.: Nullus ecclesiam magnam vel parvam deinceps sine consensu episcopi, in cuius parochia est, a laicis praesumat accipere quolibet modo … unterscheiden, da der Konsens des Bischofs zur Besetzung gefordert wird, im Bereich von Niederkirchen zwischen »großen« und »kleinen« Kirchen, vgl. R. Schieffer, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots für den deutschen König (SchrrMGH 28) 1981 S. 80–82. 46 Ranke (wie Anm. 1) S. 329, 335: die niedere Geistlichkeit. U. Stutz, Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III. Bd. 1, 1, 1895 vor S. 1: (das) niedere Gotteshaus. Vgl. Ders., Geschichte des kirchlichen Benefizialwesens von seinen Anfängen bis auf die Zeit Alexanders III. Aus dem Nachlaß ergänzt und mit Vorwort versehen von H. E. Feine, 31972 S. XI, Ders., Regalie ( jus regaliae, régale), in: A. Hauck (Hrsg.), RE 16 (31905) S. 539. Vgl. H. E. Feine, Kirchenreform und Niederkirchenwesen, in: Studi Gregoriani 2 (1947) S. 505ff., Ders., Kirchliche Rechtsgeschichte 1, 41964 S. 402. W. M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts. 2 Das Kirchenrecht der abendländischen Christenheit 1055 bis 1517, 21962 S. 432. Dietrich Kurze, Pfarrerwahlen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Gemeinde und des Niederkirchenwesens (Foschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 6) 1966. Ders., Der niedere Klerus in der sozialen Welt des späteren Mittelalters, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Festschrift H. Helbig zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Knut Schulz, 1976 S. 274f. P. Landau, Eigenkirchenwesen, in: TRE 9 (1982) S. 402. 47 Heike Johanna Mierau, Vita communis und Pfarrseelsorge. Studien zu den Diözesen Salzburg und Passau im Hoch- und Spätmittelalter (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 21) Köln u. a. 1997, S. 13.

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Von der Forderung von Gaben anläßlich der Kommunion, der Taufe und des Begräbnisses ist seit dem Frühmittelalter die Rede48. Jedoch erst nordfranzösische Inkorporationsurkunden des 11. und 12. Jahrhunderts, welche die Bezüge des Pfarrbenefiziums und die Sustentation des funktionierenden Vikars bestimmen, lassen die große Bedeutung von Oblationen und Stolgebühren für das Pfarreinkommen erahnen. Die stets vom Bischof zu vollziehende Inkorporation einer Pfarrkirche in ein Kloster oder Stift machte dieses zum kollektiven Pfarrherrn der Pfarrei. Die Absicht dieser juristischen Fiktion ging dahin, dem Kloster den Genuß der Früchte des Pfarrbenefiziums zuzuwenden. Das Institut der Inkorporation ist im 11. Jahrhundert in Nordfrankreich entstanden und erfreute sich bei den Klöstern großer Beliebtheit49, was die wirtschaftliche Attraktivität der Pfarrbenefizien für klösterliche Gemeinschaften unterstreicht. An einer inkorporierten Pfarrei amtierte eher ausnahmsweise ein Mitglied des Konventes als Priester, in der Regel vielmehr ein vom Kloster bestellter Vikar. Sein Einkommen, die seit dem IV. Laterankonzil portio congrua genannte Vikarspräbende, wurde gelegentlich urkundlich fixiert und ist dadurch überliefert. Im Jahre 1099 hat Erzbischof Rainald von Reims der Abtei Cluny die Pfarrkirche Tours-sur-Marne inkorporiert und dabei, um zukünftige Streitigkeiten zwischen dem Kloster als dem Kirchherrn und dem an der Kirche angestellten Vikar zu vermeiden, dessen Bezüge festgelegt. Sie beruhten auf den Oblationen und Stolgebühren, deren Darbringung seitens der Gläubigen als selbstverständlich vorausgesetzt wurde: Von Wein und Brot sowie von den Oblationen sollte der Vikar die Hälfte empfangen sowie den halben Teil derjenigen Gabe, die einem die Totenmesse eines Parochianen feiernden Mönch in die Hand gespendet wurde. Hingegen zur Gänze fielen an den Vikar die Oblationen anläßlich von Hochzeiten, anläßlich des ersten Kirchgangs einer Mutter nach ihrer Niederkunft, der Gedächtnismessen anläßlich des Dreißigsten und des Jahrtages

48 F. G. A. Wasserschleben (Hrsg.), Reginonis abbatis Prumiensis Libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis I 129, Leipzig 1840 S. 81f. (= E. Seckel, Zu den Acten der Triburer Synode 895, in NA 18 [1893] S. 400 c. 26, MGH Capit. 2 S. 206 Nr. 1, vgl. R. Pokorny, Die drei Versionen der Triburer Synodalakten von 895, in: DA 48 [1992] S. 473f., 492–496) (= C. 1 q. 1 c. 105): Dictum est, solere in quibusdam locis pro perceptione chrismatis nummos dari, solere quoque pro baptismo et communione. Hoc simoniacae haeresis semen detestata est sancta synodus et anathematizavit, et ut de cetero nec pro ordinatione, nec pro sepultura vel communione quicquam exigatur, sed gratis dona Christi gratuita dispensentur. – Regino, Inqu. I 63 S. 24: Si de oblationibus, quae a populo offeruntur, die dominica et in diebus festis expleta missa eulogias plebi tribuat (sc. der Priester)? Vgl. auch unten Anm. 67. 49 Vgl. W. Petke, Von der klösterlichen Eigenkirche zur Inkorporation in Lothringen und Nordfrankreich im 11. und 12. Jahrhundert, in: RHE 87 (1992) S. 34–72, 375–404. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 191–248.

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sowie weitere, nicht einzeln genannte Gaben, die üblich seien und von denen niemand zweifele, daß sie dem Priester zukämen50. Daß es sich bei ihnen um Gaben anläßlich von Beichte und Taufe gehandelt haben wird, legt eine Regelung zugunsten der Abtei Saint-Mihiel an der Maas (Diözese Verdun) vom Jahre 1145/1152 nahe. Die in dessen Pfarrkirche St. Stephan bei Beichte und Taufe einkommenden Spenden durfte der Vikar zur Gänze behalten, ebenso die Gabe anläßlich des ersten Kirchgangs einer Mutter. Kompliziert wird die Gabenteilung bei den Hochzeiten: Spenden des Brautpaares bei der Einsegnung und beim Kirchgang am dritten Tag nach dem Beilager fielen an den Priester; von den Gaben der Freunde und Verwandten erhielt der Geistliche, weil nur ein Vikar, lediglich ein Viertel, während drei Viertel dem Kloster zukamen. Überdies gingen drei Viertel aller weiteren Oblationen und Almosen und damit der überwiegende Teil aller Opfer an die Abtei51. Beiden Urkunden zufolge galten im 11. und 12. Jahrhundert Oblationen und Stolgebühren als selbstverständliche Bestandteile des Pfarreinkommens. Sie konnten offensichtlich so erheblich sein, daß die Fixierung eines genauen Verteilungsschlüssels notwendig schien. Die Bedeutung der Oblationen an Hochfesten schon im 11. Jahrhundert belegt eine lothringische Bischofsurkunde aus Toul vom Jahre 1079. Bischof Pibo wies die zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten aufkommenden Spenden, abgesehen von geopfertem Brot, der Kirchenfabrik der von der Mutterkirche Blénod-lèsToul abgepfarrten Kirche Mont-le-Vignoble zu, damit aus ihnen gegebenenfalls das Kirchendach repariert werden könnte52. – Als oblationes solennes werden die 50 A. Bernard/A. Bruel, Recueil des chartes de l’abbaye de Cluny t. 5, Paris 1904 S. 80 Nr. 3732: … ut presbiter parrochiae saepe fatae deserviturus vini et annonae, oblationumque mediam partem reciperet, cuius videlicet totum presbyter, qui personatum simul et parrochiam tenebat, accipere solitus esset. Concessa est ei etiam oblationis illius media portio, quae in missa parrochiani defuncti et a monacho recepti eiusdem monachi manibus oblata proveniret; exceptis oblationibus nubentium et mulierum celebratis nuptiis, et in purificatione sua ad ecclesiam redeuntium, missarum in anniversariis, in tricesimo die obitus alicuius sive infra celebrandarum, aliarum denique familiarium, quas ad eundem presbiterum pertinere nemini constat ambiguum. Vgl. Petke, Inkorporation (wie Anm. 49) S. 383f. bei Anm. 140–142. 51 A. Lesort, Chronique et chartes de l’abbaye de Saint-Mihiel (Mettensia 6) Paris 1912 S. 324 Nr. 95: Vicarius, qui et capellanus eiusdem abbatis, hoc habebit proprii iuris: quicquid in confessionibus, in baptisteriis, in feminarum iacentium reconciliationibus et in privatis missis acceperit, totum sui iuris erit; oblatio, quam post benedictionem in eodem primo die et in tercio sponsus et sponsa proprie obtulerint, capellani propria erit, sed de oblatione parentum et amicorum vel quorumlibet, qui tunc simul obtulerint, quartam partem habebit. De omnibus autem iusticiis sextarium vini tantummodo habebit. Ceterum in omnibus oblationibus et elemosinis et in omnibus beneficiis, quecumque et quomodocumque ad parrochiam provenerint, abbas ex integro tres partes habebit, et quartam capellano dabit. Vgl. Petke, Inkorporation (wie Anm. 49) S. 40. 52 Migne, PL 157 Sp. 425f.: … quae sui iuris erant in oblationibus trium festivitatum ad cooperiendum ecclesiae tectum in auxilium concessit (sc. der Abt) exceptis panibus oblationum

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Gaben an den Hochfesten des Kirchenjahres in den Privilegien für Stifte und Klöster im 12. Jahrhundert vielfach erwähnt53. Dismembrationsurkunden des 12. und 13. Jahrhunderts, also Abpfarrungen bisheriger Kapellen und neu begründeter Pfarreien, sahen zunächst vielfach den Kirchgang der Gläubigen an den vier hohen Festtagen – zu den Festtagen Ostern, Pfingsten und Weihnachten trat Mariä Himmelfahrt hinzu –, und die Sepultur in der Mutterkirche vor54. Der 1252 an der St. Walpurgiskapelle in Wetzlar installierte Priester durfte an den genannten Hochfesten, denen noch Himmelfahrt, alle Marienfeste, die Tage Allerheiligen, Allerseelen und Zwölf Aposteltag (Juli 15) hinzugefügt wurden, keine Messe singen, bevor nicht die Opfer – von Messe ist an dieser Stelle gar nicht mehr die Rede – in der Pfarrei Wetzlar beendet wären. An gewöhnlichen Tagen hatte er den Beginn seiner Meßfeier so einzurichten, daß der Ortspfarrer in keiner Weise behindert würde55. Streitigkeiten um Oblationen zwischen Pfarrei und Kapelle56, zwischen Pfarrer und Vikar, zwischen Kloster und von ihm angestellten Pfarrer und zwischen Pfarrei und Mendikantenkloster57 sind vielfach

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earumdem festivitatum; nicht bei W. Schöller, Die rechtliche Organisation des Kirchenbaues im Mittelalter vornehmlich des Kathedralbaues. Baulast – Bauherrenschaft Baufinanzierung, 1989 S. 345ff. Schöllers Übersicht über Quellen zur Kirchenfabrik ist vorläufig. Vgl. Georg Schreiber, Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert 2 (Kirchenrechtliche Abhhandlungen 68) 1910 S. 93ff. Petke, Inkorporation (wie Anm. 39) S. 34ff. Vgl. H. Beyer, Urkundenbuch zur Geschichte der jetzt die Preußischen Regierungsbezirke Coblenz und Trier bildenden mittelrheinischen Territorien 3, 1874 S. 495f. Nr. 651 (1239). Beyer (wie Anm. 54) S. 853 Nr. 1149: Quod predictus sacerdos in summis festivitatibus, videlicet in festis Christi Nativitatis, Resurrectione, Ascensione domini et pentecostes, in omnibus sollempnitatibus S. Marie, in festo Omnium sanctorum et in die Omnium animarum ac in festis Omnium apostolorum nunquam non completis in parrochia oblationibus debeat celebrare. In aliis vero sanctorum festis, dominicis et privatis diebus omnibus sacerdos … semper se taliter expediet, quod cantatis matutinis missam suam taliter incipiat celebrare, ne per suam celebrationem plebanus valeat aliquatenus impediri (freundlicher Hinweis von Carola Brückner). Vgl. den Verzicht des Rektors der Altstädter Pfarrei St. Michaelis in Braunschweig auf die Oblationen zugunsten der Hl.-Geist-Kapelle (1326), L. Haenselmann/H. Mack, Urkundenbuch der Stadt Braunschweig 3, 1905 S. 141f. Nr. 183, 184. Die Streitigkeiten zwischen Pfarrklerus und Mendikanten über Gaben und Gebühren regelten Clemens V. und das Konzil von Vienne 1311 dahingehend, daß die Klöster von Gaben und Vermächtnissen anläßlich von Begräbnissen an die zuständigen Pfarreien eine quarta sive canonica portio abzuliefern hatten, … ne parochiales ecclesiae et ipsarum curati sive rectores, qui ministrare habent ecclesiastica sacramenta, quibus noscitur de iure competere, praedicare seu proponere verbum Dei, et confessiones audire fidelium, debitis et necessariis beneficiis defraudentur …, Clem. 3.7.2. Derselbe Kanon knüpfte die Predigterlaubnis für Mendikanten in den Pfarrkirchen an den Konsens der Pfarrer; Predigten in den Konventen und auf den Straßen waren zu jenen Stunden, an denen der Pfarrklerus predigen wollte, verboten. Vgl. Pfleger, Die elsässische Pfarrei (wie Anm. 35) S. 158f. – Gegen die Verpflichtung zur Entrichtung der Quart erhob der niedersächsische Franziskaner Johannes Kanemann (um 1400 – nach 1469) in seinem Compendiolum de quarta danda seine Stimme, vgl. V. Honemann, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 4, 1983 Sp. 983–986.

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bezeugt, ohne bisher, abgesehen von Georg Schreiber, hinsichtlich der wirtschaftlichen und volkskundlichen Bedeutung der Opfergaben näher betrachtet worden zu sein58. Wie bereits c. 48 der Synode von Elvira von 305 bezüglich der Gaben bei der Taufe59 haben im 12. Jahrhundert zahlreiche französische und englische Konzilien dem Abgabenwesen bei der Sakramentenspendung zu steuern gesucht. Sie schärften Gläubigen und Klerikern ein, daß geistliche Handlungen wie Taufe und Beerdigung, Krankensalbung, Krankenbesuche oder Segnungen unentgeltlich gespendet und empfangen werden müßten60. Unter offenbarer Berufung auf das Evangelistenwort gratis accepistis, gratis date61 ließ Alexander III. 1179 auf dem III. Laterankonzil die mancherorts übliche Gewohnheit verurteilen, für Begräbnis und Totenmesse, für die Einsegnung der Brautleute und die Spendung anderer Sakramente sich bezahlen zu lassen62. Trotz aller Beschlüsse blieb das zur Gewohnheit gewordene Abgabenwesen jedoch bestehen. Bereits um die Mitte des 12. Jahrhunderts schrieb Johannes Beleth in seinem liturgischen Handbuch Summa de ecclesiasticis officiis, daß alle Christen gehalten seien, nach ihrem Vermögen an den vier Hochfesten Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Allerheiligen zu spenden, damit die Priester daraus ihren Unterhalt hätten. Darüber hinaus sollten die Gläubigen für die Osterkerze und die Beleuchtung der Kirche Öl und Wachs geben. Zu anderen Gaben seien sie nicht verpflichtet, sondern alle weiteren Oblationen, auch jene für die Beichte, seien freiwillig. Sünde nämlich sei es, daß in einigen Kirchen die Bestattung verkauft würde und die Priester für das Schlagen der Glocken Geschenke forderten, so wie es überhaupt Sünde sei, wenn man Sakramente verkaufte63. An anderer Stelle 58 Schreiber, Kurie und Kloster (wie Anm. 53) 2 S. 100ff. 59 H. J. Jonkers, Acta et symbola conciliorum quae saeculo quarto habita sunt (Textus minores 19) Leiden 1954 S. 16: Emendari placuit, ut hi, qui baptizantur – ut fieri solebat – numos in concham non mittant, ne sacerdos quod gratis accepit pretio distrahere videatur. 60 Die wichtigsten früh- und hochmittelalterlichen Konzilsbeschlüsse nennen P. Hinschius/ U. Stutz, Stolgebühren, in: A. Hauck (Hrsg.), RE 19 (31907) S. 68f., J. Jastak, Die Stolgebühren bis zum Jahre 1215. Diss. theol. Breslau 1920, Danzig 1920 S. 96 mit Anm. 1, William Anthony Ferry, Stole fees (The Catholic Univ. of America. Canon Law Studies 59) Washington D.C. 1930 S. 21–24, V. Fuchs, Gründe und Wege zur Anerkennung der Stolgebühren, in: Acta Congressus Iuridici Internationalis, vol. 3, Roma 1936 S. 218f. 61 Matth. 10, 8. 62 Lateranum III c. 7, Conciliorum oecumenicorum decreta, hrsg. J. Alberigo, J. A. Dosetti et al., Bologna 31973 S. 214 f: Cum in ecclesiae corpore omnia debeant ex caritate tractari et quod gratis receptum est gratis impendi, horribile nimis est, quod in quibusdam ecclesiis locum venalitas perhibetur habere ita, ut … pro sepulturis et exsequiis mortuorum et benedictionibus nubentium seu aliis sacramentis aliquid exigatur, et ille qui indiget non possit ista percipere, nisi manum implere curaverit largitoris. Vgl. Fuchs, Stolgebühren (wie Anm. 60) S. 219. 63 Iohannes Beleth, Summa de ecclesiasticis officiis c. 17, ed. H. Douteil (Corpus Christianorum Cont. Mediev. 41 A) Tournhout 1976 S. 39: Sicut in ueteri lege populus conueniebat in Ierusalem ad quasdam magnas sollempnitates, ut orarent in templo, ad Pascha scilicet et

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führte Johannes Beleth aus, daß an hohen Festtagen in einigen Kirchen kostbare Kirchengeräte gespendet und auf den Altar oder an andere passende Stellen gelegt würden. Daran würden sich die manuales oblationes der Gläubigen anschließen. Keineswegs allerdings dürfte während der Gabenbereitung der sacerdos eine Büchse oder Ähnliches hinhalten64. Demnach rechnete Johannes Beleth mit der Möglichkeit, daß Priester aus dem Gang der Gläubigen zum Altar und deren Gabendarbringung, also aus dem intramissalen Opfer65, ein Geschäft machten, bei dem sie mit der Sammelbüchse für die ihnen zugedachten Spenden bereitstanden66. Der Hinweis des Johann Beleth, daß der Zweck der an den Hochfesten gegebenen Oblationen der Unterhalt der Priester sei, schränkte die Betonung der Freiwilligkeit der Gaben an gewöhnlichen Sonntagen und Festtagen unausgesprochen ein. Zur Leistung der allsonntäglichen Opfer wurden die Gläubigen bereits in der Karolingerzeit angehalten67. Letztlich hat Johannes Beleth die Gabe

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Pentecosten et festum Cenophegiarum, et ex debito uniuersi tenebantur offerre, sic omnes Christiani ex institutione sanctorum patrum offerre tenentur iuxta facultatem suam ad quatuor principales sollempnitates, scilicet Natale, Pascha, Pentecosten et ad festum Omnium sanctorum, ut inde sibi uictum habeant sacerdotes. Preterea offerre debent ad emendum cereum paschalem et ad illuminandam ecclesiam tum in oleo tum in cera. Alias non tenentur, sed si fiant, spontanee sunt oblationes, etiam si fiunt ad confessiones. Quod autem in quibusdam ecclesiis sepulture uenduntur et pro campanarum pulsatione donationes queruntur, peccatum est, ac si sacramenta ecclesie uenderentur. Ebenda c. 41 S. 75f.: In quibusdam ecclesiis in magnis sollempnitatibus offeruntur preciosa utensilia ecclesie et in altari ponuntur uel in locis conpetentibus. Tandem secuntur manuales oblationes laicorum. In offertorio minime debet sacerdos pixidem nec aliquid huiusmodi tenere. Vgl. P. Drews, in: A. Hauck (Hrsg.), RE 5 (31898) S. 564. Vgl. Schreiber, Untersuchungen zum Sprachgebrauch des mittelalterlichen Oblationenwesens (wie Anm. 11) S. 21–27, J. A. Jungmann, Missarum sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Bd. 2, 5 1962 S. 3ff., 40ff., 51ff. Hans Bernhard Meyer, Luther (wie Anm. 14) S. 135ff. Adalbert Mayer, Triebkräfte und Grundlinien der Entstehung des Meßstipendiums (Münchener theologische Studien. III. Kanonistische Abteilung 34) 1976 S. 197–201. A. Angenendt, Missa specialis. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung der Privatmessen, in: Frühmittelalterliche Studien 17 (1983) S. 158–163, 176f. Johann Beleths manuales oblationes sind offenbar die zu Händen des Priesters und nicht die ad altare als dem corpus sanctorum dargebrachten Gaben; vgl. zu dieser Unterscheidung Schreiber, Kurie und Kloster (wie Anm. 53) 2 S. 99f., 147, 155. Synode von Frankfurt (794) c. 48, MGH Conc. 2, 1 S. 171: De oblationibus, quae in ecclesia vel in usus pauperum conferuntur, canonica observetur norma, et non ab aliis dispensentur, nisi cui episcopus ordinaverit. – Synode von Mainz (813) c. 44, MGH Conc. 2, 1 S. 271: Oblationem quoque et pacem in eclesia facere iugiter ammoneatur populus Christianus, quia ipsa oblatio sibi et suis magnum est remedium animarum … Vgl. Mayer, Meßstipendium (wie Anm. 65) S. 198, Hartmann, Synoden der Karolingerzeit (wie Anm. 23) S. 135, 427f. Daß man sich, wie Mayer, a. a. O. S. 199, meint, schließlich seit dem 12. Jahrhundert »mit dem Opfer an einigen Hochfesten begnügen (mußte)«, trifft, wie sich im folgenden zeigt, nicht zu.

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von selbstbestimmten Oblationen für kirchliche Handlungen befürwortet, hielt aber am Prinzip der unentgeltlichen Sakramentenspendung fest. Pfarrkirchen wurden allen Reformbemühungen des späten 11. und des 12. Jahrhunderts zum Trotz insbesondere in Frankreich und England von Pfarrherren für eine befristete Zeit, etwa auf ein Jahr oder länger, an Hilfsgeistliche verliehen. Es handelte sich um sogenannte Kirchenleihen ad firmam68. Im »Tractatus contra curiales et officiales clericos«, einer um 1190 entstandenen Satire aus der Feder des Nigellus von Longchamp, nehmen ein Laie und ein Priester eine Kirche ad firmam in Besitz69. Als deren Früchte zu gleichen Teilen geteilt werden sollen, will der Laie sich dem Priester, dem er etwas mißtraut, am Altar zur Seite stellen, um die in dessen Hand geopferten Gaben (oblationes ad manum sacerdotis venientes) in gleicher Weise wie jener zu empfangen. Der Priester weist ihn aber mit der Begründung zurück, dazu fehle ihm jeder Weihegrad. Das wurmt den Laien sehr, zumal er täglich sieht, wie die Gläubigen weiter eifrig opfern, der Priester aber die Gaben keineswegs korrekt teilt (non recte dividebat oblata). Durch verschiedene Machenschaften verschafft sich der Laie beim zuständigen Ordinarius endlich die Priesterweihe und begibt sich schleunigst heim und zum Altar. Als er dort wieder weggewiesen werden soll, lüftet er seine Kopfbedeckung, zeigt die corona und sagt seinem Genossen: Sustine, frater, sustine, ego presbyter sum sicut et tu; non poteris me de caetero amovere; diu est quod me defraudasti portione mea, amodo vero a pari partiemur. Die Sache bleibt freilich nicht verborgen; der Kleriker wird suspendiert, dem Laien wird zur Buße der Umgang mit der Ehefrau verboten. – Der Autor wollte ein Exempel geben, wonach es viele unwissende Kleriker gebe, die Illiteraten seien und von ihrem Handwerkszeug nichts verstünden. Die ökonomische Seite des Pfarrerberufs und die Wichtigkeit der Oblationen hat der Laie allerdings sehr wohl begriffen. Das niederkirchliche Abgabenwesen wurde mit c. 66 des IV. Laterankonzils von 1215 kirchenrechtlich verbindlich geregelt: Manche Kleriker, so führt der Kanon aus, verlangten Geld für die Totenfeiern und die Einsegnungen der Brautpaare und dergleichen Handlungen und täuschten, wenn man ihre Habgier nicht befriedige, Hindernisse vor. Auf der anderen Seite mieden gewisse Laien die löbliche Gewohnheit, für die Spendung der Sakramente freiwillig Gaben darzubringen, unter dem Vorwand kanonischer Wahrheit, tatsächlich aber aus Ketzerei 68 Vgl. J. Bombiero-Kremenac´ Geschichte und Recht der »portio congrua« mit besonderer Berücksichtigung Österreichs, in: ZRG 42 KA 11 (1921) S. 75 Anm. 1. 69 The anglo-latin satirical poets and epigrammatists of the twelfth century, ed. Th. Wright, vol. 1 (RS 59, 1) 1872 S. 219f. = Nigellus de Longchamp dit Wireker, Tractatus contra Curiales et Officiales clericos, ed. A. Boutemy (Université libre de Bruxelles. Travaux de la Faculté de Philosophie et Lettres t. 16) Bruxelles 1959 S. 202f. Zu Autor und Werk vgl. M. Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters 3, 1931 S. 809ff., und Boutemy, a. a. O., S. 8ff., 12ff., 79ff.

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(Econtra uero quidam laici laudabilem consuetudinem erga sanctam ecclesiam, pia deuotione fidelium introductam, ex fermento heretice prauitatis nituntur infringere, sub pretextu canonice puritatis). Deshalb werde beschlossen, ut libere conferantur ecclesiastica sacramenta, sed per episcopum loci, ueritate cognita, compescantur, qui malitiose nituntur laudabilem consuetudinem immutare70. Das Gebot der kostenlosen Erteilung der Sakramente bei gleichzeitiger Verfolgung derjenigen, welche die laudabilis consuetudo der Opfergabe angriffen, wurde im Verlauf des 13. Jh. in die canones verschiedener Provinzialsynoden aufgenommen und damit die Magna Charta für das niederkirchliche Abgabenwesen71. Die löbliche Gewohnheit wurde zur Opferpflicht72, deren Verletzung nach Huguccio und Henricus de Segusio die Exkommunikation durch den Pfarrer nach sich ziehen konnte73; einig war man sich auch darin, daß ein Priester, wenn er arm wäre, die Kirchgenossen durch Verweigerung des Gottesdienstes zum Opfer zwingen könne74. Der Regensburger Gelehrte Konrad von Megenberg (1309–1374) rechtfertigte unter Berufung auf das Decretum Gratiani und den Liber extra den Pfarrzwang nicht etwa der Zehnten halber, sondern wegen der Opfergabe, die jeder Gläubige beim Besuch der sonntäglichen Messe und an Festtagen seinem Pfarrherrn darzubringen habe75. Entsprechend ist Konrads Meinung zufolge jeder Pfarrer, 70 A. García y García, Constitutiones Concilii quarti Lateranensis una cum Commentariis glossatorum (Monumenta Iuris Canonici. Series A. Corpus Glossatorum vol. 2) Città del Vaticano 1981 S. 106 (= X 5.3.42). 71 Vgl. Jastak, Stolgebühren (wie Anm. 60) S. 118–123, Fuchs, Stolgebühren (wie Anm. 60) S. 223, H. Liermann, Abgaben, in: TRE 1 (1977) S. 335. 72 P. Browe, Die häufige Kommunion im Mittelalter, 1938 S. 135–138, Ders., Die Pflichtkommunion im Mittelalter, 1940 S. 52, 60, 163. Vgl. bereits die Synode von Santiago de Compostela c. 1 (1056), Mansi 19 Sp. 856: Ita etiam et ad omnes missas, dum dixerit diaconus ›Inter vos pacem tradite‹, omnibus intra ecclesiam stantibus pacis osculum sibi invicem tribuatur, et per omnes communiones maiores Nativitatis Domini, Paschae et Pentecostes quisquis de quo habuerit munera offerat, und Gregor VII. im Jahre 1078, E. Caspar (Hrsg.), Das Register Gregors VII. Nr. VI, 5 c. 13 (MGH Epp. sel. 2, 2) 1923 S. 406 = De cons. D. 1 c. 69: Ut omnis christianus procuret ad missarum solempnia aliquid Deo offerre et duci ad memoriam … liquido apparet, quod omnes christiani offere aliquid Deo ex usu sanctorum patrum debent. 73 Vgl. Host. III, De parochiis § 2 In quibus consistit ius parochiale = Henricus de Segusio (Hostiensis) (wie Anm. 26) f. 169vb: In tertia vero specie, quae sunt quotidie, sit ad missam in ecclesia dixit Hug., quod quolibet cogi potest per excommunicationem …, Konrad von Megenberg (wie Anm. 31) S. 152f. 74 Konrad von Megenberg (wie Anm. 31) S. 153. 75 Konrad von Megenberg (wie Anm. 31) S. 148: … quod dominicis et festivis diebus nullus parochianus contempto suo proprio plebano missam alibi audiat quam in propria parochia sua et ibidem offerat solito more … Über den Pfarrzwang des proprius sacerdos vgl. c. 21 des IV. Laterankonzils, hrsg. A. García y García (wie Anm. 70) S. 67f. Vgl. J. Avril, A propos du ›proprius sacerdos‹: Quelques réflexions sur les pouvoirs du prêtre de paroisse, in: Pro-

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der ein fremdes Pfarrkind zum Opfer zulasse, ein Räuber und Dieb76. Opfer von Missetätern allerdings müßten zurückgewiesen werden, und zwar von Unruhestiftern in der Gemeinde, von Unterdrückern der Armen, von Dieben, Wucherern, Dirnen und den Verletzern des kirchlichen Privilegium fori. Konrad schließt jedoch mit der Bemerkung: Ista tamen nostris temporibus ab aula consuetudinis recesserunt ymo si dyabolus offerret usurarium cum omni fenore suo non inveniret recusantem77. So wie die intramissalen Opfer waren die Gaben anläßlich der Kasualien für den Pfarrklerus eine Einkommensquelle von beträchtlicher Bedeutung. Wenn zu ein und demselben Termin mehrere Hochzeiten anstanden, erlaubten die Pfarrer von Ypern in Westflandern nicht, daß für alle Paare eine gemeinsame Messe gesungen würde, sondern setzten Einzelmessen an, weil sie so mehr Oblationen herauszupressen vermochten (ut plures oblationes extorqueant ab eisdem). Auch wenn mehre Personen in derselben Stadt etwa gleichzeitig gestorben wären, beständen die Priester auf einzelnen Totenmessen, damit für einen jeden einzeln geopfert würde (ut pro quolibet offeratur). Diese Beschwerden, die ebenfalls aus einer hoch- oder spätmittelalterlichen Satire78 oder einem reformationszeitlichen Pamphlet stammen könnten, sind tatsächlich in einem Mandat Papst Innozenz’ IV. vom 22. Mai 1247 an den Bischof von Thérouanne überliefert79. Über hoch- und spätmittelalterliche Opfer und Opferbräuche haben Georg Schreiber und vor einigen Jahren Renate Kroos gehandelt80. Diese berichtet nicht nur von Opferstöcken, sondern auch vom Bedel – einer rechteckigen flachen Schale – sowie der tabula petitoria oder biddeltafel als den Vorläufern des Klingelbeutels, ferner von Opferbecken und Sammelbüchsen81. Zwei ihrer Zeugnisse für Opfer in der Form von Naturalabgaben sollen hier erwähnt werden: In Aigen am Inn gab es ein Loch in der Apsis der Kirche St. Leonhard, durch das

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ceedings of the Fifth International Congress of Medieval Canon Law (Monumenta Iuris Canonici. Series C. Subsidia 6) Città del Vaticano 1980 S. 471–486, Hans Bernhard Meyer, Luther (wie Anm. 14) S. 355. Konrad von Megenberg (wie Anm. 31) S. 149: Non debet ergo unus presbiter alterius parochianum recipere in proprii presbiteri praeiudicium ad divina, ne quod sibi offerre debuit … sicut patet per iura praedicta alias fur est et latro … Ebenda S. 153f. Vgl. oben bei Anm. 69. MGH Ep. saec. XIII 2, 1887 S. 272f. Nr. 369; Potthast 12527. Schreiber, Kurie und Kloster (wie Anm. 52) 2 S. 149ff., Ders., Untersuchungen zum Sprachgebrauch des mittelalterlichen Oblationenwesens (wie Anm. 11) bes. S. 26f., Ders., Mittelalterliche Segnungen und Abgaben, in: ZRG 63 KA 32 (1943), Wiederabdruck in: Ders., Gemeinschaften des Mittelalters (wie Anm. 3) S. 244f., Ders., Liturgie und Abgabe. Bußpraxis und Beichtgeld an französischen Niederkirchen des Hochmittelalters, in: HistJb 76 (1957) S. 6–8, R. Kroos, Opfer, Spende und Geld im mittelalterlichen Gottesdienst, in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985) S. 502ff. Kroos (wie Anm. 80) S. 510f. mit Abb. 92, S. 512 mit Abb. 93–94.

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die gespendeten Hühner direkt in des Pfarrers Hühnerstall liefen, erwähnt 1529 und noch 1830. In Marzoll in Bayern setzte man die Hühner, die dem hl. Valentin geopfert wurden, in den rückseitig ausgehöhlten, mit Gittertüren verschließbaren Altar82. Nicht ganz so geschickt verfuhr man im elsässischen Avenheim. Lebende Hühner und Hähne legte man noch 1936 auf den Altar der dortigen Ulrichskirche83. Dem Pfarrer von Ahrensböck in Holstein kamen 1328 alle eß- und trinkbaren Gaben zu, die auf den Altar oder vor dem Opferbild (imago vel altare) geopfert wurden, seien es Hühner, Böckchen, Lämmer, Wein, Bier, Brot oder ähnliches84. Vor die Bilder wurden, wie 1336 und 1375 für den Hamburger Dom und 1440 für Strausberg bezeugt, Wächterinnen gesetzt, welche ein Auge auf den Schmuck der Bilder und die Votivgaben hatten und wohl auch die Naturalopfer in Empfang nehmen konnten85. – Den census ecclesiasticus für Taufen, Krankensalbung und Eheeinsegnung sollten die Ahrensböcker Pastoren im Jahre 1328 gemäß dem Recht und der Gewohnheit des Lübecker Bistums ebenfalls zur Gänze haben86. Aus der Gabe ist die Abgabe geworden. Die Braunschweiger Johanniter beanspruchten 1359 in der Rechtsnachfolge der Templer die Matthäuskapelle, gelegen in der Katharinenpfarre des Braunschweiger Hagen, cum omnibus suis iuribus, privilegiis, oblationibus, attinentiis et proventibus. Dem Pfarrherrn von St. Katharinen sollte nicht gestattet sein, petere oblationes sancti Mathaei, allegando, quod esset infra limites Parochiae suae constitutus87. Als Einkommen wurden die Oblationen ihrerseits abgeschöpft. Von einer 1319 anläßlich der Tätigkeit des päpstlichen Kollektors Jacobus de Rota durchgeführten Taxierung Ratzeburger Pfarreien im heutigen Mecklenburg und Lauenburg haben sich rund fünfundvierzig knappe Einkommenserklärungen ein-

82 Ebenda, S. 515, nach G. Gugitz, Das Jahr und seine Feste im Volksbrauch Österreichs 1, Wien 1949 S. 321f., 349 Anm. 15, 16. 83 Pfleger, Die elsässische Pfarrei (wie Anm. 35) S. 332. 84 P. Hasse, Schleswig-Holstein-Lauenburgische Regesten und Urkunden 3, 1896 S. 366 Nr. 647: Omnes insuper obuentiones et oblationes in esculentis et poculentis videlicet pullos, hedos, agnos, vinum, cereuisiam et panem … idem sacerdos et sui successores recipient … absque ulla diminutione, sive oblata fuerint imagini vel altari. 85 Kroos (wie Anm. 80) S. 507. 86 Hasse (wie Anm. 84): Coeterum censum ecclesiasticum, denarios inunctionum, visitationes infirmorum, intronizationes sponsarum, et omnia alia et singula secundum ius et consuetudinem dioecesis Lubecensis prefatus sacerdos et sui successores perpetuo et inuiolabiliter obtinebunt. 87 Julius Justus Gebhardi, Der mit dem Matthäus-Stifft verbundene grosse Caland zum h. Geist oder historische Nachricht von dem Stiffte S. Matthäi in Braunschweig…, Braunschweig 1739 S. 67f. Nr. 1 (freundlicher Hinweis von Gaby Kuper M.A.).

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zelner Pfarrer erhalten88. Es handelt sich um kleine, teils besiegelte und in lateinischer Sprache geschriebene Pergamentzettel. Über ihre Entstehung gibt ein im Jahre 1335 angelegtes bischöfliches Register nähere Auskunft. Die Inhaber der Benefizien waren verpflichtet worden, den Wert der Einkünfte ihrer Pfarrbenefizien zu beschwören und die Taxe in schriftlicher Form und unter eigenem oder fremdem Siegel dem Bischof und dem Legaten bekannt zu machen89. Genau vorgegeben war, mit welchen Münzwerten ein Huhn, ein Malter Roggen oder eine Kirchenhufe zu veranschlagen seien90. Der Betrag der Oblationen sollte so angegeben werden, wie er durchschnittlich in einem Jahr einkäme91.

88 Meklenburgisches UB 6 Nr. 4092–4113, 4115–4122. Ferner UB Hamburg 2 S. 348 Nr. 450. Die Taxen der nach UB Meklenburg 6 Nr. 4092, Nachbemerkung, nicht gedruckten lauenburgischen Pfarreien sind unterdessen publiziert bei W. Prange, Siedlungsgeschichte des Landes Lauenburg im Mittelalter (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 41) 1960 S. 381–384 Nr. 1–19; nunmehr Stefan Petersen, Benefizientaxierungen an der Peripherie. Pfarrorganisation. Pfründeneinkommen. Klerikerbildung im Bistum Ratzeburg (Veröff. d. Max-Planck-Instituts f. Geschichte 166. Studien zur Germania Sacra 23) Göttingen 2001, S. 177ff. 89 Meklenburgisches UB 8 S. 540 Nr. 5613: Anno domini MoCCCoX[I]X, XVIII. kalendas Julii, vniversi et singuli .. prepositi, .. rectores ecclesiarum parrochialium, necnon vicarii habentes altaria per ciuitatem et diocesim Razeburgensem vbilibet constituti, de mandato venerabilis patris domini Marquardi episcopi Razeburgensis, necnon domini Jacobi de Rota, apostolice sedis legati, valorem omnium reddituum et prouentuum beneficiorum suorum ecclesiasticorum, iuramento de hoc prestito corporaliter, taxauerunt modo infrascripto et taxam in scriptis suis, sigillis propriis uel alienis sigillatis, tradiderunt dominis .. episcopo et legato prefatis … 90 Meklenburgisches UB 8 S. 540 Nr. 5613: In isto quidem taxu modius dure annone pro vno solido Lubicensium denariorum computatur … item mansi ecclesiarum computantur, prout locari possunt aliis cultoribus ad colendum … item pullus pro tribus denariis … Item duo denarii slauicales computantur pro vno denario Lubicensi, et totus taxus infrascriptus habet denarios Lubicenses. Vgl. dazu die Rechnung des Kollektors Jacobus de Rota über seine Einnahmen und Ausgaben in den Kirchenprovinzen Bremen und Riga 1317–1320, in: Johann Peter Kirsch, Die päpstlichen Kollektorien in Deutschland während des 14. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte 3) 1894 S. 95, mit der Angabe des Wertes der Slavischen Mark im Verhältnis zur Lübischen Mark (S. 101): Et est sciendum quod marcha Slavicalium est 16 solidi illorum denariorum et marcha Lubicen. denariorum etiam est 16 solidi Lubicen. denariorum … dando duas marchas Slavicalium pro una Lubicen. 91 Meklenburgisches UB 8 S. 540 Nr. 5613: Item oblaciones, secundum quod communiter obueniunt, computantur. Dieser stark gekürzt wiedergegebenen Durchführungsbestimmung entspricht der Pfarrer von Wittenburg, indem er zunächst die tatsächlichen nebst den sonst üblichen Opfern an fünf Hochfesten (zusammen 35 m. lüb.) und dann den Betrag der sonstigen Oblationen nennt (70 m. lüb.) (Meklenburgisches UB 6 Nr. 4095). Die Taxe zu Döbbersen nennt zu Ostern 3 m., zu Weihnachten 3 m., zu Pfingsten 1 m.; dazu: communis oblacio valet V marcas (Meklenburgisches UB 6 Nr. 4096). Diese communis oblacio meint die Oblationen an den gewöhnlichen Fest- und Sonntagen, vgl. etwa UB Meklenburg 6 Nr. 4105: Relique oblaciones per circulum anni valent IIII marcas, und weiters die Taxe von Büchen, Prange (wie Anm. 88) S. 382 Nr. 5:(nach Angabe der Opfer an den Hochfesten) … de omni sacrificio dominicis diebus singulis et festiuis per totum annum [vnum talentum].

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Pfarreinkünfte

In den städtischen Pfarreien Wittenburg und Mölln erreichten die Oblationen einen Anteil von 60–70 % beziehungsweise von mehr als 70 % am Pfründeneinkommen92. In den ländlichen Pfarreien machten die Oblationen teils weniger als 30 %, in der Regel 40–60 %, zweimal aber durchaus auch 60–70 % des Pfarreinkommens aus93. Diesem Satz entsprechen die Einkünfteverhältnisse in der Landpfarrei Paffendorf an der Erft im Rheinland, wo im Jahre 1334 die Einnahmen des Pfarrers zu 73 % auf Oblationen und Stolgebühren beruhten94. Alle vier Hamburger Pfarrkirchen waren spätestens seit Mitte des 14. Jahrhunderts dem Hamburger Domstift inkorporiert; die amtierenden Pfarrer waren daher nach ihrer rechtlichen Stellung lediglich auf Dauer angestellte Vikare (vicarii perpetui) des Kapitels, dem der größere Teil der Einkünfte der Pfarrpfründen zukam. Als die Holsteiner Grafen im Jahre 1356 als Hamburger Stadtherren den Wunsch des Stadtrates nach Errichtung einer neuen Kapelle ablehnten, taten sie das mit der Begründung, ein weiteres Oratorium würde den Kanonikern zum Schaden gereichen. Diese lebten zum überwiegenden Teil von den Oblationen der Pfarrkirchen, das Volk aber würde durch eine neue Kapelle von den Pfarreien abgezogen werden95. Daß die Opfergaben der Hamburger Pfarreien für die Nahrung der Kanoniker eine erhebliche Bedeutung besaßen, zeigen Zeugenaussagen in dem vom Ham92 Meklenburgisches UB 6 Nr. 4095 (Wittenburg): 105 m. an Oblationen gegenüber 6 m. XI s. aus anderen Bezügen. – Die Pfarrei Mölln wurde nach dem Register auf 46 m. lüb. taxiert (Meklenburgisches UB 6 Nr. 5613 S. 540). Nach der Pfarrtaxe von Mölln, Prange (wie Anm. 88) S. 383 Nr. 12, ergibt bereits die Summe der Oblationen an den Hochfesten 23 m. 10 s.; dazu kommen relique oblationes secundum precedencia und dann erst weitere Zinsen. 93 Nach einer von Stefan Petersen im Oberseminar des WS 1992/93 dargestellten Berechnung beliefen sich die Oblationen auf 30 % in Picher und Börzow (Meklenburgisches UB 6 Nr. 4103, Nr. 4115), auf 40–60 % in Dömitz (a. a. O. Nr. 4105), Pokrent (Nr. 4107), Döbbersen (Nr. 4096), Mummendorf (Nr. 4116), Grambow (Nr. 4110), Siebeneichen (Prange S. 384 Nr. 18), Grönau (Prange S. 382 Nr. 6), Behlendorf (Prange S. 381 Nr. 2), Konow (Meklenburgisches UB 6 Nr. 4106), auf 60–70 % in Nusse (Prange S. 383 Nr. 14), Sandesneben (Prange S. 384 Nr. 15) sowie im minderstädtischen Dassow (Meklenburgisches UB 6 Nr. 4117 A). Vgl. Petersen, Benefizientaxierungen (wie Anm. 88) S. 106–108. 94 W. Janssen, Die Differenzierung der Pfarrorganisation in der spätmittelalterlichen Erzdiözese Köln. Bemerkungen zum Verhältnis von »capella dotata«, »capella curata« und »ecclesia parochialis«, in: RheinVjbll 55 (1991) S. 81f. 95 P. Hasse/V. Pauls, Hamburg-Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden 4, 1924 S. 463 Nr. 711: … quatuor parrochiales ecclesie eidem Hamburgensi ecclesie incorporate … erectio seu constructio dicte capelle in magnum preiudicium … predictorum canonicorum aperte redundet, quia ex hoc oblationes dictarum parrochialium ecclesiarum, de quo pro maiori parte prefati canonici suam sustentationem habere noscuntur, non modicum numerentur et populo eiusdem opidi se subtrahendi ab eisdem parrochiis manifesta daretur occasio … Der Unterschied von Eigenkirche (Patronatskirche) und inkorporierter Kirche bleibt undeutlich bei H. Reincke, Hamburg am Vorabend der Reformation (Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 8) 1966 S. 38, und R. Postel, Die Reformation in Hamburg 1517– 1528 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 52) 1986 S. 73, 75.

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burger Kapitel im Jahre 1528 gegen den Rat der Stadt angestrengten Reichskammergerichtsprozeß96. In seinem siebenten Klageartikel stellte das Kapitel fest, es habe für den Unterhalt seiner Kanoniker von den vier Hamburger Pfarrkirchen jährliche Pensionen zu empfangen, die sich bei St. Nikolaus auf 120 Mark Lübisch, bei St. Peter auf 100 Mark und bei St. Jacobi und St. Katharinen auf je 80 Mark beliefen97. Daß ehedem vollzogene Inkorporationen der Pfarreien den Rechtsgrund für die Zahlungen abgaben98, haben die Hamburger Bürger um 1525 nicht mehr gewußt99; auch dem jüngsten Bearbeiter der Hamburger Reformationsgeschichte ist die Rechtsgrundlage unklar geblieben100. Dem achten Klageartikel zufolge hatte die Stadt das Stift obgemelter jerlichen pension sampt denselbigen Pfarrkirchen spoliiert und entsetzt101. Das Interrogatorium für das 1530 in Lübeck durchgeführte Verhör domkapitularischer Zeugen fragte nun zu Artikel 7: Und worvan de Stifftshern sulcken summe, im Artikel bestemmet, entfangen haben?102. Darauf antwortete der Zeuge Mauritius Molen, ein Handwerker: van offer und thoberysse der Kercken, wenthe ein ider person, de thom sacramente ginck, moste jarlix geuen edder offern 4 Pf. lubisch103. Der Zeuge Jacob Henninghi, selber Pfarrer an St. Jacobi, wußte: van Offer der Kercken, unde wat men sust van Vigilien und Selemissen sammelth104, und der Zeuge Heinrich Sendenhorst, Kapellan an St. Nikolai, gab die Auskunft: da se sodane summe enthfangen van uppkumpften der Kercken: memorien, dodenregister, thoberyse und offer105. Bei diesen Aussagen fehlt freilich der ausdrückliche Hinweis auf Renten aus Land- und Hausbesitz, der so, wie er für die Hamburger Vikare und 96 Vgl. W. Jensen, Das Hamburger Domkapitel und die Reformation (Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 4) 1961 S. 27ff. 97 Jensen, Hamburger Domkapitel (wie Anm. 95) S. 48. 98 Vgl. die 1332 jährlich aus den Opfern der inkorporierten Pfarrkirche Ulm an Reichenau zu zahlende Pension von schließlich 120 Pfund Heller, H. Bazing, G. Veesenmeyer, Urkunden zur Geschichte der Pfarrkirche in Ulm aus Anlaß des Münsterfestes im Auftrage des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben in Auszügen mitgeteilt, Ulm 1890 S. 3 Nr. 5, und die sich bestimmt in ungleich bescheideneren Dimensionen bewegende Taxe des Basler Stifts St. Peter auf die Altaropfer der ihm inkorporierten Pfarrei Kirchen bei Lörrach (nach der Klage der dortigen Kirchgeschworenen und Gemeinde von um 1490), G. P. Marchal, Eine Quelle zum spätmittelalterlichen Klerikerproletariat. Zur Interpretation der Klageartikel der Bauern von Kirchen (Landkreis Lörrach) gegen das Kapitel von St. Peter zu Basel, in: Freiburger Diözesanarchiv 91 (1971) S. 73: Item sy (sc. die Kanoniker) schlachen einem lúpriester den altar an und den ettern fúr ein summ iarlich … 99 Jensen, Hamburger Domkapitel (wie Anm. 96) S. 60 (Art. 7 mit Fragen 11–12). – Dazu die Antworten der domkapitularischen Zeugen S. 92, 108, 115, 130, 135, 140, 146, 167 u. ö. 100 Postel, Die Reformation in Hamburg (wie Anm. 95) S. 114, 219f., der S. 242 von »unberechtigten Pensionen« spricht. 101 Jensen, Hamburger Domkapitel (wie Anm. 96) S. 48. 102 Ebenda, S. 60. 103 Ebenda, S. 102f. 104 Ebenda, S. 115. 105 Ebenda, S. 152.

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Pfarreinkünfte

Kommendisten von 1508 bis 1525 bezeugt ist106, auch für die Pfarrbenefizien unterstellt werden kann. In den Quellen ist die Gabenbereitung seit dem 4. Jahrhundert bezeugt. Von Monnica, der Mutter Augustins, ist bekannt, daß sie zweimal am Tage, morgens und abends, zum Opfer ging und demnach zur Meßfeier Gaben mitbrachte107. Offertorium und Eucharistiefeier sind seit dem 4. Jahrhundert miteinander verbunden; die Gläubigen brachten, wie von Nigellus von Canterbury schon zu hören war, die Gaben zum Altar. Über den Opfergang selbst sind wir selten so genau unterrichtet wie aus Biberach in Oberschwaben, und zwar durch die Schilderung der vorreformatorischen kirchlichen Zustände durch den Biberacher Patrizier Joachim von Pflummern108. Zu Mariä Himmelfahrt heißt es: Uff den tag ist der Vieropfer ains gesein, haben Frawen vnd Mann uff den Chor Alltar ein pfenning geopfferet; seindt die Frawen vor den Mannen vmb den Alltar gangen, darnach die prüesster und schuoler oder vor, vnd darnach der Burgermaister vnd die Burger, und darnach der gemein Mann. Vnd ist Jederman von Frawen vnd Mannen, wellches zue seinen Tagen ist Khommen, schuldig gesein, die vier opffer zue geben. Ist ganz Züchtig Zuegangen: ain Fraw hat alleweegen Ihre Töchtern vor Ihr Lasse ahnhin gehen vnd dem Vatter seindt den seine Söhne nach Gangen, oder was seins geschlechts ist gesein. Es ist auch vnder Jeglicher Nebenthür (sc. des Lettners) im Chor ain bittel gestanden, das es Züchtig Zuegange; den zue der ainen thür ist man hinein Gangen und zue der anderen wider vsse, vnd nach der opfferung ist der Helffer ahn die Canzel Gangen und hat vonn des pfarrers weegen danckhet vmb das opffer109. Vom Vieropfer berichtet der Biberacher Autor noch zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten110, also zu denjenigen Hochfesten, welche als einträgliche Opfertage bereits in den Urkunden des 11. und 12. Jahrhunderts genannt sind111. Obwohl die Biberacher Opfergänge, die auch anläßlich von 106 Vgl. E. Keyser (Hrsg.)/H.-M. Kühn (Bearb.), Das Visitationsbuch der Hamburger Kirchen 1508. 1521. 1525 (Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 10) 1970 S. 26* ff., E. Keyser, Die Einkünfte der niederen Geistlichkeit an den Hamburger Kirchen am Anfang des 16. Jahrhunderts, in: ZVHamburgG 41 (1951) S. 214–226. 107 Augustinus, Confessiones 5, 9, 17: cor … vidue … nullum diem praetermittentis oblationem ad altare tuum, bis die, mane et vespere, ad ecclesiam tuam sine ulla intermissione venientis. Vgl. F. van der Meer, Augustinus der Seelsorger. Leben und Wirken eines Kirchenvaters, 1951 S. 466, 745 Anm. 35. 108 A. Schilling, Die religiösen und kirchlichen Zustände der ehemaligen Reichsstadt Biberach unmittelbar vor Einführung der Reformation. Geschildert von einem Zeitgenossen, in: Freiburger Diözesanarchiv 19 (1887) S. 1–191. Die Identifizierung des Autors und eine der Gegenwartssprache angenäherte Bearbeitung bietet A. Angele, Altbiberach um die Jahre der Reformation, Biberach 1962 S. 11f., 14ff. Zitate im folgenden nach der Ausgabe von Schilling. 109 Schilling, S. 106. 110 Schilling, S. 113, 133, 138. 111 Vgl. oben S. 261f.

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Hochzeiten und Totenmessen stattfanden112, noch in die Messe integriert waren, erscheinen sie wegen des Aufzugs zweier Büttel, die für Ruhe und Ordnung sorgten – in Straßburg wurde 1355 gemahnt, daß niemand sein Opfer auf den Altar werfen, niemand den anderen stoßen noch den Kugelhut abziehen möge113 –, und wegen des für den Pfarrer durch einen Kooperator von der Kanzel gesprochenen Dankes nicht mehr als Dankopfer, sondern als Kirchenbeitrag114. Wie vorgeschriben vff die Tög, sollen alle Erwachsenen ihre Vieropfer in Höhe von je einem Pfennig an den Pfarrer entrichten115. Fleißig ist auch an Heiligentagen, zum Siebenten und Dreißigsten und zu Jahrtagen geopfert worden116, jedoch offenbar ohne Opfergang. Praktischen Sinn erwiesen jene Biberacher Bürgersöhne, welche in der Stadtpfarrkirche Primiz feierten: Ittem. Zue dem opfer so haben die freündt von negst geopfert: Kessel, pfannen, bethgwandt vnd vmb den Alltar Tragen, Jegelichs nach seim Wesen. Darnach ist gangen der Burgermaisster vnd wer gnad darzue gehabt, sein opfer zue geben, die Frawen vorahnhin. Ittem. Darnach so hat der New prüesster an der Cancel Lassen danckhen vmb das opfer …117. Der Primiz feiernde Priester durfte nur jenen Teil des geopferten Hausrats für sich behalten, den ihm der Biberacher Pfarrer ließ. Das ist derselbe Grundsatz, wie er bei den Oblationenteilungen vor Fixierung der portio congrua befolgt wurde.

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Schilling, S. 160, 169. Pfleger, Die elsässische Pfarrei (wie Anm. 35) S. 329. Vgl. Hans Bernhard Meyer, Luther (wie Anm. 14) S. 143. Vgl. oben Anm. 73. Schilling (wie Anm. 108) S. 156: Von den Vier Opfer. Die sendt gesein vff weyhenöchten, vff Ostern, vff pfingsten und vff Vnnser L. Frawen Schidung Tag. Hat Jegeliches Mensch, des zue seinen Tagen ist Khommen, sollen ein pfenning opffern, wie vorgeschriben uff die Tög. – Da die Biberacher Pfarrkirche 1349 dem Zisterzienserkloster Eberbach im Rheingau inkorporiert worden war, war der funktionierende Pfarrer nach seiner rechtlichen Stellung lediglich ein Vikar. Von der Biberacher Gemeinde wurde er als Pfarrer betrachtet und bezeichnet, vgl. B. Rüth, Biberach und Eberbach. Zur Problematik der Pfarrinkorporationen in Spätmittelalter und Reformationszeit, in: ZRG 101 KA 70 (1984) S. 141–147 mit Anm. 36. Zu analogen Titulierungen von Vikaren bereits gegen Ende des 12. Jahrhunderts vgl. Petke, Inkorporation (wie Anm. 49) S. 389, 402 Anm. 208. 116 Schilling, S. 185. Zu Siebentem und Dreißigstem als Epochen der Trauerzeit, wobei der Dreißigste die Trauerzeit beendete und die Zeit der Erbauseinandersetzung eröffnete, vgl. H. Lentze, Begräbnis und Jahrtag im mittelalterlichen Wien, in: ZRG 67 KA 36 (1950) S. 331f., K. Ranke, Indogermanische Totenverehrung Bd. 1 Der dreißigste und vierzigste Tag im Totenkult der Indogermanen (FF Communications 140) Helsinki 1951 S. S. 313ff. Zum Dreißigsten im christlichen Kult ebenda, S. 328ff., H. Mattausch, Das Beerdigungswesen der Freien Reichsstadt Nürnberg (1219 bis 1806). Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung an Hand der Ratsverlässe und der vom Rat erlassenen Leichenordnungen. Diss. iur. München 1970 S. 45. 117 Schilling, Biberach (wie Anm. 108) S. 92. Vgl. B. Götz, Die Primizianten des Bistums Eichstätt aus den Jahren 1493–1577 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 63) 1934 S. 15–18.

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Pfarreinkünfte

Geopfert haben in Biberach auch die Wöchnerinnen. Nach der Aussegnung spendeten die Vermögenden vor einem die Geburtsszene darstellenden Marienbild in der Katharinen-Kapelle ein Büschel Garn, das sie selber im Kindbett gesponnen hatten. Die Armen haben eine Andacht vor dem Bilde verrichtet118. – Von Gaben anläßlich von Taufen und Beichten verlautet hingegen in Biberach nichts119. An Festtagen wurde zur Frühmesse und zur Hauptmesse geopfert. Weit einträglicher als die Frühmesse war der Hauptgottesdienst. Die Vorgänger von Johann Eck im Ingolstädter Pfarramt wurden von ihren die Frühmesse singenden Kooperatoren an den Oblationen geschädigt; denn die Hilfsgeistlichen hatten ihre Beichtkinder überredet, statt in die Hauptmesse zur Frühmesse zu gehen und dort zu opfern. Eck machte im Jahre 1526 den jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen dem jeweiligen Pfarrer und den Kooperatoren um die Oblationen aus Frühmessen und Hauptmessen durch einen förmlichen Vertrag ein Ende, indem alle Gaben in eine gemeinsame Kasse flossen und zu gleichen Teilen zwischen ihm und seinen drei Helfern aufgeteilt wurden120. Für die Oblationen trug man auch anderweitig Vorsorge. Der Bischof von Havelberg gebot bereits im Jahre 1342, daß die Umsetzung von Naturalopfern gegen Geld nicht in, sondern vor der Kirche stattzufinden habe121, und im fränkischen Hilpoltstein stand im Jahre 1511 der Küster an Hochfesten und bei Totenmessen am Altar und hielt zum Umwechseln kleinere Münzen für die Opfernden bereit122. Auch der Küster der Jakobipfarre in Münster sollte um 1515 beim Opfer achtgeben, ob jemand Geld wechseln wollte123. Dieser Dienst erleichterte nicht nur das Opfern, sondern schützte zugleich davor, daß schon eingelegte Münzen gestohlen wurden. Oblationen und Gaben anläßlich von Kasualien stellten in den städtischen Pfarreien ums Jahr 1500 nicht nur einen, sondern den entscheidenden Teil des Einkommens des Pfarrers dar124. Das Benefizium der reichen Pfarrei von St. 118 119 120 121

Schilling, S. 36. Vgl. Schilling, S. 162f. Greving (Hrsg.), Johann Ecks Pfarrbuch (wie Anm. 33) S. 207f. UB Meklenburg 9 S. 360 Nr. 6182: Item mutationes denariorum offerendorum non fiant in ecclesiis, sed extra eas (freundlicher Hinweis von Edgar Müller M.A.). 122 Götz, Das Pfarrbuch des Stephan May (wie Anm. 34) S. 185: In oblationibus: In summis festivitatibus aliisque festivis diebus, in quibus oblationibus fuerint, etiam in exequiis mortuorum, 7mis et 30mis, obligatur edituus altari assistere et petentibus obulos reddere, pro quibus habebit propinam a plebano ex beneplacito eiusdem. Zur Erläuterung vgl. auch Götz, a. a. O. S. 134. 123 A. Tibus, Die Jakobipfarre in Münster von 1508–1523, Münster 1885 S. 22: (Zu Palmsonntag am Marienaltar) Custos ibi tunc habeat respectum propter permutationem pecuniae, si qui essent volentes permutare. Hans Bernhard Meyer, Luther (wie Anm. 14) S. 43 Anm. 17. 124 Das Urteil von Postel, Die Reformation in Hamburg (wie Anm. 95) S. 114: »Da Pfarrer und Kapläne für ihren Lebensunterhalt überwiegend auf Opfergaben und Einkünfte aus Vigilien

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Magnus in London an der London Bridge trug im Jahre 1494 dem Inhaber £ 105 ein. Davon waren £ 88 Oblationen125; ihr Anteil am Pfarrereinkommen belief sich demnach auf 83 %. In Göttingen haben sich von der Johanniskirche neun Jahresrechnungen über Einnahmen und Ausgaben aus den Jahren 1489/90 bis 1510/11 einigermaßen vollständig erhalten126. Die Rechnungen wurden seit dem Jahre 1506 von dem Kaplan Wilhelm Winterberg127 für den Pfarrherrn Johannes Hovet († 1514) geführt, der zunächst als Schreiber und Rat und seit 1491 als Kanzler Herzog Wilhelms d. J. von Braunschweig-Calenberg beziehungsweise von dessen Sohn Herzog Erich I. von seiner Göttinger Pfarrei zumeist absent war; die Pfarrstelle war ihm im Jahre 1488 verliehen worden128. Eine Quelle von vergleichbarer Genauigkeit und Systematik aus einem Pfarrhaushalt am Vorabend der Reformation ist, soweit bekannt, anderweitig im deutschsprachigen Raum nicht überliefert129. Sie bestätigt das vorhin über Hamburg Gesagte, daß die Jahrespension, welche der Pfarrherr von den an seiner Stelle amtierenden Vikaren, Kaplänen oder Kooperatoren bezog, vor allem aus Memorien, Kasualien und den Opfern der Gläubigen finanziert wurde.

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und Seelenmessen angewiesen waren und davon auch die Pensionen bestreiten mußten, war ihr wirklicher Verdienst oft gering und generell unsicher«, scheint das Überwiegen der Oblationen am Klerikereinkommen als Hamburger Besonderheit zu deuten. Zudem ist sein Benefizienbegriff insofern unhistorisch, als er den Verdienst der Hamburger Kleriker als unsicher hinstellt. Ein sichereres Einkommen ist damals wohl kaum vorstellbar; ob es ausreichte, ist eine andere Frage. Little, Personal Tithes (wie Anm. 39) S. 76. Stadtarchiv Göttingen, Altes Aktenarchiv, Kirchensachen, St. Johannis Nr. 3. Ebenda Nr. 3 (7), Rechnung 1510/11 Bl. 50v. Über Wilhelm Winterberg vgl. Malte Prietzel, Die Kalande im südlichen Niedersachsen. Zur Entstehung und Entwicklung von Priesterbruderschaften im Spätmittelalter Spätmittelalterliche Priesterbruderschaften im südlichen Niedersachsen (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 117) Göttingen 1995, S. 603 Nr. 122. Über Johann Hovet vgl. Prietzel, Kalande (wie Anm. 127) S. 582 Nr. 60. Rechnungen der preußischen Pfarreien Strasburg von 1439–1445 und Thorn (?) von 1446 erwähnt J. Sarnowsky, Die wirtschaftliche Lage der Pfarreien im Deutschordensland Preußen: Das Beispiel der Vikare zu Mühlhausen, in: Vera Lex Historiae. Festschrift Dietrich Kurze, hrsg. v. St. Jenks, J. Sarnowsky u. M.-L. Laudage, 1993 S. 378. – Das Einnahmeverzeichnis des Emder Vikars Canter verzeichnet allein Pachten, Renten und Bezüge an ihm geschuldeten Naturalien, B. Kappelhoff (Hrsg.), Ein Einkünfteregister des Vikars Dr. Jacob Canter 1526–28, in: Studien zur Sozialgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hrsg. v. F. Kopitzsch, K. J. Lorenzen-Schmidt, H. Wunder, 1977 S. 106– 131. – Eine Edition der Göttinger Jahresrechnung von 1510/11 mit eingehender Beschreibung auch der anderen Rechnungen einschließlich der an ihnen beteiligten Hände legte derweil vor Malte Prietzel, Die Finanzen eines spätmittelalterlichen Stadtpfarrers. Das Rechnungsbuch des Johannes Hovet, Pfarrer von St. Johannis in Göttingen, für das Jahr 1510/11 (Schriftenreihe des Landschaftsverbdandes Südniedersachsen 4), Hannover 1994.

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Pfarreinkünfte

Ein Blick auf die Jahresrechnung von 1498/99 läßt übers Jahr Einahmen aus den Oblationen von Fest- und Heiligentagen in Höhe von 18 Mark, 1 Ferding, 2 Schillingen, 3 Pfennigen und 1 Obulus erkennen. Die Oblationen von den Hochämtern an den vier Hochfesten waren, wie zu erwarten, am größten (Ostern: 1 m., 7 s. Pfingsten: 1 m., 7 s., 7 d. Mariä Himmelfahrt: 1 m., 11 s. Weihnachten: 5 Ferding (= 1 m., 12 s.130), 4 s. Die Frühmesse etwa an Mariä Himmelfahrt brachte 16 s., 8 d., dagegen das Opfer am davor liegenden Laurentiustag nur 3 d.131. Aus Memorien kamen demgegenüber im ganzen Jahr 1498 nur etwas über 5 Mark (5 m., 1f., 5 s., 3 d., 1 ob.) zusammen132, aus Haus- und Grundbesitz ein Betrag von knapp vier Mark (3 m., 3f., 7 s., 1 d.)133. Verglichen mit späteren Rechnungen sind die Buchungen der Einnahmen unvollständig; dennoch wird bereits hier der hohe Anteil der Oblationen an Hoch- und Heiligentagen deutlich. Die Jahresrechung von 1510/11 bietet dasselbe Bild, nur sind alle Beträge insgesamt höher. Die Gesamteinnahmen der Geldeinkünfte dieses Jahres beliefen sich nach der Addition des Pfarrherrn Johannes Hovet, die dieser auf der Grundlage der Eintragungen Winterbergs vornahm, auf 57 m., 1 s., 4 d.134. Davon stammten aus gestifteten Memorien 9 m., 23 s., 3 d., 1 ob.135; aus 52 Taufen 4 s. 4 d., wobei je Taufe 1 d. erlegt wurde136; 57 Muttersegnungen brachten ½ m., 2 ½ s., 7 d., wobei die Frauen im Durchschnitt 5 d. opferten137; insgesamt 13 Eheeinsegnungen erlösten 20 s., 3 d.138; an Akzidentien – darunter fast ausschließlich die Opfer bei Exequien und den Tricesimi und Jahrtagen des Totengedächtnisses –

130 Zum anzusetzenden Münzfuß vgl. das Registrum subsidii ex praeposituris Northen et Eimbeck des Mainzer Kommissars Johannes Bruns von 1519/20, hrsg. v. B. Krusch, Studie zur Geschichte der geistlichen Jurisdiktion und Verwaltung des Erzstifts Mainz. Commissar Johann Bruns und die kirchliche Eintheilung der Archidiakonate Nörten, Einbeck und Heiligenstadt, in: ZHistVNieders 1897 S.259: Pro intellectu huius registri monetae ac summarum notandum est: Duodecim denarii Gottingenses faciunt unum solidum Gottingensem; duodecim solidi Gottingenses faciunt unum fertonem; quatuor fertones faciunt unam marcam Gottingensem. Ex praemissi elicitur, quod duo solidi Gottingenses faciunt unum Sneberg, unus ferto Gottingensis 6 Schneberger, una marca Gottingensis 24 Schneberger. Et sic 44 solidi Gottingenses sive 22 Schneberger, quod idem est, faciunt unum florenum in hac computacione. 131 Stadtarchiv Göttingen, Altes Aktenarchiv, Kirchensachen, St. Johannis Nr. 3 (2), Rechnung 1498/99, Bl. 1r–2v. 132 Ebenda, f. 4r–6r. 133 Ebenda, f. 4r. 134 Stadtarchiv Göttingen, Altes Aktenarchiv, Kirchensachen, St. Johannis Nr. 3 (7), Rechnung 1510/11f. 25v. 135 Stadtarchiv Göttingen, Altes Aktenarchiv, Kirchensachen, St. Johannis Nr. 3 (7), Rechnung 1510/11f. 5r–7v: Recepta memoriarum fixarum ac noviluniorum necnon quatuortemporum et etiam festiuitatis Corporis Christi. 136 Ebenda f. 8r–8v: Recepta baptismalium per totum annum. 137 Ebenda f. 9r–9v: Recepta introductionum puerperarum. 138 Ebenda f. 11r: Recepta introductionum sponsarum.

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wurden 13 ½ m., 24 s., 5 d. und 1 ob. eingenommen139. Dazu kamen zur Memoria gestiftete Reichnisse in Form von Viktualien im Geldwert von 5 Ferding, 10 ½ s., 1 d.140, aus Opfertellern 15 ½ s, 8 d.141, von den der Kirche gehörenden Häusern und Buden 9 ½ m., 26 s., 4 d.142 und aus zum Benefizium gehörenden Früchten und Zinsen offenbar der Göttinger Feldmark sowie aus Weende, Nörten und Burggrone kleine Einzelbeträge von insgesamt 7 ½ Ferding143. Knapp die Hälfte aller Einnahmen der Pfarrei, und zwar 24 ½ m. und 2 d., stammten dagegen allein aus den Opfergaben an den Hoch- und Heiligenfesten144. Die Kasualien (Taufe, Rekonziliation, Einsegung der Ehefrauen und Begräbnisse einschließlich der Tricesimi und Anniversarien) brachten zusammen 15 m., 28 s., 3 d. und 1 ob. – Stolgebühren und Opfer zusammengerechnet ergeben 39 m., 28 s., 5 d. und 1 ob., also etwa 69 % der von Johannes Hovet errechneten Geldeinkünfte145. Memorien und Seelmessen, von denen unmittelbar der Pfarrer und nicht einer der Altaristen profitierte, machten lediglich etwa 15 % des Einkommens aus. Daß wir es im Jahre 1510/11 nicht mit außergewöhnlichen Umständen zu tun haben, die zu besonderer Spendenfreudigkeit geführt haben, lehrt ein Blick auf die Einnahmeseite der Jahresrechnung von 1504/05, die Hovet, der damals in Göttingen residierte, persönlich geführt hat. Die Gesamteinkünfte dieses Jahres erreichten den Betrag von 56 m., 15 s., 5 d. Die Stolgebühren und Opfer summierten sich im Jahre 1504/05 auf 30 m., 14 ½ s., 9 ½ d. und 1. ob., also auf etwa 53 % der Gesamteinkünfte der Pfründe146. Annähernd dieselben Finanzierungsverhältnisse städtischer Pfarrbenefizien dürften die Reformatoren überall angetroffen haben. Bereits Karl Pallas sah in den Opfern in richtiger Einschätzung »einen Hauptteil der Einnahmen besonders der städtischen Geistlichen«147. Diese Einnahmen schmolzen dahin, nachdem Luther im Jahre 1520 den Anniversarien und Vigilien abgesagt und die Abschaffung der zahlreichen Feiertage gefordert hatte, die nur zum Mißbrauch 139 140 141 142 143 144 145

Ebenda f. 12r–18v: Recepta accidentalia per totum annum … Ebenda f. 20r–22v: Recepta prebendarum occasione defunctorum per totum annum. Ebenda f. 10r: Recepta ex scutellis ligneis. Ebenda f. 24r: Recepta ex domibus et bodis ad parrochiam pertinentibus. Ebenda f. 25r: Recepta fructuum ex parrochia sancti Iohannis. Ebenda f. 2r–4r: Recepta oblationum in festiuitatibus sanctorum per totum annum. Der Geldwert der f. 25r unter den Recepta fructuum ex parrochia sancti Iohannis angegebenen 15 ½ Malter Roggen, 16 Malter Hafer, 1 Malter Weizen und 4 Scheffel Gerste kann nur geschätzt werden. Er dürfte denjenigen Ertrag, den das Pfarrgut aus Zinsen von Buden und Häusern zog, kaum übersteigen. 146 Stadtarchiv Göttingen, Altes Aktenarchiv, Kirchensachen, St. Johannis Nr. 3 (3), Rechnung 1504/05f. 89v. 147 K. Pallas, Die Registraturen der Kirchenvisitationen im ehemals sächsischen Kurkreise. Allgemeiner Teil (GQProvSachs 41, 1. Allgemeiner Teil) 1906 S. 3. Vgl. auch Janssen, Die Differenzierung der Pfarrorganisation (wie Anm. 94) S. 82.

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mit sauffenn, spielenn, mussig gang unnd allerley sund führten148. Daß Luther im Jahre 1525 darüber klagte, die Pfarren seien heruntergekommen, nachdem Opfer und Seelpfennige dahin seien, wurde eingangs erwähnt149. Daß es sich geradezu um einen Zusammenbruch der Finanzgrundlagen der städtischen Pfarreibenefizien gehandelt haben dürfte, machen die mitgeteilten Zahlen aus der Göttinger Pfarrei mehr als wahrscheinlich. Da auch auf dem Lande nach den erwähnten Mecklenburger Urkunden bereits aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts die Opfergaben etwa die Hälfte der Einkünfte eines Pfarrbenefiziums ausmachten, muß die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Pfarrklerus in den Dörfern nach dem Wegfall insbesondere der Opfer nicht weniger dramatisch gewesen sein als in den Städten. In den Städten hat man – mehr oder minder nach dem Vorbild der Leisniger Kastenordnung von 1523 – ledig werdende Benefizien, Altarlehen, Kommenden, Meßstiftungen und die Vermögen aufgehobener Klöster und Bruderschaften den Gemeinen Kästen, Schatzkästen oder Großen Almosen zugeführt, die von Gemeindeverordneten und der städtischen Obrigkeit verwaltet wurden. Aus ihnen hat man sowohl die Armenfürsorge als auch die Besoldung der Pfarrer sicherzustellen versucht150. Auf das Opfer der Gemeinde konnte man jedoch seit der Einführung der deutschen Gottesdienstordnung in Wittenberg, das heißt der Deutschen Messe von 1525/26, die auf Offertorium und Kanon verzichtet, freilich nicht mehr sicher rechnen151. Während im katholischen Gottesdienst der Klingelbeutel während der Gabenzubereitung umhergereicht wird oder die Gläubigen wie im augustinischen Hippo Regius wieder – oder noch – ihre Gaben zum Altar bringen152, hat das Dankopfer im lutherischen Gottesdienst, sofern er ohne Abendmahl gefeiert wird, einen liturgisch angemessenen Platz verloren. Allein 148 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, Art. 16, Art. 18, WA 6 S. 444–446. 149 S. oben bei Anm. 13. 150 Vgl. K. Trüdinger, Luthers Briefe und Gutachten an weltliche Obrigkeiten zur Durchführung der Reformation (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 111) 1975 S. 59ff. M. Stupperich, Die Neuordnung der Kirchenfinanzen im Zeitalter der Reformation und ihre Voraussetzungen, in: W. Lienemann (Hrsg.), Die Finanzen der Kirche. Studien zu Struktur, Geschichte und Legitimation kirchlicher Ökonomie (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 43) 1989 S. 627ff. 151 WA 19 S. 72ff. Luthers Anregung ebenda S. 75: Hie kund man auch eyn gemeyne almosen den Christen aufflegen, die man williglich gebe und aus teylet unter die armen nach dem exempel S. Pauli ij. Cor. ix, wurde kaum rezipiert. Vgl. Hans Bernhard Meyer, Luther (wie Anm. 14) S. 156ff., 168ff. 152 Nach Riedle, Das pfarrliche Recht der Stolgebühren (wie Anm. 20) S. 15, hat sich der Opfergang in katholischen Gemeinden »teilweise bis jetzt [= 1897] erhalten«. Vgl. H. Lentze, Begräbnis und Jahrtag im mittelalterlichen Wien, in: ZRG 67 KA 36 (1950) S. 330: »Während der Messe findet dann der Opfergang statt, bei dem Geld und Naturalien, namentlich Wein, Brot und Kerzen von den bei der Beerdigung anwesenden Gläubigen geopfert werden. Er ist ja in unserem Kirchengebiet noch heute auf dem Lande üblich«.

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im Abendmahlsgottesdienst trat an die Stelle des Opferganges der Kommuniongang153; dabei hat sich in verschiedenen lutherischen Gemeinden ein Umgang der Kommunikanten um den Altar von der Brotseite hin zur Weinseite mit dem Einlegen eines Opfergeldes in eine auf dem Altar stehende Opferschale oder in einen hinter den Altar aufgestellten Opferstock erhalten. Dieser Brauch wurde als Abendmahlsdank in Göttingen in St. Albani noch (oder wieder?) zu Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts geübt, ebenso im sächsischen Wüstenbrand im Erzgebirge. In Harriehausen bei Gandersheim wurde er bis um 1980 beachtet; in Göttingen-Roringen, in Reckershausen bei Göttingen, in Salzgitter-Lesse oder auch in der evangelischen Gemeinde des oberschlesischen Kreuzburg ist er noch heute üblich. Die Hamburger Kirchenordnung des Johannes Bugenhagen von 1529 besann sich für den Sold der Predikanten auf die Opferpflicht der Gläubigen an den vier Hochfesten und richtete nach dem Vorbild von Bugenhagens Braunschweiger Kirchenordnung von 1528154 einen Schatzkasten ein: In dusse schatkaten schollen kamen dusse gude … Int erste de veer tide pennink edder offer, wente ein jder minsche van 12 jahren schal vorplichtet sin, jarlikes to underholdinge der pastoren und capellanen 4 lub. d. to gevende. Dat gelt schall ein ider in dat becken der armen up de veer tide des jars, alse [me] ok wert affkundigen, geven und ein jder huswert schal sine geste, kinder und gesinde beleren, dat sulkenen gelt utgegeven werden155. Das sind, was die Geldforderung anbelangt, vorreformatorische Verhältnisse, nur ist der Abgabe der liturgisch eingebundene Opfergang um den Altar abhandengekommen. Die nachgeschobene Begründung der Hamburger Ordnung, es wäre unbillig und unchristlich, den der Gemeinde das ganze Jahr über dienenden Predigern die 4 Pfennige nicht zu geben, ist weder theologisch noch kirchenrechtlich relevant156. Im übrigen ist der Schatzkasten nie errichtet 153 Hans Bernhard Meyer, Luther (wie Anm. 14) S. 169–171. 154 E. Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts 6, 1, 1955 S. 375f., 453. Vgl. Stupperich, Die Neuordnung der Kirchenfinanzen (wie Anm. 150) S. 632. – Das dem Gemeinen Kasten nach Bugenhagens Braunschweiger Ordnung zugewiesene Vieropfer wollten die Braunschweiger bürgerschaftlichen Korporationen teils dem Belieben des Einzelnen anheimstellen, teils zur Pflicht machen, vgl. deren Stellungnahmen von 1528, zusammengefaßt bei L. Hänselmann, Bugenhagens Kirchenordnung für die Stadt Braunschweig nach dem niederdeutschen Drucke von 1528, 1885 S. XXXIX: (Gemeinheit im Hagen:) Daß die Prädikanten nicht nur um den Vierzeitenpfennig, sondern auch den Armen fördersamst Steuer zu thun treulich mahnen, sehen wir für gut an. Über die Diskussion der Kirchenordnung in Braunschweig vgl. O. Mörke, Rat und Bürger in der Reformation. Soziale Gruppen und kirchlicher Wandel in den welfischen Hansestädten Lüneburg, Braunschweig und Göttingen (Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen 19) 1983 S. 136f. 155 E. Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts 5, 1913 S. 535. 156 Ebenda, S. 536.

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worden157. Wie es um die Hamburger Pfarrerbesoldung ab 1529 wirklich bestellt war, ist dem jüngsten umfangreichen Werk zur Hamburger Reformation leider nicht zu entnehmen, da es die Darstellung nur bis zum Jahre 1528 fördert158. Die Landpfarrer des Kurfürstentums Sachsen litten nur dann keine Not, wenn sie ausreichend mit so vielen Pfarrhufen versehen waren, daß ihnen der Betrieb einer Landwirtschaft möglich war. Überhaupt hat sich an der für den Unterhalt des Landpfarrers unersetzlichen Rolle der Dotierung der Pfarrhöfe mit Ackerland, Holz und Wiese in Deutschland bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nichts geändert159. Für Landpfarrer, die mit ihren Benefizien nicht mehr auskamen, hat Luther bei seinem Kurfürsten wiederholt auf die Bewilligung von Zulagen gedrungen160. Eine generelle Regelung sollte durch die erste Kirchenvisitation der ernestinischen Lande erzielt werden. Am 30. November 1525 hatte Luther dem Kurfürsten vorgeschlagen, denjenigen Gemeinden, die evangelische Prediger haben wollten, sie aber nicht aus dem Pfarrvermögen besolden könnten, aus Mitteln der Gemeinde zu bezahlen161. Dieser Vorbehalt fiel mit dem Brief vom 22. November 1526, in dem Luther eine Kirch- und Schulvisitation vorschlug, fort. Was den Unterhalt der Prediger anbelange, habe der Fürst solche Gemeinden, die dazu in der Lage seien, zu zwingen, das sie schulen, predigtstuelen, pfarhen halten …, gleich als wenn man sie mit gewalt zwingt, das sie zur brucken, steg und weg, odder sonst zufelliger lands not geben vnd dienen mussen162. Aus der von Luther als Notrecht verstandenen landesherrlichen Mitwirkung an der Reformation wurde das landesherrliche Kirchenregiment. Die vom Kurfürsten für die Visitation von 1528–1529 erlassene Instruktion legte in jenen Generalia, welche nur für die 157 Ebenda, S. 482. 158 Vgl. Postel, Die Reformation in Hamburg (wie Anm. 95) S. 279, 282. 159 Vgl. den späteren Schweriner Oberkirchenrat Ernst Haack über seine erste, im Jahre 1876 in Mecklenburg angetretene Pfarrstelle: Ernst Haack, Führungen und Erfahrungen. Lebenserinnerungen aus 70 Jahren, Schwerin 1925 S. 82: Die Pfarre in Gr.-Vielen war, wie schon bemerkt, schwach dotiert und noch mit einer Witwenabgabe von einem Zehntel des Einkommens belastet, und unser Anfang auf derselben durch mancherlei Umstände nicht unerheblich erschwert. Um sie anzutreten, mußten wir Schulden machen. Zwei Pferde, vier Kühe, Wagen, landwirtschaftliche Geräte wollten angeschafft und bezahlt sein … Vgl. ebenda S. 73, 75, sowie I. Bacigalupo, Pfarrherrliches Landleben. Der Pfarrhof als Bauerngut, in: ZBayerKG 56 (1987) S. 177–235, hier S. 182–184. – Erinnert sei an das Roman-Motiv des Landwirtschaft treibenden Pfarrers zum Beispiel bei Oliver Goldsmith, The Vicar of Wakefield c. 3, c. 24, 1766, Ehm Welk, Die Heiden von Kummerow, 1937, Ina Seidel, Lennacker, 1938. 160 Trüdinger, Luthers Briefe und Gutachten (wie Anm. 150) S. 35–38, 57–59. 161 WA Br. 3 Nr. 950 S. 628f. Vgl. H.-W. Krumwiede, Zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregimentes in Kursachsen und Braunschweig-Wolfenbüttel (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 16) 1967 S. 67. Trüdinger, Luthers Briefe und Gutachten (wie Anm. 150) S. 69–71. 162 WA Br. 4 Nr. 1052 S. 133ff.

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Dörfer und nicht auch für die Städte gegeben wurden, fest: Ein ieglich mensch, welchs zum sacrament geet oder 12 iar alt worden ist, soll alle quatember dem pfarrer 1 n[eue] d. zu geben vorpflicht sein, welch gelt ein ieglicher hauswirt fur sich, seine kinder und gesinde geben und einbrengen soll, es were denn das es bei etlichen pfarren anders ausgedenkt und geordent were. Solch gelt soll ein ieglicher richter von den nachtbarn nemen und dem pfarrer geben und mit vleiss daran sein, das den pfarrern an den (opferpfenning) ir verordent einkommen zu rechter zeit uberantwortet und gegeben werde163. Die Quatember definierte die Lübecker Kirchenordnung von 1531 als Ostern, Pfingsten, Michaelis und Weihnachten164. Der Richter, also der öffentliche Arm, nahm sich der Beitreibung der Opferpfennige an, um die Besoldung der Pfarrer sicherzustellen! Nach der Instruktion zur Visitation von 1555 sollte das Opfergeld gegebenenfalls wegen der Armut der [Pfarrer] und Kirchen Einkommen sogar neu auferlegt werden165. Tatsächlich heißt es in der Visitation zum Beispiel von Dabrun in der Ephorie Wittenberg vom Jahre 1528, daß der Schultheiß im Beisein des Küsters die circa drei Gulden Opfer einbrengen soll166. Der Weg von der ehedem an den vier Hochfesten als gutes Werk dargebrachten Gabe hin zur obrigkeitlich verordneten Abgabe, als handele es sich um eine Beisteuer für Brücken- und Straßenbau oder sonstige Landesnot, war damit vollendet. Dort, wo sie erhoben wurde, war sie ein wichtiger Bestandteil der Pfründe. An der Spitze der Einkünfte der Pfarrei des Städtchens Mügeln sind 1543 je 20 Groschen Opfergeld und Zinse vor den dann folgenden Naturalbezügen verzeichnet. Zwanzig Groschen hatten demselben Verzeichnis zufolge den Wert von etwas mehr als drei Kälbern167. Überdies war das Opfergeld oft das einzige Geldeinkommen der ländlichen Pfarreien168. Stolgebühren (accidentalia) werden in den Landpfarreien der ernestinischen Länder wiederholt erwähnt. In Dornan bei Kemberg stehen 1555 zu von leichegelt 1 gr. dem pfarrer, 6 d. dem schreiber; traugelt und aufzubieten dem pfarrer 2 gr; taufgelt 1 gr. dem pfarrer169; an demselben Ort gingen 1575 und 1617 zwei be163 Pallas, Die Registraturen (wie Anm. 147) S. 40f. Vgl. S. C. Karant-Nunn, Luther’s Pastors. The Reformation in the Ernestine Countryside (Transactions of the American Philosophical Society held at Philadelphia for promoting useful knowledge vol. 69 p. 8) 1979 S. 51. 164 E. Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts 5, 1913 S. 362: De veer tide sind: paschen, pinxten, michaelis, winachten. 165 Pallas, Die Registaturen (wie Anm. 147) S. 52. 166 K. Pallas, Die Registraturen der Kirchenvisitationen im ehemals sächsischen Kurkreise. Zweite Abteilung. Erster Teil. Die Ephorien Wittenberg, Kemberg und Zahna (GQProvSachs 41, 2,1) 1906 S. 100 (1528, in der Kopie der 2. Visitation von 1533). 167 Luther WA Br. 10 Nr. 3918 (Luther und die Kommissare des Konsistoriums an Kurfürst Johann Friedrich). 168 Pallas, Die Registraturen der Kirchenvisitationen (wie Anm. 166) S. 449 (1617). 169 Pallas (wie Anm. 166) S. 233.

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ziehungsweise drei Groschen vom Aufbieten und Trauen an den Pfarrer. Taufgeld, Begräbnisgeld und Einleiten einer Wöchnerin brachten je einen Groschen170. Dem Versuch der Visitationsinstruktion von 1542 für Calenberg-Göttingen, an die Stelle der vilfeltiegen accidentalien, so izzo fallen, eine von Bauern und Bürgern zu entrichtende Vergütung zu setzen171, dürfte kaum Erfolg beschieden gewesen sein. Auch in den evangelisch gewordenen Ländern haben die Pfarreien ihre im Mittelalter erworbenen Rechte und Besitztitel im Kern bewahrt. Rechtlich blieb die Pfründe unangetastet172. Die bereits im Mittelalter zum Pflichtopfer gewordenen Vierpfennige und Stolgebühren wurden nun nicht nur gefordert, sondern sogar mit Hilfe der Obrigkeit eingetrieben. Stärkeren Erschütterungen und Veränderungen waren die Benefizien der städtischen Pfarreien ausgesetzt. Der Rückgang der allgemeinen Opferwilligkeit, den die Theologen 1537 gegenüber den Fürsten des Schmalkaldischen Bundes beklagten173, dürfte durch die Errichtung der Gemeinen Kästen kaum aufgefangen worden sein. In Göttingen mußten die evangelischen Prediger, bevor ihnen 1542 die Benefizien und Pfarrhäuser der katholisch gebliebenen Pfarrer zugewiesen wurden, sowohl aus den Gemeinen Kästen als auch durch Zulagen aus der Stadtkämmerei besoldet werden174. Das Gehalt des im Jahre 1544 nach Göttingen an die Johanniskirche und zum Superintendenten berufenen LutherSchülers Joachim Mörlin setzte der Rat auf jährlich 300 Gulden fest, zuzüglich zehn Malter Korn, acht Klafter Holz, die vor das Pfarrhaus zu liefern seien, und des Winters ein feist Schwein175. Zur Finanzierung dieser Besoldung wurden von 170 Pallas (wie Anm. 166) S. 237. 171 E. Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts 6, 1, 2, 1957 S. 857. 172 Vgl. E. W. Zeeden, Katholische Überlieferungen in den lutherischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (Katholisches Leben und Kämpfen im Zeitalter der Glaubensspaltung 17) 1959 S. 67–71, Wiederabdruck in: Ders., Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung 15) 1985 S. 166–170. P. Landau, Beneficium, in: TRE 5 (1980) S. 582. 173 Corpus Reformatorum 3, Halle 1836 S. 288–290 Nr. 1532: Darzu ist am Tag, daß der gemeine Pöfel von sich selb darzu wenig thut, und müssen solche Gaben Fürstliche Eleemosynä seyn und bleiben … Vgl. Stupperich, Die Neuordnung der Kirchenfinanzen (wie Anm. 150) S. 665. 174 Vgl. G. Erdmann, Geschichte der Kirchen-Reformation in der Stadt Göttingen, 1888 S. 64f., 80, K. H. Bielefeld, Die Kirche nach der Reformation, in: D. Denecke/H.-M. Kühn, Göttingen, Geschichte einer Universitätsstadt 1, 1987 S. 516. – Zu von der Stadt Braunschweig den Predigern gewährten Vergünstigungen vgl. E. Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts 6, 1, 1955 S. 343. 175 P. Tschackert, Handschriftliche Briefe Joachim Mörlins vom Jahre 1543 bis 1550, in: ZGesNiedersächsKG 10 (1905) S. 130f. (1544 Mai 1, Bestallungsbrief nach Abschrift. – Original: Stadtarchiv Göttingen, Urkunden Nr. 819).

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der Stadt auch die Pfarrgüter und Zinsen von St. Johannis herangezogen, welche sie zu diesem Zweck mit Beschlag belegt hatte176. Die seit dem 16. Jahrhundert um sich greifende Übung der Fixierung der Stoltaxen durch die weltlichen Obrigkeiten und die hochkomplizierte Ablösung dieser Akzidenzien zu Ende des 19. beziehungsweise zu Anfang des 20. Jahrhunderts haben eine erste zusammenfassende Darstellung durch Paul Hinschius und Ulrich Stutz erfahren177. Die Einführung der staatlichen Zivilstandsregister und der Zivilehe im Jahre 1875 drohten die Einkünfte der Pfarrgeistlichkeit erheblich zu schmälern. Untersuchungen zum Wandel des Pfarrerunterhalts im 19. und frühen 20. Jahrhundert weg von der Bepfründung und hin zum Gehalt sind im Gange178. Aber auch weitere Forschung zur Pfarrpfründe in Stadt und Land in Mittelalter und Reformationszeit ist sowohl möglich als auch erforderlich, damit ein zuverlässiges Bild von den Lebensbedingungen des Pfarrklerus als eines wichtigen Teils der Gesellschaft des 15. und 16. Jahrhunderts gezeichnet werden kann.

176 Tschackert, S. 134: Protokoll der Verhandlung vor herzoglichen Räten zu Münden am 9.2.[1548] über die Pfarrei St. Johannis. Danach hatten die Göttinger die Pfarrgüter seit drei Jahren beschlagnahmt, und Mörlin hatte nach eigenem Bekunden zugestanden, daß die von Göttingen die Zinsen aufheben und zu Hilfe seiner Besoldung nehmen. – Die Frage der Besoldung war zunächst verknüpft mit dem Streit um den Anspruch des Jürgen Herzog, Sohn des letzten, bis 1542 an St. Johannis bepfründeten katholischen Pfarrers Hans Herzog, auf das Pfarrhaus, dessen Inventar sowie auf einen vor dem Tor gelegenen Pfarrgarten (vgl. S. 131, 132, 135) und sodann mit dem Konflikt über das Verhältnis von landesherrlichem Patronatsrecht (mit dem darin eingeschlossenen Präsentationsrecht) zum städtischerseits beanspruchten Vokationsrecht auf die Pfarrstelle. Vgl. A. Saathoff, Die evangelischen Pfarrer Göttingens im 16. Jahrhundert, in: ZGesNiedersKG 34/35 (1929) S. 137f., 140, Ders., Aus Göttingens Kirchengeschichte. Festschr. zur vierhundertjährigen Gedächtnisfeier der Reformation am 21. Oktober 1929, Göttingen 1929 S. 139f., O. Mörke, Landstädtische Autonomie zwischen den Fronten. Göttinger Ratspolitik zwischen Bürgerbewegung, Landesherrschaft und Reichspolitik im Umfeld des Augsburger Interims, in: Niederlande und Nordwestdeutschland. Festschr. Franz Petri. Hrsg. W. Ehbrecht u. H. Schilling (Städteforschung A 15) 1983 S. 227. 177 P. Hinschius/U. Stutz, Stolgebühren, in: A. Hauck (Hrsg.), RE 19 (31907) S. 67–75. 178 O. Janz, Von der Pfründe zum Pfarrgehalt: Zur Entwicklung der Pfarrerbesoldung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: W. Lienemann (Hrsg.), Die Finanzen der Kirche (wie Anm. 150) S. 682–711.

Die inkorporierte Pfarrei und das Benefizialrecht. Hilwartshausen und Sieboldshausen 1315–1540*

Die Laien mögen sich im Mittelalter nach Stand und sozialem Rang noch so sehr unterschieden haben – eines hatten sie, von Ketzern und Juden abgesehen, gemeinsam: Allesamt gehörten sie nach dem Empfang der Taufe nicht nur zur Christenheit, sondern grundsätzlich waren sie auch Angehörige einer Pfarrei, und zwar in der Regel einer Territorialpfarrei und nur in Ausnahmefällen, etwa als Ministeriale1 oder als Studenten an einer Universität, einer sogenannten Personalpfarrei. Diese Pfarrzugehörigkeit war ein Zwang: Die Parochianen waren ihrem jeweiligen Pfarrherrn verpflichtet. Von ihm hatten sie ihre Kinder taufen und ihre Toten beerdigen zu lassen, bei ihm hatten sie die Messe zu hören und die Beichte abzulegen.2 Die Durchbrechung des Sepulturzwanges zugunsten privilegierter Klöster, insbesondere der Bettelorden3, oder die Dispense für hochrangige Laien, sich einen Beichtvater frei wählen oder in eigenen Haus- und Burgkapellen den Gottesdienst feiern zu dürfen, sind Erscheinungen des Spätmittelalters.4 * Erstveröffentlichung in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 75 (2003) S. 1–34. 1 Osnabrücker UB 1, 1892 (ND 1969), S. 222f. Nr. 276 (1147). Vgl. Johannes Dorn, Zur Geschichte der Personalpfarreien, in: ZRG 37 KA 6 (1916) S. 341–383, hier S. 368. 2 Philipp Schneider (Hrsg.), Konrads von Megenberg Traktat ›De limitibus parochiarum civitatis Ratisbonensis‹. Ein Beitrag zur Geschichte des Pfarrinstituts aus dem 14. Jahrhundert, Regensburg 1906, S. 148–156. 3 Zu den vermehrt seit dem 11./12. Jh. einzelnen Klöstern verliehenen Sepulturrechten s. Georg Schreiber, Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert, Bd. 2 (Kirchenrechtliche Abhandlungen 68) Stuttgart 1910, S. 105–137. Zu den 1227 beziehungsweise 1250 bis hin zum Konzil von Vienne (1311/12) den Mendikanten gewährten Sepulturrechten s. Potthast Nr. 7974 (1227), 13923 (1250), 13945 (1250), Clem. 3.7.2 (= Friedberg 2, Sp. 1161f.), Clem. 5.7.1 (Friedberg 2, Sp. 1186f.) (Vienne 1312). Vgl. Burkhard Mathis, Die Privilegien des Franziskanerordens bis zum Konzil von Vienne (1311), im Zusammenhang mit dem Privilegienrecht der früheren Orden dargestellt, Paderborn 1928, S. 70–80; Hans-Joachim Schmidt, Bettelorden in Trier. Wirksamkeit und Umfeld im hohen und späten Mittelalter (Trierer Historische Forschungen 10) Trier 1986, S. 131f. 4 Zum Verhältnis von Burgkapelle und Pfarrzwang s. Joseph Avril, Églises paroissiales et chapelles de châteaux aux XIIe–XIIIe siècles, in: Seigneurs et Seigneuries au Moyen Âge, Actes du 117e Congrès national des Sociétés Savantes, Clermont-Ferrand, 1992, Section d’histoire

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Anders als die vielfach zersplitterten weltlichen Herrschaften5 waren Bistumsund Pfarrsprengel klar umrissen, auch wenn es über Diözesan- und Pfarreizugehörigkeiten immer wieder zum Streit kam. Ausgründungen von Bistümern, man denke an Magdeburg (968) oder Bamberg (1007), waren gegen die Rechte und Ansprüche schon bestehender Diözesen immer nur mühsam durchzusetzen. Diözesanzirkumskriptionen6 und die seit dem Hochmittelalter überlieferten Pfarreiterminationen7 belegen wie die früh- und hochmittelalterlichen Markund Besitzbeschreibungen, daß man Grenzen zu denken vermochte und auf sie bedacht war.8 Die nur mit bischöflicher Billigung mögliche Abpfarrung jüngerer

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médiévale et de philologie, Paris 1995, S. 337–355; Edgar Müller, Die Kapläne der Herren von Plesse im 13. Jahrhundert, in: Peter Aufgebauer (Hrsg.), Burgenforschung in Südniedersachsen, Göttingen 2001, S. 129–131. RTA unter Maximilian I., Bd. 5,1,2, bearb. v. Heinz Angermeier (RTA Mittlere Reihe 5,1,2) Göttingen 1981, S. 1207 Nr. 1653, Markgraf Friedrich von Brandenburg an die Bischöfe von Bamberg und Würzburg, 18. Okt. 1495: (…) so wir dann bey uns ermessen, da vil Ff., Gff., Hh. und die des adels, auch des Reichs stet menglich(= jeder) in unserem land leut und guter haben, die wider und fur in den pfarren gesessen und unter den unsern gemengt sein (…). Marinus II. für Sabina (944), Harald Zimmermann, Papsturkunden 896–1046, Bd. 1 (Österreichische Akademie der Wiss., Phil.-hist. Kl., Denkschriften 174) Wien 1984, S. 186–188 Nr. 106. – Ostgrenze des Bistums Meißen (996), DO. III. 186; zur Echtheit des Diploms s. Helmut Beumann u. Walter Schlesinger, Urkundenstudien zur deutschen Ostpolitik unter Otto III., in: Archiv für Diplomatik 1 (1955) S. 132–256; Wiederabdruck in: Walter Schlesinger, Mitteldeutsche Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Göttingen 1961, S. 306–407. – Hildesheim-Mindener Diözesangrenze (993), UB HHild 1 S. 24f. Nr. 35. – Hildesheimer Grenzbeschreibung von um 1000, UB HHild 1 S. 30 Nr. 40. – Hildesheimer Zirkumskription (1013), UB HHild 1 S. 40ff. Nr. 51; DH. II. 256a. – Halberstädter Zirkumskription durch Benedikt VIII. (1022), UB HHalb 1 S. 50f. Nr. 68; Harald Zimmermann (Bearb.), Papstregesten 911–1024 (Regesta Imperii II, 5) 2. Aufl., Wien u. a. 1998, Nr. 1255. Zehnttermination der 959 an das Koblenzer Marienstift geschenkten Pfarrei Humbach von 959, Rheinisches Urkundenbuch 2, 1994, S. 112ff. Nr. 205. Vgl. Thomas Trumpp, Bäche als Grenzen und Grenzen als Bäche. Die Beschreibung der Ränder des Zehntbezirkes der Urpfarrei Humbach (Montabaur) in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, in: Jb. f. Westdeutsche Landesgeschichte 26 (2000) S. 7–34. – Termination der Pfarrkirche von Plauen (1122), Felix Rosenfeld (Bearb.), Urkundenbuch des Hochstifts Naumburg, Bd. 1 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt NR 1) Magdeburg 1925, S. 107–110 Nr. 124. – In Rom, für das Bernhard Schimmelpfennig, Das Papsttum. Grundzüge seiner Geschichte von der Antike bis zur Renaissance, 3. Aufl., Darmstadt 1988, S. 22, die Existenz fester Pfarreigrenzen im Mittelalter verneint, sind Terminationen seit dem Ende des 12. Jahrhunderts bezeugt, Susanna Passigli, Geografica parrocchiale e circoscrizioni territoriali nei secoli XII– XIV, in: Étienne Hubert (Hrsg.), Rome aux XIIIe et XIVe siècles. Cinq études (Collection de l’École Française de Rome 170) Rom 1993, S. 43–86, hier S. 56–60; zu den von der Verf. nicht erkannten Fälschungen Ital. Pont. 1 S. 26 Nr. 11f., Ital. Pont. 1 S. 71 Nr. 1 s. bereits Paul Kehr, Römische Analekten, in: QFIAB 14 (1911) S. 1–37, hier S. 7–20. – Vgl. auch unten Anm. 11. Rüdiger Moldenhauer, Grenzen und Grenzbeschreibungen in Mecklenburg, in: ZRG 111 GA 98 (1981) S. 236–275; Reinhard Bauer, Die ältesten Grenzbeschreibungen in Bayern und ihre Aussagen für Namenkunde und Geschichte (Die Flurnamen Bayerns 8) München 1988; Reinhard Schneider, Lineare Grenzen – Vom frühen bis zum späten Mittelalter, in: Wolfgang Haubrichs u. Reinhard Schneider, Grenzen und Grenzregionen (Veröffentlichungen der

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Kirchen von ihren Mutterkirchen hat sich seit dem 12. Jahrhundert in zahlreichen Urkunden niedergeschlagen, die willkommene Einblicke in die Vermehrung der Pfarrkirchen in Stadt und Land, in die geistlichen Bedürfnisse ländlicher und städtischer Kommunen, in die Pflichten und Rechte von Pfarrkindern und Pfarrern und anderes mehr ermöglichen. Im Jahre 1258 forderte Graf Otto von Altena, Hochvogt von Werden an der Ruhr, die Pfarrer seiner Herrschaft auf, Almosensammler der Abtei zu fördern und ihr jeweiliges Pfarrvolk zu Spenden für den Werdener Kirchenbau anzuhalten.9 Als König Maximilian und die Reichsstände 1495 die Erhebung des Gemeinen Pfennigs ins Werk setzten, wußten sie keinen geeigneteren Steuererhebungsbezirk als die Pfarrei. In der Pfarrei und im Beisein des Pfarrers erklärte jede weltliche Person, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hatte, ihr Vermögen, wurde in einer Liste verzeichnet und leistete den vereidigten Sammlern, unter denen vielfach der Pfarrer erschien10, ihre Zahlung.11 Durch Kanzelabkündigung und Anschlag an der Kirchentür und am Rathaus wurde der ebenfalls 1495 in Worms verabschiedete Ewige Landfriede veröffentlicht.12 Die neuzeitlichen Obrigkeiten haben sich für

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Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 22) Saarbrücken 1993, S. 51–68; Helmut Maurer, Naturwahrnehmung und Grenzbeschreibung im hohen Mittelalter – Beobachtungen vornehmlich an italienischen Quellen, in: Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte. Peter Herde zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Karl Borchardt u. Enno Bünz, 2 Bde., Stuttgart 1998, Bd. 1, S. 239–253; Hans-Joachim Schmidt, Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mittelalterlichen Europa (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 37) Weimar 1999, S. 11–29, 111–113; Ders., Raumkonzepte und geographische Ordnung kirchlicher Institutionen im 13. Jahrhundert, in: Peter Moraw (Hrsg.), Raumerfassung und Raumbewußtsein im späteren Mittelalter (Vorträge und Forschungen 49) Stuttgart 2002, S.87–125, hier S. 94–97. Westfälisches UB 7, 1908, S. 447f. Nr. 986: … Otto comes de Althna (!) universis plebanis infra terminos sui dominii morantibus … quatenus nuncios ipsorum in ecclesiis vestris favorabiliter et benigne recipiatis et ipsos in negociis Werdinensis ecclesie fideliter promoveatis videlicet populum exhortando, ut de bonis sibi a Deo collatis elemosinas suas conferant ad structuram ecclesie supradicte in remissionem peccatorum suorum. Peter Schmid, Der Gemeine Pfennig von 1495. Vorgeschichte und Entstehung, verfassungsgeschichtliche, politische und finanzielle Bedeutung (Schriftenreihe der Hist. Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 34) Göttingen 1989, S. 464–466. RTA unter Maximilian I., Bd. 5,1,1, bearb. v. Heinz Angermeier (RTA Mittlere Reihe 5,1,1) Göttingen 1981, S. 546–549 Nr. 448, ebenda S. 566 Nr. 452, Eidformular der Einsammler des Gemeinen Pfennigs. Vgl. Schmid, Der Gemeine Pfennig (wie Anm. 10) S. 463f.; Enno Bünz, »Die Kirche im Dorf lassen …«. Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Niederkirchenwesen, in: Werner Rösener (Hrsg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 156) Göttingen 2000, S. 77–167, hier S. 108f. – In Rom wurde 1517 eine Steuer für Straßenarbeiten auf Grund eines Pfarrei für Pfarrei erstellten Censimento erhoben, Anna Esposito Aliano, La Parrocchia »Agostiniana« di S. Trifone nella Roma di Leone X, in: Mélanges de l’École Française de Rome. Moyen Age. Temps modernes 93 (1981) S. 495–523. RTA unter Maximilian I., Bd. 5,1,2 (wie Anm. 5) S. 1211 Nr. 1658, Markgraf Friedrich von Brandenburg an die Abgesandten seiner fränkischen Herrschaften (4./5. November 1495):

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die Publikation ihrer Gebote bis in die Mitte des 19. Jahrhundert ganz selbstverständlich der Kanzelabkündigung bedient.13 Noch in den frühen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich – zunächst sehr zum Erstaunen des damals dort sein Amt antretenden Pfarrers – eine altmärkische Kirchengemeinde bei rein kirchlichen Abkündigungen während des Gottesdienstes stets von den Bänken erhoben. Diese Sitte reichte ins 18. Jahrhundert zurück. Damals war es üblich, daß die Gemeinde die vom Pfarrer verlesenen landesherrlichen Verordnungen ehrerbietig im Stehen anhörte.14 Von der Pfarrei als vorgefundener, auch zur Unterrichtung der Untersassen genutzter Institution, die auf eine mehr als 1200jährige Geschichte zurückblicken kann und damit eine Erscheinung von langer Dauer ist, soll im folgenden nicht die Rede sein, auch nicht von der Sakramentsverwaltung, von der Frömmigkeit der Pfarrkinder und von ihren Stiftungen, von den Kirchenpflegern, von der Kirchenfabrik oder dem Kircheninventar. Vielmehr sollen hartnäckige Bemühungen diverser Kleriker um eine einzelne Pfarrpfründe zur Sprache kommen, die über den langen Zeitraum von 1351 bis 1532 deshalb verhältnismäßig dicht überliefert sind, weil es um diese eine Pfründe immer wieder zu Auseinandersetzungen gekommen ist. Die Pfarrpfründe ist jener Vermögenstitel, aus dem idealerweise der Pfarrer kraft seines Amtes seinen Unterhalt bestritt, an dem aber auch Klöster zur Hebung ihrer Einkünfte seit dem Hochmittelalter interessiert waren. Es wird sich ergeben, daß eine solche Pfarrpfründe im Besitz eines Klosters keineswegs ungestört genossen werden konnte; denn deren Besitz wurde vor allem von stellensuchenden Klerikern wiederholt angegriffen. Die Entstehung des Pfarrbenefiziums, also des mit dem Pfarramt »verbundene(n) Recht(s), aus einer bestimmten, in der Regel kirchlichen Vermögensmasse oder bestimmten Gaben, ein festes ständiges Einkommen zu beziehen«15, datiert man heute, zumindest für das Bistum Freising, in das Ende des 8. Jahrhunderts.16 Das Kirchenkapitular

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(…) ein abschrift ytzo hie sol gegeben werden, die ir anhaim bringen, die pfarrer ab offen canzeln dem volk verkunden und furter offentlich sollet an die kirchtür oder ratheuser lassen anschlagen … Vgl. Schmid, Der Gemeine Pfennig (wie Anm. 10) S. 462. Philipp Meyer, Zur Verlesung landesherrlicher Verordnungen von den Kanzeln Niedersachsens im 16. bis 19. Jahrhundert, in: Jb. d. Gesellschaft f. niedersächs. Kirchengeschichte 48 (1950) S. 109–119. Vgl. Klaus Nippert, Nachbarschaft der Obrigkeiten. Zur Bedeutung frühneuzeitlicher Herrschaftsvielfalt am Beispiel des Hannoverschen Wendlands im 16. und 17. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 196) Hannover 2000, S. 114–118. Freundliche Mitteilung von Frau Maria Staemmler, Göttingen, vom 1. 3. 2002. Peter Landau, Beneficium, in: TRE 5, 1980, S. 577. Vgl. Ders., Beneficium, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München-Zürich 1980, Sp. 1905. Stefan Esders u. Heike Johanna Mierau, Der altdeutsche Klerikereid. Bischöfliche Diözesangewalt, kirchliches Benefizialwesen und volkssprachliche Rechtspraxis im frühmittelalterlichen Baiern (MGH Studien und Texte 28) Hannover 2000, S. 141, 173ff., 246ff.

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Ludwigs der Frommen von 818/819 sah vor, daß jeder Niederkirche eine solche Hufe zuzuweisen sei, die wie der Zehnt, wie die Opfergaben der Gläubigen, der Pfarrhof, der Friedhof und der Garten bei der Kirche von Abgaben an den Eigenkirchenherrn frei und allein dem Pfarrdienst gewidmet sein sollte; wenn aber darüber hinaus ein Priester etwas von seinem Herrn besitze, waren diesem davon die geschuldeten Dienste und Abgaben zu leisten.17 Damit sollte dem Priester ein vor dem Zugriff des Kirchenherrn sicherer Unterhalt, letztlich die Pfarrpfründe, gewährleistet werden.18 Das war eben nicht selbstverständlich. Im Laienspiegel des Bischofs Jonas von Orléans (um 780 – † 842/843) heißt es: »Ferner finden sich viele, mit wenig Grundbesitz und ohne Einkommen, die entweder auf ihrem Eigengut oder auf dem Lehen eines Großen Kirchen haben, bei denen dank der Frömmigkeit der Gläubigen viele Gaben und Zehnten eingehen. Solche belieben, durch Habsucht verleitet, zu sagen: ›Der Priester verdient viel auf meiner Kirche. Deshalb will ich, daß er von dem, was er doch eigentlich aus dem Meinigen zieht, mir nach Wunsch Dienst tue; sonst soll er meine Kirche nicht länger haben‹. Auch lassen sie die Anstellung von Priestern an solchen Kirchen nicht zu, ohne von ihnen die Gaben zu empfangen, die sie begehren«.19 Noch ganz unbefangen 17 MGH Capit. 1 S. 277 Nr. 138 c. 10: Sanccitum est, ut unicuique ecclesiae unus mansus integer absque alio servitio adtribuatur, et presbyteri in eis constituti non de decimis neque de oblationibus fidelium, non de domibus neque de atriis vel hortis iuxta ecclesiam positis neque de praescripto manso aliquod servitium faciant praeter ecclesiasticum. Et si aliquid amplius habuerint, inde senioribus suis debitum servitium impendant. – Vgl. Winfried Hartmann, Der rechtliche Zustand der Kirchen auf dem Lande. Die Eigenkirche in der fränkischen Gesetzgebung des 7. – 9. Jahrhunderts, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica della campagne nell’alto medioevo: Espansione e resistenze 10–16 aprile 1980, tomo primo (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 28) Spoleto 1982, S. 397– 441, hier S. 410; Ders., Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Konziliengeschichte, Reihe A: Darstellungen [9]) Paderborn u. a. 1989, S. 163; Carola Brückner, Das ländliche Pfarrbenefizium im hochmittelalterlichen Erzbistum Trier [I], in: ZRG 115 KA 84 (1998) S. 105f.; Esders u. Mierau, Klerikereid (wie Anm. 16) S. 247f. – Über das atrium, den Vorhof, als Begräbnisplatz vgl. Theodulf von Orléans, Zweites Kapitular c. I, 11, Peter Brommer (Hrsg.), Capitula episcoporum 1 (MGH Capitula episcoporum 1) Hannover 1984, S. 153: … ut in ecclesia nullatenus sepeliantur, sed in atrio aut in porticu aut abedra (= exedra) ecclesiae; Hinkmar von Reims, Collectio de ecclesiis et capellis. Hrsg. v. Martina Stratmann (MGH Fontes iuris 14) Hannover 1990, S. 75f.: ut domus dei (…) tantum atrii habeat, ubi pauperculi (…) suos mortuos (…) sepelire valeant; oder das Reimser Konzil von 1049 (?), Uta-Renate Blumenthal, Ein neuer Text für das Reimser Konzil Leos IX. (1049)?, in: DA 32 (1976) S. 30 c. 4: Laici altaria et queque ad altaria pertinent dimittant; hoc est: tertiam partem annonae (= Zehnt), oblationes, sepulturam, atrium et censum, nec ullam consuetudinem in atrio accipiant propter hoc quod difinitum est; ebenda S. 30 c. 5: Ministerium aeclesiae vel atrii laici non habeant. 18 Esders u. Mierau, Klerikereid (wie Anm. 16) S. 173ff., 246ff. 19 Jonas von Orléans, De institutione laicali II, 19, Migne, PL 106, Sp. 204 C: Porro sunt plerique, qui possessionum limitibus coangustati et reditibus carentes aut in iuris sui proprio aut certe ex munere alicuius potentis habent basilicas, ad quas religiosa devotio fidelium oblationum et decimarum magnam conferre solet copiam. Super qua huiuscemodi cupiditate ducti solent

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schenkte um das Jahr 1000 ein Laie sein Erbteil an dem Zehnten, dem Ackerland und den Oblationen einer im Gau Lyon gelegenen Dionysiuskirche dem Reformkloster Cluny.20 Solche Auswüchse der laikalen Eigenkirchenherrschaft waren neben der bei der Verleihung von Kirchen geübten Simonie und der Priesterehe der Hauptanstoß für die Kirchenreformen des 11. Jahrhunderts.21 In deren Folge wurde im 12. Jahrhundert von der Kanonistik die Rechtsfigur des Patronats geschaffen.22 Sie beließ dem laikalen Kirchenherrn neben bestimmten Ehrenrechten vor allem die Befugnis, den für den Dienst an der betreffenden Kirche ausersehenen Geistlichen zu bestimmen und dem Bischof oder dessen örtlichem Vertreter zur Investitur zu präsentieren. Nutzungsrechte am Kirchengut sollten, von Notfällen abgesehen, ausgeschlossen sein. Doch haben sich die Patrone oft den Genuß von Zehntrechten und weiteren Hebungen vorbehalten.23 Da sich angesichts der Eigenkirchen in der Hand von Klöstern und Stiften noch im 12. Jahrhundert die Lehre durchsetzte, daß auch geistliche Korporationen Patrone seien24, waren sie ebenfalls ordentliche Kollatoren von Pfarrbenefizien. Ein ordentlicher Kollator war derjenige, der als Patron einem Kleriker den Anspruch auf ein Benefizium verlieh (ius ad rem).25 An ihn wandte

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dicere: Ille presbyter multa de mea acquirit ecclesia, quapropter volo, ut de eo, quod de meo acquirit, ad votum meum mihi serviat, sin alias, meam ultra non habebit ecclesiam. Sed et in talibus basilicis constitui non sinunt presbyteros, nisi ab eis munus quod optant accipiant. Zum Laienspiegel des Jonas vgl. Hans Hubert Anton, Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner Historische Forschungen 32) Bonn 1968, S. 213; Isolde Schröder, Zur Überlieferung von De institutione laicali des Jonas von Orléans, in: DA 44 (1988) S. 83–97. A. Bernard u. A. Bruel, Receuil des chartes de l’abbaye de Cluny 3, Paris 1884 (ND 1974), S. 407f. Nr. 2278 (freundlicher Hinweis von Edgar Müller M.A., Göttingen). Vgl. Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche (Die Kirche in ihrer Geschichte F 1) Göttingen 1988, S. 146f., 227–230. Peter Landau, Ius Patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 12) Köln-Wien 1975, S. 11; Ders., Patronat, in: TRE 26, 1996, S. 106–108. Den Begriff ius patronatus prägte um 1164 Rufin, Rufinus von Bologna, Summa decretorum. Hrsg. v. H. Singer, Paderborn 1902 (ND 1963) S. 368f.; zur Datierung von Rufins Summe s. A. Gouron, Sur les sources civilistes et la datation des Sommes de Rufin et d’Étienne de Tournai, in: Bulletin of Medieval Canon Law NS 16 (1986) S. 55–70. Vgl. Brückner, Pfarrbenefizium [I] (wie Anm. 17) S. 231–237. Lateran III (1179) c. 9, Dekrete der ökumenischen Konzilien, besorgt von Guiseppe Alberigo u. a., Bd. 2. Konzilien des Mittelalters: vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517). Hrsg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn u. a. 2000, S. 215–217 ( = X 5.33.3). Vgl. Landau, Ius patronatus (wie Anm. 22) S. 49f.; Ders., Patronat, in: TRE 26, 1996, S. 107. Zum Begriff des ordentlichen Kollators s. Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland (Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland) Bd. 2, Berlin 1878 (ND 1959), S. 649 mit Anm. 5, S. 650 mit Anm. 5. Vgl. Andreas Meyer, Das Wiener Konkordat von 1448 – eine erfolgreiche Reform des Spätmittelalters, in: QFIAB 66 (1986) S. 114; Ders., Der deutsche Pfründenmarkt im Spätmittelalter, in: QFIAB 71 (1991) S. 268f.; Tobias Ulbrich, Päpstliche Provision oder patro-

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sich der eine Pfründe anstrebende Kleriker. Zum Besitz der Pfründe (ius in re) führte erst die Investitur oder Institution durch den kirchlichen Oberen.

I. Im Jahre 1315 resignierte der Ritter Friedrich von Rosdorf (Rosdorf bei Göttingen) dem Erzbischof von Mainz den Patronat der Pfarrkirche in Sieboldshausen.26 Dieser Ort, etwa 9 Kilometer südsüdwestlich von Göttingen gelegen, ist erstmals um das Jahr 981 bezeugt, und zwar durch eine Schenkung des Esikonen Hiddi an Corvey.27 Die Abtei hatte dort noch 1113 Besitz.28 Ein Priester in Sieboldshausen und die Kirche werden 1245 beziehungsweise 1250 genannt.29 In den Jahren 1269 und 1278 wird der Pfarrer in Sieboldshausen erstmals als Erzpriester (archipresbyter) erwähnt, das heißt als der – in südlicheren Mainzer Archidiakonaten sowie in anderen Diözesen »Dekan« genannte30 – regionale Vertreter des

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natsherrliche Präsentation? Der Pfründenerwerb Bamberger Weltgeistlicher im 15. Jahrhundert (Historische Studien 455) Husum 1998, S. 34–37. – Nur die neuzeitliche Terminologie im Auge hat Brigide Schwarz, Römische Kurie und Pfründenmarkt im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Historische Forschung 20 (1993) S. 131: »Die Besetzung der Pfründen war zunächst ein wichtiges Recht – und eine Pflicht – des zuständigen kirchlichen Oberen, des sog. ›ordentlichen Kollators‹«. Manfred von Boetticher (Bearb.), Urkundenbuch des Stifts Hilwartshausen (GöttingenGrubenhagener Urkundenbuch, 4. Abteilung. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 208) Hannover 2001, S. 124 Nr. 147. Einen geschichtlichen Überblick, für den das Urkundenbuch noch nicht zur Verfügung stand, bietet Erwin Steinmetz, Die Kirche in Sieboldshausen. Ein Beitrag zur südniedersächsischen Kirchengeschichte, in: Göttinger Jb. 29 (1981) S. 69–90; zur Baugeschichte s. Klaus Grote, Die Martinskirche in Sieboldshausen. Zur älteren Baugeschichte einer mittelalterlichen Erzpriesterkirche, ebenda, S. 91–124. Traditiones Corbeienses, hrsg. v. Karl August Eckhardt (Studia Corbeiensia II. Bibliotheca rerum historicarum 2) Aalen 1970, S. 374, A § 349, B § 88. Vgl. Reinhard Wenskus, Sächsischer Stammesadel und fränkischer Reichsadel (AbhhAkadWiss Göttingen, 3. Folge, 93) Göttingen 1976, S. 345f. Hans Heinrich Kaminsky, Studien zur Reichsabtei Corvey in der Salierzeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission Westfalens 10. Abhandlungen zur Corveyer Geschichtsschreibung 4) Köln – Graz 1972, S. 247f. Nr. 4. Manfred von Boetticher (Bearb.), Urkundenbuch des Klosters Mariengarten (GöttingenGrubenhagener Urkundenbuch 2. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVII, 8) Hildesheim 1987, S. 31f. Nr. 2, S. 35 Nr. 7. Vgl. Joseph Ahlhaus, Die Landdekanate des Bistums Konstanz im Mittelalter. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Kirchenrechts- und Kulturgeschichte (Kirchenrechtliche Abhandlungen 109–110) Stuttgart 1929 (ND 1961), S. 26f., S. 41–53; Eugen Baumgartner, Geschichte und Recht des Archidiakonates der oberrheinischen Bistümer mit Einschluss von Mainz und Würzburg (Kirchenrechtliche Abhandlungen 39) Stuttgart 1907 (ND 1965) S. 98–112, 136, 140f.; Joseph Machens, Die Archidiakonate des Bistums Hildesheim im Mittelalter. Ein Beitrag zur Rechts- und Kulturgeschichte der mittelalterlichen Diözesen (Beiträge für die Geschichte Niedersachsens und Westfalens, Ergänzungs-Bd. 8) Hildesheim und Leipzig 1920,

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Archidiakons, und zwar hier desjenigen von Nörten, der für den äußersten Norden der Mainzer Diözese zuständig war.31 So wurde der Erzpriester in Sieboldshausen 1278 von dem Archidiakon Lippold von Nörten angewiesen, dem Propst des Zisterzienserinnenklosters Mariengarten die Seelsorge über die Einwohner des bei Sieboldshausen gelegenen Ortes Deiderode zu übertragen.32 1449 beauftragte der Nörtener Offizial den Sieboldshäuser Pleban, den Pfarrer im benachbarten Obernjesa zu investieren.33 Im Jahre 1519 zählten zum Sedessprengel Sieboldshausen 26 Pfarreien, die südlich und südwestlich von Göttingen lagen. Sieboldshausen eingerechnet, zählte der Mainzer Archidiakonat Nörten 1519 zwölf Sedessprengel, darunter Dransfeld westlich Göttingen und Geismar südöstlich der Stadt.34 Daß Sieboldshausen zu den frühen Mainzer Taufkirchen und somit zu den ecclesiae publicae im südlichen Sachsen gehörte35, legen die Funktion als Erzpriestersitz, das 1442 für die Pfarrkirche überlieferte MartinPatrozinium36 und der vom Erzbischof von Mainz ursprünglich zu Lehen gehende Patronat über die Kirche nahe. Daß, wie in Teilen der Mainzer Diözese zu beobachten, auch das Sieboldshäuser Erzpriesteramt durch Wahl seitens der

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S. 38–44; Wilhelm Classen, Die kirchliche Organisation Althessens im Mittelalter samt einem Umriß der neuzeitlichen Entwicklung (Schriften des Instituts für geschichtliche Landeskunde von Hessen und Nassau 8) Marburg 1929, S. 22–33; Georg May, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen, in: Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte. Hrsg. v. Friedhelm Jürgensmeier, Bd. 2: Erzstift und Erzbistum Mainz. Territoriale und kirchliche Strukturen, v. Günter Christ und Georg May (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 6) Würzburg 1997, S. 447–590, hier S. 553–558. UB Mariengarten (wie Anm. 29) S. 48f. Nr. 27 (1269): dominus Rodolfus archipresbiter in Siboldeshusen. – Der Einbecker Archidiakonat, der sich nur über die Stadt und die Stadtflur erstreckte, ist eine im 12./13. Jahrhundert durch Exemtion des Stifts St. Alexandri vom Archidiakonat Nörten entstandene Enklave, Wolfgang Petke, Von der ecclesia Embicensis zum evangelischen Mannsstift: Das Stift St. Alexandri in Einbeck, in: Jb. d. Gesellschaft f. niedersächs. Kirchengeschichte 98 (2000) S.55–88, hier S. 67–69. UB Mariengarten S. 57f. Nr. 42: discreto viro archipresbitero in Siboldeshusen. Nieders. HauptStA Hannover, Cal. Or. 100 Weende Nr. 225a: plebano in Syboldeshusen. Jetzt in Hildegard Krösche u. Hubert Höing (Bearb.), Urkundenbuch des Stifts Weende (Göttingen-Grubenhagener Urkundenbuch 5. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 249) Hannover 2009, S. 231f. Nr. 273. Bruno Krusch, Studie zur Geschichte der geistlichen Jurisdiktion und Verwaltung des Erzstifts Mainz. Commissar Johann Bruns und die kirchliche Eintheilung der Archidiakonate Nörten, Einbeck und Heiligenstadt, in: Zs. d. Hist. Vereins für Niedersachsen 1897, S. 258–263; Karl Kayser, Registrum Subsidii ex Praeposituris Northen et Eimbeck, in: Zs. d. Gesellschaft für nieders. Kirchengeschichte 3 (1898) S. 268–278. Vgl. Alfred Bruns, Der Archidiakonat Nörten (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 17. Studien zur Germania Sacra 7) Göttingen 1967, S. 161–169. Vgl. Bruns, Archidiakonat Nörten (wie Anm. 34) S. 36–40, 45–48. Zu ecclesia publica vgl. Ahlhaus, Landdekanate (wie Anm. 30) S. 19. In der Diözese Hildesheim: DH. III. 279 (1051): in publicis aecclesiarum parrochiis, DH. IV. 206 (1068): in hiis publicis aecclesiarum parroeochiis (!); vgl. Machens, Archidiakonate (wie Anm. 30) S. 42. UB Hilwartshausen (wie Anm. 26) S. 245f. Nr. 286.

Die inkorporierte Pfarrei und das Benefizialrecht

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Pfarrer des Sedesbezirks unter Beibehaltung des hergebrachten Sedes-Namens von einer Pfarrei zur anderen wanderte37, ist nicht bezeugt. Noch im Jahre 1540, als sie der damalige Inhaber resignierte, war Sieboldshausen ertzpreistliche kercke.38 Treibende Kraft, daß Friedrich von Rosdorf im Jahre 1315 den Sieboldshäuser Patronat aufließ, war offenbar das Augustiner-Chorfrauenstift Hilwartshausen. Hilwartshausen, ehedem am linken Ufer der Weser drei Kilometer nördlich des Zusammenflusses von Werra und Fulda im Erzbistum Mainz gelegen, war 960 als Kanonissenstift gegründet worden, befolgte aber seit 1142 die Augustiner-Chorfrauenregel.39 Eine Beurkundung der Übertragung des Sieboldshäuser Patronats an Hilwartshausen seitens des Mainzer Erzbischofs ist nicht überliefert. Jedenfalls verzichteten Seitenverwandte des inzwischen verstorbenen Friedrich von Rosdorf im Jahre 1332 ihrerseits zugunsten des Stifts auf den Patronat40, in dessen Besitz die Augustiner-Chorfrauen Mitte des Jahrhunderts dann auch erscheinen: Vor dem Jahre 1351 hatten Propst und Priorin von Hilwartshausen als Patrone von Sieboldshausen (veri eiusdem ecclesie patroni existentes) nach dem Tode des Pfarrers Dietrich41 fristgerecht dem Offizial des Nörtener Archidiakons einen gewissen Heinrich Rode aus Göttingen zur Einsetzung (institutio) präsentiert. Offiziale haben seit der Mitte des 13. Jahrhunderts an Stelle der Archidiakone deren ordentliche Gerichtsbarkeit ausgeübt.42 Zur Jurisdiktion der Offiziale gehörten die Investituren der Pfarrer, aber auch Urteile über Laien, etwa in Ehefragen oder bei Wucher.43 Der Investitur des Heinrich Rode widersetzten 37 May, Geistliche Ämter (wie Anm. 30) S. 555f.; vgl. auch Bruns, Archidiakonat Nörten (wie Anm. 34) S. 46. 38 UB Hilwartshausen (wie Anm. 26) S. 431f. Nr. 483. 39 Gerhard Streich, Klöster, Stifte und Kommenden in Niedersachsen vor der Reformation (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 30) Hildesheim 1986, S. 81f.; von Boetticher, UB Hilwartshausen (wie Anm. 26) S. 9f. 40 UB Hilwartshausen S. 134 Nr. 160. 41 Dieser dürfte identisch sein mit dem bereits 1311 als Zeuge erwähnten Pfarrer gleichen Namens, UB Mariengarten (wie Anm. 29) S. 111f. Nr. 122: Th[eodericus] plebanus in Syboldeshusen. Vorgänger dieses Dietrich war der 1298 genannte dominus Henricus dictus Scade plebanus in Syboldeshusen, Josef Dolle, Urkundenbuch zur Geschichte der Herrschaft Plesse (bis 1300) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen XXXVII, 26) Hannover 1998, S. 343f. Nr. 361. 42 Vgl. Wolfgang Gresky, Der thüringische Archidiakonat Jechaburg. Grundzüge seiner Geschichte und Organisation (12.–16. Jahrhundert) Sondershausen 1932, S. 35–37; Bruns, Archidiakonat Nörten (wie Anm. 34) S. 86, 91, 97; Winfried Trusen, Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, 1. Bd.: Mittelalter (1100–1500) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte) München 1973, S. 473– 475, 483. 43 Vgl. Hans Jörg Budischin, Der gelehrte Zivilprozeß in der Praxis geistlicher Gerichte des 13. und 14. Jahrhunderts im deutschen Raum (Bonner rechtswissenschaftliche Abhandlungen

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sich zwei Kleriker: Ein gewisser Reinhard von Bilzingsleben (bei Artern) behauptete, vom Mainzer Erzbischof mit der Pfarrei belehnt worden zu sein, und hatte sich in Sieboldshausen bereits häuslich eingerichtet. Die Ansprüche des anderen Klerikers, eines Christian Zimmermann, bleiben dunkel. Jedenfalls hat der Nörtener Offizial – er hieß Dietrich Ruffi (= Rode)44 und war, zuvor Pfarrer an St. Albani vor Göttingen45, vielleicht nicht nur ein Namensvetter – dem von Hilwartshausen präsentierten Heinrich Rode die Investitur verweigert. Dagegen hat Heinrich Rode mit Erfolg an die päpstliche Rota appelliert, das heißt an das höchste kirchliche Gericht, das vor allem mit Pfründenstreitigkeiten befaßt war.46 Der vom Papst beauftragte Rotarichter erkannte 1351 die Ansprüche Rodes als rechtmäßig an – wie üblich ohne die Urteilsgründe anzuführen47 – und investierte ihn mit der Pfarrei durch Überreichung seines Biretts, das zusammen mit dem Mantel (cappa) und dem Rochett eines der drei höchstrichterlichen Würdezeichen war.48 Rodes Widersacher wurden zur Kostenerstattung verurteilt und der unterlegene Reinhard darüber hinaus zum Ersatz für die von ihm seit Beginn der Auseinandersetzung genossenen Pfarrfrüchte in Sieboldshausen. Da der Streit über deren Wert noch anhängig war, hat Clemens VI. im Jahre 1351 auf die Bitte von Rode die Pfarrpfründe von Sieboldshausen solange unter Sequester stellen lassen, bis ein Urteil auch in dieser zweiten Sache gefällt sei.49 Tatsächlich ist Rode dann in den Besitz der Pfarrei gelangt; als deren verstorbener Inhaber wird er 1360 erwähnt.50 Das Stift mag an dem Nutzen dieser Patronatspfarre, um die sich drei Kleriker gestritten hatten, gezweifelt haben, zumal eine Hälfte des Zehnten von Sie-

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103) Bonn 1974, S. 14–21; Winfried Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption (Recht und Geschichte 1) Wiesbaden 1962, S. 34–62. Vgl. UB Göttingen 1 S. 173 Nr. 185 (1351): Thidericus Ruffi, officialis ecclesiae Northunensis …, UB Mariengarten (wie Anm. 29) S. 182f. Nr. 217 (1355): Theoderico dicto Rode, ebenda S. 183–185 Nr. 218 (1355). UB Göttingen 1 S. 135 Nr. 146 (1339), S. 158 Nr. 166 (1346). F. Egon Schneider, Die römische Rota. Nach geltendem Recht auf geschichtlicher Grundlage dargestellt. 1: Die Verfassung der Rota (Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 22) Paderborn 1914, S. 60–62; Knut Wolfgang Nörr, Ein Kapitel aus der Geschichte der Rechtsprechung: Die Rota Romana, in: Ius commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 5 (1975) S. 192–209; Hans-Jörg Gilomen, Die Rotamanualien des Basler Konzils. Verzeichnis der in den Handschriften der Basler Universitätsbibliothek behandelten Rechtsfälle, Tübingen 1998, S. XV–XVIII. Vgl. Nörr, Die Rota Romana (wie Anm. 46) S. 193. Vgl. Hermann Hoberg, Die Rotarichter in den Eidregistern der apostolischen Kammer von 1347–1494, in: QFIAB 34 (1954) S. 161. UB Hilwartshausen S. 159–161 Nr. 196. Die zur Sequestration angeführte Konstitution Clemens’ V. ist Clem. 2.6. c. un. (= Friedberg 2, Sp. 1146). UB Hilwartshausen S. 176f. Nr. 219 (1360): … quam quondam Henricus Rufi (= Rode) ultimus eiusdem ecclesie rector dum viveret obtinebat, per ipsius Henrici obitum … vacare noscatur…

Die inkorporierte Pfarrei und das Benefizialrecht

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boldshausen seit dem Jahre 1300 dem Kloster Mariengarten gehörte.51 Jedenfalls ließ es sich die Pfarrei im Jahre 1357 von Erzbischof Gerlach von Mainz inkorporieren.52 Es machte sich damit ein Rechtsverhältnis zunutze, das sich seit dem 11. Jahrhundert entwickelt hatte. Damals waren die Pfarrbenefizien an klösterlichen Eigenkirchen soweit gefestigt, daß zuerst nordfranzösische Klöster damit begonnen haben, sie sich bei sich bietender Gelegenheit von den Ortsbischöfen inkorporieren zu lassen.53 Der Zweck der Inkorporation bestand darin, dem begünstigten Institut in vermögensrechtlicher Hinsicht einen Vorteil zu verschaffen. Durch die Einverleibung trat das Stift oder das Kloster in die Stellung des Pfarrherrn an der betreffenden Pfarrkirche ein und erhielt das dauerhafte Nutzungsrecht an der Pfarrpfründe. Innozenz IV. erfaßte um 1245 das Rechtsverhältnis mit der juristischen Fiktion, daß das begünstigte Institut als Prälat der inkorporierten Kirche vorgestellt werde.54 Die Seelsorge an der inkorporierten Pfarrkirche versah ein vom Kloster dem kirchlichen Oberen zu präsentierender Vikar. Für dessen Unterhalt wurde ein geringerer – und oft ein allzu geringer – Teil der Pfarreinkünfte reserviert; für diese aus dem Pfründengut ausgeschiedene Vikarspräbende wurde nach entsprechenden Dekretalen Alexanders III. und Innozenz’ III. mit dem IV. Laterankonzil von 1215 die Bezeichnung portio congruens und bald Kongrua gebräuchlich.55 In den rechtsrheinischen deutschen Bistümern wurden Inkorporationen im 12. Jahrhundert nur selten gewährt. Dem Augustiner-Chorherrenstift Fredelsloh sind 1142 die beiden Sedes-Kirchen Stöckheim nordnordwestlich von Northeim und (Mark) Oldendorf westlich von Einbeck einverleibt worden56, dem Augus51 UB Göttingen 1 S. 38f. Nr. 51; UB Mariengarten (wie Anm. 29) S. 80f. Nr. 78. 52 UB Hilwartshausen S. 167–169 Nr. 208. 53 Vgl. Wolfgang Petke, Von der klösterlichen Eigenkirche zur Inkorporation in Lothringen und Nordfrankreich, in: Revue d’Histoire Ecclésiastique 87 (1992) S. 34–72, 375–404; Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 191–248; Benoît-Michel Tock, Altare dans les chartes françaises antérieures à 1121, in: Roma, magistra mundi. Itineraria culturae medievalis. Mélanges offerts au Père L.E. Boyle à l’occasion de son 75e anniversaire (Textes et Études du Moyen Âge 10,2) Louvain-La-Neuve 1998, S. 901–926, hier S. 917–921; Ulrich Rasche, Vom consilium modernius zur res exosa. Die Kircheninkorporation in England im 12. und 13. Jahrhundert, in: ZRG 115 KA 84 (1998) S. 1–93; Ders., The early phase of appropriation of parish churches in Medieval England, in: Journal of Medieval History 26 (2000) S. 213–237; Ders., Inkorporation, in: RGG 4. Aufl. Bd. 4, 2001, Sp. 143. 54 Innocentii quarti pontificis maximi super libros quinque decretalium, c. 31 (In Lateranensi X 3.5) de praebendis v. pleno, Francofurti ad Moenum, 1570, S. 366va: sed tantum alia ecclesia fingitur praelatus illius ecclesiae. Vgl. Peter Landau, Inkorporation, in: TRE 16 (1987) S. 164. 55 X 3.5.12 (1164–79). X 3.5.10 (1180). X 1.10.2 (1199). X 3.5.30 (= c. 32 von Lateran IV). Vgl. Julius Bombiero-Kremenac´, Geschichte und Recht der »portio congrua« mit besonderer Berücksichtigung Österreichs, in: ZRG 42 KA 11 (1921) S. 31–124, hier S. 41–51. 56 UB Mainz 2,1 S. 166 Nr. 86. Vgl. die Bestätigung von 1155, UB Mainz 2,1 S. 378 Nr. 209. Wiederabdruck der Urkunden bei Manfred Hamann (Bearb.), Urkundenbuch des Stifts Fredelsloh (Göttingen-Grubenhagener Urkundenbuch 1. Veröffentlichungen der Histori-

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tinerstift Ahnaberg in Kassel im Jahre 1152 die Cyriakuskirche der Stadt.57 In der Diözese Hildesheim wurden die Bischöfe seit dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts vereinzelt um Inkorporationen gebeten; hier wurden Inkorporationen aber erst seit um 1300 in größerem Maße üblich.58 Die Initiative ergriffen durchweg die Klöster. Sie hatten für die Inkorporationsurkunden nicht nur zu bezahlen59, sondern sie hatten als hinreichenden Grund für die von ihnen gewünschte Unierung wirtschaftliche Probleme anzuführen. Dabei wurden ökonomische Engpässe keineswegs nur vorgeschützt.60 Kloster Derneburg war 1328 genötigt, zur Bezahlung der neuerlichen Inkorporation der Pfarrkirche von Holle bei zweien seiner Konventualinnen ein Darlehen von 27 Mark aufzunehmen61, und Hilwartshausen erwirkte 1359 – zwei Jahre nach der gleichfalls mit Mangel (inopia) begründeten Inkorporation von Sieboldshausen – vom Mainzer Diözesanherrn einen numerus maximus (clausus) bei der Zahl von 50 Chorfrauen: Wegen des Druckes des Adels und anderer Personen sei die Zahl der Insassen so sehr angewachsen, daß die Einkünfte des Stiftes zu deren angemessenem Unterhalt nicht mehr ausreichten.62 Durchaus um den Lebensunterhalt des künftigen Vikars in Sieboldshausen besorgt, hat Erzbischof Gerlach bereits in seiner Inkorporationsurkunde vom 12. Oktober 1357 den Auftrag an den schon erwähnten Nörtener Offizial Dietrich Rode formuliert, zusammen mit einem Uslarer Pfarrer die Einkünfte der Pfarrei zu ermitteln und sodann die Kongrua festzulegen, aus der, wie vielfach üblich63,

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schen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVII, 6) Hildesheim 1983, S. 22–24 Nr. 5 (1142), S. 29–31 Nr. 14 (1155). UB Mainz 2,1 S. 324ff. Nr. 174. UB HHild 2 S. 27f. Nr. 55 (1222–1224, Holle-Derneburg), S. 215f. Nr. 456 (1236, Dorstadt). Es handelt sich um die beiden frühesten Inkorporationen in der Diözese Hildesheim. Häufiger wurden sie hier erst seit um 1300: UB HHild 3 S. 538 Nr. 1093 (1296), S. 708 Nr. 1481 (1304), S. 710f. Nr. 1487 (1304), S. 767 Nr. 1619 (1307). UB HHild 4 S. 545ff. Nr. 1002 (1328), S. 547f. Nr. 1003. Vgl. Joseph Ahlhaus, Geistliches Patronat und Inkorporation in der Diözese Hildesheim im Mittelalter, Freiburg i. Br. 1928, S. 155. – Über Taxen und Gebühren für die auch im Norden seit der Wende zum 14. Jh. in Gebrauch kommenden Notariatsinstrumente s. Peter-Johannes Schuler, Geschichte des südwestdeutschen Notariats. Von seinen Anfängen bis zur Reichsnotariatsordnung von 1512 (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg/Br. 39) Bühl 1976, S. 160–171. Vgl. Bombiero-Kremenac´ (wie Anm. 55) S. 66 Anm. 1. UB HHild 4 S. 545ff. Nr. 1002 (1328), S. 547f. Nr. 1003. UB Hilwartshausen S. 175f. Nr. 218. Marienroder Urkundenbuch. Hrsg. v. Wilhelm von Hodenberg (Calenberger UB 4) Hannover 1859, S. 365–367 Nr. 341 (Bischof Heinrich von Hildesheim, 1355); Fritz Vigener (Bearb.), Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289–1396. 2. Abt. Bd. 1 (1354–1371) Leipzig 1913, S. 322 Nr. 1449 (Erzbischof Gerlach für Kloster Reifenstein, 1361); Thomas Frenz, Die Inkorporation der Pfarreien Neunkirchen bei Miltenberg (1419/1423) und Kahl am Main (1502/1503) in das Aschaffenburger Kollegiatstift, in: Aschaffenburger Jb. 7 (1981) S. 47 (Erzbischof Johannes von Mainz, 1419), S. 69 (Erzbischof Berthold von Henneberg,

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der Priester auch die Abgaben an den Archidiakon oder auch erzbischöfliche Subsidien und andere erzbischöfliche Forderungen zu bestreiten habe. Bevor die Kongrua nicht fixiert sei, dürfe das Stift sich keinesfalls der Einkünfte der Pfarrei bemächtigen.64 Der Nörtener Offizial und der Uslarer Pfarrer wurden binnen zweier Monate tätig. Am 11. Dezember 1357 wiesen sie einem künftigen Vikar alle Opfergaben der Gläubigen zu, alle Stolgebühren, anderthalb Hufen Landes und die Hälfte des Pfarrhofes.65 Anderthalb Hufen waren nicht viel. So muß man annehmen, daß die an erster Stelle genannten Oblationen, das heißt die bei der Messe vor allem an den vier Hochfesten von den Gläubigen auf dem Altar dargebrachten Gaben an Naturalien oder Geld, den Hauptteil der Einkünfte des Vikars ausmachen sollten66, zumal in anderen Kongrua-Festsetzungen ein Vikar oft nur höchstens ein Drittel der Oblationen empfing, während der überwiegende Rest dem Inkorporationsherrn zufiel.67 Bereits einige Tage vorher, am 7. Dezember 1357, hatte sich Hilwartshausen verpflichtet, aus Dank für die Inkorporation jährlich zwei Pfund Wachs für die Beleuchtung des Mainzer Doms beizusteuern.68 Das entsprach einer im Erzbistum Mainz gut einhundert Jahre alten Gewohnheit. Spätestens im Jahre 1257 war es üblich geworden, Jahr für Jahr einen Zins von denjenigen Klöstern zu fordern, denen eine Kirche inkorporiert worden war. Eine im Jahre 1292 errichtete Lichterordnung für den Mainzer Dom bestritt den Bedarf an Kerzen zum überwiegenden Teil aus Wachs, das jene Klöster an die Domfabrik liefern mußten, die durch Inkorporationen begünstigt worden waren.69 – Am 20. April 1359 schließlich hat Erzbischof Gerlach die Kongrua-Festsetzung bestätigt.70

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1502). Vgl. Carola Brückner, Das ländliche Pfarrbenefizium im hochmittelalterlichen Erzbistum Trier [II], in: ZRG 116 KA 85 (1999) S. 327f. UB Hilwartshausen S. 167–169 Nr. 208. UB Hilwartshausen S. 170f. Nr. 211: … videlicet oblationes cum pertinentiis altaris, unum mansum cum dimidio et dimidietatem curie dotis, quod proprie dicitur ansedel, cum talibus aliis redditibus et proventibus … Vgl. Wolfgang Petke, Oblationen, Stolgebühren und Pfarreinkünfte vom Mittelalter bis ins Zeitalter der Reformation, in: Hartmut Boockmann (Hrsg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts (AbhhAkadGöttingen, Phil.-hist. Kl., 3, 206) Göttingen 1994, S. 26–58; Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 249–283; Brückner, Pfarrbenefizium [I] (wie Anm. 17) S. 248–260; Stefan Petersen, Benefizientaxierungen an der Peripherie. Pfarrorganisation, Pfründeneinkommen, Klerikerbildung im Bistum Ratzeburg (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 166. Studien zur Germania Sacra 23) Göttingen 2001, S. 103–108. Petke, Von der Eigenkirche zur Inkorporation (wie Anm. 53) S. 394f.; Petke, Oblationen (wie Anm. 66) S. 37f.; Brückner, Pfarrbenefizium [I] (wie Anm. 17) S. 187f., 252–255. UB Hilwartshausen S. 170 Nr. 210. Hess. StA Darmstadt, Abt. C 1, B Nr. 38, Ordinacio de luminibus, vgl. Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt 5. Handschriften (Abt. C 1), Urkundensammlungen und Kopiare, Kanzleibücher, historiographische, personengeschichtliche und heraldische Quellen, bearb. v. Friedrich Battenberg, Darmstadt, 3. Aufl. 1990, S. 100 Nr. 266 (freundlicher

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Propst Gumpert von Hilwartshausen, der 1358 von Innozenz VI. seinem Stift ein Exekutionsmandat zur Wiederbeschaffung entfremdeter Güter beschafft hatte, der sich im selben Jahr für sich und seine Pfründeninhaber einen privilegierten Gerichtsstand von Herzog Ernst von Braunschweig-Göttingen hatte verbriefen lassen71 und der – wie erwähnt – 1359 zumindest theoretisch einen numerus clausus für Hilwartshausen durchzusetzen verstand, mochte sich zufrieden zurückgelehnt und im Blick auf die Inkorporation von Sieboldshausen nur noch auf das Ableben des dortigen Pfarrers Heinrich Rode gewartet haben. Aber dabei hat er sich etwas zu viel Zeit gelassen. Denn unversehens sahen er und sein Stift sich bezüglich der Pfarrei von Sieboldshausen im Räderwerk des päpstlichen Benefizialrechts. In Gang gesetzt hat dieses Werk nicht etwa die päpstliche Kurie in Avignon, sondern ein Kleriker von der Peripherie72, ein gewisser Johannes Wigand. Er stammte wie Rode aus Göttingen; denkbar, daß er ein Verwandter des Göttinger Ratsherrn Tile Wigand (1383–1391) war.73 Am 14. Oktober 1360 befahl Innozenz VI. dem Abt von Hersfeld und den Dekanen der Stifte Heiligenstadt und Einbeck als Exekutoren, diesen Johannes Wigand aus Göttingen mit Sieboldshausen zu investieren. Die Pfarre, die von Hilwartshausen besetzt gehalten werde (occupatam), sei nach dem Tod des Heinrich Rode so lange vakant geblieben, daß ihre Übertragung gemäß den einschlägigen Kanones des (Dritten) Laterankonzils an den apostolischen Stuhl gefallen sei.74 Legt man eine Devolutionsfrist von 18 Monaten, das heißt von je sechs Monaten zugrunde, nach denen das Kollaturrecht vom Stift an die je nächst höheren

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Hinweis von Edgar Müller M.A., Göttingen). Die älteste der in dem Libell verzeichneten Urkunden (fol. 8r–v) stammt 1257 von (Spies-) Kappel; die jüngsten Urkunden (fol. 20v–21r), ausgefertigt von Blankenheim bei Hersfeld, Ettersburg bei Weimar und Marienborn bei Büdingen, datieren von 1342, vgl. Heinrich Otto, Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289–1396, Bd.1,2, Darmstadt 1932–1935, S. 392 Nr. 4723, Nachbemerkung (zu Marienborn), S. 402f. Nr. 4779 (zu Ettersburg). – Die Hilwartshäuser Urkunde wird von dem Darmstädter Libell, der rund 80 Inkorporationen verzeichnet – u. a. fol. 10v zugunsten von Teistungenburg (1301) und Beuren (1301), fol. 12v zugunsten von Northeim (1313), fol. 13r zugunsten von St. Alexandri in Einbeck (1316), fol. 17v und 18r von Katlenburg (1337) –, nicht mehr erfaßt. UB Hilwartshausen S. 174f. Nr. 217. UB Hilwartshausen S. 173 Nr. 215. Über das päpstliche Zentrum und »die Peripherie« s. Dieter Brosius, Kurie und Peripherie – das Beispiel Niedersachsen, in: QFIAB 71 (1991) S. 325–339; Arnold Esch, Rom und Bursfelde: Zentrum und Peripherie, in: Lothar Perlitt (Hrsg.), 900 Jahre Kloster Bursfelde. Reden und Vorträge zum Jubiläum 1993, Göttingen 1994, S. 31–57. UB Göttingen 1 S. 429. Der Ratsverwandte Hans Wigand kaufte 1435 einen Göttinger Burgmannenhof, Arend Mindermann, Adel in der Stadt des Spätmittelalters. Göttingen und Stade 1300 bis 1600 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 35) Bielefeld 1996, S. 44. UB Hilwartshausen S. 176f. Nr. 219: … tanto tempore vacaverit, quod eius collatio est ad sedem apostolicam iuxta Lateranensis statuta concilii legitime devoluta … Vgl. Lateran III c. 3, 8, 17 (wie Anm. 24) S. 212, 215, 220 = X 1.6.7 (= Friedberg 2, Sp. 51f.), X 3.8.2 (= Friedberg 2, Sp. 488), X 3.38.3 (= Friedberg 2, Sp. 610).

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kirchlichen Oberen fiel, also an den Erzbischof, in diesem Fall dann an das Domkapitel und schließlich an den Papst75, dann könnte die Vakanz in Sieboldshausen spätestens in der ersten Hälfte des Jahres 1359 eingetreten sein. Wie erwähnt, hatte Erzbischof Gerlach am 29. April 1359, und zwar in Eltville, die Kongrua für den Sieboldshäuser Vikar bestätigt. Vielleicht hat sich Propst Gumpert erst anläßlich des Todes des Pfarrers Heinrich Rode und, wie sich dann zeigte, zu spät darum bemüht. Aufmerksam muß der Kleriker Johannes Wigand von Göttingen das Geschehen auf der Sieboldshäuser Pfarre verfolgt und sodann in Avignon die Dinge – wie so viele andere Petenten76 – in seinem Sinne vorgetragen haben: Die Pfarrei sei wegen zu langer Vakanz devolviert. Davon, daß Hilwartshausen mit dem Tode Rodes dank der Inkorporation selber zum Pfarrer, zum parochus habitualis von Sieboldshausen geworden war und somit nicht die Pfarrei, sondern nur die dortige Vikarspräbende der Devolution verfallen sein konnte, ist in der Provision nicht die Rede. Wigand legte das päpstliche Exekutionsmandat dem zwischenzeitlich zum subdelegierten Exekutor ernannten Scholaster des Erfurter Severistiftes vor.77 Dieser beauftragte am 7. Mai 1361 den Pfarrer in Kerstlingerode bei Göttingen (rector ecclesie parrochialis in Kerstelingerade), einen gewissen Ludolf Wigand – möglicherweise einen nahen Verwandten des Johannes Wigand –, dieser möge den Hilwartshäuser Propst Dietrich von Edesheim sowie dessen Vorgänger Gumpert von Immenhausen nebst der Priorin auf den 4. Juni 1361 nach Erfurt laden, damit diese dort zur Provision Wigands gehört werden könnten.78 Die Vorsteher des Stiftes dürften sich die Augen gerieben haben. Und nicht nur das! Obwohl Einzelheiten des Exekutionsprozesses nicht weiter über75 Vgl. Hinschius, Kirchenrecht (wie Anm. 25) Bd. 3, Berlin 1883 (ND 1959), S. 46, 103, 167f.; Godehard Josef Ebers, Das Devolutionsrecht, vornehmlich nach katholischem Kirchenrecht (Kirchenrechtliche Abhandlungen 37–38) Stuttgart 1906, S. 172–174, 180–184, 285; Andreas Meyer, Zürich und Rom. Ordentliche Kollatur und päpstliche Provision am Frau- und Großmünster 1316–1523 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 64) Tübingen 1986, S. 26f. Zum Devolutionsweg s. Ludwig Schmitz-Kallenberg, Practica Cancellariae Apostolicae saeculi XV. exeuntis. Ein Handbuch für den Verkehr mit der päpstlichen Kurie, Münster 1904, S. 10. 76 Vgl. Meyer, Zürich und Rom (wie Anm. 75) S. 111–114, wonach gerade in Devolutionsfällen die Supplizierenden es mit der Wahrheit keinesfalls so genau nahmen. 77 Zum Exekutionsprozess vgl. Meyer, Zürich und Rom (wie Anm. 75) S. 78f.; B. Schwarz, Römische Kurie und Pfründenmarkt (wie Anm. 25) S. 139. 78 UB Hilwartshausen S. 178–180 Nr. 221. Kerstelingerade ist, da es über eine Pfarrkirche verfügt, Kerstlingerode im Gartetal und nicht das eine dem hl. Jodocus geweihte Kapelle aufweisende (wüst) Kerstlingerode im Hainholz östlich Göttingen; zur Wüstung vgl. Malte Prietzel, Wüsten-Kerstlingerode – hoc desertum. Der spätmittelalterliche Wüstungsprozeß aus der Sicht von Betroffenen, in: Göttinger Jb. 38 (1990) S. 59–64; Erhard Kühlhorn, Die mittelalterlichen Wüstungen in Südniedersachsen, Bd. 2 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 34,2) Bielefeld 1994, S. 288–291 Nr. 207.

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liefert sind, steht fest, daß die Mühen und Kosten, die Hilwartshausen in die Inkorporation investiert hatte, umsonst gewesen waren. Denn Johann Wigand von Göttingen wurde tatsächlich Pfarrer von Sieboldshausen und sollte das dann für fast 40 Jahre auch bleiben. Am 21. September 1400 verzichtete er als verus rector dicte parrochialis ecclesie in Syboldeshusen auf die Pfarrei79 und war 1401 Kanoniker am Heiligkreuzstift in Nordhausen.80 Daß die Meßstiftungen, mit denen er 1395 die Chorfrauen bedachte81, und eine Rentenstiftung aus dem Jahre 1401, die erst nach seinem Tode wirksam werden sollte, den durch seine Usurpation der Pfarrei verursachten Schaden aufgewogen hätten, darf füglich bezweifelt werden.

II. Wohl gewitzt durch die Erfahrungen mit diesem Pfarrer, ließ der Hilwartshäuser Propst Johannes Gröner vor dem Jahre 1400 die Pfarrei von Bonifaz IX. dem Stift erneut inkorporieren.82 Offenbar hatte der Propst von der Kanzleiregel dieses Papstes gehört, die 1397 für die Dauer von dessen Pontifikat den Bischöfen die Gewährung von Inkorporationen untersagte.83 So wandte sich Gröner nicht an den Mainzer Erzbischof als den ordinarius loci, sondern direkt an den Papst. Mit dessen Urkunde scheinbar aufs Beste gerüstet, hat sich Gröner im Jahre 1400/ 1401 nach Sieboldshausen begeben und dort einen Gottfried Ordenberg aus (Hof-) Geismar, einen Kapellan des Stifts, als Vikar eingeführt. Ordenberg amtierte eine Zeit lang, wurde dann aber von nicht namentlich genannten Feinden des Klosters vertrieben.84 Diese Widersacher waren ganz offensichtlich benach79 80 81 82

UB Hilwartshausen S. 202–204 Nr. 246. UB Hilwartshausen S. 200–202 Nr. 245; UB Göttingen 2 S. 2f. Nr. 3. UB Hilwartshausen S. 188f. Nr. 235. UB Hilwartshausen S. 197 Nr. 242a (vor 1400 Sept. 21, Deperditum); vgl. ebenda S. 203 Nr. 246. Die Inkorporation durch Bonifaz IX. wird eingehender als in UB Hilwartshausen Nr. 246 referiert in der Hilwartshäuser Supplik vom 2. Dezember 1447, Archivio Segreto Vaticano, Reg. Suppl. 421f. 187v–188r, vgl. Repertorium Germanicum Bd. 6, Nikolaus V. (1447–1457). Bearb. v. Josef Friedrich Abert (†) u. Walter Deeters, Tübingen 1985, Nr. 2268, und unten bei Anm. 113. 83 Emil von Ottenthal, Die päpstlichen Kanzleiregeln von Johannes XXII. bis Nicolaus V., Innsbruck 1888, S. 70 Nr. 59 (1397). Die Konstitution desselben Papstes vom 22. 12. 1402, ebenda S. 74f. Nr. 70, kassierte dann auch noch jene Inkorporationen, die von Bonifaz selber, von dessen Vorgänger Urban VI. und jedwedem Bischof gewährt worden waren, soweit sie noch keine Rechtskraft erlangt hatten, vgl. Gerd Tellenbach, Repertorium Germanicum Bd. 2 (1378–1415), Berlin 1933–1938, S. 31* f. Damit hat gegen Frenz, Inkorporation (wie Anm. 63) S. 43 Anm. 33, Bonifaz keineswegs alle unter ihm und Urban VI. gewährten Inkorporationen aufgehoben. 84 UB Hilwartshausen S. 202f. Nr. 246.

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barte Adelige, die dem Stift die Pfarrei streitig machten. Jedenfalls verzichtete im Jahre 1402 Günther von Boventen (nördl. Göttingen) auf Ansprüche, die er auf den Patronat der Kirche von Sieboldshausen geltend gemacht hatte.85 – Bereits am 20. November 1401 war der Propst abermals in Sieboldshausen, um als neuen Vikar vor der versammelten Gemeinde nun den stiftischen Kapellan Johann Rudolfi von Grevenstein zu introduzieren. Der Kapellan wurde mit den priesterlichen Gewändern bekleidet, trat an den Altar und begann mit dem Singen der Messe. Unter der Messe traten Männer und Frauen zum Opfergang heran und legten der Sitte gemäß ihren Opferpfennig auf den Altar. Damit war der Priester feierlich und förmlich als Herr der Gemeinde angenommen. Unterblieben waren freilich die Proklamation und die Investitur durch den Offizial des Nörtener Archidiakons. Entweder handelte der Hilwartshäuser Propst in dessen Auftrag oder, was wahrscheinlicher ist, einfach auf eigene Faust. Für ein knappes halbes Jahrhundert scheint Hilwartshausen seine Pfarrei ungestört besessen zu haben. Daß es sich um eine inkorporierte Pfarrei handelte, blieb unstreitig. Im Jahre 1433 wurde lediglich die Abschichtung der Kongrua aufgehoben. Der in Sieboldshausen amtierende Priester genoß von nun an die ganze Pfründe, zahlte aber dafür dem Stift einen Zins von jährlich zwölf Göttinger Mark. Die Baulast für das Pfarrhaus – vielfach ein Streitpunkt zwischen Pfarrer, Patron und Gemeinde86 – sollte zwischen ihm und dem Stift geteilt werden.87 Schon seit dem 13. Jahrhundert sind Zinszahlungen seitens der Vikare bei im übrigen vollständigem Bezug der Früchte des Pfarrbenefiziums gelegentlich vereinbart worden.88 Der vicarius perpetuus an der dem Zisterziense85 UB Hilwartshausen S. 204f. Nr. 247. 86 Osnabrücker UB 2, 1896 (ND 1969), S. 187f. Nr. 241 (1229, Baulast bei der Gemeinde); Bremisches UB 3 S. 5f. Nr. 6 (Provinzialkonzil 1351, Baulast bei der Gemeinde). – HorstRüdiger Jarck, Urkundenbuch des Augustinerchorfrauenstiftes Marienberg bei Helmstedt (Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Landesgeschichte 32. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVII, 24) Hannover 1998, S. 435f. Nr. 494 (1501, Baulast bei dem an der dem Stift inkorporierten Pfarrei Ochsendorf funktionierenden Vikar); UB Mariengarten (wie Anm. 29) S. 326 Nr. 364 (1521, Baulast beim Vikar an der dem Kloster Mariengarten inkorporierten Pfarrei St. Johannis in Dransfeld); Dominikus Lindner, Inkorporation und Baulast im Bistum Regensburg. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, München 1955, S. 2 (1373, Baulast beim Vikar). – Über die Baulast in der Neuzeit vgl. Thomas Spohn, Rahmenbedingungen des Pfarrhausbaus, in: Ders. (Hrsg.), Pfarrhäuser in Nordwestdeutschland (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 100) Münster u. a. 2000, S. 11–29, hier S. 12–17. Zur Baulast des Patrons vgl. Bernd-Wilhelm Linnemeier, Von der »Wehme« zur »Pfarrdienstwohnung«, in: ebenda, S. 387–423, hier S. 389f. 87 UB Hilwartshausen S. 237 Nr. 278. Der hier genannte Priester Johann Alpreis (= Alberti) ist noch 1440 in Sieboldshausen bezeugt, UB Göttingen 2, S. 158 Nr. 193. 88 Heike Johanna Mierau, Vita communis und Pfarrseelsorge. Studien zu den Diözesen Salzburg und Passau im Hoch- und Spätmittelalter (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 21) Köln u. a. 1997, S. 179 (1260); Bombiero-Kremenac´ (wie

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rinnenkloster Mariengarten 1318 inkorporierten Johanniskirche in Dransfeld wurde 1319 zu einer jährlichen Zinszahlung von zwei Mark verpflichtet.89 Das Kloster Höckelheim bei Northeim bezog 1337 von der ihm einverleibten Pfarrei Weißenwasser einen Jahreszins.90 Dem Zisterzienserkloster Marienrode wurde 1355 vom Hildesheimer Bischof freigestellt, ob es an den ihm inkorporierten Stadtpfarrkirchen von Alfeld und Bockenem eine Kongrua ausweisen oder aber je einen Zins festlegen wollte.91 Als Muster für die Erhebung einer Pension aus inkorporierten Pfarreien könnten die seit dem 14. Jahrhundert verbreiteten Absenzverträge gedient haben. Sie sahen vor, daß der Vikar, der anstelle eines nicht residierenden Pfarrherrn die Pfarrei versah, diesem eine vereinbarte Pension zahlte:92 die im 15. und 16. Jahrhundert oft genannte Absenz.93

III. Im November des Jahres 1442 erhielt der in Sieboldshausen amtierende Priester Johannes Uslar – möglicherweise derselbe hatte sich 1425 angeblich unrechtmäßig in den Besitz der Pfarrei Grone bei Göttingen gesetzt94 – unliebsamen Besuch. Bei ihm erschien der Hildesheimer Kleriker Dietrich Lange nebst einigen Begleitern. Lange, der aus Bockenem stammte95 und sich 1436 an der Universität Erfurt immatrikuliert hatte96, wies Urkunden des Basler Konzils (1431–1449) vor,

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Anm. 55) S. 69 Anm. 2 (1348); UB Hamburg 1 S. 632 Nr. 769 (1277, pensio aus der der Hamburger Domkantorei inkorporierten Kirche Rellingen). Vgl. Dominikus Lindner, Die Inkorporation im Bistum Regensburg während des Mittelalters, in: ZRG 68 KA 37 (1951) S. 218f. UB Mariengarten (wie Anm. 29) S. 121 Nr. 137, S. 125 Nr. 144, Nr. 145. Müller, Die Kapläne der Herren von Plesse (wie Anm. 4) S. 139 mit Anm. 54. Marienroder Urkundenbuch (wie Anm. 63) S. 365–367 Nr. 341 (1355). In Alfeld gab es 1491 Streit um die Pension, Nikolaus Hilling, Die römische Rota und das Bistum Hildesheim am Ausgang des Mittelalters (1464–1513) (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 6) Münster 1908, S. 86 Nr. 31. UB Stadt Lübeck 2,2, Lübeck 1858, S. 831 Nr. 900 (1348); Meklenburgisches UB 10, Schwerin 1877, S. 235 Nr. 6908 (1349) (freundliche Hinweise von Bengt Büttner M.A., Göttingen). Vgl. Gerhard Kallen, Die oberschwäbischen Pfründen des Bistums Konstanz und ihre Besetzung (1275–1508) (Kirchenrechtliche Abhandlungen 45–46) Stuttgart 1907, S. 27; Joh. B. Götz, Das Pfarrbuch des Stephan May in Hilpoltstein vom Jahre 1511 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 47–48) Münster 1926, S. 14f. Reformation Kaiser Siegmunds. Hrsg. v. Heinrich Koller (MGH. Staatsschriften des späteren Mittelalters 6) Stuttgart 1964, S. 141. – Daß die Pensionen (Absenzen) zu hoch seien, wurde 1521 und 1522 in den Gravamina der Reichsstände beklagt, s. unten bei Anm. 179, 180. Repertorium Germanicum Bd. 4, Martin V. (1417–1431). Erster Teilbd. (A–H). Bearb. v. Karl August Fink, Berlin 1943, S. 560 s.v. Degenhardus Borchardi. UB Hilwartshausen S. 332 Nr. 367 (1489): Diderick Langen zeliger von Bocleheim. Hermann J. C. Weissenborn, Acten der Erfurter Universitaet 1 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 8, 1) Halle 1881, S. 168 Z. 17f.: Theodericus Lange de Bokinnom.

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die ihn – Lange – mit der Pfarrei Sieboldshausen providierten.97 Auf welche der vier im Prinzip in Frage kommenden Rechtsgründe diese Provision sich stützte – auf die zur Expektative führende Prävention oder aber auf die Konkurrenz, auf die Reservation oder die Devolution98 –, ist nicht bekannt. Angeblich, so das darüber am 30. November auf dem Pfarrhof ausgefertigte Notariatsinstrument, gab Johannes Uslar jedenfalls sogleich nach, willigte in die Räumung der Pfarre ein und händigte dem unterfertigenden Notar die Kirchenschlüssel aus. Dieser öffnete die Kirchentür und geleitete Lange in Anwesenheit des Pfarrvolkes und der Kirchenpfleger in das Gotteshaus. Zum Zeichen der Inbesitznahme des Amtes führte er Langes Hand auf eine Seite des Hochaltars99 – die Investitur eines Klerikers mit dem Pfarramt durch die Auflegung von dessen Hand auf die rechte Seite des Altars, also auf die Evangelien- und Kelchseite, ist auch sonst bezeugt100 – und erklärte ihn vor der Gemeinde zum wirklichen Pfarrer (verus pastor). Beim Verlassen der Kirche wurden Lange die Kirchenschlüssel übergeben. Dieser verriegelte die Kirchentür und reichte die Schlüssel an den anwesenden Küster weiter. Darauf folgten die Inbesitznahme von Pfarrhof und Pfarrhaus und der Befehl an die auch dabei anwesende Gemeinde, Lange als

97 UB Hilwartshausen S. 245f. Nr. 286. Zur Urkundenproduktion des Basler Konzils vgl. zum Beispiel Brigide Schwarz, Regesten der in Niedersachsen und Bremen überlieferten Papsturkunden 1198–1503 (Veröffentlichungen der Hist. Komm. für Niedersachsen und Bremen XXXVII, 15) Hannover 1993, S. 390 Nr. 1560 – S. 415 Nr. 1667. 98 Meyer, Zürich und Rom (wie Anm. 75) S. 26–49; Ders., Der deutsche Pfründenmarkt (wie Anm. 25) S. 270; Ders., Spätmittelalterliches Benefizialrecht im Spannungsfeld zwischen päpstlicher Kurie und ordentlicher Kollatur. Forschungsansätze und offene Fragen, in: Stanley Chodorow (Hrsg.), Proceedings of the Eigth International Congress of Medieval Canon Law (Monumenta iuris canonici, Series C: Subsidia 9) Città del Vaticano 1992, S. 249; B. Schwarz, Römische Kurie und Pfründenmarkt (wie Anm. 25) S. 132f. 99 UB Hilwartshausen S. 246 Nr. 286: In signum vere possessionis cornu summi altaris eidem in manus tradidi et eundem ibidem vulgo tunc presente, quantum in me fuerat, pro vero pastore publicavi. 100 J[osef] M[üller], Zwei Installationsformulare für geistliche Pfründen aus dem XV. Jahrhundert, in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 3 (1909) S. 151–153: Und denn so nimpt úch der tegan bi der rechten hand und fürt úch zü der rechten siten des fronaltars, und …..úwer rechte hand uff den altar … (freundlicher Hinweis von Dr. Sabine Arend, Heidelberg). Vgl. Dieter Michael Feineis, Der Ablauf der Besetzung einer Pfarrei im Erzbistum Mainz im 15. Jahrhundert, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 61 (1999) S. 59–66, hier S. 64, wonach der Pfarrer die rechte Seite des Hochaltars mit beiden Händen ergriffen habe. Die Rede von den cornua beruht auf der Beschreibung des Brandopferaltars in 2. Mose 27, 2. Vgl. auch 2. Mose 38, 2; 3. Mose 16, 18; 1. Kön. 1, 50–51; Ps. 118, 27. – Zur rechten Seite als der Kelch- und Evangelienseite und zur linken als der Brot- und Epistelseite s. Missale Romanum, Regensburg 1875, S. (20), II, 2,4, IV, 2.

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ihrem wirklichen Pfarrer zu gehorchen und ihm die geschuldeten Leistungen zu erbringen.101 Soweit die Darstellung des Instruments vom 30. November 1442. Ganz so reibungslos, wie sie glauben machen will, vollzog sich diese Übernahme der Pfarrei allerdings nicht, und der Rechte eines Pfarrherrn hat sich Dietrich Lange nur kurze Zeit erfreuen können. Hilwartshausen, das vollkommen übergangen worden zu sein scheint, rief gegen Lange den Herzog Otto den Einäugigen von Braunschweig-Göttingen († 1463) und dessen Frau Agnes von Hessen († 1471) zu Hilfe. Herzog und Herzogin setzten Lange im Jahre 1443 gefangen, wurden deshalb exkommuniziert, aber gegen Langes Freilassung vom Bann gelöst.102 Im März 1444 schwor Lange der Herzogin Urfehde103 und gab zugunsten Hilwartshausens die Pfarrei auf. Dabei räumte er ein, daß er sich ihrer mit Gewalt und mit bewaffneten Helfern bemächtigt hätte; als Bürgen für seinen Verzicht auch auf alle Ansprüche gegenüber der Herzogin bot Lange vier Angehörige des Hildesheimer Stiftsadels auf und sieben Bürger von Bockenem.104 Wie erwähnt, stammte Lange aus dieser Stadt.105 Der Pfarrei Sieboldshausen blieb Dietrich Lange gleichwohl erhalten. Denn am 4. Februar 1447 verzichtete er – nun vor dem Nörtener Offizial – nochmals förmlich auf die ihm vom Basler Konzil gewährte Provision und erklärte sich bereit, auf eine entsprechende Präsentation des Stifts hin in Sieboldshausen als beständiger Vikar (vicarius perpetuus) tätig zu sein und auch Residenz zu halten. An Zins hatte er Hilwartshausen pro Jahr acht Göttinger Mark zu zahlen, das heißt gegenüber den zwölf Mark seines Vorvorgängers im Jahre 1433 ein ganzes Drittel weniger.106 Überdies verpflichtete er sich, dem Stift beim apostolischen Stuhl oder bei einem Konzil eine neue Urkunde über die Inkorporation von Sieboldshausen zu beschaffen.107 Die Einlösung dieses Versprechens wurde binnen weniger Monate in Angriff genommen. Bereits am 2. Dezember 1447 wurde bei Nikolaus V. nicht nur um eine Konservatorie für das Stift Hilwartshausen suppliziert, sondern auch um die abermalige päpstliche Bestätigung der Inkorporation von Sieboldshausen;108 für die Annatenberechnung wurde entsprechend der Kanzleiregel der Wert der Pfarrei angegeben109 und mit vier Mark 101 UB Hilwartshausen S. 246 Nr. 286: Deinde eundem dominum Theodericum in dotem sive domum habitationis cum area prope eandem ecclesiam introduxi et sic eundem coram multitudine plebis verum ipsius ecclesie pastorem denuntiavi … 102 UB Hilwartshausen S. 247f. Nr. 287 (1444 Jan. 7). 103 UB Hilwartshausen S. 251f. Nr. 289. 104 UB Hilwartshausen S. 248–251 Nr. 288. 105 S. oben Anm. 95. 106 Vgl. oben bei Anm. 87. 107 UB Hilwartshausen S. 255–257 Nr. 293. 108 Rep. Germ. 6 (wie Anm. 82) Nr. 2268. 109 Ottenthal, Kanzleiregeln (wie Anm. 83) S. 50 Nr. 15 (Urban V.), S. 179 Nr. 27 (Johannes XXIII.), S. 198 Nr. 56 (Martin V.), S. 247 Nr. 67 (Eugen IV.), S. 257 Nr. 20 (Nikolaus V.). Seit

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jährlich beziffert.110 Die Pfarrei war damit von der Entrichtung der Annate frei.111 Die seit 1409/1410 nach der Kanzleiregel bei Inkorporationen erforderliche päpstliche Beauftragung eines Exekutors am Ort112 – hier des Propstes von Nörten – erfolgte freilich erst drei Jahre später am 21. November 1450.113 Erst auf Grund dieses Mandats, das zu besorgen im Jahre 1447 offenbar versäumt wurde, hat der Propst von Nörten, zugleich Hildesheimer Domdekan, am 3. Juni 1451 im Hildesheimer Domkreuzgang dem Stift die Inkorporation der Pfarrei bestätigt.114 Dieses hatte sich in Hildesheim durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen.115 Die Kosten für den Erwerb der Inkorporationurkunde des Papstes hatten sich Dietrich Lange und das Stift geteilt. Dem Dietrich Lange war sie so lieb und teuer, daß er sie, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatte, bei sich aufbewahrte und seinem Nachfolger Heinrich Prutz hinterließ. Erst aus dessen Nachlaß sollte sie geschlagene 28 Jahre später, im Jahre 1489, dem Stift zugestellt werden.116

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Nikolaus V. blieben die Kanzleiregeln im Kern unverändert, vgl. Peter Linden, Der Tod des Benefiziaten in Rom. Eine Studie zu Geschichte und Recht der päpstlichen Reservationen (Kanonistische Studien und Texte 14) Bonn 1938, S. 117. Der in den Suppliken anzugebende Pfründenwert diente der Berechnung der Annate, die sich auf die Hälfte des fixen jährlichen Pfründenertrags (ohne Oblationen und Stolgebühren) belief, Joh. Peter Kirsch, Die Annaten und ihre Verwaltung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: HistJb 9 (1888) S. 303f.; Schmitz-Kallenberg, Practica (wie Anm. 75) S. 4; vgl. Walter Deeters, Über das Repertorium Germanicum als Geschichtsquelle, in: BllDtLdG 105 (1969) S. 34f.; Enno Bünz, Thüringen und Rom. Die systematische Erschließung der vatikanischen Quellen des Mittelalters und ihre Bedeutung für die mitteldeutsche Landesgeschichte, in: Zs. des Vereins für Thüringische Geschichte 51 (1997) S. 199 mit Anm. 46; Ulbrich, Päpstliche Provision (wie Anm. 25) S. 165f., 168f. Nach dem Wiener Konkordat von 1448, Karl Brandi, Urkunden und Akten. Für rechtsgeschichtliche und diplomatische Vorlesungen und Übungen, 3. Aufl., Berlin u. Leipzig 1932, Nr. 79 S. 109 [§ 4]; Lorenz Weinrich, Quellen zur Verfassungsgeschichte des RömischDeutschen Reiches im Spätmittelalter (1250–1500) (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 33) Darmstadt 1983, Nr. 127 S. 505 § 4, waren Benefizien von 25 Kammergulden und mehr annatenpflichtig, Schmitz-Kallenberg, Practica (wie Anm. 75) S. 4; Meyer, Wiener Konkordat (wie Anm. 25) S. 109. – Mitte des 15. Jahrhunderts war eine Silbermark fünf Kammergulden wert, Schmitz-Kallenberg, Practica S. 4f. Ottenthal, Kanzleiregeln (wie Anm. 83) S. 163 Nr. 12 (Alexander V.): … et semper fiat commissio ad partes et oneretur conscientia iudicum quibus diriguntur littere super illis conficiende vel recusande; S. 179 Nr. 27 (Johannes XXIII.): … et in talibus unionibus semper fiat commissio ad partes et oneretur conscientia illorum quibus committetur; ebenda S. 198 Nr. 56 (Martin V.), S. 247 Nr. 67 (Eugen IV.), S. 257 Nr. 20 (Nikolaus V.); vgl. Frenz, Inkorporation (wie Anm. 63) S. 48. UB Hilwartshausen S. 260–262 Nr. 297 (nach Empfängerüberlieferung); B. Schwarz, Regesten Papsturkunden (wie Anm. 97) S. 441 Nr. 1764. – Rep. Germ. 6 (wie Anm. 82) Nr. 2268 (nach dem Bullenregister Archivio Segreto Vaticano, Reg. Lat. 458f. 260v–262r). UB Hilwartshausen S. 264–266 Nr. 300. UB Hilwartshausen S. 263f. Nr. 299. UB Hilwartshausen S. 332 Nr. 367.

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Lange starb vor dem Jahre 1466117, und zwar in einem der päpstlichen Monate, das heißt im Januar, März, Mai, Juli, September oder November. Gemäß dem Wiener Konkordat vom Jahre 1448 wäre damit die Kollatur seines Benefiziums drei Monate lang dem Papst reserviert gewesen.118 Allein der Hinweis darauf sowie das Versprechen, sich wie Lange um eine neuerliche päpstliche Bestätigung der Inkorporation zu bemühen, reichten offensichtlich aus, daß Hilwartshausen die Pfarrei jetzt einem Heinrich Prutz verlieh.119 Dieser Heinrich Prutz stammte aus dem Umkreis des Stifts; er war für Hilwartshausen 1451 in Hildesheim gewesen, als es darum gegangen war, die Inkorporation von Sieboldshausen konfirmieren zu lassen.120 Obwohl ohne päpstliche Provision und damit – nach 1448 – höchst angreifbar auf die Stelle gelangt, kam er ungeschoren davon. Im Jahre 1466 tauschte er unter Zustimmung Hilwartshausens sein Benefizium in Sieboldshausen gegen die Pfarrei Stöckheim (nordwestl. Northeim)121, bei der es sich ebenfalls um eine der zwölf Sedeskirchen des Archidiakonats Nörten handelte.122 Die Rechte und Pflichten als Erzpriester blieben, obwohl die an der Sedeskirche Sieboldshausen amtierenden Priester nur Vikare waren, von der Inkorporation unberührt. 1449 beauftragte der Offizial des Archidiakonats Nörten den plebanus in Sieboldshausen, den Priester Johannes Haringehausen in der Weender Patronatspfarrei Obernjesa als Pfarrer einzuführen.123

117 Vgl. UB Hilwartshausen S. 301f. Nr. 337 (1466 Dez. 2, Langes Nachfolger Heinrich Prutz als Sieboldshäuser Priester erwähnt). 118 Brandi, Urkunden und Akten (wie Anm. 111) Nr. 79 S. 108 [§ 3]; Weinrich, Quellen zur Verfassungsgeschichte (wie Anm. 111) Nr. 127 S. 504 § 3. Vgl. Heinz Hilderscheid, Die päpstlichen Reservatrechte auf die Besetzung der niederen Kirchenämter im Gebiete des Deutschen Reichs. Diss. iur. Köln 1934, S. 30; Meyer, Zürich und Rom (wie Anm. 75) S. 48f.; Ders., Wiener Konkordat (wie Anm. 25) S. 109–111. Auch Benefizien an inkorporierten Pfarreien verfielen der päpstlichen Kollatur, wenn sie in den ungeraden Monaten frei wurden, vgl. Clemens Bauer, Die wirtschaftliche Ausstattung der Freiburger Universität in ihrer Gründungsperiode. Eine Studie zur kirchlichen Rechts- und Wirtschaftsgeschichte des 15. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 22 (1960) S. 9–64, hier S. 20. 119 UB Hilwartshausen S. 332 Nr. 367: … doh her Diderick Langen zeliger von Bocleheim vorvallen wass von dodes wegen in unsers hilgen vaders des babistes mande … 120 UB Hilwartshausen S. 263f. Nr. 299 (1451 Mai 27), ebenda S. 264–266 Nr. 300 (1451 Juni 3). 121 UB Hilwartshausen S. 301f. Nr. 337. 122 Vgl. Bruns, Archidiakonat Nörten (wie Anm. 34) S. 173f., und oben bei Anm. 56. 123 S. oben bei Anm. 33. Zum Pfarrer Haringehausen in Obernjesa vgl. Malte Prietzel, Die Kalande im südlichen Niedersachsen. Zur Entstehung und Entwicklung von Priesterbruderschaften im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 117) Göttingen 1995, S. 579 Nr. 50.

Die inkorporierte Pfarrei und das Benefizialrecht

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IV. Während sich Hilwartshausen gemäß der Weisung des Kardinals Nikolaus von Kues vom Jahre 1452 und auf nachdrücklichen Wunsch der Herzogin Agnes zwischen 1455 und 1461, wenn auch zunächst widerstrebend, der Windesheimer Reformbewegung anschloß und 1474 mit dem Stift Wittenburg westlich Hildesheim eine Gebetsverbrüderung einging124, blieb die Pfarrei Sieboldshausen im Visier stellensuchender Weltkleriker. Wieder handelt es sich um Priester aus der Region und keineswegs um römische Höflinge oder um kardinalizische Familiaren. Diesmal wurde der Weg der Pfründenresignation an den Papst, und zwar zugunsten eines Dritten, beschritten. Der damit erzeugte Rechtsgrund für eine Pfründenprovision durch die Kurie hebelte das Präsentationsrecht des ordentlichen Kollators aus. Vikar in Sieboldshausen war im Jahre 1473 ein gewisser Mainzer Kleriker mit Namen Hildebrand Hoppner. Sein Partner und Nachfolger wurde Konrad von Sehlde (de Zelden), ein Mann, dessen Ruf man einige Jahre zuvor angegriffen hatte: Als aus der Diözese Hildesheim stammender Priester hatte er 1466 um das Altarlehen St. Paul in der Goslarer Frankenbergkirche suppliziert125, und als Mainzer (!) Priester – die Nennung von Mainz als Herkunftsdiözese dürfte auf Konrads eigenen, aber offensichtlich unzutreffenden Angaben beruhen126 – war 124 UB Hilwartshausen S. 266f. Nr. 301 (1452), S. 309f. Nr. 343 (1474). Des Augustinerpropstes Johannes Busch Chronicon Windeshemense und Liber de reformatione monasteriorum II c. 44, hrsg. v. Karl Grube (GQProvSachsen 19) Halle 1886, S. 521; Hans Goetting, Gründung und Anfänge des Reichsstifts Hilwartshausen an der Weser, in: Nieders. Jb. f. Landesgeschichte 52 (1980) S. 165; von Boetticher, UB Hilwartshausen (wie Anm. 26) S. 12. 125 Repertorium Germanicum Bd. 9, Paul II. (1464–1471). Bearb. v. Hubert Höing, Heiko Leerhoff u. Michael Reimann, Tübingen 2000, Nr. 920: de certo beneficio ad collationem conventus in Frenckenborch in Goslar; zur Identifizierung des Benefiziums s. die folgende Anm. 126 Der von den Klerikern in ihren Suppliken zu nennenden und auch von den Laien vielfach genannten Diözesanzugehörigkeit als Angabe des Bistums, aus dem sie gebürtig waren – s. Brigide Schwarz, Alle Wege führen über Rom. Eine »Seilschaft« von Klerikern aus Hannover im späten Mittelalter, in: Hannoversche Geschichtsblätter 52 (1998) S. 5–87, hier S. 16 Anm. 49; Dies., Karrieren von Klerikern aus Hannover im nordwestdeutschen Raum in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Nieders. Jb. f. Landesgeschichte 73 (2001) S. 235–270, hier S. 242 mit Anm. 22; Dies., Ein Freund italienischer Kaufleute im Norden? Berthold Rike, Dompropst von Lübeck und Domkustos von Breslau († 1436). Zugleich ein Beispiel für die Nutzung des Repertorium Germanicum für eine Biographie, in: Italia et Germania. Liber Amicorum Arnold Esch, Tübingen 2001, S. 447–467, hier S. 456 – ist nicht in jedem Falle zu trauen. Denn sowohl 1466, Rep. Germ. 9 Nr. 920 (presbiter Hildesemensis diocesis), als auch 1469, Rep. Germ. 9 Nr. 3661 (clericus Maguntinensis diocesis), galten die Bemühungen dieses Konrad von Sehlde ein und demselben Benefizium, und zwar dem durch Tod des Johannes Steyn (Stern) vakanten Altarlehen St. Paul in der Goslarer Frankenbergkirche; s. zu diesem Sabine Graf, Das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar im Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Bistums Hildesheim 5) Hannover 1998, S. 423f. Nr. 70.1–7. – Rep.

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er im Dezember 1468 persönlich in Rom gewesen, wo er eine Vikarie im Marienstift vor Einbeck erbat, dort überdies als Prokurator des Nörtener Kanonikers Konrad von Hardenberg agierte und schließlich, als Dekan des Nörtener Petersstifts, eine Provision Si neutri für eben dieses Benefizium zu erlangen suchte;127 der Besitz dieser Pfründe, in dem er auch 1469 bezeugt ist128, war angefochten worden. Zugleich war er auch noch Dekan des benachbarten Marienstein, das seit 1442 als Kollegiatstift verfaßt war. Marienstein kämpfte damals wirtschaftlich so sehr ums Überleben, daß es 1469 dem Nörtener Peterstift inkorporiert war.129 Um diesen Konrad von Sehlde kam es im selben Jahr zu Auseinandersetzungen: Am 12. September 1469 wurde er von den Stiften Nörten und Steina sowie den Herzögen Wilhelm und Friedrich von Braunschweig-Lüneburg als damaligen Landesherren beim Papst wegen Sakrilegs, Diebstahls, Ehebruchs und Gewalt (violentia) verklagt – soweit wenigstens das Parteivorbringen. Der Papst delegierte das Urteil an den Bischof von Halberstadt oder an den Hildesheimer Domdekan.130 Der Prozeß fiel offenbar zugunsten des Beschuldigten aus. Dennoch konnte Konrad von Sehlde sich in Nörten nicht halten; denn seit 1471 war dort ein Bertold Hoyersen Dekan.131 Ob Konrad die Vikarie im Einbecker Marienstift, um die er erneut im Mai 1469 suppliziert hatte, sowie eine weitere, ebenfalls im Mai 1469 in seinen Blick geratene Vikarie im Einbecker Alexanderstift erlangt hat132, ist ebenso fraglich wie ein Erfolg bei dem Altarlehen St. Paul in der Goslarer Frankenbergkirche, da dieses litigiös war.133 Dagegen dürfte er wegen seines wiederholt bekundeten Interesses auch an einer Goslarer Pfründe mit jenem Konrad von Sehlde identisch sein, dem am 18. Dezember 1473 vom Goslarer Rat die dortige Kapelle St. Vitus verliehen wurde, die bis zum Tode

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Germ. 9 Nr. 920 und 921 zerlegen wegen der unterschiedlichen Herkunftsangaben den Konrad von Sehlde also zu Unrecht in zwei Personen. – Der 1491 sich als Halberstädter in Rostock immatrikulierende Ordo Stemmel wurde 1503 in Hamburg als Priester der Schweriner Diözese bezeichnet, Rainer Postel, Die Reformation in Hamburg, 1517–1528 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 52) Gütersloh 1986, S. 148f. (freundlicher Hinweis von Peter Vollmers, Rhauderfehn). Rep. Germ. 9 Nr. 921, Nr. 1872. Zur Provision Si neutri vgl. B. Schwarz, Römische Kurie und Pfründenmarkt (wie Anm. 25) S. 134; Ulbrich, Päpstliche Provision (wie Anm. 25) S. 115. Rep. Germ. 9 Nr. 1967. Vgl. Eckhard Michael, Beiträge zur Geschichte des Benediktinerklosters Steina (Marienstein), Krs. Northeim im ausgehenden Mittelalter, Göttingen 1978, S. 64f., der aber die Inkorporation zu spät für das Jahr 1472 ansetzt. Rep. Germ. 9 Nr. 5672. Bruns, Archidiakonat Nörten (wie Anm. 34) S. 136. Vgl. Prietzel, Kalande (wie Anm. 123) S. 583 Nr. 62. Rep. Germ. 9 Nr. 921. Rep. Germ. 9 Nr. 3661; vgl. oben Anm. 126. Kontrahent war 1469 Johannes Riken, Kanoniker von St. Simon und Judas. – 1490 war Konrad Witte, von 1467 bis 1493 Propst von Frankenberg, Inhaber des Altars, Graf, Goslar (wie Anm. 126) S. 414 Nr. 53.7, S. 423f. Nr. 70.4, 7; S. 503 Nr. 205.3.

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(† vor 1. 3. 1499) in seinem Besitz blieb134; wohl derselbe hatte sich 1441 in Erfurt immatrikuliert.135 Gleichfalls im Jahre 1473 war Konrad von Sehlde mit Hildebrand Hoppner in Sieboldshausen übereingekommen, daß dieser seine Pfarrei in die Hand des päpstlichen Legaten, des Kardinalpriesters Marco Barbo von S. Marco136, zu seinen Gunsten resignierte. Diese resignatio in favorem tertii137 fand im Jahre 1473 in Oppenheim statt. Der Kardinal, als Legat a latere zur Entgegennahme der Resignation und zur Neuverleihung nach dem Rechtssatz der Pfründenerledigung beim apostolischen Stuhl (vacans apud sedem apostolicam) autorisiert138, erteilte am 6. September das Mandat, dem Hildesheimer Priester (presbiter Hildesemensis diocesis) Konrad von Sehlde die Pfarrkirche in Sieboldshausen zu übertragen und ihn dort einzuführen.139 Nichts verlautete darüber, daß Hoppner 134 Vgl. Graf, Goslar (wie Anm. 126) S. 428 Nr. 75.7. Die seit 1399 zwischen Corvey und dem Rat alternierende Präsentation auf die Kapelle – s. Graf, Goslar, S. 427 Nr. 75.3 – lag 1473 beim Rat (freundliche Mitteilung von Dr. Sabine Graf vom 6. 01. 2003). 135 Vgl. Graf, Goslar (wie Anm. 126) S. 495; Weissenborn, Acten der Erfurter Universitaet 1 (wie Anm. 96) S. 185 Z. 23: Conradus de Selde. 136 Vgl. Conrad Eubel, Hierarchia Catholica medii aevi, Bd. 2, 2. Aufl. Münster 1914, S. 63; G. Gualdo, Marco Balbo, in: Dizionario biografico degli Italiani 6 (1964) S. 249–252. 137 Hinschius, Kirchenrecht (wie Anm. 25) Bd. 3, S. 277f.; Fr. Gillmann, Die Resignation der Benefizien, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 80 (1900) S. 665ff.; Tellenbach, Rep. Germ. 2 (wie Anm. 83) S. 27* f.; Meyer, Zürich und Rom (wie Anm. 75) S. 153; B. Schwarz, Römische Kurie und Pfründenmarkt (wie Anm. 25) S. 134f.; Ulbrich, Päpstliche Provision (wie Anm. 25) S. 107–110. 138 Vgl. Hinschius, Kirchenrecht (wie Anm. 25) Bd. 1, Berlin 1869 (ND 1959), S. 514f.; Fr. Gillmann, Die Resignation der Benefizien, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 80 (1900) S. 698, 700, Bd. 81 (1901) S. 443; Meyer, Zürich und Rom (wie Anm. 75) S. 33f., 152f. 139 UB Hilwartshausen S. 303–305 Nr. 341. Neben der erfolgten Resignation nennt das Mandat als weitere mögliche Gründe, welche die Pfründe dem päpstlichen Reservatrecht und damit der Provision zugunsten des Konrad unterwerfen: Förmliche Renuntiation der Pfründe durch einen anderen Inhaber (zu Händen des Papstes) – vgl. Meyer, Zürich und Rom (wie Anm. 75) S. 151–153 –, sodann Privation mit eintretender Reservation gemäß Johannes’ XXII. Konstitution Execrabilis von 1317 (= Extravag. Jo. XXII. 3. 1 [= Friedberg 2, Sp. 1207]) – vgl. Meyer, Zürich und Rom S. 37f.; Sabine Weiss, Kurie und Ortskirche. Die Beziehungen zwischen Salzburg und dem päpstlichen Hof unter Martin V. (1417–1431) (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 76) Tübingen 1994, S. 279f.; Ulbrich, Päpstliche Provision (wie Anm. 25) S. 185 –, ferner die Devolution gemäß dem III. Laterankonzil (vgl. oben Anm. 74) und endlich den anhängigen Pfründenprozeß mit dem Privileg, in die Rechte einer Partei eintreten zu können (surrogatio), vgl. Meyer, Zürich und Rom S. 60; B. Schwarz, Römische Kurie und Pfründenmarkt S. 134; Ulbrich, Päpstliche Provision (wie Anm. 25) S. 115. Der Passus lautet (unter stillschweigender Verbesserung der Edition): (…) mandamus, quatenus (…) parochialem ecclesiam predictam eius fructus redditus et proventus duarum marcarum argenti secundum communem extimationem valorem annuum, ut idem Conradus asserit, non excedentem, sive premisso sive alias quovis modo aut ex alterius cuiuscunque persona seu per liberam aut similem alicuius alterius de illa ecclesia coram notario publico et testibus sponte factam resignationem vel constitutionem felicis recordationis Iohannis pape XXII, que incipit ›Execrabilis‹, vacat et cetera, si tanto tempore vaca-

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sich für seine Renuntiation eine Pension ausbedungen hätte, die ihm sein Nachfolger jährlich schuldete. Davon konnte seitens des Legaten auch keine Rede sein, da die Festsetzung einer Pension von einem dem Papst resignierten Benefizium nur von diesem bewilligt werden durfte.140 Die resignatio cum reservatione pensionis war seit der Zeit der avignonesischen Päpste überaus beliebt.141 Anders als die im Spätmittelalter vielfach übliche, vor dem kirchlichen Oberen erfolgende Pfründenresignation zu Gunsten eines Dritten setzte sie das Präsentationsrecht des ordentlichen Kollators außer Kraft und ließ die Parteien somit sicherer zum Ziel gelangen.142 Dieses konnte auf Seiten des Resignierenden darin bestehen, sich wegen Alters oder Krankheit eine Versorgung zu sichern oder aber das Verbot der Kumulation von Benefizien mit Seelsorgeverpflichtung zu umgehen.143 Auch im Falle Hoppners und Konrads von Sehlde dürfte die resignatio cum reservatione pensionis vereinbart worden sein. Denn Hildebrand Hoppner, der 1488 als Prokurator von Hilwartshausen in Einbeck tätig war144 und sich somit weiter im Umkreis des Stifts aufhielt, wird 1490 noch einmal erwähnt. Jetzt ging es darum, die Zahlungsverpflichtung des offenbar neu angetretenen Sieboldshäuser Vikars Konrad Bruns (plebanus parrochialis ecclesie sancti Martini in Siboldeshusen) gegenüber dem Stift festzulegen: Konrad Bruns und das Stift kamen 1490 überein, daß diesem aus der Sieboldshäuser Pfarrei jährlich sechs Göttinger Mark zu entrichten seien; diese Vereinbarung sollte aber erst wirksam werden, nachdem es Bruns gelungen wäre, in den Besitz der Pfarrei zu gelangen, indem er seinen Widersacher (adversarium suum) Hildebrand Hoppner aus ihr

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verit, quod eius collatio iuxta Lateranensis statuta concilii ad sedem apostolicam legitime devoluta ipsaque parrochialis ecclesia dispositioni generaliter reservata existat et super ea inter aliquos lis, cuius litis statum haberi volumus pro expressis, pendeat indecisa, dummodo tempore dati presentis non sit in ea alicui specialiter ius quesitum (…) eidem Conrado auctoritate nostra prefata conferatis (…). Introduktionsmandat des Einbecker Stiftsdekans vom 6. November 1473, ebenda S. 305–309 Nr. 342. Vgl. Fr. Gillmann, Die Resignation der Benefizien, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 81 (1901) S. 443; Meyer, Zürich und Rom (wie Anm. 75) S. 153. Meyer, Zürich und Rom (wie Anm. 75) S. 153; Ulbrich, Päpstliche Provision (wie Anm. 25) S. 110f. Vgl. Franz Xaver Buchner, Zur Geschichte des kirchlichen Pensionswesens. Ein Blick in das 15. und 16. Jahrhundert (1914), Wiederabdruck in: Ders., Klerus, Kirche und Frömmigkeit im spätmittelalterlichen Bistum Eichstätt. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. v. Enno Bünz u. Klaus Walter Littger (Schriften der Universitätsbibliothek Eichstätt 36) St. Ottilien 1997, S. 199–211; Sabine Arend, Zwischen Bischof und Gemeinde. Pfarrbenefizien im Bistum Konstanz vor der Reformation (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 47) Leinfelden-Echterdingen 2003, S. 231. Buchner, Pensionswesen (wie Anm. 142) S. 199; Ulbrich, Päpstliche Provision (wie Anm. 25) S. 111; Arend, Zwischen Bischof und Gemeinde (wie Anm. 142), S. 226. UB Hilwartshausen S. 329–331 Nr. 366.

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entfernte oder anderswie an sie gelangt sein würde.145 Hoppner behauptete also noch 1490 Rechte an der Pfarrei. Das legt nahe, daß er im Jahre 1473 seine Pfründe gegen eine Pension resigniert hat. Vielleicht hatte er die Sieboldshäuser Pfründe rechtmäßig wieder angetreten, weil sein Nachfolger Konrad von Sehlde zu irgendeinem Zeitpunkt mit den Zahlungen an ihn in Verzug geraten war.146 Wahrscheinlicher ist aber, daß es Hoppners Pensionstitel war, der die Pfarrei im Jahre 1490 immer noch belastete. Diese Pension, deren Höhe in der Regel ein Drittel des jährlichen, in den Suppliken anzugebenden Pfründenwertes ausmachen sollte147, sich in Einzelfällen aber auch auf die Hälfte der Pfründeneinkünfte und auf mehr belaufen konnte148, und die gleichzeitige Zahlung eines Inkorporationszinses von jährlich sechs Mark an das Stift gingen offenbar über die Kräfte der Pfarrei. Daher kam man überein, die Zahlung an Hilwartshausen so lange auszusetzen, bis die Forderungen des Hoppner irgendwie befriedigt waren. Das Stift zog infolge der Vereinbarung von 1490 aus der ihm inkorporierten Pfarrei zunächst überhaupt keinen Nutzen mehr. Und nicht nur das! Selbst wenn es gelungen sein sollte, die Ansprüche des Hoppner bald abzulösen, so war die von Hilwartshausen bezogene Inkorporationspension von zwölf Göttinger Mark im Jahre 1433 über acht Mark im Jahre 1447 auf nun sechs Göttinger Mark im Jahre 1490 gesunken. Kloster Mariengarten bezog von der ihm inkorporierten Johanneskirche in Dransfeld im Jahre 1521 immerhin noch 7 ½ Göttinger Mark.149 Konrad Bruns hat die Sieboldshäuser Pfarrei bis zu seinem Tod besessen – er starb wohl 1515 –, war aber vermutlich zumeist absent. 1492 wirkte er als Schreiber des Nörtener Offizials und als Notar und war dann selber Offizial seit 1496; in den Jahren 1503/04 und 1504/05 wohnte er in Göttingen in der Burgstraße.150

145 UB Hilwartshausen S. 334 Nr. 369: … videlicet, quod, postquam dictus Conradus plebanus ad dicte sue ecclesie sancti Martini, videlicet dominum Hildebrandum Hoppener assertum clericum prefate Maguntinensis diocesis adversarium suum ab ea amovendo aut alias, possessionem devenerit … 146 Vgl. Ulbrich, Päpstliche Provision (wie Anm. 25) S. 112. 147 Schmitz-Kallenberg, Practica (wie Anm. 75) S. 56. 148 Ulbrich, Päpstliche Provision (wie Anm. 25) S. 111. 149 UB Mariengarten (wie Anm. 29) S. 326 Nr. 364. 150 Vgl. Bruns, Archidiakonat Nörten (wie Anm. 34) S. 122f. mit Anm. 39, und folgende Anm.

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V. Seinem Nachfolger, dem von Hilwartshausen schriftlich präsentierten Priester Johann Korsewicht (Kürschner), verlieh der Nörtener Offizial den Vikariat am 6. September 1515.151 Der aus Münden kommende Korsewicht, der im SommerSemester 1471 in Erfurt immatrikuliert worden war152, lebte 1490 in Göttingen als Priester;153 eine Hampe Korsewicht war 1504 Priorin des Augustiner-Chorfrauenstifts Weende.154 Korsewichts Introduktion in Sieboldshausen muß von einem gewissen Jodocus Schmied (Fabri) umgehend angefochten worden sein.155 Denn schon am 28. November 1515 sah sich Korsewicht veranlaßt, wegen drohender Auseinandersetzungen mit Schmied acht Prokuratoren zu bestellen: drei an der römischen Kurie, drei in Mainz und zwei in Erfurt.156 Den vor die römische Rota getragenen Prozeß um die Sieboldshäuser Kirche hat Korsewicht am 23. Dezember 1517 verloren, obwohl ein Prozeßbevollmächtigter des Schmied im Jahre 1516 sich ein Fristversäumnis hatte zu Schulden kommen lassen.157 Einzelheiten sind dem Urteil des mit der Appellation befaßten Rotarichters Johann Anton Trevultio, das in einem schwer wassergeschädigten Notariatsinstrument überliefert ist, nicht mehr zu entnehmen.158 Während Korsewicht, der noch 1516 für Hilwartshausen eine Einigung mit dem Kloster Reinhausen über ein strittiges Meierrecht erzielt hatte159, 1519 als Dekan des Mündener Kalands sein Leben beschloß160, behauptete Jodocus 151 UB Hilwartshausen S. 368f. Nr. 409. 152 Prietzel, Kalande (wie Anm. 123) S. 476 Nr. 22; Weissenborn, Acten der Erfurter Universitaet 1 (wie Anm. 96) S. 344 Z. 10: Johannes Korssewicht de Munden. 153 UB Göttingen 2, S. 352f. Nr. 371. 154 Nieders. HauptStA Hannover, Cal. Or. 100 Weende Nr. 286, Nr. 287, Nr. 289, jetzt in UB des Stifts Weende, bearb. v. Hildegard Krösche nach Vorarbeiten von Hubert Höing (VeröffHistKommNiedersBremen 249) Hannover 2009, S. 321ff. Nr. 362, 363, 365. 155 Möglicherweise ist dieser Jodocus Schmied identisch mit dem gleichnamigen Kleriker, zu dessen Gunsten 1506 der Pfarrer von St. Godehardi in Eschwege seine Pfarrei resignieren wollte und dem erst nach entsprechender Prüfung durch den Dekan des Heiligenstädter Martinsstifts die Befähigung für ein Pfarramt bescheinigt wurde, Albert Huyskens, Die Klöster der Landschaft an der Werra. Regesten und Urkunden (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck IX, 1) Marburg 1916, S. 77 Nr. 188. Inhaber der Pfarrei St. Godehardi war seit 1519 nicht dieser Jodocus Schmied, sondern der Priester Konrad Wichmannshausen, ebenda S. 118 Nr. 306, S. 134f. Nr. 350–352. 156 UB Hilwartshausen S. 369–372 Nr. 410. 157 UB Hilwartshausen S. 373–375 Nr. 413. 158 UB Hilwartshausen S. 376f. Nr. 416, nur Kopfregest wegen schweren Wasserschadens. Or.: Nieders. HauptStA Hannover, Cal. Or. 100 Hilwartshausen Nr. 324. Manfred von Boetticher war so liebenswürdig, mir eine Kopie seiner Transkription zu überlassen. 159 Manfred Hamann (Bearb.), Urkundenbuch des Klosters Reinhausen (Göttingen-Grubenhagener Urkundenbuch, 3. Abteilung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVII, 14) Hannover 1991, S. 329 Nr. 431. 160 Prietzel, Kalande (wie Anm. 123) S. 476 Nr. 22.

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Schmied bis zu seinem Tod im Jahre 1532 die Pfarrei, wurde vom Stift jedoch offenbar nicht als rechtmäßiger Inhaber der Stelle anerkannt. Denn anläßlich der Präsentation seines Nachfolgers Lorenz Schinnen im Jahre 1532 ist von Schmied als einem unrechtmäßigen und vorgeblichen Besitzer der Kirche (illicitus occupator … ac pretensus possessor) die Rede.161 Dagegen ist von reformatorischer Kritik am päpstlichen Benefizialrecht keine Spur zu entdecken. Auf Ersuchen von Hilwartshausen hat Kardinal Albrecht von Mainz und Magdeburg am 7. Oktober 1535 auf der Moritzburg, seiner hallischen Residenz162, dem Stift die Inkorporation der Pfarrei Sieboldshausen so bestätigt, wie sie ihm im Jahre 1357 von Erzbischof Gerlach von Mainz und 1450 von Nikolaus V. verbrieft worden war163 – als ob die Geschichte über zweihundert Jahre stehengeblieben wäre! Im Kern hatte sich an der Rechtsfigur der Inkorporation ja auch nichts geändert, wenn man von den von Paul II. 1469 eingeführten Quindennien absieht, einer alle fünfzehn Jahre fälligen Abgabe von annatenpflichtigen Benefizien, die inkorporiert worden waren.164 Lorenz Schinnen, inzwischen zum Nörtener Kanoniker und Offizial avanciert165, resignierte dem Stift am 13. Dezember 1540 förmlich dey ertzpreistlichen kercken sant Marthens tho Siboldehusen, dar ich dhan (= denn) byn eyn perpetuus vicarius, damit dieses sie neu besetzen könne nach vormoghe unnd inhaldt orer incorporationn;166 bereits zu Michaelis 1540 hatte sich Schinnen an der Universität Erfurt immatrikuliert.167 Während das Stift am 20. November 1542 von den Visitatoren der Herzogin Elisabeth von Calenberg seinen Visitationsabschied erhielt168, hat sich von der damaligen Visitation für Sieboldshausen kein Protokoll erhalten.169 Mit den 161 UB Hilwartshausen S.407f. Nr. 449; vgl. bereits S. 405 Nr. 447: … per mortem Iodoci Fabri novissimi asserti eius (sc. der Kirche) possessoris seu verius pretensi occupatoris aut alias quovismodo vacantem … 162 Vgl. Michael Scholz, Residenz, Hof und Verwaltung der Erzbischöfe von Magdeburg in Halle in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Residenzenforschung 7) Sigmaringen 1998, S. 154–173, 377, S. 417–419 (mit Abb. 2–4). 163 UB Hilwartshausen S. 420f. Nr. 464. 164 Kirsch, Die Annaten und ihre Verwaltung (wie Anm. 110) S. 302 Anm. 2; Ders., Die päpstlichen Annaten in Deutschland während des 14. Jahrhunderts. Bd. 1: Von Johann XXII. bis Innocenz VI. (Quellen und Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte der Geschichte 9) Paderborn 1903, S. X. Vgl. Frenz, Inkorporation (wie Anm. 63) S. 86. 165 Vgl. Bruns, Archidiakonat Nörten (wie Anm. 34) S. 123. 166 UB Hilwartshausen S. 431f. Nr. 483. 167 Hermann J. C. Weissenborn, Acten der Erfurter Universitaet 2 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 8, 2) Halle 1884, S. 353 Z. 7: Laurentius Schinnenn alias Goltschmidt canonicus Northimensis Moguntinensis diocesis; Bruns, Archidiakonat Nörten (wie Anm. 34) S. 123. 168 Karl Kayser, Die reformatorischen Kirchenvisitationen in den welfischen Landen 1542– 1544, Göttingen 1896, S. 301–304. Vgl. UB Hilwartshausen S. 436 Nr. 490 (Inventar des Kirchenschatzes vom 19. Nov. 1542). 169 Vgl. Kayser (wie Anm. 168) S. V.

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Pfarreinkünfte

stiftischen Gütern wurde Sieboldshausen 1629/1633 als Hilwartshäuser Pfarrlehen so wie die Klostergüter von Weende und Mariengarten dem Unterhalt der Professoren der Universität Helmstedt bestimmt.170 In den Jahren 1641 und 1657 hat die Helmstedter Professorenschaft ihr auf dem Patronat beruhendes Präsentationsrecht auf die Pfarrei ausgeübt.171

VI. Klöstern, Stiften und auch Universitäten172 war die Inkorporation von Pfarrkirchen ein willkommenes Mittel, ihre Einkünfte aufzubessern. Diese waren umso höher, je geringer die den Vikaren zugestandene Sustentation ausfiel. Das muß vielfach der Fall gewesen sein, weil sonst die zahllosen Vorschriften, die den Vikaren an inkorporierten Pfarreien eine angemessene Kongrua sichern sollten173, gar nicht zu erklären wären. Schon im 13. Jahrhundert hatten Gerald von Wales und Bischof Robert Grosseteste von Lincoln die verheerenden Folgen unzureichend versorgter Vikare für die Seelsorge erkannt und die Inkorporation als lasterhaftes Übel gebrandmarkt.174 Die 1439 in Basel während des Konzils 170 Vgl. Bruno Krusch, Die Hannoversche Klosterkammer in ihrer geschichtlichen Entwickelung, ihre Zwecke und Ziele und ihre Leistungen für das Wohl der Provinz, in: Mitteilungen des Universitätsbundes Göttingen 1,3 (1919) S. 108, 112; Adolf Brenneke u. Albert Brauch, Die calenbergischen Klöster unter Wolfenbütteler Herrschaft 1584–1634 (Geschichte des Hannoverschen Klosterfonds 2) Hildesheim 1956, S. 332; Ernst Böhme, Michael Scholz, Jens Wehner, Dorf und Kloster Weende von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, Göttingen 1992, S. 224–227. – 1745 hatte die Universität Helmstedt ihre drei Klöster Hilwartshausen, Mariengarten und Weende an Calenberg-Kurhannover abzutreten, Albert Brauch, Die calenbergischen Klöster 1634–1714. Überarbeitet von Annelies Ritter (Geschichte des Hannoverschen Klosterfonds 3) Hildesheim 1976, S. 193–198. 171 Steinmetz, Sieboldshausen (wie Anm. 26) S. 85. Kirchenkreisarchiv Göttingen, Sup. Spez. Sieboldshausen II 1a, zu 1641 (Georg Schrader) crafft habenden iuris patronatus und zu 1657 (Peter Valentin Berkelmann) wegen des closters Hilwartshausen. 172 Vgl. Bauer, Ausstattung der Freiburger Universität (wie Anm. 119) S. 9–37; Stefan Schemmann, Die Pfarrer inkorporierter Pfarreien und ihr Verhältnis zur Universität Freiburg, in: Freiburger Diözesanarchiv 92 (1972) S. 5–160, hier S. 23–29; Fritz Ernst, Die wirtschaftliche Ausstattung der Universität Tübingen in ihren ersten Jahrzehnten (1477– 1537) (Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte 20) Stuttgart 1929, S. 24f., 51– 55. Zusammenfassend Jürgen Miethke, Kirche und Universitäten. Zur wirtschaftlichen Fundierung der deutschen Hochschulen im Spätmittelalter, in: Litterae Medii Aevi. Festschrift für Johanne Autenrieth. Hrsg. v. Michael Borgolte u. Herrad Spilling, Sigmaringen 1988, S. 265–276, hier S. 272f. 173 Vgl. Bombiero-Kremenac´ (wie Anm. 55) S. 61ff., 71ff. 174 Servus Gieben, Robert Grosseteste at the Papal Curia, Lyons 1250. Edition of the documents, in: Collectanea Franciscana 41 (1971) S. 359: Quas operationes (sc. die Seelsorge) facere non est in huiusmodi mediatorum et mercenariorum facultate, ipsis de ecclesiarum bonis vix recipientibus unde possint propriam vitam sustentare. Separatis autem et subtractis adminiculis et organis officii regiminis et gubernationis ab actibus regendi et gubernandi,

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verfaßte »Reformatio Sigismundi« und ihre späteren Redaktoren verlangten nicht mehr und nicht minder als die Abschaffung der Inkorporation.175 In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verliehen die Stiftsherren an St. Peter in Basel die ihnen inkorporierte Pfarre Kirchen bei Lörrach demjenigen Priester, der am wenigsten Unterhalt von ihnen forderte.176 Hier sollen bis um 1490 binnen 40 Jahren 29 Priester die Vikars-Stelle innegehabt haben;177 es wäre also im Durchschnitt alle anderthalb Jahre zu einem Wechsel gekommen – zweifellos wegen deren ungenügender Dotierung.178 So war es keineswegs aus der Luft gegriffen, wenn unter den Gravamina auf dem Wormser Reichstag von 1521 unter der Rubrik Von grosser absenz der Pfarren darüber geklagt wird, daß die pfarren, so den clostern incorporiert seien, auch von anderen kirchhern und prelaten so hoch lociert (= verpachtet), pensioniert, hingelassen und mit absenzen ubersetzt seien, daß vil vicarien und pfarrverweser ir geburlich aufenthaltung (= Nahrung) nit gehaben mugen179, oder daß man, wie unter den Gravamina des Zweiten Nürnberger Reichstags von 1523 ausgeführt, Pfarren mit (…) ungelerten ungeschickten personen, welche nur am meisten gelts zu absenz geben (…) besetzet.180

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quomodo complebuntur actus officii? His autem incompletis, nonne manifestissime periclitatur regendorum salus et gubernandorum? Giraldi Cambrensis Opera vol. 4, hrsg. v. J.S. Brewer (RS 21, 4) London 1873, S. 177: Praeterea sciendum hoc etiam, quod cuncta monasteria Walensica uno eodemque vitio, quod ex pravae cupiditatis radice procedit, communiter involvuntur. Sicut enim parochias ecclesiarum matricum et baptismalium occupare solebant et (…) parochianis expulsis et ecclesiis vacuis, desertis aut dirutis etiam et destructis appropriare (…). Vgl. Rasche, Vom consilium modernius (wie Anm. 53) S. 79–81; Ders., The early phase of appropriation (wie Anm. 53) S. 231–234. Reformation Kaiser Siegmunds (wie Anm. 93) S. 204: alle incorporaciones aller stifften und aller closter sollen absein und alle pfarkyrchen sollen frey sein mit aller yrer zügehorung, wann sy sein das haupt der cristenheit. Vgl. ebenda S. 99, 104, 118f., 159, 195. Zum Vorrang der Pfarrei, der ihr wegen der Sakramentenverwaltung von der Reformschrift vor allen anderen Kirchen zugewiesen wird, vgl. Lothar Graf zu Dohna, Reformatio Sigismundi. Beiträge zu einer Reformschrift des fünfzehnten Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 4) Göttingen 1960, S. 167. Guy P. Marchal, Eine Quelle zum spätmittelalterlichen Klerikerproletariat. Zur Interpretation der Klageartikel der Bauern von Kirchen (LK. Lörrach) gegen das Kapitel von St. Peter zu Basel, in: Freiburger Diözesanarchiv 91 (1971) S. 65–80, hier S. 73: die heren zu˚ sant Pettern bestellen einen priester alß nach, alß sy mugent, und welcher allerwenigest nimpt, der ist inen eben. Ebenda, S. 73: Item mir habent ietz den nún und zwúngisten priester in fierzett iaren, den sy (sc. die Stiftsherren) gen an keinen, das er by unß belyben mug. Vgl. Ernst Schubert, Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995, S. 273f. RTA unter Kaiser Karl V., Bd. 2, bearb. v. Adolf Wrede (RTA Jüngere Reihe 2) Gotha 1896 (ND 1962), S. 685f. § 45. RTA unter Kaiser Karl V., Bd. 3, bearb. v. Adolf Wrede (RTA Jüngere Reihe 3) Gotha 1901 (ND 1963), S. 657 § 14.

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So galt vielen die Inkorporation als ein schwerer Mißstand181, zumal das Konzil von Trient die Begründung neuer Inkorporationsverhältnisse grundsätzlich verbot.182 Aber wie immer bedarf die Verallgemeinerung der Überprüfung, und diese zeigt im Falle von Hilwartshausen und Sieboldshausen, daß das Ziel der Inkorporation kaum erreicht oder sogar verfehlt werden konnte: Die ersten 40 Jahre nach der Inkorporation von Sieboldshausen kam Hilwartshausen hinsichtlich der Pfründeneinkünfte überhaupt nicht zum Zuge; denn von 1360 bis 1400 saß dank des päpstlichen Devolutionsrechts mit Johannes Wigand ein veritabler Pfarrherr auf der Pfarre. Die Pension, die im 15. Jahrhundert an die Stelle der Kongrua getreten und vom vicarius perpetuus dem Stift zu entrichten war, sank von zwölf Göttinger Mark im Jahre 1433 auf sechs Göttinger Mark im Jahre 1490. Der wirtschaftliche Ertrag, der mit der Inkorporation erzielt werden sollte, war damit binnen 60 Jahren halbiert worden, und im Jahre 1490 wurde selbst diese Summe zeitweilig ausgesetzt. Luther, ein Kenner auch des kanonischen Rechts, führt in seinem Sendschreiben »An den Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« 1520 auch den Pfründenprozeß an, durch den viele Pfründen von Rom aus vergeben würden: Dan wo hie kein hadder ist / find man untzehlich buffen (= unzählige Buben) zu Rom / die hadder auß der erden graben / und pfrunden an greyffen / wo sie nur wollenn / da manch frum priester seinn pfrund muß vorlierenn / odder mit einer summa gelts / denn hadder abekauffenn / ein zeyt lang.183 Selbstverständlich gab es unzählige Kuriale – darunter auch viele Deutsche –, die sich die päpstliche Generalreservation litigiöser Pfründen zunutze machten, indem sie sich mit diesen providieren ließen.184 Über seinem antirömischen Affekt hat Luther aber zu erwähnen vergessen, daß das Regelwerk des päpstlichen Benefizialrechts eben auch von solchen Klerikern genutzt wurde, die fern von Rom weilten und nichts anderes wollten, als in ihrer Heimat ein mehr oder minder einträgliches Benefizium zu erwerben. Zudem scheint die Zahl derjenigen, die während der Pontifikate Julius’ II. (1503–1513) und Leos X. (1513–1521) 181 Kallen, Die oberschwäbischen Pfründen (wie Anm. 92) S. 271; Ahlhaus, Geistliches Patronat und Inkorporation (wie Anm. 59) S. 168–176. 182 Konzil von Trient, Sessio 7 c. 6, Sessio 24 c. 13, Dekrete der ökumenischen Konzilien, besorgt von Guiseppe Alberigo u. a., Bd. 3. Konzilien der Neuzeit. Hrsg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn u. a. 2002, S. 688, 767; [Friedrich Wilhelm] Wasserschleben, Inkorporation, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 9, Leipzig 1901, S. 100; Landau, Inkorporation (wie Anm. 54) S. 165. 183 Otto Clemen, Luthers Werke in Auswahl Bd. 1, Berlin 1929, S. 379; WA 6, 1888, S. 421. 184 Vgl. Brosius, Kurie und Peripherie (wie Anm. 72) S. 332; B. Schwarz, Römische Kurie und Pfründenmarkt (wie Anm. 25) S. 134f.; Ulbrich, Päpstliche Provision (wie Anm. 25) S. 113– 116. – Zu Deutschen an der Kurie s. Christiane Schuchard, Die Deutschen an der päpstlichen Kurie im späten Mittelalter 1378–1447 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 65) Tübingen 1987, S. 165–182.

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den Pfründenerwerb über die Kurie versuchten, gegenüber den ersten beiden Dritteln des 15. Jahrhunderts erheblich zurückgegangen zu sein.185 Achtmal kam es zwischen 1351 und 1515/1517 um die Besetzung der Sieboldshäuser Pfarrei zu Auseinandersetzungen. Im Jahre 1351, noch vor der Inkorporation, hatten sich Pfarrer und Stift in einem Rotaprozeß des juristischen Angriffs eines Mainzer Klerikers aus Thüringen zu erwehren.186 – Die mühsam von 1357 bis 1359 vom Stift erreichte Inkorporation machte 1360 Johann Wigand aus Göttingen zunichte, indem er sich wegen angeblicher Devolution des Benefiziums an den Papst von diesem mit Sieboldshausen providieren ließ.187 – Im Jahre 1400 verjagten benachbarte Adelige, darunter offensichtlich die Herren von Boventen, den von Hilwartshausen eingesetzten Vikar, weil sie sich den Patronat anmaßten.188 – Dietrich Lange aus Bockenem in der Diözese Hildesheim versuchte es 1442 sowohl gewaltsam als auch mit einer Provision durch das Basler Konzil, mußte sich aber dann mit einer Stellung als Vikar begnügen.189 – Heinrich Prutz machte sich 1466 das Stift gefügig, indem er offenbar mit dem Reservatgrund des päpstlichen Monats drohte.190 – Hildebrand Hoppner brachte 1473 durch die Resignation der Pfründe in die Hände des Papstes beziehungsweise von dessen Legaten das Stift um sein Präsentationsrecht.191 – Die von Hoppner und Dietrich von Sehlde ausgehandelte Pension beraubte 1490, beim Antritt des Konrad Bruns, das Stift eine Zeitlang jeglicher Einkünfte aus der Pfarrei. – Im Jahre 1517 schließlich verloren der 1515 introduzierte Johann Korsewecht und das Stift einen von Jodocus Schmied angestrengten Rotaprozeß um die Pfarrstelle. Das Stift erscheint zumeist nicht als handelnd, sondern als getrieben. Erst recht als ein Objekt begegnet die Gemeinde, sofern sie überhaupt erwähnt wird. Verhältnisse wie diese machen Luthers Schrift von 1523 »Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift« erst verständlich: … soll keyn Bischoff yemand eynsetzen on der gemeyn / wal / will und beruffen, sondern soll den erweleten und beruffen von der gemeyne bestet185 Vgl. Dieter Brosius, Das Repertorium Germanicum, in: Reinhard Elze u. Arnold Esch (Hrsg.), Das Deutsche Historische Institut in Rom (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 70) Tübingen 1990, S. 123–165, hier S. 165: Nach unveröffentlichten Aufzeichnungen von Hermann Diener sank die Zahl der freilich näher zu betrachtenden deutschen Betreffe in den päpstlichen Registern von etwa 16 Prozent (bis um die Jahrhundertmitte) auf nur noch 5 Prozent nach der Jahrhundertwende. 186 S. oben bei Anm. 43. 187 S. oben bei Anm. 72. 188 S. oben bei Anm. 84. 189 S. oben bei Anm. 94. 190 S. oben bei Anm. 119. 191 S. oben bei Anm. 136.

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tigen / thut ers nicht / das der selb dennoch bestettiget sey durch der gemeyne beruffen192, und ebenso die Tatsache, daß in den Memminger Artikeln und den zwölf Artikeln der aufständischen Bauern die Forderung nach der Pfarrerwahl durch die Gemeinde an erster Stelle steht.193 Obwohl es, wie namentlich Dietrich Kurze gezeigt hat, für die mittelalterliche Pfarrgemeinde vielfältige Mitwirkungsrechte am Leben der Pfarrei geben konnte194, wird sie als Subjekt im Corpus Iuris Canonici nur erwähnt, soweit sie Schöffen für das Sendgericht zu stellen hatte.195 Nicht nur gut bepfründete Kuriale, sondern auch in bescheidenen Verhältnissen in partibus lebende Kleriker erkannten durchaus die Möglichkeiten, die ihnen das päpstliche Benefizialrecht in ihrer Heimat eröffnete.196 Bereits im Jahre 1339 residierten verschiedene Pfarrer aus der Göttinger Umgebung, darunter derjenige von Sieboldshausen, nicht auf ihren Pfarren, sondern lebten in der Stadt, brauten dort Bier und boten dieses neben anderen Waren feil. Zum Ärger des Rats weigerten sie sich aber, ihr Vermögen zu versteuern. Neben diesen beati possidentes werden ohne Namensnennung noch weitere Priester erwähnt, unter denen man sich Kleriker ohne Pfründe und unzureichend bepfründete Kleriker (pauperes clerici) vorstellen darf.197 In einem solchen Milieu – darüber hinaus 192 Otto Clemen, Luthers Werke in Auswahl Bd. 2, Berlin 1929, S. 401; WA 11, 1900, S. 414. 193 Günther Franz, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit 2) Darmstadt 1963 u. ö., S. 169 Nr. 40, S. 175 Nr. 43. Vgl. Peter Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985, S. 31–50, 54–58. 194 Dietrich Kurze, Pfarrerwahlen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Gemeinde und des Niederkirchenwesens (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 6) Köln u. Graz 1966; Ders., Die kirchliche Gemeinde. Kontinuität und Wandel. Am Beispiel der Pfarrerwahlen (1983), Wiederabdruck in: Ders., Klerus, Ketzer, Kriege und Propheten. Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Jürgen Sarnowsky, Marie-Luise Heckmann und Stuart Jenks, Warendorf 1996, S. 37–46, hier S. 40; Ders., Hoch- und spätmittelalterliche Wahlen im Niederkirchenbereich als Ausdruck von Rechten, Rechtsansprüchen und als Wege zur Konfliktlösung (1990), Wiederabdruck in: Ders., Klerus, Ketzer, Kriege und Propheten S. 84–123. Vgl. auch Bünz, »Die Kirche im Dorf lassen …« (wie Anm. 11) S. 148f. 195 C. 35.6.7 (= Friedberg 1, Sp. 1279). – Vgl. Hans Erich Feine, Kirche und Gemeindebildung, in: Theodor Mayer (Hrsg.), Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen 1 (Vorträge und Forschungen 7) Stuttgart 1964, S. 54. 196 Sicher unzutreffend ist das Urteil von Werner Freitag, Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400–1803 (Studien zur Regionalgeschichte 11) Bielefeld 1998, S. 86: »Nur die Elite der Pfarrer nutzte folglich das Instrument der päpstlichen Provisionen. Deutlich wird hier der Kontrast zwischen den Virtuosen am Pfründenmarkt und den normalen Pfarrern«. 197 UB Göttingen 1 S. 136f. Nr. 147. – Zum pauper clericus als dem nicht oder unzureichend bepfründeten Kleriker s. Andreas Meyer, Arme Kleriker auf Pfründensuche. Eine Studie über das in forma pauperum-Register Gregors XII. von 1407 und über päpstliche Anwartschaften im Spätmittelalter (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 20) Köln 1990, S. 15–19.

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freilich auch in Klientelverbänden, Landsmannschaften und Verwandtschaftskreisen198 – müssen das ganze Spätmittelalter hindurch Nachrichten ausgetauscht worden sein über vakante oder auch angreifbare Pfründen der Region.199 Unabdingbar für eine erfolgreiche Stellensuche waren die Herstellung guter Beziehungen zum jeweiligen ordentlichen Kollator, Mobilität, aber eben auch Kenntnisse des päpstlichen Benefizialrechts, dessen man sich zum eigenen Fortkommen bedienen konnte und bedient hat – auch wenn man weit entfernt von Rom im nördlichen Deutschland lebte.

198 Brigide Schwarz, Patronage und Klientel in der spätmittelalterlichen Kirche, in: QFIAB 68 (1988) S. 284–310; Dies., Alle Wege führen über Rom (wie Anm. 126) S. 5–87; Dies., Karrieren von Klerikern aus Hannover im nordwestdeutschen Raum in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Nieders. Jb. f. Landesgeschichte 73 (2001) S. 235–270, hier S. 238f.; Ulrich Schwarz, Ludolf Quirre (gest. 1463). Eine Karriere zwischen Hannover, Braunschweig und Halberstadt, in: Braunschweigisches Jb. 75 (1994) S. 29–72. 199 Vgl. Meyer, Der deutsche Pfründenmarkt (wie Anm. 25) S. 267.

III. Pfarrzwang

Der rechte Pilger: Pilgersegen und Pilgerbief im späten Mittelalter*

Wenn Ernst Schubert in seinem Buch »Fahrendes Volk im Mittelalter« der Wallfahrt einen eigenen Abschnitt widmet und – zugespitzt – das Pilgern »unter anderem (als) Landfahren auf Zeit« bezeichnet1, finden die folgenden Zeilen vielleicht sein Interesse, auch wenn sie nur von Normen handeln, die zwar wiederholt formuliert und auch befolgt wurden, wobei sich aber nicht sicher sagen läßt, ob ihre Beachtung oder aber ihre Übertretung überwogen. Die Rede soll sein vom rechten Pilger, das heißt von den Regeln, die ein Wallfahrer zu befolgen hatte oder gehabt hätte, wenn er in der Heimat und auf der Reise als wahrer Pilger gelten wollte. Aus dem wiederholt behandelten Problemkreis »Wallfahrt und Recht« wird im folgenden mit dem Pilgerbrief, das heißt mit der von dem Pfarrer eines wallfahrenden Pfarrkindes ausgestellten littera testimonialis, welche dieses als Pilger auswies, ein Thema aufgegriffen, das zwar gelegentlich schon berührt wurde, dessen im Pfarrzwang liegender Ursprung aber, soweit man sieht, noch nicht deutlich gemacht worden ist.

I.

Ausgeraubte und gefangengenommene Pilger

Drei Einbecker Bürger – Hans Albrecht, Dietrich Grundmann und Heinrich Twelen – waren auf dem Rückweg von ihrer Wallfahrt nach Einsiedeln, einem überregionalen Pilgerziel2, das vor allem während der alle sieben Jahre – so 1438 und 1466 – vom 14. bis 29. September gefeierten »Engelweihwochen«, aber auch * Erstveröffentlichung in: Peter Aufgebauer u. Christine van den Heuvel (Hrsg.): Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 232), Hannover 2006, S. 361–390. 1 Schubert, Ernst: Fahrendes Volk im Mittelalter. Bielefeld 1995, S. 276–287, Zitat S. 284. 2 Schmugge, Ludwig: Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter. In: QFIAB 64 (1984) S. 66. Ders.: Die Pilger. In: Unterwegssein im Spätmittelalter. Hrsg. von Peter Moraw. Berlin 1985 = ZHistForsch. Beiheft 1, S. 17–47, hier S. 29.

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Pfarrzwang

sonst viel besucht wurde3, als sie, nach mühseliger Reise fast wieder daheim (unse durbaren foitstappen filna fulbracht hadden), am 15. November 1442 zwischen (Hannoversch) Münden und Hardegsen uppe der keyserliken, koniklichen frigen strate bei dem Dorf Ellierode von den Knappen Hermann und Jürgen von Spiegel und deren Reitern ergriffen wurden. Die Einbecker waren am 30. September zu ihrer Pilgerfahrt aufgebrochen mit der Erlaubnis (orlove und guden willen) ihrer Pfarrer, und zwar des Johannes Magdeburg von dem Stift St. Alexandri und des Heinrich Algard von der Pfarrkirche St. Jacobi zu Einbeck. Deren ihnen darüber ausgestellte Urkunden (unser genannten perners breve), die auswiesen, daß sie to der tijd und up der reise af und to, ut und to hus, rechte ware pelegrymen weren, wurden ihnen, als sie gefesselt auf die Burg Schöneberg oberhalb von Hofgeismar verschleppt worden waren, ebenso abgenommen wie ihre Zehrung, ihre Pilgerzeichen, ihre Pilgertaschen und Pilgerstäbe, ihre Kleider und ihre Pilgergewänder (therunge, teyken, rentzel, steve, kleder und gewat pelegrymen mathe).4 Doch nicht nur das: Aus der Haft der genannten Herren von Spiegel mußten sich die in Eisen gelegten Einbecker für 300 rheinische Gulden freikaufen, die sie von Freunden und Verwandten zusammenzuleihen gezwungen waren. Auf dem Felde vor dem südniedersächsischen Elleriode waren aber nicht nur die von Spiegel und deren Leute, sondern auch Bürger und Söldner der Paderborner Städte Brakel und Nieheim zugegen gewesen. Sie befanden sich unter der Führung der Spiegel auf der Rückkehr von einem Zuge, den sie gegen Herzog Heinrich III. von Grubenhagen (reg. 1427 – † 1464) unternommen hatten. Dieser, Stadtherr unter anderem von Einbeck, hatte seit dem 9. September 1442 das Stift Paderborn verheert und der Stadt Borgentreich eine Menge Vieh geraubt. Im Gegenzug suchten die Städte Brakel, Warburg, Borgentreich und Peckelsheim sowie die von Spiegel den Solling heim und sollen dabei viele aus der Mannschaft des Welfen gefangen und nach Warburg geführt haben.5 Der Überfall der Spiegel und der Paderborner Städte auf die drei Einbecker Pilger ist eine Episode aus dieser Grubenhagen-Paderborner Fehde. Er kommt nochmals im Jahre 1453 in einer anderen Auseinandersetzung als einer unter sieben Klagepunkten des 3 Ringholz, Odilo: Wallfahrtsgeschichte Unserer lieben Frau von Einsiedeln. Freiburg i.Br. 1896, S. 7f., 49ff., 62, 80f. 4 Papierrotulus vom 4. Mai 1444, publiziert von Wigand, Paul: Denkwürdige Beiträge für Geschichte und Rechtsalterthümer aus westphälischen Quellen. Leipzig 1858, S. 206–218 Nr. 2, hier S. 209f., und von Bruns, Alfred: Urkunden des Diplomatischen Apparats der Universität Göttingen zur Geschichte der Stadt Göttingen (14.–18. Jh.). Göttingen 1962 (Maschinenschr. vervielf.), S. 46–63 Nr. 31. Der nach Wigand S. 206 Anm. *** von ihm »in dankbarer Erinnerung« der Universitätsbibliothek Göttingen übergebene Rotulus wird seitdem im Diplomatischen Apparat der Universität verwahrt, Signatur: Urkunde Nr. 252 A. Vgl. unten bei Anm. 9. 5 Schaten, Nicolaus: Annalium Paderbornensium. Pars 2. Neuhaus 1698, S. 626. Max, Georg: Geschichte des Fürstenthums Grubenhagen. Bd. 1. Hannover 1862, S. 282, 288.

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Paderborner Domkapitels gegen Hermann Spiegel zur Sprache, weil seinetwegen das Paderborner Hochstift durch die Herzöge von Braunschweig sehr bedroht werde.6 Die ausgeraubten Einbecker bemühten sich um Ersatz für die ihnen zugefügten Schäden. Dabei hielten sie sich 1444, also zwei Jahre nach dem Raub, nicht mehr an die von Spiegel, sondern vornehmlich an die Städte Brakel und Nieheim. Als Oberkeit (overste) seiner geschädigten Bürger hatte der Rat der Stadt Einbeck Klage gegen die Städte Brakel und Nieheim zuerst vor Prälaten, Kapiteln, Mannschaften, Räten und Städten des landes to Westfalen erhoben. Da die beiden Städte nicht reagierten, wurden sie von den drei Einbeckern beim Reichshofgericht wegen Straßenraubs verklagt: Soeben im Jahre 1442 hatte die Frankfurter Landfriedensordnung Friedrichs III. – die Reformatio Friderici – nun auch Pilger wie Kleriker und Kaufleute ausdrücklich dem Reisegeleitschutz des Reiches unterstellt.7 Tatsächlich sind auf die Klage der Einbecker die Städte Brakel und Nieheim und darüber hinaus die Städte Borgentreich und Peckelsheim, ferner Jürgen und Hermann von Spiegel sowie die auf der welfischen Bramburg (im Bramwald rechts der Oberweser) sitzenden Dietmar, Hans und Albrecht von Stockhausen im Achtbuch des Hofgerichts König Friedrichs III., wenn auch erst zum Jahre 1445, als Geächtete verzeichnet worden.8 Nachdem sich zwischen-

6 Grüe, Leopold: Die Spiegel-Westphalen’sche Fehde. Eine Episode aus der Geschichte des westfälischen Adels im 15. Jahrhundert. In: Zs. f. vaterländische Geschichte und Alterthumskunde 47,2 (1889) S. 20f. (freundlicher Hinweis von Edgar Müller M.A., Göttingen). 7 RTA. Bd. 16. Hrsg. von Hermann Herre u. Ludwig Quidde. Göttingen 1928 (ND 1957), S. 404 § 4: Item es sullen alle geistlich laeute kyndelbetterin und auch die, die in swaerer krankheit sein, auch pilgreime lanntfarer kaufflaeute und fuorlaewte mit irer hab und kaufmanschafft sicher sein und nicht beschediget werden. Vgl. Kintzinger, Martin: Cum salvo conductu, Geleit im westeuropäischen Mittelalter. In: Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa. Hrsg. von Rainer Christoph Schwinges u. Klaus Wriedt. Ostfildern 2003 = Vorträge und Forschungen. Bd. 60, S. 340f., der allerdings nur Kleriker und Kaufleute als hier genannt erwähnt. Vorlage des § 4 der Reformatio war – s. RTA. Bd. 16, S. 239 – Art. 3 des kurfürstlichen Landfriedensgesetzes von 1438, der Pilger aber noch nicht angeführt hat, RTA. Bd. 13. Hrsg. von Gustav Beckmann. Göttingen 1925 (ND 1957), Nr. 102 S. 157 Z. 42–44. 8 Chmel, Joseph: Geschichte Kaiser Friedrichs IV. und seines Sohnes Maximilian I. Bd. 2. Hamburg 1843, S. 734–736 Nr. II (2), hier S. 734. Das Achtbuch der Könige Siegmund und Friedrich III. Hrsg. von Friedrich Battenberg. Köln 1986 = Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Bd. 19, S. 126 Nr. 550f.; ebendort Anm. 1768 (S. 210) werden in den Klägern unzutreffender Weise Bürger aus Westfalen vemutet. In dem vom Achtbuch gebotenen Familiennamen Stothusz – von Battenberg Nr. 550 zu »Strothuß« entstellt – liegt eine Verlesung des oft schwer vom t zu scheidenden c vor; sie ist zu Stochusen zu verbessern. Zu Dietmar (III.) von Stockhausen (1397–1450) und dessen Söhnen Albrecht (VI.) und Hans (IV.), Pfandbesitzern der welfischen Bramburg (rechts der Oberweser unweit Hemeln), s. Stockhausen, Viktor von: Die ältere Ahnenreihe des niedersächsischen Geschlechtes derer von Stok- (Stoc-, Stac-, Stog-, Stogk-, Stoig-, Stock-) husen. Göttingen 1920, S. 44f. (Dethmar III.), S. 46f. (Albrecht VI., Hans IV.) und Stammtafel III. S. auch Stock-

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zeitlich Kläger und Beklagte auf ein Schiedsverfahren geeinigt hatten, legten die drei Einbecker am 22. März 1444 dem Göttinger Rat ihre Klage gegen Brakel und Nieheim mit ihren Schadenersatzforderungen schriftlich zur Entscheidung vor. Schreiben der Räte der beiden Paderborner Städte sowie des Einbecker Rates vom März beziehungsweise April 1444 wurden ebenfalls beim Göttinger Rat eingereicht. Kopien davon nebst der Niederschrift der Entscheidung der Göttinger Ratleute hielt der Göttinger Stadtschreiber Tilemann Nikolai9 auf einem aus sechs Blättern zusammengeklebten, bis heute gut erhaltenen, 2,26 m hohen und 0,29 m breiten Papierrotulus fest und beglaubigte das Ganze durch den Aufdruck des heute abgefallenen Sekretsiegels der Stadt. Solche immer wieder Staunen erregenden Rotuli sind häufiger überliefert, als allgemein bekannt ist.10 In der Sache entschieden die Göttinger am 4. Mai 1444, daß sich die beklagten Räte von Brakel und Nieheim durch Eid von dem Vorwurf reinigen sollten, sie wären als Anstifter oder Mittäter an den Einbecker Pilgern schuldig geworden. Wenn sie diesen Eid nicht leisteten, sollte den Klägern der Beweis ihrer Beschuldigungen erlaubt sein. Sollten diese nachgewiesen werden können, wären den drei Einbeckern der Raub, die Schatzung in Höhe von 300 Gulden sowie alle ihre Auslagen und Kosten in Höhe von 100 Gulden in jeweils doppelter Höhe zu ersetzen.11 Vom Ausgang des Streits erfährt man nichts. Naheliegenderweise werden die Beklagten den geforderten Eid geleistet und die Pilger somit leer ausgegangen sein. An Jürgen Spiegel (von Peckelsheim) dürften sie sich deshalb bald nicht weiter herangewagt haben, weil dieser, Erbmarschall der Bischöfe von Paderborn12, in Dietrich von Moers, dem Erzbischof von Köln und Administrator von Paderborn (1414–1463), einen mächtigen, vor Gewalt keineswegs zurückschreckenden Fürsten zum Herrn hatte. Wie bereits aus der Höhe der Lösegeldsumme und der Hartnäckigkeit, mit der die Klage verfolgt wurde, geschlossen werden kann, zählten die drei Pilger zu den

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hausen, Joachim von: Spurensuche im Grenzgebiet von Werra und Weser. Göttingen 2001, S. 181f., 188, 544. Hoheisel, Peter: Die Göttinger Stadtschreiber bis zur Reformation. Göttingen 1998 = Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen. Bd. 21, S. 58 Anm. 307, S. 206, 246 und Abb. 55 u. 69. Vgl. Anm. 4. Eine Zusammenstellung bei Santifaller, Leo: Über Papierrollen als Beschreibstoff. In: Mélanges Eugène Tisserant. Archives Vaticanes. Histoire ecclésiastique. Bd. 2. Città del Vaticano 1964 = Studi e testi. Bd. 235, S. 361–371, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Der Rotulus des Diplomatischen Apparats fehlt. Wigand: Beiträge (wie Anm. 4), S. 216f., und S. 219–222 mit einer Erklärung der zur Anwendung gekommenen prozessualen Verfahren. Wigand: Beiträge (wie Anm. 4) S. 214. Zu Hermann (VII.) von Spiegel zum Desenberg († um 1465) und Jürgen (Georg) (I.) Spiegel von Peckelsheim († 1463) s. Grüe: Fehde (wie Anm. 6) S. 11f., 19. Spiegel von und zu Peckelsheim, Raban Frhr.: Geschichte der Spiegel zum Desenberg und – von und zu Peckelsheim, zugleich ein Beitrag zur westfälisch-hessischen Heimatgeschichte. 3 Bände [Göttingen] 1956–1958 (Maschinenschr. vervielf.), hier Bd. 1, S. 178–211.

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vermögenden Einbecker Bürgern. Tatsächlich besaß Hans Albrecht 1444 ein Haus, das am Einbecker Markt lag.13 Wer am Marktplatz Hausbesitzer war, zählte zu den führenden Familien einer Stadt.14 Eine 1456 erwähnte Bude des Dietrich (= Tile) Grundmann in der Hullerser Straße, einer der Hauptstraßen Einbecks, und zwar der dortigen Neustadt, dürfte nicht dessen einziger Immobilienbesitz gewesen sein.15 Eingepfarrt waren die drei Pilger in die Kirchspiele der Stiftskirche St. Alexandri beziehungsweise der Marktkirche St. Jacobi.16 Wenn sich die drei Einbecker im Pilgergewand mit Pilgerhut, Pilgerstab und -tasche und darüber hinaus mit orlove und goden willen ihrer Pfarrherren auf den Weg machten und sich darüber eine Urkunde des Inhalts ausstellen ließen, daß sie derzeit rechte und wahre Pilger seien, sei es zu Hause oder unterwegs, dann haben sie sich förmlich ihren Pilgerstatus bescheinigen lassen und besaßen den diesem Status gebührenden Rechtsschutz. Die Pilgerreise der drei war nach den im späten 15. Jahrhundert und in der Reformationszeit verwendeten Begriffen kein geleuff oder concursus17, also kein impulsiver Aufbruch zu einer der Massenwallfahrten, wie man sie von den französischen Pastorellen des frühen 14. Jahrhunderts bis hin zu den Wallfahrern zur Schönen Maria in Regensburg in den Jahren von 1519 bis 1525 her kennt18, sondern ein wohlvorbereitetes, geordnetes Unternehmen. Pilgerstab (baculus, fustis, burdo) und Tasche (pera, scapsella, sporta, scacella, echarpe) waren die wichtigsten äußeren Zeichen des habitus peregrinorum. Die niemals einheitliche Kleidung wurde erst durch auf Hut und Tasche angebrachte Abzeichen, etwa durch die seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr nur den Santiago-Pilger kennzeichnende Muschel oder durch eine Darstellung Mariens, der Heiligen drei Könige, der Schlüssel Petri oder des Kreuzes zum Pilgergewand.19 13 Feise, Wilhelm: Urkundenauszüge zur Geschichte der Stadt Einbeck bis zum Jahre 1500. Einbeck 1959, S. 203 Nr. 1066. 14 Vgl. Steenweg, Helge: Göttingen um 1400. Sozialstruktur und Sozialtopographie einer mittelalterlichen Stadt. Bielefeld 1994 = Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen. Bd. 33, S. 212 mit Abb. 4.22. 15 Feise: Urkundenauszüge (wie Anm. 13) S. 234 Nr. 1243. In Einbeck konnten aber auch die bode die Braugerechtsame besitzen, Aumann, Stefan: … und wird gar weit geführet. Die Geschichte des Einbecker Bieres. Oldenburg 1998 = Studien zur Einbecker Geschichte. Bd. 14, S. 57–59. Ebenda als Beilage eine Reproduktion des Grundrisses der Stadt Einbeck v.J. 1750 mit der Eintragung u. a. der Straßennamen und der nördlich der Hullerser Straße durch den Dreck-Graben bezeichneten Kirchspielgrenze zwischen Marktkirchspiel und Neustädter Kirchspiel. 16 Zu den Einbecker Pfarreien s. Kuper, Gaby: Die Ausbildung des Einbecker Pfarreiwesens im Mittelalter. In: JbGesNiedersKG 98 (2000) S. 107–129. 17 S. unten bei Anm. 147. 18 Schmugge: Die Pilger (wie Anm. 2) S. 33–39. 19 Glossarium mediae et infimae latinitatis. Begr.v. Charles Du Fresne du Cange. Ed. nova von Lépold Favre. Bd. 10. Paris 1938. Dissertation XV. De l’escarcelle et du bourdon des pèlerins de la terre sainte, S. 54f. Garrisson, Francis: A propos des pèlerins et de leur condition

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II.

Pfarrzwang

Pilgerschutz

Bei einer durchaus ambivalenten Haltung der alten Kirche gegenüber dem Pilgerwesen im allgemeinen20 und der karolingerzeitlichen Bischöfe im besonderen – und zwar gegenüber der Bußwallfahrt zum Papst nach Rom – standen Pilger seit dem 8. Jahrhundert unter dem Schutz der weltlichen Herrscher21 und des kirchlichen Rechts.22 Von Pilgern errichtete Testamente waren zu respektieren, Schulden von Pilgern durften während ihrer Abwesenheit nicht eingetrieben, ihnen gehörende Grundstücke, sofern sie keinen Treuhänder bestellen mußten, von den Angehörigen nicht veräußert werden.23 Auf den Rechtsschutz des Pilgers auswärts und eben auch daheim bezogen sich die Einbecker, wenn sie 1444 schrieben, sie seien up der reise af und to, ut und to hus, rechte ware pelegrymen gewesen.24 Auch die Gottesfrieden und die Landfrieden des hohen und späten Mittelalters nahmen sich des Pilgerschutzes an.25 Das um 1275 verfaßte Landrecht sowohl

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juridique. In: Études d′Histoire du droit canonique dédiées à Gabriel Le Bras. Paris 1965. Bd. 2, S. 1168f. Carlen, Louis: Wallfahrt und Recht im Abendland. Freiburg i.Ue. 1987 = Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat. Bd. 23, S. 119f. Zur Pilgerkleidung s. Vogel, Cyrille: Le pèlerinage pénitentiel. In: Révue des sciences religieuses 38 (1964) S. 132. Georges, André: Le pèlerinage à Compostelle en Belgique et dans le Nord de la France. Suivi d’une étude sur l’iconographie de Saint Jacques en Belgique. Bruxelles 1971 = Académie royale de Belgique. Classe des beaux-arts. Mémoires. Collection in 40. 2. sér. Bd. 13, S. 32–58. Wilcken, Leonie von: Die Kleidung der Pilger. In: Wallfahrt kennt keine Grenzen. Hrsg. von Lenz Kriss-Rettenbeck u. Gerda Möhler. München u. Zürich 1984, S. 174–180. Schreiner, Klaus: ›Peregrinatio laudabilis‹ und ›peregrinatio vituperabilis‹. Zur religiösen Ambivalenz des Wallens und Laufens in der Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters. In: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und Früher Neuzeit. Red. von Gerhard Jaritz u. Barbara Schuh. Wien 1992 = Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Bd. 14 = ÖsterrAkad. Phil.-hist. Kl. Sitzungsberichte. Bd. 592, S. 133–163, hier S. 136–142. Wohlhaupter, Eugen: Wallfahrt und Recht. In: Wallfahrt und Volkstum. Hrsg. von Georg Schreiber. Düsseldorf 1934 = Forschungen zur Volkskunde. Bd. 16/17, S. 225f. Vogel: Le pèlerinage (wie Anm. 19) S. 133, 137f. Carlen: Wallfahrt und Recht (wie Anm. 19) S. 150. Hattenhauer, Hans: Europäische Rechtsgeschichte. 3. Aufl. Heidelberg 1999, S. 237, Art. 719. Gratian C. 24 q. 3 c.23 (Friedberg 1, Sp. 996f.): Si quis Romipetas et peregrinos Apostolorum limina, et aliorum sanctorum oratoria uisitantes capere, seu rebus, quas ferunt, spoliare … temptaverit, donec satisfecerit, communione careat Christiana. Naz, Raoul: Pèlerinage. In: DDC. Bd. 6. Paris 1957, Sp. 1313–1317. Gilles, Henri: Lex peregrinorum. In: Le pèlerinage. Toulouse, Fanjeaux 1980 = Cahiers de Fanjeaux. Bd. 15, S. 172–179. Carlen: Wallfahrt und Recht (wie Anm. 19) S. 150f. Carlen: Wallfahrt und Recht (wie Anm. 19) S. 133–138. S. oben bei Anm. 4. Hoffmann, Hartmut: Gottesfriede und Treuga Dei. Stuttgart 1964 = Schriften der MGH. Bd. 20, S. 48, 96, 102, 173, 187, 219, 223, 229, 232, 236. Carlen: Wallfahrt und Recht (wie Anm. 19) S. 148f. Vgl. oben bei Anm. 7.

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des Deutschenspiegels als auch des Schwabenspiegels sieht als Sühne für den Straßenraub an Klerikern, Kaufleuten und Pilgern den Tod am Galgen vor und definiert dabei, wer denn ein Pilger sei: Nu sult ir hœren an wem man den strâzraup müge begân. Daz tuot man an … pilgrîme die stap und taschen von ir liutpriester genomen habent.26 Hiernach machten also nicht allein die äußeren signa peregrinationis, sondern darüber hinaus deren Entgegennahme aus der Hand des Pfarrers ein Pfarrkind zum Pilger.

III.

Pilgersegen

Die Übergabe von Stab und Tasche seitens des Pfarrers ging einher mit der Spendung des Pilgersegens.27 Für den Zisterzienser Gunther von Pairis oder für den Bologneser Juristen Alanus Anglicus war es im frühen 13. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit, daß zur Wallfahrt aufbrechende Laien den Segen ihres Pfarrers empfingen.28 Die älteste Formel für den Pilgersegen bietet das aus dem Mainzer Kloster Sankt Alban stammende Pontificale Romano-Germanicum aus dem 10. Jahrhundert. Unter der Rubrik Benediccio super capsellas et fustes et 26 Deutschenspiegel und Augsburger Sachsenspiegel. Hrsg. von Karl August Eckhardt u. Alfred Hübner. 2. Aufl. Hannover 1933 = MGH Fontes iuris N. S. Bd. 3, S. 118 Art. 42. Dazu Schwabenspiegel. Kurzform I. Hrsg. von Karl August Eckhardt. Hannover 1960 = MGH Fontes iuris N.S. Bd. IV,1, S. 95–97, Art. 42 (40, 49): pilgrein dy stab vnd taschen von iren pfarernn genomen habent oder in der cherrein gent. Schwabenspiegel. Kurzform III (Tambacher Handschrift). Hrsg. von Karl August Eckhardt. Hannover 1972 = MGH Fontes iuris N.S. Bd. IV,3, S. 86, Art. 49. Sowie Schwabenspiegel. Kurzform. Mitteldeutsch-niederdeutsche Handschriften. Hrsg. von Rudolf Grosse. Weimar 1964 = MGH Fontes iuris N.S. Bd. 5, S. 69 Z. 11–27, Art. 42. – Die seit Burchard von Worms – und im 12. Jh. auch in Frankreich – bezeugte Karene (carina, carena) ist als 40 tägige Bußübung Bestandteil der poenitentia publica solemnis und der poentitentia publica non solemnis, s. Vogel: Le pèlerinage (wie Anm. 19) S. 119. Vgl. auch Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert. Red. von Otto Prinz. Bd 2. München 1999, Sp. 284f. s.v. 27 Vgl. Gottlob, Adolf: Kreuzablaß und Almosenablaß. Eine Studie über die Frühzeit des Ablasswesens. Stuttgart 1906 = Kirchenrechtliche Abhandlungen. Bd. 30/31, S. 152. Schreiber: Strukturwandel der Wallfahrt. In: Wallfahrt und Volkstum (wie Anm. 21) S. 1–7. Herwaarden, Jan van: Pilgrimages and social prestige. In: Wallfahrt und Alltag (wie Anm. 20) S. 62. 28 Gunther von Pairis, De oratione, ieiunio et eleemosyna VIII, 9. In: Migne PL. Bd. 212, Sp. 170 D: … ut hi qui vel Dominicum sepulcrum, vel apostolorum limina, vel alia religiosa loca spontaneo labore et humili devotione venerantur. Quae quidem sacrorum locorum aditio clericis saecularibus benedictione sui episcopi, laicis vero benedicente plebano suo conceditur; monachi autem sive clericis saecularibus [= regularibus] absque permissu summi pontificis omnimodis inhibetur. Die umstrittene Autorschaft des Gunther von Pairis wird diesem mit guten Gründen zugewiesen von Orth, Peter (Hrsg.): Gunther von Pairis, Hystoria Constantinopolitana. Untersuchungen und kritische Ausgabe. Hildesheim u. Zürich 1994 = Spolia Berolinensia. Beiträge zur Mediävistik. Bd. 5, S. 1–65 (Forschungsüberblick). Zu Alanus Anglicus s. unten bei Anm. 59.

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Pfarrzwang

super eos qui cum his limina ac suffragia sanctorum apostolorum petituri sunt enthält es – nach einem Eingangsgebet – für die Übergabe der Pilgerstäbe und Taschen (Quando dabuntur capsellae et fustes) die Gebetsformel: Accipite has capsellas et hos fustes et pergite ad limina apostolorum, in nomine patris et filii et spiritus sancti, ut per intercessionem beatae Dei genitricis Mariae et omnium apostolorum atque omnium sanctorum mereamini in hoc seculo accipere remissionem omnium peccatorum et in futuro consorcium omnium beatorum. Per [dominum nostrum]. Die Segnung endet mit einem Fürbittegebet des Bischofs für die Pilger.29 Das ins 12. Jahrhundert gehörende Rituale aus St. Florian kennt nun den Priester als den Spender der Pilgerbenediktion30, und dementprechend zählte der in der ersten Häfte des 12. Jahrhunderts in Regensburg lebende Honorius Augustodunensis die Benediktion von Pilgerstab und Tasche zu den üblichen priesterlichen Funktionen: De presbyteris … Horum officium est missas celebrare, pro populo sacrificare, corpus Domini dispensare, praedicare, baptizare, poenitentes absolvere, infirmos ungere, mortuos sepelire, populum ad missam, vel nuptias, vel arma, vel peras, vel baculos, vel iudicia ferri31, et aquas vel candelas, vel palmas, vel cineres, vel quaslibet res ad cibum pertinentes benedicere.32 Im Mittelalter gab es fast keine priesterliche Handlung ohne entsprechende Gegengabe der Gläubigen. So ist das Opfer anläßlich von Pilgerbenediktionen, also die Pilgeroblation, im 11. und 12. Jahrhundert gut bezeugt, wenn auch

29 Vgl. Le pontifical romano-germanique du dixième siècle. Hrsg. von Cyrille Vogel und Reinhard Elze. Le Texte. Bd. II. Città del Vaticano 1963 = Studi e testi. Bd. 227, S. 362 Nr. CCXII. 30 Franz, Adolph: Das Rituale von St. Florian aus dem zwölften Jahrhundert. Freiburg i.Br. 1904, S. 113–115. Ders.: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter. Freiburg i.Br. 1909. Bd. 2, S. 277–278, vgl. Vogel: Le pèlerinage (wie Anm. 19) S. 150 Anm. 126. Die durch den Priester vorzunehmende Pilgerbenediktionen sodann in der vom Anfang des 14. Jh. stammenden Breslauer Agende, Das Rituale des Bischofs Heinrich I. von Breslau. Mit Erläuterungen. Hrsg. von Adolph Franz. Freiburg i.Br. 1912, S. 26–29, oder in der Augsburger Agende von 1487, Franz: Benediktionen. Bd. 2, S. 274 Anm. 8. 31 So zu lesen gegenüber dem Druck (s. folgende Anm.), der unrichtiges ferre in offenkundiger Parallelisierung zu dem am Satzende stehenden Verb benedicere bietet. Es muß sich aber um das iudicium ferri, um die mit der Benediktion des Elements einhergehende Feuer- (Eisen-) probe handeln, vgl. zu dieser Schreiber, Georg: Kirchliches Abgabenwesen an französischen Eigenkirchen aus Anlaß von Ordalien. In: ZRG 36 KA 5 (1915), S. 462–466. Wiederabdruck in: Ders.: Gemeinschaften des Mittelalters. Gesammelte Abhandlungen. Münster 1948. Bd. 1, S. 195–197. Nottarp, Hermann: Gottesurteilsstudien. München 1956 = Bamberger Abhandlungen und Forschungen. Bd. 2, S. 230–236; Wortlaut der Benediktion bei einer Eisenprobe bei Franz: Rituale von St. Florian (wie Anm. 30) S. 119–124 und Tf. 4 b mit der Abb. einer Eisenprobe aus dem Lambacher Rituale des 12. Jh., vgl. ebenda S. 25. – Ebenda S. 27 mit Tf. 2a die Darstellung einer Pilgersegnung in einer Initiale. 32 Gemma animae I, 181. In: Migne PL. Bd. 172, Sp. 599 D.

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freilich in der Regel nur aus dem nördlichen Frankreich.33 In den wenigen »Pfarrbüchern« in Deutschland hat sich vielleicht wenigstens einmal, im Pfarrbuch von Hilpoltstein (Diözese Eichstätt), eine Spur der Pilgeroblationen, hier votivales genannt, erhalten.34 Jedenfalls war die Pilgersegnung seit dem 11. Jahrhundert ein Pfarrecht geworden, das vom Pfarrer geltend gemacht werden konnte. Auch der heimgekehrte Wallfahrer ließ sich segnen.35 Im Jahre 1494 hält Johannes Geiler von Kaysersberg in seinen 18 Ratschlägen für einen Pilger viele praktische, von ihm dann allegorisch ausgedeutete Empfehlungen bereit vom Mitführen eines Feuerzeugs und eines Lebkuchens mit Ingwer und Nelken für den Krankheitsfall36 bis hin zu einem Brot und einer Flasche Wein (fleschen mit wein). Er schweigt sich aber aus – wahrscheinlich doch wohl, weil er das ihm allzu Selbstverständliche zu nennen vergaß – über den Segen beim Aufbruch zur Wallfahrt. Allein für den Heimkehrer notiert er andeutungsweise einen liturgischen Akt: und denn so legt er [der bilger] seinen stab und den sack auf den altar und hatt den sein bilgerfart gar volpracht.37 Die Darbringung der signa peregrinationis auf den Altar dürfte bei der Segnung der Rückkehrers erfolgt sein. Die Benediktion beim Aufbruch empfing der Pilger erst nach Beichte und Buße. Mit ihr einher erging der Konsens des Pfarrers, daß sich das Beichtkind 33 Schreiber, Georg: Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert. Bd. 2. Stuttgart 1910 (ND 1965) = Kirchenrechtliche Abhandlungen. Bd. 68, S. 150f. ders.: Strukturwandel der Wallfahrt. In: Wallfahrt und Volkstum (wie Anm. 21) S. 2–7. Vogel, Le pèlerinage (wie Anm. 19) S. 149 mit Anm. 121. Parisse, Michel: Recherches sur les paroisses du diocèse de Toul au XII siècle: l’église paroissiale et son desservant. In: Le istituzioni ecclesiastiche della ›Societas Christiana‹ dei Secoli XI–XII. Diocesi, pievi e parrocchie. Mailand 1977 = Miscellanea del centro di studi medioevali. Bd 8, S. 566. Petke, Wolfgang: Von der klösterlichen Eigenkirche zur Inkorporation in Lothringen und Nordfrankreich im 11. und 12. Jahrhundert. In: Revue d’Histoire Ecclésiastique 87 (1992) S. 39 mit Anm. 16. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 191– 248. Novum glossarium mediae latinitatis. Bd. Pea-Pezzola. Kopenhagen u. Genf 2000, Sp. 284f. 34 Das Pfarrbuch des Stephan May in Hilpoltstein vom Jahre 1511. Hrsg. von Johann Baptist Götz. Münster 1926 = Reformationsgeschichtliche Studien und Texte. Bd. 47/48, S. 177: De votivalibus ubique. Votivales sunt in beneplacito constituentis. Ideoque si quas perceperis a devotis personis, easdem et assignabis. Es kann sich hier gegen Götz, S. 99 aber auch lediglich um Votivgaben gewöhnlicher Pfarrkinder, zum Beispiel an ein in der Kirche befindliches Bild, handeln. 35 Franz: Das Rituale von St. Florian (wie Anm. 30) S. 115. Franz: Das Rituale von Breslau (wie Anm. 30) S. 27f. 36 Ingwer galt als Mittel gegen Magenbeschwerden, Nelken waren als Universalheilmittel und speziell zur Linderung von Zahnschmerzen beliebt, s. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 5. Halle u. Leipzig 1733 (ND 1961), Sp. 1192. Bd. 14. Leipzig u. Halle 1735 (ND 1982), Sp. 684. 37 Geiler von Kaysersberg, Johannes: Der bilger mit seinen eygenschaften. In: ders.: Sämtliche Werke. 1. Teil. Die deutschen Schriften, Erste Abt. Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften. Bd. 1. Hrsg. von Gerhard Bauer. Berlin u. New York 1989 = Ausgaben deutscher Literatur des XV.-XVIII. Jahrhunderts. Bd. 129, S. 30–95, Zitat S. 84 Z. 26ff.

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überhaupt auf Pilgerreise begab: War für das Landrecht von Deutschen- und Schwabenspiegel ein Pilger, wer aus der Hand seines Pfarrers Tasche und Stab empfangen hat38, so ist das für den Verfasser des Augsburger Stadtrechtes von 1276 derjenige, der mit sins liupristers rate unde mit siner bihte unde mit siner buzze uzkommen ist.39 Eine zweihundert Jahre jüngere Erklärung in der 1487 gedruckten Augsburger Agende bringt alle zur Erlangung des Pilgerstatus erforderlichen Akte zwar immer noch nicht zusammen – Beichte und Buße erwähnt sie nicht ausdrücklich –, definiert aber als Pilger, wer Stab und Tasche mit dem Segen, der Fürbitte und der Erlaubnis des Priesters (licentia sui sacerdotis) empfangen habe; nur diese Pilger genössen den Pilgerschutz von Papst und Kirche, könnten auch unterwegs die Sakramente empfangen und würden der Ablässe, die außerhalb der Heimatdiözese zu erlangen seien, teilhaftig.40 Erst der Augustinereremit Johannes von Paltz bündelte 1503/1504 die erforderlichen Schritte und nannte vier Gesichtspunkte, die zu beachten seien, um sich richtig auf eine Pilgerreise zu begeben (Quid ergo debemus facere, ne decipiamur in peregrinatione): 1) Man erkundige sich bei den Oberen und Informierten (superiores et intelligentes), ob der Zielort tauglich und anerkannt sei (approbatus) – eine Maßregel gegen die Wallfahrt zu »wilden« Gnadenorten.41 2) Man versöhne sich mit Gott durch Beichte und Buße. 3) Man hole die Einwilligung der Ehefrau ein und wäge ab, ob eine lange Abwesenheit Kindern und Hausstand zuträglich sei oder nicht. 4) Man prüfe sich selbst, ob man körperlich und materiell die Last (onus) des Wallens tragen könne. Wenn schließlich alles geklärt sei, habe man

38 S. oben bei Anm. 26. 39 Meyer, Christian: Das Stadtrecht von Augsburg, insbesondere das Stadtrecht vom Jahre 1276. Augsburg 1872, S. 91 Z. 14, c. 32 § 2. Vgl. Favreau-Lilie, Marie-Luise: Civis peregrinus. Soziale und rechtliche Aspekte der bürgerlichen Wallfahrt im späten Mittelalter. In: AKG 76 (1994) S. 334 mit Anm. 41. 40 Franz: Die kirchlichen Benediktionen. Bd. 2 (wie Anm. 30) S. 274 Anm. 8: et nota, quod ualde utile est peregrinantibus, ut sic insignia peregrinationis, scilicet baculum et peram cum benedictione et oratione ac licentia sui sacerdotis assumant, quia omnes tales sunt sub protectione domini pape ac sancte ecclesie gaudentque pluribus priuilegiis quoad sacramenta, participationem indulgentiarum ab alienis prelatis concessarum et plura alia. Dieselbe Bemerkung soll sich nach Franz, ebenda, in der gedruckten Salzburger Agende von 1496, Bl. 103v, in der gedruckten Konstanzer Agende von 1502, Bl. 97, 99 – vgl. zu den Drucken Ders.: Die kirchlichen Benediktionen. Bd. 1, 1909, S. XXX, XXXII f. – und in Clm 4659, Bl. 87, finden. 41 Dieses Attribut bei Luther, Martin: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. In: WA Bd. 6, 1888, S. 447: Das die wilden Capellen und feltkirchen wurden zu poden vorstoret. Vgl. Schmugge: Die Pilger (wie Anm. 2) S. 37. Hrdina, Jan: Die Topographie der Wallfahrtsorte im spätmittelalterlichen Böhmen. In: Geist, Gesellschaft, Kirche im 13.–16. Jahrhundert. Hrsg. von Frantisˇek Sˇmahel. Prag 1999 = Colloquia mediaevalia Pragensia. Bd. 1, S. 199.

Der rechte Pilger: Pilgersegen und Pilgerbief im späten Mittelalter

333

nach erfolgter Beichte die Erlaubnis des Seelsorgers zu erlangen (recipere licentiam a curato); dann möge man sich in Gottes Namen fortbegeben.42

IV.

licentia, littera testimonialis, breve/breff, formata, forma dimissorii

Was in dem Einbecker Fall als des Pfarrherrn orlove und guden willen erwähnt wird, im Augsburger Stadtrecht als des Pfarrers rate, in dem Augsburger Rituale von 1487 sowie soeben bei Johannes von Paltz als licentia des Pfarrers, mußte vom Pfarrkind erbeten werden. Das ist nicht nur ohne weiteres vorstellbar, sondern zum Beispiel durch die Wallfahrtspredigt des Osnabrücker Augustinereremiten Gottschalk Hollen (um 1411 – †1481) auch ausdrücklich belegt. Darüber hinaus bezeugt Hollen, daß dem Pilger eine littera testimonialis darüber ausgestellt wurde, daß dieser rechtgläubig, nicht exkommuniziert und somit befugt sei, die Sakramente zu empfangen wo auch immer.43 Versehen mit einer solchen littera, war der Wallfahrer – so ist zu folgern – ausgewiesen als ein rechter Pilger (ein recht pelegrime).44 Diese littera hieß im eingangs geschilderten Einbecker Fall von 1442/1444 oder in Hildesheim im Jahre 1440 perners breve beziehungsweise breff 45, in Göttingen im Jahre 1401 pilgrim briff 46 und um 1500 in 42 Johannes von Paltz: Werke, Teil 2. Supplementum Coelifodinae. Hrsg. u. bearb. v. Berndt Hamm. Unter Mitarb. v. Christoph Burger u. Venicio Marcolino. Berlin 1983 = Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen. Bd. 3, S. 389f.: Et si omnia fuerint plana, debes recipere licentiam a curato tuo facta confessione et sic in nomine domini pergere. Vgl. Schreiner: Peregrinatio (wie Anm. 20) S. 159. 43 Gottschalk Hollen: Sermonum opus exquisitissimum … disertissimi declamatoris … patris Gotschalci Eremitarum diui Augustini professi … super epistolas dominicarum per anni circulum … Ps. 2: Sermones dominicales super epistolas Pauli partis Estiualis … vna cum sermonibus de Dedicatione. Hagenau u. [Augsburg] 1520 [= VD 16 H 4472], Dominica XX post Pentecostes, Sermo C, De peregrinatione, fol. Dd 3rb: Ut igitur bene fiat et meritorie, multa debent oberservari. Primo requiritur vt consensus et licentia sui pastoris petatur et habeatur a quo debet recipere baculum / pileum, peram et benedictionem, et etiam litteram testimonialem, quod sit fidelis catholicus, non sententia excommunicationis innodatus, et vbicumque venerit poterit recipere ecclesiastica sacramenta, vt patet de consecratione dist. V. c. ›Non oportet ministros altaris vel quemlibet clericum preter iussionem episcopi ad peregrinandum proficisci. Laicum eciam sine canonicis litteris, id est formata, similiter non oportet alicubi proficisci‹ – hec ibi [= De cons. D. 5 c. 37; Friedberg 1, Sp. 1422]. Ideo dicitur in c. Magne, extra de votis et voti redemptione ›iuxta canonica instituta clericus absque sui episcopi licencia peregrinari non debeat et episcopus non minus imo potius sedi apostolice‹ [= X 3.34.7; Friedberg 2, Sp. 592]. A fortiori nec monachus sine licencia sui abbatis potest peregrinari. – Vgl. Schreiner: Peregrinatio (wie Anm. 20) S. 155. 44 Vgl. unten bei Anm. 103–108. 45 S. oben bei Anm. 4. – UB Stadt Hildesheim. Bd. 4, S. 376 Nr. 391. Vgl. Schubert, Ernst: Der Fremde in den niedersächsischen Städten des Mittelalters. In: NiedersJbLG 69 (1997) S. 35. 46 UB Stadt Göttingen. Bd. 2 S. 1 Nr. 1, Z. 13. Vgl. Anhang, Nr. 2.

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Ilsenburg am Harz in der über einem Pilgerbriefformular stehenden Rubrik Dimissorium (forma dimissorii).47 Dieser Terminus und Teile des dort überlieferten Urkundenformulars ermöglichen die Offenlegung der Rechtsgründe der Pilgerbriefe.48 Eine Verwendung der auch bereits zeitgenössischen Termini kundschaft / kuntscap / kundschaftsbrief – und zwar im Sinne von Zeugnis49 – ist im vorliegenden Zusammenhang bislang nicht bekannt. Gratian verwendete für das geforderte schriftliche Testat die Begriffe litterae canonicae beziehungsweise formata: Non oportet ministrum altaris uel quemlibet clericum preter iussionem episcopi ad peregrinandum proficisci. Laicum etiam sine canonicis litteris, id est formata, similiter non oportet alicubi proficisci.50 An anderer Stelle faßte sich Gratian über die formata als Bescheinigung, und zwar nun wieder nur für pilgernde Kleriker, kürzer51, um an einem weiteren Ort unter epistol(ae) canonic(ae), quas mos latinus ›Formatas‹ vocat, einen Empfehlungsbrief oder genauer: ein dimissorium, zu verstehen, und zwar nun expressis verbis für einen Kleriker, der aus dem Dienst seines Bischofs in den eines anderen entlassen wurde; diese Briefe sollten, von Gratian so wie vor ihm schon von 47 UB Ilsenburg. Bd. 2. Halle 1877 = GQProvSachs. Bd. 6,2, S. 97 Nr. 452. Vgl. Anhang, Nr. 13 und unten bei Anm. 122. 48 S. unten bei Anm. 122ff. 49 Vgl. DRW. Bd. 8. Weimar 1984–1991, Sp. 94–98, 103, s.v. – Schubert: Fremde in den niedersächsischen Städten (wie Anm. 45) S. 36 setzt das Wort kundschaft im Sinne von Herkunftszeugnis / Geburtszeugnis später an. – Personenstandsbescheinigungen – zweifellos zur Unterbindung von klandestinen Heiraten und von Bigamie – sind älter: Bereits 1269 verbietet ein Synodalstatut des Bischofs Nikolaus Gellent von Angers den Mißbrauch, daß Pfarrherren für die für eine Eheschließung außerhalb der Heimatpfarrei erforderliche Personenstandsbescheinigung Gebühren fordern, Les statuts synodaux français du XIIIe siècle. Bd. 3: Les statuts synodaux Angevins de la seconde moitié du XIIIe siècle. Hrsg. v. Joseph Avril. Paris 1988 = Collection de documents inédits sur l’histoire de France. Série in-80. Bd. 19, S. 98–100: Verum intelleximus novum genus exactionis exortum quia si aliquando parrochianus aliquis in aliena parrochia matrimonium contrahat in nostra dyocesi vel eciam aliena et a sacerdote suo postulet, qui status ipsius habet noticiam, litteras sibi concedi, quod persona sua sit libera ad contrahendum, nunquam sacerdotes eas concedere volunt, nisi prius pro dicta littera concedenda, eis a postulante aliquid conferatur, vel certissime promittatur … 50 De cons. D. 5 c. 37 (Friedberg 1, Sp. 1422): Non oportet. 51 D. 71 c. 9: Nullum absque formata, quam Greci epistolam dicunt, suscipi peregrinorum clericorum oportet (Friedberg 1, Sp. 259). Vermittelt über die um 1120 in Italien entstandene Collectio Trium Librorum II,3,5 (zu Datierung und Lokalisierung s. Landau, Peter: Neue Forschungen zu vorgratianischen Kanonessammlungen und den Quellen des gratianischen Rechts. 1984. Wiederabdruck in: Ders.: Kanones und Dekretalen. Beiträge zur Geschichte der Quellen des kanonischen Rechts. Goldbach 1997 = Bibliotheca eruditorum. Bd. 2, S. 199* f.), liegt dem c. Nullum absque zu Grunde der c. 7 des Konzils von Antiochia von 341: Μηδένα άνευ είρηνικων δέχεσθαι των ξένων, Acta et symbola conciliorum quae saeculo quarto habita sunt. Hrsg. von Engbert Jan Jonkers. Leiden 1954 = Textus minores. Bd. 19, S. 50. Zum ursprünglichen Sinn dieses Kanons s. Fabricius, Clara: Die Litterae Formatae im Frühmittelalter. In: AUF 9 (1926) S. 71: die είρηνικαί sind hier Briefe für Exkommunizierte nach erhaltener Absolution.

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Regino von Prüm, von Burchard von Worms und von Ivo von Chartres an Hand von Textbeispielen erläutert, in Protokoll und Eschatokoll mit griechischen Buchstaben entsprechend deren jeweiligen Zahlenwerten verschlüsselt sein.52 Nach Formelbüchern des 13. und 14. Jahrhunderts sind litterae formatae nun, da ihre Verfasser die nicäanische Form der formata nicht mehr kennen53, Ordinationszeugnisse.54 Wenn die Mainzer Provinzialstatuten von 1423 Gebührenfreiheit unter anderem für die Erteilung von Weihen an Kleriker und für formatae verfügten55, dürften diese die Weihezeugnisse und nicht Dimissorien für Kleriker im Auge gehabt haben; diese hießen und heißen auch litterae excardinatoriae beziehungsweise litterae excardinationis.56 Jedenfalls ist es Gratian gewesen, der mit Non oportet (De cons. 5 c. 37) das Erfordernis einer schriftlichen Bescheinigung auch für die pilgernden Laien in das Kirchenrecht eingeführt hat.57 Alsbald spricht die älteste Handschrift des Liber Sancti Jacobi, der »Codex Calixtinus« in Santiago de Compostela, in Calixts II. fiktiver Predigt Veneranda dies von der seitens der rechten Pilger von deren Seelsorgern (und Familienangehörigen) einzuholenden Erlaubnis zur Pilgerfahrt.58 Daß Laien solche vom Bi52 Dictum ante D. 73: Qualiter uero commendaticia, uel dimissoria seu formata epistola facienda sit, uidendum est …, und D. 73 c.1, c.2 (Friedberg 1, Sp. 260f. mit Anm. 26 zu D. 73 c. 1). Solche bischöflichen Schreiben – im Kern Legitimationen – meinen auch D. 68 c. 3 nebst Dictum post, D. 68 c. 4 (Friedberg 1, Sp. 254f.) und De cons. D. 3 c. 24 (Friedberg 1, Sp. 1359). Zur formata s. Giry, Arthur: Manuel de diplomatique. Paris 1894, S. 811. Fabricius: Litterae Formatae (wie Anm. 51) S. 39–86, 168–194. Condorelli, Orazio: Clerici Peregrini. Aspetti giuridici della mobilità clericale nei secoli XII–XIV. Rom 1995 = I libri di Erice. Bd. 12, S. 270– 277, ebenda S. 258f. mit Anm. 6 zu Gratians Quellen zu D. 73 c.1. 53 Vgl. Fabricius: Formatae (wie Anm. 51) S. 66f. 54 Rockinger, Ludwig: Briefsteller und formelbücher des eilften bis vierzehnten Jahrhunderts. Abt. 1. München 1863 = QEBayerG. Bd. 9,1, S. 257 (Sächsische Summa c. 18) Tractatus de litteris formatis, S. 330 (c. 81) testimonialis (uel formata) littera, entsprechend Bd. 2, S. 757 das Baumgartenberger Formelbuch (c. 15). Wendehorst, Alfred (Hrsg.): Tabula formarum curie episcopi. Das Formularbuch der Würzburger Bischofskanzlei von ca. 1324. Würzburg 1957 = Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg. Bd. 13, S. 7 Nr. 11 (Rubrik zum Formular eines Weihezeugnisses): Forma litere, que vocatur formata. 55 Kehrberger, Eduard Otto: Provinzial- und Synodalstatuten des Spätmittelalters. Diss. phil. Tübingen 1938, S. 31: Quales debeant esse ordinandi, et quod pro collationibus ordinum, pro formatis, pro conservatione ecclesiarum et confirmationibus nihil exigatur. 56 Fuchs, Vinzenz: Der Ordinationstitel von seiner Entstehung bis auf Innozenz III. Eine Untersuchung zur kirchlichen Rechtsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Anschauungen Rudolph Sohms. Bonn 1930 (ND 1963) = Kanonistische Studien und Texte. Bd. 4, S. 94f. Ülhof, Wilhelm: Die Zuständigkeit zur Weihespendung mit besonderer Berücksichtigung des Zusammenhangs mit dem Weihetitel und der Inkardination. München 1962 = Münchener theologische Studien 3. Kanonistische Abt. Bd. 15, S. 35. 57 Vgl. die Notate der Correctores Romani zu De cons. D. 5 c. 37 bei Friedberg 1, Sp. 1422, Apparat 2. Condorelli: Clerici Peregrini (wie Anm. 52) S. 138. 58 Liber Sancti Jacobi. Codex Calixtinus. Transkription von Klaus Herbers und Manuel Santos Noia. [Santiago de Compostela] 1998, I, c. 17, S. 94: Legitime vero ad beati Iacobi limina tendit … qui a pastoribus suis aut a subiectis aut a coniuge aut a quibuscumque ligatur

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schof ausgestellten Bescheinigungen freilich nicht mitführten, belegt im Jahre 1206 der Glossenapparat des Bologneser Rechtslehrers Alanus Anglicus: formate in usu non habentur hodie, de quibus agitur supra di LXXII, nec laici litteras episcopi in peregrinatione solent secum deferre, baculum vero et peram a presbitero solent accipere.59 Aber Non oportet diente, wie zum Beispiel Gottschalk Hollen zeigt60, zur Begründung der vom Laien nun beim Pfarrer zu erbittenden schriftlichen Lizenz. Ein nach 1456 im Norden der Erzdiözese Mainz wohl auf ein ehemaliges Vorsatzblatt einer Handschrift niedergeschriebenes Pilgerbriefformular spricht gar von der canonica licencia.61 Das spätmittelalterliche Benefizialrecht gebrauchte den Terminus formata offenbar nicht, sondern vielmehr den der litterae dimissoriae (dimissoriales).62 Daneben wurden im spätmittelalterlichen und neuzeitlichen kanonischen Prozeßrecht, und zwar für den verfahrensrechtlichen Entlaßbrief der Erstinstanz in Appellationssachen, die Termini apostoli (Pl.), apostoli dimissoriales oder apostella (= »Apostelbrief«) gebräuchlich.63 Nicht sicher ist, ob die im Pfarrbuch des Pfarrherrn Florentius Diel an St. Christoph in Mainz (1491–1518) belegte forma als Reduktion von formata oder aber im Sinne von »Formular« verwendet worden ist. Dort sind zwei Briefe von 1514 und 1516 für Santiago-Pilger verzeichnet unter der Rubrik forma data peregrinandi ad S. Iacobum.64 Ein zweiter Beleg sind zwei Formulare aus dem

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legitimam licenciam accipit. Vgl. Libellus Sancti Jacobi. Auszüge aus dem Jakobsbuch des 12. Jahrhunderts. Ins Deutsche übertragen und kommentiert von Hans Wilhelm Klein (†) und Klaus Herbers. Tübingen 1997 = Jakobus-Studien. Bd. 8, S. 53. Condorelli: Clerici Peregrini (wie Anm. 52) S. 143, aus Paris, BNF lat. 15393, fol. 301rb, Alanus Anglicus, Apparatus ad decretum, Ius naturale, in D. 5 c. 37 de cons., v. formata. S. oben Anm. 43. S. Anhang, Nr. 11. Vgl. Repertorium Germanicum. Bd. VIII/1. Pius II. 1. Teil: Text. Bearb. von Dieter Brosius u. Urich Scheschkewitz. Für den Druck eingerichtet von Karl Borchardt. Tübingen 1993, Nr. 4156, 4846, und Bd. VIII/2. Indices. Tübingen 1993 s.v. Repertorium Germanicum. Bd. IX/ 1. Paul II. 1. Teil: Text. Bearb. von Hubert Höing, Heiko Leerhoff u. Michael Reimann. Tübingen 2000, Nr. 94, 1492, 4888, und Bd. IX, 2. Indices. Tübingen 2000, s.v. Konrad von Mure: Summa de arte prosandi. In: Rockinger, Briefsteller (wie Anm. 54). Bd. 1, S. 459: Dimissorie etiam litere dicuntur apostoli quos appellanti iudex dat a quo appellatur. Quarum forma potest esse talis … Johannes von Bologna, Summa notarie. In: Ebenda. Bd. 2, S. 693: De litteris que apostoli seu dimissorie littere nuncupantur. Als apostoli 1329 belegt bei Mindermann, Arend (Bearb.): Urkundenbuch der Bischöfe und des Domkapitels von Verden. Bd. 2. 1300–1380. Stade 2004 = Veröff. d. Historischen Komm. f. Niedersachsen u. Bremen. Bd. 220, S. 266f. Nr. 298. Vgl. DRW. Bd. 1. Weimar 1914–1932, Sp. 802. Merzbacher, Friedrich: Apostelbrief. In: HRG. Bd. 1. Berlin 1971, Sp. 195f. Litewski, Wiesław: Der römisch-kanonische Zivilprozeß nach den älteren ordines iudiciarii. Krakau 1999. Bd. 2, S. 513– 516. Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert. Red v. Otto Prinz. Bd. 1. München 1967, Sp. 767. Falk, Franz: Die pfarramtlichen Aufzeichnungen (Liber consuetudinum) des Florentius Diel zu St. Christoph in Mainz (1491–1518). Freiburg 1904 = Erläuterungen und Ergänzungen zu

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Kloster Ilsenburg am Harz von um 1500. Deren Rubriken lauten Forma dimissorii vel licentiatorii für einen in einen anderen Konvent wechselnden Mönch65 beziehungsweise Brevis forma dimissorii ad loca sancta visitanda parrochianis.66 Für den Kenner des Kirchenrechts mochte das hier verwendete forma eine Erinnerung an die formata des Gratian evozieren. Da außerhalb des kanonischen Rechts der Terminus formata für Zeugnis oder Urkunde im Hochmittelalter offenbar nur selten benutzt wurde67, ist es bemerkenswert, wenn der »Vocabularius Ex quo« im 15. Jahrhundert diese mit ein paffheit brief glossiert;68 dieser Glossierung lag mutmaßlich der kirchenrechtliche Gebrauch – sei es für ein Dimissorium, sei es für ein Weihezeugnis – zu Grunde.

V.

pelegrimen, de ores perners breff hebben

Folgte man der zur tatsächlichen Existenz des Pilgerbriefes vorhandenen Literatur – sie ist nicht gerade zahlreich –, dann wäre dessen Ausstellung für jeden Wallfahrer eine Selbstverständlichkeit gewesen. Schließlich hatte sich das Dekret Gratians ja auch verhältnismäßig deutlich geäußert.69 Nach Konrad Häbler brauchte der Pilger »die Erlaubnis seines Beichtvaters, an beliebiger anderer Stelle die Vergebung seiner Sünden nachzusuchen … Der von dem Beichtvater ausgestellte Wallfahrerbrief enthielt gemeiniglich zugleich eine Empfehlung des Pilgers an alle geistlichen Stätten, bei denen er vorsprechen würde. Für den gemeinen Mann war dies wohl der einzige Förderbrief, den er mit auf die Reise nehmen konnte.«70 Georg Schreiber und Louis Carlen sprechen vom »geistliche(n) Reisepaß (›literae dimissoriales‹), den das Pfarramt (!) des fünfzehnten

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Janssens Geschichte des deutschen Volkes. Hrsg. von Ludwig von Pastor. Bd. 4, H. 3, S. 38: »Den Schluß bilden zwei Formulare von Zeugnissen, welche Florentius Diel, Artium magister et theologiae licentiatus, für einen nach Compostela Pilgernden (Jakobsbruder) ausstellte 1514 und 1516, forma data peregrinandi ad S. Iacobum«. Abgedruckt sind die beiden, von Diel im Text als (testimonialis) scedula bezeichneten Zeugnisse ohne Rubrik von F(alk), F(ranz): Aus dem Wallfahrtsleben des Mittelalters. In: Der Katholik. Zs. f. katholische Wissenschaft und kirchliches Leben. 3. Folge. Bd. 7 (1893) S. 100f. Vgl. Anhang, Nr. 15, 16. UB Ilsenburg. Bd. 2. Halle 1877 = GQProvSachsen.Bd. 6,2, S. 97 Nr. 451. UB Ilsenburg. Bd. 2. Halle 1877 = GQProvSachsen. Bd. 6.2, S. 97 Nr. 452. Vgl. Anhang, Nr. 13. Vgl. Mediae latinitatis lexicon minus. Bearb. von J.F. Niermeyer u. C. van de Kieft. Leiden 1976, S. 446. Blaise, Albert: Lexicon latinitatis medii aevi. Turnholt 1986, S. 396. – Novum glossarium mediae latinitatis ab anno DCCC usque ad annum MCC. Bd. L. Hrsg. v. Franz Blatt. Kopenhagen 1957, Sp. 163f., hat kein Lemma litterae formatae. Vocabularius ex quo. Überlieferungsgeschichtliche Ausg. Hrsg. gemeinsam mit Klaus Grubmüller von Bernhard Schnell u. a. Bd. 3. Text D-K. Tübingen 1988 = Text und Textgeschichte. Bd. 24, S. 1066. S. oben bei Anm. 50. Häbler, Konrad: Das Wallfahrtsbuch des Hermannus Künig von Vach und die Pilgerreisen der Deutschen nach Santiago de Compostella. Strassburg 1899, S. 62f.

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Jahrhunderts ausstellte.«71 »In jedem Fall war es aber verboten, sine licentia curati vel episcopi eine Wallfahrt anzutreten«, bemerkt Ilja Mieck.72 Nach MarieLuise Favreau-Lilie »mußte sich [der Pilger] den Pilgerstatus von einem (!) Geistlichen bestätigen lassen«, beziehungsweise »(war) die Genehmigung des Pfarrers der entscheidende Akt«.73 Enno Bünz setzt für das 12. Jahrhundert richtig voraus, daß »Laien der Genehmigung ihres Pfarrers (bedurften), um eine Wallfahrt unternehmen zu können.«74 Valentin Groebner schließlich erklärt: »Im Lauf des 15. Jahrhunderts wurde nicht nur Briefboten und Soldaten, sondern auch gewöhnlichen Wallfahrern zunehmend zur Pflicht gemacht, zusätzlich zu ihren Pilgerabzeichen ein von ihrem lokalen Pfarrer oder Bischof ausgestelltes Schriftstück vorzuzeigen. Es sollte Auskunft darüber geben, ob sie sich mit formeller Zustimmung ihrer Obrigkeit auf Pilgerreise begeben hatten, wer sie eigentlich seien und wo sie hinwollten.«75 Anscheinend wären also Pilgerbriefe gang und gäbe gewesen. Jedoch erfährt man bei den genannten Autoren nichts über tatsächliche Bitten um solche Briefe und bei den meisten nichts darüber, was überhaupt Rechtsgrundlage für deren Ausfertigung war. Klar als Dimissorium, das heißt als – hier: temporärer – Entlassungsschein aus der Pfarrei seitens des Pfarrherrn ist der Pilgerbrief nur von Häbler und Schreiber bezeichnet worden. Sobald diese Funktion nicht verstanden wird, ist unzutreffender Weise vom Pilgerbrief als »Geleitschreiben«76, »Geleitbrief und Ausweisschreiben«77 oder »(geistlichem) Pass« die Rede.78 Aber »Pässe waren dem Mit71 Schreiber: Strukturwandel der Wallfahrt. In: Wallfahrt und Volkstum (wie Anm. 21) S. 13. Wörtlich danach Carlen: Wallfahrt und Recht (wie Anm. 19) S. 122. 72 Mieck, Ilja: Zur Wallfahrt nach Santiago de Compostella zwischen 1400 und 1650. Resonanz, Strukturwandel und Krise. In: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens. Bd. 29. Münster 1978 = Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. 1. Reihe. Bd. 29, S. 515, mit Verweis auf die Brixener Synode des Nikolaus von Kues, vgl. unten bei Anm. 96. 73 Favreau-Lilie: Civis peregrinus (wie Anm. 39) S. 334, 335. Die Formulierung ebenda S. 349: »Der Bürger, dem die Kirche (!) die Ernsthaftigkeit seiner Wallfahrtsabsicht bescheinigt hatte …«, zeigt, daß sich die Verf. der Bedeutung des Pfarrechts nicht bewußt geworden ist. 74 Bünz, Enno: Santiagopilger und Jakobsverehrung zwischen Nord- und Ostsee im 12. Jahrhundert. In: HansGbll 118 (2000) S. 42. 75 Groebner, Valentin: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters. München 2004, S. 124. 76 Favreau-Lilie: Civis peregrinus (wie Anm. 39) S. 340. 77 Herwaarden, Jan van: Opgelegde bedevaarten. Een studie over de praktijk van opleggen van bedevaarten (met name in de stedelijke rechtspraak) in de Nederlanden gedurende de late Middeleuwen (1300–1550). Assen 1978, S. 15: »Dergelijke geleidebrieven waren van oudsher bekend: ook degenen die uit vrije wil op bedevaart gingen moesten dergelijke brieven (van pastoor, bisschop etc) hebben, wilden zij deelhebben aan de bescherming die pelgrims onderweg genoten«. Schmugge, Ludwig: ›Pilgerfahrt macht frei‹. Eine These zur Bedeutung des mittelalterlichen Pilgerwesens. In: RQ 74 (1979) S. 28. 78 Czerny, Albin: Aus dem geistlichen Geschäftsleben in Oberösterreich im 15. Jahrhundert. Linz 1882, S. 44. Schreiber: Strukturwandel der Wallfahrt. In: Wallfahrt und Volkstum (wie

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telalter unbekannt«79, wobei man man ihre vorneuzeitlichen Wurzeln vor allem im geistlichen Zeugniswesen, also in den hier behandelten Pilgerbriefen, auch in den bereits dem 13. Jahrhundert bekannten Personenstandsbescheinigungen oder in den Beichtzetteln, suchen sollte80: War doch jeder christliche Laie eingepfarrt und somit die Pfarrei das einzige Institut im Mittelalter, das über einen Untersassenverband verfügte, der – freilich nur hinsichtlich des Pfarrechts – homogen war. Keine andere Einrichtung des Mittelalters hat die Laien so gleichmäßig erfaßt wie das Kirchspiel – auch nicht die städtische Kommune.81 »Geleitschreiben« oder »Geleitbrief« ist für den Pilgerbrief ganz unpassend; denn Geleitbriefe wurden vom Geleitgeber ausgefertigt.82 Herrscherliche Geleitbriefe sind namentlich von den Königen von Aragon für die Santiago-Pilger bekannt.83 Ein Pfarrer aber konnte nicht Geleit gewähren, sondern für sein Pfarrkind allenfalls um Geleit ersuchen. Elemente von solchen Geleitersuchen oder »Fürschriften«84 konnten zwar in den Pilgerbrief einfließen, waren für ihn aber nicht konstitutiv. Zudem hatten die Pilgerbriefe, wenn denn überhaupt, eine ganz allgemein an alle Gläubigen gerichtete Inscriptio (Universis Christi fidelibus ad quos presentes littere pervenerint … in Domino karitatem)85, die sich eben nicht an Herrschaftsträger und deren einzelne Beauftragte wie Vögte, Prévôts, Amtmänner oder Zöllner wandte.

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Anm. 21) S. 13. Deus, Wolf-Herbert: Ein Reisepaß für Wallfahrer 1442 April 8. In: Soester Zeitschrift 76 (1962) S. 16f. Favreau-Lilie, Marie-Luise: Von Nord- und Ostsee ans »Ende der Welt«: Jakobspilger aus dem Hanseraum. In: HansGbll 117 (1999) S. 111 Anm. 57. Schubert: Fremde in den niedersächsischen Städten (wie Anm. 45) S. 3. Vgl. Groebner: Der Schein der Person (wie Anm. 75) S. 126–129, 143f. Zu Personenstandsbescheinigungen s. oben Anm. 49. – Ein auf das Jahr 1477 datiertes Formular eines vom Beichtvater für den Poenitenten ausgefertigten Beichtzettels bei Czerny: Geschäftsleben (wie Anm. 78) S. 27. Vgl. Petke, Wolfgang: Die Pfarrei: ein Institut von langer Dauer als Forschungsaufgabe. In: Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins (im Druck). Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 11–42. Kintzinger: Cum salvo conductu (Anm. 7) S. 363. Vielliard, Jeanne: Pèlerins d’Espagne à la fin du Moyen Age. Ce que nous apprennent les sauf-conduits délivrés aux pèlerins par la chancellerie des rois d’Aragon entre 1379 et 1422. In: Festschr. Antoni Rubió i Lluch. Bd. 2. Barcelona 1936 = Analecta sacra Tarraconensia. Bd. 12, S. 265–300. Vincke, Johannes: Geleitbriefe für deutsche Pilger in Spanien. In: Wallfahrt und Volkstum (wie Anm. 21), S. 258–265. Ders.: Europäische Reisen um 1400 im Spiegel aragonesischer Empfehlungs- und Geleitschreiben. In: Medium aevum Romanicum. Festschr. Hans Rheinfelder. Hrsg. von Heinrich Bihler u. Alfred Noyer-Weidner. München 1963, S. 345–377. Vgl. Paravicini, Werner: Fürschriften und Testimonia. Der Dokumentationskreislauf der spätmittelalterlichen Adelsreise am Beispiel des kastilischen Ritters Alfonso Mudarra 1411– 1412. In: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschr. für Erich Meuthen. Hrsg. von Johannes Helmrath, Heribert Müller, Helmut Wolff. München 1994, S. 903–926. Anhang, Nr. 9. Dazu Anhang, Nr. 1, 4, 5, 11. Zur näher spezifizierenden Inscriptio von 1484 (= Anhang, Nr. 14) s. unten bei Anm. 134.

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Pfarrzwang

Auf einem eigenen Blatt stehen die Strafwallfahrten, die von weltlichen Oberkeiten verhängt wurden. In Tournai erstmals 1275 belegt, hatten sie ihre Hochzeit im 14. und 15. Jahrhundert in den Städten des Westens von Flandern über Lüttich bis hin nach Seeland und Holland. In Gent sind allein von 1350 bis 1360 zu 133 verschiedenen Wallfahrtsorten 1376 Verurteilungen ausgesprochen worden.86 Was das für »Geleitbriefe« waren, die den Verurteilten von ihren Richtern mitgegeben worden sein sollen87, bleibt leider ungewiß. Die vor allem durch Testamente vielfach bezeugten Mietpilger dürften nur dann als rechte Pilger gegolten haben, wenn sie mit der gebotenen Sollenität aufgebrochen waren. Aber schon Anfang des 15. Jahrhunderts galten Mietpilger vielen als Gauner und Halunken.88 Et peregrinatio fit tripliciter, voluntarie, ex voto, et ex poenitentia. So hatten die Siete partidas König Alfons des Weisen von Kastilien und León (1252–1284) die Gründe für Wallfahrten zu systematisieren versucht.89 Die pfarrherrliche Lizenz ergab sich bei der Wallfahrt ex poenitentia aus der Bußgewalt des Pfarrers von selbst. Bei den Pilgerreisen auf Grund eines Gelübdes (ex voto) oder aus freiem Willen (voluntarie) kam die pfarrherrliche Erlaubnis zur Geltung.90 Von 86 Maes, Louis-Théo: Mittelalterliche Strafwallfahrten nach Santiago de Compostella und Unser Lieben Frau von Finisterra. In: Festschr. Guido Kisch. Rechtshistorische Forschungen. [Hrsg. von Karl Siegfried Bader]. Stuttgart 1955, S. 102. Nachdruck in: Ders.: Recht heeft vele significatie. Rechtshistorische opstellen van Prof. Dr. L.Th. Maes. Hrsg. von J. Asaert u. a. Brussel 1979. Herwaarden: Opgelegde bedevaarten (wie Anm. 77), passim. Zu Strafwallfahrten seit dem 15. Jh. in Oberdeutschland und Österreich s. Carlen, Louis: Straf- und Sühnewallfahrten nach Einsiedeln. In: Der Geschichtsfreund 125 (1972) S. 246–265. Ders.: Wallfahrt und Recht. In: Wallfahrt kennt keine Grenzen (wie Anm. 19) S. 91f. Mieck: Wallfahrt (wie Anm. 72) S. 503, 505. 87 Vgl. Maes: Strafwallfahrten (wie Anm. 86) S. 108. 88 Zu den Mietpilgern s. Mieck: Wallfahrt (wie Anm. 72) S.505. Boockmann, Hartmut: Leben und Sterben in einer spätmittelalterlichen Stadt. Über ein Testament des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1983, S. 18–21. Ohler, Norbert: Zur Seligkeit und zum Troste meiner Seele. Lübecker unterwegs zu mittelalterlichen Wallfahrtsstätten. In: ZVLübGA 53 (1983) S. 83–103. Schmugge, Ludwig: Der falsche Pilger. In: Fälschungen im Mittelalter. Bd. 5. Hannover 1988 = Schriften der MGH. Bd. 33,5, S. 479. Favreau-Lilie: Civis peregrinus (wie Anm. 39) S. 326f. Herbers, Klaus: Pilgerfahrten und Nürnberger Pilger auf der Iberischen Halbinsel in der Zeit um 1500. In: Wallfahrten in Nürnberg um 1500. Hrsg. von Klaus Arnold. Wiesbaden 2002 = Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung. Bd. 17, S. 61. Für übertrieben hält obige negative Einschätzung Dormeier, Heinrich: Pilgerfahrten Lübecker Bürger im späten Mittelalter. Forschungsbilanz und Ausblick, in: ZVLübGA 91 (2012) S. 38 Anm. 95. 89 [López de Tovar, Gregor] (Bearb.): Código de las siete partidas. Bd. 1. La primera y segunda partida = Los códigos españoles. Concordados y anotados. Bd. 2. Madrid 1848, Primera partida tit. 24, lex 1, S. 314. Vgl. Mieck: Wallfahrt (wie Anm. 72) S. 499. Sigal, Pierre André: Les différents types de pèlerinage au Moyen Age. In: Wallfahrt kennt keine Grenzen (wie Anm. 19) S. 76–85. 90 Vgl. die beiden bereits bei Anm. 64 erwähnten zwei Formulare des Mainzer Pfarrers Florentius Diel: Das Formular von 1514 lautete auf parrochianum meum, huius scedulae geru-

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einer bischöflichen Erlaubnis hat, wie erwähnt, bereits Gratian gesprochen. Über die schon angeführte Pilgeroblation hinaus91 war die vom kanonischen Recht verlangte pfarrherrliche Lizenz in partibus bekannt. In der Normandie definierte man 1257 denjenigen als Pilger, der öffentlich, mit Wissen seines Priesters und seiner Pfarrgenossen aufbrach und daheim einen benannten Prozeßbevollmächtigten zurückließ.92 Ebenfalls in der Normandie im 13. Jahrhundert galten als auf großer Pilgerfahrt (peregrinatio solemnis) befindlich jene Wallfahrer, die, mit einer Erlaubnis und dem Segen versehen, in Prozession aus der Pfarrei hinausgeleitet worden waren, um nach Jerusalem, Rom oder Santiago zu ziehen.93 Synoden befahlen den Pfarrern, ihren jeweiligen Pfarrkindern bestimmte Wallfahrten zu untersagen. Prager Synoden hatten bereits 1403 das Wallen zu einer Kiefer bei Münchengrätz (Mnichovo Hradisˇteˇ, Nordostböhmen), 1404 zu dem später sagenumwobenen Berg Blaník in Südböhmen94 und 1405 das altmärkische Wilsnack im Blick.95 Nikolaus von Kues war bemüht, dem Wildwuchs der Wallfahrtsziele zu steuern: Seine Diözesansynode von 1453 wies die Pfarrer an, eine Pilgerlizenz zu gewähren (concedere licentiam peregrinandi) nur für die Bischofskirche in Brixen, für Rom, Santiago und andere seit alters her approbierte Orte wie zum Beispiel Aachen oder Aquileia.96

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lum, honestum fidelemque catholicum, voto adstrictum peregrinationis ad S. Jacobum in Compostell, das Formular von 1516 auf einen Mainzer, der ad S. Jacobum in Compostell peregrinari volens testimonialem scedulam a me petivit. Vgl. auch den nachträglichen Pilgerbrief aus Cochstedt von 1425, unten bei Anm. 107. S. oben bei Anm. 33. Delisle, Léopold: Recueil de jugements de l’échiquier de Normandie au XIIIe siècle (1207– 1270) suivi d’un mémoire sur les anciennes collections de ces jugements. Paris 1864, Nr. 796 S. 183: ille intelligitur peregrinus, qui publice scientibus presbytero et parrochianis a loco suo … recedit et secundum consuetudinem patrie attornatum relinquit. Vgl. Garrisson: A propos des pèlerins (wie Anm. 19) S. 1176. Tardif, Ernest-Joseph: La Summa de legibus Normannie in curia laicali. Rouen u. Paris 1896 = Société de l’histoire de Normandie. [Bd. 13] = Coutumiers de Normandie. Bd. 2, c. XC,4, S. 215: Solemnes dicuntur peregrinationes cum peregrini licentia recepta in parrochia sua cum cruce et aqua benedicta, et processione extra parrochiam conducuntur vel conviantur pergentes Jerusalem, Romam, vel Sanctum Jacobum … Vgl. Garrisson: A propos des pèlerins (wie Anm. 19) S. 1176, der dazu das Zitat aus einer französischen Version dieses Textes (des ehedem so genannten Grand Coutumier de Normandie) bietet: Solennelz pelerinages sont quand les pelerins se partent par congie de leurs Eglises avec le croix et l’eaue benoiste … Vgl. Hrdina, Topographie (wie Anm. 41) S. 199. Polc, Jaroslav V., Hledíková, Zdenka (Hrsg.): Prazˇké synody a Koncily. Prag 2002, S. 268 Nr. LIV c. 16, S. 271 Nr. LV c. 11: Blanik … omnibus plebanis circumiacentibus, ut suis parrochianis prohibeant, ne locum predictum visitent. Ebenda, S. 274 Nr. LVII c. 2, Verbot von Wilsnack. Bickell, Gustav: Synodi Brixinenses saeculi XV. Innsbruck 1880, S. 33: [An die Pfarrkleriker:] Nolite concedere licentiam peregrinandi, nisi ad ecclesiam cathedralem Brixinensem et Romanam, atque S. Jacobum in Gallicia aut alium approbatum locum ex antiquo, ut est Aquisgrani et Aquilejae.

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Pfarrzwang

Für die Oberkeit des 15. Jahrhunderts war ein richtiger Pilger, wer eine pfarrherrliche Lizenz vorweisen konnte. Das domstiftische Johannishospital zu Hildesheim gewährte 1440 nur Siechen und Kranken die Aufnahme; ausgenommen waren arme Pilger (utgesecht arme pelegrimen), de ores perners breff hebben und die noch so rüstig (so olt) wären, dat se to mogelken tyden ore bedevart uth unde to hus lesten kunnen. Verwehrt war sie dagegen hinfälligen Wallfahrern (unde nicht older). Ansonsten erhielten gesunde, durch ores perners breff ausgewiesene Pilger Herberge für eine Nacht unde lenger nicht.97 – Luther wollte 1520 willkürliche Wallfahrten abgeschafft sehen. Wer zu wallfahren wünschte, sollte sich und seine Motive von seinem Pfarrer, seiner Stadt oder Oberkeit prüfen lassen. Falls die Wallfahrt als ein frommes Verdienst gelobt worden sein sollte, wäre sie dem Pfarrkind als Teufelswerk auszureden. Reisen aus Wißbegierde wären aber zu dulden.98 Der vom Pfarrer ausgestellte Brief wies den Wallfahrer als rechten Pilger aus. Anfang des Jahres 1401 trugen die Adeligen Ernst von Uslar und der Ritter Ernst Bock miteinander eine Fehde aus99, die einem Untersassen des letzteren, einem gewissen Conrad Reymer von der Winzenburg (Burg mit Vorwerk östlich Alfeld)100, übel mitspielte. Städte untersagten deshalb bei Fehdegefahr im 15. Jahrhundert ihren Mitbürgern Wallfahrten zu bestimmten Orten, wie zum Beispiel nach Aachen oder nach Einsiedeln.101 Conrad Reymer aber machte sich trotz der Fehde seines Herrn am 2. Februar 1401 zu einer Wallfahrt nach Göttingen-Ni97 UB Stadt Hildesheim. Bd. 4. S. 375f. Nr. 391. Vgl. oben Anm. 45. 98 Luther: An den christlichen Adel (wie Anm. 41). WA Bd. 6, S. 437f.: Zum zwelfften, das man die walfarten gen Rom abethet, odder niemant von eygener furwitz odder andacht wallen liesse, er wurd dan zuvor von seinem pfarrer, stad odder ubirhern erkant, gnugsam und redlich ursach haben … Wer nu wolt wallen odder wallen geloben, solt vorhyn seinem Pfarrer odder ubirhern die ursach antzeygen. Fund sichs, das erß thet umb guttis werckis willenn, das das selb gelubt unnd werck durch den pfarrer odder ubirhern nur frisch mit fussen tretten wurd als ein teuffelisch gespenst, und yhm antzeygt, das gelt unnd die erbeyt, ßo tzur walffart gehoret, an gottis gebot unnd tausentmal besser werck antzulegenn, das ist an die seinen, odder seine nehste armenn. Wo erß aber auß furwitz thet, land undd stedt zubesehenn, mag man yhm seynen willen lassen. 99 Vgl. Uslar-Gleichen, Edmund Frhr. von: Beiträge zu einer Familien-Geschichte der Freiherren von Uslar-Gleichen. Hannover 1888, S. 68, 156, 429 Nr. 413. Huck, Jürgen: Die Bock von Wülfingen. 1. Teil: Allgemeines sowie Wachsen des Geschlechts 1175–1583. Hannover 2000 = QDarstGNSachs. Bd. 122, S. 467. 100 Vgl. Graff, Paul: Geschichte des Kreises Alfeld. 1928, S. 389f. Eine decima iuxta Winzeborch – also doch wohl von dem zugehörigen Vorwerk der Burg (wohl Hasekenhusen) – wird um 1220 im ersten Lehnregister der Edelherren von Meinersen genannt, Sudendorf, Hans: UB zur Geschichte der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande. Bd. 1, Hannover 1859, S. 9 Z. 9. 101 Ropp, Goswin von der: Göttinger Statuten. Hannover u. Leizig 1907 = QDarstGNieders. Bd. 25, S. 159 Nr. 148: Verbot der Aachenfahrt (1433), vgl. Schubert: Fahrendes Volk (wie Anm. 1) S. 281. Favreau-Lilie, Marie Luise: Civis peregrinus (wie Anm. 39) S. 347f. Dies., Von Nord- und Ostsee (wie Anm. 78) S. 111.

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kolausberg auf 102, wozu ihm sein Seelsorger, der Kaplan Hermann Schönfeld, einen Pilgerbrief mitgab. Dieser pilgrim briff bescheinigte, dat Conr(at) Reymers, myn parreman, is utgereden mit mynem orlove na aflate tho S. Nicolaus to Olrekeshusen unde is ein recht pelegrim. Der Brief sollte bemerkenswerterweise nur neun Tage lang gültig sein – solche Befristungen sind auch sonst bezeugt, aber dann zum Beispiel auf ein Jahr103 –, was dem Pilger zum Verhängnis wurde. Denn diese Frist war abgelaufen, als er zwischen Bovenden und Weende (nördl. Göttingen) drei Knechten des Ernst von Uslar in die Hände fiel. Mit der Begründung, er sei nicht mehr als Pilger geschützt, raubten sie ihm sein Pferd, das Pferd eines zurückgebliebenen Reisegefährten – auch einfache Pilger reisten also durchaus nicht nur zu Fuß! – sowie den Pilgerbrief. Jedoch konnten die Räuber vor der Stadt Göttingen gefangen und als Landfriedensbrecher zur Rechenschaft gezogen werden.104 Ein ähnliches Mißgeschick wie dem Conrad Reymer widerfuhr rund 25 Jahre später einem gewissen Heine Putz aus deme dorpe Koxstede (= Cochstedt, nördl. Aschersleben, Halberstädter Archidiakonat Gatersleben).105 Dieser war am 18. Oktober 1425 zu einer von ihm gelobten Wallfahrt (he dat over lange tyd yn synen engesten noden gelovet hadde) nach St. Marien zu Elende (östl. Bleicherode)106 und Göttingen-Nikolausberg aufgebrochen und unterwegs gefangengenommen worden. Nachdem dieses Unglück eingetreten war, bescheinigte der Pfarrer Henning Gretz seinem Pfarrkind (parreman) nachträglich am 18. November, daß es mynes willen unde orloves erbeten habe und es yn deme selven wege thu der tyd eyn recht pylegrim was.107 Leute eines Amtmannes des Hildesheimer Bischofs Magnus hatten 1439 flandrische Wilsnack-Pilger uppe des ri102 Zu Göttingen-Nikolausberg als Wallfahrtsort s. Engfer, Hermann: Die Wallfahrt zum Nikolausberg bei Göttingen und der Nikolauskult in Niedersachsen. In: Unsere Diözese in Vergangenheit und Gegenwart. Zs. d. Vereins für Heimatkunde im Bistum Hildesheim 25 (1956) S. 84–99, hier S. 93f. Scholz, Michael: Die Wallfahrtskirche Nikolausberg. In: Böhme, Ernst, Scholz, Michael, Wehner, Jens: Dorf und Kloster Weende von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert. Göttingen 1992, S. 104–107. Petke, Wolfgang: Wallfahren auf den Nikolausberg vom Spätmittelalter bis zur Reformation. Nachträge: in GöttingerJb 66 (2018) S. 17– 33. 103 Deus: Reisepaß (wie Anm. 78) S. 17 (vgl. Anhang, Nr. 8): und ume des willen, dat se waraftich sin, do gheve ik en brukkende desses breves van nu an bette over iar. 104 UB Göttingen. Bd. 2, S. 1f. Nr. 1 mit Anm. 1. Vgl. Anhang, Nr. 2. 105 Strombeck, Hilmar von: Zur Archidiakonat-Eintheilung des vormaligen Bisthums Halberstadt. In: ZHistVNieders 1862, S. 61. 106 Zur Wallfahrt nach Elende s. Schäfer, Karl Heinrich: Das Mirakelbuch von St. Maria im Elende am Harz. In: Deutsche Mirakelbücher. Zur Quellenkunde und Sinngebung. Hrsg. von Georg Schreiber. Düsseldorf 1938 = Forschungen zur Volkskunde. Bd. 31/32, S. 135–145. Nunmehrige Edition: Das Wunderbuch Unserer Lieben Frau im thüringischen Elende (1419–1517), hrsg. u. kommentiert von Gabriela Signori unter Mitarb. von Jan Hrdina, Thomas T. Müller, Marc Münz (VHKTh GR) Köln u. a. 2006. 107 UB Göttingen. Bd. 2, S. 72 Nr. 111.

kestraten vor der Bischofsstadt gefangengenommen, obwohl se rechte pelegrimen weren.108 Diese dürften wiederum Briefe ihrer Pfarrer dabei gehabt haben, so sehr die Wilsnackfahrt bei kritischen Seelsorgern auch Anstoß erregte.109 Man wünschte sich, bei den Wächtern an Göttingens Stadttoren stehen zu können, um zu erfahren, wie sie denn im 15. Jahrhundert gemäß den Weisungen des Göttinger Rats mit Pilgern und Bettlern verfuhren: Item dat se dat holden umme beddelere unde pelgrime, wu on dat bevolen wart.110 Was war ihnen befohlen? Wiesen sie Pilger ab wie jene Reiter und Fußgänger, die ihr Mißtrauen erweckten und keinen zureichenden Bescheid zu geben vermochten?111 Begnügten sie sich mit den äußerlichen Pilgerzeichen, die doch vielfach von Spionen, Bettlern und Ganoven als Tarnung mißbraucht wurden?112 Ließen sie sich von den Pilgern Briefe vorweisen, und wenn ja – konnten sie diese, wenn in Latein geschrieben, verstehen, geschweige denn lesen? Oder ließen sie es, was wohl am naheliegendsten ist, mit einem flüchtigen Blick auf das beschriebene Blatt mit seinem darauf gedrückten Siegel genug sein? Die Überlieferung hält auf diese, der alltäglichen Kontrolle geltenden Fragen keine Anwort bereit.

VI.

parochianus meus, honestus fidelisque catholicus

Von Pilgern mitgeführte, von deren Pfarrherren ausgefertigte Pilgerbriefe werden nicht nur, wie gezeigt worden ist, des öfteren erwähnt, sondern sind verschiedentlich auch im Wortlaut überliefert und, wenn auch selten, sogar im Original erhalten. Ganze 16 Volltexte konnten bisher ermittelt werden.113 Deren Diktate folgen dem Formular einer anspruchslosen Privaturkunde. Lediglich sechsmal ist die Intitulatio mit einer Inscriptio verbunden, die sich ganz allgemein an alle wendet.114 Häufiger folgt der Intitulatio eine Publicatio (bekenne und betughe vor

108 UB Stadt Hildesheim. Bd. 4, Nr. 358 S. 289 Art. 18. 109 Vgl. Boockmann, Hartmut: Der Streit um das Wilsnacker Blut. Zur Situation des deutschen Klerus in der Mitte des 15. Jahrhunderts (1982). Wiederabdruck in: Ders.: Wege ins Mittelalter. Historische Aufsätze. Hrsg. v. Dieter Neitzert, Uwe Israel u. Ernst Schubert. München 2000, S. 17–36. 110 Ropp, von der: Göttinger Statuten (wie Anm. 101) S. 235 II Nr. 3 [ca. 1420]. Vgl. ebenda S. 236 III, Nr. 3 [1455–1472]. 111 Ropp, von der: Göttinger Statuten (wie Anm. 101) S. 235 II Nr. 5, vgl. Schubert: Fremde in den niedersächsischen Städten (wie Anm. 45) S. 3. 112 Mieck: Wallfahrt (wie Anm. 72) S. 508f. Schmugge: Der falsche Pilger (wie Anm. 88) S. 474– 485. Schubert: Fahrendes Volk (wie Anm. 1) S. 86f., 284. 113 S. Anhang: Regesten im Volltext überlieferter Pilgerbriefe. 114 S. oben bei Anm. 85.

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allen guden cristenenluden, dar desse breff komende wert115), die zumeist jedoch radikal verkürzt ist (bekenne opinbar met krafft disses briffes116, praesentibus fidem indubitatam facio117, praesenti scriptura manus propriae profiteor et testificor118). Ihr schließt sich die Narratio an, in der Regel mit der Erklärung, daß der Pilger Pfarrkind des Ausstellers sei und keiner kirchlichen Zensur unterliege. Darauf folgt die Bitte oder auch Exhortatio, dem Pilger bei Bedarf die Sakramente zu spenden und ihm um Gottes Lohn zu helfen. Siegelankündigung und Datierung beschließen den Text. Drei der vier bekannt gewordenen Originalbriefe, der äußeren Form nach litterae patentes119, sind in deutscher Sprache verfaßt120, die als Briefformulare überlieferten Volltexte hingegen bis auf eine Ausnahme aus Göttingen von um 1430 in Latein.121 Sicherlich deutet dieser Befund eine Diskrepanz an zwischen dem der Ausfertigung jeweils zugrunde zu legenden und gelegten Schema und den praktischen Bedürfnissen des pilgernden Laien, dem mit einem Brief in der Volkssprache, wenn es um Schutz und Herberge ging, eher gedient war als mit einer in Latein verfaßten Littera. Die schon erwähnte Ilsenburger brevis forma dimissorii von um 1500 formuliert, daß der Pfarrer den genannten Pfarrkindern wegen deren Wallfahrtsgelübde nach Santiago bei grundsätzlichem Vorbehalt des Pfarrechts die unbeschränkte Befugnis erteilt habe, von zu Hause fort zu sein – das ist die Erlaubnis zur Absenz –, und weiter, daß sie keiner kirchlichen Zensur unterworfen seien, weshalb gebeten werde, ihnen nach ihrem Wunsch das Bußsakrament zu reichen und andere Sakramente, sofern sie diese, gesund oder krank, begehrten, und zwar um Gottes willen.122 Der Gedanke, daß bei grundsätzlicher Wahrung des Pfarrechts ein Pfarrer einem Pilger die Abwesenheit von zu Hause gestatten – und also auch verbieten – kann, beruht auf dem Pfarrecht, das heißt dem Pfarrzwang. Erwachsen aus dem karolingischen Zehntgebot, erfaßte der Pfarrzwang theoretisch jeden Gläubigen. Nach c. 21 des IV. Laterankonzils hatte jeder seinem jeweiligen proprius sacerdos und niemandem sonst mindestens einmal im Jahr zu 115 116 117 118 119

Anhang, Nr. 8. Anhang, Nr. 3. Anhang, Nr. 12. Anhang, Nr. 15. Vgl. Egger, Christoph: Littera patens, littera clausa, cedula inclusa. Beobachtungen zu Formen urkundlicher Mitteilungen im 12. und 13. Jahrhundert. In: Wege zur Urkunde. Wege der Urkunde. Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters. Hrsg. von Karl Hruza u. Paul Herold. Wien u. a. 2005 = Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii. Bd. 24, S. 41–64. 120 S. Anhang, Nr. 2, 3, 8. 121 S. Anhang, Nr. 1, 4, 5, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16. Briefformular in deutscher Sprache: Anhang, Nr. 7. 122 S. Anhang, Nr. 13. S. auch Anhang, Nr. 4, 5, 7.

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Pfarrzwang

beichten und von ihm die Buße zu empfangen. Schon seit längerem verbreitet war die Auffassung, daß das auch für andere Sakramente gälte, und daß darüber hinaus auch die sonntägliche Messse nur bei ihm zu besuchen wäre.123 Daß der Pfarrer grundsätzlich gefragt sein mußte, wenn sich seine Pfarrkinder auf Reisen begeben wollten, ist ein hoher Anspruch. Man sich darf sich nicht vorstellen, daß er immer und überall durchzusetzen war. Wichtig ist jedoch, daß er formuliert werden konnte. Die Bamberger Diözesanstatuten von 1491 gestatten die Seelsorge an Angehörigen fremder Pfarreien nur im Notfall.124 Der Regensburger Gelehrte Konrad von Megenberg (1309–1374) rechtfertigte unter Berufung auf das Dekret Gratians und den Liber extra den von ihm für selbstverständlich gehaltenen Pfarrzwang nicht etwa der Zehnten halber, sondern wegen der Opfergabe, die jeder Gläubige beim Besuch der sonntäglichen Messe und an Festtagen seinem Pfarrherrn darzubringen habe.125 Dementsprechend ist Konrads Meinung zufolge jeder Pfarrer, der ein fremdes Pfarrkind zum Opfer zulasse, ein Räuber und Dieb.126 Zugelassen zum Empfang der Sakramente von fremder Hand sei allerdings derjenige, der aus einem gerechten Grund ein Fremder sei, das heißt ein Pilger oder ein Reisender, sofern nicht exkommuniziert oder interdiziert.127 Die Erklärung, der Pilger sei nicht exkommuniziert, rechtgläubig und man möge – und könne – ihm daher die Sakramente spenden, begegnet in den überlieferten Pilgerbriefen wiederholt, so nach 1456 aus dem heutigen Südniedersachsen (Et in aliqua excommunicatione nec infamia nullo modo innodatus 123 Constitutiones Concilii quarti Lateranensis una cum Commentariis glossatorum. Hrsg. von Antonius García y García. Città del Vaticano 1981 = Monumenta Iuris Canonici. Series A: Corpus glossatorum. Bd. 2, S. 67f. Vgl. Avril, J.: A propos du ›proprius sacerdos‹: Quelques réflexions sur les pouvoirs du prêtre de paroisse. In: Proceedings of the Fifth International Congress of Medieval Canon Law. Città del Vaticano 1980 = Monumenta Iuris Canonici. Series C. Subsidia. Bd 6, S. 471–486. Zur jährlichen Beichtpflicht s. Ohst, Martin: Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter. Tübingen 1995 = Beiträge zur historischen Theologie. Bd. 89. 124 Kehrberger: Provinzial- und Synodalstatuten (wie Anm. 55) S. 31, tit. 27. 125 Konrads von Megenberg Traktat De limitibus parochiarum civitatis Ratisbonensis. Ein Beitrag zur Geschichte des Pfarrinstituts aus dem 14. Jahrhundert. Hrsg. von Philipp Schneider. Regensburg u. a. 1906, S. 148: … quod dominicis et festivis diebus nullus parochianus contempto suo proprio plebano missam alibi audiat quam in propria parochia sua et ibidem offerat solito more … 126 Konrad von Megenberg (wie Anm. 125) S. 149: Non debet ergo unus presbiter alterius parochianum recipere in proprii presbiteri praeiudicium ad divina, ne quod sibi offerre debuit … sicut patet per iura praedicta alias fur est et latro … 127 Konrad von Megenberg (wie Anm. 125) S. 149: quoniam absens ex iusta causa sicut peregrinus vel transiens potest quis audire divina in ecclesia, ad quam venit, ar(gumenta) VII. c. I. ›episcopi vel presbiteri‹ [C. 7 q. 1 c. 38; Friedberg I, Sp. 58], XCII di. c. [›si‹] [D. 92 c. 9; Friedberg I, Sp. 319], ›de clericis peregrinis‹ c. III [X 1.22.3; Friedberg 2, Sp. 150] dummodo non sit excommunicatus vel interdictus.

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exsistit)128, 1484 in Mainz (est fidelis cristianus, non est excommunicatus, interdictus, nec aliquo onere vel censura ecclesiastica innodatus)129 und abermals in Mainz im Jahre 1514 (parochianus meus honestus, fidelisque catholicus).130 Bei diesem Abschnitt der jeweiligen Pilgerbriefe handelt es sich um die von Gottschalk Hollen und um die auch im Jahre 1516 im Briefformular aus Mainz genau in diesem Zusammenhang erwähnte littera testimonialis beziehungsweise testimonialis scedula131, also um ein kirchenrechtlich relevantes Zeugnis oder, um mit der Bemerkung im Augsburger Rituale von 1487 zu sprechen, um ein privilegium132 und keineswegs nur um »Empfehlungen« oder »Empfehlungsschreiben«, von denen in der Literatur hin und wieder die Rede ist.133 Bezeichnenderweise war der Mainzer Brief von 1484 zugedacht universis et singulis Christi fidelibus presentes litteras inspecturis et presertim ecclesiarum parrochialium rectoribus – letzteren nicht allein deshalb, damit sie dem Pilger hülfen, sondern daß sie ihm unbedenklich die Sakramente spenden könnten.134 Pfarrherrliche Pilgerbriefe werden, wie sich ergeben hat, doch verhältnismäßig häufig erwähnt. Ganz gering hingegen ist mit ganzen vier die Zahl der beiden heute noch vorhandenen135 sowie der beiden von der neuzeitlichen Überlieferung noch erfaßten Originale.136 Das aber ist nicht verwunderlich; denn die individuelle Pilgerlizenz hatte mit der Absolvierung der Wallfahrt ihren Zweck erfüllt und beim heimgekehrten Pilger oder spätestens bei seinen Erben als unnütz gewordener Gebrauchstext eine minimale Überlieferungschance.137 Bezeichnenderweise sind zwei der vier bekannten Originale im Zusammenhang mit Rechtshändeln überliefert.138 Auch um die dem Pilger am Gnadenort erteilten Original-Zeugnisse steht es nicht viel besser. Ganze zwei Testate über die Ab128 129 130 131 132 133

134 135 136 137

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Anhang, Nr. 11. Anhang, Nr. 14. Anhang, Nr. 15. S. oben bei Anm. 43 und Anm. 64 (= Anhang, Nr. 16). S. oben bei und mit Anm. 40. Zum privilegialen Charakter des mittelalterlichen Ausweises vgl. Groebner: Der Schein der Person (wie Anm. 75) S. 126–129. S. zum Beispiel Engfer: Wallfahrt zum Nikolausberg (wie Anm. 102) S. 94, Mieck: Wallfahrt (wie Anm. 72) S. 493, Ohler, Norbert: Pilgerstab und Jakobsmuschel. Wallfahrten in Mittelalter und Neuzeit. Düsseldorf u. Zürich 2000, S. 90, der die pfarrherrliche Bescheinigung der Rechtgläubigkeit zudem erst in die Neuzeit datiert. Anhang, Nr. 14. Anhang, Nr. 3, 8. Anhang, Nr. 2, 14. Originale von Geleitbriefen zum Beispiel teilten dasselbe Schicksal, Kintzinger: Cum salvo conductu (wie Anm. 7) S. 349. Paravicini: Fürschriften und Testimonia (wie Anm. 84) S. 903. S. generell Esch, Arnold: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers (1985). Wiederabdruck in: Ders.: Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart. München 1994, S. 39–69. Anhang, Nr. 2 (Göttingen) und wahrscheinlich Nr. 3 (Göttingen).

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solvierung je einer Strafwallfahrt nach Santiago von 1412 und 1456 haben sich in Mecheln erhalten.139 In der Handschrift 96 des Stiftsarchivs St. Florian wird als Formular eine auf das Jahr 1471 datierte Bescheinigung des dortigen Propstes Kaspar II. bewahrt, wonach ein schottischer Adeliger aus St. Andrews Pilgerns halber den heiligen Florian in dem oberösterreichischen Chorherrenstift aufgesucht hat.140 Signifikant ist dagegen, daß zwölf beziehungsweise 13 Volltexte141 als Briefmuster oder Briefformulare überliefert sind. Dieser Befund belegt einen Bedarf auf Seiten der Aussteller, der seinerseits wiederum von den Gläubigen geweckt worden sein muß, welche entsprechend der kirchenrechtlichen Norm sich mit dem Segen, der Erlaubnis und der littera testimonialis auf die Wallfahrt begeben wollten. Denn schließlich verbriefte diese littera zumindest das Anrecht auf Schutz, Nahrung und Herberge.142 Pilgerbriefe belegen, daß die Pilgerfahrt nach kirchlichem Rechtsverständnis des späteren Mittelalters eine seitens der Pfarrei lizensierte Unternehmung sein sollte, das heißt das gerade Gegenteil von dem, was nach Ludwig Schmugge die Wallfahrt so attraktiv gemacht hätte: »Die Vorzüge des Pilgerns ergeben sich aus den kirchlich geschützten Möglichkeiten unkontrollierter Mobilität.«143 Freilich wäre die Annahme naiv, ein jeder Pilger hätte sich auch an diese Norm gehalten – von den falschen, betrügerischen Pilgern einmal ganz abgesehen. Wie groß unter 139 Regestiert in: Wallfahrt kennt keine Grenzen. Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum, München 28. Juni bis 7. Oktober 1984 [Katalog]. München (1984) S. 52 Nr. 59, 60. Vgl. Maes: Strafwallfahrten (wie Anm. 86) S. 112. Ihre dort angekündigte Veröffentlichung ist nie erfolgt, vgl. die Personalbibliographie Maes in Ders.: Recht heeft vele significatie (wie Anm. 86) S. 21–28, wo ein einschlägiger Titel fehlt. – Generell zu den vom Gnadenort mitzubringenden Zeugnissen s. Favreau-Lilie, Civis peregrinus (wie Anm. 39) S. 340 mit Anm. 62. 140 Czerny: Geschäftsleben (wie Anm. 78) S. 45: in dicto monasterio nostro … peregrinandi fuit. Zur dortigen Wallfahrt s. Rehberger, Karl: Zur Verehrung des hl. Florian im Stift St. Florian. In: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 11 (1974) S. 85–98, hier S. 97. 141 Anhang, Nr. 1, 4, 5, 6 (?), 7, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 16. Darüber hinaus ist ein Formular ohne näheren Nachweis erwähnt von Rühle, Siegfried: Vom rheinisch-Danziger Handel im Mittelalter. In: Festschr. zur Jahrtausendfeier der Rheinländer in Danzig. Danzig 1925, S. 41: »Den häufigen Besuch der heiligen Stätten in Aachen läßt besonders ein Fomular des 15. Jahrhunderts erkennen, auf dem der rector ecclesie s. M(ariae) in Gdanczk, also der Pfarrherr der Danziger Marienkirche, seinem Pfarrkinde – der Name sollte hier ausgefüllt werden – die Erlaubnis zu einer Wallfahrt nach Aachen erteilt«. Wegen des Fehlens jeder Provenienzangabe wurde darauf verzichtet, die Archivare des Staatsarchivs Danzig mit einer Anfrage zu behelligen. – Die Zahl der als Muster und Formulare überlieferten Texte ließe sich über die im Anhang, Nr. 4, 5, 7, 10, 11 mitgeteilten Briefe hinaus durch eine Durchsicht der zahlreichen in den letzten Jahrzehnten erschienenen neuen Handschriftenkataloge sicherlich vermehren, dürfte aber keinen prinzipiell anderen Befund ergeben. Vgl. den Nachtrag zum Anhang. 142 Vgl. oben bei Anm. 4, 40, 97ff. 143 Schmugge: Der falsche Pilger (wie Anm. 88) S. 481.

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den Pilgerscharen des Spätmittelalters die Zahl derjenigen war, die sich durch einen Brief ihres Pfarrers hat ausweisen können, wird sich nie klären lassen. Zudem können auf wundersame Weise auf Grund eines Gelübdes aus dem Gefängnis Entflohene vor Antritt ihrer gelobten Fahrt nicht noch ihren Pfarrer Segens und Erlaubnis halber aufgesucht haben. Zum Beispiel auch nicht jener Hans Grimm, der sich 1513 aus einem Turm des Göttinger Rates abseilte, dabei 15 (!) Klafter tief abgestürzt und dennoch völlig unversehrt entkommen sein will, nachdem die Ehefrau vier Wochen lang die Muttergottes angerufen und gelobt hatte, für eine Befreiung des Mannes mit diesem zum Marienbild nach Grimmenthal (im Hennebergischen) zu wallen und ihr bestes Kleid zu opfern.144 Der Hildesheimer Kleriker Heinrich Heinemeyer freilich, der wunderbarerweise in Bremen aus dem Gefängnis entweichen konnte, wies eine Urkunde des Bischofs von Hildesheim vor, als er 1522 in Grimmenthal zur Erfüllung seines Gelübdes erschien.145 Die wenigsten Personen, die sich auf Michael Ostendorfers Kupferstich in die Kapelle der Schönen Maria zu Regensburg drängen146, sind durch Attribute eindeutig als »Pilger« kenntlich. Vielmehr handelt es sich der Mehrzahl nach um Landleute. Sie hatten Teil an einem geleuff oder concursus, an einem Zu- und Auslaufen solcher Art, gegen das Luther 1516/17 in seiner ersten Wittenberger Zehn-Gebotepredigt die Stimme erhoben hatte: facit hos discursus diabolus, und zwar zum Schaden der Verkündigung des Gotteswortes, der Gläubigen und ihrer Heimatkirche (ecclesiam suam domesticam).147 Im Jahre 1520 zählte Luther 144 Mötsch, Johannes: Die Wallfahrt zu Grimmenthal. Urkunden, Rechnungen, Mirakelbuch. Köln u. a. 2004 = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Große Reihe. Bd. 10, S. 350f. M(irakel) Nr. 34, notiert am 2. Juni 1514. Weitere wunderbare Gefangenenbefreiungen ebenda S. 357 M 62 (Gebesee), S. 381 M 142 (Wechmar bei Gotha), S. 381f. M 143 (Gebesee). 145 Mötsch: Grimmenthal (wie Anm. 144) S. 382 M 145. 146 Abb.: Kunst der Reformationszeit. Hrsg. von den Staatlichen Museen zu Berlin. Berlin 1983, S. 140 Nr. B 83. Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers. Veranstaltet vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Verein für Reformationsgeschichte. Frankfurt am Main 1983, S. 70f. G 78 (Beschreibung durch Hartmut Boockmann). 147 Luther, Martin: Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo. Praeceptum primum. In: WA Bd. 1, 1883, S. 422f. – Brückner, Wolfgang: Zur Phänomenologie und Nomenklatur des Wallfahrtswesens und seiner Erforschung. In: Volkstum und Geschichte. Festgabe für Josef Dünninger zum 65. Geburtstag. Berlin 1970, S. 388f., Ders.: Das Problemfeld Wallfahrtsforschung oder: Mediaevistik und neuzeitliche Sozialgeschichte im Gespräch. In: Wallfahrt und Alltag (wie Anm. 20) S. 14, weist darauf hin, daß die seit 1520 verdeutschten Predigten Luthers concursus / discursus mit geleuff und zu˚lauff, das von Luther für die approbierten Wallfahrten nach Rom, Santiago etc. verwendete peregrinationes (S. 424) dagegen mit bewerte walfarten übersetzen. Luther, Martin: Der Zehen gebot ein nützliche erklerung. Basel 1520 [= VD 16 L 4329], fol. XXIIv: Der tüfel macht die geleuff, fol. XXIIIr: geleuff / zu˚lauff, fol. XXIIIIr: bewerten walfarten. Vgl. auch Luthers Predigt von 1525 »Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament«. In: WA Bd. 18, 1908, S. 74 f:

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Welßnacht (Wilsnack), Sternberg, Trier, das Grymtal, und itzt Regenspurg zu den wilden Capellen und feltkirchen, wohin jetzt die newen walfarten gingen.148 Die Massen, die alles stehen und liegen ließen, um an solchen Gnadenorten zusammenzuströmen, führten selbstverständlich keine Pilgerbriefe mit sich. Sie setzten sich über die hergebrachte Ordnung der Pfarrei hinweg.149 Der schon wiederholt erwähnte Osnabrücker Augustinereremit Gottschalk Hollen dachte nun aber keineswegs an die Ziele solcher Aufläufe, sondern an Heilige Stätten (loca sancta), das kann nur heißen an Orte, die als Wallfahrtsziel kirchlicherseits approbiert waren. Viele Pilger, Männer wie Frauen, so Hollen, kümmerten sich nicht um die gebotenen Normen, sondern würden einfach loslaufen: Sed contra hoc faciunt multi homines vtriusque sexus viri et mulieres, qui discurrunt ad loca sancta non petita licentia, nec habita littera aut benedictione sacerdotali.150 Andere Stimmen hatten bereits im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts die abträglichen Folgen thematisiert, die das Wallen zu mit Ablaß versehenen Gnadenorden mit sich brachte, und zwar für die heimatlichen Pfarreien. Das Konstanzer »Konkordat« der englischen Nation mit Martin V. von 1418 beklagte als Mißstand, daß päpstliche Ablässe an bestimmten Orten Gläubige von daheim abzögen, wodurch die Pfarrherren mißachtet und ihre Pfarreien an Zehnten und Opfergaben geschmälert würden. Bischöflicherseits sollten Untersuchungen angestellt werden dürfen, um solche Ärgernis erregenden Ablässe gegebenenfalls zu widerrufen.151

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Also man die bilder zur Eychen (eine Eiche in Naunhof südöstl. Leipzig), yn Grymmetal, zum Birnbaum (ein Birnbaum in Theka-Rötha, südl. Leipzig), und wo solch geleuffte mehr zu den bilden ist. Luther: An den christlichen Adel (wie Anm. 41). WA Bd. 6, S. 447: Zum zwentzigstenn: Das die wilden Capellen und feltkirchen wurden zu poden vorstoret, als da sein die newen walfarten hyn gahen, Welßnacht, Sternberg, Trier, das Grymtal, und itzt Regenspurg, unnd der antzal viel mehr. Für diese Leute zutreffend Schubert, Ernst: Spätmittelalter – die Rahmenbedingungen des Lebens der kleinen Leute. In: Althoff, Gerd, Goetz, Hans-Werner, Schubert, Ernst: Menschen im Schatten der Kathedrale. Neuigkeiten aus dem Mittelalter. Darmstadt 1998, S. 286: »Die Wallfahrtkirche ist als ein gleichsam revolutionäres, die spätmittelalterliche Pfarreiorganisation sprengendes Element erkannt worden. Sie ermöglichte dem Menschen, unabhängig von den siedlungsgebundenen Pfarrzwängen, die Gnadenstätte seiner Wahl aufzusuchen.« Hollen, Sermo C, De peregrinatione (wie Anm. 43) fol. Dd 3rb. Vgl. Schreiner: Peregrinatio (wie Anm. 20) S. 155. Raccolta di Concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le Autorità Civili. Bd. 1. 1048–1914. Hrsg. von Angelo Mercati. Città del Vaticano 2. Aufl. 1954, S. 165f. Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der großen Konzilien des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Jürgen Miethke u. Lorenz Weinrich. Teil 1. Darmstadt 1995 = Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Bd. 38a, S. 538–540: Item, quod cum occasione diversarum indulgenciarum ac litterarum facultatum a sede apostolica concessarum ad absolvendum quoscumque visitantes sive offerentes in certis locis et questurarum quamplurimarum, que in Anglia plus solito nunc habundant, nonnulli peccandi audaciam frequenter assumant, ac,

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Fortlaufen konnte ein jeder, der es irgendwie vermochte. Die Frage war nur, wieweit er kam. Ein rechter Pilger war nach dem Verständnis des Pfarrklerus und der weltlichen Oberkeiten des Spätmittelalters nur, wer sich nach der Beichte mit dem Segen seines Pfarrherrn aus seiner Pfarrei verabschiedete und darüber sines perners breve, seinen Pilgerbrief, vorweisen konnte. Nur er hatte mit den Worten des Lübecker Domherrn und Pfarrers von St. Marien Nikolaus von der Molen aus dem Jahre 1442 Godes orloff und myn.152

Anhang Regesten im Volltext überlieferter Pilgerbriefe 1) 1309 Juni 11: Der Dekan des Kollegiatstifts St. Stephan und Sebastian und die consules zu Beckum für ihre parrochiani und conopidani zu ihrer Wallfahrt nach Jerusalem. – Westfälisches Urkundenbuch. Additamenta. Bearb. v. Roger Wilmans. Münster 1877 (ND 1973), S. 89f. Nr. 115. Erneut: Westfälisches UB. Bd. 8. Die Urkunden des Bistums Münster von 1301–1325. Bearb. v. Robert Krumbholtz. Münster 1913, S. 177f. Nr. 508; beide aus SB Berlin PK lat. qu. 2 fol. 125r (vgl. Valentin Rose, Verzeichniss der lateinischen Handschriften d. königl. Bibliothek zu Berlin. Bd. 2. Abt. 3. Berlin 1905, S. 1118 Nr. 916, Abschrift 14. Jh. in Sammelhs., Briefmuster, lat.). Erwähnt bei Lahrkamp, Helmut: Mittelalterliche Jerusalemwallfahrten und Orientreisen westfälischer Pilger und Kreuzritter. In: WestfZs 106 (1956) S. 314. Favreau-Lilie: Civis peregrinus (wie Anm. 39) S. 340. 2) 1401 Febr. 2: Hermann Schönfeld, Kaplan zu Winzenburg, für sein Pfarrkind Conr(at) Reymers, das Ablasses halber nach Nikolausberg bei Göttingen pilgern will; gültig für neun Tage. – Regest: UB Göttingen. Bd. 2, S. 1 Nr. 1, Anm. Orig. (dt.): StA Göttingen, »Briefsammlung«. Das Orig. konnte bislang nicht wieder aufgefunden werden. Vergeblich durchgesehen wurden die Zettelkarteien zur Abteilung Urkunden und die Abteilungen Briefe II,7 (Adelige Familien, von Uslar), III,8 (Sonstige Geistliche), V,1 (Varia). Erwähnt bei Engfer: Wallfahrt zum Nikolausberg (wie Anm. 102) S. 94. Scholz: Nikolausberg (wie Anm. 102) S. 106. contemptis suis propriis curatis et ecclesiis suis parrochialibus dimissis, ad ipsa loca spe indulgenciarum et concessionum accedunt, decimas oblationes et debita dictarum ecclesiarum parrochialium subtrahunt seu solvere differunt minus iuste. Committantur diocesanis locorum ad inquirendum super qualitate earum cum potestate suspendendi omnino auctoritate apostolica illas, quas invenerint scandalosas, et illas denunciandi pape, ut illas revocet. 152 Deus: Reisepaß (wie Anm. 78) S. 16. Vgl. Anhang, Nr. 8.

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3) 1425 Nov. 11: Nachträglicher Pilgerbrief von Hennigh Grez, parre zu Cochstedt, für seinen parreman Heyne Pizz, der auf der gelobten Wallfahrt nach St. Marien zu Elende (östl. Bleicherode) und nach Nikolausberg bei Göttingen gefangengenommen wurde. – UB Göttingen. Bd. 2, S. 72 Nr. 111. Orig. (dt.): StA Göttingen,Urk 173 N, Papier, 9,7 x 21,7 cm. Aufgedrücktes Siegel, beschädigt. Erwähnt bei Engfer: Wallfahrt zum Nikolausberg (wie Anm. 102) S. 94. Scholz: Nikolausberg (wie Anm. 102) S. 107. Favreau-Lilie: Civis peregrinus (wie Anm. 39) S. 340 Anm. 64. 4) nach 1426–1427: N., Pfarrherr der Pfarrkirche N. in Göttingen, Mainzer Diözese, für sein Pfarrkind (parrochianus) N., das mit seiner Erlaubnis zum heiligen Blut nach Wilsnack und zu anderen heiligen Stätten pilgern wird (visitabit et specialiter a me licencia petita et obtenta limina sanctorum peregrinando sanctum sanguinem in Wilsznack aut ad alia loca) und das Recht hat, sich einen Beichtvater zu wählen und die Sakramente zu empfangen. – NLB Hannover Ms XXIII, Konvolut VI fol. 21r, auf Papierblatt, ehemals Vorsatzblatt einer Hs., Wasserzeichen Traube (Piccard 316) von 1426–27, Cursiva currens, vgl. Härtel, Helmar u. Ekowski, Felix: Handschriften der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover. Erster Teil. Wiesbaden 1989 = Mittelalterliche Handschriften in Niedersachsen. Bd. 5, S. 218 (Briefformular, lat., ungedruckt). 5) nach 1426–1427, Göttingen: N., Vizepleban [in Göttingen], für sein Pfarrkind, das mit seiner Erlaubnis zu heiligen Stätten und insbesondere nach Santiago pilgert (parochianus meus a me humiliter petiit et obtinuit licentiam peregrinandi ad loca sancta siquidem tamen ad limina sancti Iacobi aliaque loca sancta) mit der Bitte, ihm die Werke der Barmherzigkeit zu erweisen und auf Verlangen die Sakramente zu spenden. – NLB Hannover Ms XXIII, Konvolut VI fol. 21r (wie Anhang Nr. 4, Nachbemerkung). (Briefformular, lat., ungedruckt). 6) 1429 Sept. 29: Dekan Detmar von Reval anstelle des nicht erreichbaren proprius sacerdos für den Laien Wilhelm [in Reval] zu dessen nach Rom und Santiago de Compostela gelobter Wallfahrt. – Liv-, Est- und Kurländisches UB. Bd. 1,8. Hrsg. v. Friedrich Georg von Bunge u. a. Riga u. Moskau 1884 (ND 1974), S. 62 Nr. 97 (aus Stadtarchiv Danzig, Liber Missivarum 3 fol. 48 b, ob Briefmuster?, lat.). Erwähnt bei Haebler: Wallfahrtsbuch (wie Anm. 70) S. 63. 7) um 1430, Juli 25: Johannes, Priesterbruder des Deutschen Ordens und Pfarrer der Marienkirche in der Göttinger Neustadt (Ich Johannes prester unde broder dudesches ordens in der stede des perners so to dusser tid de kerken unser leven frauwen in der nigen stad to Gottingen) für seine Pfarrkinder N.N. und dessen Ehefrau Adelheid (abc unde Alheyt syn elike husfrauwe bewiser dusses breves

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myne richtin parlude), die um Erlaubnis zur Wallfahrt nach Einsiedeln und anderswohin der Gnaden und des Ablasses halber gebeten haben (hebben orloff ghebeden to wallende in pelegerymmes wyse to unser leuen frawen to den Ensedelen unde anders, war se god hen wyset umme gnade unde afflates willen ore seylekeit); auf ihren Wunsch hin oder im Falle von Krankheit mögen sie als fromme und gehorsame Christenmenschen die Sakramente empfangen (Eff on des noet worde edder in kranckheyt quemmen so mogen se de hilligen sacramente entfanghen also frome gehorsam cristen mynschen). – NLB Hannover Ms XXIII, Konvolut VI fol. 21r (wie Anhang Nr. 4, Nachbemerkung) (freundlicher Hinweis von Gaby Kuper M.A., Göttingen). (Briefformular, dt., ungedruckt). Als Priesterbruder der Deutschordenskommende und als Pfarrherr an St. Marien in der Göttinger Neustadt ist Johannes Hundisburg 1421 und 1430 bezeugt, UB Göttingen. Bd. 2, S. 55 Nr. 90, S. 100 Nr. 145. 8) 1442 April 8: Der Lübecker Domkanoniker Lic. decret. Nikolaus von der Molen, Pfarrherr von St. Marien [in Lübeck], für die beiden Lübecker Klaus Dene und Merten Grawetop zu gelobten Wallfahrten nach Freienwalde an der Oder, Thann im Elsaß, Einsiedeln und Santiago de Compostela; gültig für ein Jahr. – Deus, Wolf-Herbert: Ein Reisepaß für Wallfahrer 1442 April 8. In: Soester Zeitschrift 76 (1962) S. 16f. Orig. (dt.): Stadtarchiv Soest Abt. A Nr. 1368. Pergament, 14 x 28 cm. Anhängendes Siegel ab. Erwähnt bei Favreau-Lilie: Von Nord- und Ostsee (wie Anm. 78) S. 111 Anm. 57. 9) 1455 März 30: Dr. utr. Heinrich Bekelin, Pfarrherr von St. Marien in Rostock, für seine Pfarrkinder Hans und Matthias Heidenrik zu ihrer Wallfahrt nach Rom und Santiago de Compostela. – Lisch, G.C.Friedrich: Wallfahrtsbrief von Dr. Heinrich Bekelin zu Rostock. In: Jahrbücher d. Vereins für mecklenburgische Geschichte und Alterthumskunde 43 (1878) S. 189f. (Abschrift, Briefmuster, lat.). Erwähnt bei Haebler: Wallfahrtsbuch (wie Anm. 70) S. 63. 10) nach 1456: H., Pfarrherr der Pfarrkirche St. B. in C. in der Diözese Hildesheim über die seinem Pfarrkind N. erteilte Erlaubnis zur Wallfahrt zum hl. Jakob [in Compostela] (N. latori presentium meo parrochiano, ut causa vere peregrinationis ad sanctum Jacobum licite transire valeat, licenciam plenam et omnimodum prout a me petiit et rogauit). – NLB Hannover Ms XXIII, Konvolut I fol. 9v, auf Papierblatt, ehedem wohl Vorsatzblatt einer Hs., Wasserzeichen Ochsenkopf (Piccard VII 283) von 1456, Cursiva currens, vgl. Härtel und Ekowski: Handschriften Hannover (wie Anhang Nr. 4), S. 215. (Briefformular, lat., ungedruckt).

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11) nach 1456: I., Pfarrherr in N. in der Diözese Mainz, über die von seinem Pfarrkind N. erbetene kanonische Erlaubnis (canonica licencia ad hoc a me rogata) zur Wallfahrt zum heiligen Ja[cobus in Compostela] und zu anderen heiligen Stätten. Da N. nicht exkommuniziert und nicht mit Infamie belegt sei, sondern ein guter Christ, wie es sich für einen Pilger gezieme (et in aliqua excommunicatione nec infamia nullo modo innodatus exsistit et bonus christianus, ut peregrinus esse debet), wird um Gottes willen um seine Unterstützung als Pilger gebeten. – NLB Hannover Ms XXIII, Konvolut I fol. 9v (wie Anhang Nr. 10, Nachbemerkung). (Briefformular, lat., ungedruckt). 12) [1477]: Johannes, Augustinerchorherr [zu St. Florian], Pfarrherr von Waldkirchen (Oberösterreich), für [seine Pfarrkinder] Johannes Kremulner und den Schuster Sigmund zu deren Wallfahrt nach Aachen. – Czerny: Geschäftsleben (wie Anm. 78) S. 44 (nach Abschrift in St. Florian, Stiftsarchiv Hs. 96, Briefmuster, lat.). Erwähnt bei Franz: Kirchliche Benediktionen. Bd. 2 (wie Anm. 30) S. 272 Anm. 3. 13) [1481–1516]: Pfarrherr N.N. in Ilsenburg für seine Pfarrkinder Heinrich und Peter N.N. zu ihrer gelobten Wallfahrt nach Santiago de Compostela. – Jacobs, Eduard: UB des in der Grafschaft Wernigerode belegenen Klosters Ilsenburg. Bd. 2. Halle 1877 = GQProvSachs. Bd. 6,2, S. 97 Nr. 452 (Abschrift in Kopialbuch, Briefformular, Rubrik: brevis forma dimissorii, lat.). Erwähnt bei Schreiber: Strukturwandel der Wallfahrt. In Wallfahrt und Volkstum (wie Anm. 21) S. 13. Mieck: Wallfahrt (wie Anm. 72) S. 493. 14) 1484 April 24: Wygand von Hexeym, Pfarrherr von St. Emmeram zu Mainz, für den Mainzer Bürger Konrad Wigger zu einer Wallfahrt nach Rom und Santiago de Compostela. – Bodmann, Franz Joseph: Rheingauische Alterthümer …, 2. Abtheilung. Mainz 1819, S. 704 Anm. f). Nach Formular und den von Bodmann bewahrten Kürzungen und seiner eigenen Behauptung ehedem Orig., lat., Verbleib unbekannt. Zweifel, die bei Angaben und Texten von Bodmann grundsätzlich angebracht sind – vgl. zu Bodmann Erler, Adalbert: Bodmann, Franz Joseph. In: NDB. Bd. 2. Berlin 1955, S. 360f. Darapsky, Elisabeth: Die Verluste der Mainzer Stadtbibliothek unter der Amtsführung von F. J. Bodmann und die Prozesse gegen die Erben Bodmanns. In: Mainzer Zs. Mittelrheinisches Jb. f. Archäologie, Kunst und Geschichte 54 (1959) S. 12–20 – sind hier hintanzustellen. – Nach freundlicher Mitteilung von Archivdirektor Dr. Wolfgang Dobras, Stadtarchiv Mainz, ist ein Konz Wicker, Baumeister von St. Emmeram, 1471 Juni 8 in einer Urkunde sowie im Baurechnungsbuch von St. Emmeram für 1476 und 1482 bezeugt, Sign. 13/141, S. 27f.; ebenda S. 29 zu 1483 auch der Pfarrer

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Wigand Hexheim. Erwähnt bei Schreiber: Strukturwandel der Wallfahrt. In Wallfahrt und Volkstum (wie Anm. 21) S. 13. 15) 1514 März 14: Magister artium und Lic. theol. Florentius Diel, Pfarrer der Pfarrkirche St. Christophorus zu Mainz, für Paul Kleiber aus Mainz für eine gelobte Wallfahrt nach Santiago de Compostela. – F(ranz) F(alk), Aus dem Wallfahrtsleben des Mittelalters. In: Der Katholik. Zs. f. katholische Wissenschaft und kirchliches Leben 3. Folge. Bd. 7 (1893) S. 191 (Abschriftlich, ohne Rubrik, Briefformular, lat.). Erwähnt bei Falk: Die pfarramtlichen Aufzeichnungen (wie Anm. 52) S. 38, unter Nennung der Rubrik forma data peregrinandi ad S. Iacobum, und Schreiber: Strukturwandel der Wallfahrt. In: Wallfahrt und Volkstum (wie Anm. 21) S. 13. 16) 1516 Dez. 25: Magister artium und Lic. theol. Florentius Diel, Pfarrer der Pfarrkirche St. Christophorus zu Mainz, für sein Pfarrkind, den Lohnmann zu Mainz Heinrich Fredburg, zur Wallfahrt nach Santiago de Compostela. – (wie Anhang Nr. 15, Nachbemerkung). (Abschriftlich, Briefformular, lat.). Nachtrag: Weitere, bis Februar 2020 bekannt gewordene Pilgerbriefe 17) 1152–1170: Propst Ulrich von Steinfeld bescheinigt den gegenwärtigen milites, wallfahrenden Büßern bei 40-tägigem Fasten, daß sie aus seiner Pfarrei stammen (qui penitentie habitum induerunt, de parrogchia nostra sint et a nobis iniunctam carinam sumpserunt), und bittet für sie um christliche Zuwendung tam in temporalibus quam in spiritualibus. lat.– Ingrid Joester, UB Steinfeld 1976, S. 626 Nr. 44. Abschrift 13. Jh. 18) 1417 Juli 24: Abt Mauritius I. von Zinna erteilt für sein Pfarrkind Felix N. einen Brief für die Pilgerfahrt nach Santiago. lat. – Hartmut Kühne, Marktkirchenbibliothek 2017 (s. unten Nr. 23) S. 149 Anm. 15. Druck von 1619, VD17 1: 037385D Bl. I1r-v. 19) 1417 Okt. 1: Willeke von der Mollen, Bürger von Osterburg, der eyn recht pilgerim waz und des synen pharren briff hatte, wird auf seiner Fahrt wegen des Ablasses zu Unser Lieben Frauen in Brandenburg um sein Pferd und seine Habe von Kanneberch vom Schloß Altenplathow beraubt. Aus der Klageschrift des Markgrafen Friedrich von Brandenburg gegen Ebf. Günther von Magdeburg, 24. Mai 1520. dt. – Riedel, Cod. dipl, Brandenbg., Hauptteil 2, Bd. 3, Berlin 1846, Nr. 1375 S. 339 (Hinweis von Hartmut Kühne).

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Pfarrzwang

20) 1456 August 15: Bf. Johann III. von Verden bittet jedermann, dem dieser eine rechtmäßige Pilgerfahrt bezeugende Brief vorgelegt wird, den Verdener Bürger Johann, der wegen seiner Befreiung aus Gefangenschaft eine Pilgerfahrt nach Einsiedeln und Santiago gelobt hat, zu unterstützen. – A. Mindermann, Urkundenbuch der Bischöfe und des Domkapitels von Verden 4,2 (VeröffHiKoNiedersBremen 305), Göttingen 2019, S. 1238f. Nr. 950. Or. (lat.). 21) 1472 Aug. 23: Konrad Hallis, Pfarrer der Jacobikirche in Einbeck, stellt einen Pilgerbrief aus für Dietrich Sunderbeken, der den Heilig-Kreuzaltar in Wülfinghausen und den Bernwardsaltar in Hildesheim besuchen will und is up dussem weghe eyn recht pelgrimme uth unde heim unde bruket dar to des fredes, den de heren und vorsten dar over ghegeven hebben, und bittet einen jeglichen Priester, dem genannten Dietrich van mynes orloves wegen mede to delende unde to rekende de hilgen sacramente, wor unde wanne ome des noit worde. – Uwe Hager, Urkundenbuch des Klosters Wülfinghausen 2 (VeröffHiKoNieders 230), Hannover 2006, S. 256 Nr. 594. Or. (ndt.). 22) 1498: Pilgerbrief des Abtes Thomas von Seligenstadt für einen Santiagopilger. – Wilh. Mat. Becker, Inventare der Gemeindearchive des Kreises Offenburg, Darmstadt 1915, S. 54. Fragment als Einband verwendet; Stadtarchiv Seligenstadt XII. Or.? (Mitteilung Enno Bünz 24. 7. 2006). 23) um 1500: Pfarrer NN der Kirche NN in Goslar bittet für sein Pfarrkind NN, das nach Santiago wallfahren will und nicht exkommuniziert ist, um Fürsorge, die Spendung der Sakramente und ein kirchliches Begräbnis. – Hartmut Kühne, Ein Pilgerbrief für die Wallfahrt nach Santiago de Compostela – zugleich ein Beitrag zum Wallfahrtswesen in Goslar um 1500, in: Helmut Liersch / Ulrich Bubenheimer, Marktkirchen-Bibliothek. Beiträge zur Erforschung der reformationszeitlichen Sammlung, Regensburg 2017, S. 160. Abschrift, nach 1500 (lat.) (Mitteilung Kühne). 24) 1512: Pilgerbrief des Pfarrers von Monstab bei Altenburg für seinen Küster, der nach Santiago wallfahren will. – J. u. E. Löbe, Geschichte der Kirchen und Schulen des Herzogtums Sachsen-Altenburg 1, 1886, S. 393. Vgl. Wiessner, Bistum Naumburg 1,1. Die Diözese (Germania Sacra NF 35,1), Berlin usw. 1997, S. 391. Or.? (Mitteilung Enno Bünz 24.7. 2006). 25) 1517 Febr. 12: Bruder (frater atque dominus) Johannes Kuesze [= Kruse], Prior der Karmeliter und Pastor der Kirche in Atens (prior et pastor ecclesie in Athensze) stellt Erico de Artoflumo aus dem Kirchspiel Golzwarden (Goelszwoerden) ein Empfehlungsschreiben aus für seine Wallfahrt nach Santiago, die er

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zur Vergebung seiner Sünden und für das Seelenheil seiner Eltern durchführen will. – NLA Ol Best. 23–4 Urk Nr. 1. Or. lat. Hartmut Kühne, in: Pilgerspuren, Petersberg 2020, S. 52. 26) 1518: Konrad Gossel, Pfarrer an St. Martini in Braunschweig, fertigt einen Pilgerbrief aus für den Braunschweiger Jerusalempilger Cordt Vechelt, Kerstin Rahn, Religiöse Bruderschaften in der spätmittelalterlichen Stadt Braunschweig (Braunschweiger Werkstücke A 38), Hannover, Braunschweig 1994, S. 272 und Anm. 767. – StadtA Braunschweig A IV 11, XXIV, Nr. 50, Or. lat. (Mitteilung von Hartmut Kühne vom 25. 2. 2020). 27) Pilgerbriefformular aus einem Braunschweiger Santiago-Pilgerführer von 1518, lat., Philipp Julius Rehtmeyer, Historiae Ecclesiasticae Inclytae Urbis Brunsvigae Pars 4, Braunschweig 1715/1720, Supplementa zum 2. Teil, S. 66–68, für Santiago und St. Jodocus von Ponthieu (Mitteilung von Hartmut Kühne). 28) 1519: Dechant Johann Kerkener erteilt einen Pilgerbrief für einen Bürger aus Wernigerode. – Erw. bei Eduard Jacobs, Hierographia Wernigerodensis, ZHarzV 12, 1879, S. 187 Anm. 2. (lat.) Abschrift. 29) 1520, Febr. 13: Georg Reymann, Pfarrherr der inkorporierten Kirche von Keßlar, erteilt für Johann Knauer für eine Wallfahrt nach Santiago einen Pilgerbrief. – Rein, Thuringia Sacra 2, 1865, S. 111f. Nr. 83. Hartmut Kühne, Enno Bünz, Thomas T. Müller, Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland, Petersberg 2013, S. 164 Nr. 4.1.2 (Abb.). Or. lat. 30) O.D.: Pilgerbrief für eine Wallfahrt nach Wilsnack. – Erw. bei Eduard Jacobs, Talisman und Anpreisung der Heilthümer und Gnaden im Dom zu S. Salvador in Oviedo für einen harzischen Wallfahrer, ZHarzV 13, 1880, S. 320 mit Anm. 2, Druck. 31) O.D.: Pilgerbrief für eine Wallfahrt nach Aachen. – Erw. bei Eduard Jacobs, Talisman und Anpreisung der Heilthümer und Gnaden im Dom zu S. Salvador in Oviedo für einen harzischen Wallfahrer, ZHarzV 13, 1880, S. 320 mit Anm. 2, Druck.

IV. Frühe Neuzeit

Kirchenpatronate in städtischer Hand: Göttingen*

Derzeit, im Jahre 2013, ist die Stadt Göttingen Patronin der Marienkirche in der Göttinger Neustadt sowie der Kirchen St. Cosmas und Damian in Herberhausen und St. Martin in Roringen, also der Pfarrkirchen jener beiden östlich von Göttingen gelegenen Dörfer, über welche der Rat vom späten 14. Jahrhundert bis zum Jahre 1829/1831 die – zuletzt niedere – Gerichtsherrschaft innehatte.1 Als Inhaberin des Kirchenpatronats hat die Stadt das Recht, dem kirchlichen Oberen – das ist seit dem Jahre 1924 das damals eingerichtete Landeskirchenamt der evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers – einen Kandidaten zur Besetzung der Pfarrstellen an diesen Kirchen vorzuschlagen (Präsentationsrecht);2 überdies ernennt sie seit der Einführung von Kirchenvorstandswahlen in den Jahren 1848/ 49 beziehungsweise 1864/65 als Körperschaft eine natürliche Person, durch die sie in den betreffenden Kirchenvorständen als Patronin vertreten wird.3 Ideelle * Erstveröffentlichung in: Arnd Reitemeier und Uwe Ohainski (Hrsg.), Aus dem Süden des Nordens. Studien zur niedersächsischen Landesgeschichte für Peter Aufgebauer zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen 58), Bielefeld 2013, S. 433–465. 1 Vgl. Gerhard Bartel, Der ländliche Besitz der Stadt Göttingen. Entwicklung, Bewirtschaftung und Verwaltung vom 13. Jahrhundert bis zu der Gegenwart (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 52), Hildesheim 1952, S. 69f. Frank Weissenborn, Gerichtsbarkeit im Amt Harste bei Göttingen, Diss. iur. Göttingen 1993, S. 145–167. Arne Butt, Die Stadt Göttingen und ihre Rechte im ländlichen Raum. Herrschaft und Beherrschte in spätmittelalterlichen Dörfern (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 262), Hannover 2012, S. 171–177, 219–224. 2 Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, Kirchengesetz über Patronate vom 14. Dezember 1981, in: Kirchliches Amtsblatt 1981, S. 196ff. § 3, sowie Pfarrstellenbesetzungsgesetz vom 25. Januar 1996, Kirchliches Amtsblatt 1996, S. 13ff. § 37. – Im Folgenden wird entsprechend dem antiken und dem allerdings nur vereinzelten modernen Gebrauch mit Paul Hinschius / Ulrich Stutz, Patronat, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 15, Leipzig 1904, S. 13–26, für den Patronat das maskuline Genus verwendet. 3 Gesetz über Kirchen- und Schulvorstände vom 14. Oktober 1848 § 23, in: Christian Hermann Ebhardt, Gesetze, Verordnungen und Anschreiben für den Bezirk des Königl. Consistorii zu Hannover, welche in Kirchen und Schulsachen ergangen sind, 1. Folge 1845–1857, Hannover 1858, S. 43f.: Dagegen sind sie (die Patrone) befugt, ein Mitglied (…) zu ernennen; dazu die

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Frühe Neuzeit

und materielle Verpflichtungen, zum Beispiel hinsichtlich der Baulast, konnten und können prinzipiell aus dem Patronatsrecht erwachsen.4 Hier kommt die jeweils örtliche Observanz zum Tragen.5 Der Kirchenpatronat ist als Rechtsfigur im Zuge des Kampfes der Kirchenreformer um die Befreiung der Niederkirchen (Pfarrkirchen) von der laikalen Eigenkirchenherrschaft von dem Kirchenrechtslehrer Gratian Mitte des 12. Jahrhunderts entwickelt6, von Rufin um das Jahr 1164 als ius patronatus bezeichnet und nach 1171 von Johannes Faventinus erstmals definiert worden: Ius patronatus est auctoritas vel potestas providendi ecclesie veniens ex beneficiis ante consecrationem collatis.7 Seitdem ist das Patronatsrecht der Theorie nach im wesentlichen auf das schon erwähnte Präsentationsrecht des Kirchenherrn beschränkt.8 Kirchenherren konnten Adelige, Fürsten, Dorfgenossenschaften und Stadtgemeinden sein. Wenn ein Kloster, ein Stift oder der Bischof Kirchenpatron war, dann spricht man von einem geistlichen Patronat.9 Auch noch in der Neuzeit nutzten die Patrone die Präsentation weidlich aus. Die Herren von Gladebeck, Patrone von Herberhausen bis zum Jahre 1701, ließen sich 1601/02 und 1612 ihre als Lehnbriefe bezeichneten Präsentationsschreiben mit zwölf beziehungsweise 14 Reichstalern bezahlen. Das war nach dem Urteil des Wolfenbütteler Konsistoriums zuviel, also Simonie, das heißt das Verleihen eines Kirchenamtes um Geld!10 Während die evangelischen Kirchenleitungen zumal in den 1970er Jahren an einem Auslaufen der Patronate interessiert waren und einzelne Synodale wie auch Pfarrer in der Präsenz geborener patronatsherrlicher Kirchenvorsteher im

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Ausführungsbestimmungen Art. 14, ebenda, S. 47. – Karl Knoke, Die Kirchenvorstands- und Synodalordnung der evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers vom 9. Oktober 1864, Gütersloh 1916, S. 382 § 14 (Vertretung des Patrons im Kirchenvorstand). Eberhard Sperling und Heidi Weidemann, Zum Fortbestand herkömmlicher Kirchenbaulasten der politischen Gemeinden, in: Die öffentliche Verwaltung. Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 26 (1973), S. 269–271. Vgl. Heidi Weidemann, Rechtsprechung, Entscheidungen [hier über Kirchenbaulasten], in: Deutsches Verwaltungsblatt 87 (1972), S. 332–336, hier S. 334. Peter Landau, Jus patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 12), Köln, Wien 1975, S. 3–6. Ders., Patronat, in: Theologische Realenzyklopädie 26, 1996, S. 106–114. Landau, Jus Patronatus, wie Anm. 6, S. 13 mit Anm. 48. Summa decretorum ad C. 12 q. 7 c. 26, hrsg. von Heinrich Singer, Paderborn 1902 (ND Aalen 1963), S. 368f. Zur Datierung von Rufins Summe s. André Gouron, Sur les sources civilistes et la datation des Sommes de Rufin et d’Etienne de Tournai, in: Bulletin of Medieval Canon Law New Series 16 (1986), S. 55–70. Vgl. Joseph Ahlhaus, Geistliches Patronat und Inkorporation in der Diözese Hildesheim im Mittelalter, Freiburg i.Br. 1928, S. 80–84. Landau, Ius patronatus, wie Anm. 6, S. 38–50; zum geistlichen Patronat ebenda, S. 46ff. Wolfgang Petke, »Aus erheblichen Ursachen«? Die Verbindung der Kirchengemeinden Herberhausen und Roringen im Jahre 1613 und der Pastor Andreas Variscus, in: Göttinger Jahrbuch 61 (2013), S. 82f. mit Anm. 104–109. Wiederabdruck in diesem Band S. 401–441.

Kirchenpatronate in städtischer Hand: Göttingen

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leitenden Gemeindegremium gar unerträgliche Relikte des Feudalzeitalters erblickten11, ist der Patronat heute in den Gesetzen verschiedener evangelischer Landeskirchen nach wie vor präsent.12 Allerdings hat der Codex iuris canonici 1983 den Patronat als gemeinrechtliches Institut des katholischen Kirchenrechts aufgehoben; in der Praxis werden bestehende Patronate aber auch von der katholischen Kirche respektiert.13 Im Mittelalter unterstand keine der fünf Göttinger Pfarrkirchen dem Patronat des Rates. Patrone der Kirchen St. Johannis, St. Jacobi, St. Nicolai und St. Albani – hier seit 1254 – waren die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg, also die welfischen Herren der Stadt. Die Anfang der 1290er Jahre von Herzog Albrecht II. von Braunschweig gestiftete Neustädter Pfarrkirche St. Marien war seit 1318 Kommendekirche des Deutschen Ordens; dieser besaß seitdem auch den Patronat.14 Anders verhielt es sich bei den Hospitälern. Der Patronat über St. Spiritus, 1293 von der Göttinger Familie Bernhardi/Monetarius westlich von neuer Leine (»Leinekanal«) und Neustadt fundiert und Göttingens ältestes Hospital, verblieb zunächst bei der Stifterfamilie und wurde von dieser nebst Grund und Boden 1336 an das Benediktinerinnenkloster Lippoldsberg übergeben. Von diesem erwarb der Rat im Jahre 1440 das alternierende und im Jahre 1470 das ganze Präsentationsrecht.15 Über die Bartholomäuskapelle bei der seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts bestehenden Leprosensiedlung nördlich der Stadt erhielt der Rat 1453 von Herzog Otto Cocles das Patronats- und Präsentationsrecht.16 Den Patronat über das vor dem Geismartor im Süden der Stadt gelegene Hospital St. 11 Vgl. für Hannover Eberhard Sperling, Zur Rechtslage der Patronate, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 21 (1976), S. 244–265. Hans Otte, Fürsorge oder Selbstbestimmung? Das Patronat in der hannoverschen Landeskirche, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 56 (2011), S. 405–429, hier S. 424–426. 12 Landau, Patronat, wie Anm. 6, S. 111f. Für Hannover vgl. oben bei Anm. 2. 13 Landau, Patronat, wie Anm. 6, S. 112. 14 Gaby Kuper, Die Übertragung der Pfarrechte westlich der Leine an die Göttinger Marienkirche im Jahre 1307/1308. Mitgeteilt aus dem Kirchenkreisarchiv Göttingen, in: Göttinger Jahrbuch 44 (1996), S. 93–106, hier S. 96f. Zur Göttinger Sakraltopographie im Spätmittelalter s. die Kartenskizze »Kirchen, Klöster und Kapellen im mittelalterlichen Göttingen« bei Reinhard Vogelsang, Die Kirche vor der Reformation, in: Dietrich Denecke, Helga-Maria Kühn (Hrsg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt. 1 Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, Göttingen 1987, S. 467. 15 Karl Wellschmied, Die Hospitäler der Stadt Göttingen. Ihre Entwicklung, Verwaltung und Wirtschaft von den Anfängen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen 4), Göttingen 1963, S. 9ff. Vogelsang, Kirche vor der Reformation, wie Anm. 14, S. 472–474. Gaby Kuper, Zur Gründung des Heilig-Geist-Hospitals in Göttingen, in: Göttinger Jahrbuch 43 (1995), S. 41–46. Dies., Entstehung und Entwicklung der Pfarrorganisation mittelalterlicher Städte in den welfischen Landen, Diss. phil. Göttingen 2008, S. 190– 192 (Kap. III.2.b Göttingen). 16 Wellschmied, Hospitäler, wie Anm. 15, S. 23ff. Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 193f. (Kap. III.2.b).

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Frühe Neuzeit

Crucis überließ derselbe Herzog bereits im Jahre 1395 dem Göttinger Rat. Es war der erste Patronat, den die Stadt erworben hat.17 Als die Kreuzkirche im Jahre 1773 aufgehoben wurde und ihr Patronat dadurch erlosch, brachte dieser Umstand der Stadt den halben Patronat über St. Albani ein und 1803 an dessen Stelle den Patronat über die Landpfarre Roringen.18 Der Kirchenpatronat ist also eine Erscheinung des Mittelalters, der Neuzeit und auch noch der Gegenwart. Schnitte durch Epochen zu führen, ist gute Übung der Landeshistoriker. So gelingt es vielleicht, den bei der Erforschung der Göttinger Geschichte so rührigen Jubilar auch für den folgenden Blick auf die Geschichte der hiesigen städtischen Patronatsrechte bis hin zur Gegenwart zu erwärmen.

1.

Desinteresse der Stadträte am städtischen Kirchenpatronat im Mittelalter?

Wie schon Reinhard Vogelsang hat auch Ernst Schubert gemeint, es habe den Anschein, »als hätten die Städte bis zur Reformation gar nicht energisch das Patronatsrecht über die Pfarrkirchen angestrebt«.19 Obwohl mit Vorbehalt formuliert, ist dieses Urteil des renommierten, leider so früh verstorbenen Historikers irritierend. Gaby Kuper hat in ihrer Dissertation über die Pfarrorganisation mittelalterlicher Städte in den welfischen Landen selbstredend auch die Patronatsverhältnisse untersucht. In den zehn von ihr betrachteten Städten gab es 26 Pfarrkirchen. Nur über zwei, über die genossenschaftlich im Jahre 1158 fundierte St. Michaeliskirche in der Braunschweiger Altstadt und seit 1408 über die Lüneburger St. Johanniskirche, besaßen Stadträte den Patronat.20 Herzoglich war der Patronat über acht Kirchen; an weiteren zwei herzoglichen Kirchen erwarb die Stadt nicht das Präsentationsrecht, aber das Nominationsrecht21 – von

17 Wellschmied, Hospitäler, wie Anm. 15, S. 17ff., 20. S. 123. Thorsten Henke, Das Göttinger Passionsretabel und die Hospitalkirche St. Crucis, in: Thomas Noll, Carsten-Peter Warncke (Hrsg.), Kunst und Frömmigkeit in Göttingen. Die Altarbilder des späten Mittelalters, Berlin 2012, S. 120–137, hier S. 123–125. Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 187f. (Kap. III.2.b). 18 S. unten Abschnitt 4. 19 Reinhard Vogelsang, Stadt und Kirche im mittelalterlichen Göttingen (Studien zu Geschichte der Stadt Göttingen 8), Göttingen 1968, S. 87. Ernst Schubert, Stadt und Kirche in Niedersachsen vor der Reformation, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 86 (1988), S. 9–39, hier S. 18. 20 Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 356f. (Kap. IV.2. Patronate). 21 Ebenda, S. 351 (Kap. IV.2. Patronate).

Kirchenpatronate in städtischer Hand: Göttingen

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Dietrich Kurze Subpatronat genannt.22 Welfische Stifte hatten den Patronat über fünf Kirchen inne, andere Stifte oder Klöster besaßen deren drei.23 Generell ist es überhaupt nur wenigen Städten im Mittelalter gelungen, das Besetzungsrecht der Pfarrstellen zu erwerben.24 Dazu hatten sie im Grunde auch keine Gelegenheit. In den weitaus meisten Fällen beruht der Patronat über die städtischen Pfarrkirchen auf eigenkirchenrechtlich-grundherrlichen Voraussetzungen, die älter sind als das Städtewesen, das sich erst seit dem 11. Jahrhundert entfaltete.25 In der hannoverschen Landeskirche bestanden 1932 mindestens 36 und 1981 noch zwölf städtische Patronate.26 In der Mehrzahl dürften sie sich reformationszeitlichen Bemühungen der Räte um die evangelische Lehre und neuzeitlichen Sonderentwicklungen analog den im Folgenden darzustellenden Göttinger Verhältnissen verdanken. Die zu Stadtherren gewordenen früheren Grund-und Eigenkirchenherren hatten überhaupt keinen Anlaß, ihre Kirchenherrschaft aufzugeben, auch wenn sie, wie erwähnt, nunmehr auf das Patronatsrecht reduziert war. Daran etwas zu ändern, haben die Städte vor der Reformation offensichtlich als aussichtsloses Unterfangen gar nicht erst versucht – mit einer prominenten Ausnahme. Im Jahre 1225/26 interpolierte die Lübecker Stadtgemeinde, als sie ihr Barbarossaprivileg verfälschte, nicht nur die angeblich schon 1188 verbriefte Ratsverfassung, sondern bewilligte sich auch das Patronatsrecht über die Lübecker Marienkirche.27 Das war ein massiver Versuch, dem Lübecker Domkapitel den seit 1163 besessenen Patronat zu entwinden. Er ist jedoch gescheitert. Es blieb bei dem schon 1222 erreichten Status, daß die Pfarrleute von St. Marien ein beschränktes Nominationsrecht auf die Pfarre ausübten. Sie durften den Pleban wählen, aber

22 Dietrich Kurze, Pfarrerwahlen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Gemeinde und des Niederkirchenwesens (Forschungen zur Kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 6), Köln, Graz 1966, S. 397, 441. 23 Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 351 (Kap. IV.2. Patronate). 24 Kurze, wie Anm. 22, S. 444. 25 Vgl. Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 366 (Kap. IV.3). 26 Stadtarchiv Göttingen (künftig: StA GÖ), AHR I Fach 9 Nr. 2 Bd. 1, fol. 23r, Zusammenstellung städtischer Patronate zum Rundschreiben des Kirchlichen Stadtbundes an die Magistrate, 9. Dezember 1932. – Verzeichnis der Kirchen- und Kapellengemeinden, der Pfarrstellen, der gottesdienstlichen Gebäude und der zugehörigen politischen Gemeinden in der Ev.-lutherischen Landeskirche Hannovers; geordnet nach Sprengeln und Kirchenkreisen. Stand vom 1. Juli 1981, hrsg. vom Landeskirchenamt Hannover, Hannover 1982, passim. 27 DF.I. 981: … omnia iura, que primus loci fundator Heinricus quondam dux Saxonie eis concessit et privilegio suo formavit, nos etiam ipsis concessimus: Patronatum videlicet parrochialis ecclesie beateMarie, ut mortuo sacerdote cives, quem voluerint, vice patroni sibi sacerdotem eligant et episcopo representent. Hermann Bloch, Der Freibrief Friedrichs I. für Lübeck und der Ursprung der Ratsverfassung in Deutschland, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 16 (1914), S. 1–43, hier S. 8–13 (aber nur zu den consules). Kurze, wie Anm. 22, S. 406.

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Frühe Neuzeit

ihre Wahl durfte nur auf einen Kleriker aus dem Kreis der Lübecker Domherren fallen.28

2.

Stadtherrliche Patronate in Göttingen

Früher als der Rat haben die Herzöge im 13. Jahrhundert die Zahl ihrer Kirchenpatronate erweitert. Die grundherrliche Stadt- und Kirchengründung der Göttinger Neustadt samt ihrer Marienkirche durch Herzog Albrecht II. von Braunschweig (1279–1318) um das Jahr 1290 läßt sich recht exakt rekonstruieren.29 Die neue Pfarrei, obwohl westlich der Stadt gelegen, mußte aus dem Pfarrsprengel der östlich der Stadt liegenden Albanikirche ausgepfarrt werden.30 Deren Sprengel umschloß, wie Gaby Kuper präzise belegt hat, ursprünglich die gesamte Göttinger »Altstadt«.31 Zur Kirche der 953 an das Magdeburger Moritzkloster geschenkten Siedlung Gutingi gehörig32, war er der älteste Pfarrbezirk des künftigen Stadtareals. In ihn wurden, wie geschlossen werden muß, im Zuge von Abpfarrungen zunächst die herrschaftlichen Kirchen St. Johannis, St. Jacobi und St. Nicolai und dann, wie erwähnt, die Marienkirche und sukzessive die Spitäler hineingegründet. Die Magdeburger Phase des Göttinger Altdorfes Gutingi war offenbar nur eine Episode.33 Jene Kirche in Göttingen, deren Patronat Kaiser Otto IV. im Jahre 1209 dem Mainzer Erzbistum Mainz restituierte (patronatum ecclesie de Guttingen … dimisimus)34, war sehr wahrscheinlich die Albanikirche, deren auf den hl. Alban von Mainz weisendes Patrozinium erstmals 1254 bezeugt ist.35 Das gesamte, sich 28 Kurze, wie Anm. 22, S. 401–405. Wilhelm Leverkus, Urkundenbuch des Bisthums Lübeck 1, Oldenburg 1856 (ND 1994), S. 48 Nr. 42. 29 Kuper, Marienkirche, wie Anm. 14, S. 96f. Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 172f. (Kap. III.2.b. Göttingen). 30 Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 174. 31 Ebenda, S. 185 (St. Crucis), S.190 (St. Spiritus), S. 194 (St. Bartholomäus), S. 196 (Göttinger Altstadt »wie eine Insel«) (Kap. IV.3). 32 DO.I.165. 33 Vgl. Reinhard Wenskus, Die frühen Besitz- und Herrschaftsverhältnisse im Göttinger Raum, in: Böhme, Denecke, Kühn, Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1, wie Anm. 15, S. 12–30, hier S. 16–18. Peter Aufgebauer, Von Gutingi zu Göttingen, in: Betty Arndt/Andreas Ströbl, Vom Dorf Gutingi zu Stadt (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen 23), Göttingen 2005, S. 123–128, hier S. 124f. 34 Aloys Schmidt, Urkundenbuch des Eichsfeldes, Teil 1 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, Neue Reihe 13), Magdeburg 1933, S. 111–113 Nr. 189. 35 Gustav Schmidt, Urkundenbuch der Stadt Göttingen, Bd. 1 (Urkundenbuch des historischen Vereins für Niedersachsen 6), Hannover 1861, S. 6f. Nr. 6. Wenskus, Besitz- und Herrschaftsverhältnisse, wie Anm. 33, S. 23. Gaby Kuper, Die Kirche im Dorf – Zur Geschichte der Pfarrkirche St. Albani, in: Arndt/Ströbl, Gutingi, wie Anm. 33, S., 115–122, hier S. 116f. Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 169f. (Kap. III.2.b Göttingen).

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um 1200 von der Gote hin zur »neuen Leine« (»Leinekanal«)36 erstreckende Siedlungskonglomerat mochte damals deshalb noch ohne Unterschied als »Göttingen« bezeichnet werden, weil Göttingens älteste Stadtmauer erst im Verlauf der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtet wurde; diese schloß die Kirche St. Albani und das »Alte Dorf« dann nicht mit ein.37 Erst 1454 wurden beide in die Stadtbefestigung einbezogen.38 Der Patronat über St. Albani war 1254 ein Rechtstitel des Prämonstratenserstifts Pöhlde. Das war vermutlich aber noch nicht lange der Fall;39 jedenfalls hat Herzog Albrecht von Braunschweig den Patronat als ein von seinen Vorfahren stammendes Erbe bezeichnet, als er ihn 1254 gegen sein Patronatsrecht über die Dorfkirche in Roringen eintauschte.40 Pöhlde seinerseits soll sich 1254 sein Patronatsrecht über St. Albani von den Göttinger Bürgern eigens haben bestätigen lassen. Träfe das zu, so würde das zeigen, wie unsicher das Stift sich dieses Besitzes war.41 Wahrscheinlich war St. Albani auch schon im 13. Jahrhundert im Vergleich mit St. Johannis, St. Jacobi und St. Nicolai eine eher bescheidene Pfarrei.42 Wenn dennoch der Herzog sie jetzt (zurück)erwarb, wollte er Patron nicht nur in Göttingen, sondern auch unmittelbar vor der Stadt sein. Virulent wurde das neu 36 Der sogenannte Leinekanal ist ein natürlicher Arm der Leine, dessen Ufer im Mittelalter befestigt wurden, Otto Fahlbusch, Die Topographie der Stadt Göttingen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachen und Bremen. Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 21), Göttingen 1952, S. 11f., und Sven Schütte, Flußfunde, in: ders., 5 Jahre Stadtarchäologie. Das neue Bild des alten Göttingen, Göttingen 1984, S. 53 mit Anm. 3. – Martin Last, Die Frühgeschichte des Göttinger Raumes bis zur Karolingerzeit, in: Böhme, Denecke, Kühn, Göttingen: Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1, wie Anm. 15, S. 5–11, hier S. 8, hält ihn hingegen für eine Anlage des 13. Jh.; auch Dietrich Denecke, Göttingen im Netz der mittelalterlichen Verkehrswege, ebenda, S. 377, spricht von einem »Bau« des Kanals. – Die Gote war ein künstlich vom Reinsgraben nach Südwesten hin zum Alten Dorf abgelenktes Gerinne, Arndt/Ströbl, Gutingi, wie Anm. 33, S. 31f. 37 Fahlbusch, Topographie, wie Anm. 36, S. 34f. Gaby Kuper, Arend Mindermann, Die Frühgeschichte der Stadt Göttingen. Sechs neue Thesen zu einem alten Problem, in: Göttinger Jahrbuch 39 (1991), S. 13–45, hier S. 14. Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 160 (Kap. III.2.b. Göttingen). 38 Fahlbusch, Topographie, wie Anm. 36, S. 61f. Gaby Kuper, St. Albani, in: Arndt/Ströbl, Gutingi, wie Anm. 33, S. 115. 39 Vgl. Wenskus, wie Anm. 33, S. 23. Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 158 Anm. 38 (Kap. III.2.b Göttingen). 40 Schmidt, UB Göttingen 1, wie Anm. 35, S. 6f. Nr. 6: Et ne donatio ecclesie nominate, que ad nos ab antecessoribus nostris ex longa consuetudine fuerit devoluta, a nobis recederet. 41 Ebenda, S. 5f. Nr. 5, mit der Behauptung, die parochia B. Albani sei imperiali devotione fundata. Wahrscheinlich steht dieser zweifelhafte Text im Zusammenhang mit der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Pöhlder Fälschung DO.I. †439, die unter anderem aufführt in Gottingen ecclesiam et thelonium et unum mansum. Vgl. unten bei Anm. 44. 42 Sie galt 1787 als arm und drohte aufgehoben zu werden, Albrecht Saathoff, Aus Göttingens Kirchengeschichte. Festschrift zur 400jährigen Gedächtnisfeier der Reformation am 21. Oktober 1929, Göttingen 1929, S. 206f.

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erworbene Präsentationsrecht in St. Albani zunächst erst einmal nicht. Der schon 1245 bezeugte Pleban Berthold war auch noch 1263 und 1276 im Amt.43 Obwohl 1254 mit Roringen entschädigt, verlor Pöhlde die Kirche St. Albani im 13. Jahrhundert nicht aus den Augen. Im Jahre 1290 ließ es sich von König Rudolf von Habsburg eine Kirche in Göttingen – also doch wohl St. Albani –, sowie den Zoll und eine Hufe Land bestätigen; dafür hatte es eine auf den Namen Ottos des Großen gefälschte Urkunde vorgelegt und vom König konfirmieren lassen.44 Der Patronat über St. Albani blieb aber herzoglich, bis er nach 1346 und vor 1350 wohl von Herzog Ernst von Braunschweig-Göttingen dem Deutschen Orden übertragen wurde.45 Nach vier Jahrzehnten, im Jahre 1395, hatte sich Herzog Otto Cocles aber wieder in den Besitz des Kirchenpatronats gebracht, während 1398, bei der Abpfarrung des Kreuzhospitals, dessenungeachtet noch der Deutsche Orden als Patron genannt wird.46 Aber auch im Jahre 1404 besaß dieser den Patronat nicht;47 er lag wieder in den Händen der Welfen. Vergeblich versuchte dann Herzog Erich I. von Calenberg im Jahre 1522, ihn dem Kloster Steina zu übertragen, um dafür den Patronat der Mündener Pfarrkirche St. Blasius einzutauschen.48 Während die Welfen an den Patronaten von St. Johannis, St. Jacobi und St. Nicolai strikt festhielten – der Plan Ottos des 43 Manfred von Boetticher (Bearb.), Urkundenbuch des Klosters Mariengarten (GöttingenGrubenhagener Urkundenbuch, 2. Abteilung. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 37, 8), Hannover 1987, S. 32f. Nr. 3 (1245). Hildegrad Krösche (Bearb.), Urkundenbuch des Stifts Weende (Göttingen-Grubenhagener Urkundenbuch, 5. Abteilung. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 249), Hannover 2009, S. 51 Nr. 18 (1263). Schmidt, UB Göttingen 1, wie Anm. 35, S. 16 Nr. 20 (1276). Vgl. Kuper, St. Albani, in: Arndt/Ströbl, Gutingi, wie Anm. 33, S. 121. 44 Regesta Imperii VI,1, S. 496 Nr. 2282, 1290 März 3. Vgl. DO.I. †439. 45 Schmidt, UB Göttingen 1, wie Anm. 35, S. 105 Nr. 121 (1330 August 1). Josef Dolle, Urkundenbuch des Klosters Walkenried, Bd. 2 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 241), Hannover 2008, S. 316 Nr. 1107 (1346 August 30). Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 170 Anm. 110, Anm. 111 (Urkunde des Mainzer Erzbischofs, 1350 August 30). 46 Schmidt, UB Göttingen 1, wie Anm. 35, S. 388 Nr. 359. Ebenda, S. 408 Nr. 375. Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 170f. (Kap. III.2.b). 47 Schmidt, UB Göttingen 1, wie Anm. 35, S. 252 Anm. 3. 48 Karl Kayser, Tauschurkunde Herzog Erichs des Älteren von Braunschweig und Lüneburg, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 18 (1913), S. 241–244, S. 243: jus patronatus siue praesentandi parochialis ecclesiae sancti Albani in suburbio dicti oppidi Gottingen, cuius fructus, redditus et prouentus quatuor marcarum argenti puri secundum communem aestimationem valorem annuum non excedunt, quod ad nos Ericum ducem Brunsvicensem et Luneburgensem nostrosque progenitores dudum pleno iure spectauit et pertinuit … Vogelsang, Stadt und Kirche, wie Anm. 19, S. 89. Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 171 mit Anm. 117 (Kap. III.2.b. Göttingen). Die genannten Einkünfte von vier Mark besagen nicht viel über die tatsächlichen Intraden: Da im päpstlichen Provisionswesen Benefizien bis zu diesem Jahresertrag von der Zahlung der Annaten befreit waren, wurde die Angabe eines höheren Betrags nach Möglichkeit vermieden.

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Quaden vom Jahre 1369, an St. Jacobi ein Residenzstift zu errichten und diesem St. Johannis und St. Nicolai zu inkorporieren, scheiterte am Widerstand der Erzbischöfe von Mainz49 – , sahen sie sich an St. Albani sichtlich nicht so stark gebunden. Dieser Rechtstitel war offenbar eine Art Verfügungsmasse, stellte aber doch auch – wie St. Johannis, St. Jacobi und St. Nicolai – eine Brücke zu den führenden Kreisen der Stadt dar. Denn wie die Pfarrer von St. Johannis, St. Jacobi und St. Nicolai waren auch die Plebane von St. Albani immer wieder einmal Kapellane der Herzöge.50 Sie lebten damit nicht zwingend ständig am Hof, zumal der Titel capellanus im 14./ 15. Jahrhundert auch den Familiarenstatus eines Klerikers beziehungsweise ganzer Klerikergemeinschaften bezeichnen konnte.51 Mit häufigerer Präsenz am Hof ist aber bei den herzoglichen Kanzleikräften zu rechnen, die mit St. Albani belehnt waren.52 Mit der Vergabe der Pfarrbenefizien konnten die Fürsten »Anhänger (…) gewinnen, treue Dienste (…) belohnen, was nicht individuell auf den einzelnen Menschen, sondern in der mittelalterlichen Gesellschaft auf den Familienverband gerichtet war«.53 Wie Ernst Schubert aber meinen konnte, »Die Einsetzung des Pfarrers brachte einem Fürsten keinen politischen Vorteil«, und 49 Arend Mindermann, Von der Burgkiche zur Bürgerkirche. Die Pfarrkirche St. Jacobi im spätmittelalterlichen Göttingen, in: Bernd Carqué, Hedwig Röckelein (Hrsg.), Das Hochaltarretabel der St. Jacobi-Kirche in Göttingen (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 213. Studien zur Germania Sacra 27), Göttingen 2005, S. 131–150, hier S. 142f. Gaby Kuper, Göttingen – Kollegiatstift (geplant), in: Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, hrsg. von Josef Dolle unter Mitarbeit von Dennis Knochenhauser, Bd. 2, (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 56, 2), Bielefeld 2012, S. 475f. 50 St. Johannis: Berthold, 1306–1329, Kuper, Pfarrorganisation, wie Anm. 15, S. 167 Anm. 90. – St. Nicolai: Heinrich von Alfeld, 1268–1280. Johannes, 1312–1319, Kuper, S. 168f. – St. Albani: Dietrich 1346, Kuper, S. 170 Anm. 110. 51 Vgl. Wolfgang Petke, Von der ecclesia Embicensis zum evangelischen Mannsstift. Das Stift St. Alexandri in Einbeck, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 98 (2000), S. 55–88, hier S. 72f. 52 Johann Schneemann 1354, Tilmann Conradi 1500, [Heinrich Philipp Guden], Zeit- und Geschicht-Beschreibung der Stadt Göttingen, Bd. 2. In welchem die Religions- und Kirchengeschichte abgehandelt werden, Hannover, Göttingen 1736, S. 38–40 Nr. 8, 11, 15, 17, vgl. Rosemarie Scharrenberg, Die Ordnung der Kirchengemeinde in der Stadt Göttingen und im Herzogtum Calenberg-Göttingen vor und in der Reformation, Diss. phil. Göttingen (Masch.) 1948, S. 82. Daß der 1480 und 1486 als Kanzler Herzog Wilhelms bezeugte und 1499 auf dem Albani-Altar des Hans von Geismar inschriftlich erwähnte Pfarrer Johannes Czipollen mit Albani belehnt war, wird als wahrscheinlich angenommen, Gustav Schmidt, Urkundenbuch der Stadt Göttingen, Bd. 2 (Urkundenbuch des historischen Vereins für Niedersachsen 7), Hannover 1867, S. 317 Nr. 338, S. 334 Nr. 355. Werner Arnold, Die Inschriften der Stadt Göttingen (Die Deutschen Inschriften 19), München 1980, S. 90f. Nr. 59. Thomas Noll, Das Hochaltarretabel von St. Albani in Göttingen, in: ders., Warncke, Kunst und Frömmigkeit, wie Anm. 17, S. 162. Christine Wulf, Die Inschriften der Göttinger Altarretabel, ebenda, S. 284. 53 Schubert, Stadt und Kirche, wie Anm. 19, S. 18.

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»das stadtfremde Patronat (war) sozial isoliert«54, ist schwer zu verstehen.55 Zum einen wurden zum Unterhalt der im Hofdienst stehenden Kleriker neben den Stiftspräbenden auch Pfarrbenefizien herangezogen. Zum anderen mußte der vom Fürsten auf eine städtische Pfarrpfründe präsentierte Kleriker keineswegs ein Außenseiter in der städtischen Gesellschaft sein oder bleiben. Verschiedene Göttinger Pfarrer entstammten ratsfähigen Familien der Stadt.56 Der Stadtschreiber Dietrich Winkel war 1440–1456 Pfarrer von St. Albani, der Stadtschreiber Heinrich Balistarius 1450–1474 Pfarrer von St. Nicolai.57 Der ortsfemde, aus Einbeck stammende Johannes Hovet (†1514), der seit 1487 als Pfarrherr von St. Johannis bezeugt ist und als zeitweiliger Kanzler Herzog Erichs I. tatsächlich vielfach nicht in Göttingen anwesend war, zog nicht nur die Mutter und die Schwester, sondern auch seinen Bruder Heinrich nach, der in der Stadt Fuß faßte und 1516/17 zum Meister der hoch angesehenen Knochenhauergilde gewählt wurde.58 Als Pfarrherr stand Hovet auch den von ihm angestellten beiden Kaplänen, seinen Kooperatoren, vor.59 Johannes Eck in Ingolstadt hatte deren drei. Anders als in Göttingen wohnten sie zwar nicht im Pfarrhaus, hatten aber hier wie dort Tischgemeinschaft mit dem Pfarrer, der somit einen größeren Haushalt führte.60 Wie in Ingolstadt oder auch in Bacharach dürften auch die Göttinger Stadtpfarrer zudem die Oberaufsicht über die zahlreichen Altaristen (Vikare) in

54 Ebenda, S. 18f. 55 Vgl. auch Bernd Moeller, Die Reformation, in: Böhme, Denecke, Kühn, Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1, wie Anm. 15, S. 492–514, hier S. 504: »Dieser (= der Patron) hatte seit jeher an keiner Stelle soviel rechtlich-politischen Einfluß in der Stadt wie im Kirchenwesen.« – Im Zusammenhang des Stiftsgründungsversuchs an St. Jacobi, s. oben bei Anm. 49, wurde die Bedeutung der Kirchenherrschaft der Stadtherren von Ernst Schubert, Stadtgemeinde, Rat und Herrschaft in Göttingen im ausgehenden 14. Jahrhundert, in: Carqué, Röckelein, Hochaltarretabel, wie Anm. 49, S. 103–129, hier S. 128, dann stärker gewichtet als im Jahre 1988. 56 Vogelsang, Kirche vor der Reformation, wie Anm. 15, S. 490. 57 Peter Hoheisel, Die Göttinger Stadtschreiber bis zur Reformation. Einfluß, Sozialprofil, Amtsaufgaben (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen 21), Göttingen 1998, S. 125, 203f. 58 Vgl. Malte Prietzel, Die Finanzen eines spätmittelalterlichen Stadtpfarrers. Das Rechnungsbuch des Johann Hovet, Pfarrer von St. Johannis in Göttingen für das Jahr 1510/11 (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes Südniedersachsen 4), Hannover 1994, S. 13–16. Die Meister der Knochenhauer wurden bei der Ratsumsetzung nach den Ratsherren, den Vormündern der Hospitäler und den Gildemeistern noch vor den Feldgeschworenen und Garbratern vereidigt, Goswin Frhr. von der Ropp, Göttinger Statuten. Akten zur Geschichte der Verwaltung und des Gildewesesens der Stadt Göttingen bis zum Ausgang des Mittelalters (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 25), Hannover, Leipzig 1907, S. 307f. Nr. 5 (»Radkesen«). 59 Prietzel, wie Anm. 58, S. 18f. 60 Joseph Greving (Hrsg.), Johann Ecks Pfarrbuch für U.L. Frau in Ingolstadt (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 4/5), Münster 1908, S. 46–52, 65, 204 Nr. 9.

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ihren jeweiligen Kirchen geführt haben.61 Vor 1545/46 gab es in St. Johannis 13 Vikarien (Lehen) und 16 Kommenden (Befehlungen, Meßstiftungen), in St. Jacobi fünf Vikarien und 13 Kommenden, in St. Nicolai sieben Vikarien und sechs Kommenden, in St. Albani vier Vikarien und zwei Kommenden sowie in St. Marien wohl eine Kommende.62 Das Kollaturrecht über diese Benefizien gelangte bei Absterben der Stifterfamilien vielfach an den Rat oder an die von diesem ernannten Älterleute der jeweiligen Kirche.63 Vikare und Meßpfründner waren in der Regel Angehörige reicherer städtischer Familien. Als zentrale Figur des Klerus war der Pfarrer automatisch mit ihnen verbunden und keineswegs ein Fremder in der Stadt.

3.

Städtischer Hospitalpatronat im Mittelalter und der seit 1773 alternierende Patronat über St. Albani

An den aus dem Mittelalter überkommenen Patronatsverhältnissen an den fünf Pfarrkirchen und der Spitalkapelle St. Crucis änderte sich mit der Reformation, die im Jahre 1529 ihren Einzug in die Stadt gehalten hatte, zunächst nichts. Allerdings wurde die Kirche von St. Bartholomäus im Jahre 1545 von der Bürgerschaft abgerissen und ihr in der Stadt gelegenes Pfarrhaus verkauft.64 Am 17. Januar 1592 ist mit dem Magister Johannes Wucherpfennig noch einmal ein 61 Vgl. ebenda, S. 36f. Aloys Schmidt, Hermann Heimpel, Winand von Steeg (1371–1453). Ein mittelrheinischer Gelehrter und Künstler und die Bilderhandschrift über Zollfreiheit des Bacharacher Pfarrweins auf dem Rhein aus dem Jahr 1426 (Handschrift 12 des Bayerischen Geheimen Hausarchivs zu München (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Phil.Hist. Klasse, Abhandlungen NF 81). München 1977, S. 22f. 62 Vgl. Peter Wisotzki, Studien zum vorreformatorischen Klerus in den Mainzer Archidiakonaten Nörten und Einbeck. Magisterarbeit Göttingen 1991 (ein Exemplar im Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Göttingen), S. 33–44, unter Zugrundelegung vor allem des Subsidienregisters von 1519, Bruno Krusch, Studie zur Geschichte der geistlichen Jurisdiktion und Verwaltung des Erzstifts Mainz. Commissar Johann Bruns und die kirchliche Eintheilung der Archidiaconate Nörten, Einbeck und Heiligenstadt, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen 1897, S. 267–270, und dreier Benefizienverzeichnisse aus St. Johannis (1546), St. Jacobi und St. Nicolai, StA GÖ, AA Nr. 4983, Verzeichnisse der Vikarien und Lehen in den vier Pfarrkirchen, 16. Jh., fol. 3r–4v (St. Johannis, 1546), fol. 7r–v, 9r–v (St. Nicolai), fol. 11r (Jacobi), soweit mitgeteilt von [Heinrich Philipp Guden], Zeit- und Geschicht-Beschreibung Bd. 2, wie Anm. 52, S. 61, 63, 118f., 120f., 134. – Vogelsang, Stadt und Kirche, wie Anm. 19, S. 96. Ders., Kirche vor der Reformation, wie Anm. 15, S. 484, nennt geringere Zahlen. 63 Vgl. zu den Rechtsformen von Vikarie und Kommende in Goslar und zu deren Kollatoren Sabine Graf, Das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar im Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Bistums Hildesheim 5), Hannover 1998, S. 190, 197. 64 Franciscus Lubecus, Göttinger Annalen. Von den Anfängen bis zum Jahre 1588. Bearb. von Reinhard Vogelsang (Quellen zur Geschichte der Stadt Göttingen 1), Göttingen 1994, S. 371. Wellschmied, Hospitäler, wie Anm. 15, S. 26.

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Pastor der Hospitäler St. Bartholomäi und St. Crucis und der St. Jürgenkapelle bestellt worden; er hatte sich zur Probepredigt vor dem Konsistorium in Wolfenbüttel einzufinden.65 Die Spitalvermögen von St. Bartholomäus und St. Crucis wurden seit 1642 gemeinsam verwaltet.66 Unter dem Chor der Kapelle von St. Spiritus baute der Rat 1544 einen Keller zum Bierbrauen ein.67 Am 22. April 1530 verbot der katholische Herzog Erich I. seinen vier Patronatspfarrern, die Göttinger Kirchenordnung vom 10. April dieses Jahres zu befolgen.68 Diese altgläubigen Pastoren zu vertreiben, war unmöglich. Sie blieben in den Pfarrhäusern wohnen und genossen noch im Jahre 1540/42 ihre Pfarrpfründen.69 An die Pfarrkirchen, die 1529/30 vorübergehend geschlossen waren, beriefen der Rat und die Gemeinden evangelische Prediger, die seit 1530/32 aus den Gemeinen Kästen der Pfarreien und aus der Kämmerei besoldet werden mußten.70 Dem von Luther empfohlenen und vom Rat 1531 an die Marienkirche berufenen Magister Johannes Birnstiel versagte der Deutsche Orden ebenfalls jeden Unterhalt; der dann auch nur für sechs Monate bleibende Prediger wonete in einem kleinem [!] heuslein auf dem kirchhofe.71 Der Versuch, auch in den Stadtdörfern die evangelische Lehre durchzusetzen, ist zunächst gescheitert. Die Aufforderung von Bürgermeister und Rat der Stadt Göttingen an Johannes Artmans, den Pfarrer im Göttinger Stadtdorf Herberhausen, am 28. Juli 1534 auf dem Rathaus myt eynem, dey seck nommt eyne Prediger, zu disputieren, lehnte dessen Patron Hermann von Gladebeck ebenso ab wie das Ansinnen der Stadt,

65 StA GÖ, AA Nr. 5153, fol. 148–149. 66 Wellschmied, Hospitäler, wie Anm. 15, S. 105. 67 Anneliese Ritter, Über die Gotteshäuser der Stadt Göttingen in der Reformationszeit, in: Göttinger Jahrbuch 3 (1954), S. 18–24, hier S. 20. Wellschmied, Hospitäler, wie Anm. 15, S. 116 Anm. 35. 68 A. Hasselblatt, G. Kaestner, Urkunden der Stadt Göttingen aus dem XVI. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte von Braunschweig-Lüneburg 1500–1533, Göttingen 1881, S. 220 Nr. 471. 69 Anton Corvinus an den Rat zu Göttingen, Witzenhausen, den 24. Dezember 1540, mitgeteilt von [Karl] Kayser, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 2 (1897) S. 296f. Rosemarie Scharrenberg, Die Ordnung der Kirchgemeinde in der Stadt Göttingen und im Fürstentum Calenberg-Göttingen vor und in der Reformation, in: Jahrbuch des Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 52 (1954), S. 34–97, hier S. 71. Moeller, Die Reformation, in: Böhme, Denecke, Kühn, Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1, wie Anm. 15, S. 507. Karl-Heinz Bielefeld, Die Kirche nach der Reformation, in: ebenda, S. 515–529, hier S. 516. 70 Paul Tschackert, Magister Johann Sutel (1504–1575), in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 2 (1897), S. 1–140, hier S. 80–85 (Bericht von Sutel). Scharrenberg, wie Anm. 69, S. 71. Bielefeld, Die Kirche nach der Reformation, in: Böhme, Denecke, Kühn, Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1, wie Anm. 15, S. 516. 71 Tschackert, Sutel, wie Anm. 70, S. 83 (Sutels Bericht). Hasselblatt, Kaestner, Urkunden Göttingen, wie Anm. 68, S. 235 Nr. 503.

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den verdienten alten Priester der Pfarre zu entsetzen.72 In Stadt und Land konnte es reformatorische Pfarrer nur mit Zustimmung der Patrone geben.73 Unter Herzogin Elisabeth von Calenberg mußten die altgläubigen Göttinger Pfarrer im Jahre 1542 ihre Stellen dann doch räumen. Allerdings erhielten die Pfarrherren Ernst Herzog von St. Jacobi und Hildebrand Issengart von St. Albani eine lebenslange Pension von 20 Gulden. Auf die freigewordenen Stellen berief die Herzogin neue Pastoren.74 Der Rat hatte das auf dem Patronat fußende Ernennungsrecht der Fürstin ausdrücklich anzuerkennen, widersetzte sich aber erfolgreich der im selben Jahr angesetzten Visitation des Göttinger Kirchenwesens.75 Als Johannes Sutel 1548 zum zweiten Mal nach Göttingen kam, und zwar als Pfarrer an St. Albani, wurden die herzoglichen Patronatsrechte erneut respektiert. Es war die Herzogin, die als Vertreterin ihres Sohnes am 1. November 1548 Johannes Sutel mit der Albanipfarre belehnte.76 Die von Herzog Erich II. im Jahre 1550 dem Rat auferlegte Entlassung des Joachim Mörlin, seit 1544 Inhaber der ersten Pfarrstelle an St. Johannis, Superintendent und prononcierter Gegner des Augsburger Interim von 1548, unterstrich dann noch einmal, wie sehr der Landesherr das Göttinger Kirchenwesen damals überherrschte.77 Der Rat verlor durch Mörlins Entlassung und durch die Bestellung des Göttinger Bürgersohns Simon Göbel zu dessen Nachfolger 1550 an Ansehen in Teilen der Göttinger Pfarrer- und Bürgerschaft. Im damit ausgebrochenen Göttinger Vokationsstreit behielt er dank zweier Gutachten der theologischen Fakultäten von Wittenberg und Leipzig und der Bemühungen des damals in Göttingen die geistliche Auf72 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, fol. 16r–v, fol. 18r–v (Originalbriefe vom 28. Juli und 22. September 1534). 73 Vgl. Otte, Patronat, wie Anm. 11, S. 408: »Schließlich verdankt sich die Einführung der Reformation in weiten Teilen Niedersachsens nicht den Fürsten, sondern den Patronen.« 74 Albrecht Saathoff, Die evangelischen Pfarrer Göttingens im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 34 (1929), S. 122–152, hier S. 137. Ders., Aus Göttingens Kirchengeschichte, wie Anm. 42, S. 140. 75 Bielefeld, Die Kirche nach der Reformation, in: Böhme, Denecke, Kühn, Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1, wie Anm. 14, S. 516f. 76 Tschackert, Sutel, wie Anm. 70, S. 110 Nr. 60 (1. November 1548). Saathoff, Pfarrer, wie Anm. 74, S. 141. 77 Olaf Mörke, Landständische Autonomie zwischen den Fronten. Göttinger Ratspolitik zwischen Bürgerbewegung, Landesherrschaft und Reichspolitik im Umfeld des Augsburger Interims, in: Niederlande und Nordwestdeutschland. Studien zur Regional und Stadtgeschichte Nordwestkontinentaleuropas im Mittelalter und in der Neuzeit. Franz Petri zum 80. Geburtstag (Städteforschung Reihe A, Darstellungen 15), Köln, Wien 1983, S. 219–244, hier S. 242, erblickte in der Erzwingung von Mörlins Entlassung »ein ausgesprochenes Novum im Verhältnis Göttingens zu seinem Landesherrn (…). Herzog Erich gelingt der Vorstoß in ein sorgsam gehütetes Kernstück urbaner Eigenständigkeit«. Bereits Moeller, Reformation, in: Böhme, Denecke, Kühn, Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1, wie Anm. 15, S. 504 Anm. 75, hat bemängelt, daß dieses Urteil die herzoglichen Patronatsrechte in der Stadt vernachlässigt.

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sicht führenden Johann Sutel an St. Albani dann aber doch die Oberhand. Er reservierte sich 1551 die Befugnis, im Einvernehmen mit Superintendent und Pfarrern widerspenstige Pastoren zu entlassen.78 Die patronatsherrlichen Präsentationsrechte konnte der Rat bei der Berufung Göbels an die St. Johanniskirche wahrscheinlich wegen des Wirbels um Mörlins Entlassung umschiffen. An St. Albani brachte dagegen Herzog Erich II. 1554 seinen Patronat in aus dem Spätmittelalter bestens bekannter Manier zur Geltung. Nachdem der 1542 abgesetzte altgläubige Hildebrand Issengart offenbar gestorben war, verlieh Erich die Pfarre einem seiner Räte, und zwar an Urbanus Regius, den Sohn des Lüneburger Reformators.79 Der seit dem Jahr 1548 mit St. Albani belehnte Sutel hatte diesem Regius ein jährliches Reservat von 20 Gulden zu zahlen und hat das 1554 auch getan.80 Wegen dieser und anderer unerfreulicher Verhältnisse verließ Sutel 1555 die Stadt und ging nach Northeim. Die städtischen Patronate über die Hospitalpfarreien nutzte der Rat wiederholt zu deren Verleihung an die Stadtschreiber. Ihr Auskommen auch dank dieser Pfründen fanden an St. Crucis die Schreiber Gottfried Gokelen (1415– 1454), Heinrich Lappe (1454- vor 1469) und Johannes Stein (1542–1549).81 Mit der Hospitalpfarre St. Bartholomaei wurden die Schreiber Heinrich Lappe (1453), Heinrich Meier (1482, 1483) und Johannes Bruns (1512) belehnt.82 Unter den Göttinger Predigern, die im Januar 1550 vor den Rat geladen wurden, um nach dem Streit um Mörlin untereinander Frieden zu halten, wird ein Pfarrer von St. Crucis nicht genannt.83 Einhundert Jahre später, nachdem wegen längerer Vakanz der Kreuzpfarre diese von dem Nicolai-Pfarrer Heinrich Henckel mit versehen worden war, hatte die Stadt 1646/47 den Schulkollaborator Heinrich Köhler (Colerus) auf die Hospitalpfarre präsentiert und die Vokation erteilen 78 Tschackert, Sutel, wie Anm. 70, S. 56f. Saathoff, Aus Göttingens Kirchengeschichte, wie Anm. 42, S. 153–158. 79 So Saathoff, Pfarrer, wie Anm. 74, S. 144. Saathoff, Aus Göttingens Kirchengeschichte, wie Anm. 42, S. 158. Urbanus Regius ist unter den Pfarrern von St. Albani nicht aufgeführt bei Philipp Meyer, Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation, Bd. 1, Göttingen 1941, S. 323f. Ob identisch mit dem 1561 als Amtsverweser zu Münden bezeugten Urbanus Regius? Vgl. Helmut Samse, Die Zentralverwaltung in den südwelfischen Landen vom 15 bis zum 17. Jahrhundert (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 49), Hildesheim, Leipzig 1940, S. 289. 80 Tschackert, Sutel, wie Anm. 70, S. 121 Nr. 74 (Empfangsquittung des Regius vom 27. November 1554). Nach Lubecus, Göttinger Annalen, wie Anm. 64, S. 377, hatte bei Sutels erster Berufung 1548 der Rat die Zahlung des wohl an Issengart fälligen Reservats übernommen. 81 Hoheisel, Stadtschreiber, wie Anm. 57, S. 122, 201, 208, 216. Zu Stein ergänzend Maik Lehmberg, Der Amtssprachenwechsel im 16. Jahrhundert. Zur Sprachgeschichte der Stadt Göttingen (Name und Wort. Göttinger Arbeiten zur niederdeutschen Philologie 15), Neumünster 1999, S. 147–149. 82 Hoheisel, Stadtschreiber, wie Anm. 57, S. 125, 208, 210, 212. 83 Vgl. Tschackert, Sutel, wie Anm. 70, S. 113 Nr. 63 (Ratsprotokoll 25. Januar 1550). Vgl. Wellschmied, Hospitäler, wie Anm. 15, S. 69.

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lassen.84 Im Jahre 1681 wurde dessen Sohn Magister Otto Christoph Köhler, bereits seit 1679 Pastor an St. Marien, vom Rat auf die Stelle präsentiert85, nach dessen Tod 1685 Heinrich Hehren und 1695 Johann Wilhelm Bühren.86 Auch im 18. Jahrhundert war der städtische Patronat über St. Crucis unstreitig. Nach dem Tod von Heinrich Domeier, seit 1685 Pastor sowohl an St. Marien als auch an St. Crucis87, präsentierte die Stadt dem Konsistorium 1724 Justus Fahlbusch und 1732 Justus Heinrich Sothen.88 Als dieser 1734 an St. Marien gewechselt war und St. Crucis aufgelassen hatte89, bewarben sich um letztere Stelle der Göttinger Johannes Justus Borheck sowie Johann Georg Winter, der dem Pastor Fahlbusch ohne Entgelt als Hilfsgeistlicher gedient haben will.90 Dem Verlangen des Superintendenten Professor Georg Heinrich Riebow, Pfarrer an St. Johannis, ihm auch noch die Kreuzpfarre zuzulegen – diese wünschte er durch einen Adjunkten zu versehen –, gab der Rat 1737 nur zögernd statt. Er hatte wegen seines Patronatsrechts Bedenken.91 Aber die Regierung in Hannover erklärte, diese Regelung sei ein zeitlicher Spezialfall, der auch eurem bey dieser Pfarre hergebrachten iuri patronatus auff keine Weise präjudiziren solle.92 Erst nachdem Riebow am 19. März 1738 angekündigt hatte, mit Magister Stromeyer werde ein hiesiges Stadtkind als Adjunkt ordiniert, wurde er selber endlich vom Rat auf die vakante Kreuzpfarre präsentiert.93 Stromeyer ging 1742 84 StA GÖ, AA Nr. 5446, Varia, die St. Crucis-Pfarre betr. 1646–1695, fol. 4r–v, Göttinger Rat an die Konsistorial- und Kirchenräte in Hannover (21. November 1646, Konzept); fol. 6r–v, Vokationsschein der Vorsteher von St. Crucis und St. Bartholomäus für Köhler (27. März 1647, Kopie). 85 StA GÖ, AA Nr. 5446, fol. 10r–11v, Göttinger Rat an Konsistorial- und Kirchenräte (30. Oktober 1681, Konzept). An St. Marien: StA GÖ, AA Nr. 5434, Varia, das Crucis-Kloster betreffend (1500–1734), fol. 39r–40r, Göttinger Rat an die Konsistorial- und Kirchenräte in Hannover (28. November 1681, Konzept). Vgl. Meyer, Pastoren, Bd. 1, wie Anm. 79, S. 330. 86 StA GÖ, AA Nr. 5473, Besoldung der Prediger bei der Crucis-Kirche 1732 [1685]-1862, fol. 35r–36v, Göttinger Rat an Konsistorial- und Kirchenräte (18. Mai 1685, Konzept). – StA GÖ, AA Nr. 5446, fol. 15r–16v, Konsistorium an Generalsuperintendent Christoph Fischer (9. Sept. 1695, Kopie). 87 StA GÖ, AA Nr. 5434, fol. 41r–42v, Bittschrift Domeiers, Predigers an St. Marien, an den Rat um Präsentation auf St. Crucis (21. Oktober 1685, Orig.). 88 StA GÖ, AA Nr. 5474, fol. 120r–121v, 118r–119v (die Foliierung der Akte folgt wiederholt nicht der Chronologie). Beide sind keineswegs auch Inhaber der zweiten Pfarrstelle an St. Johannis gewesen. Die Bemerkung bei Meyer, Pastoren, Bd. 1, wie Anm. 79, S. 329, zu St. Johannis in Göttingen »2. Pfarrstelle (verbunden mit St. Crucis)« ist irreführend; erst 1773 wurden die Pfarreinkünfte von St. Crucis der zweiten Pfarrstelle an St. Johannis zugewiesen, s. unten bei Anm. 103. Eine Liste der Pfarrer der Kreuzkirche findet sich nicht bei Meyer und nur sehr lückenhaft bei Saathoff, Pfarrer, wie Anm. 74, S. 149f. 89 StA GÖ, AA Nr. 5434, fol. 45r. 90 Ebenda, fol. 46r–49v, Bewerbungsschreiben vom 30. August und 7. September 1734. 91 StA GÖ, AA Nr. 5474, fol. 3r–4v (11. Mai 1737), fol. 13r–14r (20. Juni 1737). 92 Ebenda, fol. 15r–v (14. November 1737, Originalreskript). 93 Ebenda, fol. 30r–33v (19. März 1738), fol. 32r–33v (30. Juni 1738).

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an die Nicolaikirche. Die ihm nachfolgenden Adjunkten Johann Wilhelm Ludwig Schmidt (1746), Eichhorn (1748) und Heinrich Jakob Breden (1750) wurden alle mit Einwilligung der Stadt präsentiert.94 Mit der Wegberufung des Professors Riebow nach Hannover im Jahre 1759 war nicht mehr nur die Adjunktur, sondern auch die Kreuzpfarre selber vakant. Von den sechs Bewerbern machte der Nicolaipfarrer Friedrich Wilhelm Stromeyer, der von 1738 bis 1742 Riebows Adjunkt in St. Crucis gewesen war, das Rennen. Der Rat stimmte für ihn und damit für die zeitliche Verbindung von St. Nicolai und St. Crucis.95 Der Hospitalpfarre St. Crucis schlug die Stunde, als Stromeyer im Jahre 1772 gestorben war. Mit Rezeß vom 15. März 1773 wurde sie von König Georg III. aufgehoben.96 Ihre Einkünfte sollten zur Verbesserung anderer mehrentheils schlecht dotirten Pfarren in Göttingen verwendet werden. Tatsächlich hatte das Konsistorium seit 1769 erwogen, eine der Göttinger Pfarrkirchen einzuziehen und deshalb straßenweise ermitteln lassen, wie sich die Häuser der Stadt auf die Göttinger Pfarreien verteilten.97 Für den Patronat über St. Crucis gedachte das Konsistorium zunächst, die Stadt mit einer bei Göttingen gelegenen, nicht näher bezeichneten Landpfarre zu entschädigen. Jedoch wünschte der Magistrat eine städtische Pfarrei, weil er dadurch die Gelegenheit bekäme, an dem Orte wo er seine obrigkeitlichen (!) Amt verwaltet, einen nach seiner Überzeugung für den dasigen Ort schicklichen Prediger zu wählen.98 Genau dagegen hatte das Konsistorium, besorgt um die an die Prediger in einer Universitätsstadt zu stellenden Anforderungen, anfänglich Bedenken.99 Statt des von der Stadt gewünschten Patronats über St. Nicolai räumte ihr das Konsistorium einen alternierenden Patronat über die seit 1254 landesherrlicher Verleihung unterstehende St. Albanipfarre ein. Die erstmalige Präsentation fiel an den Rat, der, wie vom Konsistorium schon 1771 erwartet100, den bisherigen Pfarrer an St. Marien, den Schulrektor Rudolf Wedekind, auf die vakante Albanipfarre präsentierte. Dieser war im Jahre 1759 bei der Bewerbung um St. Crucis dem Pastor Stromeyer mit drei zu fünf Stimmen unterlegen. 94 Ebenda, fol. 62r–63r, 102r–103r, 107r–109v. 95 Ebenda, fol. 146r–147r (20. November 1759). 96 StA GÖ, AA Nr. 5484, Aufhebung der Hospital-St. Crucis Pfarre 1758–1773, fol. 127r–131v (Originalrezeß). 97 StA GÖ, AA Nr. 5484, fol. 46r, Ratsprotokollauszug vom 29. Mai 1769, fol. 13r–45v, Verzeichnis der Häuser nach den Pfarren und Straßen in der Stadt Göttingen, 6. Juli 1769. Nach fol. 45v zählte die Stadt 424 Brauhäuser, 505 Kothäuser und 106 Buden und Gartenhäuser. Davon hatte Johannis: 200, 92, keine Buden; Jacobi: 119 Brauhäuser, 77 Kothäuser, 57 Buden und Gartenhäuser; Albani: 2, 166, 57; Nicolai: 73, 50, 25; Marien: 30, 120, 18. 98 Ebenda, fol. 65r, Gutachten des Konsistoriums für die hannoversche Regierung, 28. September 1770. 99 Ebenda, fol. 66r. 100 Ebenda, fol. 82–84r, Pro Memoria des Konsistoriums (vor dem 17. 11. 1771).

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Die Kirche, der Kirchhof und der Pfarrhof von St. Crucis verblieben beim Hospital, dem aber keinerlei Baulast auferlegt wurde. Das Inventar sollte bey bequemer Gelegenheit zum besten des Hospitals versilbert oder sonsten genutzet werden können. Das Altarbild, ein Werk des Hans Raphon von 1506, wurde 1774 folgendermaßen bewertet: Das Gemälde des Altars ist ein schones Stück. Heutiges Tages aber sind die Altaeren auff diese Arth nicht mehr gebreuchlich, es kann also nicht als ein Modernes und brauchbares Stück taxiret werden. Als ein Gemehlde aus dem Alterthum ist es in Cabinettern oder bildersaalen auch nicht brauchbar, weil es auf einer großen und dicken Holltz Taffell von 7 Fuß ins gevierte gemahlt ist welche Taffel überdeme noch Clappen hat, so ebenfalls auff solchen Holtzern Taffeln gemahlt sind. Bleibt es lange in feuchter Lufft und an der Erde stehen, dürftte es am Gemahlde gar verderben, und dann würde das Holtz kaum 2/3 biß 1 Th. werth sein. Ietzo kann es vor einen Liebhaber noch wohl 20 bis 30 Th. werth sein.101 Die verfallende Kirche wurde 1783 bis 1785 abgerissen und schuf so Platz für den Neubau des noch heute am südlichen Eingang der Kurzen Geismarstraße stehenden Accouchierhauses.102 Entgegen der im Rezeß von 1773 bekundeten Absicht hat das Konsistorium die Pfarreinkünfte von St. Crucis mit Zustimmung des Rates noch im Jahre 1773 der zweiten Predigerstelle von St. Johannis zugelegt.103 Pastor Stromeyer hatte sie zu Lebzeiten, im Jahre 1770, auf 234 Taler und 20 Groschen jährlich nebst zwölf bis 15 Talern aus Kasualien taxiert.104 Die Pfarre von St. Albani hatte 1772 Einkünfte in Höhe von 507 Talern und 18 Groschen.105

101 StA GÖ, AA Nr. 5484, fol. 153r–v. Dieser Kreuzigungsaltar, damals einziger Altar der Kirche, stammt ursprünglich aus der Göttinger Georgskapelle und gelangte aus St. Crucis über die Akademische Gemäldesammlung in die Landesgalerie Hannover, Arnold, Inschriften, wie Anm. 52, S. 104, S. 106 Anm. 2–4. Michael Wolfson, Die deutschen und niederländischen Gemälde bis 1550. Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Landesgalerie, Hannover 1992, S. 194–198 Nr. 76. Thorsten Henke, Das Göttinger Passionsretabel und die Hospitalkirche St. Crucis, in: Noll, Warncke, Kunst und Frömmigkeit, wie Anm. 17, S. 120; ebenda, S. 132 Anm. 12 die Beschreibung des Altars durch den Küster Kleinhans vom 19. Juni 1773. Götz J. Pfeiffer, Das Kreuzigungsretabel von 1506 aus der St. Jürgenskapelle samt einem Anhang der Werke Hans Raphons und seiner Werkstatt, in: ebenda, S. 220–240. 102 Günther Beer, Paulinerkloster mit altem Gymnasium, Barfüßerkloster, Hospital St. Crucis in Göttingen und deren Umgebungen. Erläuterungen zu Plänen und einer Ansicht aus dem 18. Jahrhundert, in: Göttinger Jahrbuch 32 (1984), S. 71–98, hier S. 94–96 mit Abb. 8 (Situationsriß des Hospitalgeländes von [1782]) und Abb. 9 (Kirche und Kirchhof von Süden, Stammbuchblatt von 1753), letztere Ansicht auch bei Jürgen Schlumbohm, Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830, Göttingen 2012, S. 9 Abb. 1.1 (diese nach SUB Göttingen MS 1994.31, fol. 1), vgl. ebenda, S. 563. 103 StA GÖ, AA Nr. 5484, fol. 160r. Der Pastor Konrad Walter Kahle, zweiter Prediger an St. Johannis ab 1773, Meyer, Pastoren, Bd. 1, wie Anm. 79, S. 329, war bereits am 7. März 1782 als Seelsorger für die Hospitalinsassen tätig, vgl. Beer, wie Anm. 102, S. 95. 104 StA GÖ, AA Nr. 5484, fol. 138r–v. 105 Ebenda, fol. 135r–v.

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4.

Frühe Neuzeit

Tausch des alternierenden Patronats über St. Albani gegen den alternierenden Patronat über Roringen und Herberhausen (1803)

Das 1773 angesteuerte Ziel, durch die Aufhebung von St. Crucis die Einkünfte der Göttinger Pfarrpfründen zu erhöhen, wurde also verfehlt. Zur Verbesserung der kirchlichen Einnahmen hat sich die Stadt dann seit 1779 zur Erhebung eines Kirchgeldes bereitgefunden106, welches beim Häusererwerb als Procentgeld zu entrichten war.107 Drei der fünf Göttinger Kirchen-Fonds blieben dennoch defizitär, was die Regierung nicht länger auf sich beruhen lassen wollte. Am 26. August 1800 drohte sie dem Magistrat, weil sie den weiteren Verfall der Kirchenfonds durchaus nicht zugeben könne, so werde k. Reg. zu diesem Zwecke, falls dazu die Kirchengelder nicht hinreichen sollten, sofort eine andere unverhältnismäßige Abgabe zu dem gedachten Zweck der Bürgerschaft auflegen.108 Es war dann das Konsistorium, das am 7. Oktober 1800 zu erwägen gab, eine der Göttinger Pfarrkirchen einzuziehen, sollte die Anzahl der Kirchen dort für die Zahl der Einwohner zu groß seyn. Das machte sich der Magistrat zu eigen. Am 7. Januar 1801 benannte er die Nicolai-Kirche; sie wäre von allen die baufälligste.109 Um die Verantwortung von sich abzuwälzen, machte das Konsistorium daraus den Antrag (!) der Stadt, daß die St. Nicolai-Kirche in Göttingen eingehen und die Gemeine an andere dasige Kirchen möge vertheilet werden; es stellte in Aussicht, darüber dem König zu gegebener Zeit vorzutragen.110

106 StA GÖ, AA Nr. 5177, fol. 114r–121v, Rezeß zwischen Konsistorium und Magistrat über die Aufhebung von St. Nicolai, Göttingen 28. März 1803, Hannover 5. März 1803. Teilweise gedruckt bei Wilhelm Christian Francke, Der Kirchen- und Pfarrfonds von St. Nikolai zu Göttingen, in: Protokolle über die Sitzungen des Vereins für die Geschichte Göttingens im achten Vereinsjahre 1899–1900, Göttingen 1900, S. 25–29. Eine »freiwillige Kirchen-Bede«, so Francke S. 23, war diese nur insofern, als die Stadt sich bereiterklärt hatte, sie ihren Bürgern aufzuerlegen. 107 StA GÖ, AA Nr. 5177, fol. 312r–315r: Gutachterlicher Bericht von Wagemann, 27. Februar 1801. 108 Ebenda, fol. 172r (Abschrift). 109 Ebenda, fol. 182r–183v, Magistrat an Konsistorium, 7. Jan. 1801 (Konzept). L. Schaar, Die Geschichte der Nikolaikirche zu Göttingen nach dem Siebenjährigen Kriege, in: Göttinger Blätter für Geschichte und Heimatkunde Südhannovers 4 (1938), S. 43, Francke, wie Anm. 106, S. 23, und Konrad Hammann, Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirche in Göttingen (ca. 1650–1866), in: Ernst Böhme, Dietrich Denecke, Helga-Maria Kühn u. a. (Hgg.), Göttingen: Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen – Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648–1886), hrsg. von Ernst Böhme und Rudolf Vierhaus, Göttingen 1987, Göttingen 2002, S. 525–586, hier S. 556, erwecken den Eindruck, als sei der Plan der Einziehung einer der Göttinger Kirchen und endlich der Nicolaikirche einer ursprünglichen Initiative des Magistrats geschuldet. 110 StA GÖ, AA Nr. 5177, fol. 178r–180v, Reskript an den Magistrat, 5. März 1801.

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Es mußten nun nicht nur die Kircheneinkünfte und der Pfarrsprengel zerteilt werden. Eine Regelung verlangte auch das landesherrliche Patronatsrecht, das mit der Einziehung von St. Nicolai erlöschen würde.111 Hier verlangte die Regierung eine Kompensation. Sie forderte am 12. März 1801 vom Magistrat das volle Patronatsrecht über St. Albani: Ihr werdet selbst ermäßigen (= ermessen), wie sehr es das Interesse Sr. Königl. Majestät in Rücksicht der dortigen Landesakademie erfordere, daß Allerhöchst demselben solches Patronatsrecht ganz zustehe, wenn Sie sich des Patronatsrechts über die St. Nicolai-Pfarre ganz begeben sollen. Gern sei man dafür bereit, daß das mit denen von Wangenheim alternirende Jus patronatus über die Pfarre in unseren Gerichtsdörfern Roringen und Herberhausen euch conferirt werde.112 Dem gab der Magistrat am 13. April 1801 statt und verzichtete auf seinen alternierenden Patronat über St. Albani zugunsten des alternierenden Patronatsrechts über die Pfarre Roringen: Werden wir uns gern zu obiger Vertauschung der Patronate (…) verstehen. Unsere Amtsvorfahren haben zwar immer ein sehr großes Gewicht darauf gelegt, einen Prediger mit lediglicher Rücksicht auf die Wünsche und Bedürfnisse der Stadtgemeinden wählen zu können (was nur sehr bedingt zutraf); auch ist es wohl keinem Zweifel unterworfen, daß die Pfarre zu St. Albani weit beträchtlichere Einkünfte hat als die Pfarre der beyden Stadtdörfer, und daß wir daher auch in dieser Hinsicht bey dem Tausche verlieren würden. Wir ordnen aber diese beyden Betrachtungen sehr gern den höheren Zwecken unter.113 Die Kirchengemeinden Roringen und Herberhausen waren seit 1631 unter einem Pfarramt miteinander verbunden. Der 1254 an Pöhlde vertauschte Patronat über Roringen war nach der Aufhebung des Stifts in den 1530er Jahren an den welfischen Landesherrn Philipp von Braunschweig-Grubenhagen (1494– 1551) gefallen; der Patronat über Herberhausen befand sich – nach den Herren von Gladebeck und von Bülow – seit 1705 in den Händen der mit dem Burgsitz in Harste belehnten Familie von Wangenheim. Seit 1744 übten diese das Präsentationsrecht auf die eine Pfarrstelle im Wechsel mit dem Landesherrn aus.114 Darüber hat der Superintendent Karl August Moritz Schlegel im Auftrag des Konsistoriums im Laufe des Jahres 1801 vor der Vollziehung des Tausches mit der Stadt Göttingen gründliche Nachforschungen angestellt.115 An der alternieren111 Zum Erlöschen des Patronats durch Untergang oder Aufhebung des Objekts, hier also der Hospitalkirche, vgl. Hinschius / Stutz, Patronat, wie Anm. 2, S. 25. 112 StA GÖ, AA Nr. 5177, fol. 309r, Geheimer Rat und Konsistorium an Magistrat, Patronatswechsel Nicolai, Albani, Roringen, Herberhausen., 12. März 1801 (Orig.-Reskript). 113 Ebenda, fol. 332v, Magistrat an Konsistorium, 13. April 1801 (Konzept). 114 S. unten bei Anm. 170. 115 Kirchenkreisarchiv Göttingen (künftig: KKA GÖ), Ephoralarchiv Göttingen Spezialia, Roringen Nr. 2 (Verbindung Roringen und Herberhausen), mit Abschriften von seiner Hand. Zu den Patronatsverhältnissen in den beiden Kirchengemeinden s. unten Abschnitt 6.

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den Präsentation änderte sich durch den Eintritt der Stadt in die landesherrlichen Patronatsrechte über Roringen zunächst nichts. Die eigentlichen Verlierer der Tauschaktionen wurden die Pfarrleute von St. Nicolai. Zwar hatte der Gemeinde das Geld für den Wiederaufbau der beiden Kirchtürme gefehlt, die 1777 zusammengestürzt waren.116 Aber ihr Kirchen-Fonds war der einzige schuldenfreie in der Stadt, wie der Generalsuperintendent Gottfried Wilhelm Wagemann am 27. Februar 1801 gutachtend ausführte, wobei er das zynisch anmutende Argument hinzufügte: Das Vermögen der einzuziehenden Kirche wird die übrigen in den Stand setzen, die nothwendigen Ausgaben an Besoldungen, an Reparations Kosten und andern zu bestreiten.117 Vergeblich reichten die Pfarrleute am 18. September 1801 beim Magistrat eine Unterschriftenliste ein, mit der sie den Erhalt ihrer Kirchengemeinde forderten.118 Am 3. März / 23. März 1803 tauschten Stadt und Konsistorium die Patronate von St. Albani und Roringen.119 Am 28. März / 5. Mai 1803 folgte der Rezeß von Stadt und Konsistorium über die Aufhebung von St. Nicolai; das Konsistorium wurde durch den bis dahin halben städtischen Patronat über St. Albani entschädigt.120 Die Empörung der Pfarrleute von St. Nicolai, die nunmehr nach der Lage ihrer Wohnungen auf die Albani-, Johannis- und Mariengemeinde verteilt wurden, war beträchtlich. Viele Gemeindeglieder boykottierten die Gottesdienste in ihren neuen Gemeinden. Ein Pfarrkind, das von Jugend an ein treuer Kirchgänger gewesen war, soll seit 1801 bis zu seinem Tode in den 1820er oder 1830er Jahren nie mehr eine Göttinger Kirche betreten haben.121 Der Groll der Pfarrleute war um so berechtigter, als die ursprünglich benannte Absicht, durch das Kirchenvermögen von St. Nicolai die Verhältnisse an den übrigen Kirchen zu bessern, wie schon bei der Aufhebung von St. Crucis mitnichten verwirklicht wurde. Die Aufteilung des Nicolaivermögens unter die verbliebenen vier Göttinger Pfarreien wurde jahrzehntelang verschleppt und erst 1883 vollzogen!122 Alle Gesuche der ehemaligen Gemeindeglieder von St. Nicolai auf Wiederherstellung wies die Regierung ab. Im Jahre

116 Schaar, wie Anm. 109, S. 27–46. Vgl. Saathoff, Aus Göttingens Kirchengeschichte, wie Anm. 42, S. 208. Hammann, Geschichte der evangelischen-lutherischen Kirche, wie Anm. 109, S. 556. 117 StA GÖ, AA Nr. 5177, fol. 312r–315r. 118 Ebenda, fol. 222r–279v, Eingabe mit Unterschriftenliste Göttinger Bürger an Bürgermeister und Rat gegen die Einziehung der Nicolaikirche, 18. Sept. 1801 (Orig., mit Originalunterschriften). 119 Ebenda, fol. 188r–195r. 120 S. oben Anm. 106. 121 Francke, wie Anm. 106, S. 24 (nach mündlicher Überlieferung). Vgl. Saathoff, Aus Göttingens Kirchengeschichte, wie Anm. 42, S. 209. Hammann, Geschichte der evangelischenlutherischen Kirche, wie Anm. 109, S. 557. 122 Francke, wie Anm. 103, S. 29–47.

Kirchenpatronate in städtischer Hand: Göttingen

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1822 wurde die usprünglich zum Abbruch bestimmte Nicolaikirche als Universitätskirche feierlich in Gebrauch genommen.123

5.

Der Patronat über St. Marien

Verpfändete Güter der Deutschordenskommende in Göttingen hatten zwei Göttinger Bürger vor 1531 um 500 Gulden ausgelöst, wofür sich die Kommende verpflichtete, den Pfarrer und einen Kaplan an der Marienkirche zu unterhalten. Nach der Berufung des für nur wenige Monate bleibenden Magisters Johannes Birnstiel durch den Rat im Jahre 1531 löste der Komtur (hußhelder) Heinrich von Kitzleben diese Verpflichtung nicht ein und stellte Birnstiel auch keine Wohnung. Auch weigerte er sich, seinen Teil einer dem Herzog Erich I. bewilligten zehnjährigen Schatzung zu zahlen, für den die Stadt 1533 in Vorleistung getreten war.124 Nach der Vertreibung Heinrichs des Jüngeren 1542 durch den Schmalkaldischen Bund zog der Rat 1543 die Kommende ein und übertrug sie den Kirchenpflegern von St. Marien.125 Offenbar angesichts der Niederlage der Schmalkaldener bei Mühlberg und unter dem Eindruck der vorbereitenden Verhandlungen über das Interim von 1548 gab der Rat die Kommende 1547/48 zurück; dafür erkannte der Landkomtur seine Unterhaltspflicht an.126 Bei den zuvor vollzogenen Berufungen der Prediger Andreas Lemenhusen (1531), Nikolaus Hanauer (1531–1540) und Simon Kleinschmidt (1544–1551) wurden seine Präsentationsrechte bestimmt übergangen.127 Im Jahre 1551 soll dann seitens des Landkomturs ein gewisser Jakob Straube eingesetzt worden sein, der wegen Schwachheit aber nicht gepredigt hätte;128 wohl in Konkurrenz zu dieser Ernennung wurde nach einer Probepredigt Valentin Heilandt († 1590) zum Pfarrer 123 Konrad Hammann, Universitätsgottesdienst und Aufklärungspredigt. Die Göttinger Universitätskirche im 18. Jahrhundert und ihr Ort in der Geschichte des Universitätsgottesdienstes im deutschen Protestantismus (Beiträge zur historischen Theologie 116), Tübingen 2000, S. 376–379. Ders., Geschichte der evangelischen-lutherischen Kirche, wie Anm. 106, S. 565. 124 Hasselblatt, Kaestner, wie Anm. 68, S. 366f. Nr. 705 mit Anm. 1. Georg Erdmann, Geschichte der Kirchen-Reformation in der Stadt Göttingen, Göttingen 1888, S. 58. Saathoff, Pfarrer, wie Anm. 74, S. 134. Otto Fahlbusch, Der Deutsche Orden in Göttingen. Eine wirtschaftsgeschichtliche Untersuchung, in: Neues Archiv für Niedersachsen 19 (1950) S. 615. – Zu Birnstiels Unterkommen auf dem Kirchhof s. oben bei Anm. 71. 125 StA GÖ, AA Nr. 5153, fol. 104v–105r, Landkomtur von Lossow an das Konsistorium, 15. April 1592 (Kopie): Dann ob si (Göttinger Rat und Pfarrleute von St. Marien) woll vor etzlichen Jahren nicht allein die Kirche, sondern auch den Ordenshoff daselbsten ein genommen und selbst einen Pfarher eingesetzet, ist doch solches via facti und mitt gewaltt geschehen. 126 Erdmann, wie Anm. 124, S. 58. 127 Vgl. Anm. 125. Zu den Pfarrern vgl. Saathoff, Pfarrer, wie Anm. 74, S. 134, 138. 128 Meyer, Pastoren, Bd. 1, wie Anm. 79, S. 330.

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an St. Marien gewählt129, sicherlich vom Rat und der Gemeinde. Nach Heilandts Tod nahm der Landkomtur die Verletzung seines Patronatsrechts durch die Göttinger nicht mehr klaglos hin. Im Gegenzug pochte die Stadt auf ihr angeblich zustehende Rechte der Pfarrerbestellung in St. Marien. Seit dem Jahre 1592 focht sie den Patronat des Deutschen Ordens über St. Marien auch juristisch an und prozessierte vor dem Reichskammergericht gegen die Wolfenbütteler Regierung und das Konsistorium als den Anwälten des Komturs. Den Anfang machte eine förmliche Protestation des städtischen Syndicus Dr. iur. utr. Jeremias Reichelm am 24. Januar 1592.130 Ebenfalls seit 1592 stritt der Rat vor diesem Gericht gegen das Wolfenbütteler Konsistorium um das Besetzungsrecht der Kaplanei an der St. Johanniskirche.131 Der Streit um St. Marien mündete in die Teilung des Patronats im Jahre 1670, und zwar nicht durch Gerichtsurteil, sondern durch die Entscheidung des Landesherrn. Im Jahre 1590 wurde der Magister Felicianus Clarus in der Marienpfarre eingeführt. Dagegen protestierend, präsentierte der Landkomtur Johannes von Lossow dem Konsistorium am 15. Februar 1592 gegen Clarus den Magister Heinrich Dressler und bat am 15. April die Kirchenbehörde um das Mandat an den Rat, daß dieser Dressler als Pfarrherrn annähme; überdies ersuchte er – schließlich auch beim Fürsten – um den Schutz der Ordensrechte.132 Die Göttinger weigerten sich, Dressler die Vokation zu erteilen, worüber sie das Konsistorium am 26. September 1592 verhören wollte.133 Der am 21. Mai 1593 als des Clarus Nachfolger im Amt befindliche Johann Langhagen war ebenfalls unter Hintansetzung der Präsentationsrechte des Landkomturs berufen worden. Der städtische Secretarius Caspar Rudolph wurde bevollmächtigt, den Göttinger Rat und den Pfarrer vor dem Konsistorium gegen den Landkomtur zu vertreten; zum 25. Mai 1593 wurde dann Langhagen selber vor das Konsistorium zitiert.134 Er 129 Saathoff, Pfarrer, wie Anm. 74, S. 143. 130 StA GÖ, AA Nr. 5153, Prozeß der Stadt Göttingen gegen die Braunschweigische Regierung vor dem Reichskammergericht wegen der Bestellung eines Pfarrers zu St. Marien und das Jus episcopale, um 1590 [recte 1592–1601], fol. 3. Reichelm war Syndicus der Stadt von 1588/ 1589 bis 1599/1600, Lehmberg, wie Anm. 81, S. 285–287, und dürfte die Bereitschaft des Rats zum Prozessieren befördert haben. 131 StA GÖ, AA 5072, Prozess der Stadt und des Kapellans bei der Johanniskirche Magister Cyriakus Pflaumkern gegen das Wolfenbüttler Konsistorium um das Recht, die Kaplanei zu besetzen, ohne dem Konsistorium zu präsentieren. 132 StA GÖ, AA Nr. 5153, fol. 78r–79r, 104r–106r (zeitgenössische Kopien). StA GÖ, AA Nr. 5152, Streit des Rates mit dem Deutschen Orden über das Patronatsrecht der Lieb-Frauenkirche, 1546–1733 [recte 1669], fol. 5r–v, Konsistorium in Wolfenbüttel an Bürgermeister und Rat, 26. September 1592: Der Landkomtur habe beim Landtfursten umb hulf, schuz und vertetigunge bei seinem Patronat und desselben exercitio angesucht. 133 StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 5r–v. 134 Ebenda, fol. 7r–9v, Vollmacht des Göttinger Rats für seinen Secretarius Caspar Rudolf, 21. Mai 1593, fol. 13r–16v, Vollmacht vom 25. Februar 1594. Caspar Rudolf stand seit 1583/84

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starb 1597 an der Pest.135 Sein Nachfolger Andreas Grothenius († 1597) starb nach nur 25 Tagen im Amt ebenfalls an der Seuche.136 Trotz des laufenden Reichskammergerichtsprozesses137 übte der Rat im Jahre 1597 erneut wie selbstverständlich das Recht der Pfarrerbestellung in St. Marien aus. Den Kollaborator Justus Henning in Kirchrode lud er am 13. Juli 1597 zu Probepredigt ein, was dieser aber dilatorisch beantwortete.138 Ein Andreas Grothain in Elliehausen, offenbar ebenfalls vom Rat zu Probepredigten in St. Johannis und St. Marien eingeladen, lehnte am 19. Juli ab, sintemal ich noch zur Zeit mich vieles predigens nicht beflißen. Darzu noch zu jung, auch mitt Blödigkeit (Schüchternheit) fur große und Gheistliche gemein zu treten, noch zur Zeitt beladen bin.139 Am 31. August sandte der Dresdner Hofprediger Polycarp Leyser dem Göttinger Rat eine Empfehlung für den Magister Christoph Losse aus Stolberg; tags zuvor hatte der Rat seinen Syndikus Dr. Reichelm gebeten, mit dem Landkomtur zu verhandeln, was jener auch in Aussicht stellte, sobald er ihn in der Komturei Bergen aufsuchen würde.140 Aus den Augen verloren hatten die Göttinger den Landkomtur also keineswegs. Ob diesem die Möglichkeit eingeräumt worden war, Losse expressis verbis zu präsentieren, ist offen. Es war auch Reichelm, der den landfremden Losse zunächst bei sich auf Haus Niedeck (südlich Göttingen) aufnahm und ihm alle Förderung zuteilwerden ließ. Am 19. Dezember 1597 war Losse Pfarrer an St. Marien.141 Im Jahre 1610 wechselte Losse an die Göttinger Jacobikirche. Als gäbe es kein Patronatsrecht des Landkomturs, baten die Kastenherren (Kirchenältesten) von St. Marien am 28. März 1610 den Göttinger Rat, ihren Pfarrleuten den Göttinger Schulkollaborator Matthias Schwarz zur Vokation vorzuschlagen.142 Der Rat griff

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als Schreiber, von 1590/91 bis 1611/12 als secretarius im Dienst der Stadt, Lehmberg, wie Anm. 81, S. 305–307. Nach Meyer, Pastoren, Bd. 1, wie Anm. 79, S. 330, wäre der Wechsel von Clarus zu Langhagen nicht schon 1593, sondern erst 1597 vollzogen gewesen. Meyer, Pastoren, Bd. 1, wie Anm. 79, S. 330. StA GÖ, AA Nr. 5153, fol. 203–204, Protokollnotizen vom 3. März bis 16. November 1601. StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 23r–v, Schreiben des Rats (Kopie). Ebenda, fol. 24r–25v, Schreiben Hennings an den Rat, 15. Juli 1597. Ebenda, fol. 26r–27v, Zitat fol. 26v. Ebenda, fol. 30r–31v, Leyser an den Rat. Ebenda, fol. 28r–29v, Reichelm an den Rat, 31. August 1597. Zur Komturei Bergen in Groß Rodensleben (westlich Magdeburg) s. Klaus Militzer, Die Entstehung der Deutschordensballeien im Deutschen Reich (Quellen und Studien zu Geschichte des Deutschen Ordens 16), Bonn-Bad Godesberg 1970, S. 77. StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 38r–39v, Dankschreiben an Reichelm von M. Christophorus Lossius, Pfarrer zu Unser lieben frauen daselbst. StA GÖ, AB Ver 1,4, fol. 80r. Landkomtur war immer noch Johannes von Lossow (1577– 1605), vgl. Bernhard Demel, Die Deutschordensballei Sachsen vom 13.–19. Jahrhundert. Ein Überblick, in: Ders. (Hrsg.), Der Deutsche Orden im Spiegel seiner Besitzungen und Beziehungen in Europa (Europäische Hochschulschriften 3, 961), Frankfurt/Main 2004, S. 37– 48.

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dieses Gesuch auf und stellte einen entsprechenden Antrag beim Konsistorium, den dieses am 8. Juni 1610 aber abwies: Der Landkomtur zu Lucklum hätte dem Rat jedes Recht auf die Präsentation bestritten.143 Bereits am 2. Juni hatte das Konsistorium dem Rat und dem Göttinger Generalsuperintendenten Tegtmeier dagegen befohlen, von wegen ehegemeltes (= vorgenannten) Herren Land Commenthurs – also wegen dessen Präsentation – den Herrn Andreas Variscus, Pfarrer in Roringen, der Mariengemeinde zur Probepredigt vorzustellen, die ihm gegebenfalls die Vokation zu erteilen hätte.144 Variscus, ein umtriebiger Mann, hatte sich wegen Verleihung der Pfarrstelle demnach an den Landkomtur als den rechtmäßigen Patron gewandt. Damals war nicht absehbar, daß Herzog Heinrich Julius sich das Göttinger Kirchenwesen unterwerfen und mit Artikel 3 des Rezesses vom 8. März 1611 die Pfarrbesetzung an St. Marien, weil derzeit zwischen dem Rat und dem Deutschen Orden streitig, aus landesfürstlicher Macht und hoher Obrigkeit an sich ziehen würde.145 Dem Rat blieb nichts anderes übrig, als sich in die neue Lage zu schicken, und akzeptierte am 8. Januar 1612 die Präsentation des Variscus, doch cum protestatione, daß es dem E(dlen) E(rnfesten) Raht zustehendem Jus ohnachtheilig sein solle.146 Jedoch wehrten sich nun die Pfarrleute von St. Marien vehement gegen den ihnen vom Konsistorium benannten Bewerber. Sie scheuten auch nicht vor Verleumdungen des Roringer Pastors zurück, so daß das Konsistorium auf die Bestallung des Variscus verzichtete. Gemäß Kirchenordnung und dem mit der Stadt getroffenen Abschied vom 8. März 1611 präsentierte es der Gemeinde am

143 StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 42r–43v, Konsistorium an den Göttinger Rat, 8. Juni 1610 (Originalreskript). Zu Lucklum, in der Regel Sitz des Landkomturs der Ballei Sachsen, s. Christian Frey, Lucklum, in: Niedersächsisches Klosterbuch Bd. 2, wie Anm. 49, S. 934–938. 144 StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 44r–48r, Zitat fol. 44v, Einrede des Rats in seinem Antwortschreiben an das Konsistorium, 14. Juni 1610 (Konzept). Magister Henning Tegtmeier (1572–1618) war seit 1610 Generalsuperintendent des Fürstentums Göttingen, Superintendent und erster Pastor an St. Johannis, Rudolf Steinmetz, Die Generalsuperintendenten von Göttingen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 39, 1934, S. 106–150, hier S. 118–124. Arnold, Inschriften, wie Anm. 52, S. 145f. Nr. 159†. 145 StA GÖ, Urkundenabt. Nr. 300 (Artikel 3). Zu diesem Rezeß vgl. Jacob Regula, Die kirchlichen Selbständigkeitsbestrebungen der Städte Göttingen, Northeim, Hannover und Hameln in den Jahren 1584–1601, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 22 (1917), S. 123–165, hier S. 151. Albrecht Saathof, Geschichte der Stadt Göttingen bis zur Gründung der Universität, Göttingen 1937, S. 233f. Heinz Mohnhaupt, Die Göttinger Ratsverfassung vom 16. bis 19. Jahrhundert (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen 5), Göttingen 1965, S. 57f. Bielefeld, Die Kirche nach der Reformation, in: Böhme, Denecke, Kühn, Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 1, wie Anm. 15, S. 528. Olaf Mörke, Göttingen im politischen Umfeld: Städtische Macht- und Territorialpolitik, in: ebenda, S. 297. 146 StA GÖ, AB Verw 1,6,1 (Ratsprotokoll), fol. 22v.

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30. April 1612 ex officio und interimistisch den Magister Justus Groscurdt.147 Dieser verließ später, im Jahre 1615, St. Marien, um Pastor in Uslar zu werden, und war dann 1622 bis 1626 Generalsuperintendent in Göttingen.148 Ebenfalls von Amts wegen und interimistisch, weil der Patronatsstreit zwischen Rat und Landkomtur noch schwebe, bestellte das Konsistorium am 16. Mai 1615 Pankraz Schimler (1616–1620) und am 31. August 1620 Georg Böhmer zu Pfarrern an St. Marien.149 Gegen den letzteren legten Bürgermeister und Rat am 18. September Verwahrung ein mit der Behauptung, sie seien nicht nur wahre Patrone der Kirche, sondern hätten auch solch Jus undt Gerechtigkeitt uber zehn, zwantzigk, dreysig, vierzig und funftzigk Jahr ruhiglich ersessen undtt innen gehaptt, bis der Landkomtur angefangen habe, sie daran zu hindern.150 Das war objektiv unrichtig. Allerdings hatte auch der Landkomtur das Provozieren nicht lassen können. Am 15. Mai 1616 zeigten die Kastenherren von St. Marien dem Rat an, ihrem Oppfferman sei eine citation zur Lehnsempfengnüß, behandigte von des Comtturs Diener, die soltt an die Kirch affizirt werden, zugegangen; der Rat wies dieses Ansinnen zurück.151 Im Blick auf Böhmer (1620–1622) haben die Kastenherren von St. Marien eingelenkt und ihm am 17. September 1621 den Vokationsschein erteilt.152 Auf ihn folgte, nominell wieder nur interimistisch, am 9. November 1626 Hermann Gecius.153 Ein Widerspruch des Rates gegen die Präsentation des Samuel Berghoff (1643–1658) am 16. Juni 1643 ist nicht bekannt.154 Dagegen scheint der Rat im Jahre 1668 bei der Berufung von Magister Johannes Hillgart (1668–1671) den damaligen Landkomtur Daniel von Priort (1654–1684) übergangen zu haben. Jedenfalls hat dieser am 1. Februar 1669 beim 147 StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 57r–58r, Konsistorium an Generalsuperintendent Tegtmeier, 20. April 1612 (Kopie). Am 24. April 1612 befand das Konsistorium bezüglich St. Mariens: Man kan ihn (= Groscurdt) ex officio dahin setzen ea lege, daz sie den vörigen nicht pillige (= unbillig) beschuldigt und beclagt. Und behalte Illustrissimo die Straff fur, daß sie ihn Variscum nicht haben wollen aufstellen (…). Man schreibe an den Superintendenten, daz er ihn (= Groscurdt) interimsweise ufstelle, Hauptstaatsarchiv Hannover Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 156r. Zum Scheitern des Bewerbers Andreas Variscus in St. Marien s. Petke, Aus erheblichen Ursachen, wie Anm. 10, bei Anm. 64–69. 148 Vgl. Philipp Meyer, Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg Lippes seit der Reformation, Bd. 2, Göttingen 1942, S. 447. Steinmetz, Generalsuperintendenten, wie Anm. 144, S. 132–138. Arnold, Inschriften, wie Anm. 52, S. 150 Nr. 164†. 149 StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 61r–v, Konsistorium an Generalsuperintendent Tegtmeier, 16. Mai 1615 (Kopie). Ebenda, fol. 63r–64v, Konsistorium an Generalsuperintendent Friedrich Sengebähr 31. Aug. 1620 (Kopie). 150 Ebenda, fol. 71r–76r, Zitat fol. 72r (Kopie eines Notariatsinstuments vom 28. September 1620). 151 StA GÖ, AB Verw 8,1,1, Ratsprotokoll 1611–1618, fol. 153v. 152 StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 65r–66v. 153 Ebenda, fol. 79r–80v, Reskript Herzog Friedrich Ulrichs an den Göttinger Rat. 154 Ebenda, fol. 87r–88v.

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Herzog darum ersucht, daß der iungsthin bey der Kirchen S. Mariae Virginis zu Gottingen introducirte Priester an mich wegen des Ordens zu emphahunge des Pfarrlehens undt ausstellung des gewöhnlichen Reversus gewiesen werden möge, und unterließ es nicht, auf das Patronatsrecht des Ordens und dessen Beeinträchtigungen in der Vergangenheit hinzuweisen.155 Am 19. Juli wiederholte der Landkomtur seine Bitte.156 Ihn zu brüskieren, war nicht klug, zumal dieser die Göttinger Verhältnisse kannte. Nachdem sich der Göttinger Komtur Ludolf Klenke (1630–1663), ein Kryptokatholik157, am 6. Mai 1644 dazu verpflichtet hatte, die wegen des Krieges seit 1624 unterbliebenen Zahlungen an die Kastenherren zum Unterhalt des Pfarrers in Raten von 20 Talern jährlich nachzuholen, anerkannten der Landkomtur und der Göttinger Komtur Wolf-Ludwig von Spitznas am 5. März 1663, daß die Kommende zu einem jährlich an die Vorsteher der Marienkirche zu entrichtenden Deputat von zehn Malter Roggen, 16 Talern und 24 Mariengroschen verpflichtet sei.158 Die Auseinandersetzungen um den Patronat beendete der vom Konsistorium im Namen Herzog Johann Friedrichs zwischen Landkomtur und Stadt vermittelte Vergleich vom 21. April 1670.159 Der amtierende Pfarrer Johann Hillgart blieb auf der Pfarre. Die nächste Präsentation sollte an den Bürgermeister fallen, die übernächste alternierend an den Landkomtur. Die Bezüge aus den zur Pfarre gehörenden Gütern sollten dem Pfarrer jährlich ohne Minderung von der Kommende gewährt werden. Ein verbrieftes Recht der Stadt an dem Patronat über St. Marien hatte es bis 1670 nicht gegeben. Jetzt wurden die aus der Vokation abgeleiteten und seit der Reformation erhobenen Ansprüche der Stadt auf das Präsentationsrecht mit der Verleihung des alternierenden Patronats honoriert. Die Hartnäckigkeit, mit der dieses Ziel verfolgt wurde, gründet in der großen Bedeutung, welche die Stadtobrigkeit der Person eines Pfarrers zumaß, und zwar wegen seiner Lehre. Zur Zeit des Königreichs Westphalen wurde 1810 die Kommende samt ihren Ländereien versteigert; Erwerber war der bisherige Pächter, der Amtmann Spieß.160 Mit dem Kommendehof erwarben er und seine zahlreichen Nachbesitzer auch den dinglichen, also den an die Liegenschaft geknüpften halben Patronat über die Marienkirche. Die Stadt auf der einen Seite und der Kom155 Ebenda, fol. 101r–105r, Zitat fol. 105r (Kopie). Zu Daniel von Priort s. Demel, wie Anm. 142, S. 50–62. 156 StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 93r–94v (Kopie). 157 Demel, wie Anm. 142, S. 15. 158 KKA GÖ, PfA St. Marien Göttingen A 101, I (Deutscher Orden), Eigenhändige besiegelte Erklärung von Klenke 6. Mai 1644. Ebenda, Rezeß vom 5. März 1663 (Kopie). Komtur Spitznas ist bei Betty Arndt, Göttingen – Deutscher Orden, in: Niedersächsisches Klosterbuch 2, wie Anm. 49, S. 467, unter den Vorstehern der Kommende nachzutragen. 159 StA GÖ, Urkundenabteilung Nr. 281 (Göttinger Ausfertigung). Vgl. Hammann, Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirche, wie Anm. 109, S. 526. 160 Fahlbusch, Der Deutsche Orden, wie Anm. 124, S. 618.

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mendebesitzer auf der anderen waren Kompatrone der einen Marienkirchengemeinde. Als 1849 erstmals Kirchenvorsteherwahlen anstanden, ernannten der Magistrat am 5. Juli 1849 den Hofrat Professsor Dr. med. Berthold und der Kommendebesitzer Dr. iur. Adolf Eberhardt am 13. Juli den Landes-Ökonomie Conducteur Prentzel zu Kirchenvorstehern an St. Marien.161 Die nach zahlreichen Verkäufen übriggebliebenen Ländereien und den Kommendehof besaß von 1874 bis 1876 die städtische Kämmerei.162 Diese veräußerte den Komplex 1876 an die Fruchthändler Salomon und Siegfried Eichenberg.163 Auf Antrag des Magistrats vom 14./17. Februar 1874 löste das Konsistorium am 8. Juni 1875 den Patronat von der Kommende und wandelte den halben dinglichen Patronat in einen – so die begriffliche Neuschöpfung – Amtspatronat des Magistrats um.164 Es findet daher ferner ein alternirendes Patronatsrecht bei der St. Marienkirche nicht mehr statt und gebührt nunmehr dem löblichen Magistrate bei Präsentation eines Predigers und bei Wahlen für den Kirchenvorstand das volle Patronat allein.165 Dieser bis heute bestehende Patronat war dem Göttinger Oberbürgermeister Georg Merkel (1868–1893) wichtig. Am 18. März 1877 nahm er persönlich den patronatsseitig zu besetzenden Kirchenvorstandssitz an St. Marien ein.166 Oberbürgermeister Calsow (1893–1926) legte 1913 Wert darauf, daß die Aufschrift Magistrat auf dem Patronatskirchenstuhl, die im Zuge von Restaurierungsarbeiten in der Kirche entfernt worden war, wiederhergestellt würde. Im Jahre 1917 befanden sich die Magistratssitze auf der Prieche unter der Orgel.167

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KKA GÖ, PfA St. Marien A 101, II (Patronat 1732–1917). Fahlbusch, Der Deutsche Orden, wie Anm. 124, S. 620. Ebenda, S. 620. Der Cultus Minister (= das preußische Ministerium der geistlichen pp. Angelegenheiten) (…) hat unterm 2. d. M. die vom löblichen Magistrat beantragte Umwandlung des mit der dortigen Commende bislang verbunden gewesenen dinglichen Patronats in ein Amtspatronat des Magistrats genehmigt, (…) und gebührt nunmehr dem löblichen Magistrate bei Präsentation eines Predigers und bei den Wahlen für den Kirchenvorstand das volle Patronat allein, StA GÖ, AHR I F Fach 9 Nr. 2 Bd. 1, Übertragungen des Patronats der St. Marienkirche auf die Stadt 1874–1950, fol. 5r–v, Reskript des Konsistoriums an die Kirchenkommissare (= Superintendent und Magistrat) der Stadt, 8. Juni 1875. Die Kirchenrechtler Hinschius / Stutz, Patronat, wie Anm. 2, S. 22, kennen nur einen dinglichen, also den einem Grundstück anhaftenden Patronat, und einen persönlichen Patronat: »Persönlich ist derjenige Patronat, welcher einer physischen oder juristischen Person als solcher zusteht.« Letzteren muß der Begriff Amtspatronat meinen, den auch Paul Schoen, Das evangelische Kirchenrecht in Preußen, Bd. 2, Berlin 1906–1910 (Neudruck 1967) S. 6ff., nicht nennt. Die Unterscheidung nach geistlichem, Laien- und gemischtem Patronat, vgl. Hinschius / Stutz, a. a. O., ist hier nicht erheblich. 165 Reskript vom 8. Juni 1875, s. vorige Anm. 166 KKA GÖ, PfA St. Marien A 101, II (Patronat 1732–1917). 167 Ebenda, Magistrat an Kirchenvorstand St. Marien, 16. Januar 1913. Ebenda, Schreiben des Kirchenvorstands an den Magistrat, 28. Oktober 1917 (maschinenschriftlicher Durchschlag). Zur Wahrnehmung des städtischen Patronats 1934/1935 s. unten bei Anm. 207.

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6.

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Die Patronate über Roringen und Herberhausen seit 1803

Den Patronat über Roringen hatte im Jahre 1254 Herzog Albrecht an das Stift Pöhlde vertauscht.168 Um das Jahr 1533 fiel er mit der Aufhebung des Stifts an den Landesherrn.169 Der Patronat über Herberhausen war als dinglicher Patronat mit dem Burgmannenhof in Harste, einem landesherrlichen Lehen, verbunden. Als die Herren von Gladebeck, Herberhäuser Patrone schon im Jahre 1372, im Jahre 1701 ausstarben, gelangten Hof und Patronat für wenige Jahre in die Hände der Familie von Bülow und von dieser 1705 an die Familie von Wangenheim.170 Nach einer nur ad personam, zugunsten des Roringer Pastors Andreas Variscus, gewährten Union, die von 1613 bis 1623 währte, waren und sind die Kirchengemeinden Herberhausen und Roringen seit 1631 erneut unter einem Pfarrer miteinander verbunden. Bis 1744 hatte sich der Kompatronat über beide Gemeinden dahin entwickelt, daß Landesherr und Konsistorium den Herberhäuser Patronen allenfalls die Möglichkeit einräumten, ihren Präsentationen auf Roringen für Herberhausen beizutreten. Das war 1683 der Patronin Elisabeth von Gladebeck geb. von Münchhausen ein solches Ärgernis, daß sie anläßlich der Belehnung des Pastors Heinrich Christoph Bachmann (1683–1709) erwog, ob sie in Herberhausen nicht wieder eine eigene Pfarrstelle aufrichten sollte.171 Auch der Schloßhauptmann und Landrat August Wilhelm von Wangenheim mißbilligte die vom Konsistorium geübte Praxis, da sie seine Vorgänger faktisch des Präsentationsrechts beraubt hätte. Im Jahre 1744 machten sich das Konsistorium und die Regierung in Hannover sein Gesuch zu eigen, den Kompatronat nunmehr als alternierenden Patronat ausüben zu lassen, und zwar in der Weise, daß der Herr von Wangenheim als Herberhäuser Patron den Anfang bei der damals anstehenden Besetzung machen sollte.172 Der 1744 antretende Andreas Apel, bis dahin Pastor in Waake, ist tatsächlich von ihm präsentiert worden.173 168 S. oben bei Anm. 40. 169 Zu Pöhldes Säkularisierung um 1533 vgl. Waldemar Könighaus, Pöhlde, in: Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, hrsg. von Josef Dolle unter Mitarbeit von Dennis Knochenhauser, Bd. 3 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 56, 3), Bielefeld 2012, S. 1256–1258. 170 Vgl. Karl Heinz Bielefeld, Beiträge zur Geschichte des Dorfes Harste (Kreis Göttingen), in: Plesse-Archiv 12 (1977) S. 11–243, hier S. 85. 171 Petke, Aus erheblichen Ursachen, wie Anm. 10, bei Anm. 211. 172 Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 74 Göttingen Nr. 2753, Relation des Konsistoriums an den König zugunsten Wangenheims, 31. Januar 1744 (Kopie). HStAH Hann. 83 III Nr. 621, fol. 150r–151v, königliches Reskript, 10. Februar 1744. 173 HStAH Hann. 83 III Nr. 621, fol. 160r–163r, Konsistorium an Superintendent und Rat zu Göttingen, 24. April 1744 (Konzept). Zu Andreas Apel, 1744–1761 Pastor in Herberhausen und Roringen, dann 1761–1797 in Dankelshausen, s. Meyer, Pastoren, Bd. 1, wie Anm. 79, S. 179, Band 2, wie Anm. 128, S. 323. Sein Nachfolger Daniel Kauffmann wurde am 25. Juli 1761

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In diesen alternierenden Patronat über Herberhausen und Roringen trat die Stadt Göttingen mit den Tauschverträgen von 1803 an Stelle des Konsistoriums ein. Turnusgemäß präsentierte sie 1812 Georg Justus Dorsch und 1864 Leopold August Christian Kerkow174, während Friedrich Wilhelm Böker 1846 von Georg Graf von Wangenheim präsentiert worden war.175 Naturgemäß hatte Böker Mitbewerber gehabt, die den Superintendenten Hildebrand um Empfehlung bei von Wangenheim baten, so unter anderen der Kandidat des Predigtamtes August Horn in Gronau bei Elze: Ich habe mich nämlich, ohn Zweifel mit auch vielen Anderen, gleichfalls bei dem Herrn Grafen um eine gnädige Präsentation auf die oben genannte Stelle beworben (…). Ich habe zwar nicht die Ehre, Ew. Hochwürden persönlich bekannt zu sein, weiß aber, daß Sie nicht nur den großen Nothstand der gegenwärtigen Candidaten genau kennen, sondern daß er Ihnen auch gar sehr am Herzen liegt. Wenn ich deßhalb über mich selbst die Nachricht beizufügen mir erlaube, daß ich mit dem kommenden Neujahr bereits in mein 38stes Lebensjahr eintrete; – daß zu derselben Zeit schon sieben Jahre hinter meinem rigorosum liegen, – daß mit meiner Anstellung der letzte und auch einzige Wunsch meines 80jährigen Vaters, dessen Erfüllung er auch so gern erleben möchte, befriedigt werden würde; und daß eine seit vierzehn Jahren mir verlobte Braut, die Schwägerin des Zimmermeisters G. Freise in Göttingen, in schmerzlicher Trauer mit mir meiner endlichen Erlösung entgegenseufzt und hofft, – so darf ich mich der getreusten Hoffnung überlassen, mich nicht mit vergeblichem Bitten an Ew. Hochwürden menschenfreundliche Liebe gewendet zu haben.176 Elend der stellenlosen Geistlichen! Da Georg Graf von Wangenheim 1851 kinderlos gestorben war177, fiel der Harster Burgmannenhof nebst dem Herberhäuser Patronat an den Landesherrn zurück. Das Konsistorium unterrichtete den Göttinger Superintendenten Hil-

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präsentiert, und zwar turnusgemäß durch das Konsistorium Hannover, Originalschreiben an Generalsuperintendent Feuerlein, Bürgermeister und Rat zu Göttingen, Hannover 25. Juli 1761, KKA GÖ, Ephoralarchiv Göttingen Spezialia, Roringen Nr. 38 (Besetzung der Pfarrstelle). StA GÖ, AHR I F Fach 12 Nr. 1 (Die Besetzung der Pfarrstellen in Roringen und Herberhausen 1812–1953), fol. 1r, 10r–v, 19r (1812). – Ebenda, fol. 46r–47r, Sitzungsprotokoll des Magistrats vom 17. Okt. 1864, Wahl Kerkows zur Präsentation. Ebenda, fol. 48r, Präsentation Kerkows an das Konsistorium, 17./19. Oktober 1864. KKA GÖ, Ephoralarchiv Göttingen Spezialia, Roringen Nr. 38, Weisung des Konsistoriums an Superintendent Hildebrand, nach der Präsentation durch von Wangenheim Böker in Roringen die Probepredigt halten zu lassen, 8. Dezember1846 (ausgefülltes Formblatt). KKA GÖ, Ephoralarchiv Göttingen Spezialia, Roringen Nr. 38, August Horn an den Superintendenten, 26. August 1846 (Originalbrief). Friedrich Hermann Albert Frhr. von Wangenheim, Beiträge zu einer Familiengeschichte derer von Wangenheim, Göttingen 1874, S. 1026, 1034, nebst Berichtigungen S. XII. Thomas M. Dann, Adliges Wohnen in Hannover: Die Ausstattungen im Palais von Wangenheim und späteren Residenzpalais, in: Hannoversche Geschichtsblätter NF 65 (2011) S. 3–31, hier S. 4.

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debrand darüber erst drei Jahre später am 10. Januar 1854: Wir benachrichtigen den Herrn Superintendenten, daß das vorhin der Familie von Wangenheim wegen des von der Landesherrschaft derselben zu Lehen verliehenen Gutes Harste zugestandene alternative Patronatrecht über die Pfarre Roringen-Herberhausen in Folge der Apertur des Gutes Harste an die Landesherrschaft zurückgefallen ist. Hildebrand vermerkte auf dem Schreiben handschriftlich: Herrn Pastor Böker zur Nachricht abschriftlich mitgeteilt. Göttingen, den 16. Januar 1854.178 Auf dieser Abschrift, die über das Roringer Pfarrarchiv überliefert ist, findet sich ebenfalls von Hildebrands Hand allerdings der Vermerk: durch ein Versehen zurück gehalten. H(ildebrand).179 Pastor Böker war also für eine unbestimmte Zeit amtlicherseits nicht darüber informiert, daß der dingliche Patronat über Herberhausen erloschen war.180 Die bisher wangenheimsche Präsentation war nunmehr in die landesherrlichen Ernennung, die das Konsistorium vornahm, aufgegangen. Vielleicht erst im Jahre 1858 war das dem Pastor klar geworden.181 Daß Herberhausen nunmehr patronatsfrei war, haben auch der damalige Superintendent, dessen Nachfolger und die Gemeinden offensichtlich nie realisiert. Man fragte zum Beispiel nicht, auf welcher Rechtsgrundlage nach dem Ableben von Kerkow († 12. 12. 1895) im Jahre 1896 Hermann August Christian Wilhelm Witthaus vom Konsistorium bestellt werden konnte.182 Seit der Weggabe des Roringer Patronats im Zuge des Tausches von 1803 hatte das Konsistorium in Roringen-Herberhausen doch keine Präsentationen mehr vorgenommen! Davon wußte man in den Gemeinden – fünfzig Jahre nachdem Pastor Böker 1846 auf wangenheimsche und dreißig Jahre nachdem Kerkow im Jahre 1864 auf städtische Präsentation ihre Stellen erhalten hatten – verständlicherweise nichts mehr. Anders das Konsistorium! Gegenüber dem Ministerium der geistlichen und 178 KKA GÖ, Ephoralarchiv Göttingen Spezialia, Roringen Nr. 12 (Roringen und Herberhausen Patronat). Konzept dieses Schreibens: Landeskirchliches Archiv Hannover (künftig LKAH), A 6 Nr. 7151, Die Patronatsverhältnisse der Pfarre zu Herberhausen und Roringen (1853– 54), fol 1v. 179 KKA, PfA Roringen A 101 (Patronat). 180 Der Patronat erlosch unter anderem durch Aussterben der patronatsberechtigten Familie, Hinschius / Stutz, wie Anm. 2, S. 25. 181 KKA, PfA Roringen A 131 (Kirchenvorstand, auch Wahlen, 1848 (1843)-1922), fol. 1r notiert Böker am 8. Mai 1858: Nr. 10 betreffend den Zurückfall des Patronatsrechts über Roringen (!) von den Wangenheim an die Landesherrschaft ist ins Corpus Bonorum an die betreffende Stelle gelegt. Unter Corpus Bonorum von jüngerer Hand mit Blei: besonders pag. 70. Gemeint ist die Handschrift PfA Roringen H.S. 1, Corpus bonorum von 1798 (dort fol. 37v = [alt] S. 70: Skizzierung der Verbindung der Kirchengemeinden Roringen und Herberhausen). 182 KKA, PfA Roringen A 202 (Besetzung der Pfarrstelle), Schreiben des Superintendenten Kayser an Pastor Drömann in Waake als Specialvicar der Kirchengemeinde Roringen und Herberhausen vom 17. Juni 1896 (Einzelblatt, Orig.) über die Ernennung von Witthaus durch das Landeskonsistorium, Aufforderung zur Aufstellungspredigt am 21. Juni 1896, etc. Vgl. StA GÖ, AHR I F Fach 12, fol. 59r, Witthaus am 2. August 1934 an den Rat, wonach er seinerzeit durch die Kirchenbehörde berufen worden sei.

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Unterrichtsangelegenheiten, das 1853 wie zuvor schon das Finanzministerium zu der irrigen Auffassung gelangt war, das Besetzungsrecht in Roringen-Herberhausen stünde nunmehr allein der obersten Kirchenbehörde zu, hatte diese am 10. Januar 1854 klargestellt: Es wird daher von jetzt an [= nach Erlöschen des wangenheimschen Patronats] wieder die alternative landesherrliche Besetzung der Pfarren Roringen-Herberhausen und zwar abwechselnd mit dem Magistrate vom Consistorio auszuüben sein. Der nächste Besetzungsfall wird übrigens, dem Turnus gemäß, dem Magistrate von Göttingen gehören.183 Wenn im Jahre 1896 das Konsistorium den Pastor Witthaus ernannte, dann handelte es gemäß der seit 1851 bestehenden Rechtslage. Wegen des erloschenen Herberhäuser Patronats der Familie von Wangenheim und des weiter bestehenden Göttinger Patronats über Roringen hatte es das Recht zur Ernennung bei jeder zweiten Neubesetzung der Pfarrstelle.184 Die Bestallung auf Grund der Präsentation durch die Stadt und die Bestallung durch Ernennung seitens des Landeskirchenamts wechseln in Roringen-Herberhausen noch heute miteinander ab.185 Die Gemeinden haben dadurch kein Pfarrerwahlrecht.186 Im Blick auf den Entwurf einer Verfassung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, die auch die Patronate zu regeln hätte187, forderte das Landeskonsistorium im Jahre 1921 seine Pfarrer auf, über die Patronatsverhältnisse in ihren Gemeinden zu berichten. Pastor Witthaus konnte sich die von der Stadt Göttingen ganz selbstverständlich über Herberhausen ausgeübten Patronatsrechte aus seinen Unterlagen nicht erklären und fragte am 18. August 183 LKAH, A 6 Nr. 7151, fol. 1v, Konsistorium an Ministerium für geistliche und UnterrichtsAngelegenheiten (Konzept). Das alternative Besetzungsrecht hatte das Konsistorium wegen Roringens bis 1803 besessen, s. oben bei Anm. 112. 184 Vgl. Bernhard Ahlers, Hannoversches Pfarrbuch. Kurze Beschreibung der Pfarrstellen der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Hannover 2. verbesserte Auflage 1930, S. 382, und Meyer, Pastoren, Bd. 1, wie Anm. 79, S. 489, über den Patronat von Herberhausen: »Ptr. die Besitzer des Rittergutes Harste: bis 1701 die von Gladebeck, 1701–1709 [recte: 1705] die von Bülow, 1709–1854 [recte: 1705–1851] die von Wangenheim, dann der Landesherr.« Zu Roringen Ahlers, S. 382, Meyer, Pastoren, Bd. 2, wie Anm. 148, S. 323 (nichts explizit zu 1854). 185 Kirchliches Amtsblatt für die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers 1985 Nr. 5 (26. April 1985) S. 62: Eingewiesen … als Pfarrer der Pfarrstelle der Kirchengemeinden Roringen und Herberhausen. 1994 Nr. 9 (15. Juli 1994), S. 109f.: Stellenausschreibungen (…) Roringen und Herberhausen, Kirchenkreis Göttingen-Süd[,] Präsentation (…) Bewerbungen (…) sind (…) bei Präsentation an den Patron zu richten. Ebenda, 2010 Nr. 3 (1. Juni 2010), S. 58: Stellenausschreibungen (…) 2. Pfarrstellen mit eingeschränktem Dienstverhältnis[:] Roringen und Herberhausen (0,75), Ernennung. 186 S. unten bei Anm. 223. 187 Vgl. Hans Otte, Städtische Kirchenpatronate und Geistliche Ministerien im 20. Jahrhundert. Das Beispiel des Kirchlichen Stadtbundes der Provinz Hannover, in: Sabine Arend u. a. (Hrsg.), Vielfalt und Aktualität des Mittelalters. Festschrift für Wolfgang Petke zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 48), 2. Aufl. Bielefeld 2007, S. 505–539, S. 509f. Die Verfassung trat 1922 in Kraft.

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1921 den Freiherrn von Wangenheim auf Waake, wann und auf Grund welchen Rechtstitels das bis dahin v. Wangenheimische Patronat auf die Stadt Göttingen übergegangen ist?188 Über die Geschichte des Herberhäuser Patronats bis 1851 bemerkenswert gut informiert, konnten der Adressat beziehungsweise dessen um Hilfe gebetener Vater die Frage nicht beantworten.189 Auch den Göttinger Stadtarchivar Ferdinand Wagner bat Witthaus an demselben Tag um Auskunft. Wagner gab dem Pastor am 26. August nach umständlichen Ausführungen den Bescheid: Zur Beantwortung der Frage, wann und unter welchen Rechtsgründen das Patronat der Familie von Wangenheim, welches diese noch im 19. Jahrhundert ausübte, auf den Magistrat der Stadt Göttingen übergegangen sei, hat sich im hiesigen Stadtarchive eine Akte nicht vorgefunden.190 Diese Akte konnte es gar nicht geben; denn der Patronat über Herberhausen ist der Stadt Göttingen nie verliehen worden. Vielmehr ist er ihr zugewachsen, und zwar über die erstmals 1849 und erneut 1855 abgehaltenen Kirchenvorstandswahlen, deren ordnungsgemäße Durchführung in Roringen und Herberhausen in der Hand des damaligen Pastors Böker lag. Nach § 23 des königlichhannoverschen Gesetzes über Kirchen- und Schulvorstände von 1848 war der Patron berechtigt, einen Vertreter in den Kirchenvorstand zu entsenden.191 Von diesem Recht machten der Graf von Wangenheim und der Magistrat der Stadt Gebrauch. Dabei ging Wangenheim zunächst von der irrigen Annahme aus, Roringen und Herberhausen würden eine Gemeinde sein und es wäre daher nur ein einziger Kirchenvorstand zu bilden. Da sein Patronatsrecht alterniere, und zwar, wie er abermals irrtümlich annahm, mit dem Konsistorium, schlug er am 12. Januar 1849 vor, dieses eine Mitglied des Kirchenvorstandes (…) von den beiden Patronen gemeinschaftlich zu ernennen, bat um die Namhaftmachung einer Person und Weiterleitung seines Vorschlags an das Konsistorium.192 Über seine Irrtümer vermutlich schnell aufgeklärt, hätte es nahegelegen, daß Wangenheim ein Mitglied für den Kirchenvorstand seiner Patronatskirche Herberhausen benannte und dementsprechend die Stadt ein Mitglied für den Kir188 KKA. PfA Roringen A 101 (Patronat), Orig. Brief, Bl. 1r–v. 189 Ebenda, Bl. 1v, darauf handschriftlich unter Zurücksendung an den Absender, 23. 8. 1921: Euer Hochwürden Schreiben an meinen Sohn (…). Das Rittergut Harste, ehemals als Lehen der Familien Gladebeck, Bülow und seit 1705 Wangenheim gehörig, fiel nach dem Tode des Grafen von Wangenheim 1851 heim und ist das Wangenheimsche Präsentationsrecht über Herberhausen, welches von dem Rittergut Harste dependierte, auf die Landesherrschaft damals übergegangen. 1887 ist Harste in der ritterlichen Matrikel gestrichen (…). Ob und auf welche Weise das Patronat über Herberhausen von der Landesherrschaft auf den Magistrat Göttingen übergegangen sein könnte, entzieht sich meiner Kenntnis. Soviel mir bekannt, ist dies bis zum Jahr 1875 schon geschehen. 190 StA GÖ, AHR I F Fach 12 Nr. 1, fol. 53r–58r, Zitat fol. 55v, Konzept der Antwort des Stadtarchivars Wagner v. 26. August 1921. 191 Ebhardt, Gesetze, wie Anm. 3, S. 43. 192 KKA GÖ, PfA Roringen A 131 (Kirchenvorstand), fol. 8r–v, Brief an Pastor Böker (Orig.).

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chenvorstand ihrer Patronatskirche in Roringen. Man entschied sich aber für eine kompliziertere und zugleich fehlerhafte Lösung. Am 29. Januar 1849 teilte der städtische Magistrat dem Pastor mit, daß wir in Gemäßheit des § 23 des Gesetzes vom 14ten Oktober 1848 hinsichtlich des uns zustehenden Conpatronats beschlossen haben: 1. für Roringen, den Einwohner Ludelef Behrendt; 2. für Herberhausen den dasigen Bauermeister Lockemann, beide vorerst auf ein Jahr zu Mitgliedern des Kirchen- und Schulvorstandes zu ernennen um über dessen Verwaltung im Interesse des uns zustehenden Conpatronants Kenntnis zu nehmen.193 Am 7. Mai 1849 ersetzte der Magistrat für Roringen Ludolf/Ludelef Behrend durch den dortigen Schullehrer-Adjunkten Eduard Burdorf. Wangenheim trat am 13. Mai 1849 den Nominationen Burdorfs für Roringen und Lockemanns für Herberhausen bei.194 Damit wirkte die Stadt bei der Bildung des Kirchenvorstands der Kirchengemeinde von Herberhausen mit, mit der sie bislang allenfalls zivilrechtlich, etwa bei Grundstücksangelegenheiten, zu tun gehabt hatte, und dementsprechend Wangenheim bei der Bildung des Kirchenvorstandes von Roringen. Das war durch kein Kirchengesetz gefordert, geschweige denn gedeckt. Allerdings hat selbst die jüngere kirchliche Gesetzgebung nur den Fall im Auge, daß mehreren Kompatronen der Patronat in einer Gemeinde zusteht, nicht aber in zwei miteinander verbundenen Gemeinden wie in Herberhausen-Roringen.195 Urheber dieser verschränkten Nominationen seitens der Kompatrone ist Pastor Böker. In seinem Protokoll vom 30. Mai 1849 über die Kirchenvorstandswahlen in Herberhausen hielt er fest, daß es über das patronatsseitig von Graf von Wangenheim zu benennende Kirchenvorstandsmitglied zugleich (…) einer Verständigung mit dem Compatron, der Stadt Göttingen, (bedurfte).196 Diese Verständigung war bei bei der Wahl von je eigenen Kirchenvorständen aber keineswegs erforderlich. Wahrscheinlich hatte Böker die bei der Roringen-Herberhäuser Pfarrerbestellung geltende gleichberechtigte Mitwirkung der Kompatrone – freilich durch den praktischeren alternierenden Turnus reguliert – im Sinn, als er beide zu Nominationen für den einen wie für den anderen Kirchenvorstand veranlaßte. Dieser Turnus, durch den Böker selber dank Wangenheims Präsentation auf die Pfarrstelle in Roringen und Herberhausen gelangt war, hatte offenbar bei ihm – ganz und gar pfarrstellenbezogen 193 Ebenda, fol. 10r–v, Magistrat an Böker, 29. Januar 1848 (Original). Auf den Kompatronat kommt der angezogene § 23 des Kirchengesetzes nicht zu sprechen. – Wilhelm Lockemann wurde 1800 in Wittmarshof (westlich Benniehausen) geboren und starb als Land- und Gastwirt 1865, KKA GÖ, Kirchenbuch Herberhausen 1865. 194 Ebenda, fol. 12r–13v Magistrat an Böker, 7. Mai 1849, fol. 16r–17v, Wangenheim an Böker, 13. Mai 1849 (Originalbriefe). 195 Vgl. Knoke, wie Anm. 3, S. 383f. § 15, Revisionsvorschläge Knokes von 1911/12 zur Kirchenvorstands- und Synodalordnung der ev.-luth. Kirche Hannovers von 1864. 196 KKA GÖ, PfA Herberhausen A 131.1 (Kirchenvorstandswahlen 1848–1925, incl. Wählerlisten), fol. 3r–v, Protokoll von der Hand Bökers.

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denkend – die irrige Vorstellung geweckt, daß Wangenheim auch Patron von Roringen wäre. Jedenfalls schrieb er davon im Jahre 1858.197 Böker ist also, ohne irgendwelche unlauteren Absichten zu verfolgen, mittelbar der Schöpfer des Göttinger Patronats über die Kirchengemeinde Herberhausen. Die Stadt nahm diesen Patronat bald ganz selbstverständlich wahr. Der Pastor protokollierte am 29. Mai 1855 die Wahl des schon genannten Bauermeisters Lockemann zum stellvertretenden Herberhäuser Kirchenvorstandsvorsitzenden, dessen ferneres Bleiben im Vorstande als patronatsseitiges ernanntes Mitglied bereits durch Reskript des hochlöblichen Göttinger Magistrates vom 23. April d.J. festgesetzt war.198 Möglicherweise ist Böker tatsächlich erst nach der Kirchenvorstandswahl im Jahre 1855 vom Superintendenten über das Erlöschen des Herberhäuser Patronats infolge von Wangenheims Tod unterrichtet worden.199 Gleichwohl hätte er sich fragen können, weshalb nun im Jahre 1855 – anders als 1849 – allein die Stadt den Bauermeister Lockemann für den Kirchenvorstand in Herberhausen nominierte. Wenn er dagegen wußte, daß Lockemann 1855 wegen des weggefallenen Patronats Graf Wangenheims als dessen Vertreter eigentlich nicht mehr Mitglied des Kirchenvorstands sein konnte, dann wollte er dem angesehenen Bauermeister diese scheinbare Zurücksetzung womöglich nicht zumuten und ließ den Dingen ihren Lauf. Dem Pastor Kerkow, der 1864 turnusgemäß seitens der Stadt auf die Pfarrstelle präsentiert worden war, galt deren Patronat über Herberhausen bereits als eine gegebene Tatsache. Auf einer Herberhäuser Gemeindeversammlung am 8. Januar 1865, die wegen der damals neuerlich abzuhaltenden Kirchenvorstandswahl anberaumt war, teilte Kerkow mit, daß nach dem Dienstalter zwei Kirchenvorsteher auszuscheiden hätten. Es seien dies a) der Bauermeister Lockemann als Abgeordneter für den Patron der Kirche von Herberhausen, – den Magistrat zu Göttingen. Dessen (= Lockemanns) Vollmacht lautete seit 1849 und war 1855 erneuert, b) der Tischler Christoph Grothey, seit dem 17. Mai 1855 als Ersatzmann gewählt, und am 27. März in den KVorstand eingetreten. – Für den ersteren habe der Magistrat unter dem 2. Januar 1865 die Vollmacht erneuert, und den Ortserheber Jacobsen zu dessen Ersatzmann ernannt. Bauermeister Locke197 S. oben Anm. 181. Bereits Johann Karl Fürchtegott Schlegel, Churhannöversches Kirchenrecht, Zweyter Theil, Hannover 1802, S. 240, listete unter den alternierenden Patronaten auf »Landesherr und v. Wangenheim: Roringen«, und hatte dabei offensichtlich Roringen als Pfarrsitz im Sinn. 198 KKA GÖ, PfA Herberhausen A 131.1, fol. 5v, Protokoll Bökers. – KKA GÖ, PfA Roringen A 131 (Kirchenvorstand), fol. 18r–19v, Brief des Magistrats an Böker, 23. April 1855: (…) wie wir einverstanden damit sind, daß zur Vertretung unserer Interessen als Conpatron der Kirchen zu Roringen und Herberhausen bis auf weiteres in den Kirchen-Vorstand zu Roringen der Schullehrer Adj. Burdorf und für den zu Herberhausen der Bauermeister Lockemann wiederum treten. 199 Vgl. oben bei Anm. 180.

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mann habe auch, durch Kränklichkeit an der Versammlung Theil zu nehmen behindert, im Wohnhause die ihm gewordene Vollmacht, in allen Beziehungen den Patron zu vertreten, angenommen.200 In Roringen ließ sich der Rat weiterhin durch den Lehrer Burdorf vertreten.201 Patronin der Herberhäuser Kirche ist die Stadt noch heute. Ihr Präsentationsrecht auf die Pfarrstelle Roringen-Herberhausen nahm die Stadt im Jahre 1934 nach der Emeritierung von Pastor Witthaus zum 1. Oktober 1934 bewußt nicht wahr. Als Witthaus frühzeitig, am 2. August, die Stadt auf ihr Präsentationsrecht hingewiesen hatte, schützte diese am 8. August Überbeanspruchung mit Verwaltungsgeschäften vor und verzichtete für diesmal auf die Ausübung des Präsentationsrechts.202 Das Landeskirchenamt erklärte am 21. August 1934, daß es anstelle der Stadt die Besetzung übernehme, aber erst am 28. Dezember 1935 verfügte es die Stellenfreigabe. Besetzt wurde die Pfarrstelle zum 1. Mai 1936 mit Pastor Walter Mügge.203 Die Wiederbesetzung ließ so lange auf sich warten, weil – so der Präsident des Landeskirchenamts am 3. November 1934 an den Göttinger Oberbürgermeister – die sehr grosse Zahl der unbesetzten Pfarrstellen in der Landeskirche (…) es mir zur Pflicht (macht), die verhältnismässig wenigen geistlichen Kräfte dorthin zu senden, wo sie unbedingt nötig sind. Ich hoffe aber, dass, sobald die Zahl der geistlichen Kräfte sich wieder mehrt, auch Gemeinden von der Grösse Roringens wiederbesetzt werden können.204 Die Vakanz in Roringen war der Stadt 1934/35 nicht völlig gleichgültig, wie ihre wiederholten Rückfragen nach dem Stand der Dinge belegen.205 Im Jahre 1934/35 ebenfalls neu zu besetzen war die Erste Pfarrstelle an der Göttinger Marienkirche. Die Beziehungen des Magistrats zu dieser Gemeinde waren seit längerem nicht mehr gepflegt worden. Der Vertreter des städtischen Patronats im dortigen Kirchenvorstand war seit dem Jahre 1926 nicht mehr zu den Sitzungen erschienen, die Patronatsprieche nicht mehr benutzt worden. Bei Bitten um Beihilfen hat der Hinweis auf das Patronatsverhältnis keinen Eindruck gemacht.206 Die Stadt beschloß auf ihrer Dezernentenbesprechung am 29. No200 KKA GÖ, PfA Roringen A 131, fol. 30v, eigenhändiges Protokoll von Kerkow über die Herberhäuser Gemeindeversammlung, 8. Januar 1865. 201 Ebenda, fol. 34v, eigenhändiges Protokoll von Kerkow über die Roringer Gemeindeversammlung, 15. Januar 1865. 202 StA GÖ, AHR I F Fach 12 Nr. 1 (Die Besetzung der Pfarrstellen in Roringen und Herberhausen 1812–1953), fol. 59r, Schreiben von Witthaus, fol. 60r–61r, Magistrat am 9. August an das Landeskirchenamt (Durchschlag). 203 Ebenda, fol. 62r, 64r–v. 204 StA GÖ, AHR I F Fach 12 Nr. 1, fol. 63r. 205 StA GÖ, AHR I F Fach 12 Nr. 1, fol. 63v, Wiedervorlagevermerke vom 8. November 1934, 30. März 1935, 8. Oktober 1935. Ebenda, fol. 64r–v Aktenvermerke vom 9. Januar und 15. April 1936. 206 KKA GÖ, PfA St. Marien A 101, III, Aktennotiz des im Wechsel auf die Superintendentur in Uslar begriffenen bisherigen Pastors Baring, 7. November 1934.

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vember 1934, die Neubesetzung weitgehend der Kirchengemeinde zu überlassen.207 So wählte der Kirchenvorstand aus den acht Bewerbern – sie waren alle Inhaber von auswärtigen Pfarrstellen – vier zu Probepredigten vom 24. Februar bis 24. März 1935 aus.208 Die Wahl des Kirchenvorstands fiel am 29. März 1935 auf Pfarrer Heinrich Runte, der im Juli 1933 in die SA eingetreten war in der Erkenntnis, daß sein (= Hitlers) deutscher Führer-Staat und die echte lutherische Kirche auf einander angewiesen seien und zusammengehören.209 Der Oberbürgermeister Professor Jung, dem die Besetzung der Pfarrstelle jetzt derart wichtig war, daß er sie am 5. April mit dem Regierungspräsidenten Hermann Muhs besprach210, machte sich die Entscheidung des seit den Kirchenwahlen von 1933 überwiegend mit NSDAP-Mitgliedern besetzten Kirchenvorstands zu eigen und hat am 8. Mai 1935 Runte auf die Pfarrstelle präsentiert.211 Im Umfeld der Wahl hatte Pastor Bruno Benfey, der aus jüdischer Familie stammende Inhaber der Zweiten Pfarrstelle an St. Marien, über Runte beziehungsweise dessen Vater einige unpassende Bemerkungen fallen lassen. Runtes unversöhnliche, unkollegiale Haltung bei der alsbaldigen Vertreibung von Benfey ist wiederholt geschildert worden.212 Auf die Erste Pfarrstelle an der Marienkirche präsentiert die Stadt noch heute. Die Mitarbeit Göttingens am 1925 gegründeten Kirchlichen Stadtbund der Provinz Hannover, der zum Ziel hatte, »die Eigenart des kirchlichen Lebens der Städte zu fördern und die kirchliche Freiheit der Städte zu erhalten« und somit auch ihre Patronatsrechte213, scheint nicht sehr ausgeprägt gewesen zu sein. Zu den sechs Städten, die am 7. Mai 1930 auf der Osnabrücker Vertreterversammlung einen dort auch angenommenen Vergleichsvorschlag zur Besetzung von Pfarrstellen an Kirchen unter städtischem Patronat einbrachten214, gehörte 207 StA GÖ, AHR I F Fach 9 Nr. 2 Bd. 1 (Übertragung des Patronats der St. Marienkirche auf die Stadt 1874–1950), fol. 31r. 208 Ebenda, fol. 52r, die Bewerbungsschreiben fol. 36r–49r. 209 Ebenda, fol. 43r, Bewerbung Runtes vom 27. 1. 1935, fol. 58r, Kirchenvorstand an den Oberbürgermeister, 29. März 1935. Gerhard Lindemann, »Typisch jüdisch«. Die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919–1949 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung 63), Berlin 1998, S. 349 (mit falsch ein deutscher Führerstaat). 210 Lindemann, S. 357. 211 StA GÖ, AHR I F Fach 9 Nr. 2 Bd. 1, fol. 61r, Oberbürgermeister an Landeskirchenamt (Durchschlag). 212 Lindemann, wie Anm. 209, S. 347ff., 359ff., 376ff., 409, 415ff., 427–441. Hans Otte, Geschichte der Kirchen, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3. Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866–1989, Hrsg. von Rudolf von Thadden und Günther Trittel unter Mitwirkung von Marc-Dietrich Ohse, Göttingen 1999, S. 591–673, hier S. 639–645. 213 Otte, Städtische Kirchenpatronate, wie Anm. 187, S. 512–520, Zitat S. 516. 214 Dritte öffentliche Tagung des Kirchlichen Stadtbundes der Provinz Hannover e.V. am 6. und 7. Mai 1930 in Osnabrück, (Berlin) (1930), S. 7 (SUB Göttingen, Signatur: 80 H. Hann. I,

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Göttingen nicht. Einen am 9. Dezember 1932 verschickten Fragebogen des Bundes zu städtischen Patronatskirchen beantwortete Stadtarchivar Ferdinand Wagner erst auf eine Erinnerung vom 2. Februar 1933 schließlich am 11. Februar, und das lustlos und ungenau.215 Indifferenz gegenüber der Wahrnehmung städtischer Kirchenpatronate, die jederzeit in eine brutale Intervention umschlagen konnte, artikulierte der Goslarer Oberbürgermeister Heinrich Droste auf einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft für Verwaltungsfragen der hannoverschen Stadtkreise am 18. Januar 1939: Im allgemeinen Kirche allein wursteln lassen, aber nicht auf Recht verzichten. Wenn der zur Berufung vorgesehene ein schräger Vogel ist dann eingreifen.216 Wohl Oberbürgermeister Jung hat dann in einer Protokollnotiz über besagten Punkt kultivierter, aber nicht weniger deutlich formuliert: Man war der Auffassung, daß man nicht unmittelbar in die Kirchenverhältnisse eingreifen, anderseits aber auch nicht auf die der Gemeinde (= Stadtgemeinde) zustehenden Patronatsrechte verzichten solle. Es wird empfohlen, Zurückhaltung zu üben, dabei aber ständig zu prüfen, ob irgendwelche Maßnahmen getroffen werden, die als staatsfeindlich anzusehen und zu verhindern sind. gez. Dr. Jung.217 Nach dem Zweiten Weltkrieg präsentierte die Stadt auf die Pfarrstelle in Roringen-Herberhausen 1952 den Licentiaten Günther Böhme, seinerzeit Pastor in Kerstlingerode, der jedoch wegen Auseinandersetzungen mit der Kirchengemeinde Roringen über den Zustand des Pfarrhauses mit Billigung des Landeskirchenamtes seine Bewerbung 1953 zurückzog, obwohl das Besetzungsverfahren bereits lief.218 An seiner Stelle präsentierte die Stadt am 10. September 1953 dem Landeskirchenamt Pfarrer Johannes Schiller (1914–1985); dieser wurde am 18. Oktober 1953 in sein Amt eingeführt, wobei sich Oberbürgermeister Föge durch den Stadtschulrat Buchheim vertreten ließ.219 Schiller verstand es sehr gut, die Stadt als Patronin in die Pflicht zu nehmen und sie gelegentlich zu Leistungen an die Kirchengemeinde Herberhausen zu bewegen. An den Kosten der ersten

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9918:3). Es handelte sich um Bockenem, Celle, Einbeck, Hildesheim, Peine, Stade und Uelzen. StA GÖ, AHR I F Fach 9 Nr. 2 Bd. 1, fol. 22r–v (Konzept), 24. Die Frage 3 nach der Vertretung der Stadt in Kirchenvorständen beantwortete er falsch mit vacat. Roringen-Herberhausen erwähnt er überhaupt nicht. Das Präsentationsrecht auf St. Marien war in dem ausgegangenen Schreiben – kein Durchschlag in der Akte – zu einem »Ausschlagungsrecht« gemindert worden, s. die korrigierende Aktennotiz aus der Verwaltung an Jung vom 4./5. Mai 1935, ebenda, fol. 57r. StA GÖ, AHR I F Fach 2 Nr. 4, fol. 10r, Aktennotiz von nicht identifizierter Hand. Es handelt sich nicht um diejenige von Oberbürgermeister Jung, vgl. dessen handschriftliche Aktennotiz z. B. in StA GÖ, AHR I F Fach 9 Nr. 2 Bd. 1, fol. 32v, 8. Februar [1935] oder StA GÖ, Dep. 77 II Nr. 18, Prof. Jung, Tagebücher und Erinnerungen. StA GÖ, AHR I F Fach 2 Nr. 4, fol. 9r. StA GÖ, AHR I F Fach 12 Nr. 1, fol. 66, 77, 80. Ebenda, fol. 88 (Durchschlag), 93r–v (Aktenvermerk vom 20. 10. 1053).

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Frühe Neuzeit

Erweiterung der Kirche im Jahre 1958 beteiligte sie sich mit einem namhaften Betrag.220

7.

Zusammenfassung

Wie eingangs bemerkt, hat die Stadt Göttingen noch heute drei Kirchenpatronate inne. Vom seit der Reformation angestrebten Patronat über St. Marien erwarb sie 1670 den alternierenden und 1875 den ganzen Patronat. An den alternierenden Patronat über Roringen und Herberhausen gelangte sie 1803, als sie auf ihren alternierenden, seit 1773 innegehabten Patronat über St. Albani zugunsten von Landesherr und Konsistorium verzichten mußte. Nachdem der Herberhäuser Patronat mit dem Tod von Georg Graf von Wangenheim 1851 erloschen war, wäre ihr Patronat nur noch auf Roringen zu beschränken gewesen. Durch die bei den Kirchenvorsteherwahlen von 1849 und 1855 vollzogenen Ernennungen wuchs ihr der Patronat auch über Herberhausen aber in praxi zu. Ob er heute etwa kraft erwerbender Verjährung als bestehend angesehen werden muß, wäre eine vom Juristen, nicht vom Historiker zu beantwortende Frage. Daß die Stadt in die Kirchenvorstände von Roringen und St. Marien je einen Vertreter entsendet, ist dagegen ihr unstrittiges Recht seit über 150 Jahren. Nach § 2 Abs. 1 des Pfarrstellenbesetzungsgesetzes der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers von 1996 werden Pfarrstellen jeweils im Wechsel aufgrund einer 1. Ernennung durch die Landeskirche, 2. Wahl durch die Kirchengemeinde besetzt, soweit nichts anderes unter anderem in § 37 bestimmt ist. Der § 37 Abs. 4 verpflichtet den Patron oder die Patronin, das Präsentationsrecht im Einvernehmen mit dem Kirchenvorstand wahrzunehmen.221 Wenn ein Einvernehmen auch über eine weitere Nomination nicht erreicht wird, besetzt die Landeskirche nach Abs. 4 Satz 3 die Stelle durch Ernennung. Daß die patronatsseitige Präsentation, die Ernennung durch die Landeskirche und eine originäre Gemeindewahl einander abwechseln, ist derzeit von keinem Kirchengesetz vorgesehen. Dagegen hatte noch im Jahre 1949 der von der hannoverschen Landeskirche vorgelegte Entwurf eines Kirchengesetzes über den Patronat in § 9 und in § 40 Abs. 1 die patronatsseitige Präsentation in ihrem Verhältnis zur Gemeindewahl im Auge, die seit 1870 beziehungsweise 1924 in der Landeskirche eingeführt ist. Nach § 9 Abs. 1 a) dieses Entwurfs sollten Präsentation und Gemeindewahl alternieren. Der § 40 Abs. 1 b) sah eine Regelung vor, wie sie auf Herberhausen und Roringen anzuwenden gewesen wäre, wenn man Herber220 PfA Roringen, Akte He R 512, Schreiben Schillers an die Stadt, 19. Juli 1958, 18. Oktober 1958 (Durchschläge). 221 Kirchliches Amtsblatt für die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers 1996, S. 13ff.

Kirchenpatronate in städtischer Hand: Göttingen

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hausen seit 1851 richtigerweise als patronatsfrei geführt hätte: Ist die Pfarrstelle der Pfarrsitzgemeinde die Patronatspfarre und ist die verbundene Muttergemeinde patronatsfrei, so wird die Pfarrstelle abwechselnd einmal auf Grund patronatsseitiger Präsentation, das andere Mal durch den Landesbischof, das dritte Mal durch Wahl der Kirchengemeinde besetzt.222 Wie seit 1870 gesetzlich bestimmt, findet in Patronatspfarreien der hannoverschen Landeskirche eine Gemeindewahl nicht statt.223 Bei einvernehmlichen Besetzungen nimmt daran verständlicherweise auch niemand Anstoß. Den Mediävisten erfreut es allerdings keineswegs, daß eine ehrwürdige mittelalterliche Rechtsfigur wie der Patronat das von der Landeskirche den Gemeinden prinzipiell zugestandene alternierende Pfarrerwahlrecht in Patronatspfarren nicht zum Zuge kommen läßt; denn das freiheitliche Pfarrerwahlrecht hatten ebenfalls im Mittelalter – vornehmlich im 12./13. Jahrhundert – zahlreiche Pfarrgemeinden schon einmal errungen, und zwar in Gestalt des Gemeindepatronats als Folge der genossenschaftlichen Stiftung einer eigenen Kirche.224

222 StA GÖ AHR I F Fach 9 Nr. 2 Bd. 1 fol. 79r–81v, Landeskirchenamt in Hannover an Stadt Göttingen, 8. Oktober 1949, Anlage. Zur alternierenden Gemeindewahl der Pfarrer seit 1870/ 1924 s. das Kirchengesetz betreffend die Wahlen der Pfarrer vom 22. Dezember 1870, Gerhard Uhlhorn, Heinrich Franz Chalybäus, Kirchengesetze der evangelisch-lutherischen Kirche der Provinz Hannover nebst den zu deren Ausführung erlassenen Verordnungen, Bekanntmachungen und Ausschreiben aus den Jahren 1865 bis 1886, Hannover 1886, S. 110 § 1. Johannes Meyer, Kirchengeschichte Niedersachsens, Göttingen 1939, S. 226. HansWalter Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 2. Vom Deutschen Bund 1815 bis zur Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland 1948, Göttingen 1996, S. 368, 567. 223 Uhlhorn, Chalybäus, Kirchengesetze, wie Anm. 222, S. 112 §2. Die Besetzung kraft patronatsseitiger Präsentation ohne alternierendes Pfarrerwahlrecht war durch § 1 der Verordnung der Kirchenregierung betreffend die Aufhebung besonderer Besetzungsrechte am 25. 10. 1938 bestätigt worden, Kirchliches Amtsblatt für die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers 1939, S. 115 (freundlicher Hinweis von Hans Otte, Hannover). 224 Vgl. Kurze, wie Anm. 22, S. 144–206, 325–340.

Aus erheblichen Ursachen? Die Verbindung der Kirchengemeinden Herberhausen und Roringen im Jahre 1613 und der Pastor Andreas Variscus*

Vor Christoph Seelers Haus in der Roten Straße in Göttingen traf am 7. September 1613 Pastor Andreas Variscus auf eine Gruppe von vier Männern: auf Andreas Grothey und Hans Guntter aus Herberhausen sowie auf Claus Beulcke und Hans Jordan aus Roringen.1 Von letzterem wurde er geziemend gegrüßt und dann gefragt, ob er nicht mit ihnen zechen gehen wolle. Der Pastor lehnte ab und verhielt sich damit standesgemäß; denn vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit war Klerikern der Wirtshausbesuch außer auf Reisen mit Rücksicht auf ihr Ansehen untersagt.2 Der Gruppe, die nun allerdings keineswegs einkehrte, son-

* Erstveröffentlichung in: Göttinger Jahrbuch 61 (2013) S. 67–102. 1 Die Groteheines/Grothein/Grotheys sind seit dem 15. Jh. vielfach in Herberhausen bezeugt, Butt, 2012, S. 592 (Register); Andreas Grothey und Hans Guntter waren unter den Herberhäusern, die am 14. Mai 1613 zu einer Anhörung über die Union der Pfarrgemeinden Roringen und Herberhausen erschienen waren, Hauptstaatsarchiv Hannover (künftig: HStAH), Hann. 83 III Nr. 621, Pfarrbestallungen Roringen und Herberhausen, fol. 251v, vgl. unten bei Anm. 122. Die Roringer Herkunft des Hans Jordan und des Claus Beulcken ergibt sich aus der im Folgenden angeführten (ergänzenden) Klageschrift. Die Beulicke/Bolicken sind im 15. Jh. oft in Roringen genannt, Butt, 2012, S. 579 (Register). Claus Beulcken hatte 1612 von der Roringer Kirchenfabrik ein Darlehen von 6 Talern und zahlte 9 Groschen an Zinsen, Kirchenkreisarchiv Göttingen (künftig: KKA GÖ), Pfarrarchiv (PfA) Roringen, I,1 (Kirchenrechnungen), fol. 50v. – Herberhausen und Roringen liegen östlich der (Alt)Stadt Göttingen hinter dem Hainberg, den man durch das Albanitor erreichte. Herberhausen wurde 1963 nach Göttingen eingemeindet, Roringen 1973. 2 Admonitio generalis Karls des Großen, 2012, S. 190f. Nr. 14: […] praecipitur, ut monachi et clerici tabernas non ingrediantur edendi vel bibendi causa (… wird vorgeschrieben, daß Mönche und Kleriker Gaststätten nicht zum Essen oder Trinken betreten). Wohlmuth, 2000, S. 243 (Lateran IV von 1215, c. 16): Clerici […] tabernas prorsus evitent, nisi forte causa necessitatis in itinere constituti (Kleriker … Gasthäuser meiden sie generell, es sei denn, sie sind auf Reisen auf sie angewiesen). Kehrberger, 1938, S. 12 (Provinzialstatuten des Mainzer Konzils v.J. 1310, III,41): De vita et honestate clericorum […] Tabernis, nisi in itinere, choreis et spectaculis non intersint (Über Leben und Wandel der Kleriker … von Tavernen, es sei denn auf der Reise, von Tänzen und Schaustellungen sollen sie sich fernhalten). Vgl. die Grubenhagener Kirchenordnung von 1581, Sehling, 1957, S. 1045: Und sollen hiermit alle krüge und offne tabernen unsern predigern und schuldienern, darinne zu zechen und unter andern bier- und

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Frühe Neuzeit

dern sich auf den Nachhauseweg machte, folgte er bis vor das Albanitor, tauschte dort auch mit Claus Beulcke einen Gruß, überholte die Leute und ging mit Andreas Grothey gegen den Hainberg voran, aber so, daß er die Unterhaltung der Männer in seinem Rücken verstehen konnte. So hörte er Beulcke aus Roringen den Herberhäuser Guntter fragen, ob er Andres ihr Pape (ob Herr Andreas ihr Pfaffe wäre), und Guntter antworten, ehr wer ihr beider Pastor (er wäre ihrer beider Pastor), worauf wiederum Beulcke sagte, Herr Andreas were nicht mehr ihr Pape zue Roringen, sondern wer Pape zu Herberhausen. Auch sei es wahr, so der Gewährsmann, das animus injuriandi (die Absicht zu beleidigen) in diesen Wortten bey beclagtem (= Beulcke) sich nicht allein zimlich mercken lassen, sondern starck verrathen. Der Gewährsmann ist in diesem Fall der Pastor Andreas Variscus selber. Seit dem Jahre 1606 amtierte er in Roringen. Vor dem 22. September 1613 bat er den Göttinger Rat und die Vogtherren, also jene beiden Ratleute, die seit dem späten 14. Jahrhundert primär in den Stadtdörfern Roringen und Herberhausen in Vertretung des Rats als Gerichtsherren fungierten3, den schon genannten Hans Jordan aus Roringen über 37 von ihm, Variscus, als Kläger eigenhändig aufgeschriebene, ergänzend angeführte Punkte als Zeugen seiner Beleidigungen durch Claus Beulcke zu vernehmen.4 Denn Pastor Variscus hatte sich an jenem 7. September noch mehr anhören müssen. Während Hans Guntter sich vor dem Hainberg jetzt etwas abseits hielt, fingen Claus Beulcke und Hans Jordan an, ihrem Pfarrer ein famos Liedt (Schmählied)5 von ›Papen, Frawen, ein Thuen‹ – und ›Der Pape fahr zum Fenster auß‹ nachzusingen, und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder zu Schimpf und Spott […] – ad nauseam usque (bis zum Erbrechen).6 Zufolge den Äußerungen des Variscus war dieser Gesang eine Kontrafaktur des Spottliedes Es hatt ein Bawr sein fraw verloren7, einem seit dem

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weingesten zur schmach und nachtheil des heiligen predigampts zu sitzen, simpliciter und ernstlich verbotten sein. Butt, 2012, S. 183–185, 237–240. Stadtarchiv Göttingen (künftig: StA GÖ), AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, Stadtdörfer Herberhausen und Roringen (1514–1738), fol. 76r–78v (Autograph), hier fol. 76r-v, Nr. 9–12. Diese Klageschrift mit ergänzenden Artikeln (fol. 78v: Articuli Additionales / Cum denominatione testis, / in Causa injuriarum / Ehrn Andreae Varisci pastoris zu Roringen / und Herberhausen / contra / Claws Beulcken zue Roringen frevent / lichen Injurianten etc.) ist undatiert, trägt aber den Präsentationsvermerk der städtischen Kanzlei vom 22. September 1613, s. Abb. 1. Vgl. Deutsches Rechtswörterbuch 3, 1938, Sp. 418 ›Famosbuch‹, ›Famosschrift‹. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, fol. 76v–77r, Nr. 14–16. Ebenda, fol. 77r, Nr. 18: … hatt Zeuge geantworttet, und noch also wolgethan dazu gelächlet, Sie hetten Herrn Andres was vorm Heinberge nachgesungen ›Es hatt ein Bawr sein fraw verloren etc.‹, Item ›Der Pape sach zum fenster auß etc.‹ … Nr. 19: War das sölches nicht das alte Liedt, sondern ein Neues famos Liedt itz newlich von Zeugen (= Hans Jordan) und beclagtem Beulcken sampt seinem adhaerentem, Beulckens seines weibs halber, Ern Andreae zu Schimpff gemacht,

Die Kirchengemeinden Herberhausen und Roringen 1613

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15. Jahrhundert über fliegende Blätter verbreiteten Text über die Unkeuschheit der Pfarrer.8 Mit ihr nahmen die beiden Männer den Umgang des Variscus mit Beulckes Hausfrau offenbar anzüglich aufs Korn. Vom Pastor befragt, was die Singerei solle, hat Beulcke darauff Ern Andreae ganz gifftig und injuriose (beleidigend) geantworttet, er hette ihm sein Weib entfuhret. Das nun war barer Unsinn. Denn offensichtlich war Beulckes Ehe vor geraumer Zeit geschieden worden, woran Variscus von Amts wegen beteiligt gewesen war. Die Güteverhandlungen bei Ehescheidungen fanden vor dem Superintendenten und dem Amtmann statt, die Hauptverhandlung vor dem Konsistorium in Wolfenbüttel.9 Vor fünf Jahren, am 1. Oktober 1607, war ebendort die Ehesache eines freilich nicht mit Namen genannten beklagten Roringers, der sein Eheweib nach wie zuvor ubel halten sol, verhandelt und Akteneinsicht beschlossen worden, damit zur Sachen weiter gethan und dem Ergernis gewehret werde.10 Bei dem damaligen Beklagten wird es sich um Beulcke gehandelt haben. Variscus beteuerte in seiner Klageschrift an den Rat und an die Vogtherren, er hätte auf den massiven Vorwurf des Beulcke diesem geantwortet, daß das, was er im Blick auf dessen Frau getan hätte, seines Amtes, überdies auf Bitten und ferner auf Befehl des Generalsuperintendenten geschehen wäre.11 Darauf steigerte sich Beulcke noch weiter in seine Wut hinein und hat kegen Ern Andream mit Scheltten, Schmehen und Injuriiren von loßen, schelmischen und H(e)urenpapen allen seinen Giftt gar außgoßen.12 Das war stark! Denn der Heuerpfaffe, der Mietling (mercennarius),

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oder so etlicher Verse und Wörter geandert, und andere famos Wortte hinzu und in die Stette gesetzt, den die Wort ›Pape Bawr‹ in ›Der Pape fahr zum Fenster aus‹ in jenem altten Liede nicht stehen. – Bereits aus Verachtung wurde ein Pfarrer 1640 in Roringen-Herberhausen Pape (Pfaffe) genannt, Brief des Pastors Christan Meyer von 1640, Kayser, 1906, S. 198 Anm. Erk; Böhme, Bd. 1, 1893, S. 493–495 Nr. 154: Das Pfaffenschandlied / Es hatt’ ein Baur sein Frau verlorn, / Er kunnt sie nimmer finden. / Er klopfet an den Pfarrhof an: / Habt ihr mein Fräulein drinnen? / Habt ihr mein Fräulein eingethan, / So laßt mir sie wieder heraußer gahn; / Laßt aus, laßt aus! / Ich darf ihr selber im Haus. Für den Nachweis des elf Strophen zählenden Textes und seiner zwei Melodien danke ich Martin Staehelin. – Als schandt Hu˚rnlied oder Pfaffenliedlein offenbar weit bekannt, regte es im 16. Jh. zu konfessionell-polemischen Kontrafakturen sogar von katholischer Seite an, vgl. Körner, 1840, S. 247f. Nr. 29, S. 251 Nr. 30. Vgl. Müller-Volbehr, 1973, S. 273–281. Zum mit der Kirchenordnung von 1569 eingerichteten Braunschweig-Wolfenbüttler Konsistorium s. Krusch, 1894, S. 101–106, 117–122. Dettmer, 1922. Sehling, 1955, S. 210–214. Albrecht, 2010, S. 463–475. HStAH, Hann. 83 IV Nr. 18, Konsistorialprotokolle 19. März 1606-Juli 1607, fol. 165v. Auf die Bedeutung der Wolfenbüttler Konsistorialprotokolle – im Folgenden zum größeren Teil in HStAH, Cal. Br. 21 – für mein Thema bin ich durch Dr. Arne Butt, Göttingen, aufmerksam geworden, wofür ich ihm sehr danke. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, fol. 77v, Punkt 27: […] darumb ehr nemlich theilss gebethen, theils auch ihm vom Generale befohlen worden. Der Generalsuperintendent für das Land Göttingen war damals der von 1600 bis 1608 in Uslar residierende Magister Johannes Sötefleisch, Meyer, Bd. 2, 1942, S. 447. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, fol. 77v Nr. 28. Die Lesung lautet bei verkümmertem u eher Heurenpapen als Hurenpapen. Nach freundlicher Mitteilung von Dr. Maik

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ist ja nicht der gute Hirte, sondern nur der Lohnarbeiter, dem an den Schafen – das sind nach kirchlichem Verständnis die Pfarrkinder – nichts liegt.13 Endlich forderte Beulcke den Pastor sogar auf, sich mit ihm zu prügeln. Das hat Variscus freilich abgelehnt, anzeigende, wie ihm sölches nicht gezieme, sein Ehr und Ambt auch nicht zuließe.14

Titel der ergänzenden Klageschrift des Pfarrers Andreas Variscus gegen Claus Beulcke, vor 1613 September 22, StA GÖ, s. Anm. 4, Autograph.

Es ging an jenem Tag auf dem Herberhäuser Stieg also hoch her.15 Aber Grobianismus und Gewalttätigkeit waren im 17. Jahrhundert an der Tagesordnung. Lehmberg, Niedersächsisches Wörterbuch Göttingen, muß aber der Umlaut gar nicht durch e bezeichnet sein, um von einem huren = »heuern« auszugehen. Der Wechsel von -er- zu -re- im Wortinnern ist in den jüngeren niederdeutschen Mundarten Niedersachsens verbreitet. Zu Heuerpfaffe (hûrpape) s. Schiller; Lübben 2, 1876, S. 336f. Nach dem Kontext könnte Hurenpape freilich auch den »Hurenpfaffen«, vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 10, Sp. 1963, meinen und wäre dann eine weniger subtile Schmähung. 13 Vgl. Joh. 10,12–13. 14 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, fol. 78r Nr. 29, 30. 15 Die Wege nach Roringen und Herberhausen teilten sich oberhalb der westlichen Abbruchkante des Hainbergs, etwa im Bereich etwas südlich der heutigen Rohnsterrassen. Vgl. den Plan von Mattheus Seutter von 1748 bei Fahlbusch, 1952, Karte 3. Butt, 2012, S. 172, 221.

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Der Pfarrer zu Klein Schneen hatte 1607 im Zorn die Frau des Küsters geschlagen sowie einen alten Mann draußen auf dem Felde.16 Auch ist der zutage tretende mangelnde Respekt gegenüber dem Pfarrer kein Einzelfall. Christian Meyer, seit 1628 Pastor in Roringen und dann auch in Herberhausen17, beklagte unter anderem die fehlende Ehrerbietung seiner Pfarrleute in einem Bericht vom Mai 1640: In Hochzeiten dürffen junge Bengel ufftreten und mich ohne eintzige gegebene ursach schendtlich schelten und mit glesern zu werffen drewen.18 Drei Männer aus Meensen, darunter zwei Kirchenälteste, bedrohten 1646 ihren Pfarrer in seiner Behausung, weil er die tägliche Kinderlehre der Fastenzeit in die Morgenstunde verlegt hatte.19 Bemerkenswerter ist, daß der Streit am Hainberg entbrannte, nachdem Variscus vor gerade einmal zwei Tagen, am 7. September, als Pastor auch von Herberhausen eingeführt worden war.20 Claus Beulcke war es offenbar ein Ärgernis, daß der Pastor nunmehr in das Herberhäuser Pfarrhaus umgezogen war oder im Begriff stand, das zu tun – jedenfalls hatte Variscus das Roringer Pfarrland und das Roringer Pfarrhaus bereits am 22. Februar 1613 an Lorenz Meier aus Barlissen vermeiert21 –, die Roringer Pfarrei nun von Herberhausen aus versehen werden würde und somit vom Pastor gewissermaßen verlassen worden war. Das katholische Kirchenrecht hatte spätestens mit dem Vierten Laterankonzil von 1215 die Häufung zweier oder mehrerer Seelsorgestellen in einer Hand verboten, aber zahlreiche Wege gefunden, die Pfründenjäger von diesem Verbot zu dispensieren.22 Auch das evangelische Konsistorium in Wolfenbüttel konzedierte mit der nunmehrigen Verbindung der Pfarreien Herberhausen und Roringen eine Pfründenkumulation, und zwar in diesem Fall aus erheblichen Ursachen.23 Daß dieser unbestimmte Rechtsbegriff hier lediglich dazu diente, dem Drängen des Andreas Variscus auf ein höheres Einkommen stattzugeben und dieses Insistieren zu kaschieren, soll auf den folgenden Seiten gezeigt werden. Das geschieht in der Hoffnung, daß das eine oder andere Detail dem so quellenkundigen Jubilar vielleicht doch neu sein könnte. 16 17 18 19 20 21

HStAH, Hann. 83 IV Nr. 18, fol. 286r (19. März 1607). S. unten bei Anm. 209. Kayser, 1906, S. 198 Anm. Vgl. Günther, 2000, S. 311. Kayser, 1906, S. 157 Anm. S. unten bei Anm. 140. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, fol. 80r–81v, Meiervertrag vom 28. Juni 1617 (Abschrift): Ich untenbenannter, itziger Zeit verordneter Pfarher zu Roringen undt Herberhausen, thue kundt und bekenne hiermitt, vor mich, meine Erben und Nachkommen in der Pfarre Roringen, demnach ich in verschienem 1613ten Jahre zue Cathedra Petri (22. Februar) Lorentzen Meyern, von Bardelssen, vier Hufen arthaftiges Landes, zu der Pfarr Roringen gehörig samt der Pfarr wohnung undt Wiesenwachs von dato an sechs Jar lang nach Meyerstatts arts und gewonheit, dienst- und zehntfrey vermeyert. 22 Vgl. Hinschius, 1883, S. 249, 253. Ulbrich, 1998, S. 30. 23 S. unten bei Anm. 128.

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1.

Frühe Neuzeit

Herkunft des Variscus, Pastor in Hilwartshausen, Versetzung nach Roringen

Andreas Variscus ist nicht als Verfasser gelehrter Schriften hervorgetreten. Seine Profession war, wie hier nur angedeutet werden kann, mehr das Libelliren24, so daß seine Lebensumstände aus den für einen Landpfarrer damaliger Zeit allerdings bemerkenswert zahlreichen Spuren zusammenzutragen sind, die er in den Archiven hinterlassen hat. Da er sich im Sommersemester 1593 als Variscus Andr(eas) Westerh(usanus) immatrikulierte, und zwar an der Universität Leipzig25, dürfte er um das Jahre 1576 geboren sein. In der Regel nahmen die Studenten um das 17. Lebenjahr das Universitätsstudium auf.26 Dem Examen unterwarf er sich am 16. September 1598 vor der Helmstedter Theologischen Fakultät. Damit ist aber nicht gesagt, daß er auch in Helmstedt studiert hätte;27 denn die Prüfung wurde von der Fakultät anstelle des seit 1569 bestehenden Wolfenbüttler Konsistoriums abgenommen.28 Ordiniert wurde er auf die Pfarrei am Augustinerchorfrauenstift Hilwartshausen an der Weser, von wo er wahrscheinlich auch die unter Stiftspatronat stehende Kapelle in Gimte mit versah.29 Gebürtig war Variscus aus Westerhausen in der seit 1599 welfischen Grafschaft Blankenburg-Regenstein. In Westerhausen ist die Familie Voigtländer, deren Namen unser Pastor spätestens anläßlich seiner Leipziger Immatrikulation in Humanistenmanier latinisiert hat – Variscia nannten die Lateiner das sächsischbayerische Vogtland30 –, seit dem 16. Jahrhundert bezeugt. Verschiedene Familienangehörige haben studiert. Ein Andreas Voigtländer war 1616 Richter und Führer des Westerhäuser Landwehraufgebots;31 der Grabstein von dessen mutmaßlichem Sohn, dem ebenfalls juristisch gebildeten Andreas Voigtländer († 1674) hat sich an der Ostwand der Westerhäuser Kirche erhalten.32 Auch unser 24 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 77, fol. 19r–44v, umfängliche Replik des Variscus auf die Einlassungen seines Meiers wegen der Pfarrhufe in Roringen, 25. Oktober 1618, hier fol. 19r: Er konnte wegen der Erntezeit Schreibens undt Libellirens am ubelsten pflegen. Zu Libelliren = Klageschriften verfassen, vgl. Zedler, Bd. 15, 1737, Sp. 857. Oberländer, 1753, S. 443. 25 Erler, 1909, S. 480. 26 Vgl. die Beamtenbiographien bei Samse, 1940, S. 170 Nr. 74, 75, 77, S. 172f. Nr. 81, 84, 86. 27 Vgl. Zimmermann, 1926, S. VIf. 28 Sehling, 1955, S. 7, 210–214. Dettmer, 1922, S. 35. 29 Zimmermann, 1926, S. 139 Nr. 19: Andreas Variscus Westerhusanus in coenobio Hilwardeshusano. Vgl. Ph. Meyer, Bd. 1, 1941, S. 319. von Boetticher, Hilwartshausen, in: Niedersächisches Klosterbuch 2, 2012, S. 804. 30 Vgl. Zedler, Bd. 50, 1746, Sp. 321–326. 31 Studtmann, 1971, S. 123f. 32 Feicke; John, 1998/1999, S. 3. Präzisierend Feicke, 2006/2007, S. 14–17. Herrn Dr. Feicke, Westerhausen, danke ich für die Übersendung von Kopien dieser Beiträge. Vgl. auch Feicke, 2006, S. 248, 251. – Ein Andreas Voigtländer aus Westerhausen immatrikulierte sich 1606/1607

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Pastor wird einige Semester Rechtswissenschaften studiert haben, da er sich in seinen Schriftsätzen oft und gern juristischer Termini bediente. Der Taufname Andreas scheint um 1600 geradezu der Leitname seiner Familie gewesen zu sein, deren Zweige damals auf je einem Freihof in Westerhausen lebten.33 Im Alter von nur etwa 22 Jahren trat Variscus 1598 seine erste Pfarrstelle an. Auf ihr bewies der gar junge Prediger keine glückliche Hand. Jedenfalls war er im Jahre 1606 in Hilwartshausen nicht mehr zu halten. Bereits zum zweiten Mal mußte er am 27. November 1606 vor dem herzoglichen Konsistorium in Wolfenbüttel erscheinen.34 Dort hielten ihm die Räte des Herzogs Heinrich Julius vor, er habe, obwohl bereits schon einmal vermahnt, erneut von der Kanzel herab geeifert und geschmäht und dabei vor den Stiftsfrauen in Anwesenheit der Mägde und Kinder von Buben und Huren gesprochen, ja die Chorfrauen selber als Huren bezeichnet.35 Auch wenn er ein eifriges Herz und Gemüt besäße – Schelten und Schmähen geziemten sich für einen Prediger nicht. Variscus räumte ein, er hab gehört was ihm angezeiget, sein Eiffer von Huren und sonsten belangend, hab er etwas davon ratione textus (des Textes halber) gesagt und geschmehett, sei von Leuten darin verleitet, womit er aber die Closterjungfern nicht gemeinet, dafur sol ihn Got behuten.36 Aber ihm schwahnte, daß er den Bogen überspannt hatte, bat um Verzeihung und war einverstanden, daß er vom Konsistorium auf die Pfarre in Roringen transferiert wurde. Der Zustand dieser Pfarre, die seit der Säkularisation des Prämonstratenserstifts Pöhlde (um 1533) unter landesherrlichem Patronat stand37, war nicht gut. Der bisherige Pastor Daniel Quentin war nach nur drei Jahren soeben nach Parensen gewechselt.38 Das Pfarrhaus war unbewohnbar, weshalb das Konsistorium dem Nachfolger zu einer Mietwohnung bei der Erbsmüllerin verhelfen wollte; der Pfarracker war – so das Bedenken des Variscus – so bös, daß sich kein Meier finden würde.39 Es half nichts. Vom Konsistorium bekam er den Rat mit auf den Weg, er brauch glimpff (Mäßigung) und gute Freunde. Damit kombt er viel weiter als sonst mit Verbitterung. Habe (= halte) er sich wol, sol er in bessern

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in Helmstedt und ein Heinrich Voigtländer aus Westerhausen 1623, Zimmermann, 1926, S. 191 Nr. 91f., S. 298 Nr. 87. Feicke 2006/2007, S. 14. HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1972, Geschäftstagebuch, fol. 285v (27. November 1606) Tagesordnungspunkt 5: Andreas Variscus. HStAH, Hann. 83 IV Nr. 18, fol. 26v: auf der canzel wieder geeiffert […] von huren und buben umb sich geworffen. Ebenda, fol. 27r. Max, Bd. 2, 1863, S. 168f. Waldemar Könighaus, Pöhlde, in: Niedersächsisches Klosterbuch 3, 2012, S. 1256–1258. Meyer, Bd. 2, 1942, S. 323. HStAH, Hann. 83 IV Nr. 18, fol. 28v–29r.

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Frühe Neuzeit

Ort kommen.40 Variscus wurde also strafversetzt, aber mit der Aussicht auf Veränderung! Kurioserweise verspielte auch sein Hilwartshäuser Nachfolger wegen seiner Predigten binnen kurzem seinen Kredit bei den Hilwartshäuser Chorfrauen. Resigniert bemerkte 1607 der herzogliche Rat Dr. Johann Molinus: Hab gemeint der vorige (= Andreas Variscus) taug nicht, dieser (= Christian Köhnen) taug noch weniger.41 Gemäß der Kirchenordnung des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel von 1569 hatte der auf eine Pfarre präsentierte bereits ordinierte Geistliche vor der Gemeinde und in Anwesenheit eines Vertreters des weltlichen Regiments eine Probepredigt zu halten. Wenn keine begründeten Einwände gegen Lehre und Wandel erhoben wurden, erteilte die Gemeinde im Beisein eines Vertreters des örtlichen Gerichtsherrn die Berufung (Vokation), der sich sofort oder alsbald die Einführung (Immission) anschloß.42 Die Roringer Gemeinde war mit der Vorstellung des Andreas Variscus zufrieden und beauftragte den Stadtschreiber Caspar Rudolf, das Vokationsschreiben auszufertigen, wofür dieser einen Reichstaler aus der Kirchenkasse empfing.43 So fand die Immission des Variscus in Roringen am 18. Dezember 1606 in Anwesenheit der dazu verordneten Vogtherren statt44, mitten im Winter und weniger als vier Wochen nach seiner Abberufung aus Hilwartshausen!

2.

Bewerbung des Roringer Pastors um St. Marien in Göttingen

Der neue Pastor fühlte sich in Roringen nicht wohl. Tatsächlich lebte er bis 1609 auf einer Baustelle. Im Jahre 1607 wurden im Pfarrhaus zwei Balken, die Hausund die Küchentür, vier Stuben- beziehungsweise Kammertüren und neun Fenster erneuert; 1609 war der nasse Keller an der Reihe, und es kamen ein Schweinekoben und bisher fehlende Stallungen hinzu.45 Gerade einmal neun Monate auf seiner neuen Stelle tätig, bat Variscus das Wolfenbüttler Konsisto40 Ebenda, fol. 29r. 41 Ebenda, fol. 256v–258r (17. Dezember 1607). Zu Dr. Johann Albrecht Molinus, verheiratet mit Margarete Rumann aus Göttingen, der späteren Gründerin der Rumann-Molinusschen Familienstiftung in Northeim, s. Samse, 1940, S. 173 Nr. 85. 42 Sehling, 1955 (Kirchenordnung 1569), S. 186–192. Sehling, 1957, S. 892 (Gandersheimer Landtagsabschied 1601). Vgl. Meyer, 1954, S. 21. 43 KKA GÖ, PfA Roringen KR I,1, Kirchenrechnung 1607, fol. 25v: Casparo Rodolphi für Ern Andrae vocationem schreiben 1 Rth. Caspar Rudolf stand seit 1583/84 als Schreiber, von 1590/ 91 bis 1611/12 als secretarius im Dienst der Stadt, Lehmberg, 1999, S. 305–307. Kirchenkasse meint die Kasse der Kirchenfabrik. Zu diesem Institut vgl. Reitemeier, 2005, S. 89–94. 44 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 73, fol. 18–19 (Vokationsschreiben des Göttinger Rats an Variscus, Konzept). 45 KKA GÖ, PfA Roringen KR I,1, Kirchenrechnungen 1607, 1609, fol. 25r–26v, fol. 37v–39v.

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rium um Versetzung. Die Konsistorialräte lehnten am 24. September 1607 ab: Pastor zu Roringen. Ist sein Suchen abgeschlagen. Wen er aber ein Zeitlang alda gewesen, kan er Translationem bekommen, oder sez ihn gen Lutgenschneen.46 Schwierigkeiten des Pastors in Klein Schneen wurden schon erwähnt.47 Aus der Versetzung nach Klein Schneen wurde nichts. Für Variscus kam noch erschwerend hinzu, daß er als Roringer Pastor die Altersversorgung seines dortigen Vorvorgängers Georg Underberg, eines nunmehr alten Mannes, hätte bestreiten sollen. Daniel Quentin aus Göttingen, Underbergs Nachfolger und des Variscus Vorgänger, hatte sich und offensichtlich auch seine Amtsnachfolger, als er den Underberg im Jahre 1603 aus Roringen verdrängte48, zu Leistungen im Rahmen eines Reservats (Vorbehalts) verpflichtet; wiederholt hat das Konsistorium den Variscus von 1608 bis 1612 anhalten müssen, dem Underberg den ihm zustehenden Unterhalt zu gewähren.49 Variscus entzog sich jedoch dieser Verpflichtung. Die fünf Reichstaler, die er dem Alten als Almosen auf dessen Bitten um Gottes Willen im Jahre 1610 verehrte, nahm er nicht aus seinem Pfarreinkommen, sondern aus dem Vermögen der Roringer Kirchenfabrik!50 Im Jahre 1612 wollte sich der Göttinger Rat des Underberg annehmen.51 46 HStAH, Hann. 83 IV Nr. 18, fol. 150v. Dazu HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1972, Geschäftstagebuch, fol. 301v (24. September 1607) Tagesordnungspunkt 6: Pastor zu Roringen. 47 S. oben bei Anm. 16. 48 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 76, fol. 4r–v, Schreiben Underbergs vom 24. Juni 1608 an den Herzog (in Kopie von des Variscus Hand vom 13. Juli 1614): Weills nun durch viel Meuterey, Nachstellung und Hinterlist es durch ihr vielfaltiges Schreiben an Ewr Furstliche Gnaden dahin gebracht, das sie mich aus meiner ordentlichen Vocation gedrungen und Er Daniel Quentin verordnet. Georg Underberg war von 1570, vgl. unten bei Anm. 88, bis 1603 in Roringen; sein Nachfolger Daniel Quentin (1603–1606) stammte aus Göttingen, Meyer, Bd. 2, 1942, S. 323. 49 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1944, fol. 21r–v (28. April 1608): Pastor zu Roringen. D. Bas(ilius): Ist pillich, man lege successori (= Variscus) auf, sol ihm (= Underberg) geben was ihm geburet on einigen lengern Aufhalt, bei Vermeidung andern Einsehns. – HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 238v (23. Juli 1612): Man inserir auch Commissioni, daz sie (auf dem Rand korrigierend: Underberg und Variscum) mit [statt: sich] wegen des Reservats vergleichen, und sollen fragen, wehr dem alten Underberg diß Schreiben gemacht etc. – Johannes Sutel, Prediger an St. Albani, hatte 1554 an den von Herzog Erich II. mit der Albani-Pfarre belehnten fürstlichen Rat Urbanus Regius ein Reservat von 20 Gulden jährlich zu entrichten, Tschackert, 1897, S. 121 Nr. 74–75. 50 KKA GÖ, PfA Roringen KR I,1, fol. 43v (1610): Ern Jörgen Underbarcht altem Pastori zu Roringen uff sein supplication Vermög vererung umb gots willen geben 5 Rth. 51 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 131r (12. März 1612): Hans (recte: Georg) Underbergk. Man schreibe an Variscum, daz er ihm reiche, was dem alten pastorn geburt. Und man wil ihn (= Underberg) an einen andern Ortt befordern, da er die Sel nicht behren soll. – Underberg lehnte es ab, sich vom Göttinger Rat in einem Hospital versorgen zu lassen, vgl. HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 138v (26. März 1612): Wie hirvor geschlossen, daz der alte man uf erbieten der von Gottingen in ein hospital genommen werden, welches nicht geschehen.

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Frühe Neuzeit

Von Roringen aus hat Variscus offenbar bald seine Fühler ausgestreckt. Im Jahre 1610 bürgte er für die zehn Mark, die Arnold Bohnen, der aus Hardegsen zugezogene Organist an St. Nicolai in Göttingen, beim Erwerb des Bürgerrechts am 21. April zu erlegen hatte.52 Eine Gelegenheit, von Roringen wegzukommen, erblickte Variscus im selben Jahre in der Vakanz der Pfarrei von St. Marien in der Göttinger Neustadt, seit 1318 Kommende- und Patronatskirche des Deutschen Ordens.53 Zuständig für die Vergabe der Pfarrei war der Landkomtur der Ballei Sachsen, der für gewöhnlich in der Kommende Lucklum (östlich Braunschweig) residierte.54 Allerdings wurde dem Landkomtur seitens der Stadt das Patronatsrecht über St. Marien faktisch seit 1531 entzogen und juristisch seit 1592 streitig gemacht.55 Alle anderen Göttinger Pfarrkirchen standen unter landesherrlichem Patronat. An St. Marien versuchte der Rat nun, einen städtischen Patronat zu etablieren. Gleichzeitig hätte aber gern auch das Konsistorium den Patronat, den sie beim Landkomtur in schwachen Händen wähnte, für den Herzog erworben. Jedenfalls bot es im Jahre 1609 dem Landkomtur die unter landesherrlichem Patronat stehende Dorfkirche Dettum (östlich Wolfenbüttel) zum Tausch gegen den Patronat über St. Marien an;56 zu diesem Tausch ist es jedoch nie gekommen. Der 1597 auf die Pfarre von St. Marien gelangte Magister Lossius war 1610 vor dem 28. März auf Wunsch der Pfarrleute und mit Konsens des Konsistoriums an die Göttinger Jacobikirche gewechselt.57 Schon 1609 war diese Umsetzung absehbar. Da somit St. Marien neu zu vergeben sein würde, meinte Dr. Molinus am 1. Juni 1609 im Konsistorium, der Commenthur praesentir einen, und man verbitte bei ihm einen, damit die von Göttingen nicht was machen. Der langjährige Konsistorialdirektor Dr. Basilius Sattler nannte sogar bereits einen Namen: Bartholomäus Hottendegel aus Dassel, ist ein gelerter feiner Gesell und es wir52 53 54 55

Kelterborn, 1961, S. 261: Ehr Andreas Voigtlender. Vgl. Kuper, 1996, S. 95–97. Arndt, in: Niedersächsisches Klosterbuch 2, 2012, S. 464f. Zu Lucklum s. Frey, in: Niedersächsisches Klosterbuch 2, 2012, S. 934–938. StA GÖ, AA Nr. 5153, fol. 3, Protestation des Rats vom 24. Januar 1592 die Pfarrbestellung an der Marienkirche betreffend. Petke, 2013, S. 450, Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 361–399 bei Anm.130. 56 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1944, fol. 277v–278r (12. Jan. 1609): Rat Dr. Johann Molinus wolt gern wißsen, wie es mit seiner (des Lossius) Praesentation ergangen, ob man nicht mit dem Commenthur zu Luclum handlen könte, daß er die Pfarr zu Detten (Dettum) nehme oder ein ander. – Ebenda, fol. 357r–358r (9. März 1609): Item zu S. Jacob muß auch ein ander Pastor gesetzt werden, davon wolle man handeln mit dem Herrn Commenthur zu Lucklum, ist noch nicht geschehen, darumb far man doch fort mit dem Commenthur[…]. Mit dem Commenthur muß man auch reden wegen des iuris patronatus […] und deshalben rede man mit dem Commenthur, und geb ihm Detten permutando. Zum landesherrlichen Patronat über Dettum s. Kleinau, 1967–1968, Nr. 465,3a. 57 StA GÖ, AB Ver 1,4, fol. 80r, Schreiben der Kastenherren von St. Marien an den Rat auch mit der Nachricht, ihr Pastor Lossius sei nach St. Jacobi gewechselt, 28. März 1610.

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digk.58 Doch wie von Dr. Molinus erwartet, meldeten sich die Göttinger mit einem eigenen Personalwunsch, wenn auch erst, nachdem der Wechsel des Lossius an die Jacobikirche vollzogen und allgemein bekannt geworden war. Am 28. März 1610 baten die Kastenherren von St. Marien den Göttinger Rat, ihren Pfarrleuten den Göttinger Schulkollaborator Matthäus Schwarz zur Vokation vorzuschlagen;59 das machte sich der Rat zu eigen. Ein entsprechendes Gesuch an das Konsistorium wurde am 8. Juni 1610 von diesem aber abgewiesen. Der Herr Landkomtur zu Lucklum bestreite dem Rat jedes Recht auf die Präsentation.60 Schon am 2. Juni 1610 hatte das Konsistorium dem Rat und dem Generalsuperintendenten Henning Tegtmeier dagegen aufferlegtt und befohlen Andream Variscenum von wegen ehegemeltes (= vorgenannten) Herren Land Commenthurs der Gemein in gerurter Pfahrren zur Probepredigte auffzustellen, und nach geendigtter Predigtte Ihme als dan, in eventum die Pfarkinder ihm an lehr und leben nichtt zu tadeln, die Vokation zu befurderen.61

Der Landkomtur Henning von Britzke (1606–1611)62 hatte sich also bestimmen lassen, den Andreas Variscus zu präsentieren! Daß Variscus dabei die treibende Kraft war, ist sicher. Er befand sich in der Situation der aus dem Mittelalter sattsam bekannten »Kleriker auf Pfründensuche«63, deren Probleme infolge der Reformation und des Tridentinums noch gewachsen waren, da der Weg zu einem Benefizium über die päpstliche Provision ja nun abgeschnitten war. Es sollte sich als nicht besonders klug erweisen, sich um eine Pfarrstelle zu bewerben, deren Patronat umstritten war. Denn gerade deshalb zog Herzog Heinrich Julius, als er am 8. März 1611 das Göttinger Kirchenwesen prinzipiell seinem Kirchenregiment unterwarf, speziell die Pfarrbesetzung an St. Marien aus landesfürstlicher Macht und hoher Obrigkeit an sich und befahl deren Vollzug.64 Noch standen die Chancen des Variscus dabei nicht ganz schlecht. Am 17. Oktober 1611 riet Dr. Heinrich Petreus im Wolfenbüttler Konsistorium: Zu Unser 58 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1944, fol. 439v. Hottendegel wurde noch 1609 Pastor in Oberg, Meyer, Bd. 2, 1942, S. 212. – Zu Sattler (1549–1624), dem theologischen Haupt des Konsistoriums, s. Dettmer, 1922, S. 34f. Schorn-Schütte, 1996, S. 68f. Müller, 2006, S. 609f. 59 Wie Anm. 57. 60 StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 42r–43v, Konsistorium an den Göttinger Rat (8. Juni 1610, Originalreskript). 61 Ebenda, fol. 44v–45r, Einrede des Rats in seinem Antwortschreiben an das Konsistorium, 14. Juni 1610 (Konzept), Zitat fol. 44v. Magister Henning Tegtmeier (1572–1618) war soeben im Jahre 1610 Generalsuperintendent des Fürstentums Göttingen und zugleich Spezialsuperintendent und Pfarrer an St. Johannis geworden, Steinmetz, 1934, S. 118–125. Arnold, 1980, S. 145f. Nr. 159. 62 Demel, 2004, S. 48f. 63 Arend, 2008, S. 537–549. 64 StA GÖ, Urkundenabt. Nr. 300 (Artikel 3). Vgl. zu diesem Rezeß Regula, 1917, S. 151. Mohnhaupt, 1965, S. 57f. Bielefeld, 1987, S. 528. Mörke, 1987, S. 297.

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Lieben Frawen in Göttingen […]: Man nehme Variscum ex officio, der hat alda Frunde, biss zum Austragk (bis zur richterlichen Entscheidung). Und Dr. Reichelm empfahl: Man schreib beiden Theilen an ihren Rechten on Schaden, und seze Variscum interimsweise ex officio dahin, das kan wol sein. Approbant caeteri (Es stimmen die übrigen zu).65 Selbst der Göttinger Rat schickte sich in die eingetretene Lage und hat am 8. Januar 1612 beschlosssen, daß man angeregtte Presentation des Andreae Varisci geschehen lassen mugge, doch cum protestatione, daß es dem Edlen Ehrnfesten Raht zustehendem Jus ohnachtheilig sein solle.66 Doch dann wendete sich das Blatt. Die Pfarrleute von St. Marien wurden sich über Variscus nicht einig, wie sie dem Rat am 11. Januar 1612 mitteilten, nicht ohne ihrer Verwunderung Ausdruck zu verleihen, daß Variscus sich auf eine Belehnung durch den Komtur berufen habe, obwohl doch der Patronat zwischen diesem und dem Rat strittig sei.67 Der Göttinger Generalsuperintendent Magister Henning Tegtmeier, der die Präsentation des Variscus und das Votum des Konsistoriums zu vertreten hatte, verhandelte vom 12. bis 18. Januar 1612 ergebnislos mit den Ratsgesandten, die das Ohr an der Mariengemeinde hatten.68 Als Variscus Mitte Januar sogar beschuldigt wurde, eine Tätlichkeit begangen zu haben69, hatte er keine Chance mehr. Am 16. Januar teilte Basilius Sattler seinen Kollegen im Konsistorium mit, der Kanzler Dr. König trete dafür ein, statt des Variscus einen anderen für St. Marien vorzusehen, und zwar den derzeitigen Kaplan in Hardegsen.70 Für den 12. März 1612 stand eine Klage der Kirchenältesten von St. Marien gegen Andreas Variscus auf der Tagesordnung des Konsistoriums71, behandelt wurden an diesem Tage möglicherweise aber nur die erwähnten Unterhaltsverpflichtungen des Variscus gegenüber dem Altenteiler

65 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1945, fol. 388r. Vgl. ebenda, Nr. 1972, Geschäftstagebuch, fol. 397r (17. Oktober 1611) Tagesordnungspunkt 6: Pfarr zu Unser lieben frawen in Göttingen. Dr. Heinrich Petreus war von 1586 bis 1591 erster Rektor des erneuerten Göttinger Pädagogiums und von 1591 bis zu seinem Tod 1615 Hof- und Konsistorialrat, Samse, 1940, S. 170 Nr. 74. Kunst, Bildung und Schulen, 1987, S. 629f. Babnik, 2006, S. 558f. Zu Hofgerichtsassessor Dr. Heinrich Reichelm, Absolvent des Göttinger Pädagogiums, s. Samse, 1940, S. 173 Nr. 84. 66 StA GÖ, AB Ver 1,6,1 (Ratsprotokoll), fol. 22v. 67 Ebenda, fol. 24r. 68 Ebenda, fol. 23r, fol. 25v–26v. 69 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 67r (16. Januar 1612). Ern Andream Variscum betreffend: Man schreibe an den Ambtman und M. Tegetmeiern, daz sie berichten, wie die Gewalthat tetterseits ergangen und sich eigentlich darumb verhalte. – Ebenda, fol. 83v (6. Februar 1612): Pastor zu Röringen […]. Man communizire ihm der Clag la[ngen]de. Werde es sich befinden, wie er sich defendiren könne. Ebenda, fol. 84r (6. Februar 1612): Man muste es dem Canzler referiren, weil diß clag wegen Andreae Varisci dazwischen kommen. 70 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 66v. 71 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1972, Geschäftstagebuch, fol. 408r Tagesordnungspunkt 14: Kastenherrn zu Unser Lieben Frawen zu Göttingen contra den Pastor zu Roringen Andream Variscum.

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Underberg.72 Schließlich, am 30. April 1612, ließ das Konsistorium den Andreas Variscus endgültig fallen: Die widersetzlichen Pfarrleute zu Unser Lieben Frauen hätten den verius Presentatum, den Pastorn zu Roringen Ehrn Andream Variscum, also unverschuldeter Sach diffamiret, etliche Aufwiegler hätten ihn ins Unrecht und in Zweifel gerückt und sich erfrecht, seine Aufstellung zur Probepredigt zu verhindern; sie dafür zu strafen, sei dem Fürsten vorbehalten. Doch da man ohnehin entschlossen sei, Variscus an einen anderen Ort zu befördern (Jedoch will man ohn das obgemelten Variscum an einen anderen Ort zu befürdern für habens), präsentiere man jetzt gemäß Kirchenordnung und dem mit der Stadt getroffenen Abschied vom 8. März 1611 ex officio den Magister Justus Groscurdt, den der Generalsuperintendent zur Probepredigt aufzustellen habe.73 Groscurdt wurde tatsächlich Pfarrer an St. Marien.74 Nur mühsam wurde mit seiner Ernennung kaschiert, daß das Konsistorium in seinem Ringen um das Kirchenregiment in der Stadt Göttingen im Fall des Variscus und St. Mariens eine Niederlage erlitten hatte. Die Präsentationsrechte des Deutschen Ordens dagegen ließen sich vielleicht auch deshalb jetzt leicht übergehen, weil der Landkomtur Henning von Britzke, der durchaus auf seinen Rechten an St. Marien bestanden hatte75, am 10. November 1611 gestorben war; jedenfalls meldete sich sein Nachfolger, der am 7. Februar 1611 zum Balleikoadjutor erhobene Joachim von Hopkorff 76, nicht. Die langwierigen Auseinandersetzungen um den Patronat über St. Marien endeten erst mit dem Kompromiß vom Jahre 1670, wonach das Präsentationsrecht zwischen dem Rat und dem Deutschen Orden alternieren sollte.77

72 Vgl. oben bei Anm. 49. 73 StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 57r–58r, Konsistorium an Generalsuperintendent Tegtmeier, 20. April 1612 (Kopie). Auf der Sitzung vom 24. April 1612 befand das Konsistorium bezüglich St. Mariens: Man kan ihn (= Groscurdt) ex officio dahin setzen ea lege, daz sie den vörigen nicht pillige (= unbillig) beschuldigt und beclagt. Und behalte Illustrissimo die Straff fur, daß sie ihn Variscum nicht haben wollen aufstellen […]. Man schreibe an den Superintendenten, daz er ihn (= Groscurdt) interimsweise ufstelle. Und weil Variscum doch befurdert werden solte, so pleibt es dabey, HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 156r. 74 Meyer, Bd. 1, 1941, S. 330. 75 Vom Ordenshaus Bergen aus hatte er am 9. Juli 1610 den Patronatsansprüchen des Rats widersprochen und die weitere Befassung untersagt (Inhibition), da er zur Zeit keine Akten zur Hand hätte, StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 51r–52v (Kopie). Zur Komturei Bergen in Groß Rodensleben (westlich Magdeburg) s. Militzer, 1970, S. 77. Henning von Britzke fehlt bei Frey, Lucklum, in: Niedersächsisches Klosterbuch 2, 2012, S. 938 Nr. 5.1. 76 Demel, 2004, S. 155 Anm. 297, S. 157 Anm. 306. 77 Petke, 2013, S. 454. Zweitveröffentlichung in diesem Band S. 361–399 bei Anm. 159.

414

3.

Frühe Neuzeit

Geplante Versetzung des Variscus nach Sollstedt, Verbindung der Pfarreien von Roringen und Herberhausen

Das Konsistorium faßte eine schnelle anderweitige Bestallung des Variscus durchaus ins Auge. Freilich offenbarte Basilius Sattler am 9. Juli 1612 im Konsistorium, daz man ihm (= Variscus) Befurderung zugesaget, sei seinethalben nicht, sondern in honorem Ministerii (= des Ansehens des Tegtmeier und seiner Göttinger Pastoren halber) geschehen.78 Es ging also mit einer alsbaldigen Versetzung des Variscus im Kern darum, daß der Generalsuperintendent gegenüber der Stadt Göttingen und der Mariengemeinde das Gesicht wahrte. So nahm das Konsistorium bereits am 30. April 1612 die landesherrliche Pfarre Sollstedt in der seit 1593 welfischen Grafschaft Hohnstein ins Visier – wahrscheinlich bereits im Blick auf Variscus.79 Als man sie am 18. Juni tatsächlich ihm zudachte, sollte er zunächst Erkundigungen über sie einziehen dürfen.80 Am 25. Juni war er dann unterwegs, um die Sollstedter Pfarre in Augenschein zu nehmen.81 Für St. Albani in Göttingen war er dagegen den Konsistorialräten Sattler, Petreus und Clacius am 7. Mai 1612 als nicht genügend qualifiziert erschienen: Man seze ein gelerten Man dahin, Variscus sei zu leicht dahin. Petreus, Clacius: Sein auch der Meinung. Expertus muß er sein und ein Pater familias sein. Basilius Satler: Variscum könne man gen Haberungen (= Haferungen) oder Solstet in der Graffschaft sezen.82 Eine besondere Wertschätzung drückt dieses Urteil nicht aus – im Gegenteil! Und nun geschah es auch noch, daß Variscus entgegen dem Wunsch des Konsistoriums nicht nach Sollstedt wechseln wollte. Für den 9. Juli 1612 hält das Konsistorialprotokoll die Ausführungen Sattlers fest: Man hette ihn, Andream Variscum, gern nach Solstet befordert. Nun wil er es aus Ursachen nicht annehmen und gibts dem Herrn Pastorn zu Herberhausen an die Handt. Und er wolle Herberhausen und Roringen zusammen haben, bis er anderweit befordert werden. Wen aber die Herren einig wehren, daz Er Rhetelius (= Pfarrer in Herberhausen) gen Solstedt gesezt werden sol, sei er (= Basilius Sattler) friedlich. Aber man muße Varisco nicht gutheißen, daz er ein praejudicium consistorii (Vorentscheidung des Konsistori78 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 233v. Zum Kollegialorgan des örtlichen geistlichen Ministeriums vgl. Weizsäcker, 1929, S. 31. 79 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 162r. 80 Ebenda, fol. 203v: Pfarr Solstett. Man laße daz Schreiben abgehen und seze Ehrn Variscum dahin. Von D. Henrico Petreo und Erich Clacio ist Varisco erlaubt, sich der Pfarr zu Solstedt Gelegenheit zufurderst zu erkundigen. Zu dem Hofrat Dr. Erich Clacius, Absolvent des Göttinger Pädagogiums, s. Samse, 1940, S. 172 Nr. 83. Die Grafschaft Hohnstein stand seit 1593 unter der Herrschaft von Herzog Heinrich Julius, Heinemann, Bd. 3, 1892, S. 6f. 81 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 211v. 82 Ebenda, fol. 176r. Zu Haberungen (= Haferungen, Gemeinde Werther) s. Casemir; Ohainski, 1996, S. 80. An St. Albani war die Amtsführung des Pastors Dietrich Düwel ein Ärgernis, HStAH, Cal.Br. 21 Nr. 1946, fol. 374r (17. Dezember 1612), vgl. Saathoff, 1929, S. 173.

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ums) andern Pfarrern an die Hand geben sol, und sage ihm auch, sofern er umkören wil, daz er sizen pleibe. Jedoch sei er (Sattler) zufrieden, daz er die Pfarr zu Herberhausen zu seiner Pfarr Roringen kriegen von denen von Gladebeck.83

Die Herren von Gladebeck waren die Patrone von Herberhausen.84 Was war geschehen? Variscus war für seine Person mit der Pfarre Sollstedt nicht zufrieden, muß aber im Juni-Juli 1612 seinen Kollegen Rethelius in Herberhausen beschwatzt haben, seinerseits nach Sollstedt zu gehen, wodurch Herberhausen frei wurde und von Variscus in Besitz genommen werden konnte. Die Pfarrpfründe in Sollstedt warf offensichtlich mehr ab, als diejenige von Herberhausen, aber weniger als Herberhausen und Roringen zusammen. Rethelius war seit 1610, also gerade erst das zweite Jahr, in Herberhausen. In seinem ersten Amtsjahr war am Herberhäuser Pfarrhaus umfänglich gebaut worden, wofür die beträchtliche Summe von 120 Reichstalern aus der Kirchenkasse bereitgestellt worden war.85 So dürften auch das renovierte Herberhäuser Pfarrhaus und seine größere Nähe zur Stadt Göttingen dem Variscus verlockend erschienen sein. Nach dem obigen Zitat war sich das Konsistorium nicht sicher, ob Variscus bei dem nunmehrigen Plan, die Stellen von Herberhausen und Roringen zu kumulieren, wirklich bleiben würde. Am 16. Juli meinte 1612 der Rat Magister Tuckerman, Variscus komme sonst oftt, bald wil er diß, bald ein anders, und Basilius Sattler urteilte in derselben Sitzung über Variscus: Dieser Man mache den Räthen viel Wunders (macht viel her), sei aber der Man nicht darnach. Wehre nicht gut, daz er in Göttingen kommen wehre. Aber mit der Union (von Roringen mit Herberhausen) sei er einverstanden, anders als der Generalsuperintendent, der der (irrigen) Meinung sei, daß das Konsistorium den Variscus den Herberhäuser Patronen empfehlen wolle. So gewönnen diese den Eindruck, das Konsistorium wolle ihnen den Patronat entfremden. Magister Paul Musäus warf nicht sehr mutig ein, die Union geschehe auf des Variscus eigene Gefahr (Suo periculo fiat unio). Dr. Clacius riet dazu, Variscus durch den Generalsuperintendenten empfehlen zu lassen und führte schließlich noch als Argument für die Union an, beide Pfarreien seien schon einmal zusammen gewesen.86 Das war im Jahre 1568 83 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 221r–v. Der Text schließt mit Ceteri approbant (Die übrigen stimmen zu). Und conferire mit diesen uf die Pfarr zu Solstedt. 84 S. unten bei Anm. 94. 85 KKA GÖ, PfA Herberhausen KR I,1, 1610, fol. 24r–30r. Vgl. Meyer, 1, 1941, S. 489. Günther, 2000, S. 302f. 86 HStAH, Cal.Br. 21 Nr. 1946, fol. 233v–234r: Daz man ihm Befurderung zugesagt, sei seinethalben nicht, sondern in honorem Ministerii (= Tegtmeiers und der Göttinger Geistlichen) geschehen. Sei ihm (= Tegtmeier) selbe zuwider, da er (= Variscus) von Cons(sistorio) verschrieben werden soltte. Denn Patroni meinten, man wolle ihnen dadurch daz Patronat abstricken (= entfremden). Magister Paul Musäus: Suo periculo fiat unio. D. Clacius: Sei auch damit einig, weil sie bereit zusamen gewesen. Der Generall verschreibe ihn, daz Consistorium könne es nicht thun, sei ihm selbst praejudicirlich.

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in der Tat der Fall gewesen, ohne daß sich der Anfang dieser Verbindung präzisieren ließe. Zur Empörung des seinerzeitigen Hauptes des Göttinger geistlichen Ministeriums, des Magisters Philipp Kaiser, bat damals Jost Moelen, Pfarher zu Herberhusen und Roringe, in Herberhausen wohnhaft und ein leichtsinniger Geselle, den Göttinger Rat um Urlaub, um sich als Feldprediger bei dem Drosten zu Hardegsen, dem Rittmeister vom Karßenbruch, seiner Schulden halber zu verdingen; beide Patrone hätten schon zugestimmt, und mit dem Einverständnis beider Gemeinden hätte er in einem gewissen Johann Erhardt bereits einen Vertreter gewonnen.87 Am 30. März 1570 wird Moelen als verstorben bezeichnet. Damals präsentierte Herzog Wolfgang von Grubenhagen Georg Underberg auf die fürstliche Patronatspfarre Roringen und nur auf diese.88 Die Verbindung der beiden Pfarreien war damit beendet. In Herberhausen wurde 1572 der Göttinger Dietrich Kogelen zum Pastor bestellt.89 Die Anstellung des Variscus auch in Herberhausen sollte anderen Pastoren, wie angeführt, nicht als Präzedenzfall dienen dürfen. Es war eine auf des Variscus Wunsch speziell für ihn getroffene Entscheidung. Dementsprechend wurden nach seinem Tode beide Pfarreien im Jahre 1624 auch wieder separat besetzt.90 Ganz wohl war dem Wolfenbüttler Gremium bei der Kombinierung der Pfarrgemeinden Roringen und Herberhausen jedenfalls nicht. Dabei war sie nicht singulär. Im selben Jahr plante das Konsistorium die Union von Groß und Klein Lengden, und war die geringe Pfarr Doblen (Dobbeln) der Pfarre Beierstedt annektiert.91

4.

Hindernisse bei der Präsentation und bei der Einführung des Pastors in Herberhausen

Als die aus dem südniedersächsischen Raum stammenden Herren von Gladebeck im Jahre 1372 die Herrschaft über Herberhausen nebst ihren dortigen Eigengütern und hildesheimischen Lehen an die Stadt Göttingen verkauften be87 Im Jahre 1554 hatte Moelen als Pastor in Weende (Kloster und Dorf) amtiert, von wo er damals ausgewiesen worden sein soll, StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 73, fol. 12 (4. Nov. 1568). Zu Anthonius vom Karßenbruch († 1576) s. Domeier, 1771, S. 24. – StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 73, fol. 13–14, 14a, fol. 13v (23. Nov. 1568): Derweil nun an disem buben lauter Lug und Trug, buberey, Ergerns. Zu Moelen in Herberhausen und Roringen vgl. Meyer, Bd. 1, 1941, S. 489, Bd. 2, 1942, S. 323. 88 HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 6r–v (Kopie). 89 Kayser, 1904, S. 181. Meyer, Bd. 1, 1941, S. 489, nennt das Jahr 1573. 90 S. unten bei Anm. 198. 91 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 158r (24. April 1612), fol. 335r (29. Oktober 1612). Beierstedt und Dobbeln bei Helmstedt, Kleinau, 1967–1968, Nr. 194,3a und Nr. 478,3a.

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ziehungsweise verpfändeten, nahmen sie davon die Kirche ausdrücklich aus.92 Die Familie besaß den Herberhäuser Patronat über die Reformation hinaus bis zu ihrem Aussterben im Jahre 1701.93 Wer im Jahre 1612 ordentlich mit der Herberhäuser Pfarrei belehnt – das heißt auf sie präsentiert – werden wollte, hatte sich an die Gladebecker zu wenden. Deren Geschäfte besorgte 1612/13 Anna von Gladebeck, eine geborene Mulert aus Göttingen, Witwe des Hans von Gladebeck auf Osterode, der nach 1607 gestorben war.94 Sie lebte im Sommer 1612 auf dem Gut Schwegerhoff nördlich von Schwagstorf im Osnabrücker Land95, wo sie von einem Boten des Variscus vier Wochen, nachdem dieser Sollstedt in Augenschein genommen und abgelehnt hatte, aufgesucht worden sein muß. Am 25. Juli 1612 belehnte sie im Namen ihres ältesten Sohnes Friedrich Joachim den Variscus mit der Pfarre samt den zu ihr gehörenden 71 Morgen Land; am 4. August präsentierte sie ihn dem Konsistorium.96 Am 30. August bat Variscus das Konsistorium um die Vokation und die Immission in Herberhausen, und dieses schien am 3. September hienegest zu derer beiden pfarren Roringen und Herberhausen Union, Zusammenlegung und Anweisung auch entschlossen.97 Aber nun machten unvermittelt die Herberhäuser Schwierigkeiten. Am 22. September erklärten der Bauermeister Lorenz Nietmann, die beiden Altaristen Hans Farenberg und Christoph Nietmann, die Geschworenen Dietrich Grothey, Hans Kerll und Claus Nietmann sowie zwei Vertreter der Dorfgemeinde (Jost Groswurm und Wilhelm Rohrenberg) gegenüber dem Konsistorium, sie hätten soeben Pfarrhaus und Scheune gebaut, so daß wir unsern eigenen Pastorn undt Prediger haben und erhalten.98 Daraufhin geriet die Bestallung des Variscus ins Stocken. Dessen dringliche Erinnerungen an das Konsistorium vom 3. Dezember 1612 und 18. Januar 1613 wegen der versprochenen Union und seiner Immission 92 Schmidt, UB Göttingen 1, S. 270–272 Nr. 267. Günther, 2000, S. 291f. Butt, 2012, S. 219–224. 93 KKA GÖ, PfA Herberhausen A 101 (Patronat), Anschreiben von Pastor Bachmann vom 8. Juli 1705 an den Superintendenten (Kopie): Wer Patronus über die Pfarre zu Roringen sey, ist aus beyliegender Vocationsschrift copie zu sehen. Über die Herberh. Pfarre sind über etc. 100 Jahre bis in annum 1701 Patroni gewesen die Herren von Gladebeck. Die Familie war mit Adolf Friedrich von Gladebeck (1680–1701) ausgestorben, Maier, 1970, vor S. 175 u. S. 176, 224, 232. 94 Zur Genealogie s. Maier, 1970, S. 222f. Nr. 327, Nr. 229, Nr. 330, S. 229f. 95 Gladebecker Besitz von 1592 bis 1666, Wrede, 1977, Nr. 1307. – HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 390v (14. Januar 1613): Wittwe von Gladebeck zu Schwegershoff residirent. 96 HStAH, Hann. 83 III Nr. 621 fol. 199r–200v (Kopie von der Hand des Variscus, mit Präsentationsvermerk vom 2. September 1612). Ebenda, fol. 197r–198v (Originalschreiben mit Präsentationsvermerk vom selben Tage, eigenhändige ungelenke Unterschrift der Anna). – Am 5. Januar 1613 erwähnt Variscus uffwand um Botenlohn und Uncosten, die ihm unter anderem aus seiner Belehnung entstanden waren, HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 217r– 218v, hier fol. 217v (Originalschreiben an das Konsistorium). 97 HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 195r–196r (Original). Ebenda, fol. 202r–v (Konsistorialdekret, Konzept). 98 Ebenda, fol. 203r–206v, hier fol. 204v (Original).

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liefen ins Leere99, und das erst recht, nachdem gegen Ende des Jahres 1612 in Person des Johannes Germer ein Mitbewerber um die Herberhäuser Pfarrstelle erwachsen war. Möglicherweise ohne zunächst von des Variscus Belehnung zu wissen, beschaffte sich Germer, der seit fünf Jahren Hauslehrer des Heinrich von Veltheim auf Haus Niedeck (südlich Göttingen) war100, bei dem alten Bauermeister Lorentz Nietmann in Herberhausen ein Empfehlungsschreiben101 und bewarb sich seinerseits bei Anna von Gladebeck um die Belehnung mit der Pfarrei Herberhausen. Anna von Gladebeck hatte die Stirn, dem Germer am 13. Dezember 1612 im Namen ihres Sohnes Friedrich Joachim ebenfalls einen Lehnbrief über Herberhausen zu erteilen.102 Als Bote des Germer hatte der Schlachter Jost Groswurm aus Herberhausen fungiert.103 Daß Germer der Gladebeckerin für diese Belehnung 13 Reichstaler gezahlt, ihr eine Hirschhaut für vier Reichstaler verehrt und sich in dem Bauermeister Nietmann sowie in Jost Groswurm Anhänger in Herberhausen verschafft hätte, schrieb Variscus am 5. Januar 1613 dem Konsistorium.104 Als Germer am 14. Januar 1613 vor dem Konsistorium erschien, um seine Präsentation vorzulegen, gab dieses sich zunächst uninformiert und fragte nach seinem Begehr. Obwohl dem Gremium vor der Anhörung längst klar war, daß die doppelte Belehnung ein großes Ärgernis sei105, machte es gegenüber Germer nicht die Doppelbelehnung zum Stein des Anstoßes, sondern die Höhe des Lehngeldes, das dieser bezahlt hatte. Dafür bezogen sich die Räte auf eine fürstliche Konstitution, wonach einem Patron für seinen Lehnbrief nur ein Rosenobel, das sind vier Reichstaler, gegeben werden dürfe.106 Germers Belehung, 99 Ebenda, fol. 209r–212v (Original), fol. 227r–228v (Original). 100 Empfehlungsschreiben Heinrichs von Veltheim für Germer an das Konsistorium, 11. Januar 1613, HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 207r–208v. Die Schreibung seines Namens schwankt zwischen Gerner, Garner, Garmer. Er selbst schrieb sich am 30. Januar 1613 Johannes Germerus, HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 237r. 101 Ebenda, fol. 209r–212v, hier fol. 211r, Variscus an das Konsistorium (Original), 3. Dezember 1612. 102 Ebenda, fol. 213r–214v (Original). 103 Ebenda, fol. 220r–v, Originalbrief des Lengder Pastors Peter Malsius an Tegtmeier, 3. Januar 1613. 104 Ebenda, fol. 217r–218v (Original). 105 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 381v, 7. Januar 1613. 106 Es handelt sich um die Konstitution von Herzog Heinrich Julius vom 24. Juni 1597, HStAH Cal. Br. 23 Nr. 211, Copey von Herzog Heinrich Julius Verordnung in pto. Simoniae (freundlicher Hinweis von Dr. Arne Butt, Göttingen), wonach das Lehngeld für eine reiche Pfarrei nicht mehr als einen Rosenobel, für eine mittlere nicht mehr als drei und für eine geringe Pfarre nicht mehr als zwei Taler betragen und im Übertretungsfall der so ins Amt gelangte Pastor seine Stellung verlieren und anschließend das Konsitorioum die Pfarre ex officio vergeben sollte. Zum Rosenobel s. Adelung, Bd. 3, 1798, Sp. 1161 (»4 Th., 4 Gr., 4 Pf. Meißnisch«). Schrötter, 1930, S. 573f. Verdenhalven, 1993, S. 113: »in Westfalen in Umlauf (1616) 4 Reichstaler«.

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für die er 13 Reichstaler gezahlt hatte und für die er noch mehr an die Gladebeckerin hätte zahlen sollen, sei ein Simoniacus contractus.107 Ämterverkauf (Simonie) hatte auch schon Georg/Jürgen von Gladebeck auf Harste († 1604), zuletzt Großvogt von Calenberg, getrieben; in den Jahren 1598 und 1601/1602 hatte er von den nachmaligen Herberhäuser Pfarrern Andreas Gebhardi und Johannes Tappius jeweils zwölf Taler Lehngeld verlangt.108 Als Simonie galt seit dem Mittelalter auch die Kehrseite des Verkaufs, also die Erwerbung einer geistlichen Stelle um Geld, das der Bewerber aus eigenem Antrieb zahlte. Noch im 19. Jahrhundert hatte ein Kandidat neben dem Huldigungs- und Diensteid auch einen Simonieeid zu schwören.109 Aber auch die Doppelbelehnung war kein Einzelfall. Nachdem Germer das Gremium verlassen hatte, plädierte am selben 14. Januar Sattler dafür, man halte es mit der von Gladebeck wie mit Burharden von Lang(en), welche[r] auch 2 presentiert. 1 Tag nahm er 7 Thaler, den andern Tage 8 Thaler […]. Damahls hat daz Consistorium beide Theil cassirt, und den 3tten zum pastor verordnet, das thue man alhie auch. Obwohl die Sache nicht mehr integra sei, meinten die Räte aber dann doch, an Variscus und der Union von Roringen und Herberhausen festhalten zu können, sofern dort alle Leute mit Variscus einig seien. Wenn nicht, pleibt pillich die Disunio.110 Die Gladebeckerin wollte man allerdings nicht einfach davonkommen lassen: Schreibe man an die von Gladebeck, daz sie das Lehngeld einschickt. Daz Consistorium wolle dißmahl vor sich die Pfarbestellung, und sie soll deßweg auch straff geben, daß zwo hindeinander belehnte, undt gleich (= so als werde) die Pfarr verkauft.111 In diesem Zusammenhang wollte man auch in Erfahrung bringen, wieviel Lehngeld denn Variscus ihr entrichtet hätte.112 Dessen Bestallung in Herberhausen wollte das Konsistorium allerdings auf keinen Fall gegen den Willen der dortigen Pfarrkinder erzwingen. Auf seine Weisung vom 21. Januar 1613 haben Heinrich Wissel, Oberamtmann im Lande

107 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 390v, 14. Januar 1613. 108 HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 270r–v, Stellungnahme des Konsistorialrats Heinrich Petreus gegenüber dem Generalsuperintendenten Süßfleisch und dem damals Harster Amtmann Konrad Schermer, 5. März 1602 (Kopie). 1613 war Schermer Amtmann in Münden, s. unten bei Anm. 127 und Anm. 134. – KKA GÖ, PfA Herberhausen A 101 (Patronat), Erklärung des Pastors Johann Tappius von Herberhausen über das von Jürgen von Gladebeck geforderte Lehngeld, Herberhausen, 7. Mai 1602, Einzelblatt, Kopie des 18. Jh. Zu Georg/Jürgen von Gladebeck s. Samse, 1940, S. 35, 41, 270. Maier, 1970, S. 229. 109 So Karl Heinrich Miede, 1820–1852 Pastor in St. Marien in Göttingen, in seinem Bericht über die dortigen Patronatsverhältnisse, KKA GÖ, PfA St. Marien A 101,II (Patronat, 1732–1917). 110 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 391r, 14. Januar 1613. 111 Ebenda. 112 Ebenda. Laut Quittung des Gladebecker Lehenschreibers hatte Variscus am 5. Januar 1613 fünf Taler an Lehengeld, 24 Groschen Schreib- und 12 Groschen Siegelgeld gezahlt, HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 268r.

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Göttingen, und der Weender Klosteramtmann Erich Tedener am 28.(?) Februar 1613 die sembtlichen Unterthanen des Dorffs Herberhausen heute anhero beschieden undt anbefohlener maßen mit denselben darauß geredet, ob sie friedlich, das die beiden Pfarren Roringen undt Herberhausen durch eine persohn verwaltett wurde, oder ob sie wiederum einen eigenen Pastorn halten undt die auffkunftten in etwas verbeßern wolten. Darauff sie sembtlich zur antwort gegeben, das bei menschen gedenken kein pastor die beiden pfarren bedienet gehabtt, und einstendiglich gebeten, das sie einen eigenen Pastor haben undt behalten mugen.113

Von diesem Wunsch wußte das Konsistorium am 11. März 1613 und erwog nunmehr, man schicke Johannem Garmern, weil sie je einen eigenen pastorn haben wollen, nach Helmsted und lasse ihn examiniren. Variscum musse man hirwegen, wen der örtter etwas fallen wirdt, anderweit befördern. Und dieser (= Germer) muß ihm den beweißlichen Unkosten erstatten.114 Dem Konsistorium war klar geworden, daß Germer Unrecht zugefügt werden sollte (Lasse sich ansehen, als wen ihm zuviel geschehen)115, machte sich üble Verleumdungen aus der Feder des mit Variscus auf gutem Fuß stehenden Lengder Pastors Peter Malsius nicht zu eigen und schickte ihn tatsächlich am besagten 11. März 1613 zum Examen nach Helmstedt.116 Ein Jahr später, am 4. März 1614, forderte es Variscus sogar auf, dem Germer, der hirbevor von angeregter Pfarr und darüber in handen gehabten belehnung uf unser beschehene erinnerung Euch zu gut abgestanden, die diesem entstandenen Unkosten zu ersetzen.117 Wie nicht anders zu erwarten, hat das Variscus am 31. März 1614 abgelehnt.118 Zum Pastor scheint Germer es in welfischen Landen nicht gebracht zu haben. Daß Variscus die Pfarre Herberhausen bekäme, war nun, im Frühjahr 1613, keineswegs ausgemacht. Denn nicht wesentlich anders als Anfang März ließ Basilius Sattler am 15. April 1613 seine Kollegen wissen: Pfarr zu Herberhausen […]. Die Leute haben sich hiebevor erklert, einen eignen Pastorn zu unterhalten.

113 HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 231r–232v (Konzept). Ebenda, fol. 244r–244a r–v, Datum Gottingen den 29 Februarii anno 1613 (Originalbericht). Das Jahr 1613 war jedoch kein Schaltjahr. Jedenfalls wurde das Schreiben am 10. März 1613 präsentiert. Von der Union zur Zeit von Moelen ums Jahr 1568, s. oben bei Anm. 87, geben die Pfarrleute vor, nichts zu wissen. Zu Heinrich Wissel († 1624) und zu Erich Tedener s. Lippelt, 2008, S. 424f., 446–449. 114 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 439v. 115 Ebenda, fol. 434r, 25. Februar 1613. 116 HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 254r–254a v, Originalschreiben Sattlers an die Helmstedter Fakultät, 11. März 1613. 117 Ebenda, fol. 265r–v (Konzept). 118 Ebenda, fol. 266r–v (Originales Antwortschreiben).

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Wan sie noch der Meinung, muß ihnen solches gegönnet werden, und kan uf solchen Fal die Union mit der Pfarr Roringen nicht stat haben.119 Variscus muß von der für seine Pläne verheerenden Meinung der Herberhäuser und vielleicht auch von den Zweifeln des Konsistoriums Kenntnis erlangt haben. Denn zu eben diesem 15. April war er nach Wolfenbüttel geeilt – da das Konsistorium damals in der Regel allwöchentlich am Montag tagte, ließ sich ein dortiger Auftritt planen – und bat erneut schriftlich und nunmehr auch persönlich um seine Einführung in Herberhausen sowie um die Union der Pfarreien.120 Das Konsistorium gelangte jedoch zu keinem Beschluß. So mußte eine neue Versammlung der Herberhäuser Pfarrleute anberaumt werden. Im Beisein der beiden Vogtherren Dr. Ludolf Henckel und Jobst Gercken unterrichtete nunmehr der Generalsuperintendent Tegtmeier die in der Kirche versammelten Herberhäuser Männer am Freitag, dem 14. Mai 1613, über die vom Konsistorium vorgesehene Union beider Gemeinden, über die geplante Bestellung des Variscus zum Pfarrer auch in Herberhausen und über dessen Präsentation und Belehnung durch die Gladebecker. Höchst wichtig war dem Konsistorium, daß es mit ihrem gutten willen zugehen solle. Ausgleichen und Friedewirken waren seine Maximen, nicht obrigkeitliches Durchregieren! Eingefunden hatten sich 22 mit Namen aufgeführte Männer, drei waren abwesend. Wilhelm Gunter suchte gestohlene Pferde, der Hirte Kilian war beim Vieh und der Schafknecht Valentin beim Schafe hüten. Als die Herberhäuser anschließend im Pfarrhaus einzeln Mann für Mann einvernommen wurden (undt haben von der Mannschafft fur der Pfarr auffgewarttet einen nach dem andern vor sich fordern lassen), ob sie es zufrieden wären, wenn Variscus neben der Roringer Pfarre auch die Herberhäuser Pfarre versähe, stimmte einer nach dem anderen zu, einige mit dem freilich obsoleten Vorbehalt, so es mit der lehnjunckern undt Fürstlich Consistorii verordnung geschehe.121 Das Wunder dieses erstaunlichen Meinungsumschwungs – besonders desjenigen der am 28. Februar noch ganz anderer Auffassung gewesenen Ortsnotabeln – dürfte ein Werk vor allem des Variscus gewesen sein. Die Akten verraten nicht, wie er es bewirkt hat. Daz die Leute zu Herberhausen uf diesen Variscum willigen, war dem Konsistorium sechs Tage später am 20. Mai 1613 bekannt. Doch um ganz sicher zu gehen, sollte der Oberamtmann Wissel erkunden, ob dem wirklich so wäre. Danach möge Variscus das documentum der Belehnung von denen von Gladebeck bringen.122 Bestand man wirklich auf dem Original des am 25. Juli 1612 ausgefertigten Lehn119 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 459r (15. April 1613). 120 HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 247r–248v (Orig.). Ebenda, fol. 249r, 17. Mai 1613: auch jungsten 15ten Aprilis, da ich persönlich gegenwerttig und umb Immission angehaltten (Original). 121 Ebenda, fol. 251r–252v (Originalprotokoll). 122 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 478v (20. Mai 1613).

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briefes? Jedenfalls war zumindest dessen Kopie von Variscus am 30. August 1612, wie von diesem am 31. März 1614 erwähnt123, übersandt worden; sie hatte am 2. September 1612 vorgelegen.124 Am 7. Juni 1613 schien Variscus am Ziel seiner Wünsche zu sein, zumal, wie schon erwähnt, das Konsistorium auf nicht überlieferte Weise den Johannes Germer dazu hatte bewegen können, zugunsten von Variscus auf die eigene Belehnung zu verzichten.125 Für das Konsistorium schrieb Basilius Sattler an den Göttinger Generalsuperintendenten Magister Henning Tegtmeier und an den Mündener Amtmann Konrad Schermer126, es sei aus erheblichen Ursachen und mitt bewilligung der Gemein zu Herberhausen die Pfahr daselbst der Pfahr zu Roringen annectiret und dem ietzigen Pastorn daselbst zu Roringen Ehrn Andreae Varisco dieselbige mitt zu versehen anbefohlen worden. Generalsuperintendent und Amtmann sollten Variscus nach Herberhausen geleiten, vor der Gemeinde die Probepredigt halten lassen, bei erfolgter Vokation den darüber erteilten Schein einsenden und nach Bestätigung den Bewerber feierlich bei der Gemeinde einführen.127 Das Konsistorialprotokoll vom 7. Juni 1613 nahm den Beschluß zur Einführung schon vorweg, traute den Pfarrleuten aber immer noch nicht ganz: Pfarr zu Herberhausen. Man lasse die Immission ergehen, werde sich alßdan wol finden, ob sie semptlich mit dem Pastorn zu Roringen wegen der Union beider Pfarren friedlich sein wollen.128 Was sich hinter der in jener Zeit gerne gebrauchten Formel aus erheblichen Ursachen verbirgt129, ist in unserem Falle nunmehr evident. Seit der gescheiterten Anstellung an St. Marien standen Konsistorium und Generalsuperintendent öffentlich in der Pflicht, Variscus zu befördern. Die Verbindung der beiden Pfarreien war dabei nicht von vornherein geplant. Anfänglich dachte man an eine Wegberufung des Variscus aus Roringen. Indem man ihm jetzt – und zwar auf seinen Wunsch hin – zu Roringen auch noch Herberhausen dazu gab, war er 123 124 125 126 127

HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 266r–v. Ebenda, fol. 199r–v, Präsentationsvermerk. Vgl. Anm. 97. S. oben bei Anm. 118. Münden war ein Calenbergisches Amt, Casemir; Ohainski, 1996, S. 51–53, 91. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 74, fol. 38–39 (Abschrift). KKA GÖ, Superintendentur Spezialia Roringen Nr. 2 (Abschrift des 17. Jh. und Abschrift Schlegels von 1801). Vgl. Günther, 2000, S. 303f. 128 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 484r, 7. Juni 1613. Laut Schreiben des Konsistoriums an den Rat, s.oben, StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 74, fol. 38–39, wurde am 7. Juni über Herberhausen zugunsten des Variscus entschieden. Das Geschäftstagebuch des Konsistoriums, HStAH, Cal. Br. 21 Nr., fol. 437r, hat als Tagesordnungspunkt 3: Pfarr zu Herberhausen. 129 Vgl. nur den Gandersheimer Landtagsabschied von 1601, Sehling, 1957, S. 894: und da die Vocatio aus erheblichen Ursachen nicht abgeschlagen wirdet, zugleich zur immission und subscription ihrer […] Kirchen-Ordnung […] uberschickt […]. Ebenfalls häufig verwendet wird die ältere kanonistische Formel necessitate cogente (aus zwingender Notwendigkeit).

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naturgemäß besser bepfründet als vor seiner Bewerbung um die Stadtpfarrei von St. Marien. Dabei war und ist das Roringer Pfarrgut stets umfangreicher gewesen als das Herberhäuser. Es zählte in Roringen im 15. Jahrhundert fünf Hufen, das waren 120 Morgen130, im Jahre 1672 in Roringen 122 Morgen und in Herberhausen 80 Morgen131, im Jahre 1798 in Roringen knapp 140 und in Herberhausen knapp 110 Morgen.132 Der eingangs erwähnte Streit belegt, daß, womit das Konsistorium durchaus gerechnet hatte, keineswegs alle Pfarrleute mit der Union zufrieden waren. Aber auch bei der für den 24. Juni 1613 angesetzten Einführung in Herberhausen gab es einen Eklat. Eingefunden hatten sich neben dem Generalsuperintendenten Tegtmeier, als Vertreter des Mündener Amtmanns Konrad Schermer der Leinebergische Landgerichtsfiskalverwalter Barnstorff Behren, erwartungsgemäß die beiden Vogtherren Dr. Ludolf Henckel und Jobst Gercken, aber beunruhigenderweise auch der Göttinger Stadtschreiber (Sekretär) Theodor Henckel nebst dem Notar Johannes Bielstein. Im Pfarrhuse, uff der Hausdeele daselbst, legten Stadtschreiber und Vogtherren förmlichen Protest ein gegen die Anwesenheit eines Vertreters des herzoglichen Amtmannes. Der Göttinger Rat habe seit undenklicher Zeit die Herrschaft (Botmessigkeit) über das Dorf Herberhausen innegehabt. Dieses Recht wollte er durch die Präsenz eines Vertreters des Landesherrn nicht verletzt sehen. Der Einwand des Generalsuperintendenten, hier ginge es nicht um eine Schmälerung städtischer Herrschaft über das Dorf, sondern um das Recht, nach landesherrlichem Gefallen einen Pfarrer anzustellen, verfing nicht: Der secretarius hingegen hat gesagt, das umb das Ius Episcopale alda zu Herberhausen nitt werde gefochten, das jetzige fürnnehmen aber lieffe gleichwol dem alten herkommen, recht undt gerechtigkeiten, dessen der Rat lange Jahre hero in possessione vel quasi gewesen undt noch were, ja den abschieden und Verträgen gestracks zu wieder […]. Woruff folgende die Herren Voigtherren samt dem secratario mitt wünschung eines guten Tages vonn ihme, dem General undt Fisco abgetretten.133

130 Butt, 2012, S. 146, 180f. 131 Günther, 2000, S. 111, 304. Butt, 2012, S. 232. 132 Pfarrarchiv Roringen, H.S. 1, Corpus bonorum der Kirchen zu Roringen und Herberhausen, 1798, fol. 41v (Roringen), fol. 57r (Herberhausen). Vgl. für Herberhausen Günther, 2000, S. 111. 133 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 74, fol. 40–42 (Original, Notariatsinstrument, 24. Juni 1613). Vgl. den Bericht Tegtmeiers und Barnstorff Behrens’ an das Konsistorium vom 27. Juni 1613, HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 258r–259v (Original). Zu dem von 1612/ 13 bis 1626 als Leiter (secretarius) der Göttinger Kanzlei amtierenden Theodor Henckel s. Lehmberg, 1999, S. 313f. Konrad Schermer war Amtmann in Münden von 1602/03 bis 1614, Lippelt, 2008, S. 412.

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Die feierliche Einführung des Variscus, gegen die sich schon am Vortag der Rat gegenüber dem Konsistorium schriftlich verwahrt hatte134, war gezielt gesprengt worden. Das Aufsehen, das diese Demonstration erregte, und die Enttäuschung des Variscus müssen beträchtlich gewesen sein. Zudem waren überflüssige Kosten entstanden, welche die Herberhäuser Kirchenrechnung für 1613 ausweist: uff die Immission Ern Andreae in die Joh. Baptistae (24. Juni) alßs ein Erbar Rath contra praefectum Mundensem protestiert, uffgang nemlich 4 Rth., 23 Gr., 0 Pf.135 Im Jahre 1610 hatte man bei der Einführung von Pastor Rethelius in Herberhausen städtischerseits wegen der Anwesenheit eines Vertreters des Amtes offensichtlich keine Schwierigkeiten gemacht. Dem Schulzen von Münden war damals das Pferdefutter aus der Kirchenkasse bezahlt worden.136 Das Konsistorium wollte hier nun keinen grundsätzlichen Streit darüber führen, wer als rechter Gerichtsherr zu gelten und bei der Aufstellung eines Pastors laut Kirchenordnung und dem Gandersheimer Abschied anwesend zu sein hatte oder präsent sein durfte.137 Am 12. August 1613 beschloß es: Pfarr zu Herberhausen. Wen sie (= Wenn die Stadt Göttingen) die Undergerichte haben, so ziehe man sie dazu (= zur Immission von Variscus.). Aber es soll ihnen zu keinem Praejuditium eingereumbt werden.138 Am 5. September 1613 wurde Variscus in Herberhausen von Tegtmeier und den Vogtherren Henckel und Justus/Jobst Gercken eingeführt.139 Die Kosten fielen diesmal um fünf Groschen niedriger aus – ein landesherrlicher Vertreter war jetzt nicht mehr dabei.140 Die Ausgaben für den Breuhan, ein starkes Weizenbier141, waren stets der größte Posten, der bei dem sich der Einführung üblicherweise anschließenden Festmahl anfiel. Drei Taler und neun Mariengroschen hatte er 1610 bei der Introduktion von Pastor 134 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 74, fol. 33–34 (Konzept). HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 255r–257v (Originalausfertigung). 135 KKA GÖ, PfA Herberhausen KR I,1, 1613, fol. 33v. 136 Ebenda, KR I,1, 1610, fol. 26v: Hew undt Hafer des Schulzen von Münden Pferde der der Introduction beygewohnet 3 (Mariengroschen). 137 Vgl. Sehling, 1955, S. 187, 189f. Sehling, 1957, S. 892 (Gandersheimer Abschied von 1601). 138 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1946, fol. 534v. Vgl. HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1972, Geschäftstagebuch, fol. 440v (12. August 1613), Tagesordnungspunkt 11: Pfarr zu Herberhaussen. 139 KKA GÖ, Ephoralarchiv Göttingen Spezialia Roringen Nr. 2, Kopie von Schlegel von 1801, der bemerkt: »In Dorso [des Originalschreibens] (von der Hand des Generalsup. Tegtmeier)«: Fürstl. Br. Consistorium befelich von Andreas Varisci Immission zu Herberhausen ist verrichtet durch mich den Generalem und die beide Vogtherren Ehrn Dr. Ludolfum Henkelium und Justum Gercken, Dominica 14 post Trinitatem 1613. 140 KKA GÖ, PfA Herberhausen KR I,1 1613, fol. 33v: Zum anderen was den 5. Septembris uff ebdieselbe immission alßs sie per senatum expediret, uffgang videlicet: 4 Rth., 18 Gr. 0 Pf. 141 Wendler, 1784, c. 6 S. 128: Breyhan. Das ist ein sonderlich gutes Bier von Waitzen; solche Bier werden sonderlich zu Hannover, Quedlinburg, Hildesheim, Göttingen und in andern Orten, wie auch in Thüringen, mehr gebrauen, so süßen Geschmacks, starker Substanz, und gutes Nutriments sind. Vgl. auch ebenda, c. 3 S. 72–75: Thüringischer Breyhan. Adelung, Bd. 1, 1793, Sp. 1203: Broihan. Grimm, 2, 1860, Sp. 379.

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Rethelius in Herberhausen gekostet, während für Fleisch und Käse damals je 15 Mariengroschen, also je knapp ein halber Taler, aufgewendet worden waren.142 Andreas Variscus und auch der Generalsuperintendent Henning Tegtmeier hatten sicherlich nicht damit gerechnet, daß die förmliche Einführung in Herberhausen so lange auf sich warten lassen würde. Bereits am 12. November 1612 hatte Variscus das Pfarrland und das Pfarrgehöft in Roringen mit Wissen und sogar unter der Zeugenschaft Tegtmeiers an Lorenz Meier aus Barlissen vermeiert und, wie bereits erwähnt, das Roringer Pfarrhaus mit Vertrag vom 22. Februar 1613 seinem Meier als Wohnung überlassen.143 Trotz jüngster gegenteiliger Erfahrungen mit der Gemeinde von St. Marien rechneten offenbar Tegtmeier und Variscus zunächst fest mit der Berufung durch die Herberhäuser Pfarrleute. Das Konsistorium war da vorsichtiger, scheint aber niemals daran gedacht zu haben, auch die Roringer nach deren Meinung über die Union zu befragen. So bleibt als einzige Stimme diejenige des eingangs erwähnten Claus Beulcke, der vielleicht einer unter den Roringern weiter verbreiteten Unzufriedenheit Ausdruck verlieh. Der Ausgang der eingangs erwähnten Beleidigungsklage ist im Übrigen nicht bekannt.

5.

Beschwerden, Klagen, Konflikte

Andreas Variscus pochte hartnäckig auf ihm tatsächlich oder vermeintlich zustehende Rechte. Den Anfang machten seine Bemühungen um den Rückerwerb der sogenannten zwei Ombornschen Hufen. Diese, zum Roringer Pfarrland gehörig, lagen in der Flur der Ortswüstung Omborn (östlich Herberhausen).144 Beide Hufen hatte der Göttinger Bürger Levin Spangenberg, ein Sohn des 1560 in Roringen amtierenden Pastors Heinrich Spangenberg, unter dem Pflug gehabt, wodurch sie im Laufe der Jahrzehnte der Roringer Pfarrei entfremdet und an den Ratsmeierhof in Herberhausen gezogen worden waren.145 Bereits zwei Jahre nach 142 KKA GÖ, PfA Herberhausen KR I,1, 1610, fol. 26v. 143 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 77, fol. 5r–6v (Zeitgenössische Kopie des ersten Meierbriefs des Variscus für Lorenz Meier, 12. November 1612). – Wie Anm. 21 (22. Februar 1613). 144 Zu Omborn s. Kühlhorn, Bd. 3, 1995, Nr. 278 S. 64–74. Günther, 2000, S. 65–67. Casemir; Ohainski; Rudolph, 2003, S. 307–309. Butt, 2012, S. 267–275. 145 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 76, fol. 4r–v, Schreiben von Underberg, dem Roringer Vorvorgänger des Variscus, an den Herzog, 27. Juni 1608 (Kopie von der Hand des Variscus), fol. 4r–v: Auch gnediger Furst und Herrr, Haben die von Göttingen zwo hufen Landes, zu Ahmborn am Walde gelegen an sich gezogen, dieselben an die 30 Jahre meines tragenden amtes gebrauchet, mir nichts, wie doch Röriger Pastorn geschehen, davon gereicht oder gegeuen, ob ich wol darum gesprochen und sie hier auch zum Herzberge verclaget. Darauff ist nichts den dieser halvens praetextus vorgewandt, es köntten die zwo Huffen Landes wiederumb zur Pfarre kommen, da ich from wurde, da sie dieselbigen doch bey

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seinem Antritt in Roringen, am 28. April 1608, hatten Variscus und sein Vorvorgänger Underberg bei Herzog und Konsistorium um die Restituierung dieser zwei Hufen gebeten.146 Underberg war an der Wiedergewinnung offenbar deshalb interessiert, weil er sich aus ihr seinen Unterhalt als Altenteiler erhoffte.147 – Erst 1614 wurde Variscus in der Sache erneut und nun beim Rat vorstellig. Nachdem dieser beschlossen hatte, die Sache zu prüfen und die Lage der Ländereien zu eruieren148, konnte Variscus am 13. Juli 1614 eine Hufe und zwei Morgen lokalisieren, die – auf rund 25 Ackerstücke verteilt – vor allem auf dem Drakenberg lagen, aber auch auf der Kalkreese, den Horstbäumen oder im Luttertal.149 Die an den zwei Hufen fehlenden Morgen seien nach der eltesten Aussage zum Walde kommen.150 Mit der Restituierung hatte es der Göttinger Rat dann nicht besonders eilig. Erst nachdem ihm Variscus am 29. März 1615 drohte, ein Schreiben Underbergs von 1608, das für die Stadt unerfreulich und von ihm deshalb bisher zurückgehalten worden sei, nach Wolfenbüttel zu senden151, wurde am 31. März

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Zeitten Heinrich Spangenberges, meines Antecessoris entwendet […]. Am 16. Dezember 1603 wurde u. a. der Göttinger Bürger Levin Spangenberg, unseres anteccessoris sohn, welcher die zwei Hufen Landt unter dem Pfluge gehabt, vor den Harster Amtmann Levin Hasenfuß geladen, ebenda. Hasenfuß ist sonst zu 1604–1605/1606 als Harster Amtmann bezeugt, Lippelt, 2008, S. 325. Herzberg war Residenz der 1595/1596 ausgestorbenen welfischen Herzöge von Grubenhagen, vgl. Max, Bd. 1, 1863, S. 384, 392f. Aufgebauer, 2003, S. 270–272. Sie waren die damaligen Patrone Roringens. – Am 31. März (15)60 hatte Heinrich Spangenberg, Pfarrer zu Roringen, beim Göttinger Rat um Roringer Kirchenländereien in Omborn (etlike lenderye to Omborne ligende) geklagt, StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, fol. 27r–v (Orig., niederdeutsch). In derselben Sache ein zweiter Brief Spangenbergs vom 21. Juni (Albani) (15)60, ebenda, fol. 10r–v, und ein dritter ohne Datierung, ebenda, fol. 9r–v. – Zur Sache vgl. Günther, 2000, S. 67. Zum Herberhäuser Ratsmeierhof s. ebenda, S. 110f. Butt, 2012, S. 465 Nr. 62 u. ö. Omborner Hufen an den Ratsmeierhof: StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 76, fol. 13r–v, besiegelter Revers des Variscus über die Omborner Hufen, 22. März 1615. HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1944, fol. 21v: Die 2 Hufen Landes belangt, muß man weiter inquiriren, wie es darumb beschaffen […]. Item alter unnd neuer Pastor zu Roringen suppliciren an Illustrissimum das sie zu den 2 Hufen Landes wiederumb kommen mögen. Vgl. oben bei Anm. 49. StA GÖ, AB Ver 1,6,1 (Ratsprotokolle), fol. 92r (29. März 1614): Andreas Variscus beclagett sich, daß 2 Hufe Landes an seiner Pfarr gehorett, so von Ohmbornischen Lande, Senatus an sich gezogen, pitt restitutionem. Beschloßen, so es sich soltte supplicialitermaßen verhaltten, würden sie ihme nicht ohnpbillig hinwieder restituiret, doch erkundige sich der Vogtt bey dem Burgermeister Ludoff Boden, und werde fleißig nachgekundigett, wo eigentlich sollche Länderey liggen muge, fiat inquisitio. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 76, fol. 5r–7v (13. Juli 1614, eigenhändig). Zu den Flurnamen s. Günther, 2000, S. 451 Nr. 61, S. 452 Nr. 37a, Nr. 107 (nebst Karte). Östlich der Dorfstelle Omborn auch der »Papenackerstieg«, vgl. ebenda, S. 454 Nr. 56. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 76, fol. 2r–3r (30. Juli 1614, eigenhändig). Ebenda, fol. 11–12, fol. 11v: Welches Schreiben ich umb Schimpffs willen eines Erbarn Raths in originali bey mir behalten und nie uberschicket habe, so aber nun mit den Acten und dem Revers, weil dessen Meldung geschiht, mit überschicket werden mußte (29. März 1615, ei-

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1615 die Herausgabe beschlossen.152 Am 18. April 1615 schließlich war ihm durch Revers das Land gutwillig eingereumet, dafür thue ich mich zum allerdienstlichsten bedancken. Aber noch hätte er keinen Bescheid über die auch geforderten Feldfrüchte aus den Ombornschen Hufen, wenn nicht von vier, so doch von drei oder zwei Jahren, demnach es mir armen Mann itzo erwehnter Ursach halber gar schwer fellt, indem ich kein brotkorn, auch keinen Habern zu stehen habe.153 Bestellen sollte es der Roringer Pfarrmeier, was dieser aber unterließ.154 In Lorenz Meier aus Barlissen, dem, wie erwähnt, Variscus am 12. November 1612 das Roringer Pfarrland vermeierte155, hatte er keinen treuen Pächter gefunden. Dabei war der Pastor dem Meier anfangs weit entgegengekommen. Da das Pfarrland schlecht bestellt wäre, minderte er die Pacht von 40 Maltern jährlich für das Jahr 1613 auf 30 Malter, für 1614 auf 32 und für 1615 auf 36 Malter156. Einen Tag später, am 13. November 1612 hatte er dem Meier auf dessen inständiges Bitten fünf Taler bahr also uff meiner obere pfarrstuben zue Roringen zugestellt.157 Weitere Vorschüsse kamen hinzu, so daß sich die Schulden des Roringer Pfarrmeiers gegenüber dem Pastor bereits am 16. Juli 1613 – da war Variscus in Herberhausen noch gar nicht eingeführt! – auf 228 Taler, 30 Mariengroschen und vier Pfennige beliefen.158 Ein Gütetermin am 27. Juli 1615 vor dem Generalsuperintendenten fruchtete nichts;159 laut notariell beglaubigtem Anerkenntnis beliefen sich die Schulden des Lorenz Meier gegenüber dem Pastor am 28. April 1618 auf 396 Taler, 13 Mariengroschen und vier Pfennige, wofür er seinen Besitz in Roringen, Elkershausen und Barlissen als Unterpfand benannte.160 Obwohl Lorenz Meier nicht nur seine Schulden nicht beglich und seine Pacht nur teilweise entrichtete, hat Variscus am 28. Juni 1617, ein Jahr vor Ablauf des über sechs Jahre laufenden Meiervertrags, einen neuen Kontrakt geschlossen.161 Offenbar war es gar nicht leicht, einen anderen Meier zu finden. Im Jahre 1618 hatte Variscus aber dann doch genug und beantragte beim Rat, das vermeierte Roringer Pfarrgut unter Sequester zu stellen.162 Jetzt warf er seinem Meier

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genhändig). Das unterdrückte Schreiben ist der in Anm. 48 angeführte Brief vom 24. Juni 1608. StA GÖ, AB Ver 1,6,1 (Ratsprotokolle), fol. 120r. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 76, fol. 8r (eigenhändig). StA GÖ, AA Stadtförfer Allgemeines Nr. 77, fol. 26r. S. oben bei Anm. 144. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 77, fol. 5–6, Kopie des ersten Meierbriefes für Lorenz Meier, 12. November 1612. Ebenda, fol. 34r (Klageschrift des Variscus über Meier vom 25. Oktober 1618). Ebenda, fol. 9–10 (Kopie). Ebenda, fol. 11 (Kopie). StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, fol. 80r–81v. Vgl. AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 77, fol. 17r–18v. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 77, fol. 39v. StA GÖ, AB Ver 1,6,1 (Ratsprotokoll), fol. 186v (10. August 1618).

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vor, versoffen und faul zu sein und Acker und Hof verkommen zu lassen. Das Pfarrland habe er nicht allein nicht gebessert, sondern um ein 100 Thaler minuiret und verbösert […] das er im fastellabend, wenn ander leute zu felde gezogen und er auch zu gebührender Zeit pflugen und sehen sollen, sampt seinem Sohn und Weibe sich bey dem Gesauffe finden lassen, und wol gantzen 14 Tagen oder 3 Wochen continue aneinandergefaßten mitt dem Pfluge stille gehalten […]. contra Art. 14 die Pfarrgebeude und Zeune devastiret, demoliret und nicht in esse erhalten […] das Haus, Scheune und Stelle, Dhach, Fach thurund fensterlos gemacht, kachel und backofen verwustet, Thuren und Wende zerbrochen, und die Mauern durchbrochen, das es mehr einer Wusteney den Pfarrwohnung ehnlich gemacht, und damitt umb ein großes minuiret.163 Gegen gewisse Einlassungen seines Meiers, die dieser zu seiner Verteidigung hatte formulieren lassen, bedurftte ich woll eines Petrum Lombardum oder sonst eines Weisen von hohen Sinnen, der mir den Allegorischen und tiefst verborgenen Verstandt, [und] Sinn herausgrübe.164

Der Sentenzenkommentar des Petrus Lombardus († 1160), das wichtigste theologische Lehrbuch des Mittelalters165, gehörte offenbar auch noch im späten 16. Jahrhundert zum Kanon auch eines evangelischen Theologiestudiums. Auch Cicero und Vergil liebte Variscus zu zitieren166, prunkte also gern mit seiner literarischen Bildung. Das und auch seine Ironie dürfte aber nicht nach jedermanns Geschmack gewesen sein. So oder so mußte Lorenz Meier räumen. Am 26. August 1620 war Zacharias Hageroth Meier auf dem Roringer Pfarrgut. Aber sogleich klagte Variscus vor den Vogtherren auch gegen ihn. Er leistete den geschuldeten Dienst nicht, hätte sonntags das Pferd nicht geschickt, mit dem er nach Roringen zum Gottesdienst reiten wollte, ja hätte ihn fur ein Rozenheit gehalten.167 Ein Jahr später, am 28. August 1621, stritt sich Variscus vor dem Vogtherrengericht mit demselben Meier um ein Fuder Dinkel (andacht), den dieser am Vortag auf dem Felde habe liegen lassen.168 163 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 77, fol. 19–44, Replik des Variscus auf die Gegenvorstellungen seines Meiers, Zitate fol. 37v, 38r–v, 40r, 42r. 164 Ebenda, fol. 40r. 165 Vgl. Brecht, Bd. 1, 1990, S. 98, 100f., zu den Sentenzenvorlesungen Luthers. 166 StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 77, fol. 41v (25. Oktober 1618), an die Vogtherren: ›Cuius animi semel verecundiae limites transierit, illum gnaviter impudentem esse oportet‹, inquit Cicero. Vgl. Cicero, ep. ad fam. 5,12,3: Sed tamen qui semel verecundiae finis transierit, eum bene et naviter oportet esse impudentem (Nun, wer einmal die Grenzen der Bescheidenheit überschritten hat, der muß auch ordentlich unbescheiden sein). Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, fol. 82r (24. April 1618), an den secretarius der Stadt, also Theodor Henckel, vgl. Lehmberg, 1999, S. 313f.: ›Sunt longae ambages. Longa est iniuria rerum‹. Vgl. Vergil, Aeneis I, 341: Longa est inuria, longae ambages (Lang ist und verwickelt des Unrechts ganzer Verlauf). 167 StA GÖ, AB MS 16,4 S. 60. – Rozenheit: anderweitig nicht belegt. Mit Dr. Scheuermann und Dr. Lehmberg, Niedersächsisches Wörterbuch Göttingen, drückt das Wort eine Beleidigung aus, vgl. »Rotzkerl«. 168 StA GÖ, AB MS 16,4, fol. 102r, 28. August 1621.

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Streitigkeiten der Pfarrer mit ihren Meiern waren aber auch andernorts an der Tagesordnung. Die Wolfenbüttler Konsistorialprotokolle der Zeit sind voll davon, freilich nur von Klagen der Meier gegen ihre Pastoren; die Klagen der Pastoren gegen die Meier wurden hingegen vor den weltlichen Gerichten geführt169 – so wie von Variscus vor dem Göttinger Vogtherrengericht. Variscus war rechthaberisch; hatte er sich doch am 24. August 1618 beim Rat auch beschwert, trotz des verhängten Sequesters hätte der damalige Meier die Pferde zu gut aus dem Meiergut gefüttert, am 9. August nun schon zum dritten mal gebacken und am 23. August schon wieder zwei Kuchen zubereitet!170 Dabei fehlte es dem Pfarrerehepaar nicht an barem Geld. Der Pastor verkaufte 1616 dem Hans Hermann aus Waake eine Rente171, und die Ehefrau hatte vor 1623 dem Tönnies Nietmann aus Herberhausen drei Taler geliehen.172 Vor 1613 war das Herberhäuser Pfarrland vermeiert gewesen, zuletzt aber gar nicht mehr bestellt worden;173 jetzt wirtschaftete der Pastor selber. Aber ihm fehlten ein Pferdestall, geeignete Stallungen für sein Vieh; die Scheune war klein, war zum Befahren ungünstig gelegen und überdies naß. Auch war der Zaun um den Pfarrhof gantz und gar verfallen und zerrissen, daß ich weder mein eigen Vihe uffm Hoffe behaltten, noch denselben fur fremdes Vihe verthedingen kan.174 Im Unterschied zum renovierten Pfarrhaus war das Pfarrgehöft offenbar heruntergekommen. Um zu einem neuen Zaun zu kommen, wandte sich Variscus am 15. März 1615 an den Rat, dieser möchte ihn über die Vogtherren mit Stock- und Zaunholz versehen und den Leutten die Handlangung dazu ex officio imponiren (von Amts wegen auferlegen), damit dem stylo (der Übung) nach der Zaun in seinen Standt wiederumb gebracht werden muege mit etwas Pfosten zue Pfortten.175 Die Aufsicht über die Zäune im Dorf lag im 15./16. Jahrhundert bei den Vogtherren.176 Insofern waren sie beziehungsweise der Rat durchaus die richtigen Adressaten. Aber Dümmeres als sich der Handdienste seiner Dorfbewohner statt durch Bitten mittels Weisung der Obrigkeit zu versichern, konnte der Pastor nicht tun. Am 19. April 1615 verwahrte sich die Gemeinde zu Herberhausen gegen sein Ansinnen, das ihr vom Förster im Beisein des Pastors eröffnet worden war. Zu Zeiten des Vorgängers Johann Tappius habe

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Müller-Volbehr, 1973, S. 292. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, fol. 83r. StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 77, fol. 13r–14v. StA GÖ, AB MS 16,4, fol. 132v (23. Februar 1623). HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 195r–196r (Variscus an Konsistorium, 30. August 1612). StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 76, fol. 2r–3r, hier auch die Erwähnung des Börries Kerlls als gewesenem Meyers (eigenhändiger Brief des Variscus an Göttinger Rat, 30. Juli 1614). 175 Ebenda, fol. 14r (Postsciptum zum Schreiben vom 22. März 1615). 176 Butt, 2012, S. 138, 185, 236f., 239, 374.

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derselbe die Gemeine nicht mit Gewaltt die Zeune zu machen gedrungen, sondern bittlich undt flehentlich ersucht, Ihme dieselbe umb seine Belohnung in den Standt wiederumb bringen helffen. Undt als die Zeune gemacht ehr der Pastor der gemeine ein faiß geduppelt Bire [ein Faß Doppelbock] verehrett undt gegeben hatt, undt wir also von keinem Pastorn ohne Belohnung zu Holzdiensten nichmals wie Izo beschihtt, gedrungen worden.

Acht Tage würden sie brauchen für Staken und Ruten hauen und zäunen, und könnten derweil nicht für das liebe Brot arbeiten. Dagegen wären ein halber oder ganzer Tag noch zu erdulden.177 Sie wurden beim Wort genommen. Noch am 19. April 1615 hat ihnen der Rat auferlegt, 180 Eichenstaken und Weiden aus dem Holz zu nehmen: dess soll ein jeder Unterthan einen Tag darzu arbeiten, ess sei mit Zeunen oder zcu ihm faren.178 Variscus fand gegenüber seinen ländlichen Pfarrleuten einfach nicht den richtigen Ton; das Klima zwischen dem Pfarrer nebst Familie und der Gemeinde verschlechterte sich zusehends. Die vom Pfarrer gehaltenen Ziegen sollten 1615 bis auf zwei für dessen kranke Frau abgeschafft werden.179 Vor dem Vogtherrengericht klagte Variscus am 17. Juni 1620 gegen die Gemeinde Roringen um Graswuchs180, am 22. Juli 1620 gegen die Herberhäuser Tönnies Nietmann und Jörg Kerll, die ihm mit ihren Pferden seinen Dinkel verdorben181, am 26. August 1620 gegen die beiden Schäfermeister zu Roringen, die auf dem Drakenberg einen Morgen seines Weizens mit ihren Schafen beweidet hätten182, am 16. Juni 1621 gegen Dietrich Grothey aus Herberhausen, der die 16 Taler für ein vom Pastor gekauftes Pferd nicht mit Fahren, Pflügen, Dung und Mist fahren abverdiene183, am 14. Juli 1621 gegen die Herberhäuser Gemeinde, die ihn teilweise und den Opfermann gänzlich von der Nutzung der Weidenbäume ausschließe, wodurch sein ganzer Hof zaunlos sei – ob noch oder schon wieder, ist nicht klar; die Lebensdauer der aus Kopfweiden errichteten Flechtzäune belief sich auf rund zehn Jahre.184 Am 15. August 1621 kam der Schlachter Jost Groswurm, der alte Feind des Pastors, ungestüm auf den Pfarrhof gerannt, stürzte an des Variscus 177 Ebenda, fol. 15r–16v, Gemeinde zu Herberhausen an den Rat, 19. April 1615. Johann Tappius war 1602–1609 in Herberhausen und ging nach Nikolausberg, Meier, Bd. 1, 1941, S. 489. Vgl. auch HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1944, fol. 432v: Pfarr auf S. Nicolaus Berge. Er presentatus mus predigen alhie und alsdan nach Befindung confirmirt werden (11. Mai 1609). 178 StA GÖ, AB 1,6,1 (Ratsprotokoll), fol. 120v. 179 Ebenda, fol. 120v: Sonst ist dem Priester auch ufferlegett, die Ziegen abzuschaffen. Und ist er darauff erpöttig, dieselbe abzuschafffen, doch daz er müge 2 platt Ziegen seiner kranken Frawen halten. Dr. Scheuermann verweist für platt Ziegen auf das Woordenboek van de Brabantse Dialecten, Deel II,6, 1980, S. 940, wo mehrfach platte geit = »junge Ziege« belegt ist. 180 StA GÖ, AB MS 16,4 S. 46. 181 Ebenda, S. 59. 182 Ebenda, S. 63. 183 Ebenda, fol. 96r. Die Handschrift ist zunächst paginiert, ab fol. 80 foliiert. 184 Ebenda, fol. 98r–99r. Zur Lebensdauer dieser Zäune s. Scheuermann, 2013, S. 199.

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Frau vorbei in den Garten, beschwerte sich, die Bienen des Pastors würden die seinen auszehren und er, Pastor, solte solche Herbinen (Raubbienen) abschaffen, oder er wolte Ihnen feindtlich und peinlich vervolgen.185 Im August des Vorjahres hatte Valentin Voß seine Gänse in des Pastors Weizen auf der Sonnenbreite weiden lassen. Ein Kind des Variscus trieb diese Gänse auf den Pfarrhof, worauf die Voßsche erschien, ihn und seine Kinder beleidigte und sie vor verschorne (= verdorbene) Pfaffenkinder schalt.186 Trotz vieler geschlosssener Vergleiche schenkten sich Pastor und Pfarrleute nichts – so als lebten sie nicht am Abgrund des Krieges, in den nun auch sie seit 1623 gestürzt werden sollten. Sicher bezeugt ist Andreas Variscus zuletzt am 9. März 1623187, aber möglicherweise lebte er auch noch im Juli des Jahres.188 Am 17. Januar 1624 klagte seine Witwe Margarete gegen Tönnies Nietmann um die eben erwähnten drei ausgeliehenen Taler.189 Sie prozessierte noch 1630 vor den Vogtherren190, während eine Tochter Anna, offenbar verheiratet, am 28. August 1624 mit Zacharias Hageroth, dem zweiten Roringer Pfarrhofmeier ihres Vaters, im Streit lag, weil er ihr als Erbin noch Leistungen schulde. Auch hier kam es zu einem Vergleich.191

6.

Faktische Kombinierung der Gemeinden im Jahre 1631

Andreas Variscus starb also 1623 – wahrscheinlich noch nicht einmal 50jährig. Offenbar lebte er noch, als die Truppen Herzog Christians von Braunschweig im April 1623 in den Dörfen um Göttingen einquartiert wurden und am 25. Juni an der Roringer Warte ein Regiment unter Fürst Albrecht von Sachsen in die Flucht schlugen.192 Die Aufregung und die Schäden, welche diese Verbündeten des 185 Ebenda, fol. 102v–103r. Zu Heerbienen s. Adelung, Bd. 2, 1796, Sp. 1051. – Jost Groswurm, Schlachter, war vor dem 5. Januar 1613 ein Fürsprecher des Kandidaten Germer gewesen, s. oben bei Anm. 105, und einer der Wortführer der Gemeinde im Streit um den Zaun des Pfarrgehöftes, StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 76, fol. 8r–9v, Variscus an den Rat, 18. April 1615 (Originalschreiben). 186 StA GÖ, AB MS 16,4 S. 64, 26. August 1620. Zur Flur Sonnenbreite s. Günther, 2000, S. 454 mit den beiden Gemarkungskarten in der Beilage, dort Ziffer 006. – Zu verschorne s. Adelung, Bd. 4, 1801, Sp. 1116, Lemma verscheren: 2. Falsch scheren, im Scheren verderben, verunstalten, auf welche Art der Tuchbereiter ein Tuch verscheren kann. Vermuthlich von dieser Bedeutung gebraucht man das Mittelwort verschoren noch im gemeinen Leben für possierlich, lächerlich (freundlicher Hinweis von Dr. Scheuermann). 187 StA GÖ, AB MS 16,4, fol. 134, 1v. 188 S. unten bei Anm. 195. 189 StA GÖ, AB MS 16,4, fol. 160v. 190 Ebenda, fol. 326r. 191 Ebenda, fol. 187r, 334r, 336v–337r. 192 StA GÖ, AB III,5, Georg Mengershausen, Diarium vom Dreißigjährigen Krieg , Bd. 1, 1623, fol. 12v, 14r–15r.

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Landesherrn im Frühjahr und Frühsommer bis zu ihrem Abzug am 2. Juli 1623 verursachten, waren beträchtlich.193 Am 17. Juli 1623 kamen die nicht mit Namen genannten Pastoren zu Roringen, Herberhausen – wahrscheinlich noch Variscus – und von Bischhausen beim Konsistorium um Bewilligung einer Steuer ein, weil doch die Kirchen ietzo nicht bei geld, wurden aber beschieden, sich bis nach der Ernte zu gedulden.194 Für Variscus wäre ein solches Gesuch nicht untypisch. Niedergebrannt wurden Roringen und Herberhausen von spanischen Truppen des kaiserlichen Feldherrn Tilly allerdings erst im Januar/Februar 1626.195 Einen Totalschaden an der Herberhäuser Kirche hat es dabei offenbar nicht gegeben; denn die wahrscheinlich dort verwahrten Herberhäuser und Roringer Kirchenrechungen von vor 1626 haben überlebt und sind bis heute erhalten.196 Mit des Variscus Tod war die Verbindung der Pfarreien Herberhausen und Roringen erst einmal beendet. Nachfolger in Herberhausen war von 1624 bis 1626 Heinrich Henckel, aus Unterrieden gebürtig197, der sein Pfarrland an Christian Grothey vermeierte198, und in Roringen seit 1624 Hartmann Hissaeus (Hisse).199 Der Einbecker Hisse, der am 26. Februar 1624 von Herzog Christian von Lüneburg auf die Pfarre Roringen präsentiert worden war200, erschien am 4. März 1624 vor dem fürstlichen Konsistorium. Dieses belehrte ihn, Herberhausen aber sei eine eigene Pfarr, und wollen die Leute ietzo einen eigenen Pastorn haben, stehe ihm zu bedencken, ob er damit einig sein könne, soll der Ordnung nach mit ihm verfahren werden. Der Kandidat räumte ein, ihm (sei) die condition selbiger Pfarre gar nicht wißend, war es zufrieden und ließ sich nach Helmstedt zum

193 StA GÖ, AB MS 16,4, fol. 138,1r–138,10v (Schadensverzeichnis, verfaßt von Georg Mengershausen). 194 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1951, fol. 23r. 195 StA GÖ, AB III,5, Georg Mengershausen, Diarium, Bd. 1, fol. 30r, 32r, 34r. 196 KKA GÖ, PfA Herberhausen KR I,1, Kirchenrechnungen 1607–1610, 1613, 1624–1631. KKA GÖ, PfA Roringen KR, I,1, Kirchenrechnungen 1602–1612. 197 HStAH , Hann. 83 III Nr. 621, fol. 276r–v (am 15. Januar 1624 vorgelegtes Präsentationsscheiben der Gladebecker). – KKA GÖ, PfA Herberhausen KR I,1 (Kirchenrechnung 1624), fol. 36r: Ußgabe: Bei der Immission des Pastoris ins Ampt verzehret 13 Th., 17 Gr., 4 Pf. 198 StA GÖ, AB MS 16,4, fol. 228r: Der Pfarrer zu Herberhausen beklagt seinen Meier Christoph Groteheinen: Herr Cleger zeigt an (1. Dezember 1625). 199 Ebenda, fol. 190,1 r–v: Brief des Roringer Pastors Hartmann Hissaeus an den Vogtherren Gabriel von Schneen geben Roringen, 10. September 1624. Es geht um Erbenzins von einem zum Pfarrgut gehörigen Hof der Schraderschen, dessen Höhe er nicht kenne; bittet um Untersuchung amtshalber. Diese Sache wird fol. 201r vor dem Notat Finis 1624 anni protokolliert und entschieden. 200 HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 21r (Kopie). Obwohl Roringen im Fürstentum Göttingen lag, war sein ehedem Pöhlder Kirchenpatronat mit der Säkularisation des Stifts an Grubenhagen übergegangen. Das Fürstentum Grubenhagen war 1617 an die Celler Linie der Welfen gefallen, Max, Bd. 1, S. 407f.

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Examen empfehlen.201 Wahrscheinlich im Interesse des Heinrich Henckel in Herberhausen beauftragte das Konsistorium am 29. April 1624 den Superintendenten zu Göttingen, umgehend über die Einkünfte der dortigen Pfarre zu berichten.202 Sicherlich wegen der Kriegsverwüstungen verließen beide Pastoren im Jahre 1626 ihre Gemeinden; diese werden sich ebenfalls in die Stadt geflüchtet haben.203 Hisse ging nach Lauenberg bei Einbeck.204 Henckel blieb in Göttingen, wurde für eine Berufung an St. Jacobi als nicht genügend qualifiziert befunden, aber am 9. November 1626 von Herzog Friedrich Ulrich von Braunschweig zum Pfarrer an St. Nicolai bestellt.205 In Roringen wurde nach zweijähriger Vakanz der Göttinger studiosus Christian Meyer am 31. März 1628 von Herzog Christian von Lüneburg präsentiert206 und dann am 26. Juni 1628 eingeführt.207 Dagegen wurde Herberhausen nicht wieder besetzt. Um das Jahr 1630 soll dort das Pfarrhaus eingefallen gewesen sein.208 So hat spätestens seit November 1631 der Roringer Pastor 201 HStAH, Cal. Br. 21 Nr. 1951, fol. 136v–137r. Ebendort war das Konsistorium der irrigen Meinung, daß der Herberhäuser Patronat herzoglich sei: und so wenig als dem Patronat zu Röringen eintrag geschehe, so wenig könne man auch gestatten, das Illustrissimus an dem Patronat zu Herberhausen verkürtzt würde. 202 Ebenda, fol. 170r. 203 Vgl. Kühn, 1987, S. 656f. 204 Meier, Bd. 1, 1940, S. 332. Bd. 2, 1942, S. 53f. 205 StA GÖ, AA Nr. 5152, fol. 79r–80v, Reskript an den Rat, 9. November 1626. 206 HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 25r, Empfehlungsschreiben des Magisters Johannes Wezelius an die Osteroder Räte, 28. März 1628 (Kopie): den studiosum von Göttingen Kristianum Meyern … weil er bisher lenger dan ein halbes jahr ohn allen genuß und darzu mitt leibes und lebensgefahr den armen leutten zu Röringen Gottes Wortt geprediget, auch ein gutes testimonium vom Ministerio zu Göttingen eingeschicket, fol. 26r, Herzog Christian an die Osteroder Räte, 31. März 1628 (Kopie). 207 StA GÖ, AB MS 16,3 (Normal- und Protocoll-Buch des Vogtgerichts 1591–1783), fol. 12v (von der Hand Mengershausens): Weil in Anno 1626 der Pastor zu Roringen Hermannus Hissaeus seine Gemeinde daselbst verlassen und anderer Wege gezogen und darauff zwey ganzer Jahre die Pfarr daselbst unbesetzett plieben, als hatt hernachmals ein Studiosus Theologiae von Geismar Christianus Meier, welcher sich anfangs zu Osterohda bei dem Superintendenten, weill solche Pfarr vom Fürsten zu Braunschweig zu Lehn gehet, der Praesentation halber beworben, dieselbe auch hernachmals und daruff auch von Fürstl. Br. Consistorialibus Mandatum immissoriale in selbische Pfarr erlangt, solche auch, wie folgender actus bezeugt, verrichtet worden. Es folgen fol. 13r–v Kopien von Schreiben vom 8./26. Juni 1628 betreffend die Vokation und Immission des Christian Meyer. 208 KKA GÖ, PfA Roringen A 101 (Patronat), Notiz auf einem Viertelbogen, die wegen Erwähnung des Patronatswechsels auf die Familie von Wangenheim von nach 1701/1705 stammen muß: Extract aus einem alten Inventari von seel. Christian Meyer de 1640: Das ius patronatus über Roringen hat der Landesherr und über Herberhausen, welches aus erheblicher Ursache erster annectiert ist, die Herren von Gladebeck sowie itzo die Herren von Wangenheim. Letzterer Ort hat vor des seligen Meyers einen eigenen Prediger gehabt und hat der letzte Prediger Henckel geheißen und ist ohngefehr daß Pfarrhaus anno 1630 eingefallen. Zu dieser Zeit sollen in Roringen nur 27 und in Herberhausen nur 13 Wohnhäuser gewesen sein. – Nach dem schon oben bei Anm. 18 angeführten Bericht des Roringer Pastors

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Christian Meyer die Herberhäuser Pfarrstelle mit versehen.209 Während die Verbindung beider Gemeinden 1613 allein wegen der Interessen und auf Betreiben des Andreas Variscus vollzogen worden war, wird die Union von 1631 stillschweigend wegen der Kriegsschäden erfolgt sein, welche die Unterhaltung eines eigenen Pfarrhaushalts in Herberhausen unmöglich machten. Eine förmliche Einführung Meyers in Herberhausen wird es der Umstände halber kaum gegeben haben. Nach Meyers Tod im Jahre 1669 blieben dann beide Pfarrreien als matres combinatae zusammen. Der Präsentation des Waaker Pastors Albert Küsel (1669–1683) auf Roringen durch den Landesherrn trat Bodo von Gladebeck wegen Herberhausens am 10. August 1669 bei.210 Als im Jahre 1683 der Göttinger Heinrich Christoph Bachmann antrat, mußte er sich bei der Patronin von Herberhausen, der verwitweten Elisabeth von Gladebeck geb. von Münchhausen, eigens um die Beilegung der Pfarre von Herberhausen zu derjenigen von Roringen bewerben, worauf dieselbe geandwortet, ob sie sich gleich resolviret gehabt, auß bewegenden uhrsachen daß Dorf Herperhausen mit einen (!) eigenen priester zu (!) Versehen zu laßen, sie für dieses Mal doch Bachmanns Gesuch stattgeben wolle.211 In Bachmanns Präsentationsschreiben vom 20. Juni 1683 auf die Pfarrstelle Herberhausen erwähnt sie Roringen und dessen landesherrlichen Patron mit keiner Silbe.212 Sie sah sich, wie später im Jahr 1744 der Herr von

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Christian Meyer von 1640 hätte das Herberhäuser Pfarrhaus damals schon das 15. Jahr in der Asche gelegen, also seit 1625. Kayser, 1906, S. 198 Anm. Aber sicherlich dachte Meyer an 1626, welches aber nur das 14. Jahr gewesen wäre. 1693 waren vom Herberhäuser Pfarrhaus, im Pfarrgarten bei der Kirche gelegen, noch ein stück Mauren undt Keller übrig, StA GÖ, AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 73, fol. 24–25. Vgl. KKA GÖ, Sup. Spez. Roringen Nr. 59, Bl. 1, Protokoll der Visitation von Herberhausen, 28. Nov. 1631: Praesentibus … Item Ehrn Christiano Mejern pastore daselbst (sc. Herberhausen). Vgl. Meyer, Bd. 1, 1941, S. 489 (ohne Beleg). HStAH, Hann. 83 III Nr. 621, fol. 34r–35v, Nohra, 10. August 1669 (Originalschreiben an das Konsistorium in Hannover). Hann. 74 Göttingen Nr. 2753, De jure patronato wegen der Roringer und Herberhäuser Pfarre, Bodo von Gladebeck an [das Konsistorium] (Kopie). HStAH, Hann. 74 Göttingen Nr. 2753, De jure patronato wegen der Roringer und Herberhäuser Pfarre, Erklärung von Bachmann vom 24. August 1704 nach Abschrift aus dem Archiv des Schloßhauptmanns von Wangenheim von 1755; im Konvulut stammt von derselben Hand der Titel Gantz accurat und gantz genau untersuchte gantz neue specification der bey der Herberhauser pfarre befindlichen Laenderey 1755. Bachmann amtierte 1683– 1709, Meyer, Bd. 2, 1942, S. 323. KKA GÖ, Ephoralarchiv Göttingen Spezialia Roringen Nr. 12 (Patronat), Doppelblatt; darauf oben rechts von der Hand Schlegels von 1801 Vocationsschein der von Gladebeck für den Pastor Bachmann auf die Pfarre von Herberhausen, Kopie des 18. Jh., vom Original, dessen Siegelstelle sie bezeichnet. Damit im wesentlichen gleichlautend eine Abschrift in KKA GÖ, PfA Herberhausen A 101 (Patronat), Einzelblatt: Als nach dem allein weisen und unerforschlichem Willen Gottes der weyland Herr Albertus Küsell Pastor und Prediger über unsere Pfarr zu Herberhausen für kurtzer Zeit dieses Zeitliche gesegnet, durch welchen Todesfall solche Pfarre uns mit dem jure Patronatus wieder anheimb gefallen. Wenn wir nun billig zu

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Wangenheim213, durch die bereits erfolgte Präsentation seitens des landesfürstlichen Kompatrons zu sehr vor vollendete Tatsachen gestellt.214 Die jeweilige Selbständigkeit der Gemeinden Herberhausen und Roringen war damals allen Beteiligten klar. Diese Selbständigkeit wurde bis in die Gegenwart respektiert, erscheint aber heute als gefährdet durch Fusionspläne, die, angestoßen von der Landeskirche, hier und für viele andere Kirchengemeinden kursieren. Daß Kirchengemeinden vor allem im ländlichen Raum oft jahrhundertealte ehrwürdige Institutionen sind, scheinen viele Verantwortliche nicht mehr respektieren zu wollen. Wenn der hannoversche Landesbischof Ralf Meister am 12. Juni 2012 vor der Landessynode prononciert erklärt, das Christentum sei weder eine Orts- noch eine Gebäudereligion215, dann kann einem im Blick auf die Zukunft auch der alten Dorfkirchen nur angst und bange werden. Dabei ist doch auch aus evangelisch-theologischer Sicht »die symbolische Funktion kirchlicher Gebäude (…) nicht zu unterschätzen«.216

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derselben wiederbestellung ein tüchtiges und geschicktes Subjectum […] suchen müssen, so haben wir Euch Heinrich Christoph Bachmann auf eingezogenen Bericht […] vociren wollen […] gegen uns und die Unsrigen, auch eure Obern, gehorsam auch bezeigen, allermaßen ihr uns solches alles zu thun mit einem Handschlage angelobet […]. So geschehen und geben zu Bornenhausen, den 20. Junii 1683. Christiana Elisabeth von Gladebeck geborene von Münchhausen Witwe (L.S.) (Kopie). – Bornenhausen ist Bornhausen, Rittergut der von Steinberg bis 1701 (Renaissance-Herrenhaus), Kleinau, 1967–1968, Nr. 291,4e. Knackstedt, 1899, S. 4, 156–161. Schwarz, 2008, S. 337. Letzter Besitzer aus der Familie von Steinberg war Johann Adolf (1680–1701), der Sohn Henning Adolfs (1645–1684) und der Sophie Katharina von Münchhausen, Knackstedt, Stammtafel vor S. 1. Christiana (Christina) Elisabeth von Gladebeck (1650–1718) starb nach 37jähriger Witwenschaft auf Zedtlitz , Ortsteil von Borna bei Leipzig, ihr Sohn Adolf Friedrich, geb. 1680, am 11. November 1701 in Paris, Maier, 1970, vor S. 175 u. S. 176, 224, 232. HStAH, Hann. 74 Göttingen Nr. 2753, Relation des Konsistoriums an den König zugunsten Wangenheims, 31. Januar 1744 (Kopie). Vgl. Petke, 2013, S. 456. In diesem Band die vorherige Abhandlung S. 388. KKA GÖ, Ephoralarchiv Göttingen Spezialia, Roringen Nr. 38 (Besetzung der Pfarrstelle), undatiertes Originalschreiben des Konsistoriums in Hannover an den Göttinger Superintendenten Christoph Fischer, präsentiert am 23. Juli 1683: Alß Ihr der Superintendens unß anhero berichtet waßgestalt bey jüngst zu Roringen zur vocation ufgestelletem Heinrich Christoff Bachmann, weil die von Gladebeck noch keine Praesentation dahin ertheilet, Ihrerseits ein documentum vocationis abzugeben bedencken gehabt, gleichwohl aber Contestiret, wie sie dem uf die Pfarre zu Roringen jetzo praesentirten zugleich mitgehöret, Also auch Sie mit deßen Persohn und denen von Gott ihm verliehenen Gaben, uf unzweiflich erfolgende Praesentation begnüget und zufrieden. http://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/frontnews/2012/06/ 2012_06_15 (zuletzt eingesehen am 11. Februar 2013). Pohl-Patalong, 2004, S. 135.

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Archivalien Kirchenkreisarchiv Göttingen (KKA Göttingen) Ephoralarchiv Göttingen, Spezialia Roringen Nr. 2 (Verbindung von Roringen und Herberhausen 1613). Nr. 12 (Patronat). Nr. 38 (Besetzung der Pfarrstelle). PfA Herberhausen A 101 (Patronat). KR I,1 (Kirchenrechnungen 1604–1610, 1613, 1624– 31). PfA Roringen A 101 (Patronat). KR I,1 (Kirchenrechnungen 1602–1612).

Stadtarchiv Göttingen (StA GÖ) Urkundenabteilung AB III,5, Diaria vom Dreißigjährigen Krieg, von Georg Mengershausen, Bd. 1, 1623. AB MS 16,3, Normal- und Protocoll-Buch des Voigtgerichts (1591–1783). AB MS 16,4, Continuatio Protocolli iudicialis (1620–1631 Jan. 22). AB Ver 1,6,1, Ratsprotokolle 1611–1618. AA Nr. 5152, Streit des Rats mit dem Deutschen Orden über das Patronatsrecht an der LiebFrauen-Kirche (1546–1733). AA Nr. 5153, Prozess der Stadt Göttingen gegen die Braunschweiger Regierung vor dem Reichskammergericht wegen der Bestellung eines Pfarrers zu St. Marien (um 1590). AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 31, Stadtdörfer Herberhausen und Roringen (1514–1738). AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 73, Kirche und Pfarre in Roringen und Herberhausen, Pfarrhaus, Güter und Zehnten, Besoldung des Opfermannes (1531–1711). AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 74, Die Herberhäuser Pfarre, Immunität der Schullehrer und deren Berufung (1597–1725). AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 76, Andreas Variscus, Pastor in Herberhausen und Roringen, wegen der zur Herberhauser Pfarre gehörenden Ländereien (1614–1615). AA Stadtdörfer Allgemeines Nr. 77, Andreas Variscus, Pfarrer in Roringen, gegen den Roringer Pfarrmeier wegen der Meiergefälle der Roringer Pfarre (1611–1620).

Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (HStAH) Cal. Br. 21 Nr. 1944, Nr. 1945, Nr. 1946, Nr. 1951 (Protokolle des Konsistoriums zu Wolfenbüttel 1608–1609, 1610–1611, 1611–1613, 1622–1623), Nr. 1972 (Geschäftstagebuch des Konsistoriums zu Wolfenbüttel 1594–1617). Cal. Br. 23 Nr. 211, Konsistorium zu Wolfenbüttel, Copey von Herzog Heinrich Julius Verordnung in pto. Simoniae und verbotener Verkaufung der Patronen-Pfarren, 24. Juni 1597. Hann. 74 Göttingen Nr. 2753, De iure patronato wegen der Roringer und Herberhäuser Pfarre 1706–1744.

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Hann. 83 III Nr. 621, Pfarrbestallungen in Roringen und Herberhausen 1570–1795. Hann. 83 IV Nr. 18, Konsistorialprotokolle 1606–1607.

Pfarramt Roringen H.S. 1, Corpus bonorum von 1798.

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Frühe Neuzeit

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Pfarrwitwen und Pfarradjunkten. Zur Alterssicherung mecklenburgischer Pfarrer und ihrer Witwen bis zum frühen 18. Jahrhundert.*

Der Klerikerkonkubinat blieb bis zum Ausgang des Mittelalters stets ein Problem, obwohl seit dem Zweiten Laterankonzil von 1139 die im Konkubinat lebenden Majoristen mit der Privation von ihren Ämtern und Pfründen bedroht und ihre Ehen für ungültig erklärt waren1. Die Mägde der Kleriker wurden verdächtigt2, und tatsächlich haben viele Kleriker Lebensgefährtinnen und Kinder gehabt3. Im Jahre 1513 ließ der Hamburger Domdekan ein Mandat gegen den * Erstveröffentlichung in: Helge Bei der Wieden (Hrsg.), Menschen in der Kirche. 450 Jahre seit Einführung der Reformation in Mecklenburg (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Mecklenburg 11), Rostock 2000, S. 165–218. 1 Conciliorum oecumenicorum decreta, hrsg. v. J. Alberigo, J.A. Dossetti, P.P. Joannou, Cl. Leonardi, P. Prodi. 3. Aufl. Bologna 1973, c. 6, c. 7, S. 198 = CIC D. 28 c. 2, C. 27 q. 1 c. 40. – Vgl. Joseph Freisen: Geschichte des kanonischen Eherechts bis zum Verfall der Glossenliteratur. 2. Aufl. Paderborn 1893 (ND Aalen u. Paderborn 1963), S. 741–750. – Georg Denzler: Das Papsttum und der Amtszölibat. 1. Teil: Die Zeit bis zur Reformation (Päpste und Papsttum 5,1). Stuttgart 1973, S. 82–86. 2 Rainer Postel: Horenjegers und Kökschen. Zölibat und Priesterehe in der hamburgischen Reformation, in: Städtische Gesellschaft und Reformation, hrsg. v. Ingrid Bátori (Kleine Schriften 2 = Spätmittelalter und frühe Neuzeit 12). Stuttgart 1980, S. 221–233, darin S. 225. – Vgl. die Goslarer Kleiderordnung von 1469, die den unordentlichen Pfaffenmägden so wie den Prostituierten auferlegte, unattraktive Männerkapuzen zu tragen: Desgeliken schullen ok ghan up der straten de papen megede, de in eynem openbaren unortliken levende syn, Uvo Hölscher: Goslarsche Ratsverordnungen aus dem 15. Jahrhundert, in: ZHarzV 42 (1909) S. 39–99, 118–143, darin S. 70, vgl. Peter Schuster: Das Frauenhaus. Städtische Bordelle in Deutschland (1350–1600). Paderborn u. a. 1992, S. 151, 153. – Papenwife: Luise Schorn-Schütte: ›Gefährtin‹ und ›Mitregentin‹. Zur Sozialgeschichte der evangelischen Pfarrfrau in der Frühen Neuzeit, in: Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, hrsg. v. Heide Wunder, Christina Vanja. Frankfurt am Main 1991, S. 109–153, darin S. 110. 3 Klaus Schreiner: »defectus natalium« – Geburt aus einem unrechtmäßigen Schoß als Problem klösterlicher Gemeinschaftsbildung, in: Illegitimität im Spätmittelalter, hrsg. v. Ludwig Schmugge unter Mitarbeit von Béatrice Wiggenhauser (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 29). München 1994, S. 85–114, oder – auf der Basis der Lübecker Domkapitelsprotokolle – Wolfgang Prange: Magd – Köchin – Haushälterin. Frauen bei Lübecker Geistlichen am Ende des Mittelalters, in: »Der Stand der Frauen, wahrlich, ist ein harter Stand« Frauenleben im Spiegel der Landesgeschichte, hrsg. v. Elke Imberger (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 39). Schleswig 1994, S. 9–26, darin S. 17–22.

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Frühe Neuzeit

Klerikerkonkubinat öffentlich anschlagen4, und im Lübecker Domkapitel meinte man am 25. Oktober 1527, daß alle Priester der Stadt, vor allem aber die Domvikare, Frauen im Hause hätten5. Die Weltkleriker bedachten ihre Mägde, Köchinnen und deren Kinder in ihren Testamenten, auch wenn sie diese nicht als ihre Abkömmlinge bezeichneten6. Sie bemühten sich, ihre Söhne – insbesondere wenn diese ein kirchliches Benefizium anstrebten – durch päpstliche Dispense vom Geburtsmakel zu befreien7. Sie zahlten den Bischöfen Strafgelder für ihre dem kanonischen Recht zuwiderlaufenden Verbindungen und Vaterschaften8, worüber sich Erasmus von Rotterdam im Jahre 1522 sarkastisch äußerte: »Schon längst hätten die bischöflichen Offiziale die Konkubinen als Ehefrauen anerkannt, wenn nicht aus den Konkubinen mehr zu erlösen wäre als aus den Ehe4 Wilhelm Jensen: Die hamburgische Kirche und ihre Geistlichen seit der Reformation. Hamburg 1958, S. 12 mit Anm. 36. – Postel: Horenjegers S. 226. 5 Die Protokolle des Lübecker Domkapitels 1522–1530, bearb. v. Wolfgang Prange (SchleswigHolsteinische Regesten und Urkunden 12). Neumünster 1993, S. 455 § 3111: Fuit dictum (sc. im Kapitel) de insolencia sacerdotum, quod omnes domi fovent mulierculas (…) ac vitam fovent inhonestam. Placuit dominis, quod decernam (sc. der Dekan) monitorium in generale contra habentes malam conversacionem (…). Vgl. ebd. S. 194f. § 1199 (1525), S. 198 § 1222 (1525). – Prange: Magd – Köchin – Haushälterin (wie Anm. 3) S. 20. 6 Klerikertestamente bedenken häufig die ancilla und wiederholt auch deren Kind; daß dessen Erzeuger oft der Testator gewesen sein dürfte, wird in den Testamenten verschwiegen, um nicht den Kleriker der Bestrafung als Konkubinarier auszusetzen. Zum Beispiel bedenkt 1461 Heinrich Geismar, Pfarrer in Boken, Diözese Ratzeburg, seine ancilla Greteke wegen ihrer Dienste mit 20 Mark Rente und deren Tochter mit 15 Mark, Lüneburger Testamente des Mittelalters 1323 bis 1500, bearb. v. Uta Reinhardt (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 37. Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter 22). Hannover 1996, S. 334–337 Nr. 230. – Vgl. auch Prange: Magd – Köchin – Haushälterin (wie Anm. 3) S. 14–16. – Nach Brigitte Klosterberg: Zur Ehre Gottes und zum Wohl der Familie. Kölner Testamente von Laien und Klerikern im Spätmittelalter (Von den Anfängen bis um 1500) (Kölner Schriften zur Geschichte und Kultur 22). Köln 1995, S. 240, 244, müßte man allerdings annehmen, daß alle Kölner Kleriker zölibatär lebten. 7 Ludwig Schmugge: Kirche, Kinder, Karrieren. Päpstliche Dispense von der unehelichen Geburt im Spätmittelalter. Zürich 1995, S. 187f. Dazu das Repertorium poenitentiariae Germanicum. Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches. Bd. 1. Eugen IV.: 1431–1447. Bearb. von Ludwig Schmugge u. a., Tübingen 1998. Bd. 4. Pius II.: 1458–1464. Bearb. von Ludwig Schmugge u. a., Tübingen 1996. 8 Zu den von klerikalen Konkubinariern zu entrichtenden Geldbußen s. zum Beispiel das Konzil von Basel, Sessio XX, 22. Januar 1435, Conciliorum oecumenicorum decreta (wie Anm. 1) S. 486f.: Quia vero in quibusdam regionibus nonnulli iurisdictionem ecclesiasticam habentes pecuniarios quaestus a concubinariis percipere non erubescunt, patiendo eos in tali foeditate sordescere: sub poena maledictionis aeternae praecipit, ne deinceps sub pacto, compositione, aut spe alicuius quaestus, talia quovis modo tolerent aut dissimulent. – Zu Geldbußen von Konkubinariern s. auch Paul Tschackert: Die Rechnungsbücher des erzbischöflich mainzischen Kommissars Johann Bruns aus den Jahren 1519–1531, in: ZKG 21 (1901) S. 352 (zu 1520), S. 360 (zu 1521), S. 366 (zu 1524/25). – Vgl. Prange: Magd – Köchin – Haushälterin (wie Anm. 3) S. 10. – Schmugge: Kirche, Kinder, Karrieren S. 252f.

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frauen«9. In der Flugschrift »An den christlichen Adel deutscher Nation« vom Sommer 1520 hielt es Luther für geraten, einem jeden Priester die Ehe zu erlauben: Es kan yhe nit ein yglicher pfar eynis weybes mangeln, nit alleinn der gebrechlickeit, szondern viel mehr des hauszhalten halben. Konkubinariern legte er jedoch wegen der drohenden Rechtsfolgen die Verheimlichung nahe10. Im Sommer 1521 haben drei Priester – sämtlich Schüler der Wittenberger Reformatoren – sich öffentlich verheiratet: Jakob Seideler in Glashütte im Herzogtum Sachsen, Bartholomäus Bernhardi, Propst zu Kemberg im Kurfürstentum Sachsen, und Balthasar Zeiger, Pfarrer in Vatterode in der Grafschaft Mansfeld. Alle drei wurden in den Prozessen, mit denen ihre Bischöfe sie überzogen, von den Wittenbergern juristisch und publizistisch unterstützt11. Im Jahre 1522 schritten Wittenberger Kleriker selber zur öffentlichen Hochzeit: Den Anfang machten Andreas Karlstadt am 19./20. Januar 1522 und der Propst des Wittenberger Allerheiligenstifts Justus Jonas am 9. Februar. Zwingli ließ seiner im Frühjahr 1522 vollzogenen Verbindung mit Anna Reinhart im Jahre 1524 den öffentlichen Kirchgang folgen12. Luther, der am 2. Juni 1525 Kardinal Albrecht von Mainz-Magdeburg aufgefordert hatte, sich zu verehelichen13, heiratete am 27. Juni 1525. »Die Priesterehe (wurde) zur reformatorischen Demonstration«14. Der Straßburger Münsterprädikant Matthäus Zell formulierte 1523 in seiner Traupredigt für den Priester Anton Firn: disse thadt (…) ist Euangelisch15. Die möglichst spektakuläre Inszenierung unterschied die heiratenden Priester von

9 Erasmus: De conscribendis litteris, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami I, 2. Amsterdam 1971, S. 418 Z. 8–10: Atque id opinor, iam pridem procurassent episcoporum officiales (sc. die Anerkennung der Konkubinen als Ehefrauen), nisi proventus amplior esset ex concubinis quam ex vxoribus. – Vgl. Stephen E. Buckwalter: Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformation (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 68). Gütersloh 1998, S. 52f. mit Anm. 60. 10 WA 6 S. 440–442, Zitat S. 442 Z. 28–30. – Vgl. Ulrich Bubenheimer: Streit um das Bischofsamt in der Wittenberger Reformation 1521/22. Teil 1, in: ZRG 104 KA 73 (1987) S. 155–209, darin S. 162–164. 11 Bubenheimer S. 166–198. 12 Ulrich Gäbler: Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. Berlin 1985, S. 56. – Merete Nielsen: »Kinder, Küche und Kirche«. Pfarrfrauen der Reformationszeit in Südwestdeutschland und der Schweiz, in: Katharina von Bora, die Lutherin. Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstages, hrsg. v. Martin Treu. Wittenberg 1999, S. 128–158, darin S. 131f. 13 WA 18 S. 408–411. Vgl. Bernhard Lohse: Albrecht von Brandenburg und Luther, in: Erzbischof Albrecht von Brandenburg (1490–1545). Ein Kirchen- und Reichsfürst der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Friedhelm Jürgensmeier (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 3). Frankfurt am Main 1991, S. 73–83, darin S. 80. 14 Bubenheimer (wie Anm. 11) S. 204. 15 Buckwalter: Priesterehe (wie Anm. 9) S. 39.

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den Konkubinariern16. Zudem »bedeutete die Priesterehe (…) schon als bloße Handlung ein Bekenntnis zur reformatorischen Partei«17. Nicht nur führten auch die Priesterehen »zu einem Dammbruch in der herrschenden kirchlichen Ordnung«18, sondern sie machten – zumal die Ehelosigkeit eines evangelischen Pfarrers im späteren 16. Jahrhundert geradezu als unziemlich galt19 – zwei alte Probleme öffentlich: das der Versorgung der Priesterfrau für den Fall ihrer Verwitwung und das des Unterhalts unmündiger Priesterkinder.

I. Als Luther im Jahre 1527 schwer erkrankte, befahl er seine Frau Katharina und den Sohn Hans der Fürsorge Gottes an; außer silbernen Ehrenbechern besäße er nichts20. Dagegen ließ sich Georg Spalatin, wie Luther seit 1525 verheiratet21, sechs Jahre später die Versorgung seiner Witwe und seiner Kinder angelegen sein: Seit 1511 Kanoniker am Altenburger Georgsstift und seit 1525 Prediger dieser Stadt22, notierte er in seiner Autobiographie zum Jahre 1533: Princeps noster Elector Dux Johannes Fridericus auxit Spalatinum hac beneficentia, ut defuncti praebenda[e] per totum annum cederent uxori et liberis23. Zum Jahre 1534 vermerkte Spalatin: (…) sic auxit Princeps Spalatinum, ut septem annos post mortem 16 Buckwalter: Priesterehe S. 31. 17 Buckwalter: Priesterehe S. 39. 18 Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521– 1532. Stuttgart 1986, S. 31. 19 Vgl. Luise Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 62). Gütersloh 1996, S. 360. 20 WA T 3 Nr. 2922 b S. 90 Z. 8–12: Nun, ich befehle mein allerliebste Kethe und dich meinem allerliebsten und frommen Gott. Ir habet nix. Du Gott aber, qui es pater pupillorum et iudex viduarum, wird euch wol verwaren und ernehren. – Haec finiens dixit aliquid uxori de argenteis cyphis addens: Praeterea nosti nos nihil habere. Gustav Kawerau: Der Briefwechsel des Justus Jonas. Erste Hälfte (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 17,1). Halle 1884 (ND Hildesheim 1964), Nr. 103 S. 106. – Vgl. Brecht: Martin Luther. Bd. 2 (wie Anm. 18) S. 205. – Inge Mager: Katharina von Bora, die Lutherin – als Witwe, in: Mönchshure und Morgenstern. »Katharina von Bora, die Lutherin« im Urteil der Zeit. (Hrsg.) Evangelisches Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg (Wittenberger Sonntagsvorlesungen). Wittenberg 1999, S. 120–135, darin S. 123. 21 Vita Georgii Spalatini ex ipsius autográphon descripta, in: Spalatiniana, hrsg. v. Georg Berbig (Quellen und Darstellungen aus der Geschichte des Reformationsjahrhunderts 5). Leipzig 1908, S. 19. 22 Ebd. S. 18, 19. Irmgard Höss: Georg Spalatin 1484–1545. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation. 2. Aufl. Weimar 1989, S. 290f. 23 Vita Georgii Spalatini (wie Anm. 21) S. 20.

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eius praebendae et obedientiae proventus ad coniugem et liberos cederent24. Unter dem Jahr 1537 hielt er schließlich fest: (…) clementissimus princeps noster elector Saxoniae dux Johannes Fridericus donavit uxorem meam charissimam et liberos dulcissimos in 10 annos proventibus mei canonicatus et obedientiae hic Aldenburgi25. Damit wurde Spalatin zuletzt nichts Geringeres als ein auf zehn Jahre verlängertes Gnadenjahr bewilligt. Das Gnadenjahr, der annus gratiae, ist seit dem 11. Jahrhundert belegt26. Es bildete sich in den Stiftskapiteln aus und bestand in dem Privileg, für die Dauer eines Jahres die Früchte der Pfründe eines verstorbenen Kanonikers dessen Vermögen zuzuschlagen, so daß aus ihnen auch eventuelle Schulden bezahlt werden konnten27. Der Begriff des annus gratiae ist 1263 für das Kollegiatstift Bützow und 1265 für das Domstift Hamburg bezeugt28. Seit dem 13. Jahrhundert haben stiftische Statuten ihren Kanonikern verschiedentlich ein zweites Gnadenjahr gewährt oder aber dieses zweite Jahr der jeweiligen Kirchenfabrik zugewendet29. Ein mit diesen Gnadenjahren konkurrierendes Vorrecht waren die fructus primi anni oder, wie sie seit 1350 genannt werden, die Annaten, die sich Bischöfe sowie von ihnen begünstigte Kommunitäten seit dem späten 11. Jahrhundert haben verleihen lassen und die sich erstmals im Jahre 1316 die päpstliche Kurie von allen – nicht im Konsistorium verliehenen – Benefizien der Christenheit für drei Jahre reservierte30. Der dem Verstorbenen nachfolgende Kleriker hatte 24 Ebd. S. 21. 25 Ebd. S. 28. Vgl. Höss: Spalatin S. 401. – Die Obödienz (Oblei) ist ein außer dem Präbendalgut ebenfalls aufgeteiltes Sondervermögen des Stifts, woraus dem Kanoniker neben seiner Pfründe Bezüge zustehen konnten, Necrologien, Anniversarien- und Obödienzenverzeichnisse des Mindener Domkapitels aus dem 13. Jahrhundert, hrsg. v. Ulrich Rasche. MGH Libri mem. N.S. 5. Hannover 1998, S. 217–236, 301–343. 26 Als frühester Beleg gilt eine Urkunde Graf Balderichs für das Kollegiatstift St. Gudula in Brüssel von 1047, Aubertus Miraeus, Joannes Franciscus Foppens: Opera diplomatica et historica tom. 1. Bruxellis 1723, S. 57f. c. 47. – Wilhelm von Brünneck: Zur Geschichte und Dogmatik der Gnadenzeit (Kirchenrechtliche Abhandlungen 21). Stuttgart 1905, S. 1. – Guy P. Marchal: Die weltlichen Kollegiatstifte der deutsch- und französischsprachigen Schweiz (Helvetia Sacra II/2). Bern 1977, S. 54f. mit Anm. 99. – Jörg Schillinger: Die Statuten der Braunschweiger Kollegiatstifte St. Blasius und St. Cyriacus im späten Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Bistums Hildesheim 1). Hannover 1994, S. 167. Jedoch müßte die Echtheit der Urkunde überprüft werden. 27 von Brünneck: Dogmatik (wie Anm. 26), S. 3f., mit Belegen aus dem 12. und 13. Jahrhundert. 28 MUB 2 S. 233 Nr. 994: annum gracie (…) concedimus, ut de prouentibus prebendarum suarum debita singula persoluantur. – Hasse: Schleswig-Holstein-Lauenburgische Regesten und Urkunden 2 S. 129 Nr. 304: annum illum, qui apud ecclesias annus gratiae nuncupatur. 29 Schillinger (wie Anm. 26) S. 168. 30 Johann Peter Kirsch: Die päpstlichen Annaten in Deutschland während des XIV. Jahrhunderts. Bd. 1: Von Johann XXII. bis Innozenz VI. (Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte 9). Paderborn 1903, S. IX f., XVII. – Markus A. Denzel: Kurialer Zahlungsverkehr im 13. und 14. Jahrhundert. Servitien- und Annatenzahlungen aus dem Bistum Bamberg (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 42). Stuttgart 1991, S. 64. –

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demnach bis zu drei Jahre und eventuell noch länger auf den Genuß seines Benefiziums zu warten, war also während dieser Karenzzeit auf andere Einkünfte angewiesen31. Seit dem 13. Jahrhundert wurde das Gnadenjahr auch einzelnen Pfarrern gewährt, mußte dabei aber gegen das von den Kollatoren geübte Spolien- und Zwischennutzungsrecht durchgesetzt werden32. In Mecklenburg stammen die ersten Belege für ein den Pfarrern, Vikaren und Altaristen gewährtes Gnadenjahr aus den Jahren 1267, 1276, 1277 und 132733. Das also altbekannte Institut des Gnadenjahres hat mit fürstlicher Gnade nichts oder allenfalls insofern etwas zu tun, als es vom landesherrlichen Kirchenregiment respektiert und – weniger als zwei Jahrzehnte seit der Propagierung der evangelischen Pfarrerehe – für die befristete Versorgung der Pfarrwitwen und -waisen herangezogen wurde34. Die in Aussicht genommene Gewährung eines Gnadenjahres für die Ehefrau Georg Spalatins im Falle ihrer Witwenschaft scheint eines der frühesten Beispiele dafür zu sein, wobei die Verlängerung auf sieben und schließlich sogar auf zehn Jahre außergewöhnlich ist. Wie wichtig Spalatin die Versorgung seiner Witwe war, zeigt allein die Tatsache, daß er jedesmal die Gewährung dieser Vergünstigung notierte. Daß er sie erlangte, ist wegen seiner Verdienste um die sächsischen Kurfürsten verständlich. Daß mit der evangelischen Pfarrerehe auch der Unterhalt der Pfarrfrau und deren Versorgung im Falle ihrer Verwitwung sichergestellt werden müßten, stand Johannes Bugenhagen, dem ein ganzes Corpus von Kirchenordnungen zu verdanken ist35, bereits im Jahre 1528 vor Augen36. Seine Kirchenordnung für die

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Stefan Petersen: Benefizientaxierungen an der Peripherie. Pfarrorganisation – Pfründeneinkommen – Klerikerbildung im Bistum Ratzeburg (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 166. Studien zur Germania Sacra 23). Göttingen 2001, S. 15–21. Paul Hinschius: System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland. Bd. 2. Berlin 1878 (ND Graz 1959), S. 72f. Zum Spolien- und Zwischennutzungsrecht (Regalienrecht) s. Wolfgang Petke: Spolienrecht und Regalienrecht im hohen Mittelalter und ihre rechtlichen Grundlagen, in: Von Schwaben bis Jerusalem. Facetten staufischer Geschichte, hrsg. v. Sönke Lorenz u. Ulrich Schmidt. Sigmaringen 1995, S. 15–35. MUB 2 S. 336 Nr. 1128, S. 549f. Nr. 1411, S. 567f. Nr. 1437, MUB 7 S. 502 Nr. 4874. von Brünneck (wie Anm. 26) S. 13–15. Vgl. Bernd Wunder: Pfarrwitwenkassen und Beamtenwitwen-Anstalten vom 16.–19. Jahrhundert. Die Entstehung der staatlichen Hinterbliebenenversorgung in Deutschland, in: ZHF 12 (1985) S. 429–498, darin S. 436f. mit Anm. 18. – Der mittelalterlichen Geschichte des annus gratiae ist sich offensichlich nicht bewußt Gabriele Stüber: Vom Gnadenquartal zur Pension. Zur Entwicklung der Pfarrwitwenkassen in der Evangelischen Kirche der Pfalz, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 63 (1996) S. 161–188, darin S. 163f. Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts Bd. 7,2,1, bearb. v. Anneliese Sprengler-Ruppenthal, Tübingen 1980, S. 803 Anm. 8. Vgl. Inge Mager: »Wegert euch des lieben heiligen Creutzes nicht«. Das Witwentrostbuch der Herzogin Elisabeth von Calenberg-Göttingen, in: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, hrsg. v. Hartmut Boockmann (Abhandlungen

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Stadt Braunschweig gewährte verheirateten Predigern eine Zulage37; denn in einer Pfarrei und einem Weichbild, die früher viele Priester hätten tragen können – und zwar zum Schaden des Seelenheiles – , müsse es möglich sein, dat id twe personen ehrlick holde38. Was die Witwen- und Waisenversorgung anbelangt, sah seine Ordnung vor: Unde so se (sc. die Prediger) dorch stervent afgingen, wille wy ören frauen unde kyndern helpen, so lange (= bis) se id konen beteren unde sulvest to eyner neringe kamen, dardorch se werden vorsorget39. Die Notwendigkeit einer Hinterbliebenenfürsorge war also erkannt; jedoch blieb es bei einer unbestimmten Absichtserklärung. Das gilt auch für die Versorgung des nicht mehr dienstfähigen Predigers: Unde wen en ock krankheit edder older ankumpt, dat se nicht mehr konen uns denen, so wille wy se doch vorsorgen mit aller notroft, wy handelden anders unchristlick jegen se unde unredelick40. Bugenhagens Hamburger Kirchenordnung von 1529 wurde in beiden Punkten konkreter und übertrug die Fürsorge bei Not oder Krankheit der Prediger sowie die Versorgung der Predigerwitwen den Diakonen des Armenkastens, der in jeder Pfarrei eingerichtet werden sollte41; nach Bugenhagens Lübecker Ordnung von 1531 hätte im Prinzip genauso verfahren werden sollen42. Die Hildesheimer Ordnung von 1542 bis 1544, die letzte, die Bugenhagen für eine Stadt entwarf, verpflichtete ebenfalls dazu, de kercken- unde scholdener, de by uns yn unsem truwen denste vorkranken, vorderven edder vorölderen, dat se nicht mer können, aus dem Kirchenkasten sowie auch sonst (ock süss) zu versorgen43. Den Predigerwitwen und -waisen in den Stadtdörfern wurde ein halbes Gnadenjahr, denjenigen in der Stadt ein ganzes in Aussicht gestellt. Auf dem Land war daran die Bedingung geknüpft, daß die Witwe die Pfarre durch einen anderen Pfarrer versehen lasse; in der Stadt sollten derweil der Superintendent und die Kollegen die Aufgaben des Gestorbenen umschichtig übernehmen44. Über das Gnadenjahr hinausgehende Regelungen traf die Hildesheimer Ordnung nicht.

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der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Kl. 3. Folge 206). Göttingen 1994, S. 207–224, darin S. 211. EKO 6,1, 1955, S. 376. EKO 6,1, 1955, S. 375 EKO 6,1, 1955, S. 376. Ebd. EKO 5, 1913, S. 512. Zum jeweiligen Armenkasten der einzelnen Pfarrei ebd. S. 532–535; jedoch wurde er nicht eingerichtet, ebd. S. 482, Vorbemerkung. – Druck dieser Kirchenordnung auch bei Hans Wenn: Der Ehrbaren Stadt Hamburg Christliche Ordnung 1529. De Ordeninge Pomerani (Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 13). Hamburg 1976. EKO 5, 1913, S. 357, 359–362. EKO 7,2,1, 1980, S. 882. EKO 7,2,1, 1980, S. 846: Wenn ein dörpparhere stervet, so schal me der armen wedewen unde kinderen laten volgen alle ynkoment des negesten halven jars edder mer na gelegenheit der parr etc. Soferne doch, dat se mit einem andern dewile de parr mit predigen unde sacramentrekinge bestelt unde darvor synen willen maket. S. 848: (…) Darumme ys ydt vor gudt

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Von den von Bugenhagen für die Territorien entworfenen Kirchenordnungen hatte diejenige für Pommern vom Jahre 1535 zur Altersversorgung der Pfarrer und zum Unterhalt ihrer Witwen und Waisen noch nichts bestimmt45. Das ist erst in der unter Bugenhagens Beteiligung ausgearbeiteten46 und 1537 erlassenen Kirchenordnung König Christians III. von Dänemark und in der darauf beruhenden Kirchenordnung für die Herzogtümer Schleswig und Holstein von 1542 der Fall: Verdienten und von Kräften gekommenen Predigern, Kirchen- und Schuldienern stellte die dänische Ordnung die nächste freiwerdende Präbende im Königreich in Aussicht – wenn darum gebeten würde47. Wohl bewußt weniger präzise erklärte die Ordnung für Schleswig und Holstein, daß der Landesherr eynem vthgearbeideden Prediger, Kercken edder Scholen Denere (…) eine gnedige vorsorginge don wolle48. Tatsächlich ist diese Zusage erst durch das Emeritierungsgesetz der Preußischen Regierung vom 2. März 1891 eingelöst worden49. Für die Versorgung der Witwen und Waisen sahen beide Ordnungen die Gewährung eines Gnadenjahres beziehungsweise eines halben Gnadenjahres vor: Witwen von Landpfarrern sollten ein ganzes Gnadenjahr genießen50. Witwen von Pfarrern in den Städten wurden nach der Ordnung von 1537 die halben Bezüge ein Jahr lang und bei Bedarf eine Zulage aus dem Armenkasten sowie freie Wohnung gewährt51; nach der Ordnung von 1542 für Schleswig und Holstein

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angeseen dorch de gelerden, de wy hebben gebruket, düsse ordinantien to stellende, dat wy setten also, wenn ein predicante, pastor edder de superintendente by uns stervet, so schöllen alle andere predicanten unde pastoren totreden unde delen sick yn des vorstorven arbeyt (…) unde de wedewe unde de kinder schöllen hebben dat ganze solarium edder solt van demsülvigen ganzen jare, hyrmede geit der kercken nichtes aff. EKO 4, 1911, S. 328–344. Ernst Michelsen: Die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung von 1542 mit einer ausführlichen historischen Einleitung. Heft 1: Einleitung (Schriften des Vereins für SchleswigHolsteinische Kirchengeschichte I, 5). Kiel 1909, S. 214–222. Die lateinische Kirchenordnung König Christians III. von 1537, hrsg. v. Ernst Feddersen (Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte I, 18). Kiel 1934 S. 58: Emerito alicui praedicatori, ministro ecclesiae aut scholae puerorum, id est qui in suo officio doctus diu fideliterque seruiuit nec potest amplius prae valetudine, cum pro eo rogati fuerimus, dabimus unam praebendam proximo in regno vacaturam pro reliqua vita transigenda. Die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung von 1542. Heft 2: Der Text mit wissenschaftlichem Zubehör, hrsg. v. Ernst Michelsen (Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte I, 10). Kiel 1920, S. 95. – Die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung von 1542, hrsg. v. Walter Göbell (Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte I, 34). Neumünster 1986, S. 192. Göbell: Kirchenordnung S. 193 Anm. 281. Vgl. auch Ernst Feddersen: Kirchengeschichte Schleswig-Holsteins Bd. 2: 1517–1721 (Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte I, 19). Kiel 1938, S. 417. Feddersen: Die lateinische Kirchenordnung S. 45. – Michelsen: Kirchenordnung S. 84f. Göbell: Kirchenordnung S. 171–173. Feddersen: Die lateinische Kirchenordnung S. 45f.

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erhielten sie die Einkünfte eines Jahres52. In beiden Ordnungen wurde für die Witwen der Landpfarrer näher ausgeführt, was sie, und zwar abhängig vom Todestag ihres Ernährers, ernten durften, was sie zu säen hatten und wann sie gehalten waren, den neuen Kirchherren bis zu dessen ersten Einkünften zu beköstigen. Noch über zweihundert Jahre später, im Jahre 1769, verbreitete sich der Entwurf einer Brem-Verdischen Kirchenordnung aus der Feder des Generalsuperintendenten Johann Hinrich Pratje in knapp 30 Paragraphen über die Fristen von Berechtigungen und Lasten der Witwe während ihres Gnadenjahres53, wobei der 1586 von der Mansfelder Konsistorialordnung und 1602 von der Mecklenburger Kirchenordnung mitbedachte Stallmist allerdings fehlt54. Verglichen damit ist Bugenhagens letzte Ordnung, und zwar die Wolfenbütteler Kirchenordnung von 1543, lakonisch: Pfarrwitwen auf dem Land genießen ein halbes Gnadenjahr edder mehr na gelegenheit der saet etc., und haben dem Vakanzvertreter so zu geben und ihn so zu belohnen, dat he tofreden sy. Oder aber man solle die Witwen auf dem Land und in der Stadt aus dem Kirchengut ernähren, bis ihre Angelegenheiten sich gebessert hätten. Wenn man anderen Armen geben soll, so fragt Bugenhagen, warum dann nicht auch diesen?55 – Verdienten, nicht mehr arbeitsfähigen Pfarrern gestand die Wolfenbütteler Ordnung Unterstützung aus dem gemeinen Kasten für die Kirchendiener und Armen oder anderweitig aus Kirchengütern zu56. Die Gewährung eines Gnadenjahres für die Predigerwitwen ist also seit dem Jahre 1537 in bugenhagenschen Kirchenordnungen formuliert. Anderwärts findet sich das Gnadenjahr erstmals 1544 in der Ordnung für das Land Hadeln, die aber vielleicht mit der Schleswig-Holsteiner Ordnung in Beziehung steht57, und dann 1569 in der Kirchenordnung für Pommern58, 1573/74 für das Harlingerland59, 1581 für Braunschweig-Grubenhagen60 sowie für die Grafschaft Hoya61 52 Michelsen: Kirchenordnung S. 86. Göbell: Kirchenordnung S. 175. 53 Hans Otte: Vernünftig und Christlich. Der Entwurf einer Brem-Verdischen Kirchenordnung von 1769 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 31 = Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Stade 9). Göttingen 1989, S. 267–278. 54 EKO 2, 1904, c. 12 S. 211: Nach dem sich auch des mistlass wegen (…) viel zwiespalt oftmals erreget (…). – Revidirte Kirchenordnung: Wie es mit Christlicher Lehre, Reichung der Sacrament, Ordination der Diener des Euangelii, ordentlichen Ceremonien in der Kirchen, Visitation, Consistorio vnd Schulen: Im Hertzogthumb Meckelnburg, etc. gehalten wirdt. Rostock: Stephan Müllmann 1602 fol. 278v: (…) das sie (sc. die Witwen) alle das Futter so im gnaden Jar nicht mag auffgefuttert werden, neben dem Mist, bey der Wedeme bleiben lassen (…). 55 EKO 6,1, 1955, S. 47. 56 EKO 6,1, 1955 S. 80. 57 EKO 5, 1913, S. 476, dazu die Vorbemerkung S. 460–463. 58 EKO 4, 1911, S. 392. 59 EKO 7,1, 1963, S. 746: annus gratiae oder nachjahr. 60 EKO 6,2, 1957, S. 1062.

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und 1585 für Lauenburg62. Von Gnadenhalbjahren ist in Visitationsinstruktionen oder Kirchenordnungen die Rede in den Jahren 1554 im ernestinischen und 1555 im albertinischen Sachsen63, 1573 in Brandenburg64, 1580 in Anhalt65 und 1586 in der Grafschaft Mansfeld66. Ein Gnadenquartal haben vorgesehen wohl 1556 die Kurpfalz67, 1558 Rothenburg ob der Tauber und Hohenlohe68 und 1562 beziehungsweise 1576 Pfalz-Neuburg69. Die 1537 und 1542 in Dänemark beziehungsweise in den Herzogtümern Schleswig und Holstein, 1543 in Wolfenbüttel und 1542–44 auch in Hildesheim festgelegte Bestimmung, daß dieses eine Gnadenjahr nur solange zu gewähren sei, bis die Frauen gut versorgt und untergebracht wären70, muß sich in der Regel als illusorisch erwiesen haben. Sonst hätten nicht Kirchenordnungen verschiedener norddeutscher Länder seit 1564 damit begonnen, den Bau von Pfarrwitwenhäusern anzuordnen71. Der annus gratiae währte in der Regel längstens ein Jahr. Dessen war sich, wie erwähnt, Georg Spalatin schon 1533 vollkommen bewußt. Nach Ablauf dieses einen Jahres blieben der Unterhalt und die Unterbringung der Pfarrwitwen und -waisen wie auch die Altersversorgung der Pfarrer bis in das 19. Jahrhundert prekär. 1568 bemerkte man im Herzogtum Preußen: Pfarrherrn lassen gemeiniglich nichts, dann einen haufen armer kinder und weisen, weren sie handwerksleut gewesen, so hetten sie ja etwas können für die hand bringen, nun haben sie umb der armen kirchen willen, derselbigen zu dienen, ihrer weib und kind vergessen (…) 72. Oder 1579 in der Kuroberpfalz: Das aber der meiste teil solcher nachgelassenen witwen und waisen im geringen ver61 62 63 64 65 66 67 68 69

EKO 6,2, 1957, S. 1131: nachjhar, S. 1195. EKO 5, 1913, S. 413. EKO 1, 1902, S. 226, 309, 312. EKO 3, 1909, S. 121. EKO 2, 1904, S. 574. EKO 2, 1904, S. 211: tempus gratiae mit wohnung und halben jahres einkommen. EKO 14, 1969, S. 232. EKO 11, 1961, S. 609. EKO 15, 1977, S. 131. EKO 13, 1966, S. 144 (1562), S. 218 (1576). – Vgl. Siegrid Westphal: Frau und lutherische Konfessionalisierung. Eine Untersuchung zum Fürstentum Pfalz-Neuburg 1542–1614 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 594). Frankfurt am Main u. a. 1994, S. 213. 70 Feddersen: Die lateinische Kirchenordnung (wie Anm. 47) S. 45: dum commode prouideantur sustententur. – Michelsen: Kirchenordnung (wie Anm. 48) S. 84. – Göbell: Kirchenordnung (wie Anm. 48) S. 170: beth so lange se wol vorsorget vnd vpgeholden mögen werden. – EKO 6,1, 1955, S. 47: bet dat ere sake beter werd na erer gelegenheit. – EKO 6,1, 1955, S. 376. 71 EKO 6,1, 1955, S. 539f. (1564, Fürstentum Lüneburg). – EKO 4, 1911, S. 112f. (1568, Herzogtum Preußen). – EKO 6,1 S. 194 (1569, Fürstentum Wolfenbüttel). – EKO 7,1 S. 139 (1572, Landtagsabschied Verden). – EKO 5 S. 413 (1585, Herzogtum Lauenburg). – Vgl. Wunder: Pfarrwitwenkassen (wie Anm. 34) S. 438. 72 EKO 4, 1911, S. 113.

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mögen, ja wol auch in armut seien, ist daneben uns vielfeltig vorkommen und im werk also befunden73.

II. Vor dem Studium der Pfarrwitwenversorgung in Mecklenburg ist eine Bemerkung über die Versorgung des dienstunfähigen Pfarrherrn im Mittelalter geboten. Einen Ruhestand konnte es bis in die frühe Neuzeit nicht oder in nur begrenztem Umfang geben, da Landwirtschaft, Handwerk und Handel in der Hausgemeinschaft betrieben wurden. Aus ihr schied der Arbeitsunfähige je nach den individuellen Umständen aus74. Das bäuerliche Ausgedinge oder Altenteil ist bis in das 17. Jahrhundert die Ausnahme und war in Gebieten mit Realteilung ganz ausgeschlossen75. In der Regel wurde bis zur Vollinvalidität oder eben bis zum Tode gearbeitet. So wie das kirchliche Benefizialrecht des Mittelalters für die – wenn auch befristete – Versorgung der evangelischen Pfarrwitwen mittels des annus gratiae einen Weg gewiesen hat, bot es auch für den Unterhalt des dienstunfähigen Pfarrers eine Lösung an, und zwar in Gestalt des Koadjutors oder Adjunkten. Allerdings hat das kanonische Recht sein Augenmerk vor allem auf die Berufung von Koadjutoren für Bischöfe und – seit Bonifaz VIII. – auch für höhere Prälaten bei deren physischer Unfähigkeit gelenkt76. Hinsichtlich kranker Kleriker bestimmte es, daß sie ihres Benefiziums nicht beraubt werden dürften77. Verstümmelten oder gar an Aussatz leidenden Priestern wurde jedoch der Altardienst untersagt. Nach einer Dekretale Lucius’ III. (1181–87) hatten sie stattdessen einen coadiutor anzustellen, der angemessen zu entlohnen sei. Eine Dekretale Clemens’ III. (1187–91) entzog dem an Lepra Erkrankten die Pfarrei, sagte ihm jedoch eine angemessene Sustentation aus dem Aufkommen derselben zu78. Obwohl diese Dekretalen im Liber Extra dem speziellen Titel De clerico aegrotante vel debilitato zugewiesen sind, liegt ihre Nähe zum Titel De corpore 73 EKO 13, 1966, S. 318. 74 Michael Mitterauer: Arbeitsorganisation und Altenversorgung seit dem Mittelalter, in: Beiträge zur Historischen Sozialkunde 5 (1975) S. 4–10. 75 Mitterauer: Arbeitsorganisation und Altenversorgung S. 5–7. – Peter Borscheid: Geschichte des Alters 16.–18. Jahrhundert (Studien zur Geschichte des Alltags 7,1). 2. Aufl. Münster 1987, S. 48–70. 76 X 3.6.5. VI 3.5.1. Hinschius: System des katholischen Kirchenrechts. Bd. 2 (wie Anm. 31) S. 252f. 77 X 3.6.1. 78 X 3.6.2–4. Vgl. Hinschius: System des katholischen Kirchenrechts. Bd. 2 (wie Anm. 31) S. 324f.

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vitiatis ordinandis vel non79 beziehungsweise zu den die Irregularitäten ex defectu corporis regelnden Kanones des gratianschen Dekrets auf der Hand. Denn stets ging es ihnen zuvörderst darum, die Würde der gottesdienstlichen Verrichtungen zu wahren: Der Gemeinde sollte nicht Anstoß oder Anlaß zu Spott gegegeben werden, weil ihr Priester etwa lahmte, taub oder schwachsinnig war80. Wie mit wegen Alters dienstuntauglichen Pfarrern zu verfahren sei, wurde dem partikularen Recht überlassen. So hat Bischof Siegfried von Hildesheim im Jahre 1305 einem kranken und altersschwachen Landpfarrer, der seinem Pfarrvolk nicht mehr nütze sei, einen Koadjutor beigegeben; dieser hatte die cura animarum zu versehen und die Leitung der Pfarrei zu übernehmen, jedoch mit der Auflage, den alten Pfarrer karitative zu behandeln und ihm das Lebensnotwendige nach den Möglichkeiten der Pfarrkirche zu gewähren81. Der Schlußpassus der betreffenden Urkunde ist in Anlehnung an die erwähnte Dekretale Clemens’ III. formuliert. Eine etwas fortschrittlichere Altersversorgung ist ebenfalls seit dem 14. Jahrhundert im Schwange gewesen. Sie bestand darin, daß ein altersschwacher oder kranker Benefiziat seine Pfründe zugunsten eines bestimmten Nachfolgers resignierte (resignatio in favorem tertii) und sich von diesem dafür die lebenslange Zahlung einer Pension ausbedang – eine Vorgehensweise, die leicht in den Geruch der Simonie geriet und darum der Kontrolle und Genehmigung durch Papst oder Bischof unterworfen sein sollte82. Da ein Drittel oder sogar die Hälfte des Pfründeneinkommens als Pensionstitel vereinbart wurden83, setzte die zum Beispiel im Bistum Konstanz im 15. Jahrhundert

79 X 1.20.1–7. 80 Vgl. Paul Hinschius: System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland. Bd. 1. Berlin 1869 (ND Graz 1959), S. 14f. 81 Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, bearb. v. Hermann Hoogeweg. Bd. 3 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 11). Hannover u. Leipzig 1903, S. 721 Nr. 1518: Cum discretus vir rector ecclesie parochialis in Grashorst propter continuam corporis infirmitatem et non modicam senectutem, qua graviter opprimitur, regimini eiusdem ecclesie non sufficiat populoque sibi commisso commode preesse non valeat aut prodesse, nos volentes ipsius miserie misereri discretioni vestre (sc. dem Propst von Lamspringe) iniungimus per presentes, quatinus Bodonem clericum de Drispenstede (…) eidem coadiutorem auctoritate nostra ordinaria deputetis sibi curam animarum ac regimen dicte ecclesie committentes, iniungentes eidem, ut clericum debilem predictum karitative pertractet ac necessaria ministret iuxta ecclesie facultates (…). Zur Sustentationsbestimmung vgl. X 3.6.4: (…) ita quidem, quod iuxta facultates ecclesiae sibi necessaria, quamdiu vixerit, ministrentur. 82 Vgl. Paul Hinschius: System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland. Bd. 3. Berlin 1883 (ND Graz 1959), S. 277–282. – Tobias Ulbrich: Päpstliche Provision oder patronatsherrliche Präsentation? Der Pfründenerwerb Bamberger Weltgeistlicher im 15. Jahrhundert (Historische Studien 455). Husum 1998, S. 107–113. 83 Ulbrich: Päpstliche Provision S. 111.

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gut bezeugte Praxis eine solche Dotierung der Benefizien voraus84, die den Unterhalt sowohl des Emeritus als auch seines Nachfolgers ermöglichte. – Auch die Unterbringung des nicht mehr amtierenden Pfarrers kommt bereits im 14. Jahrhundert zur Sprache. Im Jahre 1315 haben die Kirchgeschworenen der Hamburger Katharinenkirche ihrem einstigen Seelsorger und dessen Schwester ein Haus neben dem Pfarrhof auf Lebenszeit als Wohnung angewiesen85. Die bugenhagenschen Kirchenordnungen haben, abgesehen von derjenigen für Dänemark von 1537, die Emeritenversorgung in der Regel in der Schwebe gelassen und die Lösung jedenfalls nicht darin gesehen, daß der alte Pfarrer sich einen Koadjutor nehmen sollte86. Überhaupt ist die Annahme eines Koadjutors selten Gegenstand einer Kirchenordnung gewesen. Doch garantierte 1593 die Marienhafener Ordnung Graf Edzards von Ostfriesland dem altersschwachen Pfarrer seine Pfarrpfründe und sah die Bestallung eines Vikars vor, dessen Unterhalt auf Ansuchen des Kirchspiels von der Herrschaft getragen werden sollte87. Andere Altersversorgungen reichten nach den Visitationsinstruktionen, Ordnungen und auch Bestallungsurkunden des 16. Jahrhunderts von der Bereitstellung von Unterkunft und Stipendienzusagen88, vom Freitisch in einem Kloster89, von der Einweisung in ein Spital90, von der Hilfe durch benachbarte Amtsbrüder, welche diesen durch ein angemessenes, unter Beiziehung des Superintendenten bestimmtes honorarium seitens des Amtsinhabers entgolten werden sollte91, vom aus den Kirchengütern zu zahlenden Leibgeding92 bis zum Unterhalt durch die christliche Gemeinde93 oder zu einem Anstellungsvertrag von 1542, nach dem für den Fall, wo gedachter prediger aus schwacheit seins leibs, darzu in an seiner memori, gemut und verstandnus etwas abgeen, also das er seiner predicatur und kirchendiensten furohin sein lebenslang nit mer fruchtbarlich vorsteen und die zu versehen wuste, kont noch mocht, gleichwohl die Besoldung seiner aktiven Dienstzeit bis zum Lebensende zustehen sollte94.

84 Regesten zur Geschichte der Bischöfe von Konstanz. Bd. 4 (1436–1474). Bearb. v. Karl Rieder. Innsbruck 1941, Nr. 12037 (1457?), 12607 (1462), 12923 (1465), 13191 (1466). – Vgl. auch Oskar Vasella: Beiträge zur kirchlichen Statistik des Bistums Chur vor der Reformation, in: Zs. f. schweizerische Kirchengeschichte 38 (1944) S. 259–289, darin S. 264f. (freundliche Hinweise von Sabine Arend, Göttingen). 85 UB Hamburg 2, 1911, S. 242 Nr. 331 (freundlicher Hinweis von Peter Vollmers, Göttingen). 86 S. oben bei Anm. 46–48. 87 EKO 7,1, 1963, S. 720. 88 EKO 1, 1902, S. 644 (vor 1578, Pirna). 89 EKO 2, 1904, S. 410 (1562, Erzbistum Magdeburg), S. 425 (1583, Erzbistum Magdeburg). 90 EKO 4 S. 43 (1528, Herzogtum Preußen). 91 EKO 13 S. 144 (1562, Herzogtum Pfalz-Neuburg). 92 EKO 6,1 S. 193 (1569, Fürstentum Wolfenbüttel). 93 EKO 13 S. 434 (1553 [?], Regensburg). 94 EKO 12, 1963, S. 129 (Dinkelsbühl).

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Die Mecklenburger Kirchenordnungen von 1552 und 1602 verlieren über eine Emeritenversorgung kein Wort95. Auch für die Witwen und Waisen sieht die Ordnung von 1552 keine konkreten Maßnahmen vor, sondern begnügt sich mit der Erinnerung an Gottes Gebot, daß man ire (sc. der Prediger) arme weib und kinder nicht mit hunger sterben lasse96. Das genügte im Jahre 1574 den Rostocker Pfarrern nun nicht mehr. Damals verpflichteten sie ihren Superintendenten, mit ihnen beim Rat der Stadt für die Nahrung eines krank oder alt gewordenen Kollegen und für die Gewährung von Gnadenjahr, freier Wohnung und alljährlichem Unterhalt der Pfarrwitwen Sorge zu tragen97; diesen und andere Artikel des sogenannten Rostocker Geistlichen Ministeriums haben seitdem bis zum Jahre 1897 alle Rostocker Superintendenten unterschrieben98.

III. Erst die Mecklenburger Kirchenordnung von 1602 befaßt sich eingehend auch mit den Pfarrwitwen. In ihrem fünften Teil »Von Unterhaltung und Schutz der Pastoren, Predicanten und Legenten, in der Universitet und andern Schulen« gewährt sie Predigerwitwen und -waisen das Gnadenjar wie von alters gebreuchlich und trifft dabei nähere Bestimmungen: Die Vakanzvertretung obliegt in Dorf und Stadt nach Anweisung des Superintendenten den benachbarten Amtsbrüdern. Diese haben einen Anspruch auf Beköstigung durch die Witwe, auf freie Fuhre seitens des Kirchspiels sowie auf die freiwilligen Gaben der Gemeindeglieder anläßlich von Krankenbesuchen und Beerdigungen. Während des Gnadenjahrs stehen der Witwe die fälligen Hebungen und Gefälle zu; dafür hat sie den eventuell schon neu gewählten Pastor mit Essen und Trinken zu versorgen, es sei denn, sie vergleicht sich mit diesem hinsichtlich der Erntefrüchte. Nach Ablauf des Gnadenjahres bewohnt die Witwe frei eine Wohnung der Kirche und unterliegt Zeit ihres Witwenstandes keiner Besteuerung. Wo es bisher bei der Kirche keine Wohnung gibt, haben Kirchgeschworene und Kirchspiel auf kirchlichem Grund am Friedhof oder auf dem Pfarrhof (der Wedem) ein Pfarrwitwenhaus zu bauen. Wenn darin keine Witwe untergebracht werden muß, wird das Haus vermietet. Wo so viel Acker beim Pfarrland ist, daß auf ein, zwei oder mehr Morgen verzichtet werden kann, sollen diese der Witwe zugewiesen werden, damit sie Hülffe zu irem unterhalt habe99. Das haben Amtmann und Superintendent zu befördern. Über sonstigen Unterhalt verlautet nichts. Die 95 96 97 98 99

EKO 5, S. 217–219. – Revidirte Kirchenordnung (wie Anm. 54) fol. 272v–280v. EKO 5 S. 216. EKO 5 S. 287. EKO 5 S. 280. Revidirte Kirchenordnung (wie Anm. 54) fol. 278r–279v, Zitat fol. 279v.

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Pfarrwitwe konnte daher, wie sich auch für Mecklenburg bestätigen wird100, zur Stadt- oder Dorfarmut gehören101, sofern nicht sie oder eine Tochter den Amtsnachfolger heiratete: Denn die Ordnung gestattet, daß, wenn die Witwe jung ist oder eine erwachsene Tochter hat, einen für den Pfarrdienst qualifizierten jungen Mann, der geneigt ist, sich mit der Witwe oder der Tochter zu verheiraten, vor anderen auf die Pfarre zu befördern. Anders jedoch – da keine Ehe erzwungen werden dürfe und das Wohl der ganzen Gemeinde dem Besten einer oder weniger Personen vorgehe – müssen die Wittwen mit den iren am gnaden Jar sich genügen lassen102. Das Gnadenjahr gilt der Kirchenordnung als eingeführt und gebräuchlich. Dem dürfte auch so gewesen sein, zumal es hier Mißbräuche auch seitens der Witwen gab: Obwohl das Gnadenjahr bereits um drei Wochen überschritten war, widersetzte sich im Jahre 1701 die Witwe des Praepositus Pistorius in Grevesmühlen der Räumung des Pfarrhauses; dem Wohnung begehrenden neuen Pfarrer Julius Ernst Hahn ließ sie ausrichten, sie wollte den Kerl, den Witwen- und Waisenvertreiber im Hause nicht haben103. In Kirch Grambow ließ die Pfarrwitwe Elisabeth Fromm geb. Meyer in ihrem bis zum 18. Januar 1673 währenden Gnadenjahr dem Nachfolger Johann Höfer den diesem gebührenden Unterhalt entgegen der Kirchenordnung nicht zukommen, so daß der neue Pfarrer auf Gaben der Gemeindeglieder angewiesen war104. Offenbar weitgehend ungelöst war das Problem der freien Wohnung. Obwohl 1582 für Bützow, 1586 für Groß Pankow und 1587 für Alt-Meteln Pfarrwitwenhäuser bezeugt sind105, waren sie offenbar doch noch wenig verbreitet. In anderen Territorien war der Bau von Witwenhäusern seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts befohlen worden106. Selbst bei Einrichtung von Pfarrwitwenhäusern bestand das Problem des ausreichenden Unterhalts der Witwe nach Ablauf des Gnadenjahres. Sonst wäre man nicht auf den Ausweg verfallen, die Witwe durch Verheiratung mit dem Amtsnachfolger oder aber durch die Verheiratung einer Tochter bei der Pfarre zu erhalten. In der Stadt Plau war im Jahre 1595 der 100 101 102 103

S. unten bei Anm. 187. Vgl. Wunder: Pfarrwitwenkassen (wie Anm. 34) S. 438 mit Anm. 24. Revidirte Kirchenordnung (wie Anm. 54) fol. 278r. Gustav Willgeroth: Die Mecklenburg-Schwerinschen Pfarren seit dem dreißigjährigen Kriege mit Anmerkungen über die früheren Pastoren seit der Reformation. Bd. 3. Wismar 1925, S. 1196f. 104 Ebd. S. 1143f. 105 LHA Schwerin, Acta ecclesiasticorum et scolarum specialia Bd. 1. Sign. 1404 Vol. XXXVII. – Ebd. Sign. 3695–96. – Ebd. Sign. 77/70–71 Vol. II. (freundliche Hinweise von Dr. med. Hanna Würth, Hannover, nunmehr Braunschweig); vgl. ihre Göttinger philosophische Dissertation Pfarrwitwenversorung im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin von der Reformation bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 69–82. 106 S. oben bei Anm. 71.

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Versuch eines dortigen Lehrers gescheitert, mittels dieser Art von »Konservierung« an eine Stelle zu gelangen107. Indes hatte es eine pommersche Generalsynode bereits im Jahre 1572 zur Amtspflicht der Generalsuperintendenten und der Superintendenten erklärt, die Patrone und Kandidaten dahin zu beeinflussen, bei Pfarrstellenbesetzungen die Verehelichung einer gegebenenfalls vorhandenen Witwe oder Pfarrerstochter zu berücksichtigen108. Die Initiative dazu lag bei den Pfarrern109. Ihnen dürfte die Übung der Handwerkerzünfte, die Witwen ihrer Meister durch Wiederverheiratung binnen eines Jahres zu versorgen110, als Vorbild gedient haben. Der Haupt-Kommissions-Rezeß der schwedischen Regierung Vorpommerns und Rügens hat 1663 gegen die Witwen- oder Tochterheirat auf den Landpfarreien keine Bedenken erhoben und gebot, eine anderweitige Versorgung sicherzustellen, wenn auf diesem Weg eine Eheschließung nicht zustande kam111. Die dann erforderliche Sustentation sollten bereits nach einer Visitationsinstruktion vom Jahre 1655 die Superintendenten, Pastoren und Patrone gewährleisten: Der Pastor hätte mindestens ein Achtel des Meßkornes zu geben sowie – wenn nicht seine Kirche oder der Patron – ein paar Morgen Ackers112; darüber hinaus sollten Kollekten in der Kirchengemeinde und in den Synoden der Witwe helfen. Das sind die Anfänge der sogenannten Witwenoktave113. Klagen, daß die Witwen- und Töchterkonservierung ungeeigneten Kandidaten den Weg ins Pfarramt öffnete, wurden in Vorpommern zwar laut114. Auch nahm sich die juristische Publizistik von der Mitte des 17. bis gegen die 107 Georg Lisch: Geschichte der Stadt Plau und deren Umgebungen, in: JahrbücherVMecklGA 17 (1852) S. 5–358, darin S. 165. 108 Theodor Woltersdorf: Die Konservierung der Pfarr-Wittwen und -Töchter bei den Pfarren und die durch Heirat bedingte Berufung zum Predigtamte in Neuvorpommern und Rügen, in: Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht 3. Folge 11 (1901) S. 177–246, darin S. 194f. – Vgl. Wunder: Pfarrwitwenkassen (wie Anm. 34) S. 437. 109 Woltersdorf (wie Anm. 108) S. 194–196. 110 Peter-Per Krebs: Die Stellung der Handwerkerswitwe in der Zunft vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Diss. iur. Regensburg 1974, S. 34, 49–52. – Sigrid Fröhlich: Die Soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden (Sozialpolitische Schriften 38). Berlin 1976, S. 108–111. – Borscheid: Geschichte des Alters (wie Anm. 75) S. 69–71. 111 Theodor Woltersdorf: Die Konservierung der Pfarr-Wittwen und -Töchter bei den Pfarren und die durch Heirat bedingte Berufung zum Predigtamte in Neuvorpommern und Rügen, in: Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht 3. Folge 13 (1903) S. 1–209, darin S. 6–8, Zitat S. 6: kein Bedenken, sie (sc. Witwen und Töchter) bei den Pfarren erhalten werden, wann nur eine taugliche, genugsam qualificirte und der Kirchen nützliche Person (dessen der Superintendens Erkundigung anstellen, und den Patronum informiren wird), welche die Heirath zugleich eingehen wollte, zu befinden. Daß der Rezess die Heirat geradezu zur Pflicht gemacht habe, trifft gegen Wunder: Pfarrwitwenkassen (wie Anm. 34) S. 439, nicht zu. 112 Nach Woltersdorf (wie Anm. 108) S. 188 Anm. 2, war in Wiek auf Rügen der Witwe bereits 1609, 1610 und 1618 Acker zugewiesen worden. 113 Woltersdorf (wie Anm. 108) S. 188. – Vgl. Wunder: Pfarrwitwenkassen (wie Anm. 34) S. 439. 114 Woltersdorf (wie Anm. 111) S. 14–21.

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Mitte des 18. Jahrhunderts des Themas der Konservierung an und beurteilte sie zunehmend kritisch115. Carl Arnold Kortum ließ sich das Thema im zweiten, im Jahre 1799 entstandenen Teil seiner Jobsiade nicht entgehen116. Zuletzt hat in Vorpommern im Jahre 1808 eine Witwe versucht, mittels Klage gegen den Patron die Konservierung ihrer Tochter bei der Pfarre und dadurch sich selbst den Lebensunterhalt zu erstreiten117. Auch außerhalb Pommerns und Mecklenburgs war die Konservierung durch Heirat bekannt. Die mittel- und süddeutsche Publizistik des 17. Jahrhunderts hat die fünf möglichen Fälle des Pfarrstellenerwerbs parodiert: Die vocatio per nominativum durch den eigenen großen Namen; die vocatio per genitivum als diejenige durch Heirat. Die vocatio per dativum wäre ein solche gewesen, die durch Geschenk und Gabe zum Erfolg führte. Per accusativum klagte man einen anderen aus der begehrten Stelle, und per ablativum rückte man in das Amt eines unrechtmäßig Abgesetzten ein118. Die vocatio per genitivum wurde im Jahre 1700 von dem märkischen Pfarrer Johann Samuel Adami in seiner Schrift »Die boesen Priesterfeinde …« auch als promotio per vulvam bezeichnet119. In der Reichsstadt Goslar sind im 17. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts 15 Pfarrwitwen- oder -töchterkonservierungen nachweisbar120. Herzog Johann Friedrich von Hannover unterband 1675 die Konservierung als Simonie; dasselbe tat der spätere König Friedrich I. von Preußen 1698/99121. Inwieweit die Konservierung seit Herzog Friedrich von Mecklenburg-Schwerin (1756–1785) auf Pfarren landesherrlichen Patronats aufgegeben worden ist122, bleibt zu untersuchen. Im Herzogtum scheint die letzte Konservierung einer Tochter 1856/57 in Camin (südwestlich Wittenburg) erfolgt zu sein, einer Pfarre unter adeligem Patronat123. 115 Woltersdorf (wie Anm. 111) S. 21–46. 116 Carl Arnold Kortum: Die Jobsiade. Ein komisches Heldengedicht in drei Theilen, Theil 2 c. 27, 9. Dortmund 1799, S. 149: Aber er hielt es für Unrecht, durch eine Quarre / Anzutreten eine geistliche Bedienung oder Pfarre. 117 Woltersdorf (wie Anm. 111) S. 200–207. 118 Hans-Christoph Rublack: »Der wohlgeplagte Priester«. Vom Selbstverständnis lutherischer Geistlichkeit im Zeitalter der Orthodoxie, in: ZHF 16 (1989) S. 1–30, darin S. 14–17. 119 Ebd. S. 9, 16 mit Anm. 55. 120 Wilhelm Gasse: Die »gute alte Stadt« und ihre Pastoren (Beiträge zur Geschichte der Stadt Goslar 38). Goslar 1988, S. 14; ebd. S. 15–24 zum Heiratsstreit des später hallischen Pfarrers Johann Michael Heineccius (1674–1722) von 1699. – Der eine für 1601 in Pfalz-Neuburg von Westphal: Frau und lutherische Konfessionalisierung (wie Anm. 69) S. 217, nachgewiesene Fall ist für dieses Land kaum repräsentativ, solange hier eingehende Studien fehlen. 121 Woltersdorf (wie Anm. 108) S. 190 mit Anm. 1. – Wunder: Pfarrwitwenkassen (wie Anm. 34) S. 437. 122 So Karl Schmaltz: Kirchengeschichte Mecklenburgs. Bd. 3. Berlin 1952, S. 221. 123 Gustav Willgeroth: Die Mecklenburg-Schwerinschen Pfarren seit dem dreißigjährigen Kriege mit Anmerkungen über die früheren Pastoren seit der Reformation. Bd. 2. Wismar 1925, S. 1089–1091: 1857 heiratete Georg C. Gustav Clodius (1856–1896) die Maria Caroline

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IV. Die Pfarrwitwenversorgung der Mecklenburger Ordnung von 1602 wurde unverändert in diejenige von 1650 übernommen124. Die Gebote, Pfarrwitwenhäuser zu errichten und bei der Präsentation solche Bewerber zu bevorzugen, welche die Pfarrwitwe- oder -tochter zu heiraten gedachten, bestanden also fort. Im folgenden ist ein Blick auf die Witwenhäuser zu werfen, dann auf den Unterhalt der darin lebenden Witwen, weiter auf die Erhaltung von Witwen und Töchtern auf der Pfarre durch deren Verheiratung und schließlich auf die Alterssicherung von Pfarrern durch die Annahme von Adjunkten, die auch als Substituten oder Kollaboratoren bezeichnet wurden.

IV.1 Mit dem Hamburger Vergleich vom 8. März 1701 wurden die Herzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Güstrow unter Herzog Friedrich Willhelm zum Herzogtum Mecklenburg-Schwerin vereinigt; zugleich wurde für Herzog Adolf Friedrich II. das erbliche Fürstentum Mecklenburg-Strelitz geschaffen, dem das Fürstentum Ratzeburg zugeschlagen wurde125. In den Jahren 1703 und 1704 hat Herzog Friedrich Wilhelm den Pfarrherren des Herzogtums Mecklenburg-Schwerin befohlen, Namen und Alter ihrer erwachsenen Pfarrkinder aufzunehmen, die Rechtsverhältnisse und die Einkünfte des Pfarrers darzulegen und schließlich auch zu berichten, ob ein Pfarrwitwenhaus und eine Pfarrwitwe vorhanden wären, wovon diese lebte, und welche und wie viele Kasualien anfielen126. Die daraus erwachsenen Berichte der mecklenburg-schwerinschen Pfarrer hat Franz Schubert unter dem Titel »Anno 1704. 300 Mecklenburgische Pastoren berichten über ihre Kirchspiele mit 1700 Ortschaften, über ihre dienstlichen und persönlichen Verhältnisse, über ihre 100.000 Beichtkinder« Luise Flörke, eine Tochter des Vorgängers Friedrich Wilhelm Flörke (1814–1856) (freundlicher Hinweis von Jan Leipold, Göttingen). 124 Revidirte Kirchen-Ordnung: Wie es mit Christlicher Lehre, Reichung der Sacramenten, Ordination der Diener des Evangelii, ordentlichen Ceremonien in der Kirchen, Visitation, Consistorio und Schulen: Im Hertzogthumb Mecklenburg, etc. gehalten wirdt. Lüneburg: Martin Lamprecht 1650 fol. 278r–280r. 125 Schmaltz: Kirchengeschichte Mecklenburgs 3 (wie Anm. 122) S. 115f. – Manfred Hamann: Das staatliche Werden Mecklenburgs (Mitteldeutsche Forschungen 24). Köln, Graz 1962, S. 33f. 126 LHA Schwerin, IB 23/05 Acta ecclesiasticarum et scolarum generalia (Kirchen und Schulen) Nr. 535, Mandat vom 27. April 1703. – Die Mandate vom 26. Juli und 20. August 1704 und ihre Fragen werden erwähnt zum Beispiel von Pastor Meinecke in Rambow, Schubert: Anno 1704 (s. folgende Anm.) Lfg. A 1 S. 129–134.

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publiziert127. Tatsächlich liegen 288 Berichte vor. 65 von ihnen, also zwischen einem Viertel und einem Fünftel, bieten nur die Namen der Beichtkinder, da sie bereits im Laufe des Jahres 1703 auf das dahin lautende Mandat vom 27. April 1703 verfaßt worden waren und offenbar nicht um die mit Mandaten vom 26. Juli und 20. August 1704 eingeforderten Nachrichten ergänzt wurden. Von den verbleibenden 221 Berichten sind 23 unvollständig. Insgesamt 198 Berichte äußern sich über Pastorenwitwen und ihre Unterbringung beziehungsweise ihre Versorgung. Danach gab es im Jahre 1704 in 198 Kirchspielen 56 Pfarrwitwen, die es zu unterhalten galt. In Schwinkendorf hatte die am 2. August 1704 verwitwete Pastorin einen benachbarten Pfarrer gebeten, auf die Mandate des Jahres 1704 zu antworten, was unter dem Datum des 23. Oktober 1704 geschah128. Zweifellos genoß sie das ihr zustehende Gnadenjahr. In 88 Pfarreien, also in etwas weniger als der Hälfte derjenigen Kirchspiele, aus denen entsprechende Nachrichten vorliegen, waren Pfarrwitwenhäuser vorhanden129. Wenn Friedrich Nicolaus Idler, Propst in der Stadt Schwaan, 1704 vermerkte: Wittwen-Hauß ist leider bey dieser Schwanischen Pfarre nicht vorhanden, so doch fast bey allen Dörfern auf dem Lande, wie gering auch der Ohrt ist, gefunden wird130, dann befand er sich entweder im Irrtum oder wollte durch eine Übertreibung den Herzog zur Errichtung eines Witwenhauses in Schwaan bestimmen; denn nachdem er auch noch auf den die Errichtung von Witwenhäusern regelnden Passus der Kirchenordnung von 1602 hingewiesen hatte, fuhr er fort: So werden Ihro Hochfürstl. Durchl. desfals unterthänigst ersuchet, die fohdersahmste Verordnung zum Anbau eines Witwen-Haußes hieselbst zu machen, damit nach meinem tödtlichen Hintrit mein Weib und Kinder wißen mögen, wo sie bleiben, und woher Sie ihren Unterhalt nehmen sollen. Die Kirchenordnung von 1602 hatte die Baulast für die Witwenhäuser dem Kirchspiel und den Kirchgeschworenen auferlegt. Mehrheitlich haben diese sich dieser Pflicht so lange wie möglich zu entziehen versucht – das war im 16. und 17. Jahrhundert zum Beispiel auch in Braunschweig-Wolfenbüttel nicht anders131 – oder waren auch gar nicht in der Lage, auch noch diese Last zu schultern. 127 Franz Schubert: Anno 1704. 300 Mecklenburgische Pastoren berichten über ihre Kirchspiele mit 1700 Ortschaften, über ihre dienstlichen und persönlichen Verhältnisse, über ihre 100.000 Beichtkinder. Lieferungen A 1 – K, nebst Registern R 1 – R 3. Göttingen (Selbstverlag) 1979–1980. Or.: LHA Schwerin, Sign. 1284/1, Beichtkinderverzeichnisse [nach Superintendenturen geordnet]. 128 Schubert (wie Anm. 127) Lfg. A 1 (Schwinkendorf) S. 139–141. Sie blieb Witwe und starb 1713, Gustav Willgeroth: Die Mecklenburg-Schwerinschen Pfarren seit dem dreißigjährigen Kriege mit Anmerkungen über die früheren Pastoren seit der Reformation. Bd. 1. Wismar 1924, S. 537. 129 Nach Auszählung des Werkes von Schubert. 130 Schubert: Lfg. D 1 (Schwaan) S. 29. 131 Vgl. Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit (wie Anm. 19) S. 323f.

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Aus der Pfarrei Meltz bemerkt 1704 der Pastor Urban Fleischer: Hie ist weder Küsterey noch Schule, die Kinder wachsen auf wie das thume Vieh, daß Gott erbarm! Und wie solten sie ein Witwenhaus bauen laßen, da der Pastor in einem Maus- und Rauchnest wohnen muß?132 In Hohen Demzin war zwar eine Hausstelle vorhanden, jedoch fehlten zum Bau die Mittel133. In Kuppentin hat die Gemeinde 1702 ein Witwenhaus zu bauen begonnen, es nach dem zwischenzeitlichen Tode der Pastorenwitwe dann aber nicht vollendet; das Haus war noch meist ohne Dach134. Ruinös waren die Witwenhäuser in Zehna, Sanitz, Qualitz und Burow135. Zu elf Witwenhäusern ist ausdrücklich bemerkt, daß sie auf Kosten des Kirchspiels errichtet worden wären; dabei stellten die Patrone in fünf Fällen (Tessin, Sanitz, Volkenshagen, Körchow und Zarrentin) das Bauholz, während die Gemeinde die übrigen Kosten trug und die Bauarbeiten erledigte136. In Ivenack hatte einst Herzog Gustav Adolf († 1695) den Hausplatz bereitgestellt, während der Bau aus Mitteln der Kirche errichtet worden war137. In Warsow wurde der Fürst um Bauholz für das Backhaus gebeten, worin vordem die Pastorenwitwe gewohnt habe138. Das Backhaus war eine keinesfalls ungewöhnliche Witwenbehausung. In Lichtenhagen schlug der Pastor vor, das Backhaus als Witwenwohnung herzurichten139. Das Backhaus des Pfarrhofes in Elmenhorst wurde seit nicht weniger als 28 Jahren von der Pastorenwitwe bewohnt, die im übrigen die Schwiegermutter des Pfarrers war, und bot Platz für Stube, Kammer und Stall140. Auch in Heiligenhagen, in Hansdorf und in Dreveskirchen dienten Backhäuser als Witwenhäuser141. Dabei war in Hansdorf das Backhaus durch das Einziehen einer Wand in die Witwen- und in die Backstube, wo sich der Backofen befand, unterteilt worden. Wenn eine Pastorenwitwe vorhanden war, hielt das Kirchspiel nicht nur die Backstube, sondern auch den Raum der Witwe instand.

132 133 134 135 136

137 138 139 140 141

Schubert: Lfg. C 1 (Meltz) S. 38. Schubert: Lfg. B 2 (Hohen Demzin) S. 165f. Schubert: Lfg. C 2 (Kuppentin) S. 196f. Schubert: Lfg. B 1 (Zehna) S. 91, Lfg. E (Sanitz) S. 110, Lfg. F 3 (Qualitz) S. 275, Lfg. J (Burow) S. 21. Schubert: Lfg. A 2 (Groß-Lukow) S. 250, Lfg. D 2 (Polchow) S. 184, Lfg. E (Marlow) S. 63, Lfg. F 1 (Retschow) S. 96, Lfg. F 2 (Brunshaupten) S. 148, Lfg. G 1 (Lübow) S. 40, Lfg. J (Barkow) S. 9. – Bauholz von den Patronen: Lfg. D 3 (Tessin) S. 330, Lfg. E (Sanitz und Dänischenburg) S. 110, ebd. (Volkenshagen) S. 141, Lfg. H 1 (Körchow) S. 70, ebd. (Zarrentin) S. 101. Schubert: Lfg. A 1 (Ivenack) S. 21. Schubert: Lfg. K (Warsow) S. 62f. Schubert: Lfg. F 1 (Lichtenhagen) S. 27. Schubert: Lfg. G 2 (Elmenhorst) S. 196, 207. Vgl. Willgeroth: 3 (wie Anm. 103) S. 1218. Schubert: Lfg. D 1 (Heiligenhagen) S. 60, ebd. (Hansdorf) S. 74, Lfg. F 2 (Dreveskirchen) S. 229.

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In Pritzier, wo es kein Witwenhaus gab und der Pastor Hartwig Holste deshalb bei den Patronen vorstellig geworden war, wurde dieser beschieden, es wäre ja noch nicht nötig; wenn solcher casus käme, müßte man sehen, wie man dazu Anstalt machte142. Den Berichten von 1704 zufolge haben zehn Pastoren nicht zuwarten wollen, bis Kirchspiel oder Patron tätig wurden, sondern auf eigene Kosten Pfarrwitwenhäuser errichtet. In Karchow und Schorrentin hofften die Pastoren auf eine Erstattung seitens der Gemeinde. Da die Kirchengemeinde von Kuhlrade genug mit dem Pfarrhause zu tun hatte und zum Bau eines Witwenhauses außerstande war, hat der Pastor Georg-Joachim Fanter, 1704 erst zwei Jahre im Amt, aus Spenden ein Witwenhaus in der Größe von sieben Gebinden oder sechs Fächern errichtet, das zur Gänze für sechs und zur Hälfte für drei Reichstaler zu Gunsten des Kirchenkastens vermietbar wäre. Die Vermietung sei leicht möglich, da es an Häusern mangele143. Zieht man aus den einzelnen Nachrichten die Summe, dann war es ganz offensichtlich Sache des Pastors, der Kirchenordnung von 1602 hinsichtlich der Unterbringung seiner Witwe in einem Witwenhaus Geltung zu verschaffen. Wenn nicht er für sie Sorge trug, gab es für sie kein Dach über dem Kopf oder allenfalls eine Bleibe, die, wie in Brunshaupten, einem Hirtenkaten gar nicht unähnlich war144. In Lärz war zwar ein Witwenhaus, aber sehr schlecht, daß eines Predigers Witwe wohl Bedenken tragen möchte, solches zu bewohnen145. In Pokrent hatte 1696 Franz Joachim Dönninghausen seine eindundvierzigjährige Schwiegermutter Tida Jüchter, die Witwe seines Vor- und Vorvorgängers, mit drei Kindern in das baufällige Witwenhaus ziehen lassen. Er und seine damals achtzehnjährige Frau nahmen sie vielleicht deshalb nicht bei sich auf, weil auch das Pokrenter Pfarrhaus zu ihrer Zeit sehr baufällig war, sodaß man bei einem starken Winde nicht allzu sicher in demselbigen ist146.

142 Schubert: Lfg. H 1 (Pritzier) S. 79. 143 Schubert: Lfg. A 1 (Varchow) S. 64, Lfg. B 2 (Klaber) S. 153, Lfg. C 1 (Karchow) S. 60, Lfg. D 2 (Schorrentin) S. 239, Lfg. E (Kuhlrade) S. 59f., ebd. (Kölzow) S. 77, Lfg. F 2 (Alt-Karin) S. 178, ebd. (Alt-Bukow) S. 214, Lfg. H 1 (Vellahn) S. 86, Lfg. H 2 (Zahrensdorf) S. 166. 144 Schubert: Lfg. F 2 (Brunshaupten) S. 148. 145 Schubert: Lfg. C 1 (Lärz) S. 34. 146 Willgeroth: 3 (wie Anm. 103) S. 1151.

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IV.2 Der Unterhalt der Pastorenwitwe sollte nach der Kirchenordnung von 1602 je nach der Größe des Pfarrackers aus ein, zwei oder mehr Morgen Land bestritten werden, sofern das Pfarrgut diese entbehren konnte147. Über die Sustentation der Witwen äußerten sich im Jahre 1704 die Pastoren 115mal, also in beträchtlich mehr als der Hälfte der 198 detaillierten Aufstellungen. Von Morgen ist in ihnen, von zwei Fällen abgesehen148, nicht die Rede, sondern vielmehr von nach Scheffeln bemessenem Saatgut, das sich auf den der Witwe überlassenen Äckern ausbringen ließ149. Im Jahre 1704 entsprach in Gadebusch ein Morgen einem Acker von vier Scheffeln Saatgut150. Dieses Verhältnis zu Grunde gelegt151, hätten also gemäß der Kirchenordnung einer Pastorenwitwe, soweit möglich, Äcker im Umfang von vier bis acht oder mehr Scheffeln Saat zur Nutzung überlassen werden sollen. Dem Pastor in Warnkenhagen galten vier Scheffel Acker als Norm für eine der Kirchenordnung entsprechende Witwensustentation: Eine Wittwe od. Wittwer hat, wie sonsten gebräuchl., 4 schfl. aus jedem Schlage, eine Worte, dafür Sie Pacht geben muß, die ich jetzt gebe, weil ich sie gebrauche, aus der Kirchen hat sie etwa 5 R(eichstaler) – sonsten nichts152. Die den Witwen zugesprochenen Leistungen sind aber nicht nur nach den ihnen zugewiesenen Äckern bemessen. Es werden neben Land auch Geldzahlungen gewährt. Da einem Reichstaler der Wert des Ertrages aus zwei Scheffeln

147 Revidirte Kirchenordnung (wie Anm. 54) fol. 279v: Wo aber auch so viel Acker bey der Wedem verhanden, das ein morgen, zwen oder mehr dauon zuentraten, So sollen dieselbe der Witwen auch zugeordnet werden, damit sie huelffe zu irem vnterhalt habe. Solches sollen vnsere Amptleute, neben den Superintendenten befordern, vnd mit fleiß anordnen, vns ins werck richten helffen. 148 Schubert: Lfg. C 1 (Röbel Neustadt) S. 2, Lfg. G 2 (Gadebusch) S. 242, 244. 149 Schubert: Lfg. A 2 (Groß-Lukow) S. 250: ist ohngefähr von 5 Schfl. Aussaat Acker, wobey den ein klein Wische sich befindet. Lfg. B 1 (Kritzkow) S. 61: (…) in dem einen Schlage kan ich 3, in dem andern 4, und in dem dritten Wol 5 Drömt Rocken säen (…). Und empfänget die Wittwe aus jedem Schlage von des Predigers Acker zu 4 Schfl. Saat Acker (…). 150 Schubert: Lfg. G 2 (Gadebusch) S. 242: Acker soll ich haben laut des Sehl. Sen. Bussenii als gewesenen Senioris Aufsatz 129 Scheffel oder 32 Morgen 1 Scheffel, davon hat die Frau Seniorin 16 Scheffel 4 Morgen, bleiben also 117 Scheffel oder 28 Morgen 1 Scheffel (…), S. 244: Die Frau Witwe des Sehl. Sen. Bussenii hat von meinen Äckern zu gebrauchen, wie droben gemeldet, 4 Morgen Land, welches mir ein zimlicher Abbruch ist, denn es ist von dem besten Acker. 151 Zu den regional unterschiedlichen Größen mecklenburgischer Hufen nach Scheffeln Aussaat vgl. jedoch Thomas Rudert: Gutsherrschaft und Agrarstruktur. Der ländliche Bereich Mecklenburgs am Beginn des 18. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 647). Frankfurt a.M. u. a. 1995, S. 35–49. 152 Schubert: Lfg. B 2 (Warnkenhagen) S. 126.

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Acker entsprach153, verfügte die Witwe in Viltz über einen sicheren Unterhalt, wenn sie zu zwölf Scheffeln Acker auch noch fünf Reichstaler von der Kirche bezog154. Da sie außerhalb bei einem Sohn wohnte, brauchte sie davon auch keine Miete zu zahlen. Nicht bei der folgenden Auswertung berücksichtigt sind jene Fälle, in denen die Witwe neben Geld noch Naturalien und Viktualien empfing. Die Witwe in Satow bekam an Gelde 3 R(eichstaler), Acker gar nicht, sondern 2 Drömpt Rogken, 1 Drömpt Gärsten und ein Drömpt Habern, 8 Würste, 40 Eyer und ein halb Schock Käse155. Ein Drömpt maß zwölf Scheffel. Das Äquivalent dieser Naturalien und Viktualien zu Ackergrößen ist aus den Beichtkinderverzeichnissen nicht sicher zu berechnen156. Nach den dafür aussagekräftigen 77 Berichten war für die Witwen eine Sustentation vorgesehen in einem Umfang von unter vier Scheffeln Acker in 15 Pfarreien157, eine Sustentation von vier bis sieben Scheffeln Acker in 13 Pfarreien158, eine Sustentation von acht bis elf Scheffeln Acker in sechs159, eine Sustentation von zwölf bis 15 Scheffeln Acker in acht Pfarreien160, eine Sustentation

153 Schubert: Lfg. D 1 (Heiligenhagen) S. 60: Der Witwen Einkünfte bestehen in 4 Scheffel Saat Acker, dafür giebt ihr der Prediger, wenn die Witwe nicht in loco, so lange sie lebet jährlichen 2 R. Daß Haus kan sie verheuren bekömpt dafür jährlichen, wen ein Heuermann da ist, 7 R. 154 Schubert: Lfg. D 3 (Viltz) S. 319. 155 Schubert: Lfg. F 1 (Satow) S. 87. – Ebd. (Doberan) S. 44. – Lfg. F 2 (Russow) S. 134. – Ebd. (Westenbrügge) S. 164. – Lfg. F 2 (Dreveskirchen) S. 229. – Lfg. F 3 (Bernitt) S. 307. – Lfg. G 1 (Dambeck) S. 108. – Lfg. G 2 (Dassow) S. 154. – Ebd. (Mummendorf) S. 164. – In Dargun (ist) die itzige Pastorenwittwe (…) Ihro Hochfürstl. Durchl. Altfrau an diesem Ohrt, und hat von Ihro Hochfürstl. Durchl. der verwittweten Frau Hertzogin ihr nohtdürftiges und reichliches Auskommen, Schubert: Lfg. D 2 S. 228. 156 In Ivenack (Weitendorf) erlösen etwa 4 Scheffel Acker jährlich 28 Schillinge lübisch, Schubert: Lfg. A 1 S. 30. In Retschow wird der Ertrag im Umfang von einem Scheffel Meßkorn mit 16 Schillingen lübisch bewertet, Schubert: Lfg. F 1 S. 95. 157 Schubert: Lfg. A 1 (Stavenhagen) S. 16. – Ebd. (Rittermannshagen) S. 144. – Lfg. B 1 (Upahl) S. 95. – Lfg. B 2 (Thürkow) S. 112. – Lfg. C 1 (Röbel Neustadt) S. 2. – Ebd. (Jabel) S. 115f. – Lfg. C 2 (Teschentin) S. 249. – Lfg. D 2 (Levitzow) S. 154. – Lfg. E (Kuhlrade) S. 59f. – Lfg. J (Laucken) S. 42. – Ebd. (Grebbin) S. 64. – Ebd. (Marnitz) S. 90. – Ebd. (Brunow) S. 139. – Lfg. K (Laase) S. 122. – Ebd. (Ruchow) S. 143. 158 Schubert: Lfg. A 2 (Groß-Lukow) S. 250. – B 1 (Kritzkow) S. 61. – Lfg. B 2 (Kavelstorf) S. 218. – Lfg. C 2 (Goldberg) S. 276. – Lfg. D 1 (Heiligenhagen) S. 60. – Lfg. D 3 (Lübchin) S. 288. – Lfg. D 2 (Groß Methling) S. 201. – Lfg. E (Thulendorf) S. 131: fünf Gulden (= 2½ R. = 5 Scheffel Acker, vgl. oben bei Anm. 153 und unten bei Anm. 181). – Lfg. F 3 (Qualitz) S. 275. – Lfg. G 2 (Proseken) S. 165. – Lfg. G 2 (Elmenhorst) S. 207. – Lfg. H 1 (Neuenkirchen) S. 43. – Lfg. K (Garwitz) S. 170: 5 Gulden. 159 Schubert: Lfg. A 2 (Penzlin) S. 209. – Lfg. C 2 (Lohmen) S. 235. – Lfg. D 3 (Boddin) S. 303. – Lfg. G 1 (Beidendorf) S. 68. – Lfg. H 1 (Camin) S. 94f. – Lfg. K (Eickelberg) S. 117. 160 Schubert: Lfg. B 2 (Warnkenhagen) S. 126. – Ebd. (Belitz) S. 178f. – Lfg. D 2 (Brudersdorf) S. 208f. – Ebd. (Levin) S. 215. – Lfg. D 3 (Tessin) S. 330. – Lfg. E (Sülze) S. 105. – Lfg. F 2 (AltKarin) S. 178. – Lfg. H 1 (Perlin) S. 52.

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von 16 bis 19 Scheffeln Acker in sechs Pfarreien161 und eine Sustentation im Umfang von 20 Scheffeln (= fünf Morgen) Acker und mehr in acht Pfarreien162. Von den 56 Witwen, für die überhaupt Einkünfte vorgesehen waren, haben 34, also mehr als die Hälfte, weniger als zwölf Scheffel Acker (= drei Morgen Land) nutzen können. Unberücksichtigt sind in dieser Übersicht die gelegentlich erwähnten Mietzuschüsse163. In Krakow erhielt die Witwe, da das Witwenhaus abgebrannt war, sechs Reichstaler zur Miete164, in Röbel Neustadt neben zwei Morgen Acker vier Reichstaler, dafür sie aber kein Haus heuern kan165. Daß kein Unterhalt für eine Witwe vorhanden oder vorgesehen sei, bemerken die Berichte aus 21 Pfarreien166. Franz Joachim Dönninghausen in Pokrent hatte seine damals 41 Jahre alte Schwiegermutter Tida Franck geb. Jüchter im baufälligen Witwenhaus untergebracht und notierte 1704: Aus der Gemeinde bekommt sie nichts, daher es ihr auch, sich benebst ihren annoch bei sich habenden drei Kindern (…) zu ernähren sehr schwer fällt, und muß meistensteils sich vom Spinnen ernähren. Das offenbar älteste aller ihrer Kinder war die mit achtzehn im Jahre 1696 mit Dönninghausen vermählte Tochter Agneta Hedwig Franck167. Nikolaus Richter in Lübsee (bei Güstrow) hatte 1704 mangels eines Witwenhauses seine Schwiegermutter bei sich aufgenommen; es fehle zudem die geringste Hebung, davor eine Wittwe zu ihres Lebens Unterhaltung etwas anschaffen möge168. Die Pfarrei Lärz hatte zwar ein Witwenhaus, doch sei keine einige Furche

161 Schubert: Lfg. A 1 (Ivenack) S. 21. – Lfg. D 1 (Buchholtz) S. 112. – Lfg. D 2 (Neukalen) S. 134. – Ebd. (Polchow) S. 184. – Ebd. (Walkendorf) S. 188. – Lfg. G 2 (Gadebusch) S. 244. 162 Schubert: Lfg. B 2 (Teterow) S. 100. – Lfg. D 3 (Viltz) S. 319. – Lfg. E (Volkenshagen) S. 141. – Lfg. F 1 (Kessin) S. 16. – Ebd. (Retschow) S. 96. – Ebd. (Kröpelin) S. 106. – Lfg. F 2 (Brunshaupten) S. 148. – Lfg. G 2 (Lübsee bei Wismar) S. 238: 12 Scheffel Acker und 20 Gulden (= 10 R. = 20 Scheffel Acker) Ackermiete, insgesamt also 32 Scheffel Acker beziehungsweise Gulden, vgl. oben bei Anm. 153 und unten bei Anm. 181. 163 Schubert: Lfg. A 1 (Stavenhagen) S. 15: 20 R. – Lfg. B 2 S. 100 (Teterow): 20 R. – Lfg. C 2 (Krakow) S. 216: 6 R. – Lfg. E (Ribnitz) S. 24: 20 R. – Lfg. G 2 (Lübsee bei Wismar) S. 238: 30 Gulden (= 15 R.). – Ebd. (Gadebusch) S. 244: 4 R. – Lfg. J (Slate) S. 85: 3 R., die nicht ausreichend seien. 164 Schubert: Lfg. C 2 S. 216; da die Witwe Schwiegermutter des Pastors war, war über den Acker nichts festgelegt worden. 165 Schubert: Lfg. C 1 S. 2. 166 Schubert: Lfg. A 1 (Malchin) S. 94. – Ebd. (Basedow) S. 155. – Lfg. B 1 (Zehna) S. 91. – Lfg. B 2 (Lübsee bei Güstrow) S. 147. – Lfg. C 1 (Röbel Altstadt) S. 16. – Ebd. (Rechlin) S. 26. – Ebd. (Lärz) S. 34. – Ebd. (Serrahn) S. 133. – Lfg. C 2 (Plau) S. 171. – Ebd. (Krakow) S. 216. – Ebd. (Brütz) S. 267. – Lfg. D 1 (Hansdorf) S. 74. – Ebd. (Warnemünde) S. 82f. – Lfg. D 3 (Gnoien) S. 243. – Lfg. E (Wustrow) S. 40. – Ebd. (Rostocker Wulfshagen) S. 51. – Ebd. (Marlow) S. 63. – Ebd. (Petschow) S. 127. – Lfg. H 1 (Zarrentin) S. 101. – Lfg. J (Satow) S. 5. – Lfg. K (Pampow) S. 58. 167 Willgeroth: 3 (wie Anm. 103) S. 1151 (Nicht bei Schubert: Lfg. G 2 [Pokrent] S. 288–292). 168 Schubert: Lfg. B 2 S. 147. Willgeroth: 1 (wie Anm. 128) S. 363.

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Acker dabey169. In der Stadt Plau hat die von seel. Hn. Zacharias Crullen, gewesenen Pastoris in Plau, hinterlaßene u. alhier sich aufhaltende Witwe keinen bleibenden Ort (…). Hat auch nicht, davon sie leben kan170. Aus der Stadt Neukalen läßt sich der Pastor vernehmen: Die Wittwen sind hie schlecht nach ihrer Männer Tode versorget, und weis Ich, daß ihnen kein Wasserstrunck zugekehret würde: Man würde auch lieber jemand anders, als eines Predigers Wittwe bey sich wohnen haben. Ihre gantze subsistence ist bisher nichts gewesen. Jedoch habe der Superintendent in diesem Jahr der nach Rostock gezogenen Witwe Helwig neun Reichstaler jährlich angewiesen171. Die Witwen in Stavenhagen, Groß-Poserin, Tessin und Wittenburg lebten von Almosen, aus der Armenkasse oder dem Hospital oder erhielten aus ihnen einen Zuschuß172. Von Almosen ernährte sich auch die seit neun Jahren bettlägerige, 74 Jahre alte und auf die Pflege durch eine Magd angewiesene Witwe des Pastors Henning in Demen173. Ein Morgen Land, wie als Mindestausstattung von der Kirchenordnung 1602 vorgesehen, oder auch nur drei Scheffel Aussaat reichten nach dem Urteil des Pastors in Thürkow für eine Witwe gerade aus: (…) für eine Person ginge es an, hat sie aber ihre liebe Kinder, die öfters noch bey andern Leuten nicht seyn können (…), so ist leicht zu erachten, in was Elend mancher arme Prediger seine Frau und liebe Kinder muß sitzen laßen174. Sein Kollege Martin Engel in Qualitz sah 1¼ Morgen Land als zu gering an: (…) und bestehet leyder! ihre (sc. der Witwen) Subsistenz in ein wenig Acker, an diesem Ort hat sie in jedem Schlage, derer 3 sind, nur 1½ Scheffel Saat175. In Kuhlrade hatten die Witwe und ihre bei ihr lebende achtundzwanzigjährige Tochter vom Pfarrland Acker im Umfang von drei Scheffeln Saat und anderthalb Fuder Heu für eine Kuh; wie die Witwe in Pokrent nähte und spann auch sie und lebte nach dem Urteil des Pastors kümmerlich176. Die zwölf Scheffel Acker, also drei Morgen, und der eine Reichstaler aus dem Armenkasten, von denen sich die Witwe in Tessin ernähren müßte, galten dem dortigen Pastor als schlechte Subsistenz177. Endlich wurde der seit 40 Jahren verwitweten Katharina Köppen in Buchholtz, obwohl sie von der Kirche vier Reichstaler und vom Kirchenacker drei Morgen genoß, waß dann und wann von 169 170 171 172 173 174 175 176 177

Schubert: Lfg. C 1 (Lärz) S. 34. Schubert: Lfg. C 2 S. 171. Schubert: Lfg. D 2 S. 134. Schubert: Lfg. A 1 S. 15f. (Stavenhagen), 4 R. Zuschuß zur Miete. – Lfg. C 2 (Groß-Poserin) S. 206: Almosen. – Lfg. D 3 (Tessin) S. 330: 12 Scheffel Acker, 1 R. aus dem Armenkasten. – Lfg. H 1 (Wittenburg) S. 32: zwei Pfarrwitwen werden aus der Armenkasse unterhalten. Schubert: Lfg. K S. 154, 158. Schubert: Lfg. B 2 S. 112. Schubert: Lfg. F 3 S. 275. Schubert: Lfg. E S. 59f., vgl. ebd. S. 52. Vgl. oben Anm. 167. Schubert: Lfg. D 3 S. 330.

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mitleidigen Hertzen (…) in ansehung ihres hohen Alters und großen Unvermögenß, unter der Hand, (…) verehret (…)178. In Kessin empfing die Witwe mit ihren drei kleinen Kindern von der Kirche fünf Gulden und von den Hebungen des Pastors Johannes Witte 25 Gulden, zusammen 30 Gulden. Indem der Pastor für den Lohn seines Knechtes 60 Gulden und für den Lohn einer Magd 40 Gulden veranschlagte179, errechnete er für seine eigene Familie ein verfügbares Einkommen von jährlich 80 Gulden180. Das entspricht 40 Reichstalern181. Dieses Einkommen bezeichnete er als zu gering und verwahrte sich gegen das offenbar gehegte Vorurteil, er habe eine gute Pfarre182. Im vorliegenden Zusammenhang ist zu bemerken, daß das Jahreseinkommen der Kessiner Pfarrwitwe183 in Höhe von 30 Gulden (= 15 Reichstalern) um zehn Gulden unter dem Lohn der Magd lag, die auf dem Pfarrhof beschäftigt war (40 Gulden = 20 Reichstaler). Jedoch bis auf die über 32 Gulden verfügende Witwe in Lübsee bei Wismar184 unterschritten alle ihre Standesgenossinnen diesen Betrag noch, so daß vermutet werden darf, Pastor Witte habe die Bezüge der Witwe, die auch seine Schwiegermutter war, hoch angesetzt, um dadurch seine eigenen als umso geringer erscheinen zu lassen. Wie erwähnt, hatte die Mehrzahl der Witwen weniger als zwölf Scheffel Acker. Da zwölf Scheffel Acker jährlich sechs Reichstaler wert waren185, haben die meisten Mecklenburger Pastorenwitwen nebst ihren gegebenenfalls vorhandenen Kindern ein Drittel und weniger als ein Drittel des Jahreslohns einer Magd zum Unterhalt gehabt. Damit gehörten sie zur ländlichen Unterschicht, das heißt zu den Armen186. Immerhin durchschnittlich sechs Reichstaler wöchentlich 178 Schubert: Lfg. D 1 S. 112, vgl. S. 109. 179 Daß er darin die nach den Gesindeordnungen zu gewährende Kleidung (etwa zwei Paar Schuhe, zwei Hemden, zwei Leinhosen) eingerechnet hat, vgl. Herrn Adolph Friederichen Renovirte Gesinde-, Tagelöhner-, Baur-, Schäffer-Tax- und Victualordnung. Schwerin 1654, S. 17f., ist wahrscheinlich. 180 Schubert: Lfg. F 1 S. 16. 181 Der Umrechnung zu Grunde gelegt wurden die Angaben über die Pfarreinkünfte in Retschow, Schubert: Lfg. F 1 S. 94–96. Diese Aufstellung rechnete auf einen Reichstaler zwei Gulden beziehungsweise auf einen Reichstaler drei Mark lübisch. Vgl. Michael Kunzel: Der Rechnungsgulden zu 24 Schilling und seine Ausmünzung – ein Beitrag zur mecklenburgischen Münzkunde des 16. Jahrhunderts, in: Numismatische Beiträge [Jg. 14, 1] (1981) (= Arbeitsmaterial für die Fachgruppen Numismatik des Kulturbundes der DDR Heft 26) S. 25–31 (freundlicher Hinweis von Dr. Reiner Cunz, Hannover-Göttingen). 182 Schubert: Lfg. F 1 S. 16: Ich habe alles, was mir wißend, angegeben, und siehet man alhie, daß Keßin in größerm Ruf, als es an sich selbst ist (…). 183 Es handelt sich um die 1704 zweiunddreißigjährige Hedwig Christine Eitzing, Willgeroth: 1 (wie Anm. 128) S. 228, vgl. Schubert: Lgf. F 1 S. 1. 184 S. oben Anm. 162. 185 Vgl. oben bei Anm. 153. 186 Vgl. dazu die Häufigkeit einzelner Aussaatmengen von bäuerlichen Wirtschaften, Rudert: Gutsherrschaft und Agrarstruktur (wie Anm. 151) S. 56f. Abb. 4, 5.

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zahlte im Jahre 1695 einem Bedürftigen die Armenkasse der Stadt Eisenach und im Jahre 1707 knapp sechs Reichstaler187. Die Mecklenburger Pastoren haben die unzureichende Versorgung ihrer Witwen und Waisen also sehr zu Recht beklagt. Zur Ausscheidung von Pfarrwitwengütern ist es in Mecklenburg-Schwerin auch zu Anfang des 18. Jahrhunderts nicht gekommen. Da das Haus nur zeitweise durch eine Witwe genutzt und sonst vermietet wurde, lag es nahe, das zugehörige Land wieder unter den Pflug des Pfarrers oder seines Pächters zu nehmen. Dem trug die Kirchenordnung Rechnung. Die Ausbildung eines zum Witwenhaus gehörenden Sondervermögens forderte sie nicht. Dagegen wollte die von Herzog Anton Ulrich erneuerte Kirchenordnung für das Herzogtum BraunschweigWolfenbüttel vom Jahre 1709 den 10. Teil des Pfarrgutes als Pfarrwitwenland ausgewiesen wissen188. In Rövershagen nordöstlich von Rostock gab es zwar ein neues Witwenhaus, das der 1703 emeritierte Pastor bewohnte; von einem besonderen Witwengut wußte aber der Adjunkt im Jahre 1704 nichts189. Entsprechend der Kirchenordnung war in Kavelstorf wie anderswo der Acker der Witwe vom Pfarrland genommen worden: Die Witwe hieselbst hat von der Pfarr zur Sustentation Acker, und zwar in einem jeden Schlage 6 schfl. Einsaat vollkommen, welche wieder von dem Pfarracker abgehen190. In Belitz und anderswo bestellte der Pastor für die Witwe deren Acker191. In den 21 Pfarreien, in denen den Witwen nichts zugelegt war192, deuteten die Pastoren die Kirchenordnung offenbar dahin, sie wären dazu nicht verpflichtet, weil sie keinen Acker entbehren konnten. Möglicherweise stellten sie sich aber auch unwissend und übersahen diesen Punkt der Kirchenordnung geflissentlich. Der Pastor in Satow kannte sehr wohl das jetzt von einem Bauern bewohnte Satower Witwenhaus; wovon aber die Witwe ihre Subsistans gehabt, davon ist mir nichts bewußt193. Endlich kam es auch vor, daß die Witwe sich mehr an Einkünften nahm, als ihr rechtens zustand: Die Pastorenwitwe in Rethwisch hielt sich auf diese Weise

187 Vgl. Stefan Wolter: »Bedencket das Armuth«. Das Armenwesen der Stadt Eisenach im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert. Almosenkasse, Waisenhaus, Zuchthaus, Göttingen 2003, S. 439. 188 Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit (wie Anm. 19) S. 232. 189 Schubert: Lfg. E S. 145. 190 Schubert: Lfg. B 2 S. 218. Vgl. Schubert: Lfg. B 1 (Kritzkow) S. 61: Und empfänget die Wittwe aus jedem Schlage von des Predigers Acker zu 4 Schfl. Saat Acker, welchen sie vor Geld muß bestellen laßen. 191 Schubert: Lfg. B 2 S. 178: (…) hat die verwitwete Pastorin im jeglichen Schlage 4 gute schf. Saat güstrowsche Maaß und also in allem 1 Drbt. Saat, welchen ich ihr mit meinen Leuten und Vieh begate, und muß sie hievon ihre Subsistenz haben (…). 192 S. Anm. 166. 193 Schubert: Lfg. J (Satow) S. 5.

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Pferde, Rinder, einen Knecht und eine Magd, welches sonsten im gantzen Lande noch keiner Witwen auf der besten Pfarre zugestattet worden194. IV.3.1 Im Jahre 1704 amtierten in Mecklenburg-Schwerin 347 Geistliche195. Davon waren vier unverheiratet196. Von den verbleibenden 343 Pastoren hatten 54 zum Erwerb ihrer ersten Pfarrstelle, bei der es sich in den meisten Fällen um die auch noch im Jahre 1704 innegehabte handelt, die Witwe und 67 eine Tochter ihres Amtsvorgängers geheiratet197. Das sind – ohne Eliminierung jener 24 Pastoren, deren Frauen nicht bekannt sind198 – 15,74 % beziehungsweise 19,53 % der da194 Schubert: Lfg. F 1 S. 30f. Zu dieser Witwe vgl. unten bei Anm. 215–218. 195 Ausgezählt wurde das Werk von Gustav Willgeroth: 1–3 (wie Anm. 128, 123, 103), nebst Ergänzungsbd. Wismar 1937. Dabei wurde berücksichtigt, daß Peter Ecarius 1704 von Groß Laasch nach Muchow wechselte, Willgeroth: 2 S. 942, 947, Julius Ernst Hahn von Grevesmühlen nach St. Georg in Parchim, Willgeroth: 2 S. 976, 3 S. 1196, und Joachim Bohm von Wittenförden auf die zweite Pfarrstelle der Stadtkirche Ribnitz, Willgeroth: 1 S. 183, 2 S. 1086. Mitgezählt wurden die 1704 gestorbenen Georg Lukow in Stuer, Willgeroth: 1 S. 460, und Joachim Buls († 2. August) in Schwinkendorf, Willgeroth: 1 S. 537, an dessen Stelle seine Witwe am 23. Oktober 1704 den geforderten Bericht vervollständigen ließ, Schubert: Lfg. A 1 S. 139–141. Unberücksichtigt blieben der Anfang 1704 abgezogene Lorenz Sommer in Gorschendorf, Willgeroth: 1 S. 554, vgl. Schubert: Lfg. D 2 S. 150, und der im Januar 1704 emeritierte Hermann Müller in Kastorf, Willgeroth: 2 S. 689, vgl. Schubert: Lfg. A 1 S. 53. 196 Johann Heimrad Ringwicht in Biendorf, Willgeroth: 1 S. 39, vgl. Schubert: Lfg. F 2 S. 149. Johann Anton Koch in Recknitz, Willgeroth: 1 S. 400, vgl. Schubert: Lfg. B 1 S. 34. – Jakob Brasch, zweiter Pastor in Teterow, heiratete erst 1705, Willgeroth: 1 S. 481, 486, Stephan Hane in Hohen Demzin erst 1707, ebd. S. 511. 197 Michael Lockelwitz in Satow (1694–1720), bei Willgeroth: 1 S. 133, ohne Ehefrau verzeichnet, war nach Schubert: Lfg. F 1 S. 82, mit Anna Mesters, also einer Tochter des Amtsvorgängers, verheiratet. Ebenso Georg Risch in Barkow (1701–1736), Willgeroth: 1 S. 434, vgl. Schubert: Lfg. J S. 9f. – Von Florentine Thele, der Frau des Adam Joachim Koch in Stavenhagen (1685–1709), wird hier angenommen, daß sie, Tochter von Kochs Vorvorgänger Thele, Witwe von Kochs unmittelbarem Vorgänger Kellermann war; denn Theles Witwe war sowohl von Kellermann als auch von Koch ins Pfarrhaus aufgenommen worden, vgl. Schubert: Lfg. A 1 S. 4, 15f., Willgeroth: 2 S. 701. 198 Es handelt sich um: Leonhard Eitzing in Neubukow, Willgeroth: 1 S. 60. – Johann Friderici in Lambrechtshagen, S. 117. – Joachim Zesch in Heiligenhagen, S. 217. – Daniel Livonius in Badendiek, S. 326. – Daniel Christian Stavenhagen in Groß Upahl, S. 370. – Justus Stolmann in Cammin, S. 376. -Johann Joachim Beselin in Grüssow, S. 406. – Georg Lukow in Stuer, S. 460. – Albert Helmich in Rittermannshagen, S. 533. – Christian Julius Sedorff in Brudersdorf, S. 541. – Magnus Danneel in Groß Vielen, S. 624. – Georg Reuschel in Fahrenholz, ebd. Bd. 2 S. 684. – Franz Wilhelm Franck in Röckwitz, S. 697. – Daniel Statius in Groß Gievitz, S. 716. – Dietrich Schönfeld in Holzendorf, S. 801. – Jeremias Balthasar Gerstenberger in Kladow, S. 806. – Christian Friedrich Schultze in Klinken, S. 808. – Andreas Schwieger in Wessin, S. 819. – Christoph Johann Paschen in Gorlosen, S. 840. – Peter Tebel in Alt Jabel, S. 893. – Jakob Hindenburg in Stralendorf, S. 1022. – Hermann Wolff in Hohenkirchen, Ebd. Bd. 3 S. 1199. – Paschen Ulrich Wassermann in Neukloster, S. 1251. – Joachim

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maligen Pfarrerschaft. Zum Vergleich: In der Diözese Uppsala sind von 1720 bis 1740 mindestens 14,3 % der Pfarrwitwen konserviert worden199. Bei den auf Rügen von 1597 bis 1706 erfolgten 132 Pfarrbesetzungen wurde in 28 Fällen die Witwe und 45mal eine Tochter geheiratet200, das sind 21,21 % beziehungsweise 34,09 %. Demgegenüber sollen in den Patronatspfarreien des Brandenburger Domkapitels nur 5,4 % der Pastoren mit der Witwe des Vorgängers die Ehe geschlossen haben201. Die jüngst verschiedentlich geäußerte Meinung, daß nicht häufig oder nur selten die Pfarrwitwe vom Amtsnachfolger geheiratet wurde202,

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Cothenius in Mecklenburg, S. 1276. – In Ergänzung von Willgeroth lassen sich noch die Frauen folgender Pastoren namhaft machen: Johann Daniel Sukow in Russow (Willgeroth: 1 S. 65) war verheiratet mit einer Adelheid Anna Schultz, Schubert: Lfg. F 2 S. 126. Johann Friedrich Warneke in Bellin (S. 330) mit Catharina Elisabeth Polchow, Schubert: Lfg. B 1 S. 65. Johann Reinke (Reineccius) in Levitzow (S. 491) mit Dorothea Neuser, einer Tochter des Vorvorgängers, Schubert: Lfg. D 2 S. 151. Johann Friedrich Stavenhagen in Laase (Willgeroth: 3 S. 1300) mit Dorothea Possow aus Zahrensdorf, Schubert: Lfg. K S. 118. Zu Michael Lockelwitz in Satow (Willgeroth: 1 S. 133) s. vorige Anm. Ragnar Norrman: Konserverade änkor och kvinnor på undantag. Prästänkornas villkor i Uppsala stift 1720–1920 – från änkehjälp till änkepension (Studia Historico-Ecclesiastica Upsaliensia 36). Uppsala 1993, S. 151f. (freundlicher Hinweis von Bengt Büttner M.A., Göttingen). Woltersdorf (wie Anm. 108) S. 237. So Beate Fröhner: Der evangelische Pfarrstand in der Mark Brandenburg 1540–1600, in: Wichmann-Jahrbuch für Kirchengeschichte im Bistum Berlin 19/20 (1965/66) S. 5–46, darin S. 34f., wo von 90 Pfarrern »im Bezirk des Brandenburger Domkapitels« (?) die Rede ist, von denen 5,4 % die Witwe des Vorgängers geheiratet hätten; danach Rublack: »Der wohlgeplagte Priester« (wie Anm. 118) S. 13 Anm. 36. Basis für Fröhners Angabe ist die Zusammenstellung der Pfarrer von Joh. H. Gebauer: Die evangelischen Pfarrer der dem Patronat des Brandenburger Domkapitels unterstehenden Gemeinden im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 2/3 (1906) S. 30–67, wo jedoch bis ins erste Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts insgesamt 224 Pfarrer auf den 21 Patronatspfarreien genannt werden. Daß Fröhner, wie der Titel ihres Beitrags vermuten läßt, einen Schnitt ums Jahr 1600 gemacht hat, ist anzunehmen. Da Gebauer für keinen der 21 Pfarrer, die 1704 an den Brandenburger Patronatspfarreien amtierten, mitteilen kann, mit wem diese verheiratet waren, läßt sich aus seinem Beitrag keine Vergleichszahl für den Beginn des 18. Jahrhunderts gewinnen. So Borscheid: Geschichte des Alters (wie Anm. 75) S. 73, Rublack: »Der wohlgeplagte Priester« (wie Anm. 118) S. 13 Anm. 36, Johannes Wahl: Pfarrfrauen des 16. und 17. Jahrhunderts zwischen bürgerlicher Ehe und ländlicher Lebenswelt, in: Katharina von Bora, die Lutherin (wie Anm. 12) S. 178–191, darin S. 181 mit Anm. 37: Die Rede von der Konservierung sei eine »traditionelle Forschungsauffassung«. (Offenbar hat nach Auffassung dieses Autors der Historiker ein dem heutigen Geschmack entgegenkommenderes Bild der Verhältnisse zu entwerfen). – Nach Schorn-Schütte: ›Gefährtin‹ und ›Mitregentin‹ (wie Anm. 2) S. 139, sei die Konservierung der Witwe nicht die Regel gewesen. – SchornSchütte: Evangelische Geistlichkeit (wie Anm. 19) S. 86–95, kommt in ihren Ausführungen zur sozialen Rekrutierung der Pfarrfrauen sowie zur Pfarrwitwenversorgung im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel und in der Landgrafschaft Hessen-Kassel (S. 232, 254, 323–328) auf die Konservierung beiläufig einmal zu sprechen, S. 324 Anm. 230: »Diese Zusage (sc. an den Adjunkten, ihm die versehene Pfarrei zu verleihen) war keineswegs stets mit der Pflicht

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ist jedenfalls für Mecklenburg-Schwerin wie auch für die Diözese Uppsala für das frühe 18. Jahrhundert unzutreffend. Nimmt man die Verheiratung mit einer Tochter des Vorgängers hinzu, dann haben etwas über ein Drittel (35,27 %) der im Jahre 1704 in Mecklenburg-Schwerin funktionierenden Pastoren ihr erstes Amt durch Konservierung einer Pastorenwitwe oder Pastorentochter erlangt. In den großen Städten Wismar und Rostock gilt das aber nur für einen einzigen Prediger, und zwar für den von 1703 bis 1725 an St. Nikolai zu Wismar amtierenden Pastor Christian Benjamin Otto, der am 12. Juni 1704 die Ilsabe Margarete, Witwe seines Vorvorgängers (!) Gerdes heiratete; Susanne Margarete Schomerus, die Witwe seines Vorgängers Constantin Fidler, schloß hingegen am 14. Juli 1704 die Ehe mit dem Wismarer Bürgermeister Dr. Gröning203. Für die obigen Berechnungen sind der Fall der Ilsabe Gerdes und gleichgelagerte Heiraten nicht als Konservierung gezählt worden204. Obwohl die Witwenkonservierung der Daseinssicherung und der Altersversorgung diente, wurde im Untersuchungszeitraum von den Pastorenwitwen doch nur selten noch eine dritte Ehe geschlossen. Die Tochter des Pastors Martin Leo in Alt-Bukow, Ilsabe Lukretia Leo, heiratete drei Nachfolger ihres Vaters und überlebte auch den dritten. Als sie 1708 sechsundsiebzigjährig starb, war ein Sohn aus ihrer ersten Ehe Pastor in Alt-Bukow205. Der Sohn hatte sie 1704 nicht im Witwenhaus untergebracht, sondern bei sich aufgenommen206. Andreas Elich in Blankenhagen heiratete 1703 Ilsabe Hinrichs, die Witwe seiner beiden Vorgänger Abraham Capobus und Daniel Heinrich Berndes; 1704 lebten in seinem Pfarrhaus ein sechzehnjähriger Sohn aus Isalbes erster Ehe, fünf Kinder aus ihrer zweiten und ein Kind aus ihrer dritten Ehe. Sie starb 1746207. Jakob Severus in Dassow heiratete 1695 Elisabeth Katharine Tarnow, die Witwe seiner beiden Vorgänger Bacmeister und Lütkemann; sie starb im Jahre 1706208. In Basedow war, wie sich Pastor Christian Alard 1704 ausdrückte, meine hertzgeliebte Frau

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zur Verehelichung mit Tochter oder Witwe des Vorgängers verbunden, wie dies noch immer auch in seriösen Forschungsarbeiten behauptet wird!« Daß und wie viele Adjunkten es seit dem ersten Drittel des 18. Jh. in Braunschweig-Wolfenbüttel gegeben hat, belegt SchornSchütte nicht. Deren Zahl dürfte auch hier klein gewesen sein. Vgl. unten IV.4.1 bei Anm. 246ff. Willgeroth: 3 S. 1380. Ausnahme: Justus Heinrich Linsen in Kuppentin, Willgeroth: 1 S. 442, der 1703 die Tochter des Vorvorgängers Schultze heiratete, nachdem deren Bruder, Linsens Vorgänger Johann Christian Schultze, nach nur einjähriger Amtszeit gestorben war. Willgeroth: 1 S. 43. Schubert: Lfg. F 2 S. 201, liest Ilsabe Dorothea Lanzen. Schubert: Lfg. F 2 S. 214: Hiebey befindet sich ein Witwenhaus, so erbauet von meinem Seel. Vater Adamo Coltzio, da ihme das Holtz von frembden Edelleuten verehret worden. Muß itzo erhalten werden von der Kirchen. Die itzige Witwe ist meine Mutter, die ich bis dato bey mir habe und, negst Gott, die nöthige Pflege verschaffe. Willgeroth: 1 S. 144. Schubert: Lfg. E S. 43. Willgeroth: 3 S. 1215.

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schon 2 mahl eine hochbetrübte Wittwe zu Basedow gewesen209; es handelt sich um Dorothea Mantzel, die 1674 Joachim Heinrich Fabricius († 1684), dann dessen Nachfolger Johann Lorenz Müller (1687–88) und wahrscheinlich 1689 den 1704 amtierenden Pastor geheiratet hatte210. Trotz des bei Alard persönlich anmutenden Tones hat die Konservierung primär zwei Probleme lösen sollen: das der Versorgung der älteren beziehungsweise der verwaisten Generation und das der Stellensuche der jüngeren211. Dabei konnte die ältere durchaus ebenfalls noch verhältnismäßig jung sein: Vier Wochen, nachdem sie nach vierjähriger Ehe ihren Mann verloren hatte, erbat sich am 4. Mai 1733 die dreißigjährige Witwe des Pastors Meyen in Goldberg vom Herzog die Gnade, mit ihren beiden unmündigen Kindern bey der Pfarre conserviert zu werden212. Das Gesuch hatte Erfolg; denn am 2. Februar 1735 wurde sie von Friedrich Christoph Krüger, dem Nachfolger ihres Mannes auf der zweiten Gadebuscher Pfarre, geheiratet. Witwe oder Tochter hatten mit dem Pfarramt durchaus etwas zu bieten, auch wenn ein Bewerber zunächst die Hürden der Präsentation, der Wahl, gegebenenfalls des Examens sowie der Ordination und der Vokation zu nehmen hatte213. Der Kandidat bürdete sich die Versorgung der Witwe auf, indem er diese selber oder eine ihrer Töchter heiratete. Die Pfarre Wanzka im Lande Stargard erschien 1665 darum als besonders attraktiv, weil auf ihr weder Witwe noch Tochter erhalten werden wollten214. Denn Gemeinde oder Patron waren der Sorge um die Witwe ledig, wenn sie oder eine ihrer Töchter vom neuen Pastor geehelicht wurde. Daß andererseits für den ein Amt suchenden Theologen die Witwe oder Tochter auf einer vakanten Pfarrstelle auch ein Angebot darstellte, zeigt der Fall der Katharina Dorothea Fellbaum, Pfarrfrau in Spornitz. Als ihr Mann, Pastor

209 Schubert: Lfg. A 1 S. 155. 210 Willgeroth: 1 S. 503. 1704 bemerkt Alard, daß er im fünzehnten Jahr im Amt sei, Schubert: a. a. O. 211 Vgl. Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit (wie Anm. 19) S. 325. 212 LHA Schwerin, Acta ecclesiasticarum et scolarium specialia Band 1. Sign. 3010 Vol. III. (Bittschreiben der Margarete Elisabeth Meyen geb. Stegemann an ein Hoffräulein) (freundlicher Hinweis von Dr. med. Hanna Würth, Hannover). – Willgeroth: 1 S. 304, 308. – Der Patronat lag seit 1649 in der Hand der Fürsten, Willgeroth: 1 S. 302. 213 Revidirte Kirchenordnung (wie Anm. 54) fol. 124r–130v. Nach Schmaltz, Kirchengeschichte Mecklenburgs 3 (wie Anm. 122) S. 223, sollen die meisten Pfarren des Herzogtums Wahlpfarreien gewesen sein, d. h. die Gemeinde besaß das Recht, aus zwei oder drei ihr vorgestellten Kandidaten den ihr genehmen zu wählen. – Zu den bei Examen und Berufung anfallenden Kosten s. die autobiographischen Bemerkungen des Pastors Otto Friedrich Plagemann in Spornitz (1732–1782), Willgeroth: 2 S. 960f. 214 Georg Krüger: Die Pastoren im Lande Stargard seit der Reformation, in: JahrbücherVMecklGA 69 (1904) S. 1–270, darin S. 212.

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Christoph Voigt, am 21. April 1699 gestorben war215, (…) haben – so eine Eintragung des Pastors Andersen im Kirchenbuch von Satow – Ihro Herzogl. Durchlaucht Friedrich Wilhelm der Witwe die Gnade erzeiget, ihr die Pfarre zu Redewisch gnädigst zu schenken. Also ist die Witwe nach Redewisch gekommen und hat einen Kandidaten verschafft Namens Matth(ias) Witling, der die Vokation erhalten und selbige geheiratet216. Da der Herzog Patron beider Kirchen war, konnte in der geschilderten Weise verfahren werden. Die Witwe war im Jahre 1699 35 Jahre alt und brachte dem damals achtundzwanzigjährigen Kandidaten einen dreizehnjährigen Sohn und eine siebenjährige Tochter mit in die Ehe217. Die Rethwischer Pastorenwitwe, Marie Elisabeth Otto geb. Mansholt, hatte dagegen das Pfarrhaus zu räumen und bezog mit ihren drei Kindern ein der Rethwischer Pfarre gehörendes Haus, um das zwischen ihr und dem neuen Pastorenehepaar bald gestritten werden sollte218. Geheiratet wurde am Tage der Introduktion des neuen Pastors219, aber auch bereits vor der Einführung220 oder wenige Tage danach221, sofern die Geschlossenen Zeiten nicht dagegen standen222. Wahrscheinlich wollten sich die Hinter215 Willgeroth: 2 S. 959. 216 Willgeroth: 1 S. 125. Vgl. ebd. S. 133 zu Pastor Walter Hans Heinrich Andersen (1750– 1795) in Satow (Doberan). 217 Vgl. Schubert: Lfg. F 1 S. 28. 218 Schubert: Lfg. F 1 S. 30f. 219 Der schon genannte Andreas Elich am 22. April 1703, Willgeroth: 1 S. 144f. – Urban Oesler in Serrahn 1702 August 6, Willgeroth: 1 S. 365. – Joachim Heinrich Katenbeck in Möllenbeck, 1684 (ohne Tag), Willgeroth: 2 S. 940. – Vgl. auch den späteren Otto Friedrich Plagemann in Spornitz, 1732 Juni 22, Willgeroth: 2 S. 960f. 220 Paul Rath in Thürkow, Heirat 1697 Juli 11, eingeführt Juli 18, Willgeroth: 1 S. 489. – Jakob Erdmann Kronicke in Hohen Mistorf, Heirat 1682 Februar 25, Pastor 1682 Dezember 12, Willgeroth: 1 S. 577f. – Johannes Buchholz in Varchentin, Heirat 1678 März 11, Pastor 1678 Mai 16, Willgeroth: 2 S. 705. – Joachim Homuth in Brenz, Heirat 1676 Juni 20, eingeführt 1676 Juli 9, Willgeroth: 2 S. 924. 221 Christian Haupt in Tessin, eingeführt 1688 Juni 24, Heirat Juli 10, Willgeroth: 1 S. 170. – Joachim Rossow in Kirch-Kogel, eingeführt 1672 Juni 16, Heirat Juli 17, Willgeroth: 1 S. 309f. – Andreas Petri in Mestlin, eingeführt 1688 August 24, Heirat September 4, Willgeroth: 1 S. 316. – Johann Adam Hartmann in Malchow, eingeführt 1698 November 13, Heirat November 28, Willgeroth: 1 S. 415. – Joachim Carl Wachenhusen in Kladrum, eingeführt 1696 Juli 5, Heirat Juli 6, Willgeroth: 2 S. 878. 222 Die Revidirte Kirchenordnung (wie Anm. 54) f. 256r, untersagte Heiraten an Sonn- und Festtagen, in der Zeit von Invocavit bis Ostern, den Tagen vom Zweiten Advent bis Weihnachten und in der Weihnachts-, Oster- und Pfingstwoche. Zu den tempora clausa des katholischen Kirchenrechts s. Freisen, Geschichte des kanonischen Eherechts (wie Anm. 1) S. 643–646. Die Vorschrift der Kirchenordnung wurde offensichtlich befolgt von Nikolaus Bims in Warnemünde, eingeführt 1671 März 4, Heirat Mai 10, Willgeroth: 1 S. 140, von Christian Joachim Behm in Kieve, eingeführt 1701 März 13, Heirat 1701 April 27, Willgeroth: 2 S. 649, von Christoph Grundt in Thulendorf, eingeführt 1702 Dezember 3, Heirat 1703 Januar 17, Willgeroth: 1 S. 165, von Joachim Alers in Wattmannshagen, eingeführt 1670 Dezember 11, Heirat 1671 Januar 17, Willgeroth: 1 S. 497.

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bliebenen durch die schnellstmögliche Heirat vor uneingelösten Eheversprechen schützen. Wenn ein Kandidat schon anderweitig verlobt war, stand es um die Möglichkeit einer Konservierung nicht gut. So vermochte sich Katharina Hahn, Witwe des Friedrich Greving in Kastorf, im Jahre 1666 nicht durch eine abermalige Heirat auf der Pfarre zu erhalten, da der zum Nachfolger berufene Magister Hermann Müller bereits eine Braut hatte223. Es gab aber auch Bewerber, die sich der Konservierung zumindest anfänglich widersetzten. Von der Vokation bis zur Introduktion des Joachim Mantzel in Groß Pankow verging eineinviertel Jahr, weil er sich zunächst sträubte, die Tochter des Vorvorgängers Scherer zur Frau zu nehmen; an deren Verheiratung dürfte nicht nur diese, sondern auch deren Mutter interessiert gewesen sein, die – in zweiter Ehe mit Mantzels 1709 gestorbenem Vorgänger Agricola verheiratet gewesen – sonst möglicherweise vor dem Nichts gestanden hätte224. Über Töchterkonservierungen im Interesse von verwitweten Müttern wird gleich noch zu handeln sein. Die Wiederbesetzung der Pfarre Lambrechtshagen verzögerte sich im Jahre 1722 nach dem Tod des Pastors Johann Friderici, »weil die Gemeinde auf Konservierung einer der beiden Töchter Fridericis bestand, von denen die ältere 39 Jahr alt und nicht bei Verstand, die jüngere Witwe eines dänischen Soldaten war. Alle Kandidaten weigerten sich; schließlich fand sich zu der Aelteren (!)« im Jahre 1724 Johann Friedrich Tolle225; die Frau wurde an Tolles Seite dann 63 Jahre alt226. Georg von Lengerken im ratzeburgischen Herrnburg hatte 1696 wenigstens die Wahl, ob er die Witwe oder die Tochter seines Vorgängers Münter heiraten wollte; er zog die Witwe vor, »weil die in der Wirtschaft größere Erfahrung habe«, und bekam mit ihr drei Söhne und vier Töchter227. Der Umstand, daß ein Pastor bereits eine Frau hatte, konnte einer Berufung durchaus im Wege stehen. Die Gemeinde Kirchdorf auf Poel lehnte 1709 den ihr vom Patron präsentierten Pastor Höfisch aus Hornstorf ab, da dieser verheiratet sei. Weil offensichtlich auf die Konservierung der einzigen Tochter des verstorbenen Pastors Cassius bedacht, erhielt die Gemeinde daraufhin den achtundsechzigjährigen Johann Mühler, bis dahin Feldprediger in einem Wismarer Regiment. Diesem wurde aber auferlegt, sich einen Adjunkten zu nehmen und alle Einkünfte mit ihm zu teilen. Der Adjunkt Holweck wurde am 17. März 1709 introduziert und heiratete am 5. November 1710 die Cassius-Tochter Sophie Elisabeth. Johann Mühler, nach dem Adjunkten erst am 21. Mai 1709 eingeführt, 223 224 225 226 227

Willgeroth: 2 S. 689. Willgeroth: 2 S. 972. Willgeroth: 1 S. 117f. Willgeroth: 1 S. 140. Georg Krüger: Die Pastoren im Fürstentum Ratzeburg seit der Reformation. Schönberg 1899, S. 39.

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hat aber alsbald ungeziemende Conversation mit einer Frauen daselbst, so ihren Ehemann hatte, leider gesuchet, wurde daher vor das schwedische Konsistorium in Wismar zitiert, entzog sich aber durch Flucht, sodaß der junge Pastor die Pfarre allein behalten228. Die bislang ältesten Fälle von Konservierungen im Herzogtum sind vor 1574 und im Jahre 1574 aus Kröpelin (südwestlich Doberan), einer Pfarre unter landesherrlichem Patronat, bekannt229. Die Konservierung galt um 1700 in Mecklenburg als nicht anstößig, zumal die Kirchenordnung von 1602 sie als Möglichkeit der Versorgung gelten ließ. Vorbehaltlich näherer Untersuchungen, die freilich die erst seit dem 17. Jahrhundert dichtere Überlieferung zur Herkunft der Pfarrfrauen in Rechnung zu stellen hätten230, häuften sich die Konservierungen vor allem vom ersten Viertel des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts231. Als Johann Tarnow, zweiter Pastor in Grevesmühlen, 1698 im Alter von 48 Jahren starb, setzten sich der Santower Amthauptmann sowie Bürgermeister und Rat von Grevesmühlen beim Landesherrn als Patron für die Konservierung der Tochter ein, die nunmehr mutter- und vaterlos sei; Tarnows Nachfolger Pistorius erklärte sich bereit, an den Toten Barmherzigkeit zu erweisen, und heiratete die Vollwaise232. Vollwaise war auch Anna Emerentia Nann in Lübow, deren Eltern 1693 gestorben waren; 1694 mit dem Nachfolger ihres Vaters verheiratet, bekam sie im Alter von noch nicht 17 Jahren 1695 ihr erstes Kind233.

IV.3.2 Daß die Konservierung von Töchtern zugleich den Unterhalt von deren verwitweten Müttern sichern sollte, läßt sich verschiedentlich erschließen. Die Pfarrerstochter Dorothea Salome Müller wurde am 14. November 1676 im Schweriner Dom als Fünfzehnjährige mit Pastor Paschasius Simonis getraut. Ihr Stiefvater, Pastor Friedrich Kruse in Pampow, war am 16. März 1676 gestorben234. Da ihre Mutter als Vierundvierzigjährige für eine Heirat offenbar nicht mehr in Betracht kam – sie starb sechzigjährig im Jahre 1692 –, dürfte diese statt ihrer eigenen 228 Willgeroth: 3 S. 1338f. Zu Johann Christian Höfisch s. ebd. S. 1240. 229 Willgeroth: 1 S. 113 (freundlicher Hinweis von Jan Leipold, Göttingen). 230 Zum Beispiel sind auch die Frauen des weitaus überwiegenden Teils der bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts amtierenden Pfarrer Althessens nicht bekannt, vgl. Oskar Hütteroth: Die althessischen Pfarrer der Reformationszeit Teil 1–3 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 22). 2. Aufl. Marburg u. Kassel 1966. 231 So zumindest nach den Fallzahlen einer Göttinger Hauptseminararbeit von Jan Leipold, Göttingen. 232 Willgeroth: 3 S. 1191, 1196. 233 Willgeroth: 3 S. 1242f. 234 Willgeroth: 2 S. 1045.

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Konservierung diejenige ihrer jungen Tochter betrieben haben. Pampow besaß kein Witwenhaus235, so daß die Witwe bei Tochter und Schwiegersohn im Pfarrhaus gelebt haben dürfte. Ebenfalls vierundvierzigjährig wurde 1676 in Elmenhorst Christine Polemann geb. Zachow Witwe; konserviert wurde ihre Tochter Katharina Dorothea. Diese und deren Mann, der Pastor Hartwig Gerstenkorn, brachten die Mutter, wie erwähnt, im Backhaus des Pfarrhofes unter. Darin lebte sie noch 1705, und zwar seit 28 Jahren, wie Gerstenkorn damals berichtete236. Wie wenig komfortabel Witwenhäuser sein konnten, ist schon angedeutet worden237. Als Andreas Lakemann im Alter von 34 Jahren 1696 die achtzehnjährige Pastorentochter Ilsabe Auguste Liskow heiratete, war seine Schwiegermutter, die Witwe Katharina geb. Gärtner, 52 Jahre alt. Sie lebte 1704 bei ihren Kindern offenbar im Pfarrhaus238. Das tat auch die Witwe des 1688 gestorbenen Pastors Pömeler in Lübsee (bei Güstrow); sein Nachfolger und Schwiegersohn Nikolaus Richter bemerkte 1704: selbe (sc. die Witwe) hat Pastor aus dringender Not bey ihm behalten müssen, weiln nicht mal ein Häußchen, darinnen eine Wittwe des verstorbenen Pastoris sich aufhalten kan, vorhanden sei; auch habe sie keinerlei Einkommen239; der Pastor Richter war, als er mutmaßlich 1689 die Tochter Ilse Pömeler heiratete, 26 Jahre alt, seine Ehefrau Ilse 28 Jahre. Seit der Übernahme der Pfarrstelle im Jahre 1690 – für wenige Monate zunächst als Adjunkt, da der bald gestorbene siebenundsechzigjährige Schwiegervater an Altersschwäche litt240 – nahm auch Pastor Johann Georg Polchow in Beidendorf seine Schwiegermutter in seinen Haushalt auf; seine Frau Sophia Krüger war im Jahre der Eheschließung 27 Jahre alt und jüngste Tochter ihrer damals 51 Jahre alten Mutter Anna Elisabeth Krüger geb. Voigt241. Noch zu Lebzeiten von deren Mann war eine vier Jahre ältere Tochter – Anna Margareta Krüger (geb. 1661) – 1684 die zweite Frau des Pastors Jakob Polchow in Bössow geworden242. Dieser hatte aus seiner ersten Ehe den eben erwähnten Johann Georg Polchow zum Sohn. Seit dessen Eheschließung mit der jüngeren Schwester 235 Schubert: Lfg. K S. 58. 236 Willgeroth: 3 S. 1218, mit der Angabe, daß Christine Zachow 1707 mit 65 Jahren gestorben sei. Das Beichtkinderverzeichnis, Schubert: Lfg. G 2 S. 196, bezeichnet sie aber am 13. Januar 1705 als Zweiundsiebzigjährige. Zum Quartier der Witwe ebd. S. 207. Vgl. oben bei Anm. 140. 237 S. oben bei Anm. 144, 145. 238 Willgeroth: 1 S. 68. Schubert: Lfg. F 2 S. 153, 164. 239 Schubert: Lfg. B 2 S. 147. Willgeroth: 1 S. 363. 240 In seinem Bericht führt Johann Georg Polchow die bisherigen evangelischen Prediger an und bemerkt über sich und seinen Schwiegervater: Johannes Georgius Polchovius, vocatus et adjunctus antecessori senio confecto et imbecilli anno 1690 d. 12 Decembris, Schubert: Lfg. G 1 (Beidendorf) S. 69. Schwiegervater war Albert Krüger. 241 Ebd. Lfg. G 1 (Beidendorf) S. 68, 70. Willgeroth: 3 S. 1266. 242 Willgeroth: 3 S. 1174.

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Sophia Krüger im Jahre 1691 hatten Sohn und Vater Polchow ein- und dieselbe Schwiegermutter; der Sohn hatte die jüngere Schwester seiner Stiefmutter geheiratet. Eine konservierte Tochter konnte neben der Mutter auch jüngere Geschwister mit ins Haus bringen. Das dürfte viel öfter der Fall gewesen sein, als die Überlieferung zu erkennen gibt. Auf dem Pfarrhof in Gresse bot Pastor Daniel Peter Krüger 1704 der damals sechzehnjährigen Schwester seiner Frau Rebekka Katharina Völckel ein Dach über dem Kopf; die vom Pastor verzeichnete neunundfünfzigjährige Mutter dürfte seine Schwiegermutter gewesen sein243. Es geschah aber auch, daß, während die Tochter konserviert wurde, die Mutter sich anderweitig verheiratete: Johann Heinrich Sparmann in Buchholtz nahm 1695 Elisabeth Glüer, die zweiundzwanzigjährige Tochter seines Vorgängers, zur Frau; deren vierzigjährige Stiefmutter Ilsabe Iven ging eine zweite Ehe ein mit Pastor Johannes Mantzel in Neukalen244; im Buchholtzer Witwenhaus lebte 1704 seit bald 40 Jahren die 72-jährige Katharina Köppen, Witwe von Sparmanns Vorvorvorgänger Matthias Behne († 1669)245.

IV.4.1 Das Problem des dienstunfähigen Pfarrers ist oben bereits im allgemeinen angesprochen worden. In Mecklenburg-Schwerin sind um 1700 verschiedentlich Pastoren bezeugt, die sich alters- oder krankheitshalber zur Ruhe gesetzt haben oder für das hohe Alter vorsorgten. Das war nur möglich, indem sie sich als Emeritierte Adjunkten nahmen. Idealerweise war dieser Adjunkt ein eigener Sohn; der würde zumindest für eine gewisse Zeit zur Not auch ohne Frau auskommen können. Die zweitbeste Lösung war die Verheiratung einer Tochter mit einem Adjunkten. Auch dadurch blieb die Pfarrei in der Familie und die Ernährung des Emeriten und seiner Frau gesichert. Ein dritter Weg war die Annahme eines Substituten, der, ohne eine Tochter zu heiraten, dem Emeritus eine Pension zu zahlen hatte. Der Pastor, der emeritiert zu werden wünschte, war bei der Annahme eines Adjunkten nicht frei. Auch der Adjunkt mußte vom Patron präsentiert oder von diesem bestätigt und von der Gemeinde gewählt werden, sofern diese ein 243 Schubert: Lfg. H 2 S. 138: Anna Margret, 59, Mutter. Regina Volcklin, 16, Frauenschwester. Willgeroth: 2 S. 770, nennt als Ehefrau des Gottfried Völckel († 1695) Hedwig Rebekka Strack. Es dürfte sich um dieselbe Person handeln, da Tauf- und Rufnamen divergieren konnten, vgl. Willgeroth: 1 S. 235f. Anm. 72. 244 Willgeroth: 1 S. 209, 582. Vgl. Schubert: Lfg. D 1 (Buchholtz) S. 108, Lfg. D 2 (Neukalen) S. 117. 245 Schubert: Lfg. D 1 S. 109, 112. Vgl. Willgeroth: 1 S. 209.

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Wahlrecht besaß246. Auch er hatte sich examinieren, ordinieren und introduzieren zu lassen247. Von dem lebenslustigen achtundsechzigjährigen Pastor Johann Mühler auf Poel und seinem Adjunkten sowie von dem altersschwachen siebenundsechzigjährigen Pastor Krüger in Beidendorf und seinem Adjunkten und Schwiegersohn Johann Georg Polchow war schon die Rede248. Krüger starb elf Monate nach der Berufung Polchows zum Substituten. In Alt Gaarz erhielt Johann Schütze am 2. August 1681 die Vokation. Sein Schwiegervater, der Pastor Christian Liskow in Alt Gaarz, starb ein Jahr später im 68. Lebensjahr, während die Schwiegermutter noch bis 1692 lebte; sie starb siebenundsiebzigjährig249. In Boitin amtierte seit dem 17. Januar 1700 Johann Simonis als Substitut. Sein Schwiegervater Joachim Klevenow starb achtzigjährig am 7. Dezember 1706. In seinen letzten Jahren war ihm von einer alten Frau, der 1704 69 Jahre zählenden Katrin Schmid, aufgewartet worden. Das Beichtkinderverzeichnis vom Jahre 1704 legte nicht der Pastor, sondern sein Schwiegersohn an, der sich darin als adjungierter Pastor substitutus bezeichnete250. Nach Marlow war Hermann Pfingsten am 20. Januar 1701 berufen und dort am 6. März 1701 eingeführt worden. Anderthalb Jahre später, am 3. November 1702, heiratete er Katharina Elisabeth Sibeth, eine neunzehnjährige Tochter des Emeriten aus zweiter Ehe251. Ein eigenes Einkommen bezog er seinen Angaben zufolge überhaupt erst seit seiner Hochzeit; denn 1704 klagte er gegenüber dem Herzog: Die Intraden oder Einkünfte meiner Pfarre betreffend, so habe in den ersten beyden Jahren meines Amptes dieselbe nicht genoßen, sondern ümb Liebe und Friedens willen alle Einkünfte meinem alten 78jährige H. Schwiegervatter zufließen laßen, ob er gleich längst emeritus und nicht die geringste Arbeit mehr verrichten können. Das dritte Jahr bin ich mit der Helfte der Intraden zufrieden gewesen, nun, in diesem 4ten Jahr, da sich meine Haushaltung vermehret, gebe ich und muß inskünftig geben, den dritten Theil aller und jeder Intraden, so wol der accidentien, wie stehenden Geldes samt der Helfte meines Mißkorns, da es gerechter vor Gott und dem ganzen Lande weit gesegneter wäre, daß junge Prediger, die ihr Ampt ebenso treulich und 246 Vgl. Willgeroth: 1 S. 434 (unter Georg Risch), 2 S. 1033 (unter Christian Alberti). – Lisch: Geschichte der Stadt Plau (wie Anm. 107) S. 161f. 247 Willgeroth: 3 S. 1303, über Johann Friedrich Rehe in Gägelow, der im Einverständnis der Gemeinde 1685 zum Substituten seines Vaters bestellt worden war, dessen Examinierung jedoch vom Superintendenten zunächst offenbar vergessen wurde. 248 S. oben bei Anm. 240f. 249 Willgeroth: 1 S. 48. 250 Willgeroth: 1 S. 73. Schubert: Lfg. F 3 S. 252, 255: Die Pastores dieses Orths sind H. Joachimus Klevenow, 77 Jahre alt und 45 Jahre alhier in officio gewesen, deme ich als Pastor substitutus adjungiret, 39 Jahre alt und ins 5. Jahr im officio alhier, meine Frau heißt Ilsch Margaretha Klevenowen, 29 Jahre alt. 251 Willgeroth: 1 S. 156.

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völlig verrichten als andere, von solcher schweren Last und kümmerlichen Nahrung befreyet wären, und redliche emeriti mit Frau und Kindern theils von der Kirchen, theils von der Gemeine oder, wenn diese so arm, aus einer Gemeinen Cassa versorget würden …252. Sub spe succedendi hat sich Pfingsten offensichtlich auf alles eingelassen: auf zunächst unbezahlten Dienst, vermutlich auch auf die Heirat und auf ein Aushandeln eigener Bezüge anscheinend erst nach der Begründung eines eigenen Hausstandes. Der hartleibige Schwiegervater starb im Alter von 81 Jahren am 26. Dezember 1707, die Schwiegermutter 1714 im Alter von 54 Jahren. Sie dürfte im Marlower Witwenhaus gelebt haben, hatte aber kein eigenes Einkommen und war daher durch ihren Schwiegersohn zu versorgen253. Wahrscheinlich in einer besseren Position dürfte sich Johann Schmiedekampf in Polchow befunden haben, weil sich sein Vorgänger und Schwiegervater, Pastor Heinrich Rullmann, 1693 krankheitshalber emeritieren lassen mußte254. Die Schwiegermutter Barbara Rullmann geb. Duncker lebte 1704 im Polchower Pfarrwitwenhaus255. In dem im Jahre 1704 in Rövershagen neu errichteten Pfarrwitwenhaus hatte hingegen der verwitwete Emeritus Johannes Harder Wohnung genommen; er hatte am 14. Oktober 1703 Alexander Scherping als Substituten bekommen, der am selben Tage eine Tochter des Johannes Rullmann, Pastors in Sanitz, heiratete. Von den 1704 funktionierenden Pastoren war Scherping einer von zwei Adjunkten, die in diese Stellung eintraten, ohne Sohn oder Schwiegersohn des Emeritus zu sein. Er teilte sich mit dem Emeritus den Pfarracker und das Meßkorn. Da der Emeritus sein Gehalt von 50 Reichstalern jährlich weiterbeziehen sollte, hatte die Gemeinde versprochen, dem Adjunkten denselben Betrag zu zahlen256. Was die Verteilung der Pastorenbezüge auf Emeritus und Adjunkt anbelangt, so läßt sich aus den angeführten Belegen erschließen, daß sie sich darüber zu einigen hatten, und sei es durch einen förmlichen Vertrag. In Jördensdorf hatte sich der Emeritus in eigenem contract mit seinem substituto – seinem Schwiegersohn – wegen Ackers und dergleichen verglichen257. Johann Christian Ratke in Neuburg, der andere der beiden Adjunkten, die nicht Sohn oder Schwiegersohn des Emeriten waren258, klagte 1704: Eine Witwe ist hie nicht, sondern der Pastor emeritus Hofer lebet in Lübeck, ist mir zu meinem höchsten Ruin gar zu kostbar zu unterhalten, da ihme jährlich 110 Rthl. geben muß259. Da sich die Einnahmen der 252 253 254 255 256 257 258 259

Schubert: Lfg. E S. 62. Vgl. Schubert: Lfg. E S. 63. Willgeroth: 1 S. 277. Schubert: Lfg. D 2 S. 184. Schubert: Lfg. E S. 145f. Willgeroth: 1 S. 189. Willgeroth: 1 S. 559f. Vgl. Schubert: Lfg. D 2 S. 176. Vgl. Willgeroth: 3 S. 1246. Schubert: Lfg. G 1 S. 33.

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Neuburger Pfarrei auf jährlich 880 Mark lübisch (= 293 Reichstaler und eine Mark260) beliefen, war von ihnen mehr als ein Drittel an den Emeritus abzuführen. Die Einkünfte der Adjunkten konnten also genauso reduziert sein wie die mit Pensionen belasteten Benefizien des Spätmittelalters261. Doch dürften sie immer noch höher gewesen sein als die der seit dem 12. Jahrhundert bezeugten Gesellpriester; diese Kooperatoren waren vom Pfarrer eingestellte Hilfspriester gewesen, die ihn bei der Verwaltung der Sakramente unterstützten262. Nicht immer ging der Plan auf, durch Anstellung eines Adjunkten und dessen Verheiratung mit einer Tochter das Alter zu sichern. Marie Dorothea Rosenow, Tochter von Pastor Andreas Rosenow in Jördensdorf, wurde am 4. Dezember 1695 dem zum Adjunkten ihres Vaters bestellten Joachim Wilken angetraut. Wilken starb jedoch bereits am 29. Mai 1697 und Pastor Rosenow, der das Pfarrhaus für den Substituten geräumt und ein auf eigene Kosten erbautes Haus bezogen hatte, ein Jahr später infolge eines Unfalls. Jetzt, am 9. November 1698, wurde Marie Dorothea die Frau von Rosenows Nachfolger Caspar Mantzel263. In Kiewe gedachte Pastor Joachim Grantzow 1698 im Alter von 64 Jahren für sein Alter vorzusorgen, indem er am 30. Juni seine zweiundzwanzigjährige Tochter Anna Marie an den am 30. März berufenen Adjunkten Friedrich Klähn aus Lübeck verheiratete. Klähn starb jedoch nach nur einjähriger Amtsführung am 10. April 1699. Als neuer Adjunkt trat Christian Joachim Behm an; am 13. März 1701 in Kiewe eingeführt, nahm er am 27. April die Witwe des Friedrich Klähn zur Frau. Herr der Pfarrei war aber weiterhin der Pastor Grantzow. Er war es, der im Oktober 1704 das Kiewer Beichtkinderverzeichnis als Dreiundsiebzigjähriger unterzeichnete, und im Pfarrhaus wohnten er und seine Frau und nicht etwa Tochter und Adjunkt. Diese waren vielmehr im Witwenhaus untergebracht!264 Grantzow starb im Jahre 1707, seine Frau im Alter von 83 Jahren im Jahre 1726265. Von den 347 mecklenburg-schwerinschen Pfarrern, die im Jahre 1704 amtierten, hatten 17 (4,89 %) als mit einer Tochter des Pastors verheiratete Ad-

260 Zur Umrechnung s. oben Anm. 181. 261 Vgl. oben bei Anm. 83f. 262 Vgl. Hinschius: System des katholischen Kirchenrechts Bd. 2 (wie Anm. 31) S. 318–325. – Dominikus Lindner: Die Anstellung der Hilfspriester. Eine kirchenrechtsgeschichtliche Untersuchung (Münchener Studien zur Historischen Theologie 3). Kempten 1924, S. 36–59. – Die Finanzen eines spätmittelalterlichen Stadtpfarrers. Das Rechnungsbuch des Johann Hovet, Pfarrer von St. Johannis in Göttingen für das Jahr 1510/11, hrsg. v. Malte Prietzel (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes Südniedersachsen 4). Hannover 1994, S. 18. – Sabine Graf: Das Niederkirchenwesen der Reichsstadt Goslar im Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Bistums Hildesheim 5). Hannover 1998, S. 207f. 263 Willgeroth: 1 S. 559f. Vgl. Schubert: Lfg. D 2 S. 176. 264 Willgeroth: 2 S. 648f. Schubert: Lfg. C 1 S. 42, 47. Das S. 47 mit 43 angegebene Alter des Pastors Grantzow muß aus 73 verlesen oder verschrieben sein. 265 Willgeroth: 2 S. 648.

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junkten ihre geistliche Laufbahn begonnen266 und damit zunächst einmal der Versorgung ihrer Schwiegereltern gedient. Ihre Zahl ist wahrscheinlich deshalb so klein, weil überhaupt nur wenige Pastoren sich eine Emeritierung leisten konnten. Die Stellen waren für ihre Ernährung und die eines Adjunkten zu gering dotiert.

IV.4.2. Von den 1704 amtierenden Pastoren sind 17 ihren Vätern auf deren Pfarrstellen unmittelbar gefolgt. Familienpfarren bestanden zum Beispiel in Benthen, in Leussow und in Alt-Karin. Die Pfarrei Benthen wurde von 1672 bis 1701 von Johannes Lantze versehen; er starb sechsundfünfzigjährig. Ihm folgten von 1702 bis 1741 sein gleichnamiger Sohn und von 1741 bis 1756 sein Enkel Adam Henning Lantze267. In Leussow amtierten die Hoyer: Von 1636 bis 1671 Barthold Hoyer, von 1671 bis 1706 Georg Hoyer und von 1706 bis 1724 Barthold Georg Hoyer268. In Alt-Karin folgten von 1626 bis 1719 dem Vater der Sohn und der Großsohn aus der Familie Schütze aufeinander269. Die Pfarre Brütz blieb durch drei Töchter-Konservierungen und eine Vater-Sohn-Folge – nach Enoch Zander d.Ä. besaß seit 1703 als Adjunkt Enoch Zander d.J. die Pfarre – sogar fünf Ge266 Johann Schütze (1681, 1682–1704) in Alt Gaarz, Vorgänger Liskow zur Zeit der Emeritierung 67 Jahre alt, Willgeroth: 1 S. 48. – Johann Simonis (1700, 1706–1730) in Boitin, Vorgänger Klevenow 74 Jahre, S. 73. – Hermann Pfingsten (1701, 1707–1729) in Marlow, Vorgänger Sibeth 75 Jahre, S. 156. – Peter Völker (1691–1714) in Parkentin, S. 238f.; das Beichtkinderverzeichnis nennt nur die Witwe des Vorgängers (Schubert: Lfg. F 1 S. 59), so daß der Vorgänger gegen Willgeroth: 1 S. 238, doch wohl vor 1704 gestorben ist. – Johann Schmiedekampf (1693–1723) in Polchow, Vorgänger Rullmann im 79. Jahre wegen Krankheit emeritiert, S. 277. – Andreas Petri (1688, 1696–1705) in Mestlin, Vorgänger Simonis 67 Jahre, S. 316. – Johann Scheiner (1695, vor 1698–1739) in Lüdershagen, Vorgänger Curthum 69 Jahre, S. 361. – Joachim Christoph Burgward (1703, 1707–1714) in Vietlübbe, Vorgänger Giese 69 Jahre, S. 464. – Joachim Alers in Wattmannshagen (1688, 1670–1708), Vorgänger Hartwich 58 Jahre, S. 496f. – Christian Plagemann (1681, 1684–1717) in Alt-Kalen, Alter des Vorgängers Weinholz unbekannt, S. 564. – Christian Joachim Behm (1701, 1707– 1732) in Kiewe, Vorgänger Grantzow 1698 bei Annahme des ersten Substituten Klähn 64 Jahre, Willgeroth: 2 S. 648f. – Johann Friedrich von Hartmann (1697, 1705–1734) in Kattendorf, Vorgänger Poland 80 Jahre, S. 693. – Paul Agricola (1688–1712) in Frauenmark, Alter des Vorgängers Holst unbekannt, S. 793. – Hermann Caspar Nann (1701, 1704–1748) in Groß Laasch, der um 1641 geborene Vorgänger Ecarius, der noch nach Muchow und Neese wechselte, etwa 60 Jahre, S. 853, 942. – Johann Peter Konow (1695, 1706–1719) in Zarrentin, Vorgänger Andreä 61 Jahre, S. 1119f. – Nikolaus Schütze (1680, 1687–1708) in Roggenstorf, Vorgänger Kupferschmidt 78 Jahre, Willgeroth: 3 S. 1228. – Johann Georg Polchow (1691– 1727) in Beidendorf, Vorgänger Krüger 67 Jahre, S. 1265f. 267 Willgeroth: 2 S. 856. 268 Willgeroth: 2 S. 896. 269 Willgeroth: 1 S. 52f.

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nerationen lang von um 1600 bis 1749 im Besitz einer Familie270. Sowohl Johannes Lantze II. († 1752) als auch Georg Hoyer († 1719) ließen sich emeritieren und verstanden es offenbar, ihre Patrone zur Präsentation ihrer Söhne zu bestimmen. Das mochte nicht immer einfach sein, wenn, wie in Benthen, drei Patrone gewonnen werden mußten: die von Bülow, die von Restorf und die von Welzin271. – Ob und wielange diese Söhne ihren Vätern zunächst als Adjunkten zur Seite standen, ist in ihren Fällen nicht überliefert. Von lediglich fünf der 1704 im Amt befindlichen 347 Pastoren ist bekannt, daß sie zunächst als Adjunkten auf Pfarren im Besitz ihrer Väter tätig waren272. Das sind nur 1,44 % aller 1704 funktionierenden Pfarrer. Zusammen mit den 17 mit Pastorentöchtern verheirateten Adjunkten und den zwei mit ihren Pfarrherren nicht in Sohnesverwandtschaft stehenden Kollaboratoren – Johann Christian Ratke in Neuburg und Alexander Scherping in Rövershagen273 – haben 6,91 % der 1704 amtierenden 347 Pastoren als Substituten begonnen. Wie schon oben bemerkt, ist aus diesem geringen Anteil zu schließen, daß die Mecklenburger Pastoren vor 1700 so lange wie möglich selber amtierten, das heißt in der Regel bis zum Tod. Das war bis um 1700 in Braunschweig-Wolfenbüttel nicht anders274. Sichtlich war kaum eine Pfarrei imstande, mehr als einen Pastorenhaushalt ausreichend zu ernähren. Die wenigen Pastoren, die sich überhaupt emeritieren ließen, taten das in einem Alter von durchschnittlich knapp 70 Jahren275.

270 Vgl. Willgeroth: 1 S. 295. 271 Vgl. Schubert: Lfg. J S. 43. 272 Daniel Nicolaus Rodbert (1691, 1695–1731) in Kölzow, Willgeroth: 1 S. 149. Sein Vater ließ sich mit 72 Jahren emeritieren. – Enoch Zander (1703, vor 1708–1741) in Brütz, Emeritierung des Vaters mit 62 Jahren, S. 295. – Adolf Friedrich Rüst (1702, 1707–1745) in Reinshagen, Alter des Vaters unbekannt, S. 477. – Magnus Danneel (1689–1736) in Groß Vielen; dem Vater Heinrich Danneel war bereits 1670 ein anderer Sohn, und zwar Johannes Danneel, als Adjunkt beigegeben, S. 624. – Johann Friedrich Rehe (1689, 1696–1730) in Gägelow, Vater 1689 mindestens 61 Jahre alt, Willgeroth: 3 S. 1303. 273 Willgeroth: 3 S. 1246, dazu Schubert: Lfg. G 1 S. 33. Sein Vorgänger Johann Höfer ließ sich mit 60 Jahren emeritieren. – Zu Scherping s. oben Anm. 256. 274 Vgl. Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit (wie Anm. 19) S. 324. Vgl. jedoch oben Anm. 202. 275 Vgl. Anm. 266 und Anm. 272f. Ausnahmen sind der 58jährige Pastor Hartwich in Wattmannshagen, der wenige Wochen vor seinem Tod († 1669) ausdrücklich um einen Substituten gebeten hatte, Willgeroth: 1 S. 496f., und Johann Höfer in Neuburg, der sich ebenfalls mit 58 emeritieren ließ, aber erst 8 Jahre später 1708 starb, Willgeroth: 3 S. 1246.

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V. Zurück zu den Witwen! In Mecklenburg waren ihre Unterbringung und ihre Versorgung prekär und die Klage des Pastors Reuter in Zweedorf, bei ihm gebe es kein Witwenhaus, maßen eine betrübte Predigerwitwe nach dem Tode ihres Mannes nicht weiß, woher sie nach diesem ihre Subsistence nehmen und wohin sie sich wenden soll276, offensichtlich nicht übertrieben. Immerhin hat Herzog Friedrich Wilhelm, weil auch das gantze Land voll klagens ist, wegen Ermangelung der Prediger Wittwen-Häuser, im Jahre 1708 den adeligen Patronen den Bau von Witwenhäusern auferlegt und den Superintendenten mit Zuziehung derer, so dazu nötig, die Festlegung der den Witwen zuzuweisenden Sustentation277. Wieweit man dem tatsächlich entsprochen hat, bleibt zu untersuchen. Spät im Vergleich mit anderen Ländern wurden auch in Mecklenburg Pfarrwitwenkassen gegründet278: In Rostock auf Initiative der Pastoren 1765 die Predigerwitwenkasse und 1772 der Predigerwitweninstituts- und Brandversicherungsverein279 und 1768 auf Anstoß des Praepositus Johann August Hermes in Waren die Mecklenburgische Prediger-Witwen und Waisen-Verpflegungsgesellschaft280. An ökonomischer Attraktivität, die es in der Vormoderne nie besessen hatte281, gewann das Pfarrhaus in Mecklenburg-Schwerin dadurch sicherlich erst allmählich. Zumal auf dem Lande und selbst wenn der Pastor selber wirtschaftete, blieb die Pastorenfamilie hinsichtlich des Konnubiums ein Fremdkörper im Dorf 282. Witwe und Kinder besaßen nur das, was der Pfarrhaushalt allenfalls erspart hatte, und daher keine Mitgift, an der eine bäuerliche Umgebung interessiert war. Andere können ihren kindern lehe, Erb, Meierguter vererben; aber des haben sich der Prediger nachkommen nicht zu erfreuen, meinte 276 Schubert: Lfg. H 2 S. 137. 277 Erläuterung der Fürstl. Mecklenburgschen Kirchen-Ordnung, Schwerin 1708, IV. Von Kirchen, Pfarren, Schulen, Armen-Häusern und Kirchen-Gütern c. 5 J 3. 278 Vgl. Wunder: Pfarrwitwenkassen (wie Anm. 34) S. 441–454. – Oliver Janz: Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850–1914 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 87). Berlin, New York 1994, S. 391–394. – Joachim Eibach: Loyalität und »standesgemäße« Lebensweise. Zur Entstehung der staatlichen Beamtenhinterbliebenenpension am Beispiel Badens, in: ZGORh 139 (1991) S. 503–513, darin S. 504f. 279 LHA Schwerin, IB 23/05 Acta ecclesiasticarum et scolarum generalia 2142–2143 S. 217 (Freiwillige Predigerkasse Rostock). – Ebd. 2158–2180 S. 219–222 (Predigerwitweninstitutsund Brandversicherungsverein) (freundliche Hinweise von Dr. med. Hanna Würth, Hannover). 280 Schmaltz: Kirchengeschichte Mecklenburgs Bd. 3 (wie Anm. 122) S. 221. Willgeroth: 2 S. 736f. 281 Vgl. Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit (wie Anm. 19) S. 250. 282 Daß es daneben durchaus ein Zusammenspiel von dörflicher Gemeinde und (katholischem) Pastor gegeben hat, wird damit nicht in Frage gestellt, vgl. Werner Freitag: Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Der Dekanat Vechta 1400–1803 (Studien zur Regionalgeschichte 11). Bielefeld 1998, S. 119–128.

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1638 in Greene bei Gandersheim im Fürstentum Wolfenbüttel der Spezialsuperintendent Sattler; deshalb sei es eine billige Forderung, die Pastoren wenigstens zu Lebzeiten ausreichend zu besolden283. Pastor Martin Engel in Qualitz (westlich Bützow) schrieb 1704: Ist eine Predigers Wittibe aufm Lande fast, salvo honore, jedermans Schuhwisch, und weil sie bey Lebzeit ihrer Männer bey den schlechten Pfarren sich misere müßen behelfen und keine Schätze samlen können, so müßen sie nach ihrer Männer Todt nebst den Kindern miseriam schmeltzen und der Bauren Anh[uc]hels seyn (…)284. Tatsächlich lebten in MecklenburgSchwerin um 1700 viele Pfarrwitwen in Armut, sofern sie nicht sich oder eine ihrer Töchter durch Heirat auf der Pfarre erhielten. Es bedurfte noch erheblicher Wandlungen bei der sozialständischen Zugehörigkeit der ländlichen Pfarrerschaft, bevor diese auf vorpommersche Güter geladen und selbst dann noch mit feiner Ironie geschildert wurde: Wenn dann aber die kirchlichen Fragen an die Reihe kamen und die mitanwesenden Pastoren wie kleine Päpste behandelt wurden, oder sich wohl auch selbst als solche ansahen, dann riß Effi der Faden der Geduld (…)285.

283 Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit (wie Anm. 19) S. 275. 284 Schubert: Lfg. F 3 S. 275. Zum in der Studentensprache gebräuchlich gewesenen miseriam schmeltzen = »elend leben« s. Friedrich Kluge: Deutsche Studentensprache. Straßburg 1895, S. 30, Friedrich Kluge, Werner Rust, hrsg. v. Theodor Hölcke: Deutsche Studentensprache Bd. 2 L-Z (Schriftenreihe der Studentengeschichtlichen Vereinigung des CC 24 = Historia academica 24). Mannheim 1984, S. 47, 171. – Zu anhuchels/anheuchels = »Gespött« s. Karl Schiller, August Lübben: Mittelniederdeutsches Wörterbuch. Bd. 1, 1875 (ND Schaan 1981). S. 92. – Über die Armut der Pfarrwitwen und -waisen s. auch die Äußerungen aus Preußen (1568) und aus der Kuroberpfalz (1579), oben bei Anm. 72, 73. 285 Theodor Fontane: Effi Briest. Roman, 13. Kap., hrsg. v. Christine Hehle (Das erzählerische Werk 15. Große Brandenburger Ausgabe). Berlin 1998, S. 118.

Register der Orts- und Personennamen Abkürzungen: Bf = Bischof, Btm = Bistum, Dk = Domkapitel, Ebf = Erzbischof, Ebtm = Erzbistum, Gf = Graf, Hz = Herzog, Kann = Kanoniker, Kg = König, Ks = Kaiser, Kl = Kloster, Pf = Pfarrer, Pfk = Pfarrkirche, Pr = Propst, Sup = Superintendent, u. = und, s. = siehe, v = von

Aachen – Marienstift 170 – Pfk St. Foillan 174 Abbo, Abt v Fleury 61, 66 Adalbero, Ebf v Bremen 128 Adam Kraft 34 Adelog, Bf v Hildesheim 80 Adolf d. Ä. v Schaumburg 116 Agde, Konzil 506 47, 94, 152 Agobard, Ebf v Lyon 60 Ahlden 154 Ahrensböck, Holstein 268 Aigen 267 Alanus Anglicus 336 Albrecht der Bär 144 Albrecht II., Hz v Braunschweig-Lüneburg 363, 366 Albrecht v Stockhausen 325 Alexander II. 68 Alexander III. 77, 193, 236f., 242f., 263 Alexander, Dompr v Lüttich 245, 245 Algesdorf 158 Alleringersleben 126 Alt-Bukow 472 Alte Bückeburg 144 Altenberg, Kl 181 Altenburg, Kl im Waldviertel 178 Altenesch 128 Altenhagen 163 Altenwerder, Hamburg- 136 – Gertrudenkirche 137 Altmünsterberg, Marienburger Werder 34f. Altrinteln 165

Amel, Priorat von Gorze 198 Amöneburg, Michaelskirche 112 Amulo, Ebf v Lyon 46 Anastasius IV. 235 Anchin, Kl 225, 227f. Anno, Ebf v Köln 53 Ansegis 50 Ansgar, Missionar 92, 110, 114, 154 Apel, Andreas, Pf v Roringen u. Herberhausen 388 Apelern 142f., 154 Arbeo, Bf v Freising 61 Arles, Synode 813 49 Arn, Ebf v Salzburg 112 Arnold I., Ebf v Köln 91 Arnstein, Lahn, Stiftskirche 180 – Pfk St. Margareten 180 Arnulf, Bf v Lisieux 239 Artmans, Johannes, Pf v Herberhausen 372f. Atzum 122 Avenberge, auf Ochsenwerder, HamburgBergedorf 135f. Avenheim, Elsaß 268 Azelin, Bf v Hildesheim 79 Bacharach 24, 370 Bachmann, Heinrich Christoph, Pf v Roringen u. Herberhausen 388 Badeleben, südöstl. Helmstedt 126 Bakel 92 Balderich, Bf v Noyon 226 Bamberg, Btm 20, 97 Barfeld, südöstl. Elze 125

488 Bar-le-Duc, Priorat v Saint-Mihiel 197 Barum (Salzgitter-), Sendkirche 131 Basedow 472 Basel, Bf s. Haito Bazancourt 208 Beckedorf 161 Beckum 77 Beedenbostel 78, 122f. Beidendorf 477 – Pf s. Krüger, Albert; Polchow, Johann Georg Benedictus Levita 49f., 61 Benfey, Bruno, Pf v St. Marien, Göttingen 396 Benthen 482 – Pf s. Lantze, Adam Henning; Lantze, Johannes d. Ä.; Lantze, Johannes d. J. Berensberg, St. Matthias 19 Bergkirchen 162f. Bernward, Bf v Hildesheim 125 Bertem 236f. Berthold, Pf v St. Albani, Göttingen 368 Bertram, Bf v Metz 191 Beulcke, Claus, Einwohner v Roringen 401–405 Biberach, Pfk 36, 272–274 – Spitalkirche 32 Bielefeld, St. Marien 30 Billerbeck 114 Birka 92, 114 Blankenburg-Regenstein, Grafschaft 406 Blankenhagen 472 Blénod-lès-Toul 261 Bochum 89 Böhmer, Georg, Pf v St. Marien, Göttingen 385 Böker, Friedrich Wilhelm, Pf v Roringen u. Herberhausen 389f., 393f. Bonifatius 92, 110, 112f. Bonifaz VIII. 65 Bonifaz IX. 300 Bonn, Stiftskirche St. Cassius 172 Borgentreich 324 Bössow 477 – Pf s. Polchow, Jakob Bourges, Ebf s. Radulf

Register der Orts- und Personennamen

Bourgoyne, William 258 Brakel 324–326 Bramburg 325 – s. v Stockhausen Bramsche 77 Branthog, Bf v Halberstadt 115 Braunschweig 41 – Magnikirche 115 – Matthäuskapelle 268 – Michaeliskirche 364 Brauweiler, Klosterkirche 178 – Laurentiuskapelle 178f. Bremen, Ebf s. Adalbero; Friedrich; Rimbert; Johannes II. Britzke, Henning v, DO-Landkomtur Sachsen 411, 413 Brixen, Btm 77 – Bf s. Nikolaus v Cues Bröckel 184f. Bruchhof, ehedem südwestl. Stadthagen im Dül-Wald 118, 147f., 162 Bruno, Bf v Würzburg 39 Brunshausen, Kl 99, 110 Brütz 482 – Pf s. Zander, Enoch d. Ä.; Zander, Enoch d. J. Bückeberg 142, 147 Bückeburger Aue 148 Buckigau 148 Bugenhagen, Johannes 278, 448–451, 455 Bülow, Herren v 379, 388 Büraburg 113 Burdorf, Eduard, Kirchenvorsteher v Roringen 393 Calsow, Georg, Oberbürgermeister v Göttingen 387 Cambrai, Btm 203f., 208, 210f., 221–223, 226–229, 236f., 243f. – Bfe s. Lietbert; Manasse; Odo Cambridge, Peterhouse College 258 Cappeln (südöstl. Cloppenburg) 130 Cäsarius v Milendonk, Abt v Prüm, Mönch in Heisterbach 124 Châlons, Stift La Trinité 207f.

Register der Orts- und Personennamen

Chalon-sur-Saône – Synode 7. Jh. 58 – Konzil 813 49, 51f., 75 Chartres, Bf s. Ivo Cheitmar, Fürst der Karantanen 111 Christian, Hz v Braunschweig u. Lüneburg 432f. Christian, Hz v Braunschweig-Wolfenbüttel 431 Clacius, Erich, Konsistorialrat Wolfenbüttel 414 Clairvaux, Kl 181 Clarus, Felicianus, Pf v St. Marien, Göttingen 382 Clemens III. 453f. Clermont, Konzil 1095 212–220, 224 Cluny, Kl 29f., 232f., 260f., 290 Conrad Reymer 342 Corbie 236 Coulommes 223 Damme 130 Dassel 125 Deckbergen 118, 159 Deiderode, Gemeinde Friedland 292 Denstorf 122f. Derneburg 296 Dettum, östl. Wolfenbüttel 410 Deutscher Orden 182 – Landkomtur Ballei Sachsen s. Britzke, Henning v; v Lossow; Priort, Daniel v – Komtur v Göttingen s. Kitzleben Heinrich v; Spitznas, Wolf-Ludwig v Deutz, Abtei 77 Diemarden 125 Dietmar v Stockhausen 325 Dietrich, Pf v Sieboldshausen 293 Dietrich Grundmann, Bürger v Einbeck 323, 327 Dietrich II., Gf v Bar 191 Dietrich Lange, Vikar in Sieboldshausen 302–305 Dietrich Ruffi (Rode), Pf v St. Albani, Göttingen, Offizial v Nörten 294 Dietrich Winkel, Pf v St. Albani, Göttingen, Stadtschreiber 370

489 Dokkum, im Ostergo 113 Dommartin 194 Domprix 198 Dönninghausen, Franz Joachim, Pf v Pokrent 463, 466 Dornan 281 Dorsch, Georg Justus, Pf v Roringen u. Herberhausen 389 Drütte 125 Dünninghausen, Bauerschaft östl. Beckum 77 Ebal, Ebf v Reims 207 Echternach, Kl 92 Eck, Johannes 27, 256, 274, 370 Edzard, Gf v Ostfriesland 455 Eigil 99 Eilika, Billungerin 144 Einbeck 325–327, 356 – Alexandristift, Pf s. Johannes Magdeburg – Pfk St. Jacobi, Pf s. Heinrich Algard – Bürger s. Dietrich Grundmann, Hans Albrecht, Heinrich Twelen Einsiedeln 323f. Elbing, Provinzialsynode 1427 254 Eldagsen 76 Elende, östl. Bleichrode 343 Elisabeth v Calenberg, Herzogin v Braunschweig 373 Ellierode 324 Elmenhorst 462 Elvira, Synode 305 263 Elze 76, 78, 122 Emstek (östl. Cloppenburg) 130 Erasmus v Rotterdam 444 Erchanbert, Bf v Freising 106 Erfurt 113 – Universität 309, 312f. Erkanbert, Bf v Minden 142 Ernst Bock 342 Ernst Herzog, Pf v St. Jacobi, Göttingen 373 Ernst v Uslar 342f. Essen, bei Cloppenburg 115 Eugen III. 236

490 Evern Exten

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80, 131 158

Falmagne 234 Fanter, Hans-Joachim, Pf v Kuhlrade 463 Farenberg, Hans, Altermann v Herberhausen 417 Fischbeck, Kanonissenstift 157 – Fuldisches Gut 157 – Königsgut 157 – Pfk 157f. Fleischer, Urban, Pf v Meltz 462 Fleury, Abt s. Abbo Föge, Hermann, Oberbürgermeister v Göttingen 397 Frankfurt, Reichssynode 794 48, 58 – Bartholomäusstift (Dom) 167, 170 – Hochaltar 167–169 – Kreuzaltar 167–169 – Dreikönigskirche Sachsenhausen 169f. – Leonhardstift 169 – Liebfrauenstift 169 – Peterskirche in der Neustadt 169f. Freckenhorst, Stift 174f. – Petrikapelle 175 Fredelsloh, Chorherrenstift 295 Freden, Groß 78, 123f. Freising, Bf s. Arbeo Freising, Btm 106 – Bf s. Erchanbert Friedberg, UlFr 31 Friedrich III., Kg 325 Friedrich Ulrich, Hz in BraunschweigWolfenbüttel 433 Friedrich, Bf v Metz 194 Friedrich, Ebf v Bremen 127 Friesland 112, 114 Frille 148, 159 Fritzlar, Peterskirche 92, 112f., 154 Fulda, Kl 99 – Abt s. Hrabanus Maurus; Sturmi Gandersheim, Marienkloster 80, 129f. Gebhardi, Andreas, Pf v Herberhausen 419 Geismar, bei Fritzlar 112

Geismar, Ortsteil v Göttingen 119–121 Gerald v Wales 314 Gercken, Jobst, Vogtherr v Göttingen 421, 423 Gerhard, Bf v Thérouanne 218 Germer, Johannes, Pfarrstellenbewerber Herberhausen, 1612 418, 420, 422 Gervasius, Domkan in Lisieux 239 Gettorf 31f. Gladebeck v 379, 388, 416f. – Anna 417f. – Bodo 434 – Elisabeth 388, 434 – Friedrich Joachim 417f. – Hermann 372 Godehard, Bf v Hildesheim 122 Gondrecourt, Priorat v Saint-Evre 239 Gorze, Kl 198f. Goslar, Frankenbergkirche 72 Gottfried Gokelen, Pf v St. Crucis Göttingen, Stadtschreiber 374 Gottfried, Abt v Vendôme 219f. Göttingen – Albanikirche 279, 366–369, 376, 379f. – Pf s. Berthold; Dietrich Ruffi (Rode); Dietrich Winkel; Hildebrand Issengart; Johannes Czipollen; Urbanus Regius; Johannes Sutel – Jacobikirche 368f. – Pf s. Ernst Herzog – Johanniskirche 275–277, 410 – Pf s. Johannes Hovet; Joachim Mörlin; Riebow, Georg Heinrich – Marienkirche 182, 363–398, 410–412 – Prediger s. Johannes Birnstiel – Pf s. Benfey, Bruno; Böhmer, Georg; Clarus, Felicianus; Groscurdt, Justus; Heilandt, Valentin; Hillgart, Johannes; Langhagen, Johannes; Losse, Christoph; Runte, Heinrich – Patronat 381–387 – Nikolaikirche 378–381 – Pf s. Heinrich Balistarius; Henckel, Heinrich; Stromeyer, Friedrich Wilhelm

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– DO-Kommende an der Marienkirche 363, 381 – Komtur s. Kitzleben, Heinrich v; Klenke, Ludolf; Spitznas, Wolf-Ludwig v – Hospital St. Bartholomäus 363, 371f. – Pf s. Heinrich Lappe; Heinrich Meier; Johannes Bruns – Hospital St. Crucis 363, 372, 376f. – Pf s. Gottfried Gokelen; Heinrich Lappe; Johannes Stein; Köhler, Heinrich; Köhler Otto Christoph; Riebow, Georg Heinrich; Stromeyer, Friedrich Wilhelm – Hospital St. Spiritus 363, 372 – St. Jürgenkapelle 372, 377 – Generalsup s. Tegtmeier, Henning – Zehnt 255 – Rat 326 – Vogtherren s. Henckel, Ludolf; Gerken, Job – Stadtschreiber s. Dietrich Winkel; Heinrich Balistarius; Johannes Birnstiel; Heinrich Lappe; Gottfried Gokelen; Tilemann Nikolai; Henckel, Theodor; Rudolf, Caspar – Oberbügermeister s. Calsow, Georg; Föge, Hermann; Jung, Bruno; Merkel Georg – Syndicus s. Reichelm, Jeremias – Herberhäuser Stieg 404 – Rote Straße 401 – Ortsteile s. Herberhausen; Nikolausberg; Roringen Gottschalk Hollen 333, 336, 347, 350 Grammontenser 76f. Gratian 62f., 68, 192, 334, 362 Gregor VII. 62, 217 Grimmenthal 350 Groscurdt, Justus, Pf v St. Marien, Göttingen 385, 413 Groß Dahlum 125 Groß Flöthe 80 Groß Hilligsfeld 99, 111, 156 Groß Lobke 80f., 131f. Großenwieden 156f.

491 Großstöckheim 122 – Sendgericht 1621 56 Groswurm, Jost, Schlachter in Herberhausen 418, 430f. Grothey, Andreas, Einwohner v Herberhausen 401f. Grove 159 Guntter, Hans, Einwohner v Herberhausen 401f. Hadrian IV. 236 Hagen 90 Hageroth, Zacharias, Pfarrmeier in Roringen 428, 431 Haithabu-Schleswig 92, 114, 154 Haito, Bf v Basel 45, 49f. Halberstadt – Bf s. Branthog – Bm 115, 122 Hamburg 12 – Domkan 23, 270f. – St. Jacobi 271 – St. Katharinen 23, 271 – St. Nikolai 271 – St. Petri 271 – Stadtgebiet s. Altenwerder; Avenberge auf Ochsenwerder; Kirchdorf auf Stillhorn, Wilhelmsburg; Moorburg Hameln, Kl, Stift 99, 111, 140f., 150f. Hankensbüttel 78, 122f. Hann. Münden 324 Hans Albrecht, Bürger v Einbeck 323, 327 Hans Brüggemann 34, 187 Hans Raphon, Kreuzigungsaltar 377 Hans Schnatterpeck 34 Hans v Stockhausen 325 Hansdorf 462 Hardegsen 324 Harriehausen 279 Harste 388 Hasnon, Kl, Pfk 208f., 224 Hattendorf 159 Haut-Bruay 240 Hehlen 99, 111, 156 Heilandt, Valentin, Pf v St. Marien, Göttingen 381f.

492 Heiligenstadt – Stift St. Martin, Pr 129 Heine Putz 343 Heinrich Algard, Pf v St. Jacobi, Einbeck 324 Heinrich Balistarius, Pf v St. Nikolai, Göttingen, Stadtschreiber 370 Heinrich der Löwe 144 Heinrich III., Hz v Grubenhagen (reg. 1427–†1464) 324 Heinrich Julius, Hz v Braunschweig-Wolfenbüttel 411 Heinrich Lappe, Pf v St. Bartholomäus, v St. Crucis, Göttingen, Stadtschreiber 374 Heinrich Meier, Pf v St. Bartholomäus, Göttingen, Stadtschreiber 374 Heinrich Prutz, Vikar in Sieboldshausen 305f. Heinrich Rode, aus Göttingen, Pf v Sieboldshausen 293f., 298 Heinrich Tribbe 117 Heinrich Twelen, Bürger v Einbeck 323 Heinrich von Segusio (Hostiensis) 44, 79, 256, 266 Heinrich, Bf v Lüttich 239, 245 Heinrich, Ebf v Mainz 80, 129f. Heinrich, Ebf v Reims 245 Heinrich, Hz v Braunschweig († 1416) 38 Helgoland 114 Hellin, Lüttticher Kleriker 228 Helmburg, Stifterin v Fischbeck 157 Helmstedt – Kl St. Ludgeri 125f. – Stadtkirche St. Stephan 126 – Universität 314, 406, 420 Hemeringen 160 Henckel, Heinrich, Pf v Herberhausen, Pf v St. Nikolai, Göttingen 374, 432f. Henckel, Ludolf, Vogtherr v Göttingen 421, 423 Henckel, Theodor, Stadtschreiber v Göttingen 421, 423 Herard, Ebf v Tours 45f., 50, 75 Herberhausen, Ortsteil v Göttingen 361, 379, 401–435 – Kirche 432

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– Alterleute s. Farenberg, Hans; Nietmann Christoph – Kirchenvorsteher s. Lockemann, Willhelm – Pf s. Apel, Andreas; Artmans, Johannes; Bachmann, Heinrich Christoph; Gebhardi, Andreas; Henckel, Heinrich; Kerkow, Leopold August; Kogelen, Dietrich; Küsel, Albert; Meyer, Christian; Moelen, Jost; Mügge, Walter; Rethelius, Heinrich; Schiller, Johannes; Tappe (Tappius), Johannes; Variscus, Andreas; Witthaus, Hermann – Pfarramtsbewerber s. Germer, Johannes – Patronat 388–398 – Pfarrhaus, -hof, -land 415, 417, 423, 429–431, 433 – Einwohner s. Grothey, Andreas; Groswurm, Jost; Guntter, Hans; Nietmann, Tönnies Hermann v Spiegel 324f. Heuerßen 163 Hieronymus 100 Hildburg, Stifterin v Möllenbeck 158 Hildebrand Hoppner, Vikar in Sieboldshausen 307, 309, 310f. Hildebrand Issengart, Pf v St. Albani, Göttingen 373 Hildesheim – Bf s. Adelog; Azelin; Bernward; Godehard; Konrad I.; Konrad II., Siegfried – Stadt 39 – St. Andreas, Friedhof 39 – Kl St. Michael 125 Hilgart, Johannes, Pf v St. Marien, Göttingen 385 Hilpoltstein 274 Hilwartshausen, Stift, Chorfrauenstift 293, 296–317, 406f. – Pf s. Köhnen, Christian; Variscus, Andreas Hinkmar, Ebf v Reims 51f., 61, 73, 100 Hisse, Hartmann, Pf v Roringen, v Lauenberg bei Einbeck 432f. Hofgeismar 120f. Hohenrode 160

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Hohnhorst 161 Hohnstein, Grafschaft 414 Holle 296 Hollerland 128 Holy-Trinity, Priorat in York 201 Honorius II. 220 Horich, Kg in Haithabu-Schleswig 92, 114 Horn 127f. Horn, August, Kandidat 389 Hoyer, Barthold 482 Hoyer, Barthold Georg 482 Hoyer, Georg 482 Hrabanus Maurus, Abt v Fulda 99f., 111 Hugo von Die, päpstlicher Legat 62 Hülsede 159 Hüsten 91 Idensen 116–118, 160 Immad, Bf v Paderborn 76 Ingolstadt 256f., 274 Innozenz III. 53, 145, 193 Innozenz IV. 193, 267, 295 Insmingen 191f. Isaak, Bf v Langres 49 Ivo, Bf v Chartres 218–220 Jacobus de Rota 268 Jeandelize 198 Jena, St. Michael 183 Jetenburg, in Bückeburg 118, 161 Jordan, Hans, Einwohner v Roringen 401f. Johann Friedrich, Hz v Braunschweig u. Lüneburg 386 Johann Geiler v Kaysersberg 331 Johann Korsewicht, aus Münden 312 Johann Rudolfi v Grevenstein 301 Johann Schulte v der Lühe 133f. Johann Uslar, Vikar in Sieboldshausen 302f. Johann, Hz v Kleve 1468 38 Johann, Kurfürst v Sachsen 252 Johannes Beleth 263f. Johannes Birnstiel, Prediger v St. Marien, Göttingen 372 Johannes Bruns, Pf v St. Bartholomäus Göttingen, Stadtschreiber 374

493 Johannes Faventinus 63, 362 Johannes Hemeling, Verwalter der Bremer Domfabrik 32 Johannes Hovet, Pf v St. Johannis, Göttingen 275–277 Johannes II., Ebf v Bremen 136 Johannes Magdeburg, Pf v St. Alexandri, Einbeck 324 Johannes Schele, Bf v Lübeck 40 Johannes Stein, Pf v St. Crucis Göttingen, Stadtschreiber 374 Johannes v Paltz 332f. Johannes VIII. 66 Johannes Wigand, aus Göttingen 298–300 Johannes, Ebf v Trier 234 Jonas, Bf v Orléans 60, 289 Jonas, Justus 445 Julius II. 316 Jung, Bruno, Oberbürgermeister v Göttingen 396f. Jürgen v Spiegel 324–326 Kamp, Kl 181 Karantanien 111f. Karlstadt, Andreas 445 Kassel, Stift Ahnaberg 296 – Cyriakuskirche 296 Kathrinhagen 163 Kempen 36 Kerkow, Leopold August, Pf v Roringen u. Herberhausen 389f. Kerstlingerode 299 Kirchdorf, auf Stillhorn, Hamburg-Wilhelmsburg 135 Kirchdorf, auf Poel, Pf s. Mühler, Johannes Kirchohsen 148 Kirchwahlingen 99, 111, 156 Kitzleben, Heinrich v, DO-Komtur Göttingen 381 Klein Lobke 80, 131f. Klenke, Ludolf, DO-Komtur Göttingen 386 Kochstedt, nördl. Aschersleben 343 Koekelare 226 Kogelen, Dietrich, Pf v Herberhausen 416

494 Köhler Otto Christoph, Pf v St. Crucis, Göttingen 375 Köhler, Heinrich, Pf v St. Crucis, Göttingen 374f. Köhnen, Christian, Pf v Hilwartshausen 408 Köln, Ebtm 55, 98 – Ebf s. Anno, Arnold – Dom 174 – Johannes Ev. in Curia 174 – St. Maria in Pesch 174 Köln, Stadt – Schreinsbücher 12 Konrad Bruns, Vikar in Sieboldshausen, Offizial v Nörten 310f. Konrad I., Bf v Hildesheim 124 Konrad II., Bf v Hildesheim 124 Konrad v Sehlde, Dekan v Marienstein, Vikar in Sieboldshausen 307–310 Konrad von Megenberg 50f., 256, 266f., 346 Konrad, Elekt v Mainz 128 Konstanz, Btm 22, 95 Krüger, Albert, Pf v Beidendorf 477, 479 Kuhlrade 463 – Pf s. Fanter, Hans-Joachim Kuno, Kd-Legat v Palästrina 228 Kuppentin 462, 472 Küsel, Albert, Pf v Roringen u. Herberhausen 434 Laar 77 Lachem 160f. Landesbergen 146 Landrich, Fürstensohn auf Helgoland 114 Langhagen, Johann, Pf v St. Marien, Göttingen 382f. Langres, Bf s. Isaak Lantze, Adam Henning 482 Lantze Johannes d. Ä. 482 Lantze, Johannes d. J. 482 Las Casas, Bartolomé de 122 Laterankonzil I 62 Laterankonzil II 62, 183, 443 Laterankonzil III 241, 263 Laterankonzil IV 63, 79, 193, 265f.

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Lauenhagen 163 Leer 114 Leipzig, Universität 406 Lemgo, Marienkirche 182 Lengden (Groß-), Pf s. Malsius, Peter Leo X. 316 Lesse (Salzgitter-) 125 Leussow 482 – Pf s. Hoyer, Barthold; Hoyer, Barthold Georg; Hoyer, Georg Leyser, Polycarp, Dresdner Hofprediger 383 Liafwin (Lebuin) 114 Lietbert, Bf v Cambrai 244 Lilienfeld, Kl 181 Lillebonne, Synode 1080 199f. Limburg, Stiftskirche St. Georg 170 Lincoln, Bf s. Robert Gosseteste Lindhorst 163 Lippoldsberg, Kl 363 Lippspringe 108 Lisieux, Bf s. Arnulf – Domkan s. Gervasius Liudger, Bf v Münster 113f. Loccum, Kl 165f. Lockemann, Wilhelm, Kirchenvorsteher v Herberhausen 393f. Lohe (Mark-) 154 Lorenz Schinnen, Vikar in Sieboldshausen 313 Lörrach 315 Losse, Christoph, Pf v St. Marien, v St. Jacobi, Göttingen 383, 410 Lossow, Johannes v, Landkomtur DOBallei Sachsen 382–384 Lübbecke 146, 154 Lübeck, Bf s. Johannes Schele – St. Marien, Pf s. Nikolaus v der Molen Lucius III. 453 Lucklum, DO-Kommende 122, 410 Lüdenscheid 90 Ludolf Wigand 299 Ludolf, Bf v Osnabrück 115 Lügde 76 Lühe, linker Nebenfluß der Unterelbe 133 Lühnde 80–82, 130f.

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Lüneburg, Johanniskirche 364 Luther, Martin 41, 252, 277, 316f., 349f., 445f. Lüttich, Bf s. Heinrich – Dompr s. Alexander – Kleriker s. Hellin Lyon, Ebf s. Agobard, Amulo Maastricht – Stiftskirche St. Servatius 174 – Pfk St. Johannes 174 Mainz, Konzil 813 74, 77 Mainz, Ebf s. Heinrich; Konrad (Elekt); Willigis – Ebtm 21 – Dom, Lichterordnung 297 – St. Viktorstift in Mainz 121 Malsius, Peter, Pf v Lengden 420 Manasse, Bf v Cambrai 227f., 243 Manasse, Ebf v Reims 204, 223, 209f., 230f., 243 Mandelsloh 146, 148, 154 Marlow 479f. – Pf s. Pfingsten, Hermann Mars-la-Tour 194 Marstemgau 142, 148 Mecklenburg 268f. Medebach 91 Meerbeck 156 Meerssen, Stifts-, Prioratskirche v Saint Remi, Reims 177, 239 Meier, Lorenz, Meier des Roringer Pfarrlandes 405, 425, 427 Meinwerk, Bf v Paderborn 156 Meltz 462 – Pf s. Fleischer, Urban Menden 88 Merkel, Georg, Oberbürgermeister v Göttingen 387 Metz, Bf s. Bertram; Friedrich; Stephan – Btm 52f. – St. Maria u. Theobald, Stift 194 – Saint-Symphorien, Kl 239 Meyer, Christian, Pf v Roringen u. Herberhausen 405, 433f. Michael Pfender 34

495 Michael Schwarz 34 Minden – Bf s. Erkanbert; Siegward – Btm 142–149 – Johannisstift 149 – Martinstift 146 Mirabilis, nobilis 118, 147, 161f. Mittelnkirchen 132–134 Modestus, Salzburger Chorbf in Karantanien 111f. Moelen, Jost, Pf v Herberhausen u. Roringen 416 Molinus, Johann, Konsistorialrat Wolfenbüttel 408, 410 Möllenbeck – Kanonissenstift 158 – Marktkirche St. Nikolai 158 Monasterium, Pfk im Btm Cambrai 227f. Monnica, Mutter Augustins 272 Mont-le-Vignoble 261 Monzay 240 Moorburg, Hamburg- 135 Mörlin, Joachim, Pf v St. Johannis, Sup in Göttingen 373 Mügge, Walter, Pf v Roringen u. Herberhausen 395 Mühler, Johannes, Pf v Kirchdorf auf Poel 479f. Münster, Bf s. Liudger; Werner – St. Jakobi 274 Musäus, Paul, Konsistorialrat Wolfenbüttel 415 Neerijse 236f. Nenndorf 161 Neufchâteau, Pfk Saint-Nicolas 240 Neukloster, bei Buxtehude 134 Neunkichen 132–134 Nieheim 324–326 Nietmann, Christoph, Altermann v Herberhausen 417 Nietmann, Tönnies, Einwohner v Herberhausen 429–431 Nigellus v Longchamp 265 Nikolaus v Cues 170, 341

496 Nikolaus v der Molen, Pf v St. Marien, Lübeck 351 Nikolaus V. 170 Nikolausberg, Ortsteil v Göttingen, Wallfahrt 342f. Nordhausen, Stift St. Crucis 300 Nörten – Villikation, Petersstift 121 – Offfizial s. Dietrich Ruffi (Rode); Konrad Bruns Noyon-Tournai, Bm 203f., 210f., 225f. – Bfe s. Balderich; Ratbod Nürnberg, Reichstag 1523 250f., 315 Nürnberg – St. Lorenz 31, 33, 34f. – Ablaßstock 33 Oberhofen, Stiftskirche 180 – Pfk 180 Obernkirchen, Archidiakonat, Augustinerchorfrauenstift 142–144, 147f. Ochtendunk 234f. Odo, Bf v Cambrai 228 Oesdorf 76 Ohlendorf (Salzgitter-) 80, 131 Ohrum 125 Olaf, Kg in Birka 92 Oldendorf (Mark-), bei Einbeck 295 Oldendorf, westl. Elze 76 Orange, Synode 441 47, 93, 152 Orléans, Bf s. Theodulf Orléans, Synode 511 58 Ortenau 251 Osnabrück, Bf s. Ludolf; Philipp; Wido Otto Cocles, Hz v Braunschweig-Göttingen 363f. Otto Grote 135f. Otto IV., Ks 366 Oxford, Pfarrei St. Thomas 258 Paderborn, Bf s. Immad; Meinwerk Paderborn, Stift 324 Pappenheim 256 Paschal II. 219f. Passau, Btm 21 Pauvre 235

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Peckelsheim 324f. Perl 234f. Petreus, Heinrich, Konsistorialrat Wolfenbüttel 411f. Petrus Lombardus 428 Petrus, Abt v Saint Remi, Reims 245 Pfingsten, Hermann, Adjunkt, Pf v Marlow 479 Pflummern, Heinrich v 36 Pflummern, Joachim v 27, 272 Philipp, Bf v Osnabrück 130 Philipp, Hz v Braunschweig-Grubenhagen 379 Pibo, Bf v Toul 261 Pleurs, Herren v 229, 233 Plön 31 Pöhlde, Stift 367, 379 Pokrent 463, 466 – Pf s. Dönninghausen, Franz Joachim Polchow, Jakob, Pf v Bössow 477 Polchow, Johann Georg, Pf v Beidendorf 477, 479 Pratje, Johan Hinrich 451 Priort, Daniel v, DO Landkomtur Sachsen 385f. Probsthagen 163f. Prüm Abtei 124f. – Abt s. Cäsarius v Milendonk 124 Pulgarn, Stift 195 Quentin, Daniel, Pf v Roringen Quiercy, Konzil 857 51

407

Radulf, Ebf v Bourges 50 Rainald, Ebf v Reims 229f., 260 Raitenhaslach, Kl 181 Ratbod, Bf v Noyon 226 Regensburg, Schöne Madonna 327, 348 Regino von Prüm 55f. Rehme 154 Reichelm, Heinrich Dr., Konsistorialrat Wolfenbüttel 412 Reichelm, Jeremias, Stadtsyndicus Göttingen 382f. Reims, Konzil 1049 62

Register der Orts- und Personennamen

Reims, Ebf s. Ebal; Heinrich; Hinkmar; Manasse; Rainald; Samson; Wilhelm – Kl Saint-Remi 208, 223 – Kirche St. Julien 236 Reinhard v Bilzingleben 294 Remagen 77 Renshausen 125 Rethelius, Heinrich, Pf v Herberhausen 415, 424f. Rheden 78 Rhetwisch 474 Richwin, Bf v Toul 239 Riebow, Georg Heinrich, Pf v St. Johannis, v St. Crucis, Göttingen, Sup 375 Rimbert, Ebf v Bremen 110 Ringelheim (Salzgitter-) 122f. Rinteln 164f. Robert Grosseteste, Bf v Lincoln 314 Rochester, Kathedrale 175 Roringen, Ortsteil v Göttingen 279, 361, 379, 388f., 401–435 – Pf s. Apel, Andreas; Bachmann, Heinrich Christoph; Hisse, Hartmann; Kerkow, Leopold August; Küsel, Albert; Meyer, Christian; Moelen, Jost; Mügge, Walter; Quentin, Daniel; Schiller, Johannes; Spangenberg, Heinrich; Variscus, Andreas; Underberg, Georg; Witthaus, Hermann – Kirchenvorsteher s. Burdorf, Eduard – Pfarrhaus, Pfarrland 405, 407f., 423, 425, 427f. – Pächter s. Meier, Lorenz; Hageroth, Zacharias – Einwohner s. Beulcke, Claus; Jordan, Hans Rudolf von Fulda 99f. Rudolf, Caspar, Göttinger Stadtschreiber 408 Rufin 63, 238, 362 Ruislede 226 Runte, Heinrich, Pf v St. Marien, Göttingen 396 Saint-Evre

239

497 Saint-Mihiel – Kl 191f., 195–198, 240 – Pfk St. Stephan 195–197, 240, 261 Saint-Pierre-aux-Nonnains, Kl 194 Saint-Pry (Praejectus), ehedem Priorat in Fouquières lès Béthune 240 Saint-Trond, Kl 244f. Salival, Stift 194 Salz, Kapitular 803 58f., 74 Salzburg, Bf s. Virgil – Ebf s. Arn – Chorbf s. Modestus; Theoderich Samson, Ebf v Reims 245 Sattler, Basilius, Konsistorialrat Wolfenbüttel 410, 412, 414, 419f. Scheyern, Klosterkirche 178 – Kirche St. Martin 178 Schiller, Johannes, Pf v Roringen u. Herberhausen 397 Schöneberg, Burg bei Hofgeismar 324 Schöningen 122 Schöppenstedt 122 Schwarmstedt 118 Sebexen 80, 129f. Segelhorst 161 Sehnde 81, 132 Seppenrade 78 Sieboldshausen 291–317 – Erzpriester 291–293, 306 – Pf, Vikare s. Dietrich; Dietrich Lange; Heinrich Prutz; Heinrich Rode; Hildebrand Hoppner; Johannes Uslar; Konrad Bruns, Konrad v Sehlde, Lorenz Schinnen Siegfried, Bf v Hildesheim 454 Sigward, Bf v Minden 116f. Simon, Abt v Saint-Remi in Reims 234 Solano, Francisco 109 Sollstedt 414 Spalatin, Georg 446 Spangenberg, Heinrich Pf v Roringen 425 Spener, Philipp Jacob 253 Speyer, Btm 20 Spitznas, Wolf-Ludwig v, DO-Komtur Göttingen 386

498 Stablo, Kl, – Abt s. Wibald Stadthagen 163f. Stedingerland 128 Steina (Marienstein) 308, 368 Steinbergen 118, 161 Steinfeld, Btm Osnabrück 130 Steinfeld (Eifel), Stiftskirche 179 – Andreaskirche 180 Steinkirchen 132–134 Stenay 240 Stephan, Bf v Metz 239 Sternberg 350 Stockhausen v – s. Albrecht, Dietmar, Hans Stöckheim, bei Northeim 295 Straßburg, Münsterprädikant s. Zell Stromeyer, Friedrich Wilhelm, Pf v St. Crucis u. St. Nikolai, Göttingen 376 Sturmi, Abt v Fulda 113f., 154 Sülbeck 162f. Sulingen 154 Sunrike, wüst bei Borgentreich 39 Sutel, Johannes, Pf v St. Albani, Göttingen 373f. Tankred, Kleriker 226 Tappe, Johannes, Pf v Herberhausen 419, 429 Tegtmeier, Henning, Generalsup Göttingen 384, 412 Templeuve 225 Theobald, Ebf v Canterbury 220 Theoderich, Salzburger Chorbf in Karantanien 112 Theodulf, Bf v Orléans 45, 50,75 Thérouanne, Bf s. Gerhard Thomas, Ebf v York 201 Thurstan, Ebf v York 201 Tilemann Nikolai, Stadtschreiber v Göttingen 326 Tilithigau 148 Tilly, Johann v 432 Tilman Riemenschneider 34 Toul, Bf s. Pibo; Richwin Tours, Konzil 813 49

Register der Orts- und Personennamen

– Legatensynode 1060 62 Tours, Ebf s. Herard Tours-sur-Marne 229f., 232, 260f. Tranquebar 122 Trebur, Konzil 895 74f. Trépail 207f. Trier, Dk 234 – Wallfahrt 350 Tuckermann, Peter, Konsistorialrat Wolfenbüttel 415 Uder 128 Ulm, Münster 31, 35 Ulrich Surgant, Pf in Basel 257 Underberg, Georg, Pf v Roringen 409, 413, 416, 426 Urban II. 217f. Urbanus Regius, Pf v St. Albani, Göttingen 373 Utrecht, Btm 107, 202 Variscus, Andreas, Pf v Hilwartshausen, v Roringen u. Herberhausen 384, 388, 401–432 – Ehefrau Margarete 431 – Tochter Anna 431 Vaucouleurs 240 Vehlen 142f., 155 Velbert 176f. Versmold 77 Vienne, Legatensynode 1060 62 Virgil, Bf v Salzburg 111 Voigtländer, Andreas (diverse), Einwohner v Westerhausen 407f. Wagemann, Gottfried Wilhelm, Generalsup Göttingen 380 Walkenried, Kl – Göttinger Zehnt 255 Wallensen 76, 78, 122f. Walsrode, Kl 187 Wangenheim, Freiherren v 379, 388 – August Wilhelm 388, 435 – Georg Graf v 389, 392, 394 Warburg 324 Watenstedt 122

Register der Orts- und Personennamen

499

Waulsort, Kl 234 Weibeck 161 Wendelstein 251 Werden Abteikirche 177 – St. Lucius 177 – Peterskirche 177 – Pfarrsprengel 73f., 176f. – St. Klemens im Born 177 Werner, Bf v Münster 77 Wesel, St. Willibrord 31 Westerhausen 406f. – Einwohner s. Voigtländer Westminster, Konzil 1175 243 Wetter, Kanonissenstift 171 Wetzlar, Marienstift 170 – Walpurgiskapelle 262 Wibald, Abt v Stablo 247 Wido, Bf v Osnabrück 77 Wiedensahl 148, 162, 165f. Wienhausen – Kirche St. Alexander 184, 186 – Archidiakonat 184 – Send 185 – Kirchenfabrik 82, 185 – Pfarrei 78, 122f. – Gemeindefriedhof 186 – Kloster 184–186 – Sebastiankapelle 186 Wilhelm, Ebf v Reims 245 Willehad, Missionar in Wigmodien u. Friesland 114 Willekin v Stade 135 Willibrord 92 Willigis, Ebf v Mainz 52, 145 Wilsnack 343f., 350

Wilstorf 135 Winand von Steeg 24 Windheim 165 Winterswijk 77 Witthaus, Hermann, Pf v Roringen u. Herberhausen 390–392, 395 Wolfenbüttel, herzogliches Konsistorium 407, 421 – Räte s. Clacius, Erich; Molinus, Johann; Musäus, Paul; Petreus, Heinrich; Reichelm, Heinrich Dr; Sattler, Basilius; Tuckermann, Peter Wolfgang, Hz v Braunschweig-Grubenhagen 416 Wolsdorf 126 Wormbach 91 Worms, Reichstag 1521, Gravamina 249, 315 Wulfhild, Billungerin 144 Wunstorf, Archidiakonat 146, 148 Würzburg, Bf s. Bruno Xanten, Stiftspfarrer

46

York, Ebf s. Thomas; Thurstan Ypern 267 Zander, Enoch d. Ä. 482f. Zander, Enoch d. J. 482f. Zell, Matthäus, Straßburger Münsterprädikant 445 Ziegenbalg, Bartholomäus 122 Zürich 12 Zwingli, Huldreich 445

Sachregister

Abkündigung 37f., 287f. Ablutionswein 187 Abpfarrung (Dismembration) 75f., 80f., 129f., 132, 134, 165, 286f. Absenz (Zahlung des Pfründenverwalters an den abwesenden Pfründeninhaber) 249, 302, 311, 315 ad firmam (befristete Kirchenleihe) 265 Adjunkt, Koadjutor 453–455, 477–482 admonitio generalis 789 48, 100 Altar (Hochaltar) 303 altare (Pfarrbenefizium) 66–68, 197, 203, 212–215, 218 – redemptio altarium 210f., 212, 216– 223 Altarist (Benefiziat) 27 Altaristen, Alterleute, Kirchenväter, Kirchenpfleger, Provisoren 33f., 168f., 185–187 Altarlehen (Vikarien) 28, 64 Annate 305, 447f. apostoli 336 Archidiakon 52f., 144–149 Backhaus 462 Baulast 64, 301 Bedel, biddeltafel 267 Beichtgeld, -pfennig 251 beneficium (Kirchenrecht), Dotation, Pfarrwidem 65, 68, 209, 229, 238, 232f., 254, 280f., 282, 288f., 303 bevelinge 24 Bildersturm 35f. Breuhan 424

Bruderschaft

37

Capitulare ecclesiasticum 818/819 59, 66f., 74, 288f. Capitulatio de partibus Saxonie 108 Codex iuris canonici 11, 43f., 64f., 173, 363 Codex Theodosianus 93 commenda (commissio) 23f. Concilium Germanicum 742/743 48 decima funebre, Venedig 258 decima maris, Genua 258 defectus corporis 454 Dekan, Erzpriester 54f., 291 Devolution 298 Dimissoriale, dimissorium 13, 334, 338 Dos 240f. Dreißigster (Totengedenken) 252f. ecclesia maior 258f. ecclesia minor 258f. Eigenkirche 57–62, 93, 103–107, 118–121, 152–154 elemosina, almissen 24 Emeritenversorgung 456 Emeritus 483 Encomienda 122 Erzpriester s. Dekan formata 334–336 Friedhof 39f., 186 Frühmesse 36f., 274f.

502

Sachregister

Geburtsherkunft, Diözese 307 Geistliches Spiel 37 Geleitbrief 339 Gemeiner Kasten 278f. Gemeiner Pfennig 1495 287 Geschlossene Zeiten 474 Gesellpriester 26f., 274f. Gnadenjahr (annus gratiae) 447–452 Hochfest

261f., 272, 281

Immission (Einführung) 408, 417, 422 Inkorporation 192f., 199–202, 242–246, 250, 260, 295, 314–316 Investitur, Pfarramt 303 Kirchenfabrik 30–32, 81f., 185–187 Kirchenrechnung 30f., 185f. Kirchenstuhl 37 Kirchenvorstand 392–395 Kommende (Meßstiftung) 23f., 371 Kongrua 191–193, 238–241, 295, 297f., 301, 314 Konkubinat 443f. Konservierung 457–60, 470–473, 477–479 Kooperator 370 Lettner

175, 272

Memorienregister 28f. Messstipendium 27 Mission 99, 109f., 113f., 122 movendelpfründe 24 Muttersegnung (Rekonziliation) 253, 282 Niederkirchenwesen 259 Nominationsrecht 364f. Nonnenchor 183 numerus maximus (clausus)

296

Oblation, Opfergabe, 196f., 231, 241f., 250–252, 254, 261f., 264, 269–277 Oblationes sollemnes 261 Obödienz (oblei) 447 Opfer v Naturalien 267f., 274 Opfergang, Altarumgang 227, 272, 279

Ortsgemeinde

45f., 75, 435

Patronat 62–65, 104, 238, 362f. Geistlicher Patronat 362 Gemeindepatronat 130, 132, 399 Pension, Reservat, Vorbehalt des Amtsvorgängers am Pfründegut 374, 409, 454, 481 peregrinatio solemnis 341 persona, personaliter, inpersonaliter, sine persona 203–205, 207f., 211–216, 218, 220–223, 225f., 231–234, 236 Personalpfarrei 44, 174 Personalzehnt 255–258 personatus 204–209, 226, 228f., 231f., 235–237 Pfarrbuch, Gotteshausbuch 26 Pfarre, -hof, -land 13, 415, 417, 423, 429– 431, 433 Pfarreinetz 69f., 96–98 Pfarrerehe 445, 448 Pfarrerwahl 130f., 318, 391, 399 Pfarrhaus 136 Pfarrwitwen 448–485 – Unterhalt 465–470, 484 Pfarrwitwenhaus 452, 456, 462, 472, 484 Pfarrwitwenkasse 484 Pfarrzwang 285, 345f. Pfortenkapelle 181 (Zisterzienserkl) Pilger 323–357 – brief 323–357, 333f., 342–344 – oblation 330f., 341 – schutz 328f. – segen 329–332 – stab 324, 327, 329, 332 – tasche 324, 327, 329, 332 – zeichen 324 Präsentationsschreiben, Lehnbrief 362, 418f., 421f. Primiz 37, 273 proprius pastor, proprius sacerdos 79, 195f., 266f., 345f. Quindennien Ratswahl

37

313

503

Sachregister

Reichskammergericht 382 resignatio in favorem tertii 309f., 454f. Rosenobel 418 Rota, römische 294, 312 Scheffel, als Ackermaß 464 Send 53, 56, 123, 128, 131, 134, 145f., 165, 244 Sepultur 75, 262, 285 Simonie 419 Spolienrecht 64 Stola 253 Stolen, Stolgebühr 250, 253, 281–283 Strafwallfahrt 340, 348 strate, keyserlik, koniklich, fri 324, 343 Taufkirche 92f., 123, 292 Taufrecht 170 terminus 45f., 71, 75, (als Flur) 75, 158

terra, Besitzeinheit an der Unterelbe Urpfarrei

69f., 85–101, 151f.

vicarius perpetuus 239, 243 Vikar 192, 194, 219f., 224, 234, 243f. Vikarie 371 Visitation 22f. Visitationsregister 23 Vokation 283–286, 408 Wallfahrt 340 Witwenoktave 458 Zaun (Flecht-) 429 Zehnt 23, 64, 74, 75, 77, 255 Zehnttermination 71f., 74, 286 Zwölf Artikel der Bauern 318

134