Tyrannenbilder: Zur Polyvalenz des Erzählens von Tyrannis in Mittelalter und Früher Neuzeit 9783110752373, 9783110752250

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German Pages 536 [538] Year 2022

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Tyrannenbilder: Zur Polyvalenz des Erzählens von Tyrannis in Mittelalter und Früher Neuzeit
 9783110752373, 9783110752250

Table of contents :
Inhalt
Tyrannenbilder
I Tyrannenfiguren in normativen und narrativen Texten
Der Prototyp des Tyrannen und des Königs: Nimrod
Judith und Holofernes
Tyrann, Wüterich, Pharao – König Dacian und der heilige Georg im Spiegel christlichmittelalterlicher Herrschaftsentwürfe
Depravation des Herrschers: Zum hagiographischen Tyrannentypus in Hugos von Langenstein Martina
wuoterich, wuotgrimme, tiuvels man: Zur Figur des Tyrannen in der volkssprachigen Chronistik des 12. bis 14. Jahrhunderts
Gute Kaiser sterben, böse auch – nur anders
Das Winnen des Herrschers
Animalität und Inhumanität, Vergiftung und Zerspaltung
Vom erzählten Tyrannen
Tyrannis der Untätigkeit – zur Figur des Herrschers in Konrads von Würzburg Schwanritter und Heinrich von Kempten
Tyrann und Weiser
II Tyrannenbilder im politischen Konflikt
Der Tyrann bei Walahfrid Strabo – ein programmatisches Leitmotiv?
Si bienen die sie wolten – Invektiven gegen päpstliche Willkür in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts
Die Erfindung des Tyrannen?
Türkischer Kaiser – Turcorum Tyrannus
Der Tyrannei-Begriff als Argument in der Rechtspraxis des 16. Jahrhunderts
tyrannous / To vse it like a Giant: Polyvalent Perspectives on Tyranny in Shakespeare’s Measure for Measure
Tyrann oder Märtyrer? Die Polyvalenz der Tyrannis in Gryphius’ Leo Armenius
»The king can do as he likes!« – Tyrannenlust als Gegenwartsreflexion in Game of Thrones am Beispiel Joffrey Baratheons
III Begriffsgeschichtliche Ansätze in der Frühen Neuzeit
tirann und grosßer gewaltiger Herr: Der Begriff des ›Tyrannen‹ in Übersetzungen aus der Humanistenzeit
Martin Luther und die Wortfamilie ›Tyrann(ei)‹

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Tyrannenbilder

Tyrannenbilder

Zur Polyvalenz des Erzählens von Tyrannis in Mittelalter und Früher Neuzeit Herausgegeben von Julia Gold, Christoph Schanze und Stefan Tebruck

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung.

ISBN 978-3-11-075225-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075237-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-075247-2 Library of Congress Control Number: 2021950265 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Detail aus Ambrogio Lorenzetti: Allegoria del Cattivo Governo, Palazzo Pubblico, Siena (Public domain via Wikimedia commons) Satz: Christoph Schanze, Gießen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Tyrannenbilder Eine Einleitung | 1

I Tyrannenfiguren in normativen und narrativen Texten Hans-Joachim Schmidt  Der Prototyp des Tyrannen und des Königs: Nimrod | 21 Daria Norma Jansen  Judith und Holofernes Eine Tyrannenmörderin zwischen Skandalon und Ideal | 43 Christian Buhr  Tyrann, Wüterich, Pharao – König Dacian und der heilige Georg im Spiegel christlich-mittelalterlicher Herrschaftsentwürfe | 63 Elke Ukena-Best  Depravation des Herrschers: Zum hagiographischen Tyrannentypus in Hugos von Langenstein Martina | 83 Gesine Mierke  wuoterich, wuotgrimme, tiuvels man: Zur Figur des Tyrannen in der volkssprachigen Chronistik des 12. bis 14. Jahrhunderts | 109 Mathias Herweg  Gute Kaiser sterben, böse auch – nur anders Zur Narrativierung von Tyrannis in der Kaiserchronik | 127 Julia Gold  Das Winnen des Herrschers Überlegungen zum Erzählen vom wahnsinnigen Tyrannen Nero in der Kaiserchronik | 149 Marion Darilek  Animalität und Inhumanität, Vergiftung und Zerspaltung Zur Ambiguität idealer und tyrannischer Herrschaft am Beispiel des Straßburger Alexander und des Reinhart Fuchs  | 167

VI | Inhalt

Matthias Standke  Vom erzählten Tyrannen Das Bild Morolds im Tristanstoff des Mittelalters und der Frühen Neuzeit | 197 Thomas Poser  Tyrannis der Untätigkeit – zur Figur des Herrschers in Konrads von Würzburg Schwanritter und Heinrich von Kempten | 213 Michael Schwarzbach-Dobson  Tyrann und Weiser Verhandlungen über die Relation von Macht und Weisheit in historischen Exempeln des Mittelalters | 237

II Tyrannenbilder im politischen Konflikt Christian Stadelmaier  Der Tyrann bei Walahfrid Strabo – ein programmatisches Leitmotiv? | 257 Albrecht Dröse  Si bienen die sie wolten – Invektiven gegen päpstliche Willkür in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts | 297 Oliver Landolt  Die Erfindung des Tyrannen? Das Tyrannenbild der Habsburger im eidgenössischen und schweizerischen Geschichtsbild | 323 Markus Debertol  Türkischer Kaiser – Turcorum Tyrannus Zur Wahrnehmung des osmanischen Sultans am Kaiser- und Papsthof um 1500 | 355 Alexander Jendorff  Der Tyrannei-Begriff als Argument in der Rechtspraxis des 16. Jahrhunderts Politisch-soziale Stigmatisierung und juristische Figurierung anhand der Causa Wintzingerode 1575 | 367

Inhalt | VII

DS Mayfield  tyrannous / To vse it like a Giant: Polyvalent Perspectives on Tyranny in Shakespeare’s Measure for Measure With Remarks on Further Instances in His corpus, as well as on Machiavelli | 393 Giulia Frare  Tyrann oder Märtyrer? Die Polyvalenz der Tyrannis in Gryphius’ Leo Armenius Ein literaturhistorischer Blick auf die frühneuzeitliche Souveränitätsdebatte | 445 Till Nitschmann  »The king can do as he likes!« – Tyrannenlust als Gegenwartsreflexion in Game of Thrones am Beispiel Joffrey Baratheons | 463

III Begriffsgeschichtliche Ansätze in der Frühen Neuzeit Karl Gerhard Hempel  tirann und grosßer gewaltiger Herr: Der Begriff des ›Tyrannen‹ in Übersetzungen aus der Humanistenzeit | 489 Johannes Klaus Kipf  Martin Luther und die Wortfamilie ›Tyrann(ei)‹ | 515

Tyrannenbilder Eine Einleitung Wer sich ein Bild vom Tyrannen machen will, der ist mit einem Besuch des Palazzo Pubblico in Siena gut beraten. Dort zeichnet Ambrogio Lorenzetti an der Westwand der Sala dei Nove mit seiner Allegoria del Cattivo Governo (1338/1339) ein eindrucksvolles Bild von der schlechten Regierung und dem Herrscher, der sie ausübt.1 Auf dem Cover des vorliegenden Bandes kann man ihn betrachten: Die Augen sind verdreht, der Blick entrückt, die Mundwinkel heruntergezogen, aus ihnen ragen rechts und links überdimensionierte Reißzähne heraus, den dunklen, krausen Haaren entwachsen Hörner – so präsentiert das wohl berühmteste Fresko zum Thema die Figur des Tyrannen. Die zentral gesetzte Herrscherfigur, die als tyramnide(s?) ausgewiesen ist, thront inmitten acht personifizierter Laster und erscheint sowohl durch die Position innerhalb der Bildkomposition als auch durch ihre Größe herausgehoben; ihr Haupt umspielen avaritia, superbia und vana gloria.2 Vor ihr, unter dem Podest des Throns, liegt die gebundene iustitia; mit traurig-verzweifelter Mimik blickt sie auf die zerbrochene Waage neben ihr. Die Herrschaftsinsignien des Tyrannen sind der Dolch anstelle eines Zepters und der Kelch anstelle des Reichsapfels. Ein weiteres Fresko zeigt die Folgen der schlechten Regierung: Angst, Schrecken, Zerfall der städtischen Gebäude und der Infrastruktur sowie regellose Zustände, die in Mord und Totschlag kulminieren, beherrschen die Szenerie. Es scheint, als vereine der Tyrann alle Laster auf sich, wobei er durch Hörner und Eberzähne nicht nur animalische, sondern auch teuflische Züge trägt: Der Tyrann ›ist‹ der personifizierte Teufel. Wie intensiv man im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit über die Qualität von Herrschaftsformen, die Sicherung von Macht und Herrschaft sowie die Akteure, die Herrschaft ausüben und die die Ausübung von Herrschaft legitimieren, nachgedacht hat, zeigt sich sowohl in der ›gelehrten‹ Diskussion in der Latinitas als auch in den

|| 1 Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zu dem wohl prominentesten Freskenzyklus des Trecento seien zwei Titel genannt: NORMAN, DIANA: Love justice, you who judge the earth. The Paintings of the Sala dei Nove in the Palazzo Pubblico, Siena, in: DIES. (Hrsg.): Siena, Florence and Padua. Art, Society, and Religion 1280–1400, Bd. 2: Case Studies, New Haven 1995, S. 145–67; SCHMIDT, DAGMAR: Der Freskenzyklus Ambrogio Lorenzettis über die gute und schlechte Regierung. Eine danteske Vision im Palazzo Pubblico von Siena, Bamberg 2003. 2 Weitere personifizierte Laster sind crudelitas, proditio, fraus, furor und divisio. Die Laster haben ihr Pendant in den Tugenden der Allegoria del Buon Governo an der Nordwand der Sala dei Nove. – Zu Lasterpersonifikationen vgl. einführend EVANS, MICHAEL W.: Art. Laster, in: LCI, Bd. 3 (1971), Sp. 15–27, hier Sp. 23–25. Zu Lorenzettis Ikonographie der Laster vermerkt EVANS, es handele sich um »einen Zyklus bürgerlicher L[aster] ohne Vorläufer, neu sowohl im Aussehen als auch in der Bedeutung« (Sp. 24). https://doi.org/10.1515/9783110752373-001

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Volkssprachen an dem Umstand, dass das Thema in verschiedensten diskursiven Zusammenhängen präsent war: in der ›Gebrauchsliteratur‹ (Chroniken, Traktate, Fürstenspiegel), aber auch in erzählenden Texten, der Lyrik und dem Drama, und – wie das Lorenzetti-Beispiel zeigt – nicht zuletzt im Bild. Die epochale Eingrenzung auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, die der vorliegende Band vornimmt, ist mithin auch deshalb relevant, weil sich hier gesellschaftliche Leitvorstellungen, Wahrnehmungsmuster und Kommunikationsformen im Spannungsfeld von Tradition und Innovation neu formieren und ein breites Spektrum bis heute gültiger diskursiver Ausprägungen verfügbar machen. Das auf diesen Wegen vermittelte Wissen über gute und schlechte Herrschaft kristallisiert sich nirgends so deutlich heraus wie in der Auseinandersetzung mit der Figur des Tyrannen und dem Herrschaftskonzept der Tyrannis. Die Darstellung des Wesens des Tyrannen und seines Handelns bzw. der Funktionsweise der Tyrannis sowie deren Bewertung werden dabei in aller Regel aus einer Außenperspektive vorgenommen, womit bereits auf die Funktionalisierbarkeit und Instrumentalisierbarkeit der Begriffe ›Tyrann‹ und ›Tyrannis‹ verwiesen ist. Was gut oder schlecht, was lobens- oder tadelnswert ist, erfährt der Rezipient durch eine allgemeine Geltung beanspruchende Instanz. Systemtheoretisch gesehen, gründet die Polyvalenz der Tyrannis und des Tyrannen daher schon in der Beschreibung selbst: Die Unterscheidung von Fürst und Tyrann [...] hatte als ein Mechanismus der Anheizung von Konflikten und Rebellionen funktioniert; denn wer immer sich durch den Herrscher unrecht behandelt fühlte, konnte ihn als Tyrannen bezeichnen und sich damit das Recht geben, ihn zu be3 kämpfen.

Der »diskriminierende Charakter« der Kategorie ›Tyrannis‹ oder ›Tyrann‹ resultiert dabei aus der »Verschränkung normativ-praktischer und deskriptiv-empirischer Elemente«.4 In jedem Fall ist die Zuschreibung ›Tyrann‹ eine Aus- und Abgrenzungskategorie, die sowohl auf der Textebene als auch auf der Ebene der Rezeption eine ›wir gegen ihn‹-Konstellation evoziert und diese entsprechend der Intention dessen, der die ›Meinungshoheit‹ beansprucht, instrumentalisiert. Solche perspektivischen Strukturen, die den Texten eignen, lassen sich adäquat – so die Annahme, die diesem Band zugrunde liegt – mit dem Begriff der ›Polyvalenz‹ im Sinne einer ›Vieldeutigkeit‹ fassen, die der Herrschaftsform ›Tyrannis‹ und der sie ausübenden Person bzw. Figur (›Tyrann‹) spezifische Sinndimensionen einschreibt. Polyvalenz bedeutet dabei eben auch, dass die Begriffe eine konkrete Wertungstendenz besitzen, die mit Hilfe narrativer Strategien erzeugt, dabei freilich zugleich unterlaufen werden können.

|| 3 LUHMANN, NIKLAS: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3, Berlin 1993, S. 79. 4 Beide Zitate MANDT, HELLA: Art. Tyrannis, Despotie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6 (1990), S. 651–706, hier S. 651.

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Die Geschichtswissenschaften und die politische Theorie haben sich intensiv mit der Figur des Tyrannen beschäftigt.5 In der Forschung zur griechisch-römischen Antike und zum Mittelalter fokussierten die unterschiedlichen Fragestellungen vor allem die Königs- und Fürstenherrschaft.6 Aus der neueren Literatur seien exemplarisch die Studien von DAGMAR SCHMIDT (2016), HANS-JOACHIM SCHMIDT (2019) und GRISCHA VERCAMER (2020) sowie der von NIKOS PANOU und HESTER SCHADEE herausgegebene Sammelband über die »Evil Lords« (2018) angesprochen. Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie den narrativen Strategien bei der Darstellung von Königs- und Fürstenherrschaft nachgehen, hier unter anderem in der hoch- und spätmittelalterlichen Chronistik. So beschäftigt sich die Untersuchung von DAGMAR SCHMIDT mit der englischen Chronistik des 11.–15. Jahrhunderts, und dort mit den Berichten über die anglonormannischen Könige von Wilhelm I. (›dem Eroberer‹, 1066–1087) bis zu Heinrich III. (1216–1272).7 SCHMIDT arbeitet dabei historiographische Narrative heraus, die den Herrscher unter || 5 Aus den zahlreichen jüngeren Forschungsbeiträgen seien erwähnt: Grundlegend ALTHOFF, GERD: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; ferner UBL, KARL: Die Figur des Tyrannen. Herrscherkritik im Zeitalter Philipps des Schönen (1285–1314), in: KINTZINGER, MARTIN [u. a.] (Hrsg.): Gewalt und Widerstand in der politischen Kultur des späten Mittelalters, Ostfildern 2015 (Vorträge und Forschungen 80), S. 211–46; SARACINO, STEFANO: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli. Zur Genese einer antitraditionellen Auffassung politischer Gewalt, politischer Ordnung und Herrschaftsmoral, München 2012 (Humanistische Bibliothek I,62); JUCKER, MICHAEL: Der gestürzte Tyrann. Befriedung von Aufständen durch Gestik, Symbolik und Recht, in: RÜTHER, STEFANIE (Hrsg.): Integration und Konkurrenz. Symbolische Kommunikation in der spätmittelalterlichen Stadt, Münster 2009 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 21), S. 177–204; REXROTH, FRANK: Tyrannen und Taugenichtse. Beobachtungen zur Ritualität europäischer Königsabsetzungen im späten Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 278 (2004), S. 27–53; TURCHETTI, MARIO: Tyrannie et tyrannicide de l’Antiquité à nos jours, Paris 2001; VON HAEHLING, RABAN: Rex und Tyrannus. Begriffe und Herrscherbilder der römischen Antike, in: BAUMANN, UWE (Hrsg.): Basileus und Tyrann. Herrscherbilder und Bilder von Herrschaft in der Englischen Renaissance, Frankfurt a. M. [u. a.] 1999 (Düsseldorfer Beiträge aus Anglistik und Amerikanistik 8), S. 13–33; DE LIBERO, LORETANA: Die archaische Tyrannis, Stuttgart 1996. 6 Vgl. z. B. CORDES, LISA: Kaiser und Tyrann. Die Kodierung und Umkodierung der Herrscherrepräsentation Neros und Domitians, Berlin/Boston 2017 (Philologus-Supplemente 8); BÖNISCH-MEYER, SOPHIA [u. a.] (Hrsg.): Nero und Domitian. Mediale Diskurse der Herrscherrepräsentation im Vergleich, Tübingen 2014 (Classica Monacensia 46); SWOBODA, FALK: Kaiser und Tyrann: Tyrannentopik in den ›Panegyrici Latini‹, in: HAHN, JOHANNES/VIELBERG, MEINOLF (Hrsg.): Formen und Funktionen von Leitbildern, Stuttgart 2007 (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 17), S. 83–96; ZIMMERMANN, BERNHARD: Das Herrscherbild in der griechischen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., in: BAUMANN, UWE (Hrsg.): Basileus und Tyrann. Herrscherbilder und Bilder von Herrschaft in der Englischen Renaissance, Frankfurt a. M. [u. a.] 1999 (Düsseldorfer Beiträge aus Anglistik und Amerikanistik 8), S. 1–12; HANAGHAN, MICHAEL: Rufinus’ Bloody Pagan Tyrants, in: Vigiliae christianae 75 (2021), S. 22–42; für das Mittellateinische MEIER, CHRISTEL: Der rex iniquus in der lateinischen und volkssprachigen Dichtung des Mittelalters, in: ALTHOFF, GERD (Hrsg.): Heinrich IV., Ostfildern 2009 (Vorträge und Forschungen 69), S. 13–39. 7 Vgl. SCHMIDT, DAGMAR: The Measure of a King. Forging English Royal Reputations (1066–1272), Diss. Gießen 2014, online publiziert 2016 unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2016/11918/ (Abrufdatum: 16.04.2021).

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anderem als tyrannisch zeichnen. Das Reservoir für die Wertmaßstäbe der Chronisten liegt laut SCHMIDT in den normativen, moraltheologischen und didaktischen Texten der Zeit, wobei die Chronisten auch eigene, narrative Instrumente wählen, um stories und images, wie SCHMIDT es nennt, zu kreieren.8 Für Richard I. kann sie sogar zeigen, dass dieser selbst Einfluss auf die Entstehung und Verbreitung von Berichten über ihn nahm und gleichsam an der Modellierung seines eigenen Images mitwirkte. Skizzieren lassen sich so ganz dezidiert Herrscherbilder, die ›gemacht‹ sind und sich in ihrer Funktionalisierung beschreiben lassen. Die Arbeit von GRISCHA VERCAMER über Herrscherdarstellungen in der Chronistik des 12. und 13. Jahrhunderts im römisch-deutschen Reich, Polen und England berührt zwar nur am Rande die Tyrannen,9 doch erprobt sie mit ihrem Interesse an narrativen Strategien einen Pfad, der auch im hier vorliegenden Band beschritten wird. Gefragt wird nach dem Fürsten als Richter, Verwalter, Politiker, Gesetzgeber, Krieger, Repräsentanten und frommem Christen. Auch hier wird deutlich, dass die Chronisten ihre eigenen narrativen Verfahren entwickeln, um über Herrschaftsformen berichten und diese bewerten zu können. Sie sind deshalb durchaus mehr als nur Übersetzer normativer Vorstellungen und Rollenmodelle in ihre jeweiligen Erzählungen. Die Historiographen, das zeigt VERCAMER eindrücklich, folgen sehr unterschiedlichen, je eigenen Darstellungsinteressen, die abhängig von ihren Intentionen und Adressatenkreisen sind. Die Figur des Tyrannen begegnet in den von ihm untersuchten Texten als Motiv der Delegitimation, wenn etwa die polnischen Chronisten die Herrscherlegitimation der Herzöge Boleslaw III. (1102–1138) und Kasimir II. (1166–1194), die sich in den innerpiastischen Konflikten um die Herrschaftsanteile in Polen gegen ihre älteren Brüder durchsetzten, durch Abwertung ihrer Gegenspieler als Tyrannen zu bekräftigen suchten. Als drittes Beispiel aus der neueren geschichtswissenschaftlichen Forschung sei der Sammelband von NIKOS PANOU und HESTER SCHADEE genannt, der sich »Theorien und Repräsentationen von Tyrannei von der Antike bis in die Renaissance« hinein widmet.10 In Anlehnung an LEO STRAUSS sei »tyranny […] not a historical phase in political evolution but rather a condition that asserts itself at different times and in a variety of circumstances«.11 Die zwölf Beiträge dieses Bandes bieten einen Einblick in antike, mittelalterliche und frühneuzeitliche Debatten über Formen schlechter Herrschaft. Dabei wird die Entwicklung des europäischen Tyrannenbildes im Spannungsfeld von

|| 8 Vgl. SCHMIDT (Anm. 7), S. 340–94. 9 Vgl. VERCAMER, GRISCHA: Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung. Vorstellungen von ›guter‹ und ›schlechter‹ Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert, Wiesbaden 2020 (Deutsches Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien 37). 10 Vgl. PANOU, NIKOS/SCHADEE, HESTER (Hrsg.): Evil Lords. Theories and Representations of Tyranny from Antiquity to the Renaissance, New York/Oxford 2018. 11 PANOU, NIKOS/SCHADEE, HESTER: Introduction: Tyranny and Bad Rule in the Premodern West, in: DIES. (Hrsg.): Evil Lords. Theories and Representations of Tyranny from Antiquity to the Renaissance, New York/Oxford 2018, S. 1–10, hier S. 1.

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moralischen Wertevorstellungen und politischen Herrschaftskonzeptionen deutlich. Die Geschichte der »Evil Lords«, so die Herausgeber, könne dabei als universell und vielfältig zugleich beschrieben werden.12 Schließlich ist auf die 2019 erschienene Monographie von HANS-JOACHIM SCHMIDT über »Herrschaft durch Schrecken und Liebe« zu verweisen.13 SCHMIDT geht es zwar nicht in erster Linie um narrative Darstellungen von Herrschaft, und auch der Tyrann steht nicht im Mittelpunkt seiner Studie, doch setzt er neue Akzente in der geschichtswissenschaftlichen Debatte über gute und schlechte Herrschaft in der Vormoderne, indem er die Bedeutung von Begriffen aus dem Bereich der Emotionen – Liebe und Schrecken – für die Beschreibung, Bewertung und Normierung von guter Königs- und Fürstenherrschaft herausarbeitet. Dabei stützt er sich auf ein breites Spektrum von narrativen, didaktischen, philosophischen und theologischen Texten von der Antike bis ins späte Mittelalter und berührt so auch den Tyrannen als illegitimen Herrscher.14 Für die germanistische Mediävistik lassen sich sprachhistorische und genuin literaturwissenschaftliche Untersuchungen benennen, die das weite Feld der Frage von Macht und Herrschaft beleuchten. Bislang existieren jedoch nur wenige Arbeiten, die danach fragen, wie der Tyrann ins Deutsche ›hineinkommt‹, wie sich der Begriff etabliert und auf welche Weise er semantisiert werden kann.15 Auch fehlen größere Arbeiten zur Figur des Tyrannen. Ertragreiche Einzelstudien haben BASTERT16 und

|| 12 Vgl. PANOU/SCHADEE (Anm. 11), S. 10. 13 Vgl. SCHMIDT, HANS-JOACHIM: Herrschaft durch Schrecken und Liebe. Vorstellungen und Begründungen im Mittelalter, Göttingen 2019 (Orbis mediaevalis 17). 14 Vgl. ebd., S. 293–325. Vgl. auch den Beitrag von DEMS. im vorliegenden Band. 15 Vgl. MANDT (Anm. 4); KIPF, JOHANNES KLAUS: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses in die deutsche Sprache und Literatur (14.–17. Jahrhundert), in: KÄMPER, HEIDRUN/KILIAN, JÖRG (Hrsg.): Wort – Begriff – Diskurs. Deutscher Wortschatz und europäische Semantik, Bremen 2012 (Sprache – Politik – Gesellschaft 7), S. 31–48. – Für das humanistische Schrifttum haben LUDWIG, WALTHER: Der Ritter und der Tyrann. Die humanistischen Invektiven des Ulrich von Hutten gegen Herzog Ulrich von Württemberg, in: Neulateinisches Jahrbuch 3 (2001), S. 103–16, und HUFNAGEL, BIANCA: Ein Tyrann in teutzschen landen als Catilina in der Unterwelt. Fünf Reden und ein Totengespräch als verdoppeltes Kampfmittel und als Begründer des (literarischen) Diskurses über Tyrannei bei Ulrich von Hutten, in: AL-TAIE, YVONNE [u. a.] (Hrsg.): Kollision und Devianz. Diskursivierungen von Moral in der Frühen Neuzeit, Berlin [u. a.] 2015 (Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit 3), S. 121–44; HUFNAGEL, BIANCA: auß der vrsach das du ein Tyrann bist. Die verkehrte Welt des lukianischen Totengespräches als politisches Kampfmittel bei Ulrich von Hutten, in: Daphnis 41 (2012), S. 1–69, am Beispiel Ulrichs von Hutten spezifische Tendenzen bei der Verwendung des Begriffs ›Tyrann‹ herausgearbeitet. Auch wurde darauf hingewiesen, dass dem Terminus ›Tyrann‹ vor allem im Zuge des Protestantismus neue Semantiken erschlossen werden; zu nennen wären hier die Bezeichnung des Papstes als Tyrann und die spezifische Wortverwendung bei Luther. Vgl. dazu MANDT (Anm. 4) und KIPF. 16 Vgl. BASTERT, BERND: Die Autorität des Tyrannen. Zum spätmittelalterlichen Interesse am Reinolt von Montelban, in: GOSMAN, MARTIN [u. a.] (Hrsg.): The Growth of Authority in the Medieval West. Selected Proceedings of the International Conference Groningen 6–9 November 1997, Groningen 1999 (Mediaevala Groningana 25), S. 193–212.

6 | Tyrannenbilder WITTMANN17 für die Chanson de geste sowie DEININGER18 für den mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot vorgelegt. Weitere Einzelstudien finden sich bei JANKRIFT [u. a.]19 sowie bei KELLNER/HÖFELE.20 Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier vor allem der Körper des Herrschers und die damit verbundene Demonstration von Macht, aber auch die Frage nach den literarischen Strategien, mit denen der Angst vor Tyrannen begegnet wird. Einen anderen Fokus setzt die Studie FREIENHOFERs; sie beschäftigt sich mit Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts.21 Den Affekt des Zorns22 ins Zentrum der Konzeptualisierung von Macht und Herrschaft zu stellen, liegt nahe, gehört er doch – neben anderen – zum traditionellen Reservoir der Beschreibung des Tyrannen.23 Neuerdings liegen zudem thematisch übergreifende Sammelbände vor, die aus dem Bonner SFB »Macht und Herrschaft« hervorgegangen sind und sich zentralen Fragen wie der Textualität von Macht und Herrschaft24 sowie für den thematischen Schwerpunkt einschlägigen Texten (etwa der Kaiserchronik)25 widmen. Schließlich lässt sich auch für den Bereich der Barockforschung eine Akzentuierung des Tyrannen ausmachen. Diese liegt darin begründet, dass die Figurenkonstella-

|| 17 Vgl. WITTMANN, VIOLA: Adel im Konflikt. Narrative Potentiale in spätmittelalterlicher Chanson de geste-Adaptation. Studien zum deutschen Malagis, Göttingen 2017 (Historische Semantik 27). 18 Vgl. DEININGER, ANN-KATHRIN: Könige. Konzeptionen von Herrschaft im Prosalancelot, Göttingen 2019 (Studien zu Macht und Herrschaft 3). 19 Vgl. JANKRIFT, KAY PETER [u. a.] (Hrsg.): Natur und Herrschaft. Analysen zur Physik der Macht, Berlin/Boston 2016, hier vor allem die Beiträge von KAGERER, ALEXANDER: Altes und frisches Blut. Genealogische Konstruktionen von Macht unter Habsburgern und Fuggern im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, S. 137–85, und (mit neugermanistischem Schwerpunkt) BACH, OLIVER: Staat und Natur. Zu Bartolus’ de Sassoferrato Bestimmungen von guter Regierung und Tyrannei, S. 115–36. 20 Vgl. KELLNER, BEATE/HÖFELE, ANDREAS (Hrsg.): Menschennatur und politische Ordnung, Paderborn 2016, in diesem Band vor allem die Beiträge von KELLNER, BEATE: Kaiser und Papst. Verkörperungen von Herrschaft im Übergang vom Spätmittelalter in die Frühe Neuzeit, S. 153–76, und WALTENBERGER, MICHAEL: Wortgewaltige Wolfsvernichtung. Aspekte des Politischen im lateinischen Ysengrimus (um 1150), S. 95–115. 21 Vgl. FREIENHOFER, EVAMARIA: Verkörperungen von Herrschaft. Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2016 (TMP 32). 22 Vgl. dazu GRUBMÜLLER, KLAUS: Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nît und haz, in: JAEGER, C. STEPHEN/KASTEN, INGRID (Hrsg.): Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, Berlin/New York 2003 (TMP 1), S. 47–69; ferner ANSORGE, CLAUDIA [u. a.] (Hrsg.): Gewaltgenuss, Zorn und Gelächter. Die emotionale Seite der Gewalt in Literatur und Historiographie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 2015. 23 Dass Zorn freilich ebenso gut eine Herrschertugend sein kann und für den Heros im Kampf nachgerade Voraussetzung für einen siegreichen Ausgang desselben ist, zeigt einmal mehr die kontextuelle Abhängigkeit bei der Bewertung von (literarisch) inszenierten Affekten. 24 Vgl. ALBERT, MECHTHILD [u. a.] (Hrsg.): Textualität von Macht und Herrschaft. Literarische Verfahren im Horizont transkultureller Forschungen, Göttingen 2020 (Macht und Herrschaft 7). 25 Vgl. BRÜGGEN, ELKE (Hrsg.): Erzählen von Macht und Herrschaft. Die Kaiserchronik im Kontext zeitgenössischer Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung, Göttingen 2019 (Macht und Herrschaft 5).

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tion ›Tyrann vs. Märtyrer‹ im Barock (vor allem im Barockdrama) Konjunktur hat,26 wobei die Grenzen zwischen beiden nicht immer eindeutig gezogen werden können. Grundlegend für die Herausarbeitung der dramatischen Figurengestaltung ist die einschlägige Studie BENJAMINs,27 doch lässt sich die spezifische Konstellation bis zu antiken Exempla zurückverfolgen. Der vorliegende Band ist einer inter- und transdisziplinären Perspektive auf das Tyrannis-Narrativ verpflichtet. Angenommen wird, dass die Verzahnung von literatur- und geschichtswissenschaftlichen Beiträgen besonderen Gewinn verspricht, da sie die »Auslegungen, Umdeutungen, Tabuisierungen, Negationen und Renaissancen«28 in Mittelalter und Früher Neuzeit historisch kontextualisiert offenzulegen vermag. Dem Herrschaftsmodell der Tyrannis wird im Zeitraum vom 9. bis zum 17. Jahrhundert in seinen polyvalenten Formen und Funktionen nachgegangen, wobei ein Schwerpunkt auf dem 12. und 13. Jahrhundert liegt. Beide Disziplinen gehen seit Längerem bei ihrem Zugriff auf Texte von der narratio aus, die sinnstiftend ist; dabei wird von spezifischen textuell realisierten Kommunikationssituationen für ebenso spezifische anvisierte Rezipienten(gruppen) ausgegangen.29 Die Termini ›Tyrann‹/›Tyrannis‹ können dementsprechend auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive als Narrativ funktionieren, das immer dann in Texten aller Art (Historiographie, normative Texte, Unterweisung, Predigt und ähnliches) aufgerufen wird, wenn Praktiken der Herrschaft oder bestimmte Herrschafts- und Amtsträger delegitimiert werden sollen.30 Der Begriff des Narrativs bringt insofern gut zum Ausdruck, dass stets ein ganzes Bündel von Zuschreibungen und Wertungen zur Verfügung steht, das je nach Bedarf eingesetzt werden kann. Der Band fragt dementsprechend nach der ›Polyvalenz des Erzählens‹, also nach den Narrativen und narrativen Verhandlungen, die bemüht werden, um über Tyrannen und über die Tyrannis zu schreiben. ›Narrativ‹ und ›narrative Inszenierung‹ erscheinen dabei nicht nur als Bindeglieder

|| 26 Vgl. dazu z. B. KOSCHORKE, ALBRECHT: Märtyrer/Tyrann, in: KAMINSKI, NIKOLA/SCHÜTZE, ROBERT (Hrsg.): Gryphius-Handbuch, Berlin/Boston 2016, S. 655–67, und NIEFANGER, DIRK: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 1495–1773, Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur 174), hier vor allem S. 120–24. 27 Vgl. BENJAMIN, WALTER: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hrsg. von ROLF TIEDEMANN, rev. Ausg., 13. Aufl., Frankfurt a. M. 2018 [zuerst 1925] (stw 225), hier vor allem S. 40–80. 28 MANDT (Anm. 4), S. 651. 29 Vgl. dazu etwa NÜNNING, VERA: Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie, in: KRÄUSSLICH, HANS GEORG/SCHLUCHTER, WOLFGANG (Hrsg.): Vierter Jahresbericht des Marsilius-Kollegs (2011/2012), Heidelberg 2012, S. 87–104, hier S. 91, und NOIRIEL, GÉRARD: Die Wiederkehr der Narrativität, in: EIBACH, JOACHIM/LOTTES, GÜNTHER (Hrsg.): Kompaß der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 355–70. 30 Die Bandbreite der Verwendung des Tyrannen-Narrativs reicht dabei von der Ablehnung der Praxis der Kloster- und Kirchenvogtei (seit dem 11. Jahrhundert) über die Kritik an geistlichen und weltlichen Amtsträgern bis hin zum Widerstand gegen einen Herrscher; siehe dazu die in Anm. 5, 13 und 14 genannte Literatur. Zur Klostervogtei zuletzt ANDERMANN, KURT/ BÜNZ, ENNO (Hrsg.): Kirchenvogtei und adlige Herrschaftsbildung im europäischen Mittelalter, Ostfildern 2019 (Vorträge und Forschungen 86).

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zwischen den Disziplinen, sie sind auch Schlüsselbegriffe, die besonders geeignet sind, das komplexe Phänomen ›Tyrannis‹ und die Figurationen derselben zu analysieren und zu deuten. Der narrative Duktus und die Perspektivierungen, die den Texten eingeschrieben sind, mithin die Uneindeutigkeiten und Brüche innerhalb des Präsentierten – seien sie terminologisch, inhaltlich oder formal – sind hier von Interesse. Die für den Titel des Bandes gewählten ›Tyrannenbilder‹ wollen dabei zum einen auf die mediale Konstruiertheit des Herrschers als Tyrann verweisen, folglich auf das Bild, das mit Hilfe von Sprache und Literatur inszeniert wird,31 zum anderen auf die Rezeptionslenkung durch die Verwendung des Begriffs ›Tyrann‹ und auf das Bild, das sich der Rezipient durch das Medium des Textes von der Sache, der Person oder der Figur macht. Ein kurzer historischer Abriss antiker und mittelalterlicher Positionen, der notwendig schlaglichtartig ausfallen muss, mag bereits demonstrieren, mit welchen Inhalten der Terminus ›Tyrann‹ gefüllt werden konnte und welche epochenübergreifenden Parameter damit zur Verfügung standen. Kursorisch aufgezeigt werden einige besonders einschlägige Beispiele, die für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Auseinandersetzung einflussreich waren. Mit dem Terminus ›Tyrann‹, der zunächst ganz allgemein den Herrscher bezeichnete,32 existiert bereits seit griechisch-antiker Zeit ein Ausdruck für den »Alleinherrscher«, der als »Kampfbegriff [...] gegen die Selbstüberhebung eines einzelnen«33 dient. Was einen Tyrannen zu einem solchen macht, darüber bestand spätestens seit der lateinischen Antike in vielen Punkten Einigkeit: Als Tyrann galt der Herrscher, der, nur auf den eigenen Vorteil bedacht, seine persönlichen Begierden hemmungslos auslebt und dabei vor keiner Schändlichkeit und Gewalttat zurückschreckt. Das Gemeinwohl interessiert ihn nicht; vielmehr ist er bestrebt, mögliche Gegner als solche zu identifizieren und sie umstandslos zu eliminieren, um seine Herrschaft zu sichern.34 Schon Aristoteles beschreibt daher die Differenz zwischen Tyrann und ›gutem‹ bzw. ›rechtem‹ Herrscher mit Hilfe einer »Entartungsrelation«35 (Politik, IV,2). Je mehr der Herrscher seinen Willen über die Gesetze stellt und zu seinem alleinigen Nutzen

|| 31 Wir gehen, wie in der Mediävistik üblich, von einem weiten Literaturbegriff aus. 32 Vgl. MIETHKE, JÜRGEN: Art. Tyrann, -enmord, in: LexMA, Bd. 8 (1997), Sp. 1135–38, hier Sp. 1135. 33 Beide Zitate UBL, KARL: Art. Tyrannen, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 13 (2010), Sp. 1090–94, hier Sp. 1090. 34 Vgl. etwa bereits Platon (Politeia, 567a). Dass der Tyrann allen Grund hat, die von ihm Unterdrückten, die mithin seine potenziellen Gegner sind, argwöhnisch zu beäugen, ist bis in die neueste Kinderund Jugendbuchliteratur ein wiederkehrendes Motiv, so etwa in den Harry Potter-Büchern J. K. Rowlings: Dumbledore: Harry! Don’t you see? Voldemort himself created his worst enemy, just as tyrants everywhere do! Have you any idea how much tyrants fear the people they oppress? All of them realise that, one day, amongst their many victims, there is sure to be one who rises against them and strikes back! Benutzte Ausgabe: ROWLING, J. K.: Harry Potter and the Half-Blood Prince, London 2005, S. 602. 35 MIETHKE (Anm. 32), Sp. 1135.

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herrscht, desto mehr ist er ein Tyrann (Politik, IV,10 und V,10). Dabei ist er rein affektoder bedürfnisorientiert: »Das Ziel, das sich der Tyrann setzt, ist Lustbefriedigung, das des Königs dagegen richtiges Handeln« (V,10, 1311a 5f.).36 Tyrannis ist dementsprechend die schlechteste aller möglichen Verfassungen (Politik, IV,2 und IV,8), die »schlechteste Politeia überhaupt«.37 Damit entwirft Aristoteles eine »Theorie von allgemeiner und vollkommener politischer Unordnung«,38 mit der im Gegenzug auch die vollkommene Ordnung und die vollkommene Herrschaft erkannt werden können.39 Cicero vermerkt, dass dieser Gewaltherrscher nur noch das Aussehen eines Menschen besitzt, ansonsten aber an Grausamkeit sogar die wildesten Tiere übertrifft: Qui quamquam figura est hominis, morum tamen inmanitate vastissimas vincit beluas (De re publica, 2,48).40 Der tyrannische Herrscher erscheint als depraviert und der Besserung unfähig. Der mittelalterliche Tyrannendiskurs knüpft an die antike Diskussion an, die zunächst nur über die Kirchenväter rezipiert wird, und führt sie in spezifischer Weise weiter. So formulieren beispielsweise Augustinus, Isidor von Sevilla, Johannes von Salisbury oder Thomas von Aquin je eigene Definitionen für den Typus des Tyrannen und seine Herrschaft.41 Augustinus bemerkt im Anschluss an Cicero, der Tyrann sei ein rex iniustus, der gegen die Rechtsgleichheit und das Gemeinwohl handele und so den Staat zum Nicht-Staat werden lasse (De civitate Dei, II,21).42 Der Staat solle ein »Interessenbündnis zum Vorteil seiner Bürger«43 sein. Um dies zu erreichen, rücken christlich-ethische Grundwerte (pax, iustitia, caritas und pietas) ins Zentrum, die Augustinus in einer fürstenspiegelartigen Zusammenschau als Werte der christlichen Kaiser formuliert, die felices zu nennen seien (De civitate Dei, V,24). Zugleich zeigt sich, wie sehr die Tyrannen diese Werte konterkarieren.

|| 36 Benutze Ausgabe: Aristoteles: Politik. Buch IV–VI, übers. und eingel. von ECKART SCHÜTRUMPF. Erl. von DEMS. und HANS-JOACHIM GEHRKE, Berlin 1996 (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung 9,3). 37 KAMP, ANDREAS: Die aristotelische Theorie der Tyrannis, in: Philosophisches Jahrbuch 92 (1985), S. 17–34, hier S. 17. 38 Ebd., S. 18. 39 Recht optimistisch bemerkt Aristoteles anhand historischer Beispiele, dass in der Vergangenheit häufiger als in der Gegenwart Tyrannen an die Macht gekommen seien (Politik, V,5). 40 Benutzte Ausgabe: Marcus Tullius Cicero: De re publica/Der Staat. Lateinisch – Deutsch, hrsg. und übers. von RAINER NICKEL, Mannheim 2010 (Sammlung Tusculum). Schon Platon bemüht den Tiervergleich, indem er den Tyrannen dadurch charakterisiert, dass der Mensch zum Wolf wird (Politeia, 8, 566a). Benutzte Ausgabe: Platon: Der Staat/Politeia. Griechisch – Deutsch, Übers. von RÜDIGER RUFENER, Einführung, Erläuterungen, Inhaltsübersicht und Literaturhinweise von THOMAS ALEXANDER SZLEZÁK, Düsseldorf/Zürich 2000 (Sammlung Tusculum). 41 Einen knappen Überblick über die antiken und mittelalterlichen Positionen bieten MIETHKE (Anm. 32) und MANDT (Anm. 4). 42 Benutzte Ausgabe: S. Aurelii Augustini Hipponensis episcopi: De Civitate Dei, PL 41, hier 66–69. 43 HORN, CHRISTOPH: Politische Gerechtigkeit bei Cicero und Augustinus, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2 (2002), S. 181–204.

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Isidor von Sevilla vermittelt dem Mittelalter ein differenziertes Bild antiken Wissens, wenn er anmerkt, dass der Tyrann zunächst identisch mit dem König gewesen sei, besonders tapfere Könige aufgrund der Etymologie von ›Tyrann‹ (tiro = »Held« bedeute fortis = »tapfer«) sogar so genannt worden seien. In Abgrenzung zum idealen Herrscher markiert er den Tyrannen dann in seiner Entwicklung als »schlechtesten und ruchlosesten König[]«, der »die Begierde nach verschwenderischer Herrschaft und eine höchst grausame Macht über das Volk austobe[]« (Etymologiae, IX,3,20).44 Isidors Ausführungen und sein Hinweis darauf, dass es üblich wurde, einen König so zu bezeichnen, machen deutlich, dass es sich nicht um eine Selbstbezeichnung, sondern um eine Zuschreibung handelt. Zugleich benennt er zwei Charakteristika des Tyrannen, die auch innerhalb der textuellen Verhandlungen immer wieder begegnen werden: Gier (cupiditas) und Grausamkeit (crudelitas). Eine pointierte Definition für den Tyrannen liefert Johannes von Salisbury, der wohl wichtigste Tyrannentheoretiker um die Mitte des 12. Jahrhunderts, in der Staatsund Gesellschaftstheorie seines ursprünglich als Fürstenspiegel konzipierten Policraticus: Est ergo tirannus, ut eum philosophi depinxerunt, qui violenta domination populum permit, sicut qui legibus regit princeps est (VIII,17,1: »Nach der Darstellung bei den Philosophen ist der Tyrann jemand, der durch seine gewalttätige Zwangsherrschaft das Volk unterdrückt, so wie der ein Fürst ist, der aufgrund von Gesetzen herrscht«).45 Um den Unterschied zwischen guter und schlechter Herrschaft zu beschreiben, bedient sich Johannes einer anschaulichen Körpermetaphorik, die er dem religiös-klerikalen Bereich entlehnt: Der Herrscher ist das Haupt des Staatskörpers, seine Untertanen sind die Glieder, und beide stehen in Wechselwirkung zueinander und affizieren sich gegenseitig.46 In harmonischem Miteinander sichern sie das Gemeinwohl. Alle Glieder sind dabei auf bestimmte Tugenden hin festgelegt, wobei der Herrscher als von Gott erwählt die vier Kardinaltugenden in sich vereint. Missachtet der Herrscher diese

|| 44 Iam postea in usum accidit tyrannos vocari pessimos atque inprobos reges, luxuriosae dominationis cupiditatem et crudelissimam dominationem in populis exercentes. Benutzte Ausgabe: Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum, libri XX. 2 Bde., hrsg. von WALLACE MARTIN LINDSAY, Oxford 1911. Die Übersetzung folgt: Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, übers. und mit Anm. vers. von LENELOTTE MÖLLER, Wiesbaden 2008, S. 342. 45 Benutzte Ausgabe: Johannes von Salisbury: Policraticus. Eine Textauswahl. Lateinisch – Deutsch, ausgew., übers. und eingel. von STEFAN SEIT, Freiburg i. Br. [u. a.] 2008 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 14). 46 Vgl. dazu grundlegend STRUVE, TILMAN: Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, Stuttgart 1978 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 16). Zur Übertragung des Modells im Bereich der höfischen Literatur vgl. unter anderem GEROK-REITER, ANNETTE: Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers. Konstruktionsbedingungen höfischer Idealität am Beispiel des Rolandsliedes, in: HUBER, CHRISTOPH/LÄHNEMANN, HENRIKE (Hrsg.): Courtly Literature and Clerical Culture. Höfische Literatur und Klerikerkultur. Littérature courtoise et culture cléricale. Selected papers from the Xth Triennial Congress of the International Courtly Literature Society, Universität Tübingen, Deutschland 28. Juli–3. August 2001, Tübingen 2002, S. 77–92.

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Tugenden, erweist er sich als Tyrann; Willkür und Rechtlosigkeit sind die Folge. Um den kranken Körper zu heilen, ist es nötig, den krankheitsauslösenden Teil zu entfernen: Das Haupt muss abgeschlagen werden.47 Dass ein Kleriker die Tötung eines Herrschers billigt und sogar empfiehlt, erscheint spektakulär.48 Legitimiert wird sie mit der Bibel, nämlich am Beispiel Judiths. Eine Ausnahme stellt die Tötung des Tyrannen durch seine Vasallen dar, gegen die sich Johannes explizit ausspricht, seien diese dem Herrscher doch vertraglich verpflichtet. Biblisch belegt sieht er dies bei David und Saul. Dezidiert beantwortet Johannes damit die Frage, wer töten darf und wer nicht.49 Angelegt sind in seinem Werk folglich zwei Möglichkeiten, auf den Tyrannen zu reagieren: die des ›Beseitigens‹ und die des ›Erduldens‹. Doch ganz gleich, welche Ursache für die Existenz des Tyrannen angenommen und wie auf ihn reagiert wird: Die Tyrannei ist eine Krankheit, die für den Tyrannen selbst stets tödlich endet. Als ein markantes Beispiel für die produktive Rezeption aristotelischer Texte im 13. Jahrhundert in Hinblick auf eine Theorie von guter und schlechter Herrschaft50 kann Thomas von Aquin gelten, der den Tyrannen durch Willkür und Verstandlosigkeit ausgezeichnet sieht (De regno ad regem Cypri, I,3).51 Der Tyrann wird zum Tier: || 47 Es sei darauf hingewiesen, dass auch die Glieder erkranken können und infolgedessen ein krankes Haupt erzeugen. Der tyrannische Herrscher ist dann nach Johannes als Strafe Gottes zu deuten, der als Erziehungsmaßnahme für ein ›krankes‹ Volk fungiert. Handelt es sich beim Tyrannen um eine göttliche Strafe, so ist damit eine Einschränkung angesprochen, bei der Johannes die Legitimität des Tyrannenmordes nicht gegeben sieht. 48 Vgl. dazu NEDERMAN, CARY J.: A Duty to Kill. John of Salisbury’s Theory of Tyrannicide, in: Review of Politics 50 (1988), S. 365–89. 49 Allgemein zum Widerstandsrecht vgl. unter anderem DILCHER, GERHARD: Widerstandsrecht, in: HRG, Bd. 5 (1998), Sp. 1351–64; MIETHKE, JÜRGEN: Widerstand/Widerstandsrecht, in: TRE, Bd. 35 (2003), S. 739–50; HILLGRUBER, MICHAEL: Nulla est enim societas nobis cum tyrannis. Die antiken Bemühungen um eine Rechtfertigung des Tyrannenmordes. Mit einem Ausblick auf ihre Nachwirkung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Toruń 2004 (Xenia Toruniensia 8). 50 Vgl. SCHMIDT, HANS-JOACHIM: König und Tyrann. Das Paradox der besten Regierung bei Thomas von Aquin, in: BURGARD, FRIEDHELM [u. a.] (Hrsg.): Liber amicorum necnon et amicarum für Alfred Heit. Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte und geschichtlichen Landeskunde, Trier 1996 (Trierer Historische Forschungen 28), S. 339–57, hier S. 340: Nunmehr war es möglich, »auch Gesichtspunkte hervorzukehren [...], die dem guten Leben im Diesseits, dem bene vivere, einen großen Stellenwert einräumten, es sogar zum Ziel jeder Form des menschlichen Zusammenlebens und damit jeglicher Form von Herrschaftsausübung erhoben«. 51 Benutzte Ausgabe: Sancti Thomae de Aquino opera omnia. Tomus XLII. Iussu Leonis XIII P.M. edita. Cura et studio fratrum praedicarorum, Rom 1979 (Editio Leonina), S. 417–71. Grundlegend zu Thomas’ Tyrannenbild SCHMIDT (Anm. 50), S. 339–57; zum Werk und seinen politischen Implikationen vgl. unter anderem MIETHKE, JÜRGEN: Die Schrift des Thomas von Aquin De regno ad regem Cypri, in: SCHÖNBERGER, ROLF (Hrsg.): Die Bestimmung des Menschen und die Bedeutung des Staates. Beiträge zum Staatsverständnis des Thomas von Aquin, Baden-Baden 2017 (Staatsverständnisse 103), S. 31–49; ferner UBL, KARL: The Concept of princeps in Late Medieval Political Thought. A Preliminary Survey, in: HUTHWELKER, THORSTEN [u. a.] (Hrsg.): Princely Rank in Late Medieval Europe. Trodden Paths and Promising Avenues, Ostfildern 2011 (Politisch-soziale Ordnungen im mittelalterlichen Europa 1), S. 259–80, hier S. 271–74.

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quia homo absque ratione secundum animi sui libidinem presidens nichil differt a bestia (I,3; »ein Mensch, der, fern von den Erwägungen der Vernunft, nur nach der Willkür seines Gemütes die Herrschaft führt, unterscheidet sich in nichts von einem wilden Tier«).52 Der Herrscher ist dabei nicht allein den göttlichen Geboten unterworfen, sein Tun wird zugleich auch dahingehend bewertet, inwieweit es dem Gemeinwohl dient. Während gute Herrschaft den von Natur aus nach Gemeinschaft strebenden Menschen zur Vollendung bringt, läuft die Tyrannis der »humanen Existenz grundsätzlich entgegen«.53 Damit werden letztlich auch die Beherrschten zu Tieren.54 Die hier angeführten Punkte sind nur einige wenige Positionen, die den normativen Rahmen skizzieren, innerhalb dessen sich die Diskursivierungen von Tyrann und Tyrannis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit entfalten. Stützen können sich die textuellen Verhandlungen folglich auf ein breites Wissen, das traditionell verankert ist und sich vermittelt über die lateinische (und griechische) Gelehrtenkultur als normativ und nach rhetorischen Standards modellierbar ausweist. Sowohl inhaltlich als auch formal steht damit ein Beschreibungsinventar für die Figur des Tyrannen und die Herrschaftsform der Tyrannis zur Verfügung, das jedoch ganz unterschiedlich eingesetzt werden kann. An diesem Punkt setzen die Beiträge des vorliegenden Bandes an, stets im Bewusstsein, dass das Wort ›Tyrannis‹ gemeinhin als »Fundamentalbegriff der politischen Sprache« gilt und seit der Antike »eine reichhaltige Bandbreite an Bedeutungen und Sinnhorizonten hervorgebracht«55 hat. Diese Bandbreite, welche die oben genannte, programmatische Polyvalenz indiziert, konkret für die Tyrannenfigur zu erfassen und mit Blick auf die damit verbundenen Funktionalisierungen zu beschreiben, stellt indes einen neuen Ansatzpunkt dar. Im Zentrum der Betrachtung stehen die Multifunktionalität und Polyvalenz der Narrative ›Tyrann‹ und ›Tyrannis‹ bzw. eines Erzählens von Tyrannis, das in einem reziproken Verhältnis zu je spezifischen Ordnungssystemen und diskursiven Rahmungen angesiedelt ist und sich besonders gut anhand der Figur des Tyrannen selbst und den mit ihr verbundenen Zuschreibungen untersuchen lässt. Ausgehend von der Prämisse, dass das heuristische Potential, das in einer genauen Analyse der Figur des Tyrannen liegt, bisher (insbesondere in den Literaturwissenschaften) nur unzureichend ausgeschöpft wurde, wollen die Beiträge eruieren, welches Wissen vom Tyrannen tradiert und wie es narrativ fruchtbar gemacht wird. Dabei wird insbesondere danach gefragt, welche Modi des Erzählens relevant sind und welche gattungs- und epochenübergreifenden Kontinuitäten sich beschreiben lassen.

|| 52 Die Übersetzung folgt der Ausgabe: Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten, Übers. von FRIEDRICH SCHREYVOGL, Rev. und Nachw. von ULRICH MATZ, Stuttgart 1971, hier S. 24. 53 SCHMIDT (Anm. 50), S. 344. 54 Vgl. ebd. 55 Beide Zitate SARACINO (Anm. 5), S. 11.

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Die Fallstudien des vorliegenden Bandes loten das breit angelegte Spektrum der textuellen Verhandlungen aus; sie zeigen zudem die Querverbindungen zwischen Epochen, Gattungen und Diskursen auf. Im Mittelpunkt steht die historisch kontextualisierte Verwendung der Narrative ›Tyrannis‹ und/oder ›Tyrann‹ in Texten aus dem Hochmittelalter und der Frühen Neuzeit, mit Seitenblicken auf antike und frühmittelalterliche Texte. Das Spektrum der Beiträge wird abgerundet durch einen Ausblick auf die moderne Rezeption und Reflexion der Thematik. Der erste Abschnitt widmet sich T y r a n n e n f i g u r e n i n n o r m a t i v e n u n d n a r r a t i v e n T e x t e n , wobei die behandelten Texte je einen Tyrannen ins Zentrum stellen. Vier Beiträge (Schmidt, Jansen, Buhr und Ukena-Best) befassen sich mit der biblischen und hagiographischen Tradition, deren mehr oder weniger konkrete Vorgaben die epische und lyrische Literarisierung beeinflussen. H a n s - J o a c h i m S c h m i d t skizziert die wechselvolle Umwertung des alttestamentlichen Königs Nimrod (Gen 10,9) vom venator (Jäger) zum Tyrannen. Die umfangreiche Kommentierung der Bibelstelle durch das gesamte Mittelalter hindurch führt Deutungen vor, die vom Oppressor der Tiere über den Ahnherren der Tyrannen bis zur Präfiguration aller Herrscher ohne negative Konnotation reicht. In jedem Fall, dies kann Schmidt eindrücklich zeigen, eignet sich die Figur Nimrods für politische und didaktische Interventionen. Die Inszenierung von Weiblichkeit und Männlichkeit stellt D a r i a J a n s e n ins Zentrum ihres Beitrags. Am Beispiel von Judith und Holofernes beschreibt sie grundlegende Möglichkeiten, weibliche Herrschaft zu denken. Nicht zuletzt plädiert Johannes von Salisbury auf der Grundlage dieser alttestamentlichen Erzählung für die Option des Tyrannenmordes. Judiths Mord an Holofernes gilt dabei als Idealbild zivilen Aufbegehrens. Jansen fragt, wie es gelingt, den Tyrannenmord in ein umfassendes theologisch-moralisches Konzept zu integrieren. Sie fragt aber auch nach dem narrativen Modus der biblischen Vorlage sowie nach der spätmittelalterlichen Rezeption in Sangspruch und Meistersang. Mit ihrer komparatistischen Analyse kann sie zeigen, wie sich in Analogie zur Polyvalenz der Tyrannenmörderin auch eine Polyvalenz des Tyrannen – zwischen weiblich konnotierter Genusssucht und männlicher Aggressivität – offenbart. C h r i s t i a n B u h r stellt den Georg Reinbots von Durne ins Zentrum seiner Überlegungen und fragt nach der Spannung von Herrschaft und Glaube und den damit verbundenen Idealen für den Machthaber. Den Tyrannisdiskurs der Zeit aufnehmend (den theoretischen Hintergrund liefern vor allem Johannes von Salisbury und Thomas von Aquin), gibt der Text mit seiner höfischen Formgebung und Ästhetisierung der Legende Georg und seinem Gegenspieler König Dacian ein spezifisches Gepräge. Die Tendenz zur Höfisierung Dacians zeigt sich nicht zuletzt in seiner Eloquenz und ausgestellten Gelehrsamkeit. Dacian wird als gemischter Charakter gezeichnet; zugleich präsentieren die gehäuft auftretenden Appellative und Epitheta ein negativ konnotiertes Figurenprofil des ›heidnischen‹ Gewaltherrschers. Entworfen werden letztlich Kriterien für die Wahl eines christlichen Idealkönigs, wobei der Herrschaftsentwurf (Heiliger und Herrscher) als strategisches Anliegen mit realhistorischem Hintergrund gedeutet werden kann (Otto II. von Bayern als Adressat). Hier zeigt

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sich die politische Schlagkraft literarischer Entwürfe. Auch E l k e U k e n a - B e s t thematisiert die Figurenkonstellation von Märtyrer und Tyrann; sie nimmt in ihrem Beitrag den Tyrannentypus der Märtyrerlegende in den Blick. Anhand von Hugos von Langenstein Martina zeichnet sie in textnaher Analyse das Bild eines mehr und mehr depravierten Herrschers, dessen Verfall in klarem Bezug zu einer sich steigernden Heiligkeit Martinas steht. Dem Rezipienten macht die voluminösen Legende deutlich, dass die Passio der Heiligen in den Himmel führt, die Passio des Herrschers geradewegs in die Abgründe der Hölle, wobei der Tyrann sich in einem autoaggressiven, anthropophagen Akt innerweltlich eliminiert. Dass er diese Wahrheit bis zuletzt nicht erkennt, ist Teil des Tyrannenbildes, das den Verblendeten zeichnet, der zugleich für sein Schicksal verantwortlich ist. Nicht zuletzt zeigt Ukena-Best, dass gerade Redeszenen der Axiologie der Legende zuträglich sind und der statischen funktionalen Determination der Figuren eine eigene Dynamik verleihen. Die darauffolgenden drei Beiträge (Mierke, Herweg, Gold) gelten der chronistischnarrativen Aufbereitung der Tyrannenfigur, wobei ein Fokus auf den spezifischen Erzählstrategien des Verfassers der Kaiserchronik liegt. G e s i n e M i e r k e fragt nach der narratologischen Funktion von Tyrannenfiguren in Ottokars Österreichischer Reimchronik sowie in der Kaiserchronik. Ottokars Reimchronik beinhaltet eine Scheltrede auf Philipp IV., die als mustergültiger Tyrannenkatalog gelten kann. Das Erzählen vom Tyrannen gerät zu einem Fürstenspiegel ex negativo. Das vollständige Aufgehen in ihrer finalen Funktion kennzeichnet die Gewaltherrscher der Kaiserchronik. Der Tyrann dient dabei als Folie für gute Herrschaft. Die ›richtige‹ Ausübung von Herrschaft steht im Fokus des chronistischen Erzählens, wobei es sich bei den verhandelten Figuren um legitimierte Herrscher handelt, die sich falsch verhalten. Auch M a t h i a s H e r w e g beleuchtet die Tyrannen der Kaiserchronik, allerdings von ihrem Ende her: Tyrann ist, wer als solcher stirbt. Mit der Todesart wird die narrative Polyvalenz, die die Kaiserchronik zuvor entfaltet (das in der Vorrede propagierte Schema von guot und übel wird nicht ganz durchgehalten), wieder eingefangen. Die Summe der Versuchsanordnungen (jeder Herrscher ein neuer ›Versuch‹) geht dagegen mal mehr, mal weniger auf, wobei der Chronist bewusst Brüche erzeugt. Der narrative Überschuss zeigt anhand der Figur des Tyrannen nicht zuletzt auch das Kaiserchronik-spezifische historische Wahrheitskonzept auf. J u l i a G o l d fragt in ihrem Beitrag danach, in welcher Weise das Motiv des Wahnsinns für die Tyrannendarstellung nutzbar gemacht wird. Dafür zeichnet sie zunächst die spezifischen Semantisierungen des Wortes winnen nach, das zeitgenössisch auf Verstandlosigkeit, mithin die Animalität des Menschen verweist und zugleich seine Gottabgewandtheit impliziert. Am Beispiel Neros in der Kaiserchronik beleuchtet sie dann die narrative Inszenierung des winnenden Kaisers, wobei die Kaiserchronik auch erkennen lässt, wie Herrscherfiguren spezifischen narrativen Zwängen unterworfen sind. Die den ersten Abschnitt des Bandes beschließenden vier Beiträge (Darilek, Standke, Poser, Schwarzbach-Dobson) nehmen epische Texte und die Exempelliteratur in den Blick. M a r i o n D a r i l e k untersucht am Beispiel des Reinhart Fuchs und des

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Straßburger Alexander den Zusammenhang von Animalität und Herrschaft. Mit Hilfe des methodischen Instrumentariums der Cultural (Literary) Animal Studies macht sie die Ambivalenzen menschengemachter politischer Ordnung(en) sichtbar, die die Texte inszenieren. Deutlich zutage tritt dabei auch die Verhandlung des Regizids als Möglichkeit, tyrannische Herrschaft zu beenden. Die Auseinandersetzung mit der Figur Morolds im Tristanstoff macht im Beitrag von M a t t h i a s S t a n d k e deutlich, dass divergierende Perspektiven, subjektive Deutungen und Invektivität stets mitzudenken sind. Die Perspektivierung zeigt sich sowohl auf Erzähler- als auch auf Figurenebene. Diskutiert wird von Standke dabei auch die grundsätzliche Frage, ob Morold als Stellvertreterfigur überhaupt ein Tyrann sein kann. T h o m a s P o s e r analysiert zwei kürzere mittelhochdeutsche Verserzählungen Konrads von Würzburg: den Schwanritter und Heinrich von Kempten. Beide profilieren eine prominente Herrscherfigur, die jeweils unterschiedlich gestaltet ist: König Karl wird im Schwanritter als guter und gerechter Herrscher vorgeführt, Kaiser Otto im Heinrich von Kempten dagegen als von Anfang an jähzorniger Willkürherrscher. Die Texte diskutieren anhand dieser beiden Figuren, welche Folgen es für die Ordnung im Reich hat, wenn der Herrscher nicht imstande oder nicht willens ist, die ihm zukommende Funktion als Garant von Recht und Ordnung angemessen zu erfüllen. M i c h a e l S c h w a r z b a c h - D o b s o n schließlich nutzt die Exempelsammlungen des Mittelalters, um die immer wieder neue Aushandlung der Relation von Tyrannis und Weisheit zu beschreiben. Die von ihm analysierten Figurenpaare zeichnen sich durch ihre Funktion aus, ein Wertesystem vorzuführen. Das literarische Spiel wird zum Instrumentarium, um den Tyrannen zu belehren. Der politische Status des Erzählens und die Frage nach den didaktischen Implikationen der Texte (hier vor allem auch die Flexibilität der Exempel) rücken dabei in den Mittelpunkt des Interesses. Der zweite thematische Abschnitt des Bandes ist T y r a n n e n b i l d e r n i m p o l i t i s c h e n K o n f l i k t gewidmet. Die Spannweite der Beiträge reicht hier vom frühen Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein; der Beitrag, der den Abschnitt beschließt, beschäftigt sich mit der modernen Rezeption mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Herrscherbilder und Herrschaftsformen, die in einem rigorosen politischen Aushandlungsprozess präsentiert werden. C h r i s t i a n S t a d e l m a i e r behandelt am Beispiel von De imagine Tetrici des Walahfrid Strabo (829 entstanden) die politische Krisenzeit um 830. Der Tyrannendiskurs steht zu dieser Zeit deutlich in Zusammenhang mit den karolingischen Reformbemühungen, wobei das antike Tyrannenbild als Folie dient. Neben Hochmut (superbia) gilt Walahfrid vor allem Habgier (avaritia) als tyrannisches Charakteristikum. A l b r e c h t D r ö s e widmet sich den Modi der Invektivität in den Sangsprüchen Walthers von der Vogelweide und seiner Nachfolger, die sich mit geistlicher Tyrannei auseinandersetzen. Dröse arbeitet anhand von Walthers sogenannter ›Kirchenklage‹ im Reichston (L 9,16) sowie Sprüchen Reinmars von Zweter, Meister Sigehers und Frauenlobs heraus, welche spezifischen Codierungen von päpstlicher Tyrannei sich ausmachen lassen, und ordnet sie in den historischen Kontext ein. Vor allem L 9,16 denunziert in kunstvoller Weise päpstliches (kirchliches) Handeln

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als machtpolitischen Missbrauch des Heilsmonopols. Dröse legt für die politische Lyrik dar, dass die Zuschreibung, es handele sich um tyrannische Herrschaft, als Teil einer Krisenrhetorik gelesen werden kann, die Reich und Kurie in besonderer Weise aufeinander bezieht und die zu einer Dynamisierung des Tyrannei-Diskurses beiträgt. O l i v e r L a n d o l t beschreibt am Beispiel der Habsburger die ›Erfindung‹ des Tyrannen. Im Fokus seines Beitrags steht die Entwicklung des eidgenössischen Tyrannenbildes der Habsburger in der longue durée, die seit dem Spätmittelalter im Laufe der Zeit einem Wandel unterworfen ist, wobei erstaunlich konsistente Tyrannencharakteristika verwendet werden. Die Figur des Tyrannen kann je nach politischen Konstellationen unterschiedlich eingesetzt und instrumentalisiert werden, zumal es, wie Landolt zeigt, in der eidgenössischen Geschichte immer wieder auch prohabsburgische Parteigänger gab. M a r k u s D e b e r t o l fragt nach der Bezeichnung des osmanischen Sultans in Quellen um 1500. Während dieser in deutschsprachigen Quellen am Kaiserhof Maximilians I. relativ konsequent als »türkischer Kaiser« bezeichnet wird, nennen ihn lateinische und italienische Quellen aus dem kurialen Milieu in der Regel Turcorum tyrannus/tiranno dei Turchi. Debertol führt vor, wie der Tyrannenbegriff mit spezifischen, von den sonstigen Türkentopoi abweichenden Vorstellungen aufgeladen wird, und zeigt, dass ›tyrannische‹ Praktiken des Sultans für dessen Bewertung breiten Raum einnehmen. Nicht zuletzt verweist dies, so Debertol, auf die Frage nach der grundsätzlichen Legitimität osmanischer Herrschaft, die um 1500 virulent war. A l e x a n d e r J e n d o r f f diskutiert am Beispiel des Prozesses gegen den 1575 in Mainz hingerichteten Adligen Barthold von Wintzingerode die Bedeutung des Tyrannenvorwurfes im Kontext des späten 16. Jahrhunderts. Landesherrliche Politik, Mediatisierung des Niederadels und Konfessionalisierung bilden die Rahmenbedingungen dieses Rechtsstreits. Bemerkenswert ist dabei, dass der Tyrannenvorwurf hier nicht den Fürsten trifft, sondern dessen Lehnsmann, dem man damit die adlige Standesehre abspricht. Der Tyrannenvorwurf wird zu einem Instrument der Stigmatisierung und Marginalisierung, das die juristische Argumentation unterstützt und begleitet. Die Perspektive auf den Tyrannendiskurs weiten die Beiträge, die sich mit dem elisabethanischen Zeitalter und dem Barock beschäftigen, nochmals aus. D S M a y f i e l d widmet sich Shakespeares Measure for Measure – eben jenem Shakespeare’schen Stück, das wohl am intensivsten politiktheoretische Fragestellungen diskutiert und gesellschaftliche Gegebenheiten mit Fokus auf Tyrannis thematisiert. Mayfield tut dies sowohl historisch kontextualisierend als auch mit generellem Anspruch. Sein Beitrag geht in einer textnahen Lektüre von Shakespeares Stück, vor allem ausgehend von der Konzeption der Protagonisten, den verschiedenen multiperspektivisch argumentierenden Annäherungen an das Thema der Tyrannis nach. Dass der Tyrann im barocken Trauerspiel vor allem in Anbetracht von dessen historisch-politischem Kontext als Schlüsselfigur gelten kann, zeigt G i u l i a F r a r e . Am Beispiel von Gryphius’ Leo Armenius, Oder Fürsten-Mord kommen der problematische Charakter der Souveränitätsdebatte sowie die der Tyrannis inhärente Polyvalenz auf beispielhafte Weise zum Ausdruck. Insbesondere die Verknüpfung von Usurpator und Märtyrer, die Skrupel-

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losigkeit und Heiligkeit des Herrschers, stellt ein Gryphius’sches Spezifikum dar. Die Grenze zwischen Opfer, Tyrann und Märtyrer verschwimmt. Frare liest das Drama als Gegenpart zum jesuitischen Stück Leo Armenus Seu Impietas Punita des Joseph Simon, wobei die gegensätzliche Interpretation und Repräsentation ein und derselben historischen Figur zweier konfessionell und politisch unterschiedlich orientierter Autoren die Bedeutsamkeit der konfessionellen Perspektivierung von Tyrannis verdeutlicht. Stereotypisierte Muster bei der Figureninszenierung, die zugleich eine implizite politische Theorie entwerfen, arbeitet T i l l N i t s c h m a n n heraus, wenn er die Figur des Joffrey Baratheon in der Serie Game of Thrones in den Blick nimmt. Die inszenierte Tyrannenlust, die sich in dieser Serie in einem historisch anmutenden, unterschiedlichste Epochen imitierenden Setting entfaltet, liest er als Gegenwartsparabel, wobei die Serie die Vorstellung von autonomer Handlungsmacht ebenso als bloße Fiktion entlarvt wie die dauerhafte Ausübung von Macht. Der fehlende Lernprozess des Protagonisten Joffrey führt eine Psychopathologie der Macht vor, die letztlich in einem ethischen Pessimismus aller Konflikte mündet. In der dargestellten Spirale aus Macht und Gewalt bildet die parlamentarische Repräsentationsdemokratie eine Leerstelle, was Nitschmann als Werbung für eben diese deutet. Der kurze dritte Abschnitt, der den Band beschließt, setzt sich mit b e g r i f f s g e s c h i c h t l i c h e n A n s ä t z e n i n d e r F r ü h e n N e u z e i t auseinander. In diesem Kontext zeigt K a r l G e r h a r d H e m p e l , auf welch spezifische Weise gegen Ende des 15. Jahrhunderts vermehrt Werke antiker Autoren aus den klassischen Sprachen ins Deutsche übersetzt werden, wobei nicht selten auch politisch relevante Texte aus dem historischen oder staatsphilosophischen Bereich eine Rolle spielen. Hempel untersucht, welche Übersetzungen für Ausdrücke aus dem Lexemverband ›Tyrann-‹ verwendet werden und inwieweit sich daraus erste Hinweise auf semantische und konzeptionelle Korrespondenzen zwischen klassischer Sprache und Volkssprache ergeben. Er berücksichtigt dabei auch, dass die Übersetzungen üblicherweise in einem komplexen kulturellen und politischen Spannungsfeld entstehen, was nicht zuletzt an Paratexten wie Vorwörtern und Widmungen erkennbar wird. Eindrücklich kann Hempel zeigen, dass der sprachliche Transformationsprozess mit einem kulturellen Übersetzen untrennbar verbunden ist. Der Beitrag von J o h a n n e s K l a u s K i p f fragt nach der spezifischen Verwendung des Wortes ›Tyrann‹ in den Schriften Martin Luthers und arbeitet heraus, wodurch und inwiefern das Wort zu einem Schlüsselbegriff für Luthers politische Theologie werden konnte. Gezeigt wird das Applizieren des weltlichen Terminus auf den päpstlichen (kirchlichen) Bereich und von dort aus auf weitere Lebensbereiche (›häuslicher Tyrann‹). Kipf geht den Entwicklungslinien nach, die sich daraus ergeben. Er kann zeigen, dass gerade Luther dem Terminus neue Semantiken erschließt, mithin für die Deutung und Frequenz des Begriffs von zentraler Bedeutung ist. Die Beiträge arbeiten dergestalt die verschiedenen Diskursebenen heraus, insbesondere die politische (Recht und Herrschaft) und die ethische (Fokussierung auf moralisch-ethische Affekte, Psychogramme), sowie die Verwendung der Zuschreibung

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›Tyrann‹ als eines polemischen Kampfbegriffs. Die narrative Anverwandlung dieser Diskursebenen bildet einen eigenen Diskurs, der zeigt, wie sehr die Figur des Tyrannen und das Konzept der Tyrannis dazu geeignet sind, produktiv an beidem zu arbeiten. Epochenübergreifend entstehen immer wieder aufs Neue textuelle Tyrannenbilder, die weniger das zugrundeliegende Konzept als vielmehr die narrative Ausgestaltung und Funktionalisierung variieren, mithin subversiv mit den bekannten Tyrannentopoi spielen. Deutlich wird dabei auch, dass das Figurenensemble um den Tyrannen diesen erst als solchen sichtbar macht. Polyvalenz zeigt sich nicht im Konzept selbst, sondern erst in Bezug auf dessen Deutung – und im Hinblick auf die ›Bilder‹ von der Figur des Tyrannen und dem Herrschaftskonzept der Tyrannis, die in der diskursiven Auseinandersetzung generiert werden. Am Zustandekommen des vorliegenden Bandes haben viele Personen Anteil. Herzlich danken wir zunächst den Kolleginnen und Kollegen für die fruchtbaren Diskussionen im Rahmen der Tagung »Polyvalenz der Tyrannis. Figurationen eines Herrschaftskonzepts in Mittelalter und Früher Neuzeit«, die vom 24.–26. September 2018 auf Schloss Rauischholzhausen stattfand und deren Ergebnisse wir hier publizieren – ergänzt um die Aufsätze von Albrecht Dröse und Johannes Klaus Kipf, die leider nicht an der Tagung teilnehmen konnten, sowie die Studien von Julia Gold und Alexander Jendorff. Einen wichtigen Beitrag zur positiven Atmosphäre der Tagung leisteten unsere Gastgeber auf Schloss Rauischholzhausen: das Team vom Faber-Management unter Leitung von Frau Drews und Frau Mengel, dem wir herzlich für die gute Versorgung und das inspirierende Ambiente danken. Großer Dank für die ausgesprochen angenehme Zusammenarbeit und die hilfsbereite und zuvorkommende Betreuung gebührt dem Verlag Walter de Gruyter, unseren Lektorinnen Eva Locher und Elisabeth Kempf sowie Sorina Moosdorf, die den Satz und die Herstellung des Bandes begleitet hat. Unseren Hilfskräften Lina Matzke und Christina Möller sei für ihre große Unterstützung bei den Redaktionsarbeiten gedankt. Der Fritz Thyssen Stiftung sind wir sehr dankbar dafür, dass sie die Tagung finanziert und den Druck des Bandes großzügig bezuschusst hat. Gießen, im Sommer 2021

Julia Gold Christoph Schanze Stefan Tebruck

| I Tyrannenfiguren in normativen und narrativen Texten

Hans-Joachim Schmidt

Der Prototyp des Tyrannen und des Königs: Nimrod 1 Einleitung Tyrannen galten als Negation der gerechten Herrschaft. Sie stellten das Gegenbild zum König dar, dem Normen auferlegt waren. Verfehlte er diese, so würde er die Berechtigung für sein Amt verlieren. Könige und Tyrannen wurden als Antipoden in der Herrschaftsausübung vorgestellt. Eine andere Konzeption beinhaltete indessen die enge Verbindung von König und Tyrann, ja die definitorische Annäherung beider, was mit einer Delegitimierung, zumindest mit einer abwertenden Beurteilung der Könige, sei es als Einzelperson, sei es als Typen der Institution, einherging. Die unterschiedlichen Verbindungen von König und Tyrann sollen mittels einer Analyse der Vorstellungen, die zur biblischen Gestalt Nimrod im Mittelalter bestanden, untersucht werden. König und Tyrann wurden nach Modellen bewertet, die in eine ferne Vergangenheit zurückreichten. In andere Epochen und in die Gegenwart gestellt, sollten sie die Beständigkeit einer Herrschaftsform und einer moralischen Bewertung verdeutlichen, deren Unwandelbarkeit umso mehr verbürgt war, wenn ein kanonischer Text die dem Typus zugrundeliegende Person beschrieb. Emblematische Figuren des Tyrannen wurden vorgestellt, die, einer Individualisierung entkleidet, sich zur Repetition in unterschiedlichen Situationen und Zeiten eigneten und dem Nachdenken über die Tyrannei Modelle und Grundlagen zur Verfügung stellten. Das vielleicht wichtigste Problem war, eine Antwort zu finden, in welcher Weise der Tyrann vom König unterschieden werden konnte, also wie Ausformungen der Monarchie bewertet wurden. Die Erörterungen entsprangen den Wissensbereichen der Ethik und der Politik, die systematische Grundlagen und individuelle Ausformungen vorstellten, wobei einzelne Personen nicht allein Beispiele, sondern wiederkehrende Muster bildeten. Es soll daher im Folgenden untersucht werden, in welcher Weise und zu welchen Zwecken eine knappe Passage der Bibel zu König Nimrod während des Mittelalters in eine breite politiktheoretische Erörterung eingeführt wurde. Welche ethischen Folgerungen ergaben sich aus den Deutungen? Welche Beurteilungskriterien wurden entwickelt? Wie deuteten mittelalterliche Autoren die Institution des Königtums, und dies

|| Der vorliegende Beitrag beruht auf dem Kapitel »Jäger, König, Tyrann: Die Gestalt von König Nimrod«, in: SCHMIDT, HANS-JOACHIM: Herrschaft durch Schrecken und Liebe. Vorstellungen und Begründungen im Mittelalter, Göttingen 2019 (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 17), S. 316–25. https://doi.org/10.1515/9783110752373-002

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unabhängig von einzelnen Personen, wenn König und Tyrann in eine enge Verbindung gestellt wurden? In welcher Weise entstanden theoretische Konzepte zu Herrschaftsinstitutionen und wie wurden sie begründet? Die Fragen sollen anhand wichtiger Aussagen mittelalterlicher Autoren beantwortet werden. Das Ziel besteht darin, politische Theorie aus biblischer Exegese abzuleiten.

2 König Nimrod in ethischer Bewertung Die Deutung der Tyrannis beruhte während des Mittelalters häufig auf einer beim ersten Augenschein unscheinbaren Stelle im Buch Genesis, in der es heißt: Nemrod ipse coepit esse potens in terra et erat robustus venator coram Domino (Gen 10,8: »Nimrod begann mächtig zu werden auf der Erde und war ein starker Jäger vor dem Herrn«). Der Satz wurde oft kommentiert, um Herrschaft zu charakterisieren. Die Kommentierungen stießen nicht selten zu einer Bewertung vor, die das Königtum allgemein, ohne Ausnahme, abwertete und nicht anhand moralischer Kriterien nach guter und schlechter Ausübung der Herrschaft unterschied, also statt ethischer Differenzierung definitorische Generalisierung vorstellte, so dass die biblische Gestalt mehr war als nur Tyrann, sondern die Urform des Königs. Der Argumentationsstrang war weit gefasst und verband mehrere Elemente. Aus der Jagd wurde Tötung, aus der Tötung durch den König Gewaltherrschaft, aus der Gewaltherrschaft Tyrannei, aus dieser wiederum wurde jede Königsherrschaft abgeleitet. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, wie von der Antike bis zum späten Mittelalter die biblische Gestalt Nimrods dazu verwendet wurde, eine verallgemeinernde Entwertung königlicher Herrschaft zu begründen, was zur Folge hatte, die Spezifik der Tyrannei in eine generelle Begriffserweiterung umzuformen und damit letztlich aufzulösen. Es soll untersucht werden, wie dieses Amalgam von König und Tyrann eingesetzt war, um der Herrschaft Legitimität vorzuenthalten oder um ihr umgekehrt von ethischen Anforderungen abgelöste legitime Machtinstrumente zuzuführen. Eine lange Geschichte des Deutens und Argumentierens breitet sich aus, von der einige wichtige Etappen untersucht werden. Bereits die exegetischen Schriften des jüdischen Gelehrten Philo von Alexandrien († 40 n. Chr.) erweiterten den Sinngehalt von König Nimrod, indem er aus der Jagd auf Tiere die gewaltsame Verfolgung von Menschen machte. Aber erst der antike jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus, der im christlichen Okzident als Gewährsmann für die Abfassung historischer Werke benutzt wurde, war der erste, der in seinen Antiquitates Judaicae den biblischen Text mit politischen Inhalten anreicherte und aus ihnen theologische Schlussfolgerungen ableitete, indem er eine Herrschaftsform zur begrifflichen Präzisierung führte: Nimrod war stark und er übte Macht aus. Dabei handelte er übermütig und forderte Gott heraus. Er überredete die Menschen zum Irrglauben, sie könnten aus eigener Kraft, ohne Gottes Hilfe, Glück erlangen. Die eingebildete Selbstwirksamkeit führte nach der Bewertung von Josephus zur

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Versuchung, der Allmacht Gottes die des Herrschers entgegenzustellen. Flavius Josephus schrieb, dass Nimrod die Herrschaft in Tyrannei umgeformt habe, indem er die Untertanen von der Gottesfurcht abgewendet und sie in die Furcht vor ihm selbst und damit unter seine Macht gebracht habe. Der Turmbau zu Babel wird ihm angelastet. Der Turm sollte gegen eine neue Sintflut schützen. Menschenwerk stand gegen Gottes Bestrafung.1 Christliche Autoren übernahmen die Vorstellung, dass Nimrod der Prototyp des Herrschers sei, der mit Gewalt, Schrecken und Unterdrückung agiert. Ein pseudo-clementinischer Text aus dem 2. Jahrhundert, in der lateinischen Übersetzung von Rufinus von Aquileia († 411/12) als Recognitiones bezeichnet, sowie mehrere Bibelkommentare von Hieronymus († 420) interpretierten Nimrod als Jäger und zugleich als Sünder und Aufrührer gegen Gott; von dieser theologischen Verurteilung ausgehend stuften sie ihn nach politisch-ethischen Kriterien als denjenigen ein, der als erster mit Gewalt andere Länder erobert und deren Bewohner vertrieben habe.2 Eusebius von Caesarea († 339/340) hingegen hat in seinem historiographischen Onomastikon diese Deutungsangebote nicht aufgegriffen. Für ihn war Nimrod lediglich der König von Babylon, eine politisch-moralische Wertung fehlte. Auch die lateinische Übersetzung dieses Werkes durch Hieronymus behielt diese Darstellung bei. Die insgesamt positive Bewertung der Herrschaft durch Eusebius, der Konstantin, den ersten christlichen Kaiser, in panegyrischen Texten pries, schloss offensichtlich eine Präfiguration Nimrods als Ahnherr der Gewaltherrschaft aus.3 Dass hingegen Augustinus, seiner skeptischen bis ablehnenden Bewertung weltlicher Herrschaft folgend, Nimrod als Gegenfigur zum göttlichen Heilsplan vorstellte, ist nur konsequent. Dabei veränderte er die Formulierung der von Hieronymus verfassten lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata. In De civitate Dei kritisierte Augustinus den Text ausdrücklich als unzutreffend, verwies auf die griechische Vorlage der Septuaginta und machte deren Mehrdeutigkeit in der lateinischen Version dahin|| 1 Benutzte Ausgaben: Flavius Josephus: Jüdische Altertümer, hrsg. von HEINRICH CLEMENTZ, Wiesbaden 2004, S. 25 (I,4,2); Philo Alexandrinus: De gigantibus, in: ders.: Opera quae supersunt, hrsg. von LEOPOLD COHN/PAUL WENDLAND, Berlin 1897, S. 54f. 2 Benutzte Ausgaben: Pseudoklementinen, Bd. 2: Rekognitionen in Rufins Übersetzung, hrsg. von BERNHARD REHM/FRANZ PASCHKE, Leipzig 1965, S. 159–61; Hieronymus: Tractatus in Psalmo XC, hrsg. von G. MORIN, Turnhout 1958 (CCSL 78), S. 127; Hieronymus: Commentarii in Esaiam, hrsg. von M. ADRIAEN/G. MORIN, Turnhout 1963 (CCSL 73), S. 43; Hieronymus: Commentarii in prophetas minores, hrsg. von M. ADRIAEN, Turnhout 1969 (CCSL 76) , S. 556. Vgl. dazu HAYNES, STEPHAN R.: Noah’s Curse. The Biblical Justification of American Slavery, Oxford 2002, S. 46–49. 3 Benutzte Ausgaben: Eusebius: Onomastikon, hrsg. von ERICH KLOSTERMANN, Leipzig 1904, S. 5; Eusebius: In Praise of Constantine. A Historical Study and New Translation of Eusebius’ Tricennial Orations, hrsg. von HARALD A. DRAKE, Berkeley [u. a.] 1976, S. 83–102; Eusebius: De Vita Constantini, hrsg. von HORST SCHNEIDER, Turnhout 2007 (Fontes Christiani 83), S. 425. Vgl. dazu BARNES, TIMOTHY D.: Constantine and Eusebius, Cambrigde, Mass. 1981; O’MEARA, DOMINIC/SCHAMP, JACQUES: Miroirs de prince de l’Empire romain au IVe siècle, Paris/Freiburg i. Ü. 2006, S. 85, 89, 105, 120–25 und 133f.

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gehend eindeutig, indem er den Satz erat robustus venator ante Deum umformte in contra Deum. Nur so könne der sprachliche Widerspruch vermieden werden, der darin bestehe, dass in den Psalmen die Formulierung stehe, Ploremus ante Dominum (Ps 94,6), also das Wort ante stets eine Verehrung Gottes bedeute und ausschließlich für diesen Sinn verwendet werden müsse. Augustinus argumentierte also nicht aufgrund der sprachlichen Korrektheit in Bezug zum griechischen Text, sondern leitete aus den immanent lateinischen Formulierungen die Forderung nach semantischer Eindeutigkeit ab. Da Nimrod Jäger (venator) war, könne er nichts anderes sein als ein deceptor, oppressor und extinctor der Tiere. Die Gewalt gegen die Geschöpfe Gottes schließe auch die Gewalt gegen die Menschen ein und dehne sich noch aus, indem sie zur Auflehnung gegen Gott werde. Nimrod war für Augustinus der Unterdrücker der Menschen, er wurde zum Urbild ungerechter Herrschaft, die durch ihn ihren Anfang genommen habe. Die Verwerflichkeit hat er gesteigert von der Gewalt gegen Tiere über die Ungerechtigkeit gegenüber den Menschen bis hin zur Missachtung Gottes. Augustinus sah in Nimrod einen Verschwörer (coniurator) gegen Gott, da er in Hochmut dessen Herrlichkeit herausgefordert habe, als er die Stadt Babylon gründete. Hochmut und Verschwörung hat Augustinus entgegen der biblischen Vorlage der Charakterisierung Nimrods hinzugefügt. Indem Augustinus auch das in der Vulgata, der maßgeblichen lateinischen Bibelübersetzung, verwendete Wort robustus durch gigantius ersetzte, stattete er Nimrod mit einer leiblichen Größe aus, die allein schon Furcht hervorrufen würde. Nimrod galt als Riese. Er habe seine furchteinflößende Gestalt zur Steigerung seiner Macht verwendet, so dass Augustinus die Gewaltanwendung generalisierte, da sie als gegen alle beseelten Geschöpfe Gottes gerichtet sei.4 Augustinus hat die spätere mittelalterliche Deutung Nimrods entscheidend geprägt. Die Deutung einer in der Bibel allein gegen die Tiere gerichteten Gewalt als allgemeine und überdies ungerechte Gewalt fand Fortsetzer. Die Gewalt – durch die riesenhafte Körpergröße symbolisiert – galt als Voraussetzung der Herrschaft. Es stellte sich nur die Frage, ob sie es für jede Herrschaft oder nur für die ungerechte Herrschaft war. Die Scheidung von Königtum und Tyrannei operierte mit der biblischen Figur. Isidors von Sevilla enzyklopädische Etymologiae sowie die im 7. Jahrhundert verfasste prophetische Schrift des Pseudo-Methodius, beide in ihrer Zeit und in den folgenden Jahrhunderten weit verbreitet, steigerten den politischen Gehalt, den sie der Figur Nimrods attribuierten, aktualisierten die Auswirkung der Herrschaft und konkretisierten sie, indem sie die Gestalt Nimrods zur Bewertung der zeitgenössischen Könige verwendeten. Aus der simplen Zuschreibung Nimrods als Jäger, wie im Bibel-

|| 4 Benutzte Ausgabe: Augustinus: De civitate Dei, hrsg. von BERNARDUS DOMBART/ALPHONSUS KALB, 2 Bde., Turnhout 1955 (CCSL 47/48), S. 505. Eine theologische, auf das 19. Jahrhundert und die Gegenwart bezogene Deutung bieten HAYNES (Anm. 2) sowie FARISANI, DOROTHY: Nimrod and the South African Context, in: PINN, ANTHONY B./CALLAHAN, ALLEN DWIGHT (Hrsg.): African American Religious Life and the Story of Nimrod, New York 2008, S. 121–32, vor allem S. 132.

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text dargestellt, wurde eine Lehre geformt, die zu allen Zeiten gültig war und Personen und Institutionen bewertete, das heißt verurteilte und auf viele Situationen angewendet wurde und ein kritisches Potential weckte, Herrschaft zu be- und entwerten. Dazu war es notwendig, aus der theologischen und ethischen eine politische Beurteilung abzuleiten. Dies verhinderte nicht, dass die Unterscheidung zwischen gerechter und ungerechter Herrschaft auf den persönlichen Eigenschaften der Herrscher beruhen würde. Wenn Nimrod als Tyrann galt – und dies ausschließlich –, dann entlastete diese Kennzeichnung die als gerecht vorgestellten Herrscher vom Vorwurf, Nachfolger Nimrods zu sein. Aber die Gefahr, dass das Königtum in die Tyrannei abgleiten konnte, war durch die Erörterung der Gestalt Nimrods präsent gehalten. Es bedurfte der Mahnung und der Anstrengung, diesem Abgleiten entgegenzuwirken. Diese Aufgabe gab Isidor an, auszuführen.5 Aber die Figur Nimrods war geeignet, nicht distinktive, sondern definitorische Zuschreibung jeden Königs zu begründen.

3 Bewertungen Nimrods im kirchlichen Recht In einer rechtlichen Erörterung war die Möglichkeit, nach institutionellen Grundlagen und Verfahren zu bewerten, naheliegend. In der Tat wurde die Figur Nimrods aus der biblischen Exegese in das kirchliche Recht eingestellt. Die deutliche Scheidung von König und Tyrann ging dabei verloren, und eine Angleichung zwischen beiden trat ein. Die strafende Gewalt der Könige und Fürsten wurde als Folge der ungerechten und selbstsüchtigen Herrschaft bezeichnet und Nimrod als Begründer dieser Herrschaft vorgeführt. Im Decretum Gratiani, um die Mitte des 12. Jahrhunderts nach der Abfassung einer ersten Redaktion als geordnete Kompilation des kirchlichen Rechts zusammengestellt, wurde König Nimrod in der Weise gedeutet, dass von ihm die weltliche Gewalt, einschließlich ihrer Ungerechtigkeit, ihrer Gewalt und ihres Schreckens ihren Anfang genommen habe und er jede Herrschaft und jeden Herrscher begründe. Nimrod galt als der historische und begriffliche Archetypus des Herrschers, der Schrecken verbreitet, die Menschen unterdrückt und sie tötet. Nicht der Tyrann war abgewertet, sondern der König gekennzeichnet. Auch die Bereitschaft der Schwachen, sich der

|| 5 Benutzte Ausgaben: Isidorus Hispalensis: Etymologiarum sive originum libri XX, hrsg. von WALLACE MARTIN LINDSAY, 2 Bde., Oxford 1911, VIII,6,22; Pseudo-Methodius: Revelationes, hrsg. von ERNST SACKUR, in: DERS.: Sybillische Texte und Forschungen. Pseudomethodius, Adso und tiburtinische Sibylle, Halle a. d. S. 1898, S. 59–96, hier S. 64; Die syrische Apokalypse des Pseudo-Methodius, hrsg. und übers. von G. J. REININK, Löwen 1993 (Corpus scriptorum christianorum orientalium 220); Die Apokalypse des Pseudo-Methodius. Die ältesten griechischen und lateinischen Übersetzungen, hrsg. von W. J. AERTS/ G. A. A. KORTEKASS, Löwen 1998 (Corpus scriptorum christianorum orientalium. Subsidia 97–98). Vgl. dazu MÖHRING, HANNES: Der Weltkaiser der Endheit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000 (Mittelalter-Forschungen 3), S. 54–56.

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Herrschaft zu unterwerfen, habe die Unterdrückung der Menschen hervorgebracht. Sie sei das Ergebnis einer doppelten menschlichen Unvollkommenheit, die des Königs und die der Untertanen. Die Doppelung personaler Verursachung war mit einer weiteren Doppelung konzeptioneller Art verbunden: Erbsünde und Dummheit brachten die Königsherrschaft, die sich der Gewalt bediene und Machterweiterung erstrebe, hervor. Moralisches und intellektuelles Versagen, mehr aber noch immerwährende menschliche Eigenschaften waren als die Quellen des Unheils vorgestellt. Die Unterjochung müsse aber hingenommen werden, da die menschliche Bereitschaft zum Bösen keinen anderen Ausweg lasse, als dass die Menschen durch Furcht im Zaum gehalten werden. An anderer Stelle heißt es im Decretum, die Gesetze seien erlassen worden, um kraft der Furcht vor ihnen die Menschen von der Frechheit abzuhalten, Böses zu tun, und um sie der Hoffnung zu berauben, dass Verbrechen ohne Strafe blieben. Durch das Entsetzen vor der Strafe sei die Möglichkeit des üblen Tuns abzuwenden. Die einstigen Kaiser, sofern sie die Wahrheit des Glaubens erkannt hätten, hätten gute Gesetze erlassen, die aber nicht darauf verzichteten, die Rasenden mit Schrecken in ihre Schranken zu weisen, die Verständigen aber korrigierten: constituent bonas leges, terrentur sevientes et corriguntur intelligentes.6 Selbst ungerechte Richtersprüche seien zu fürchten. Diese Auffassung wird Papst Gregor zugeschrieben, die Quelle kann aber nicht weiter identifiziert werden. Im Widerspruch zu diesen Aussagen steht die der Bibel entlehnte Aussage im Decretum, dass allein der allmächtige Gott gefürchtet werde.7 Letztlich haben die Texte des Decretum die Wirkung der Rechtsordnung vorgestellt, als deren Exekutor der König, ausgestattet mit Machtmitteln, angesehen war. Nicht die Herrscher als Person sollten also gefürchtet werden; die Furcht galt dem Recht. Ein allgemeines Wohl oder ein individueller Nutzen waren als Ziele nicht vorgesehen. Allein das eschatologische Versprechen eines jenseitigen Heils gab Hoffnung, für die, um sie intakt zu halten, die Geistlichen eingesetzt seien. Deren Autorität entfalte sich abseits weltlicher Herrschergewalt, um die Gläubigen auf das Heil im Jenseits zu leiten. Im Diesseits aber stand jedes Heil, jedes Wohl, jeder Nutzen außerhalb der Reichweite des menschlichen Handelns. Sofern es ein Handeln der Herrscher für die Herrschaft war, entstammte es einem Ursprung der Gewalt und Unterdrückung und leitete gerade aus dieser Quelle die Berechtigung ab, da anders als durch Zwang die sündige Menschheit nicht angeleitet werden könne. In dieser Weise deuteten die Aussagen des Dekrets und ebenso die der kommentierenden Kanonisten Nimrod und begründeten damit den Ausschluss weltlicher Herrschaft aus dem Prozess der Ver-

|| 6 Benutzte Ausgabe: Corpus iuris canonici, hrsg. von EMIL FRIEDBERG, 2 Bde., Leipzig 1879, Bd. I, Sp. 6,11,16: Pars I, Dist. IV, c. 1; Pars I, Dist VI, c. 3; Pars I, Dist. IX, c. 1. 7 Vgl. ebd., Sp. 655f. und 669: C 11, q. 3, c. 40; C 11, q. 3, c. 93–97. Vgl. dazu WINROTH, ANDERS: The Making of Gratian’s Decretum, Cambridge 2000 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 4,49), S. 91–97.

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besserung der Lebensumstände oder gar der Erlösung. Das Recht als Quelle von Furcht und Schrecken bot keine Aussicht, ein gutes Leben zu führen. Folglich war der Nutzen der Gesetze gering, war die Abwendung von Übeln begrenzt, wie die Kommentierung des Dekrets in der Glossa ordinaria zum Dekret von Johannes Teutonicus (vor 1200–1245) und Bartolomaeus Brixensis (ca. 1200–1258) ausführte: Die Gesetze zwängen niemanden, gut zu handeln, lediglich hielten sie alle davon ab, Schlechtes zu tun. Gesetze und Gesetzgebung galten als die unvollkommenen, gleichwohl notwendigen Mittel, um auf Erden dem Verbrechen Einhalt zu gebieten. Die juristische Argumentation stellte die Gestalt Nimrods in den Bereich der legalen Zwangsgewalt. Der Kardinal und bedeutendste Kanonist des Mittelalters mit der am weitesten reichenden Wirkung auf die folgenden Jahrhunderte, Henricus de Segusio (kurz vor 1200–1271), verband König Nimrod nicht allein – wie im Dekret Gratians – mit Unterdrückung, sondern führte ihn auch als Gesetzgeber ein, der die rechtlich fixierten Pflichten gemäß den nach Regionen unterschiedlichen Ausformungen des ius gentium geschaffen habe und damit den Zwang und die Unterdrückung in eine gesetzliche Ordnung überführt habe. Obwohl nach der Sintflut nur wenige Menschen gelebt hätten, habe Nimrod angefangen, Städte zu erbauen und für deren Bewohner Gesetze zu erlassen. Die Verbindung war hergestellt zwischen menschlicher Gemeinschaftsbildung, Staat, Unterdrückung und Rechtsordnung durch Gesetze. Auch einen innerweltlichen Nutzen der Herrscher, die alle in der Nachfolge Nimrods stünden, hat Henricus zugestanden. Zuneigung und Abstoßung, gemeinsamer Nutzen und Zwang, Liebe und Schrecken hat der Kanonist zusammengezogen; er erachtete sie als die Kräfte, die die unterschiedlichen Ausformungen des Rechts hervorbrächten. Aber der Nutzen des Rechts lag auch bei Henricus nicht in der Beförderung des individuellen und allgemeinen Glücks; er beschränkt ihn auf die Abwehr von Verbrechen. Die Gesetze müssten der Zunahme des üblen Handelns der Menschen folgen und dementsprechend erweitert und verschärft werden. Zwang und Unterdrückung nähmen zu. Die Anwendung des Rechts sei den Mächtigen anheimgegeben. Sie müssten die sündhafte Natur der Menschen korrigieren. Sei es auch den Königen verwehrt, so Henricus de Segusio, den Menschen die Freiheit zu rauben, so hätten sie doch um nichts weniger die Aufgabe, die Menschen zu zwingen und sie von ihrem Hochmut und ihrer Neigung, Böses zu tun, abzuhalten. Gesetze sollten Inhibition statt Promotion vorsehen. Dass das Recht und nicht die Herrscher Nutznießer legalen Zwanges sein sollten, zeigt sich daran, dass ihnen Schranken auferlegt werden sollten, um sie an willkürlichen Urteilssprüchen und ungesetzlichen Gewährungen von Rechten zu hindern. Aus der Gestalt Nimrods leitete Henricus die Strenge der Gesetze ab, nicht die des Herrschers. Der Prototyp des Gewaltherrschers, den Nimrod darstellte, eignete sich zur Legitimierung der Zwangsherrschaft, die zwar rechtlich eingefasst und begrenzt war, aber um nichts weniger bedrückend wirkte. Dass die Freiheit der Menschen nicht angetastet werden dürfe, minderte nicht die Gewalt, berechtigte zu keinen Ansprüchen

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gegen sie, sondern sollte Mahnung an die Herrscher sein. Stets aber galten sie als Vollstrecker einer Unterdrückung, deren Ursprung König Nimrod gelegt habe.8 Der Wertung, die Henricus de Segusio bei der Deutung Nimrods vornahm, um ihn als Prototyp unausweichlicher und notwendiger Herrschaftsausübung vorzustellen, folgten, trotz der weiten Verbreitung seines Werkes, andere Autoren nicht, die vielmehr ethische Bewertungen vornahmen und die institutionelle Berechtigung minderten. Dazu diente die Einstellung in einen geschichtlichen Vorgang. Der Legitimierung der Gewalt, die das Recht verlangen würde, stand die Erzählung der Gewalt gegenüber, die in einen historischen Ablauf gestellt und mit einem Ursprung versehen wurde, der als der Beginn einer Geschichte des Unheils galt. Sie wiederholte sich.

4 Nimrod in der Geschichte Die Deutung, die Chronisten bevorzugten, verlieh der Gestalt Nimrods – anders als in den juristischen Texten – eine Notwendigkeit, die nicht durch die anthropologische Grundausstattung der Menschen bedingt sei, sondern durch eine soziale und politische Konstellation, die Nimrod begründet habe und die die nachfolgenden Könige fortgesetzt hätten. Eine chronologisch präzisierbare Abfolge war vorgestellt, deren Ergebnis aber unverändert sei und mehr als nur in der Imitation Nimrods bestehe, sondern zu der nicht zu vermeidenden Unausweichlichkeit führe, die von Nimrod grundgelegte Gewaltherrschaft zu erdulden und – seitens der Herrscher – auszuüben. Nimrod als Gewaltherrscher zu verurteilen, führte nicht dazu, seinem Wirken und seiner von ihm angestoßenen Entwicklung eine historische Notwendigkeit vorzuenthalten. Texte der Historiographie, vor allem wenn deren Autoren Weltdeutung zu bieten beanspruchten, verbanden die Gestalt Nimrods mit der Unterdrückung der Menschen. Selbst wenn die Herrscher sich gegen Gott auflehnten und in ihrer Hybris seine Autorität herausforderten, büßten sie nichts von ihrer Legitimität ein. Die theologische Abwertung der Stellung der Könige ging in eine Definition der Herrschergewalt über, die im Unterschied zur Autorität der Geistlichen – die die historiographischen Werke || 8 Benutzte Ausgaben: Johannes Teutonicus/Bartholomaeus Brixensi: Glossa ordinaria, Rom 1582, Sp. 14; Henricus de Segusio cardinalis Hostiensis: Commentaria et Lectura in decretalibus, Neudruck Frankfurt a. M. 2009, fol. 6r, 61r, 170v und 176r. Vgl. dazu WIEGAND, RUDOLF: The Development of the Glossa ordinaria to Gratian’s Decretum, in: HARTMANN, WILFRIED/PENNINGTON, KENNETH (Hrsg.): The History of the Medieval Canon Law in the Classical Period 1140–1274: From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX, Washington 2008, S. 55–97; BERTRAM, MARTIN: Handschriften und Drucke des Dekretalenkommentars (sog. Lectura) des Hostiensis, in: ZRG KA 75 (1989), S. 177–201; MÜLLER, JÖRG: Enrico Bartolomei di Susa, Henricus da Segusia, genannt Hostiensis (Einleitung zum oben genannten Neudruck); für Hinweise zu weiteren Kommentaren vgl. STÜRNER, WOLFGANG: Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken, Sigmaringen 1987 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 11), S. 162f.

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verfassten – keinen Nutzen für die Untertanen stifteten und gerade deswegen als diejenigen anerkannt werden müssten, die den Bereich weltlicher Angelegenheiten gestalteten. Die geringe Würdigkeit der Herrscher und geringe Wichtigkeit der Herrschaft fanden ihre Erklärung in der für die Menschen schädigenden Wirkung. Der Kontrast war umso schärfer, je mehr die Herrschaft sowohl als gewaltsam und furchterregend als auch seit dem Beginn der Geschichte als solche bestehend vorgestellt wurde. Es kam also nicht zur Abschwächung politischer Argumentation, vielmehr öffnete die gesteigerte Entwertung der Herrschaft und damit auch des politischen Handels die Möglichkeit, sie zu untersuchen und im historischen Verlauf darzustellen. Die Herrschaft büßte dabei zwar nicht die Existenzberechtigung, wohl aber die Nutzenlegitimierung ein. Otto von Freising (ca. 1112–1158), Bischof dieser Stadt und mit dem staufischen Herrscherhaus verwandtschaftlich verbunden, stellte Nimrod in seiner Chronik nicht nur als gewaltsamen Herrscher vor, sondern – der exegetischen Tradition folgend – als Widersacher Gottes. Um dies zu begründen, übernahm Otto die sprachliche Formulierung, die einst Augustinus gebraucht hatte: Nimrod handele contra Deum. So wie Augustinus erachtete Otto den König Nimrod als denjenigen, der den Turm zu Babylon errichtet habe. Nimrod sei von Hybris getrieben, und er lehne sich gegen Gott auf. Otto bewertete die religiöse Einstellung zu Gott, nicht das Handeln gegenüber den Untertanen. Die politische Deutung rückte Otto aber von der Gestalt Nimrods ab, die so gemäß der theologischen Deutung gehalten wurde, und heftete die grausame Gewalt des Herrschers vielmehr an den späteren assyrischen König Ninus an. Er sei der erste Herrscher gewesen, der nach vielen Jahren des Friedens von der Lust angetrieben gewesen sei, seine Herrschaft auszudehnen. Für dieses Ziel habe er sich nicht gescheut, das Blut der Menschen zu vergießen und überall in der Welt Krieg zu führen. Wie ein Wolf sei er in die Herde der Schafe eingefallen. Und Ninus habe Erfolg gehabt. Er habe fast über den gesamten Osten seine Herrschaft errichtet. Dies sei ihm gelungen, weil die anderen Menschen roh und bäuerisch gewesen seien, ungeübt im Gebrauch der Waffen, unerfahren mit dem Führen von Kriegen, unfähig, ihm zu widerstehen. Zuvor ohne Disziplin und Gesetzestreue, seien die Menschen damals in die Gewalt der Herrschaft hineingezwungen worden. Otto stellte die Entstehung von Gewaltherrschaft als zivilisatorischen Prozess dar, der zwar ein Vorgang der Gewalt und des Zwanges sei, gleichwohl eine zivilisatorische Errungenschaft darstelle, da die Menschen durch die Gewalt in eine verfasste Gemeinschaft hineingezwungen würden. Er wies auf Cicero und Eusebius hin, die einen Zustand des zuvor herrschaftsfreien, aber auch ungezähmten und wilden Lebens vorstellten, das dem der Tiere geglichen habe und abseits von Städten und ohne Vergemeinschaftung geführt worden sei. Die Unterwerfung unter die Gesetze, der Zwang, die Gewalt, der Krieg und das Blutvergießen hätten diesen Zustand beendet. Die Vorteile der Vergesellschaftung und der Herrschaft waren teuer erkauft. Nach der Zwangsvereinigung gab es in der Geschichte der Kaiser- und Königreiche, die Otto von Freising darstellt, zwar bewegte

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Ereignisse, aber ansonsten in den Lebensformen weltlicher Existenz nur die Fortsetzung dessen, was einst Nimrod und Ninus grundgelegt hatten.9 Der nordfranzösische Kanoniker Petrus Comestor (ca. 1100–1179), ebenfalls ein Regularkanoniker, der in Paris als Lehrer tätig war, entfaltet in seinem Werk Historia scholastica, einer an die Bibel und antike Autoren angelehnten Darstellung der Weltgeschichte, das Panorama eines ununterbrochen Kampfes, dessen Gewinner, Gott und die Erlösten, erst am Ende der Geschichte offen hervortreten würden. Der Antichrist greife in allen Epochen die Menschen an, sein Wüten sei nicht auf die Endzeit beschränkt, und er bediene sich der Gewalt der weltlichen Herrscher, um die Werke Gottes zu bekämpfen. Die Geschichte der Herrschaft stellt Petrus als Geschichte der Gewalt dar. Sie sei stets mit der Unterdrückung der Menschen verbunden. Nicht erst Ninus, sondern bereits Nimrod galt ihm als der erste Verursacher der Herrschaft ohne Gerechtigkeit. Nimrod wird entgegen des Textes der Genesis als Jäger der Menschen bezeichnet. Der amor dominandi habe Nimrod angetrieben, Menschen zu vernichten oder sie zu unterdrücken, schlimmer noch, er habe sie gezwungen, gegen Gott zu handeln, indem er sie zum Götzendienst und zur Anbetung des Feuers geführt habe. Erneut wird die Auflehnung gegen Gott mit der Unterdrückung der Menschen verbunden. Die brutale Herrschaft Nimrods werde fortgesetzt: durch seine Nachfahren und durch die Nachahmung seines Beispiels. Die dynastisch-genetische Ableitung und die Kontinuität des Handels begründen die Verwerflichkeit aller Könige, die nicht allein die Menschen unterdrückten und ihnen Gewalt zufügten, sondern sie häufig von Gott abzuwenden versuchten. Die Furcht, die Nimrod und mit ihm andere Könige verbreiteten, halte die Menschen unterwürfig. Ihr Wille solle gebrochen werden, damit sie, auch wenn sie ursprünglich anderes beabsichtigten, schlechte Taten verübten. Der Königsherrschaft war nicht einmal wie bei Otto von Freising ein Zugewinn an Zivilisation zugebilligt. Die Furcht vor dem Herrscher war kein Mittel, um von Verbrechen abzuhalten, nein, um sie auszuüben.10 Die Deutung Nimrods war auch Thema der philosophischen Erörterung zur Herrschaftsorganisation. Johannes von Salisbury († 1180) rückte die Erörterung zu Nimrod in eine Analyse zum Königtum, vor allem seiner eigenen Zeit und des englischen Königs

|| 9 Benutzte Ausgabe: Otto von Freising: Chronica sive historia de duabus civitatibus, hrsg. von GEORG WAITZ/BERNHARD VON SIMSON, Hannover 1912 (MGH SRG 46), S. 42 und 44. Vgl. dazu GOETZ, HANS-WERNER: Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts, Köln 1984 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 19); DERS., Otto von Freising, in: NDB 19 (1999), S. 684–86; DERS., Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im hohen Mittelalter, Berlin 2008 (Orbis medieavalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 1); KRETSCHMER, MAREK THUE: »Drinking the Golden Cup of Babylon«: Biblical Typology and Imagery in the Chronicle of Otto of Freising, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 47 (2016), S. 67–84, hier S. 71–73. 10 Benutzte Ausgabe: Petrus Comestor: Scolastica historia. Liber Genesis, Turnhout 2005/07 (CCCM 191), S. 74f. Vgl. dazu KARP, SANDRA RAE: Petrus Comestor’s Historia scholastia. A Study in the Development of Literal Scriptural Exegesis, Diss. Tulane University 1978.

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Heinrichs II. im Besonderen. Johannes entfernte die Figur aus einer historischen Erzählung und verzichtete auf eine Ursprungsgeschichte, die andauere. Er konzentrierte vielmehr seine Überlegung auf eine Typologie tyrannischer Herrschaft, die in Nimrod den Archetypus besaß, als Exempel für moralische Belehrung und definitorische Festlegung diente, aber auch als Exemplifizierung des strukturell immer Gleichen. Die Figur war als Argument eingesetzt, um sowohl vor ungerechter Herrschaft zu warnen, damit Könige und Untertanen sich vor ihr wappnen sollten, also auch um die Grundbedingungen von Herrschaft zu untersuchen. Johannes bot ethische Forderungen und institutionelle Analysen. Die beiden Ziele – Belehrung, um das Verhalten zu ändern, und Information zur Verfassung der Herrschaft – waren nicht leicht zu vereinbaren und führten zu einer uneindeutigen Haltung von Johannes hinsichtlich des Agierens gegenüber einem Tyrannen, hatten aber doch eine gemeinsame Basis in der Bewertung von königlicher Herrschaft, die von der Tyrannis zu unterscheiden Johannes verweigert, so dass er zu einer generellen Infragestellung der Legitimität von weltlicher Herrschaft beiträgt. Herrschaft könne zwar in einer geordneten Weise gestaltet werden, sofern sie dem menschlichen Körper mit seinen Teilen nachgebildet sei und die göttliche Schöpfung einschließlich von deren Schönheit und Nützlichkeit imitiere, aber das Werk Gottes in ein Menschenwerk zu übertragen, bleibt offensichtlich ein fernes Ideal und kann nicht als Zustandsbeschreibung der Herrschaft aufgefasst werden. Im Hauptwerk des Johannes von Salisbury, dem Policraticus, verwendet er zunächst die Gestalt Nimrods als Exempel zur Verurteilung der Jagd11 und erweitert dann seine Darlegung zu einer politiktheoretischen Erörterung, in der er Nimrod als Personifikation brutaler Herrschaft, basierend auf Gewalt und Schrecken, vorführt. Wie die Jäger den unglücklichen Tieren zur Befriedung ihrer Eitelkeit nachstellen würden, so die Mächtigen den Menschen. Die Beurteilung des Johannes ist mehr als eine negative Bewertung der Jagd, obgleich er sie mehr als die Autoren, die vor ihm die Bibelstelle kommentierten, verurteilt. Sie ist vor allem eine Kennzeichnung verfehlter Herrschaft. Die Gemeinsamkeit besteht in der Grausamkeit. Damit ist Nimrod aber nicht eine Vorwegnahme verwerflicher Herrscherpersonen, sondern die Personifikation institutioneller Verfehlung. Die Ausdeutung dieser Verfehlungen breitet Johannes in seinem Werk aus, das den Hof, also die Herrschaftsorganisation, als den Ursprung und den Hort der Ungerechtigkeit vorstellt, denen die gerechten Könige entgegentreten müssten. Die Kollektivierung des Unrechtshandelns scheint mit einer Individualisierung des Unrechts inkompatibel zu sein, die Verbindung ergibt sich aber aus den institutionell bedingten Verursachungen des Handelns. Indem Johannes

|| 11 Benutzte Ausgabe: Johannes von Salisbury: Policraticus, hrsg. von KATHARINE STEPHANIE BENEDICTA KEATS-ROHAN, Turnhout 1993 (CCCM 118), S. 29–42. Vgl. dazu VON MOOS, PETER: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike bis zur Neuzeit und die historiae im Policraticus Johanns von Salisbury, Hildesheim [u. a.] 1996 (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 2), S. 320.

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den im Alten Testament genannten König Nimrod eine institutionelle Beständigkeit verleiht, mindert er die moralische Bewertung von Personen, leistet er einen entscheidenden Schritt hin zur politischen Analyse, die ethische, historische und theologische Deutungen weiterführt und eine theoretisch anspruchsvolle Argumentation hervorbringt.12

5 Politisierung der Figur von Nimrod Die Deutung Nimrods wurde also politisiert und institutionalisiert. Sie trug dazu bei, die moralische Verurteilung der Person zu mindern, denn sie war dann nicht die Aktualisierung des Bösen, sondern galt als Präfiguration jeder Herrschaft, die nicht prinzipiell als verwerflich vorgestellt ist. So wird Nimrod am Ende des 12. Jahrhunderts durch Gottfried von Viterbo (ca. 1125–1192) eingeführt. Dieser Autor wurde an der Bamberger Domschule ausgebildet, war den Kaisern aus der Stauferdynastie eng verbunden und leistete ihnen auch politische Dienste. Seine Einbindung in die Praxis der Herrschaft motivierte offensichtlich die positive Bewertung. Er zog in dem von ihm verfassten Fürstenspiegel eine genealogische Verbindungslinie von Nimrod zu allen späteren Königen und reklamierte ihn sogar als Ahnherrn der mittelalterlichen Kaiser, auch seiner eigenen Zeit, also der Friedrichs I., ohne dass diese Ableitung eine moralische Entwertung begründete; es handelte sich vielmehr um eine institutionelle Legitimierung, deren Ursprung im Buch Genesis liegt. Die Taten der Könige seien – dies räumt Gottfried ein – grausam, und sie handelten gemäß dem Vorbild Nimrods, aber sie setzten die Grausamkeit für wertvolle Ziele ein, nämlich für die Zurückdrängung des Bösen.13 Deswegen sei es auch möglich, den Schrecken, den die Herrscher notwendigerweise verbreiteten, milde auszuüben. Er solle vor allem, wenn möglich, nicht gegen das eigene Volk gerichtet werden. Deswegen habe Kaiser Nero schändlich gehandelt, als er, der in seiner Jugend noch vor seinen Lehrmeistern Furcht gehegt

|| 12 Johannes von Salisbury: Policraticus (Anm. 11), S. 35, mit Hinweis auf Nimrod. Vgl. dazu KOSUCH, ANDREAS: Abbild und Stellvertreter Gottes. Der König im herrschaftstheoretischen Schrifttum des späten Mittelalters, Köln [u. a.] 2011 (Passauer Historische Forschungen 17), S. 117; SZABÓ, THOMAS: Die Kritik der Jagd. Von der Antike zum Mittelalter, in: RÖSENER, WERNER (Hrsg.): Jagd und höfische Kultur im Mittelalter, Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 135), S. 167–229; UHLIG, CLAUS: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. Studien zu einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik, Berlin/New York 1973 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 180/NF 56), S. 53. 13 Benutzte Ausgabe: Gottfried von Viterbo: Speculum regum, hrsg. von GEORG WAITZ, in: MGH SS 22, Hannover 1872, S. 21–93, hier S. 22 und 31f. Vgl. dazu DORNINGER, MARIA E.: Gottfried von Viterbo. Ein Autor in der Umgebung der frühen Staufer, Stuttgart 1997 (Salzburger Beiträge 31/Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 345).

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habe, nach seiner Kaiserkrönung die anderen Römer dazu gebracht habe, ihn zu fürchten; nicht einmal sein einstiger Lehrer Seneca sei von der Furcht verschont geblieben, der ihn doch zur Milde hätte leiten sollen. Es war also ein einzelner Herrscher, Nero, den Gottfried als verwerflich bezeichnete, die übrigen blieben von der Verurteilung verschont.14 Für Gottfried war Nimrod nicht der erste in der Reihe der schlechten Herrscher, er galt vielmehr als Begründer der Königsherrschaft und selbst der guten Regierung. Die Verbindung Nimrods zur Tyrannei war gekappt. Die königsnahe Tätigkeit Gottfrieds von Viterbo motivierte offensichtlich zur Abkehr von einer fundamentalen Herrschaftskritik und wendete die Gestalt Nimrods ins Positive. Die negative Sicht auf Nimrod war indes nicht abzuschütteln und wurde von anderen Autoren fortgesetzt, die ihn als Tyrannen markierten. Dante Alighieri (1265–1321) platzierte Nimrod in die Hölle. Im einunddreißigsten Gesang des Inferno seiner Divina Comedia beschrieb er die furchteinflößende, riesige Gestalt – selbst drei Friesen könnten ihm nicht bis zum Kopfhaar reichen. Dante stellte ihn als Diener des Kriegsgottes Mars dar; er habe Gewalt eingesetzt, Furcht verbreitet; seine schlimmste Verfehlung aber bestehe im Turmbau zu Babel, was die Sprachverwirrung unter den Menschen herbeigeführt habe. König Nimrod könne, in der Hölle im Loch hockend, nur unverständliche Laute lallen. Dante hat weniger die Furcht, den Schrecken und die Gewalt, die Mittel von Eroberung und Herrschaft seien, mit Nimrod assoziiert, sondern die Zerstörung einer weltumspannenden Kommunikation, die ihm als Voraussetzung Glück bringender Kooperation so wichtig war.15 Dante entfernte sich von der Tradition der Vorstellungen zu Nimrod insofern, als er die Herrschaft als schädlich für eine weltumgreifende Gemeinschaft der Menschen ansah, folgte ihr aber doch in der Weise, dass er Nimrod als Quelle der Zerstörung einer guten politischen Verfassung präsentierte.16 Die individuelle Verurteilung Nimrods hat Dante in eine kollektive Bewertung jeder tyrannischen Herrschaft ausgedehnt. Für Dante machte das Ende der Kommunikationsfähigkeit zwischen allen Menschen das gute Leben im Diesseits unmöglich. Gemeinsame Anstrengungen zur Gewinnung von Erkenntnissen seien daher unmöglich, was überdies durch gewaltsame Kriege zwischen den Herrschern und ihren Völkern zusätzlich verhindert würde. Nimrod sei schlimmer als ein Tyrann, der ungerechte Herrschaft ausübt, sondern er war bei Dante als ein Verderber der Menschheit, als ein Zerstörer des irdischen Glücks gekennzeichnet.

|| 14 Vgl. Gottfried von Viterbo (Anm. 13), S. 72. 15 Benutzte Ausgabe: Dante Alighieri: De monarchia, hrsg. von BRUNO NARDI, in: Dante Alighieri: Opere minori, Bd. 2, Mailand/Neapel 1979, S. 241–503, hier S. 294–98. Vgl. dazu MIETHKE, JÜRGEN: De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000, S. 158, und IMBACH, RUEDI: Laien in der Philosophie des Mittelalters, Amsterdam 1989, S. 66–71 und 132–42. 16 Benutzte Ausgabe: Dante Alighieri: La divina comedia, hrsg. von GIORGIO PETROCCHI, 4 Bde., Mailand 1966/1967, Bd. 2: L’inferno, S. 530–35.

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6 Tyrannei als Bedrohung des privaten Lebens: Johannes Duns Scotus Die Figur des Königs Nimrod war in die philosophische Argumentation eingeführt: als Exempel und als realer Ursprung der die Menschen bedrückenden weltlichen Herrschaft, mit ihren Auswirkungen bis hin zum privaten Leben. Johannes Duns Scotus († 1308) verwendete den Verweis auf Nimrod, um zu begründen, dass königliche Herrschaft und irdisches Glück unmöglich miteinander verbunden werden könnten. Eine seit den Anfängen der Geschichte stets waltende Unrechtsgeschichte wirke jenseits historischer Peripetien und jenseits politischer Umformungen. Johannes bot Exemplifizierung nicht allein tyrannischer, sondern jeder weltlichen Herrschaft, mehr aber noch eine faktische Grundlegung, die Nimrod deutlich aus einer Argumentationsfigur heraushebt und ihm Verursachung des Schlechten anheftet. Johannes Duns Scotus, der für die Franziskaner schulbildende Theologe,17 suchte Antworten zu geben auf die Frage, ob der Staat die Aufgabe habe und in der Lage sei, das menschliche Glück im diesseitigen Leben zu befördern. Die Gesellschaft sah er als Vereinigung an, die durch gemeinsame Ziele und Kooperationen gekennzeichnet sei. Der Herrschaft hat Johannes eine kosmologische oder himmlisch umfassende, alle Kreaturen einbeziehende Wirkkraft vorenthalten; stattdessen setzte er voraus, dass voneinander gesonderte Seinsbereiche mit gesonderten Bedingungen und Anforderungen bestünden.18 Die sozialen Bindungen würden durch Menschen gemäß ihren unterschiedlichen Zielen und Lebensumständen geknüpft und folgten Konventionen, die nicht durch allgemein geltende Notwendigkeiten vorgegeben seien, daher in unterschiedlicher Weise Bedürfnissen gerecht würden, willkürlich festgelegt seien und einzig der menschlichen Willensfreiheit unterlägen. Es gebe, so Johannes, eine doppelte Herrschaftsgewalt, und beide seien voneinander geschieden und unterschiedlich gestaltet. Die erste sei väterlich und natürlich, die zweite sei arbiträr und politisch; letztere setze keine familiären Bindungen voraus, vereinige Menschen, die keine emotionale Zuneigung zueinander hegten, und könne sowohl von einer einzigen Person als auch von einer Gemeinschaft ausgeübt werden. Erstrecke sich die väterliche Gewalt auf vertraute Menschen, so die politische auf fremde Menschen. Während die väterliche Gewalt eo ipso gerecht sei, heißt es von der politischen Gewalt nur, dass sie gerecht sein könne, faktisch aber selten gerecht sei, auf jeden Fall zu ihrer Existenzberechtigung nicht auf Gerechtigkeit angewiesen sei.19 || 17 Vgl. HONNEFELDER, LUDGER: Johannes Duns Scotus, München 2005 (Becksche Reihe 569: Denker), und INGHAM, MARY B.: John Duns Scotus. Philosopher, Münster 2010. 18 Benutzte Ausgabe: Johannes Duns Scotus: Lectura in librum secundum sententiarum, Città di Vaticano 1993 (Opera omnia 19), S. 15f., 45f. und 64–66. 19 Benutzte Ausgabe: Johannes Duns Scotus, Ordinatio: Liber quartus, Città di Vaticano 2011 (Opera omnia 13), S. 81f.: Ox. IV, dist. 15, q. 2, quinta et sexta conclusiones.

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Die Duplizität der irdischen Herrschaft führt zu einer Duplizität der ethischen Bewertung. Johannes entwertet die Herrschaft, so unumgänglich sie auch sein mag, weil sie mit Zwang, Gewalt, Furcht und Schrecken ausgeübt wird. Die iustitia originalis sei durch die erste Sünde verloren gegangen, so dass eine spontane Verbindung zwischen den Familien nicht mehr bestehe, darüber hinaus sei auch die Freiheit verschwunden und könne eine durch die Natur, nicht erst durch Zwang hergestellte spontane Vergesellschaftung nicht mehr hergestellt werden.20 Die familiären Gruppen seien voneinander entfremdet. Johannes und die von seinen Schülern zusammengestellte Reportatio Parisiensis der Sentenzenkommentare verwendet den Begriff der ultima solitudo, um die von großen politischen Verbänden abgetrennte und untereinander abgesonderte Existenz kleiner familiärer Gemeinschaften zu benennen.21 Zur Eindämmung egoistischen Verhaltens, zur Koordination der gegensätzlichen Anliegen, Wünsche und Bestrebungen und zur Vereinigung von Familien zugunsten einer umfassenden Kooperation würden Staaten eingerichtet. Selbst wenn in ihnen Gerechtigkeit bestehe, müsse sie erzwungen werden, sie beruhe auf Bestrafung, Drohung und Niederwerfung des Willens.22 Johannes schreibt, dass die Gewalt des Herrschers das bonum commune bewirke, aber nicht ein bonum singulare, und widerspricht damit der Konzeption des Thomas von Aquin, für den das allgemeine Wohl sowohl Ursprung als auch Ergebnis des individuellen Wohls ist. Der Schwerpunkt ist bei Johannes auf die Gewalt gelegt. Sie setzt er analog zur Gewalt Gottes. So wie dieser durch die Buße Widrigkeiten auferlegt, so der Herrscher durch die weltlichen Strafen. Ausdrücklich hält Johannes daran fest, dass die Strafen Traurigkeit hervorrufen, dass sie als niederdrückend empfunden werden und dass sie tatsächliches Übel zufügen. Das Ergebnis des Herrschens ist die Negation der individuellen Glückseligkeit. Die staatliche Organisation gleiche, so sieht es Johannes, einem Körper, dessen Einheit erhalten werden müsse, was nur gelinge, wenn die Oberen die Unteren anleiteten, beherrschten und bezwängen. Freundschaften zu knüpfen sei unangebracht, wenn es um die Durchsetzung des Willens der Herrscher gehe.23 Den Zwang übten die Herrscher selbst dann aus, wenn die Herrschaft auf dem Einverständnis der Untertanen beruhen würde. Der Zwang solle zwar, so Johannes, der Vernunft entsprechen, er solle auch die Verehrung Gottes fördern, aber deutliche Vorgaben zur inhaltlichen || 20 Vgl. Johannes Duns Scotus (Anm. 18), S. 190f. und 289. 21 Benutzte Ausgabe: Johannes Duns Scotus: Reportata Parisiensis, hrsg. von LUCAS WADDING, Lyon 1639 (Opera omnia 11,2), Nachdruck Hildesheim 1969, S. 723: lib. 4, dist. 15, q. 4, n. 10. 22 Eine zielgerichtete, das individuelle Wohl oder gar Glück befördernde Herrschaft ist nicht vorgesehen; vgl. dazu COCCIA, ANTONIO: Persona humana in doctrina Iohannis Duns Scoti est finis et fundamentum optimae societatis, in: BÉRUBÉ, CAMILLE (Hrsg.): Regnum hominis et regnum Dei. Acta quarti Congressus Scotistici internationalis, Padua 24.–29. Sept. 1976, Rom 1978, S. 585–694. 23 Vgl. Johannes Duns Scotus (Anm. 19), S. 113: Ox., lib. IV, dist. 15, q. 2., n. 7.

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Konkretisierung und zur Zielsetzung des Zwanges im Staat leiten sich aus der Vernunft und dem religiösen Gebot nicht ab.24 Weil es auch keine Vorgaben hinsichtlich des Nutzens für die Untertanen gibt, den die Herrschaft für das diesseitige Leben erbringt, legt Johannes ihr auch nur wenige Beschränkungen auf und formuliert nur wenige Hinweise zu ihrer Ausübung. Präzisiert wird aber die Grausamkeit, die der Vollzug der Gesetze verlangt; sie bedränge alle – selbst den Herrscher, sofern er es versäume, gemäß der Schwere des Vergehens zu strafen. Die Grausamkeit der Herrschaft beruhe auf dem Recht und sei durch dieses gerechtfertigt. Die Grausamkeit bestehe seit dem Beginn der Königsherrschaft und bis in die Gegenwart hinein. Zur Erläuterung verweist Johannes auf die Gestalt Nimrods, den er als Gewaltmensch, Räuber und Unterdrücker der Menschen charakterisiert, der überdies Macht an sich reißt und seine schädigende Wirkung vervielfältigt, der aber nicht als Tyrann, also eine Realisierung eines Sonderfalls markiert ist, sondern als Allgemeintypus der Herrschaft. Diese verbindet Johannes mit der Gewalt, die sich nicht allein gegen die Tiere richtet – was ihn nicht weiter interessiert –, sondern gegen die Menschen. Nimrod dehne durch Gewalt seine Macht aus und sei der erste der bellatores, die den Menschen das ihnen Notwendige rauben, um es sich selbst anzueignen. Indem Johannes Nimrod als Urvater und als Modell jeder weltlicher Herrschaft präsentierte, heftete er ihr eine Abwertung an, aus der es kein Entrinnen gab, denn Nimrod war damit eindeutig nicht mehr allein eine Präfiguration der Tyrannen, sondern aller Könige. Nimrod galt nicht distinktiv, sondern definitorisch als böser Herrscher. Schärfer noch als bei Petrus Comestor, der im 12. Jahrhundert die Stabilität und Dauer der königlichen Zwangsgewalt in der Nachfolge Nimrods beschreibt, gleichwohl aber eine Eindämmung der Gewalt durch die Geltung der Gesetze vorsieht und die Zwangsgewalt als Folge der den sündigen Menschen auferlegten Strafe ansieht,25 kann Johannes in der Herrschaft, wie sie Nimrod in der Vergangenheit begründete und wie sie, dem bösen Ursprung und Beispiel folgend, auch in der Gegenwart wütet, keinen Nutzen erkennen. Deren Schädlichkeit wird nicht einmal durch die von ihr hervorgebrachten Gesetze abgewendet. Johannes vermag den Gesetzen keine Wirkung zuzuschreiben, die Gewalt einzudämmen, sondern erachtet sie als ein Instrument zu ihrer Anwendung. Die biblische Figur wird hier zum Archetypus nicht allein der Person des Herrschers, sondern auch der Institution der Herrschaft. Die generalisierende Charakterisierung von Herrschaft, der Zwang, Furcht und Schrecken zugeschrieben wird, versperrt jeden Ausweg zur Annahme, dass die unumgänglich notwendige Herrschaft auch eine gerechte sein müsse.26 Die Abwertung der Herrschaft ändert freilich nichts an ihrer Legitimität. Dass sie ein Übel darstellt, zieht keine Negation ihrer Existenzberechtigung nach sich. Der biblische Ursprung begründet sie vielmehr.

|| 24 Vgl. KÖNIG-PRALONG, CATHERINE: Le voluntarisme scotiste. Constitutions et usages d’une césure historique à l‘âge moderne, in: Recherches de théologie et philosophie médiévale 81 (2014), S. 181–208. 25 Vgl. Petrus Comestor (Anm. 10), S. 74f. 26 Vgl. Johannes Duns Scotus (Anm. 19), S. 131–39: Ox., lib. IV, dist. 16, q. 1.

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Johannes behandelt daher im eigentlichen Sinne nicht das Thema der Tyrannei, denn eine spezifische Abirrung von der guten Herrschaft, die mit diesem Begriff konzeptualisiert werden könnte, entfällt, da jede Herrschaft für das Glück des Menschen schädlich ist, also die durch Aristoteles und seine mittelalterliche Rezeption eingeführte Vorstellung, dass das Glück im Diesseits nur durch die staatliche Organisation ermöglicht werden könne, keinen Platz in der Argumentation des Johannes findet. Wenn der Herrschaft ein Gutes zugebilligt werden kann, dann besteht es darin, ein friedliches Zusammenwirken aller zu ermöglichen und die Schwachen vor den Nachstellungen der Starken zu schützen. Dieser Meinung stellt Johannes indes das Argument entgegen, dass die Machtlosen unter den Nachstellungen der Mächtigen leiden würden. Als praktische Lösung empfiehlt Johannes eine Einschränkung der Gewalt des Staates. Aber es geht um mehr als um eine Abschwächung der Gewaltanwendungen der Herrscher. Johannes sieht eine Begrenzung der Kompetenz des Staates vor. Nicht persönliche, sondern institutionelle Regeln sind aufzuerlegen. Gegen die Gewalt sind veritable Schutzzonen einzurichten. Schutz bieten die Familie, deren Haushalte, deren Besitz und die Verfügung über ihn. Johannes verteidigt das Privateigentum und verwirft das Kollektiveigentum. Das private Eigentum garantiere eher die Gleichheit der Lebensverhältnisse und die freie Lebensgestaltung als ein gemeinschaftliches Eigentum, weil alle die Möglichkeit hätten, sich durch das Eigentum einen vom Staat abgesonderten Bereich zu schaffen, wohingegen eine gemischte und daher ungeregelte Verfügung materieller Güter oder gar eine kollektive Verfügung über sie den Frieden verhindern und die Wehrlosen den Übergriffen der Mächtigen überlassen würde. Gerade die Armen bedürften des Rückzugs in den privaten Bereich, bedürften des Gehäuses, innerhalb dessen sie sich vor den Nachstellungen der Mächtigen schützen könnten. Das Gemeinschaftseigentum, weit davon entfernt, Liebe und Gleichheit hervorzurufen, gilt bei Johannes als Bedrohung für die Untertanen und für die Armen im Besonderen. Die Menschen würden für das individuelle Eigentum besser als für das kollektive sorgen und folglich die Summe des allgemeinen Wohls vermehren.27 Bemerkenswert ist die Umwertung, die Johannes Duns Scotus vornimmt: Während bei Aristoteles und mit ihm bei Thomas von Aquin das Haus der Ort tyrannischer Befehlsgewalt des Hausherrn gegenüber den Mitgliedern der Familie ist, erweisen sich bei Johannes die Familie und ihre Haushalte als der Ort der Liebe, in dem Schrecken, Furcht, Gewalt und Zwang zurückgedrängt sind. Während der Staat Freundschaft mindert, vermehrt die Familie sie. Johannes unterscheidet nicht zwischen Tyrannen und Königen. Beide üben Gewalt aus. Diese ist immer bedrückend: Günstigstenfalls kann

|| 27 Benutzte Ausgabe: Johannes Duns Scotus: Ordinatio. Liber tertius, Città di Vaticano 2006 (Opera omnia 9), S. 284, dist. 37, q. 1, n. 27: Et tamen possessiones esse distinctas pro personis infirmis vale consonat pacifiace conversationei: infirmi enim magis curant bona sibi propria quam bona comunia.

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sie zur Korrektur der Verfehlungen der Untertanen eingesetzt werden, schlimmstenfalls unterdrückt sie sie. Stets ist die weltliche Gewalt bedrückend, nicht förderlich, trägt nicht zum allgemeinen Wohl bei.

7 Nimrod als Gestalt der fiktionalen Literatur Außerhalb der theologischen, juristischen und historiographischen Texte war Nimrod auch in der fiktionalen Literatur als Sujet etabliert. Das im späten Mittelalter sehr weit verbreitete Werk über die fiktiven Reisen des John Mandeville – um die Mitte des 14. Jahrhunderts von einem Anonymus verfasst – beschrieb Nimrod als riesig und monströs. Er sei der erste König gewesen, der den Götzendienst eingeführt und Standbilder von sich errichtet habe, welche die Untertanen verehren müssten. Spätere heidnische Herrscher hätten sein Tun nachgeahmt. Von seinem Geschlecht stammten die deformierten Gestalten ab – manche ohne Kopf, manche mit großen Ohren, manche einäugig. Die Ausbreitung exotischer Absonderlichkeiten stellt die politische Bewertung zurück. Die Nachfahren Nimrods waren in eine weite zeitliche und räumliche Ferne gerückt. Nimrod war aber doch auch der Prototyp der erfolgreichen Herrscher, die aber ebenfalls aus der heimischen okzidentalen Christenheit entfernt waren; bereits sein Vater habe mittels der Grausamkeit den besten Teil des Orients erobert. Die Mongolenherrscher seien die Nachfolger.28 Die Gestalt Nimrods fand Eingang in die populäre Literatur, verlor dabei aber eine deutliche Konturierung als König und als Tyrann und wurde zum exotischen und abscheulichen Fremden. Der Reiseroman von Mandeville entfernte ihn aus dem Okzident und entließ ihn so aus einer politischen Bewertung. Nimrod wurde im späten Mittelalter schließlich als Kriegsherr und Begründer des Adels vorgeführt. Für Johannes Rothe, den Autor der Thüringischen Landeschronik aus dem 15. Jahrhundert, gilt er als erster, der ein Heer aufgestellt hat. Die stärksten Männer habe er ausgesucht, habe sie angeleitet, sie in geordnete Reihen gestellt, sie siegen gelehrt.29 Diese Wendung ins Positive zeigt sich auch in fiktiven Genealogien || 28 Benutzte Ausgabe: Le livre des merveilles du monde. Jean Mandeville, hrsg. von CHRISTIANE DELUZ, Paris 2000 (Sources d’Histoire Médiévale 31), S. 140 und 379. Vgl. dazu DIES.: Le livre de Jean de Mandeville. Une géographie au 14e siècle, Louvain-la-Neuve 1988, S. 292 und 294; TZANAKI, ROSEMARY: Aspects of Mandeville’s Audiences, in: BREMER, ERNST (Hrsg.): Jean de Mandeville in Europa. Neue Perspektiven in der Reiseliteraturforschung, Paderborn 2007, S. 79–92; LADERO QUESADA, MIGUEL ANGEL: Reale und imaginäre Welten: John Mandeville, in: NOVOA PORTELA, FELICIANO [u. a.] (Hrsg.): Legendäre Reisen im Mittelalter, Stuttgart 2008, S. 55–76. 29 Benutzte Ausgabe: Johannes Rothe: Thüringische Landeschronik und Eisenacher Chronik, hrsg. von SYLVIA WEIGELT, Berlin 2007 (DTM 87), S. 16. Vgl. dazu HUBER, CHRISTOPH: Die Ritterweihe Landgraf Ludwigs IV. bei Johannes Rothe. Historiographische Textbausteine und poetologische Aspekte, in: HELLGARDT, ERNST [u. a.] (Hrsg.): Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen, Köln [u. a.] 2002, S. 165–78.

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der Luxemburger und der Habsburger Dynastie seit dem 14. Jahrhundert. Nimrod wird zum Ahnherrn jeder Herrschaft stilisiert, für das eigene Geschlecht reklamiert und als Vorbild der guten Herrschaft in Anspruch genommen. Aber es ist ein Urteil, das offensichtlich nicht allgemein akzeptiert wurde. Dies zeigt sich in der ausdrücklichen Zurückweisung einer Abstammung von Nimrod durch Kaiser Maximilian, Angehöriger der Habsburgerfamilie.30 Das changierende Bild erlaubte auch den sozialen Protest: Nimrod sei der Begründer des Adels, daher derjenige, der Gewalt und Unterdrückung und die Ausbeutung der Bauern begonnen habe. Das kritische Potential, das die Figur Nimrod anbot, wurde in einem anonymen spätmittelalterlichen Text, der die Anliegen der Bauern vorstellt, zur Delegitimierung sozialer Ungleichheit aufgerufen.31

8 Fazit In den Traditionsschichten erschien Nimrod – bis auf wenige Ausnahmen – als ein Herrscher, der niemanden – weder Tier noch Mensch – aus seiner Gewalt und seinem Schrecken entließ. Nimrod war nicht einzigartig, viele Herrscher folgten ihm. Die Deutung der biblischen Gestalt und ihre Einkleidung in eine Erzählung eigneten sich zum Verständnis von politischer Verfasstheit. Damit trat Nimrod auch in eine philosophische Erörterung ein, die seit Johannes von Salisbury, also seit der Mitte des 12. Jahrhunderts, geleistet wurde. Die Argumentation, die der franziskanische Theologe und Philosoph Johannes Duns Scotus an der Wende zum 14. Jahrhundert präsentierte, stellte eine Kulmination der politiktheoretischen Analyse dar. Sie lenkte die Deutung in eine Darlegung institutionell-politischer Verfahrensordnungen, verließ die Bewertung einer Person und machte Nimrod zu einer Gestalt, die Herrschaftsverfassung repräsentierte. Die analytische Präzision erlaubte aber auch eine Banalisierung Nimrods, da er, von dem Verdikt des Verwerflichen abgelöst, sich als Anknüpfung für die Erzählung dynastischer und herrschaftlicher Kontinuität eignete. Aus der Narration des Vergangenen erwuchsen Konzeptionen des Gegenwärtigen. Die Interpretation beruhte auf einer produktiven Umformung des Bibeltextes. Im Mittelalter bot sich damit ein Modell an, um die weltliche Herrschaft zu kritisieren und zu entwerten. Aber die Gestalt Nimrods eignete sich auch für eine Apologie der Gewalt der Herrscher und war die Grundlage dafür, Gewalt und Unterdrückung im Staat als seit dem Beginn der Geschichte unabänderliches Faktum anzusehen, das || 30 Vgl. dazu HAYNES (Anm. 2), S. 240f., und BERNS, JÖRG JOCHEN: Maximilian und Luther. Ihre Rolle im Entstehungsprozess einer deutschen National-Literatur, in: GARBER, KLAUS (Hrsg.): Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des ersten internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989, S. 640–68, hier S. 655. 31 Vgl. KIEPE-WILLMS, EVA: Art. Der Bauern Lob, in: 2 VL, Bd. 1 (1978), Sp. 635–37.

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nicht geändert werden könne, weil während aller Zeiten die Gestalt Nimrods Herrschaft auf einen biblischen Ursprung zurückführte. Die Geburt der Herrschaft aus der Gewalt war fest etabliert. Was als kritisches Potential gegenüber der Herrschaft übrigblieb, riskierte durch eine religiöse Deutung – die Auflehnung gegen Gott – verloren zu gehen. Das Ergebnis ist paradox: Die religiös begründete Abwertung der Gewalt entlastete von ethisch-politischen Anforderungen, die der guten Herrschaft die Sorge für die Untertanen auferlegt hätte. Sofern die Herrschaft definitorisch ›unheilbar‹ (der Begriff in seiner religiösen und juristischen Bedeutung) aus dem Bösen entsprang und dem Bösen verhaftet war, waren Anforderungen hinsichtlich einer den Nutzen für die Menschen herstellenden Herrschaft nichtig. Die zunehmende analytische Schärfe, die bei der Bewertung von Herrschaft individuelle Verfehlungen zur Seite drängte, verließ das Thema der Tyrannenkritik, um zur Herrschaftskritik vorzustoßen. Nimrod verlor im Laufe der mittelalterlichen Bewertung seine Funktion als Prototyp des Tyrannen, um zur Figuration des Herrschers schlechthin zu werden, den nach ethischen Kriterien zu beurteilen und dem Tugendanforderungen aufzuerlegen als ungenügend angesehen wurde. Damit war die Grundlage für eine genuin politische Untersuchung gegeben, die Voraussetzungen des Handelns, institutionelle Regelungen und Konsequenzen des herrschaftlichen Agierens zum Thema hatte. Das eröffnete zwei Optionen: erstens die grundsätzliche Abwertung der weltlichen Herrschaft, die nicht einmal mehr als Tyrannei abqualifiziert werden musste, und zweitens die Zuführung von Legitimationen, da selbst eine gewaltsame Schreckensherrschaft als unumgänglich, ja wesensimmanent galt und da die definitorische Festlegung ein Entrinnen aus schädigenden Wirkungen für die Individuen ausschloss. Was auf den Menschen lastet, sie bis in ihr privates Leben verfolgt, geht, so begründet dies vor allem Johannes Duns Scotus, von den Herrschern aus, die nicht einmal Tyrannen sein müssen, um Furcht zu erregen, Gewalt auszuüben und sich Güter anzueignen. Die Figur des Tyrannen verlor so ihre moralische Abwertung, eignete sich weniger als Gegenbild zum guten Herrscher als vielmehr dazu, einen Urgrund der Herrschaft aller Herrscher vorzuführen. Wenn jede Herrschaft als Nachfolgeinstitution der Gewaltherrschaft Nimrods gekennzeichnet wurde, entfiel eine distinktive ethische Bewertung der Herrscherperson. Damit aber zerrann die Spezifik des Tyrannen. Eine Entindividualisierung führte im späten Mittelalter zur Generalisierung. Statt Person stand Organisation, statt Ethik Politik. Die Politisierung des Tyrannenkonzepts hat so zu seiner Aufhebung geführt und es in ein Strukturkonzept überführt. Die Figur des Tyrannen schwand; hervor trat die Figur des absoluten Herrschers. Zur vollen Entfaltung sollte diese indes erst nach dem Ende des Mittelalters, seit dem 16. Jahrhundert gelangen.32 Notwendig war hierzu die Aneignung der Verfahrensweisen, die Tyrannen in der Antike und im frühen und hohen Mittelalter zugeschrieben worden waren. || 32 Vgl. FREIST, DAGMAR: Absolutismus, Darmstadt 2008 (Kontroversen um die Geschichte).

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Diese Aneignung konnte sogar mit dem Verweis auf Nimrod gerechtfertigt werden. Die Veränderung zeigt sich in der Deutung der Gestalt Nimrods. Die Umwertung von Tyrannenkritik in Herrschaftslegitimierung war in der Interpretation des biblischen Textes zu Nimrod angelegt. Verurteilung wurde gewendet in Beurteilung, die ethische Bewertung in eine institutionelle Definition überführt.

Daria Norma Jansen

Judith und Holofernes Eine Tyrannenmörderin zwischen Skandalon und Ideal [I]n den Gestalten von Dalila und Judith, Aspasia und Lucrezia, Pandora und Athene ist die Frau zugleich Eva und die Jungfrau Maria. Sie ist Idol und Dienerin, Quelle des Lebens und Macht der Finsternis; sie ist das elementare Schweigen der Wahrheit und ist Arglist, Geschwätz und Lüge; sie ist Heilerin und Hexe; sie ist die Beute des Mannes und sein Verderben, sie ist alles, was er 1 nicht ist und was er haben will, seine Negation und sein Seinsgrund. Simone de Beauvoir

Dieser Beitrag nähert sich der ›Polyvalenz der Tyrannis‹ über die ›Polyvalenz einer Tyrannenmörderin‹. Dazu wird mit der biblischen Erzählung von Judith und Holofernes ein Tyrannenmord in den Blick genommen, dessen Protagonistin in ihrer Rezeptionsgeschichte mit sehr unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Konnotationen versehen wurde. So kennt das Europa des 14.–16. Jahrhunderts Judith als heroische femme forte, als sexualisierte femme fatale, als personifizierte Tugend der Mäßigung und zugleich als Prototyp für die Hinterlist von Frauen.2 Mit Blick auf diese synchron || 1 DE BEAUVOIR, SIMONE: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, übers. von ULI AUMÜLLER und GRETE OSTERWALD, Reinbeck b. H. 192018, S. 194. 2 Eine einschlägige Übersicht über die deutschen Judithdichtungen vom 12. bis 16. Jahrhundert gibt LÄHNEMANN, HENRIKE: Hystoria Judith. Deutsche Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, Berlin/New York 2006 (Scrinium Friburgense 20). LÄHNEMANN legt den Fokus ihrer Studie auf die narrativen Darstellungen von Judith als Inbegriff von Keuschheit und als Instrument Gottes, die sie als »Fortschreibungen der Judithgeschichte mit ihrem theologisch determinierten Bild der Heldin« (S. 417) kennzeichnet. Neben dieser Tradierungslinie, die in den Judithdichtungen des Mittelalters dominiere, lasse sich zudem insbesondere in »zahllosen Bildern und Sprüchen des 16. Jahrhunderts« ein Umgang mit dem Judithstoff ausmachen, der »der Frau, nicht dem Stoff« den Vorrang gebe: »Die Gestalt Judiths löst sich von ihrem Buch: als Exempel im Spruch, in typologischen Konstellationen, als Freiheitsstatue auf Marktplätzen [gemeint ist Donatellos Judith, die 1495 auf dem heutigen Palazzo Vecchio als Symbol für die Vertreibung der Medici aus Florenz aufgestellt wurde, D. J.] und unter den Weiberlisten« (alle Zitate S. 299). LÄHNEMANN erkennt in dieser »außerordentliche[n] Farbigkeit der Judithfigur im 16. Jahrhundert« (S. 417) Spuren spätmittelalterlicher Judithdarstellungen, die biblische Helden in neue bildmächtige Kontexte setzten; exemplarisch nennt und analysiert LÄHNEMANN dazu Judiths typologische Beziehung zu Maria (vgl. S. 419–24) sowie Judith als Teil von Reihenbildungen – zum einen die Serialisierung von Judith unter den wîberlisten (vgl. S. 424–31) und zum anderen Judiths Glorifizierung als clara mulier (vgl. S. 431–37). Einen Einblick in die verschiedenartigen Konnotationen Judiths in der darstellenden Kunst gibt UPPENKAMP, BETTINA: Schwert in Frauenhand. Überlegungen zur Figur der Judith zwischen Femme forte und Femme fatale, in: Landesmuseum Württemberg (Hrsg.): Katalog zur Ausstellung ›Faszination Schwert. Große Sonderausstellung im Landesmuseum Württemberg‹, Darmstadt 2018 (Archäologie in Deutschland, Sonderheft 14/2018), S. 91–98. UPPENKAMP verortet Judith im Spannungsfeld zweier Bildtraditionen – der Darstellungen ›bewaffneter Weibhttps://doi.org/10.1515/9783110752373-003

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vorhandenen Varianten der Judith-Figur drängen sich zwei Fragen auf, die die Leitfragen des folgenden Beitrags bilden: Wie lassen sich diese verschiedenartigen Erscheinungsformen der Judith-Figur erklären? Und welche Auswirkungen haben diese Darstellungsvarianten für das Verständnis des Tyrannenmordes?

1 Durch das Schwert einer Frau – zum Profil einer Niederlage [E]t dixit una mulier hebraea fecit confusionem in domo regis Nabuchodonosor3 (Jdt 14,16: »Und er [Bagao, D. J.] sagte: ›Eine einzelne hebräische Frau hat Schande im Haus des Königs Nebukadnezar getan.‹«). Mit diesem Aufschrei kommentiert Bagao den Anblick, als er in das Zelt von Nebukadnezars Hauptmann, Holofernes, tritt und diesen nicht, wie erwartet, nach einer gemeinsamen Liebesnacht mit der schönen Hebräerin Judith vorfindet, sondern dessen enthaupteten Körper auf dem Boden des Zelts liegen sieht. Den abgetrennten Kopf hat Judith mitgenommen. Für Johannes von Salisbury ist diese blutige Tötung keinesfalls eine ›Schandtat‹; vielmehr nennt er im Policraticus die biblische Geschichte von Judiths Mord an Holofernes als Beispiel für einen moralisch legitimierten Tyrannenmord, da Judith ganz ohne privates Interesse und nicht zu ihrem Eigennutz handle. Er beschreibt Judiths Mord an Holofernes folgendermaßen: Sic Holofernes non uirtute hostili sed suis uitiis gladio mulieris occubuit et, qui uiris formidabilis fuerat, luxuria et ebrietate uictus, a femina interfectus est (VIII,20: »So starb Holofernes nicht durch feindliche Tapferkeit, sondern aufgrund seiner Laster durch das Schwert einer Frau; er, der für Männer furchtbar war, wurde, von Verschwendungssucht und Trunkenheit überwältigt, von einer Frau getötet«).4 Diese Synopsis der biblischen Erzählung lässt an zwei Stellen aufmerken: Erstens fällt auf, dass Judith, während der Feldherr direkt mit seinem Namen eingeführt wird, generisch als Frau (mulier bzw. femina) bezeichnet wird. Diese Betonung von Judiths Geschlecht hebt ihre Rolle als ›tötende Frau‹ hervor, was durch den Hinweis auf das ›Schwert einer Frau‹ (gladio mulieris) noch verstärkt wird. Zweitens wird Judiths Tötung des Tyrannen kausal mit dessen lasterhaftem Verhalten, hier re-

|| lichkeit als Tugend‹ (wie sie sich z. B. in den spätmittelalterlichen Erbauungsbüchern Speculum Virginum und Speculum humanae salvationis manifestiere; vgl. S. 93) und der Wahrnehmung waffentüchtiger Frauen als ›fatale Weiblichkeit‹ (wie sie die Darstellung der fast lebensgroßen nackten Judith von Hans Baldung Grien aus dem Jahr 1525 besonders anschaulich verkörpere, vgl. S. 96). 3 Benutzte Ausgabe des lateinischen Texts des Buch Judit in der Vulgata: Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem, hrsg. von ROBERT WEBER, 5. verb. Aufl., hrsg. von ROBERT GRYSON, Stuttgart 2007. Hier und im Folgenden, sofern nicht anders vermerkt, eigene Übersetzung. 4 Benutzte Ausgabe: Ioannis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici sive de nvgis cvrialivm et vestigiis philosophorum libri VIII, hrsg. von CLEMENS C. I. WEBB, 2 Bde., London/Oxford 1909.

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präsentiert durch seine Verschwendungssucht und Trunkenheit, enggeführt. Holofernes’ Tod wird dadurch als eine doppelte Niederlage gekennzeichnet, denn der grausame Kriegsherr stirbt nicht nur durch das Schwert einer Frau, sondern ist zudem durch seine Lasterhaftigkeit, Trunksucht und die damit verbundene Schwäche als inferiore Figur angelegt. Die antagonistische Gegenüberstellung von Judith und Holofernes trägt somit entscheidend dazu bei, dass der Tyrannenmord an Kontur gewinnt und als eine umfassende Demütigung von Holofernes – als Krieger ebenso wie als Mann – erkennbar wird. Die These dieses Beitrags ist, dass es sich hierbei nicht allein um eine sprachliche Finesse des Policraticus handelt, sondern dass sich ein Strukturphänomen abzeichnet, das bereits im Judith-Buch der Vulgata angelegt ist.

2 Instrument, Heroin, Gefährdung – die Judith der Vulgata Das apokryphe bzw. deuterokanonische Buch Judit5 kann in die Heilsgeschichte Israels eingeordnet werden. Im Zentrum steht der assyrische Siegeszug unter Nebukadnezar, der mit der Niederlage von Artafax einsetzt und sich zu Nebukadnezars Anspruch auf Weltherrschaft ausweitet. Im Zentrum der Handlung steht die brutale Kriegsführung des Hauptmanns Holofernes. Die Stadt Bethulia leistet als letzte Stadt Widerstand gegen die assyrische Streitmacht. Als die Belagerung unerträglich wird, beschließt der Stadtrat, in fünf Tagen zu kapitulieren, sollte ihr Gott sie bis dahin nicht gerettet haben. Die Witwe Judith kann diesen Plan stoppen, indem sie den Rat von der blasphemischen Natur einer solchen Fristsetzung überzeugt, und beendet schließlich den Konflikt, indem sie Holofernes täuscht, verführt und enthauptet. Das assyrische Heer löst sich daraufhin auf und der Krieg ist beendet. Eine Analyse der Figurenkonzeption von Judith und Holofernes zeigt deutlich deren Anlage als antagonistisches Figurenpaar, die bereits in dem kurzen Ausschnitt aus dem Policraticus erkennbar wurde, insofern beide als eine Art Negativfolie für die Figurenkonzeption des jeweils anderen fungieren: Immer da, wo der Text bestimmte Attribute von Judith hervorhebt, tritt als Reaktion darauf der jeweilige Gegenpart dieses Attributs bei Holofernes in den Blick und umgekehrt. Für die Frage nach der Dar|| 5 Es wird vermutet, dass die griechische Fassung des Judith-Buchs die Übersetzung eines hebräischen oder aramäischen Texts ist, der Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. verfasst wurde. Der Text der Septuaginta diente später wiederum als Ausgangspunkt für aramäische Fassungen. Hieronymus arbeitete wahrscheinlich mit einem vergleichbaren aramäischen Text, der heute nicht mehr erhalten ist. Dabei unterscheidet sich die Version der Vulgata deutlich vom Judith-Buch der Septuaginta. Eine Übersicht zum Forschungsdiskurs über die Textgeschichte des Judith-Buchs findet sich bei LÄHNEMANN (Anm. 2), S. 16–25.

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stellung der Tyrannis generiert diese antagonistische Anlage einen interessanten Blickwinkel, denn je nachdem, welches gegensätzliche Attribut der beiden Figuren ins Zentrum der Betrachtung rückt, erscheint auch der Tyrannenmord selbst in einem anderen Licht. Um diesen Zusammenhang zu explizieren, werden im Folgenden drei Lesarten der Tötung herausgearbeitet, die im biblischen Text angelegt sind und sich jeweils aus einem unterschiedlichen Fokus auf die Beziehung der beiden Figuren ergeben: erstens die dogmatische Deutung des Mordes im Sinne eines Stellvertreterkonflikts, zweitens die Deutung des Mordes als heroische Tat einer Heldin und drittens die Deutung des Mordes als eine im höchsten Maße subversive Tat in einem zugrundeliegenden Geschlechterkonflikt. Die erste Auffassung der Tötung als Teil eines übergeordneten Stellvertreterkonflikts zwischen Gott und Nebukadnezar kommt dann besonders zum Tragen, wenn die Textelemente ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden, die Judith als ein Instrument Gottes auszeichnen. Judith ist der Inbegriff von Gottesfurcht. So wird die Witwe im biblischen Text über die Phrase eingeführt, dass niemand ein ›böses Wort‹ über sie sagen konnte: et erat haec in eo omnibus famosissima quoniam timebat Dominum valde nec erat qui loqueretur de illa verbum malum (Jdt 8,8: »und diese war von allen die Angesehenste, weil sie den Herrn sehr fürchtete und weil es keinen gab, der ein böses Wort über sie redete«). Als sie vor den Rat tritt und diesen davon überzeugt, ihren Gott nicht zu verraten, fungiert sie deutlich als Sprachrohr für die Botschaft Gottes. Der Rat adressiert Judith nach ihrer Rede als sancta mulier (Jdt 8,29) und stimmt ihren Worten uneingeschränkt zu, was ihre Rolle als Instrument Gottes zusätzlich unterstreicht (Jdt 8,28). Zudem wird die Handlung von mehreren Sequenzen durchzogen, in denen Judith betet und Gott um Kraft und Unterstützung bittet (Jdt 9,1–19; Jdt 12,8; Jdt 13,6). Liegt der Fokus auf den Gebetsequenzen, tritt auch der ritualisierte Charakter der Tötung selbst hervor: Judith spricht ein stilles Gebet und weint, wie um sich zu reinigen, bevor sie das Schwert zieht (Jdt 13,6f.). In der abschließenden Lobrede des Hohepriesters auf Judith wird das Verständnis Judiths als eines Instruments Gottes direkt thematisiert: quia fecisti viriliter et confortatum est cor tuum eo quod castitatem amaveris et post virum tuum alterum non scieris ideo et manus Domini confortavit te et ideo eris benedicta in aeternum (Jdt 15,11: »Weil du männlich gehandelt hast und dein Herz gestärkt wurde, weil du die Keuschheit geliebt hast und du nach deinem Mann von keinem anderen etwas wissen wolltest; deshalb hat dich die Hand des Herrn gestärkt und von Gott wirst du in Ewigkeit gesegnet sein«). Wenn man Judith als Stellvertreterin Gottes versteht, wird Holofernes als Stellvertreter Nebukadnezars und der falschen Götter erkennbar. Judiths Sieg wird auf die Stärke Gottes sowie ihre Keuschheit und Tugendhaftigkeit zurückgeführt. Während Judith somit entscheidend über Zurückhaltung und Mäßigung charakterisiert wird, erscheint die Holofernesfigur im Gegenzug als unmäßig, grausam und verschwenderisch. Sein Antrieb besteht darin, so viele Nationen wie möglich unter die Herrschaft

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Nebukadnezars zu bringen (Jdt 3,13), und dabei nimmt er weder Rücksicht, noch zeigt er Erbarmen (Jdt 3,10–12). Es lohnt sich aber durchaus, nicht bei dieser christlich-dogmatischen Lesart des Stellvertreterkonflikts stehen zu bleiben, sondern sich dem Judith-Buch bewusst auch als einem literarischen (statt einem rein theologisch relevanten) Text zu nähern und davon ausgehend die Gestaltung von Judith als Heroin und als Frau stärker in den Blick zu nehmen. Werden Judiths Taten nicht ausschließlich als Gottes Wirken verstanden, sondern wird Judith eine eigene Handlungsautonomie zugesprochen, so wird sie als herausgehobene Strategin und Kriegerin gekennzeichnet. Hier ist zunächst die physische Kraft hervorzuheben, die sie während der Enthauptung zeigt, wenn sie Holofernes mit nur zwei Schwerthieben den Kopf abtrennt und seinen Körper danach ohne Schwierigkeiten vom Bett rollt (Jdt 13,6–11). Zudem ist Judith als mutig und willensstark gezeichnet: Sie ist als einzige bereit, gegen die Belagerung Bethulias vorzugehen, und erscheint – gerade im Kontrast zu den passiven Ratsmitgliedern – im Zeichen heroischer Tapferkeit.6 Auch ihr Witwenstatus suggeriert aus diesem Blickwinkel keine Hilfsbedürftigkeit, sondern verweist auf die finanzielle und soziale Unabhängigkeit, die es ihr als Witwe überhaupt erst erlaubt, nach Bethulia aufzubrechen (Jdt 8,7). Insbesondere mit Blick auf die Frage, ob mittelalterliche Rezipienten eine solche Konnotation der Judith-Figur als Heroin überhaupt wahrgenommen haben könnten, fällt auf, dass die Erzählweise des biblischen Textes an einigen Stellen bekannten narrativen Mustern aus mittelalterlichen Heldenepen ähnelt. So scheint der Modus der Tötung entscheidend: Erstens lässt das Führen des Schwerts – wörtlich pugio, also Dolch (Jdt 13,8) – Judith bereits über die Wahl der Waffe klar als heroische Siegerin erkennbar werden.7 Zweitens nimmt sie das abgeschlagene Haupt als Beweis ihrer Tat an sich. Besonders in diesem Punkt werden Parallelen zur Heldenepik, insbesondere zu deren Dinglogik,8 sichtbar, denn dass Judith das abgeschlagene Haupt

|| 6 STOCKER, MARGARITA: Judith: Sexual Warrior. Women and Power in Western Culture, New Haven/ London 1998, S. 1, charakterisiert die biblische Judith als selbstständige und außergewöhnliche Heroin: »From start to finish, Judith is a self-reliant heroine. When everyone else was helpless and demoralized, she undertook to save them single-handedly. She did, as the Apocrypha makes quite clear, what no one else could have done.« 7 Im Katalog zur Ausstellung ›Faszination Schwert‹ wird der Judith-Figur ein ganzes Kapitel gewidmet, da in der Verbindung von Judith und ihrem Schwert ikonographisch eine einzigartige Verschmelzung zu beobachten sei, vgl. UPPENKAMP (Anm. 2), S. 95. Zur Besonderheit des Schwerts in heldenepischen Zusammenhängen vgl. MÜHLHERR, ANNA: Helden und Schwerter. Durchschlagskraft und agency in heldenepischem Zusammenhang, in: MILLET, VICTOR/SAHM, HEIKE (Hrsg.): Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period, Berlin/Boston 2014 (RGA Ergänzungsbände 87), S. 259–75. 8 Eine konzeptuelle Übersicht zu dinghermeneutischen und gabentheoretischen Annäherungen an vormoderne Literatur und Kunst findet sich in MÜHLHERR, ANNA: Einleitung, in: DIES. [u. a.] (Hrsg.):

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entfernt und sich dadurch ein Stück ihres Opfers zu eigen macht, erinnert an den Aneignungsprozess einer Siegestrophäe. Analog dazu gehen alle Besitztümer von Holofernes nach ihrem Sieg in Judiths Besitz über (Jdt 15,14), auch wenn sie alle Reichtümer später als Weihgeschenke zurückgibt (Jdt 16,23). Aus diesem Blickwinkel lässt sich auch ihre Einkleidung mit dem Anlegen einer Rüstung vergleichen (Jdt 10,2–5), denn wie ein Heros zum Kampf rüstet Judith sich mit provokanten Kleidern für den Akt der Verführung: Sie legt ihr Witwenkleid ab, wäscht und salbt sich, legt ihre Festkleider an und schmückt sich mit Ringen, Ketten und Ohrringen (Jdt 10,3: omnibus ornamentis suis ornavit se). Der Fokus auf Judiths heroische Natur lässt den Konflikt mit Holofernes als einen weltlichen Konflikt erscheinen, der in einem militärisch und heroisch konnotierten Raum verortet wird. Die Tötung von Holofernes wird nicht zuletzt dadurch als eine herausragende kämpferische Tat hervorgehoben, dass der Kriegsherr selbst als Stratege (Jdt 2,17) und grausamer Kämpfer (Jdt 3,12) beschrieben wird und ihm zudem ein ausgesprochen großes Heer zugeschrieben wird: centum viginti milia peditum pugnatorum, et equites sagittarios duodecim milia (Jdt 2,7: »hundertzwanzigtausend Fußsoldaten und zwölftausend mit Pfeilen bewaffnete Reiter«). Des Weiteren gewinnt Judith in ihrer Rolle als sprechende, leitende, täuschende, tötende und nicht zuletzt siegreiche Frau eine weitere Bedeutungsnuance, die der Figur ein subversives, macht- und gesellschaftspolitisch brisantes Potenzial eröffnet. Judith erhält die Konturen einer Frau, die den männlichen Figuren der Handlung intellektuell und rhetorisch deutlich überlegen ist. So schafft es Judith, Holofernes davon zu überzeugen, dass sie zu ihm gekommen sei, um ihr Volk zu verraten (Jdt 11,4–17): Als Holofernes sie nach dem Grund ihres Kommens fragt, hält Judith eine Täuschungsrede, in der sie schildert, dass die Kinder Israels (Jdt 11,9: filii Israhel) wiederholt gesündigt hätten und Gott daher plane, sein Volk im Stich zu lassen. Sie selbst sei daher von Gott geschickt worden, um Holofernes bei dessen Sieg zu unterstützen. In diesem ersten Gespräch mit Holofernes gelingt es Judith zudem, die Regeln für ihren Aufenthalt bei den Assyrern selbst zu bestimmen: Judith darf ihr eigens mitgebrachtes Essen verspeisen und das Lager regelmäßig zum Beten verlassen (Jdt 12,6) – diese Freiheiten erweisen sich im Verlauf der Handlung als essentielle Weichenstellungen, da sie Holofernes’ Kopf in ihrem Essensbeutel für alle sichtbar aus der Stadt tragen kann, weil die Wachen annehmen, sie gehe – wie üblich – zum Gebet. Auffällig ist, dass diese genauen Gegebenheiten ihres Plans bis zur Schilderung des Geschehens sogar den Rezipienten vorenthalten sind und somit erst retrospektiv aufgelöst werden (Jdt 13,11–12), was Judiths Überlegenheit bis auf die Rezeptionsebene ausgeweitet erscheinen lässt. Neben den genannten eindeutigen Lügen in Judiths Täuschungsrede gibt es zudem Momente, in denen sie geschickt mit der Grenze zwischen Lüge und Wahrheit || Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne, Berlin/Boston 2016 (Literatur – Theorie – Geschichte. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 9), S. 1–20.

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spielt. Dadurch gewinnen Judiths Äußerungen (im Kontrast zu Holofernes) eine gewisse rhetorische Finesse, die im Folgenden exemplarisch an zwei Redebeiträgen veranschaulicht wird. Judith beginnt ihre Rede gegenüber Holofernes mit dem Appell, er möge ihren Worten Glauben schenken: sume verba ancillae tuae quoniam si secutus fueris verba ancillae tuae perfectam rem faciet Dominus tecum (Jdt 11,4: »Nimm die Worte deiner Magd an! Denn wenn du den Worten deiner Magd folgst, dann wird der Herr mit dir eine vollkommene Sache schaffen«). Diese Aussage hat in der Tat eine wahrheitsgetreue Bedeutung, denn dass Holofernes den Worten von Judith glaubt und sie sich dadurch in seiner Nähe aufhalten kann, ist zweifelsohne ein entscheidender Baustein auf dem Weg hin zu einer ›vollkommenen Sache‹, nämlich der Tötung von Holofernes und der Befreiung des Volkes Israels. Holofernes versteht unter der perfecta res, von der Judith spricht, selbstverständlich etwas anderes, denn er muss davon ausgehen, dass Judith sich hier auf ihr Versprechen bezieht, er werde durch Gottes Hilfe einen triumphalen Sieg erlangen. Die wahrheitsgetreue Bedeutung von Judiths Aussage ist somit nur für den Rezipienten erkennbar.9 Dieses Spiel mit Doppeldeutigkeiten wird an einer weiteren Stelle unmittelbar vor der Enthauptung besonders deutlich. Als Bagao Judith dazu auffordert, Holofernes auf dessen Wunsch hin in seinem Zelt beizuwohnen, antwortet Judith, dass sie alles tun werde, was ihr ›Herr‹ (dominus) von ihr verlange: quae ego sum ut contradicam domino meo / omne quod erit ante oculos eius bonum et optimum faciam quicquid autem illi placuerit hoc mihi erit optimum omnibus diebus vitae meae (Jdt 12,13f.) Wer bin ich, dass ich meinem Herrn widerspräche? Alles was in seinen Augen gut und das Beste sein wird, werde ich tun, was auch immer aber ihm gefallen wird, das wird das Beste für mich sein an allen Tagen meines Lebens.

Bagao muss, ausgehend vom Kontext ihrer Antwort, annehmen, dass Judith die Anrede ›mein Herr‹ auf Holofernes bezieht. Stattdessen ist Judiths Herr, von dem sie hier – und || 9 Ein ähnliches Phänomen zeigt sich, als Judith aushandelt, nur ihr eigens mitgebrachtes Essen zu sich zu nehmen. Holofernes fragt Judith, was passieren werde, wenn ihre Lebensmittel aufgebraucht seien, und sie antwortet ihm, dass es dazu nicht kommen werde: vivit anima tua domine meus quoniam non expendet omnia haec ancilla tua donec faciat Deus in manu mea haec quae cogitavi et induxerunt illam servi eius in tabernaculo quo praeceperat (Jdt 12,4: »So wahr deine Seele lebt, mein Herr! Deine Magd wird dies nicht alles aufbrauchen, bis Gott durch meine Hand das tut, was ich ausgedacht habe.« Die Übersetzung folgt hier: Biblia sacra vulgata. Lateinisch/Deutsch, Bd. 2, hrsg. von ANDREAS BERIGER [u. a.], Berlin/Boston 2018, S. 1259). Die Aussage, dass sie ihre Lebensmittel nicht aufbrauchen werde, bis sie ihren Plan erfüllt habe, ist korrekt. Holofernes wird aber dahingehend getäuscht, worin dieser Plan besteht, denn er kann nur annehmen, Judith spreche hier von seinem Sieg, während sie tatsächlich seine Enthauptung im Sinn hat. LÄHNEMANN (Anm. 2) diskutiert diese Stelle ebenfalls und beschreibt die verborgene Wahrheit in Judiths Worten, die zugleich kommende Ereignisse vorwegnehmen, als »verhüllte Prophetie« (S. 46). Mit Blick auf die Dynamik zwischen Judith und Holofernes verdeutlicht dieses prophetische Element insbesondere Judiths Weitsicht und ihre kontinuierliche Kontrolle über die Situation, die durch Holofernes zu keiner Zeit gefährdet ist.

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zwar wahrheitsgemäß – spricht, ihr Gott, und ihre Antwort ist somit nicht an Bagao gerichtet, sondern vielmehr ein klares Bekenntnis, alles zu tun, was Gott von ihr verlange. Auffällig ist, dass Judith weder bei ihren Lügen noch bei diesen doppeldeutigen Aussagen ertappt wird und ihre Behauptungen zu keiner Zeit von Holofernes oder seinen Männern hinterfragt werden. Diese unangefochtene intellektuelle und rhetorische Dominanz wird zudem um sexuelle Dominanz erweitert: Holofernes ist von Judiths Anblick vollkommen gefangen und wird von diesem Moment an als handlungsunfähig dargestellt: cor autem Holofernis concussum est erat enim ardens in concupiscentia eius (Jdt 12,16: »Aber das Herz des Holofernes wurde erschüttert, er brannte nämlich in seiner Begierde«). In der bewussten Inszenierung ihres weiblichen Körpers als Instrument zur Machtausübung über einen Mann10 wird der Konflikt zwischen Judith und Holofernes eindrücklich als Geschlechterkonflikt mit großer Sprengkraft fassbar. Die Gegebenheiten der Enthauptung machen dies besonders deutlich: Der ›starke Hauptmann‹ Holofernes wird – in seinem Bett, ohnmächtig und wehrlos – von einer Frau, der er sich aufgrund seiner eigenen Unzulänglichkeit nicht sexuell nähern konnte, enthauptet. In gendertheoretischer Hinsicht erscheint auch die Rede des Hohepriesters in einem anderen Licht: Judiths Verhalten als ›männlich‹ zu beschreiben und ihre Enthaltsamkeit nach dem Tod ihres Mannes als Begründung für ihren Erfolg anzuführen, wirkt dann beinahe wie der Versuch, die Bedrohlichkeit ihrer weiblichen Identität durch Figurenrede einzuhegen. Ihre sexuell konnotierte Dominanz wird damit aber nur noch stärker markiert. Judith kann Holofernes nur besiegen, da scheinbar stabile Geschlechterrollen sukzessive unterlaufen werden.11 Das Eindringen einer selbstständigen Frau in androzentrische Machtstrukturen kann auf eine Gefährdung der religiösen,12 machtpolitischen

|| 10 Vgl. LEVINE, AMY-JILL: Sacrifice and Salvation: Otherness and Domestication in the Book of Judith, in: BRENNER, ATHALYA (Hrsg.): A Feminist Companion to Esther, Judith and Susanna, Sheffield 1995 (The Feminist Companion to the Bible 7), S. 208–23. Levine argumentiert dafür, dass Judith überhaupt nur in ihrer Rolle als Witwe in Erscheinung treten könne: »Judith had to be a widow – that is, sexually experienced but unattached – in order for her to carry out her plan. And she had to stay a widow« (S. 213). 11 Das beginnt in einem ersten Schritt bereits mit dem Verlassen des privaten Raums und dem Auftreten als öffentliche Person. LEVINE (Anm. 10) beschreibt Judith am Anfang der Erzählung als »apart, ascetic and asocial« (S. 209) und erkennt in der Rückkehr in diesen Raum eine strukturelle Notwendigkeit: »Her ultimate return to the private sphere and consequent rescription into androcentric Israel both alleviate the crisis precipitated by her actions and discourse and reinforce the norms they reveal. Yet because her return is incomplete, the threat of the other remains« (S. 209f.). 12 Zur Rolle Judiths als religiöser Anführerin vgl. VAN HENTEN, JAN WILLEM: Judith as Alternative Leader: A Rereading of Judith, in BRENNER, ATHALYA (Hrsg.): A Feminist Companion to Esther, Judith and Susanna, Sheffield 1995 (The Feminist Companion to the Bible 7), S. 224–52.

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und militärischen13 Vorherrschaft des Patriachats verweisen und verleiht der JudithGeschichte subversives Potenzial.

3 Die biblische Judith-Erzählung als ideo-story Der Fokus auf die spezifische Inszenierung von Judith und Holofernes hat zwei Aspekte der biblischen Judith-Erzählung sichtbar gemacht: Erstens ist die Geschichte von Judith und Holofernes die Geschichte eines mehrfachen Antagonismus, insofern die beiden Figuren auf unterschiedlichen Ebenen gegensätzlich angelegt sind. Zweitens eröffnet das Explizitmachen eben dieser Ebenen unterschiedliche Zugänge zur Handlung, da sie das Aufeinandertreffen von Judith und Holofernes jeweils in einem anderen Licht erscheinen lassen. Dies beeinflusst das Verständnis der Erzählung und generiert verschiedenartige Perspektiven auf Judiths Tat: Stehen sich Judith und Holofernes als Stellvertreter ihrer Götter gegenüber, dann wird der Tyrannenmord zum Exempel einer Heils- und Befreiungsgeschichte; begegnen sie sich als militärische Gegner, ist der Tyrannenmord heroisch konnotiert; sind Judith und Holofernes schließlich Repräsentanten ihrer Geschlechterrollen, dann wird der Tyrannenmord zum Skandalon. Mit Blick auf die eingangs gestellte Frage, was die unterschiedlichen synchron auftretenden Darstellungen der Judith-Figur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit begünstigt haben könnte, scheint daher eine mögliche Antwort in eben diesem Strukturphänomen der biblischen Erzählung zu liegen, die wahrscheinlich als Vorlage für diese Bearbeitungen gedient hat.14 Der Text der Vulgata eröffnet nämlich – über seine spezifische Struktur – bereits die Möglichkeiten von unterschiedlichen bis hin zu widersprüchlichen Lesarten der Judith-Figur, wie hier am Beispiel der Tyrannenmörderin als Ideal, Heroin und Skandalon demonstriert wurde. Die niederländische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin MIEKE BAL macht die gleiche Beobachtung für das Judith-Buch in der Septuaginta. Auch sie führt die potenzielle Mehrdeutigkeit des Textes auf die strukturelle Anlage mehrgestaltiger Antago|| 13 SEIFERT, RUTH: Militär und Geschlechterverhältnisse. Entwicklungslinien einer ambivalenten Debatte, in: EIFLER, CHRISTINE/SEIFERT, RUTH (Hrsg.): Soziale Konstruktionen – Militär und Geschlechterverhältnis, Münster 1999 (Forum Frauenforschung 11), S. 44–70, charakterisiert ›weibliche Gewalt‹ als eine Bedrohung von Ordnungsgefügen: »In den binären Oppositionen von ›männlich und weiblich‹ und ›Krieg und Frieden‹ wird männliche Gewaltausübung einerseits als zur männlichen Natur gehörend konstruiert, anderseits als strukturierte, kollektive Aktivität legitimiert. [...] Weibliche Gewaltausübung signalisiert den Zusammenbruch der (Geschlechter-)ordnung, die Auflösung gesellschaftlicher Form, Unregierbarkeit, Anarchie und Revolution« (S. 48). 14 Vgl. LÄHNEMANN (Anm. 2), S. 58: »Die Vulgata ist und bleibt für das ganze Mittelalter der Ausgangspunkt für die Judithdichtungen, ja selbst dort, wo sie nur als Figur und einzeln auftaucht, läßt sich oft noch der biblische Bezugsrahmen ausmachen«.

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nismen im Text zurück, die unterschiedliche hermeneutische Zugänge ermöglichen. Als Resultat zeige der Text eine gewisse Offenheit (openness), die ihn zur Projektionsfläche für unterschiedliche Weltanschauungen und Ideologien mache. BAL prägt für Geschichten mit dieser strukturellen Offenheit den Begriff ideo-story: By that term [ideo-story, D. J.] I mean a narrative whose structure lends itself to be the receptacle, or projection screen, of different, often opposing ideologies which the narrative appears to emblematize. [...] Their fabulas are open enough for opposing ideologies to be housed in them with 15 ease.

Ein Merkmal von ideo-stories bestehe, so BAL, darin, dass ihre strukturelle Offenheit und die daraus resultierende potenzielle Mehrdeutigkeit für Rezipienten nur schwer auszuhalten sei, was dazu führe, dass ideo-stories oftmals zugunsten einer eindeutigen Lesart aufgelöst würden. BAL stellt die These auf, dass sich dieses schwer auszuhaltende Moment darauf zurückführen lasse, dass die Offenheit von ideo-stories gleichwertige Interpretationen ausgehend von sich widersprechenden Ideologien zulasse, was die alleinige Gültigkeit unserer Überzeugungen in Frage stelle: »For in their openness they [ideo stories, D. J.] pose a threat to ideological certainties [...] they put knowledge at risk.«16 Das Judith-Buch der Vulgata als ideo-story zu verstehen, verändert den Zugang zu den spätmittelalterlichen Bearbeitungen des Judith-Stoffs, die im zweiten Teil dieses Beitrags analysiert werden, indem die biblische Vorlage im folgenden close reading nicht ausschließlich in ihrer christlich-dogmatischen Lesart herangezogen, sondern als eine im höchsten Maße polyvalente Textgrundlage aufgefasst wird. Es geht hier nicht darum, gegen die an historischen Dokumenten belegte theologische Lesart des Textes (wie sie sich etwa in mittelalterlichen Bibelkommentaren finden lässt) anzuschreiben,17 sondern darum, die Möglichkeit zuzulassen, dass die Bearbeiter der Judith-Erzählung die potenzielle Mehrdeutigkeit der biblischen Vorlage wahrgenommen und in ihren eigenen Texten verarbeitet haben.

|| 15 BAL, MIEKE: Head Hunting: ›Judith‹ on the Cutting Edge of Knowledge, in: BRENNER, ATHALYA (Hrsg.): A Feminist Companion to Esther, Judith and Susanna, Sheffield 1995 (The Feminist Companion to the Bible 7), S. 253–85, hier S. 264. BAL entwirft diesen Begriff bereits zuvor in BAL, MIEKE: Introduction, in: DIES. (Hrsg.): Anti-Covenant: Counter-Reading Women’s Lives in the Hebrew Bible, Sheffield 1989 (Bible and Literature Series 22), S. 11–24. 16 BAL 1995 (Anm. 15), S. 264. 17 Eine umfassende Aufarbeitung der christlichen Tradition des Bibelstoffs in mittelalterlicher Bibeldichtung findet sich bei LÄHNEMANN (Anm. 2).

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4 Analyse ausgewählter spätmittelalterlicher Spruchdichtung In den Sangsprüchen und Meisterliedern des Spätmittelalters finden sich besonders widersprüchliche synchrone Varianten der Judith-Figur: als Marienpräfiguration auf der einen und als Teil der wîberlisten (›Weiberlisten‹) auf der anderen Seite. HENRIKE LÄHNEMANN führt diese extremen Ausprägungen der Judith-Figur auf rhetorische Prinzipien der Sangspruchdichtung, Typologisierung und Serialisierung, zurück.18 Beide Prinzipien reduzierten die Judith-Erzählung auf ein Exemplum, dem jeweils die Funktion zukomme, einen spezifischen Zusammenhang bzw. ein übergeordnetes Prinzip zu illustrieren. LÄHNEMANN veranschaulicht ihre These an anderer Stelle an drei Beispielen aus der spätmittelalterlichen Sangspruchdichtung.19 In Ergänzung zu LÄHNEMANNs Typisierung dieser Strophen sei im Folgenden versucht, den Fokus weniger auf die jeweilige Funktion der Strophen zu legen und stattdessen der sprachlichen Gestaltung der Strophen mehr Raum zu geben.

4.1 Erstes Beispiel: Slug Judith Olofernen Zunächst wird eine Fürstenspiegelstrophe aus der Kolmarer Liederhandschrift (München, Staatsbibliothek, cgm 4997, fol. 144v) in Frauenlobs Goldenem Ton analysiert, die – im Stil einer Ermahnung – eine allgemeingültige Herrenlehre formuliert und einem didaktischen Anspruch folgt:20 Slug Judith Olofernen, klug waz ir sin der frauwen. sie wug daz volck behalten, trug sie daheim daz haubet, ja get der welt es so.

|| 18 LÄHNEMANN (Anm. 2) charakterisiert die Reduktion der Juditherzählung durch Typologisierung und Serialisierung folgendermaßen: »Wenn die Judithfigur in Serien eingebunden oder mit anderen Figuren verglichen wird, wird auf eine zeitliche Entfaltung der Kausalität ihres Handelns verzichtet« (S. 418). Judith werde dadurch aus ihrem narrativen Umfeld herausgehoben und als Exempel für eine bestimmte Argumentation genutzt: »Judith erscheint in allen Strophen bzw. Baren als Einzelfigur, deren Kontext vorausgesetzt, höchstens stichwortartig durch die Nennung des Holofernes oder durch den Hinweis auf ihre Tat aufgegriffen wird. In der Spruchdichtung ist sie Bestandteil einer Argumentation, nicht deren strukturierendes Zentrum« (S. 418f.). 19 Vgl. LÄHNEMANN, HENRIKE: The Cunning of Judith in Late Medieval German Texts, in: BRINE, KEVIN R. [u. a.] (Hrsg.): The Sword of Judith. Judith Studies Across the Disciplines, Cambridge 2010, S. 239–58. 20 RSM: ¹Frau/9/511; BRUNNER, HORST/WACHINGER, BURGHART (Hrsg.): Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, 16 Bde., Tübingen 1986–2009. Der Text folgt der Transkription und Normalisierung bei LÄHNEMANN (Anm. 19), S. 241. Eigene Übersetzung.

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Da als sin volck des fürsten nicht im gehelfen künde icht wider gottes willen, schier sollent ir bedencken, waz gottes crafft vermag; Dag unde nacht dez walten, sit ir begirde begünde, daz er sie dez wolt erne. ir herren, ob üch krencken des übermuotes türsten, daz solt ir selber stillen. wie mag uch trost beschouwen, lat ir in wahsen ho? wem ubermut beraubet, dem wirt der gottes slag. Als Judith Holofernes erschlug, hatte sie den klugen Verstand einer Frau; sie teilte mit, dass das Volk bewahrt sei, indem sie das Haupt nach Hause trug. Ja, so ist der Gang der Welt. Da die ganze Gefolgschaft des Fürsten ihm nicht helfen konnte gegen den Willen Gottes, sollt ihr sogleich bedenken, was Gottes Macht vermag: Tag und Nacht dafür zu sorgen, da die Begierde [des Holofernes] nach ihr [Judith] erwachte, dass er sie deswegen ernten wollte. Ihr Herren, wenn ihr geschwächt werdet von dem Verlangen des Stolzes [oder: Vergnügungssucht], dann sollt ihr diesen selber besänftigen. Wie solltet ihr der Erlösung ansichtig werden, wenn ihr ihn ansteigen lasst? Wem Stolz [oder: Vergnügungssucht] zusetzt, den wird Gottes Schlag treffen.

Die Strophe beginnt mit dem Topos21 der Enthauptung, wodurch Judiths Schlag und somit ihre physische Stärke hervorgehoben wird. Dabei wird ihre Tat im umfassenden Befreiungskontext verortet, indem das abgeschlagene Haupt als Beweis für Judiths Sieg und in seiner Funktion für die Befreiung Israels gekennzeichnet wird. Dadurch wird der heilsgeschichtliche Legitimationsrahmen von Judiths Tat aufgerufen. Neben dieser Betonung des extraordinären Potenzials von Judith finden sich aber auch gleich zu Beginn zwei Verallgemeinerungstendenzen: Zum einen werden ihr Verstand und Einfallsreichtum dezidiert als ›Art der Frauen‹ beschrieben, zum anderen wird Holofernes’ Enthauptung exemplarisch als der allgemeine ›Gang der Welt‹ gekennzeichnet. Diese Wendung markiert innerhalb der Strophe einen Einschnitt, denn der Fokus wechselt von Judith zu Holofernes. Im Moment der Enthauptung kommt Holofernes trotz seiner militärischen Überlegenheit niemand zur Hilfe. Diese Betonung seiner Schutzlosigkeit hebt die Übermacht Gottes hervor. Die direkte Anrede der Rezipienten (hier als sozial und machtpolitisch hochgestellte Männer ange|| 21 Dieser Beitrag geht von einem weiten Topos-Begriff aus, der sich am Topos-Verständnis von BORNSCHEUER, LOTHAR: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, orientiert. BORNSCHEUER rechnet dem Topos neben seinem »strukturelle[n] Wesenskern«, der ›Habitualität‹ als Resultat von Tradition und Konvention, auch »seine vielsinnige Interpretierbarkeit (Potentialität), seine situationsbezogene Überzeugungskraft (Intentionalität) und seine Ausdrucks- und Vermittlungsfähigkeit (Symbolizität)« (alle Zitate S. 107) zu.

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legt) verweist deutlich auf die didaktische Intention, mit dem Schicksal des Holofernes ein abschreckendes Beispiel für andere Männer zu kreieren. Der Tod des mächtigen Hauptmanns durch die Hand einer Frau stellt den größtmöglichen Schrecken einer göttlichen Strafe vor Augen. Die Schwäche, die Holofernes’ Begehren und schlussendlich seinen Untergang bedingt, wird als übermuot gekennzeichnet, was mit ›Hochmut‹, ›Stolz‹, ›Vergnügungssucht‹ oder ›hochfahrende oder übermütige Gesinnung‹ übersetzt werden kann. Mit Blick auf V. 12f., wo Holofernes’ Schwäche mit seinem (sexuellen) Begehren für Judith verbunden wird (sit ir begirde begünde, / daz er sie dez wolt erne), scheint hier die Übersetzung mit ›Vergnügungssucht‹ oder ›übermutiger Gesinnung‹ eher den Ton der Strophe zu treffen als ›Stolz‹. Unabhängig davon, wie stark dieses Laster in direkter Traditionslinie zur superbia verstanden werden soll, ist der einzige Schutz vor dieser Schwäche deutlich formuliert: Um eine Strafe in der Art von Holofernes zu umgehen, bleibe nur Restriktion und bewusste Zurückhaltung. Damit wird diese Strophe zu einem Votum für Selbstbeherrschung, und Holofernes dient als Anschauungs- und Identifikationsobjekt für moralische Entgleisung und Maßlosigkeit. Dafür spricht auch die abschließende didaktische Sentenz, die demjenigen, der dem gefährlichen übermuot keinen Einhalt gebiete, den Schlag Gottes in Aussicht stellt – gottes slag bildet somit die Entsprechung zu Judiths Schlag, mit dem die Strophe beginnt. Diese Engführung der Macht Gottes und der Stärke Judiths imaginiert die Strafe zugleich als unausweichlich und (durch die Hand einer Frau) besonders demütigend. Diese Fürstenspiegelstrophe macht Holofernes somit zum Prototyp für lasterhaftes Verhalten. Mit der Eingrenzung von Holofernes’ Lastern auf übermuot und begirde, die für die adressierten Rezipienten auf eine bekannte Gefahr aus dem Bereich ihrer Lebensrealität zu verweisen scheinen, wird der Tyrannenmord – im Kontext einer allgemeingültigen Tugendlehre – zu einem ebenso allgemeingültigen Anschauungsbeispiel stilisiert. Aber die Rahmung der Strophe, die Engführung von Judiths Schlag und Gottes Kraft, hält dennoch den Deutungshorizont einer militärisch-heroischen Tat präsent.

4.2 Zweites Beispiel: ein weip in doch erquelte Das zweite Beispiel findet sich in der Weimarer Liederhandschrift (Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Cod. Quart 564, fol. 4v).22 Der Text kennzeichnet Judith als Kämpferin für den rechten Glauben: || 22 RSM (Anm. 20): ¹Frau/9/100. Benutzte Ausgabe: Sangsprüche in Tönen Frauenlobs. Supplement zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe, hrsg. von KARL STACKMANN/JENS HAUSTEIN, Bd. 1: Einleitungen, Texte, Göttingen 2000 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge 232), Nr. XI,10, S. 310, vgl. LÄHNEMANN (Anm. 19), S. 242. Eigene Übersetzung.

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Do Olofern mit grimme so krefftigleich erwelte zit, hohes künigreiche jo er bezwang mit streite, das sie im zinses pflagen. Was halff sein preite menge? ein weip in doch erquelte, kein helt kam im zu troste. das kam von gotes state, do in Judit betrog. Och was ir mut geleiche, den ir got selb erwelte. fro da mit linder stimme kam sie zu irem rate und liept in rechter lenge, Betulia erloste pas: vletzet auf dem velde mit grosem schall da lagen, die sie von freuden leite, wie sich der arge zoch. Als Holofernes mit Grimm und solcher Macht den Zeitpunkt festsetzte, ja da zwang er stolz mit Krieg Königreiche dazu, dass sie ihm tributpflichtig wurden. Was half ihm sein gewaltiges Heer? Eine Frau hat ihn zu Tode gequält [und] kein Held kam ihm zu Hilfe. Gott hat das möglich gemacht, dass Judith ihn betrog. Ihre Gesinnung war so, wie Gott es ihr selbst eingab. Froh und mit sanfter Stimme trat sie vor ihren Rat und überzeugte ihn von einer angemessenen Verzögerung, sie befreite Bethulia noch besser: Verwundet lagen auf dem Feld mit lauten Schreien diejenigen, die sie von den Freuden wegführte, wie der Böse sich auch angestrengt hatte.

Die Strophe beginnt damit, dass Holofernes als überlegender militärischer Machthaber gekennzeichnet wird, indem seine Durchschlagkraft, seine große Heerschar und intelligente Kriegsführung angeführt werden, um direkt danach den Wert seiner (weltlichen) Macht in Frage zu stellen: Was halff sein preite menge? (V. 6). Diese preite menge steht einer einzelnen Frau gegenüber (V. 7: ein weip), die sich durch Holofernes’ militärische Präsenz nicht aufhalten lässt, wodurch Judith als herausgehobene Kriegerin gekennzeichnet wird. Die Tötung selbst wird über das Lexem queln beschrieben, was die Tat als einen durchaus grausamen Gewaltakt an einem menschlichen Körper kennzeichnet. Der Hinweis, dass Holofernes ›kein Held‹ (V. 8) zu Hilfe kam, ruft Parallelen zu heldenepischen Texten auf.23 Dazu passt auch, dass hier scheinbar Gesetzmäßigkeiten

|| 23 LIENERT, ELISABETH: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos, in: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), S. 38–63, hier S. 40, geht im Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit den Bedingungen von Exorbitanz in mittelhochdeutschen Heldenepen unter anderem auf die Tode Siegfrieds (Nibelungenlied, Str. 977–86), Hagens (Nibelungenlied,

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heldenepischen Erzählens durchscheinen: So bedeutet der Tod durch die Hand einer Frau – ohne Hilfe und zudem ohne Zeugen, die diese Tat rächen könnten – nach den Gesetzmäßigkeiten heldenepischen Erzählens eine Demütigung für einen Krieger.24 Der spezifische Modus der Tötung von Holofernes bekommt aus dieser Perspektive die Konnotation eines verweigerten Heldentodes. Die deutlich anklingende Problematik in Zusammenhang mit einer täuschenden und schwertführenden Frau, die einem Mann im Tod die Erkennbarkeit als Heros verweigert, wird im Verlauf der Strophe über Legitimierungsstrategien eingefangen, indem Judiths Verhalten als Wille Gottes – mehr noch als von Gott kommend – gekennzeichnet wird. Dabei wird die Täuschung selbst als göttlicher Wille markiert und somit als eine gerechte Tat legitimiert (V. 9f.: das kam von gotes state, / do in Judit betrog). Wie um Judith von weiteren moralischen Bedenken freizusprechen, wird Gott zudem explizit als Ausgangspunkt ihrer Gesinnung und als Bedingung für ihren Erfolg gekennzeichnet (V. 11f.: Och was ir mut geleiche, / den ir got selb erwelte). Darauf folgt eine kurze Synopsis, in der Judiths Verhandlung mit den Hohepriestern skizziert und die Tötung von Holofernes als Befreiungshandlung erkennbar wird. Judith wird als Triumphator über das gegnerische Heer dargestellt, das im Rückzug, || Str. 2370) und Ortnits (Otnit, Str. 568–75) ein und argumentiert dafür, dass diesen Helden ein heroischer Tod vorenthalten bleibe: »[S]chemagemäße Heldentode sterben die Protagonisten der mittelhochdeutschen Texte nicht: Wo sie untergehen, ist das kein Triumph und auch kein tragisches Scheitern. Siegfried wird hinterrücks ermordet, Hagen ehrlos von einer Frau erschlagen [...], Ortnit, denkbar unheroisch, schlafend verschleppt und von Drachenjungen aus seiner undurchdringlichen Rüstung gesaugt«. Es fällt auf, dass Siegfried, Hagen und Ortnit, die (analog zu Holofernes) gewaltsame Tode sterben, im Moment ihrer Tötung hilflos sind (Siegfried ist entwaffnet worden und dreht seinem Feind den Rücken zu, Hagen wird gefesselt vor Kriemhild geführt, und Ortnit schläft so tief, dass er den Drachen nicht hören kann). Zudem steht den Helden im Moment ihres Todes niemand bei, der die Tat verhindern könnte – im Otnit wird dieser Umstand explizit adressiert: da het er niemant mere wan sich alters ain (V. 564,3); benutzte Ausgabe: Otnit. Wolf Dietrich, Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und komm. von STEPHAN FUCHS-JOLIE [u. a.], Stuttgart 2013. 24 Es lohnt sich an dieser Stelle, den Fokus auf die intradiegetische Kommentierung von Hagens Tötung im Nibelungenlied zu lenken, da Hagen, ebenso wie Holofernes, von einer Frau enthauptet wird. Etzel und Hildebrand verurteilen Kriemhilds Tat scharf. Für Hildebrand ist der Tod Hagens durch die Hand einer Frau unentschuldbar und er sieht sich gezwungen, Hagen zu rächen; Nibelungenlied, Str. 2372–74: Dô sprach der alte Hildebrant: ›jâ geniuzet si des niht, / daz si in slahen torste. swaz mir dâ von geschiht, / swi er mich selbe bræhte in angestliche nôt, / iedoch sô will ich rechen des küenen Tronegæres tôt.‹ / Hildebrant mit zorne zuo Kriemhilde spranc. / er sluoc der küneginne einen swæren swertswanc. / jâ tet ir diu sorge von Hildebrande wê. / waz mohte si gehelfen, daz si grœzlichen schrê? / Dô was gelegen aller dâ der veigen lîp. / ze stucken was gehouwen dô daz edele wîp. Benutzte Ausgabe: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach der Handschrift B, hrsg. von URSULA SCHULZE, übers. und komm. von SIEGFRIED GROSSE, Stuttgart 2011, S. 687. Dass die Umstände von Holofernes’ Tötung in dieser Strophe darauf verengt werden, dass Holofernes ohne Beistand (V. 8, vgl. Anm. 23) oder Vergeltung und zudem durch die Hand einer Frau stirbt (V. 6), kennzeichnet seine Enthauptung – in der Logik heldenepischer Erzählmuster – als einen besonders demütigenden (und zudem potenziell problematischen) Tod.

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konkret im Sterben, imaginiert wird. Der Erlösungsmoment und die damit verbundene Beendigung des Kriegs gewinnt dadurch eine physische Komponente, die Judiths Sieg als einen militärischen Sieg qualifiziert. Angesichts des brutalen Endes der Strophe scheint es bemerkenswert, dass Judiths Rede vor dem Rat als fro da mit linder stimme (V. 13) beschrieben wird, wie um die Grausamkeit ihrer Tötung bewusst mit einer (stereotypisch) zerbrechlichen und zarten Weiblichkeit zu verbinden. Diese Strophe kennzeichnet Judiths heroische Natur und ihre physische Stärke als Elemente einer Kämpferin für und durch Gott. Das wird noch durch die Wahl der Lexeme erlœsen (›retten‹, ›erlösen‹), leiten (›leiten‹, ›führen‹) und schal (hier ›Geschrei‹ aber auch ›Jubel‹, ›Gesang‹) verstärkt, die an die Sprache mittelalterlicher Marienlyrik erinnern.25 Interessant ist, dass diese Begriffe hier mit den grausamen Bildern einer Schlacht kombiniert werden, wodurch Judith als Heils- und Schreckensfigur zugleich präsentiert wird. Es drängt sich zudem der Eindruck auf, dass in dieser Strophe mit Judiths Rolle als Frau bewusst gespielt wird, da sie mit unterschiedlichen Nuancen versehen wird (zugleich stark und sanft, problematisch und erhaben).

|| 25 Vgl. die folgenden exemplarischen Belegstellen: 1. e r l œ s e n : Die Bitte um Erlösung ist ein beliebtes Motiv in mittelalterlichen Mariendichtungen, z. B. im Arnsteiner Marienlied: Frowe, diner hende / bevolen si min ende, / und ruoche min gewisen / und mich erlosen / uz van der grozer not / swanne do der leide dot / ane mir sal gescheiden / den lif van der selen (V. 178–85); benutzte Ausgabe: Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts, hrsg. von WERNER SCHRÖDER, Bd. 2, Tübingen 1972, S. 171–83. Neben dem Lexem erlœsen finden sich auch synonyme Begriffe und Beschreibungen, z. B. in der Vorauer Sündenklage: nû vernim mich sundære, / daz ich von dem tievele werde enbunden (V. 232f.; nû ledige, chunigîn, enzît / mîne vil armen sêle (V. 244f.); dîn genâde diu sol / mich ledigen mîner meile / durch willen der reine, / der got im selbem behielt an dir (V. 276–79); benutzte Ausgabe: Die kleinen Denkmäler der Vorauer Handschrift, hrsg. von ERICH HENSCHEL und ULRICH PRETZEL, Tübingen 1963, S. 124–75. 2. l e i t e n : Maria wird in der Mariendichtung als Leitfigur gekennzeichnet, so etwa im Ave Maria aus dem Seifrid Helbling: wir israhêlisch armez her / sweben ûf dem jâmers mer: / dû bist der steren, / der uns leiten sol ûz dem ellende / hin ze vreuden, êwiclîch ân ende. / dehein sach daz wende (V. 13–18); benutzte Ausgabe: Seifried Helbling, hrsg. und erklärt von JOSEPH SEEMÜLLER, Halle a. d. S. 1886, S. 233–36. Die Beschreibung Marias als ›Leitstern‹ findet sich unter anderem auch im Rheinischen Marienlied, hier etwa im ›Schlussgebet an Maria‹: dan muez mich begrifen dine hant / ind leiden in dat vaderlant / vol eren, vröuden ind sicherheide! / dar breng mich, mueder der barmherzicheide! (V. 5119–22); benutzte Ausgabe: Das Rheinische Marienlob. Eine deutsche Dichtung des 13. Jahrhunderts, hrsg. von ADOLF BACH, Leipzig 1934 (vgl. auch ebd., V. 584 und 588). 3. s c h a l : Ein Beispiel für den Gebrauch von Lautbildern – und besonders den Einsatz des Lexems schal – findet sich in Frauenlobs Marienleich: mîn morgenroete hât erwecket hôhen sanc und rîchen schal (11,26); benutzte Ausgabe: Heinrichs von Meissen des Frauenlobes Leiche, Sprüche, Streitgedichte und Lieder, hrsg. und erläutert von LUDWIG ETTMÜLLER, Quedlinburg/Leipzig 1843 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 16), S. 7. Eine Kontrastierung zwischen dem Lärm eines Schmerzensschreis einerseits und Lobgesang andererseits findet sich in der Goldenen Schmiede Konrads von Würzburg: sus schrie ich, frouwe, durh die not / zuo dir für al die cristenheit: / la sines todes bitterkeit / an uns werden niht verlorn, / sit er dich selbe hat erkorn, / für alle creatiure. / bring uns mit diner stiure / für die heren trinitat, / da lop des endes niht enhat / von süezem engelschalle (V. 1990–99); benutzte Ausgabe: Die goldene Schmiede des Konrad von Würzburg, hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Göttingen 1926.

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Holofernes wird – als Konterpart zu Judiths Rolle einer Kämpferin für Gott – hier als grausamer Krieger und Vertreter falscher Götter erkennbar. Dabei ist insbesondere der letzte Vers bemerkenswert: wie sich der arge zoch scheint bewusst offen zu lassen, ob es sich bei dem ›Bösen‹ um Holofernes selbst oder um den Teufel handelt, der durch Holofernes wirkt. Für die zweite Lesart würde sprechen, dass diese einen klaren Gegensatz zwischen Judiths Taten und Gesinnung, die direkt auf Gott zurückgeführt werden (V. 9: von gotes state), und Holofernes’ Taten herstellt.

4.3 Drittes Beispiel: Olfernus wart versniten Das folgende Beispiel einer häufig und in unterschiedlichen Kontexten (unter anderem als Begleittext zu einer der Wandmalereien im Konstanzer Haus zur Kunkel) überlieferten Strophe in Frauenlobs Langem Ton entstammt der ›Süddeutschen Tafelsammlung‹ (Washington D. C., Library of Congress, Rosenwald Collection, Ms. 4, fol. 8r) und beinhaltet eine Aufzählung von ›Minnesklaven‹, nennt Holofernes also in einer Reihe von Männern, die allesamt von Frauen getäuscht wurden:26 Adam, den ersten menschen, betört ein weip. Sampsones leib ward durch ein weip geplendet. Herr Dauit ward geschendet. Der weis Salomon gotes reichs gepfendet. Absolon, sein schön in nie verlye, in hab ein weip gewert. Allexander, dem geschach alsus. Virgilium betöret man mit falssen sitenn. Oliuernus, der ward versniten, Aristoteles von einem weip geriten. Die stat Troyin vnd das lant wart durch ein weip verprant. Achillus, dem geschach alsam. Der wild Asrahel wart czam. Artusus scham von weiben chom. Her Parcifal manig sorg nam. Alsus geschach der minnen stam, was schat dann, ob ein raines weib mich hiczet vnde fröret? Adam, den ersten Menschen, den überlistete eine Frau. Samson wurde von einer Frau geblendet. David wurde beschämt. Dem weisen Salomon wurde das Reich Gottes gepfändet. Absalom, dessen Schönheit ihn niemals verließ, hat sich [nur] eine [einzige] Frau entzogen. Alexander ging || 26 RSM (Anm. 20): ¹Frau/2/67c. Benutzte Ausgabe: Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹. Edition der Handschrift Washington, D. C., Library of Congress, Lessing J. Rosenwald Collection ms. no. 4, hrsg. von MARCUS CASTELBERG/RICHARD F. FASCHING, Berlin/Boston 2013 (Scrinium Friburgense 34), S. 213–16. Eigene Übersetzung.

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es ebenso. Vergil wurde mit Falschheit betrogen. Holofernes wurde enthauptet [wörtlich: ›zerschnitten/getötet‹, was eventuell auch ›beschnitten/kastriert‹ meinen könnte]. Aristoteles wurde von einer Frau geritten. Troja, die Stadt und das ganze Land, wurde durch eine Frau verbrannt. Achill ging es ebenso. Der schnelle Asahel wurde gezähmt. Die Demütigung von Artus wurde durch Frauen ausgelöst. Herr Parzival geriet in viele Sorgen. So geschah es den Abkömmlingen der Minne/den der Minne Unterworfenen, was schadet es dann, wenn eine reine Frau mich heiß und kalt werden lässt?

Neben biblischen Referenzen (wie Adam, Samson, David) und historischen Figuren (Alexander der Große) werden auch intellektuelle Autoritäten (Vergil, Aristoteles) und fiktional-literarische Figuren (Achilles, Artus, Parzival) sowie Orte (Troja) genannt. Alle Männer werden als der minnen stam, als ›Abkömmlinge der Minne‹ (V. 18), beschrieben. Der Schlussvers mit der humoristischen Frage des Sängers, ob es nicht angesichts dieser Minneopfer vertretbar sei, dass seine Dame dafür sorge, dass ihm heiß und kalt werde, gibt der Strophe eine komische Wendung. Die Erzählung um Judith und Holofernes wird hier auf die passivische Formulierung Oliuernus, der ward versniten (V. 10) zugespitzt. Auffällig ist zunächst, dass der Name ›Judith‹ im Text gar nicht auftaucht, sondern nur indirekt im Moment der Tötung angelegt ist. Die Enthauptung wird mit dem Lexem versnîden beschrieben, das sowohl als ›schneidend verwunden‹/›töten‹ verstanden oder – deutlich rabiater – mit ›zerschneiden‹/›zerstückeln‹ übersetzt werden kann. In dieser spezifischen Wortwahl klingt aber auch ein skandalöser Nebensinn an, weil versnîden in seltenen Fällen auch ›kastrieren‹ und ›beschneiden‹ bedeuten kann. Dies ist hier wohl nicht als die vordergründige Bedeutung intendiert, und doch ist die Mehrdeutigkeit des Lexems mit Blick auf die Erzählung, die aufgerufen wird, interessant. Zudem wird die Möglichkeit dieser Bedeutungsnuance zum einen über die Verknüpfung zum darauffolgenden Vers, Aristoteles von einem weip geriten (V. 11), und zum anderen über den humoristischen Ton, den die Strophe zum Schluss gewinnt, zumindest präsent gehalten.27 Die Strophe macht deutlich, wie sehr sich eine Serialisierung auf die Konnotation einzelner Figuren auswirken kann: Mit der Einordnung von Judith in die Reihe listiger Frauen wird ihre Handlung aus dem christlich-dogmatischen Raum gelöst und auf das Täuschungsmoment reduziert. Auch Holofernes erscheint durch die Einordnung in die Gruppe der Minnesklaven in einem veränderten Licht. Die Logik der Serialisierung lenkt den Fokus auf den Aspekt, den alle diese Männer gemeinsam haben, nämlich dass sie Opfer der Minne, Opfer von Frauen, geworden sind. Dass Holofernes hier als getäuschter und betrogener Mann ins Zentrum rückt, macht ihn zu einer Projektionsfläche und zur möglichen Identifikationsfigur für andere Männer. Diese Dynamik

|| 27 LÄHNEMANN (Anm. 2) betont zwar, dass der Ausdruck im Kontext des Judithbuchs »natürlich ›enthauptet‹« bedeute, dass »die anzügliche Nebenbedeutung« in dieser Strophe aber dennoch mitgedacht werden müsse – »und zwar tendenziell für alle erwähnten Männer: Sie werden durch die Liebe ihrer Männlichkeit beraubt« (alle Zitate S. 427).

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wird zusätzlich durch die humoristische Schlusswendung des Sprechers verstärkt, denn dass die Gemeinsamkeit zwischen den Minnesklaven und dem Dichter herausgearbeitet wird, macht die Minnesklaven zu den intendierten Sympathieträgern der Strophe – wenn auch im spielerisch-ironischen Gestus. Das bedeutet nicht, dass Holofernes’ Tyrannenstatus und die Legitimität seines Todes hier in Frage gestellt werden. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass die Logik der Serialisierung den Fokus auf die Rolle von Holofernes als von einer Frau besiegten Mann lenkt und dass seine grausame Natur hinter diese Opferposition zurücktritt.

5 Zusammenführung der Ergebnisse Ausgehend von der Analyse des Judith-Buchs der Vulgata drängt sich der Eindruck auf, dass sich die betrachteten Beispiele an der strukturellen Offenheit ihrer Vorlage abarbeiten. Vordergründig zeigt sich dabei die Tendenz, die Mehrdeutigkeit der biblischen Judith-Erzählung aufzulösen und als (scheinbar eindeutiges) Beispiel für bekannte literarische Motive zu nutzen (Judith als Instrument Gottes/eine Heroin/eine listige Frau). Ausgehend von MIEKE BALs Überlegungen zur ideo-story lässt sich die damit verbundene Funktionalisierung der Judith-Figur zunächst als Versuch charakterisieren, die nur schwer zu ertragende Offenheit des Texts im Einvernehmen mit einer bestimmten Weltanschauung und ausgehend von verinnerlichten Geschlechterrollen aufzulösen. HENRIKE LÄHNEMANN hat die Exempel-Funktion der Judith-Figur nicht zuletzt deshalb ins Zentrum ihrer Analyse gestellt, weil diese Dynamik auf bekannte rhetorische Muster der Gattung ›Sangspruch‹ rekurriert. Die hier unternommenen Lektüren haben aber deutlich gemacht, dass auch in diesen Textbeispielen über feine semantische Verschiebungen verschiedenartige Konnotation des Tyrannenmords angelegt sind. In der direkten Gegenüberstellung der formelhaften Reduktionsstufen des Enthauptungstopos (›Judith tötet/enthauptet Holofernes‹), die sich in den analysierten Beispielen finden lassen, tritt dieser Zusammenhang besonders anschaulich hervor: Slug Judith Olofernen – ein weip in doch erquelte – Oliuernus, der ward versniten. Obwohl diese Formulierungen denselben Bedeutungskern haben, nämlich dass Judith Holofernes tötet, werden über die spezifische Wahl des Lexems unterschiedliche Konnotationen der Tötung aufgerufen. Während die Engführung von Judiths Schlag mit gottes slag Judiths Stärke als (abstrakten) Kraftakt (potestas) kennzeichnet, lassen sich die Lexeme erqueln und versnîden im Bereich (konkreter) körperlicher Physis verorten. [E]in weip in erquelte eröffnet die Assoziation von Judiths Tat mit dem Bild eines Mordes und betont die physische Realität des Tötens als Gewaltakt (violentia). Wie bereits beschrieben, verweist das Lexem versnîden vordergründig auf eine Betonung der grausamen Natur des Gewaltakts, lässt aber auch einen subtilen, humoristischen Anklang an Entmannung erkennen.

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Von der strukturellen Offenheit des Bibeltextes scheint also nicht nur ein Bedrohungspotenzial auszugehen, das zwangsläufig zu einer Auflösung der Mehrdeutigkeit führen müsste. Die Polyvalenz der Judith-Erzählung scheint vielmehr auch Ausgangpunkt für ein produktives und kreatives Spiel mit eben dieser Mehrdeutigkeit zu sein. Für die Frage nach der ›Polyvalenz der Tyrannis‹ hat die Auseinandersetzung mit der ›Polyvalenz einer Tyrannenmörderin‹ verdeutlicht, wie variabel die Darstellung sowie die darin implizierte (moralische) Bewertung des Tyrannen in einer eigentlich sehr überschaubaren Erzählung ausfallen kann. An der Erzählung von Judith und Holofernes als einer Narrativierung eines mehrfachen Antagonismus ließ sich zeigen, dass verschiedenartige Inszenierungen der Judith-Figur Auswirkungen auf das Bild des Tyrannen Holofernes haben. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Tyrannenmörderin tauchen den zugrundeliegenden Kernkonflikt in ein jeweils spezifisches Licht. Wenn Judith ebenso als Verführerin wie als personifizierte Keuschheit in Erscheinung treten kann (mit den Worten von SIMONE DE BEAUVOIR also ›zugleich Eva und Jungfrau Maria‹ ist), dann bedeutet das für Holofernes im Umkehrschluss, dass dieser neben seinen Rollen als personifizierte Zügellosigkeit und als Repräsentant falscher Götter auch als das verführte Opfer – und somit sogar als Identifikationsfigur und Sympathieträger – imaginiert werden kann. Das besondere Faszinosum der Judith-Erzählung scheint nicht zuletzt darin zu liegen, dass diese verschiedenen Erscheinungsformen des Tyrannen und seiner Mörderin nicht das Produkt invasiver Entfremdungs- oder Entstellungsprozesse sind, sondern bereits in der Polyvalenz der biblischen Vorlage angelegt sind.

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Tyrann, Wüterich, Pharao – König Dacian und der heilige Georg im Spiegel christlichmittelalterlicher Herrschaftsentwürfe 1 Einleitung Märtyrerideologien lassen sich unabhängig von Kultur und Epoche nie allein auf religiöse Aspekte reduzieren. Stets geht mit ihnen eine konkrete politische Agenda einher.1 Das gilt auch in Bezug auf einen der bedeutsamsten und wirkmächtigsten Heroen des Christentums: den heiligen Georg, dessen Leben und Leiden als Krieger und Märtyrer von der Spätantike bis in die Neuzeit nicht nur in gelehrter, griechisch-lateinischer Tradition, sondern auch in unzähligen volkssprachigen Übersetzungen und Bearbeitungen Verbreitung fand. Die wahrscheinlich intensivste Auseinandersetzung mit dem heiligen Georg dürfte ins 12. und 13. Jahrhundert fallen, in das Zeitalter der Kreuzzüge, als sich die christliche Ritterschaft in ihrem Kampf gegen Andersgläubige mit dem legendären Gotteskrieger zu identifizieren und den Märtyrer als ihren Schutzpatron zu betrachten beginnt.2 Literaturgeschichtlich korreliert mit dieser Aneignung der Georgsgestalt eine Verbreitung und Säkularisierung des hagiographischen Stoffs, der bis dahin sehr eng an die kirchlich-monastische Frömmigkeitspraxis gebunden war. Noch nicht kanonisch ist zu dieser Zeit die Drachentöterlegende, die – am prominentesten vermittelt durch die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine – vom Spätmittelalter an das Bild des Heiligen bestimmen wird. Mehr oder minder verbindlich sind im Hochmittelalter dagegen folgende Handlungsbausteine. Georg ist ein Adliger, Krieger und Heerführer aus dem östlichen Mittelmeerraum, der sich im Dienst des römischen Imperiums einen Namen gemacht und zahlreichen Regionen, darunter auch Palästina, den christlichen Glauben gebracht hat. Kaiser Dio-

|| 1 Vgl. KRASS, ANDREAS: Der heilige Eros des Märtyrers. Eine höfische Georgslegende des deutschen Mittelalters, in: KRASS, ANDREAS/FRANK, THOMAS (Hrsg.): Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums, Frankfurt a. M. 2008, S. 143–68, hier S. 165. Zur politischen und religiösen Instrumentalisierung der Georgslegende vgl. auch HAUBRICHS, WOLFGANG: Sankt Georg in Martern, Krieg und andern Nöten. Ein Romanheiliger verschriftet und verkörpert sich, in: SCHNEIDER, ALMUT/NEUMANN, MICHAEL (Hrsg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination, Bd. 3: Zwischen Mittelalter und Neuzeit, Darmstadt 2005, S. 47–65. 2 Vgl. MURRAY, ALAN V.: Reinbot von Durne’s Der Heilige Georg as Crusading Literature, in: FMLS 22 (1986), S. 172–83, hier S. 177; dazu auch MATZKE, JOHN E.: The Legend of Saint George; its Development into a Roman d’Aventure, in: PMLA 19 (1904), S. 449–78, hier S. 449f. https://doi.org/10.1515/9783110752373-004

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kletian erkennt in Georg daher eine erhebliche politische und militärische Bedrohung und verlangt, dass man seinen Widersacher entweder mit Gewalt zur Strecke bringe oder öffentlich auf den römischen Staatskult einschwöre, indem er dem Gott Apoll ein Opfer darbringt. Um ein Zeichen zur Stärkung der verfolgten und bedrängten Christen zu setzen, tritt Georg dem römischen Machthaber offen entgegen, entledigt sich aller Symbole seines weltlichen Daseins und bekennt sich zu Jesus Christus. Der örtliche Präfekt versucht gleichermaßen mit Gewalt und Schmeichelei, Georg zur Umkehr zu bewegen. Georg lenkt zum Schein ein, beschwört Apoll herbei und entlarvt diesen als einen fratzenhaften Dämon, den er mit Gottes Hilfe in die Hölle zu bannen vermag. Zahlreiche Ungetaufte – in vielen Fassungen auch die Ehefrau des Statthalters – bekehren sich hierauf zum christlichen Glauben. Wutentbrannt lässt der Präfekt zunächst alle Christen martern, derer er habhaft werden kann, dann unterzieht er Georg grausamster Folterqualen und tödlicher Strafen durch Gift, Feuer, Rädern und Vierteilen, die der Heilige in der Nachfolge Christi duldsam über sich ergehen lässt und allesamt übersteht. Diese Prozedur zieht sich über viele Jahre, ehe Georg endlich enthauptet und von Engeln unter Wunderzeichen ins Paradies geführt wird, während die Andersgläubigen von einem Feuersturm vernichtet werden. Die griechischen, lateinischen und volksprachigen Erzählungen vom heiligen Georg auf ihre politischen Implikationen hin zu befragen, wäre gewiss eine lohnende Aufgabe. Mit dem Heiligen Georg Reinbots von Durne wird sich der vorliegende Beitrag auf eine heute kaum bekannte, an inhaltlicher Fülle und Komplexität jedoch unerreichte Bearbeitung konzentrieren. Diese zunächst einmal vorzustellen, wird Aufgabe des nachfolgenden Abschnitts sein, ehe mit König Dacian und dem Heiligen zwei antagonistische Figuren untersucht und ihre Konzeption hinsichtlich der staatstheoretischen Diskurse des Hochmittelalters kontextualisiert werden sollen. Ausgangspunkt wird dabei eine Szene sein, die nicht nur deswegen bemerkenswert ist, weil sie in der legendarischen Tradition im Allgemeinen weitgehend fehlt, sondern weil in ihr eine für das Thema des vorliegenden Bandes in besonderem Maße relevante Option politischen Handelns aufscheint: der Tyrannenmord.

2 Dacians Menetekel Irgendwann zwischen den Jahren 1231 und 1253 muss Otto II. von Wittelsbach, seines Zeichens Herzog von Bayern und Pfalzgraf bei Rhein,3 gemeinsam mit seiner Ehefrau || 3 Während die Frage nach Reinbots Gönner und Auftraggeber aufgrund der in Prolog und Epilog gebotenen Informationen als geklärt gelten kann, bleibt die Datierung des Heiligen Georg unsicher. Können wir den Tod des Herzogs im Jahr 1253 als verlässlichen terminus ante quem betrachten, so bietet der vom Erzähler deutlich hervorgehobene Umstand, dass Otto II. nicht nur Pfalzgraf bei Rhein (ab 1214), sondern auch Herzog von Bayern sei (ab 1231), einen Hinweis auf die frühestmögliche Ab-

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Agnes, einer Enkelin Heinrichs des Löwen, einem historisch kaum greifbaren Oberpfälzer namens Reinbot von Durne den Auftrag erteilt haben, die narrative Grundsubstanz der Georgslegende in eine deutschsprachige Großerzählung zu überführen.4 In dieser Großerzählung, deren Gesamtumfang stattliche 6134 Reimpaarverse beträgt, sollte – hierin dem Willehalm Wolframs von Eschenbach nacheifernd – legendarischer Gehalt mit höfischer Ästhetik und Formgebung verbunden werden. Gepaart mit einer offen zur Schau gestellten Verehrung seiner literarischen Vorbilder, hat Reinbot dieser Ansatz besonders in der älteren Forschung recht bald den Ruf eines mehr oder minder talentierten Epigonen eingebracht.5 Bei seinen Zeitgenossen ebenso wie in Spätmittelalter und Früher Neuzeit muss er damit jedoch großen Anklang gefunden haben: Sein ›Legendenroman‹6 ist in vier vollständigen Handschriften und mehreren Fragmenten überliefert.7 Ferner zeugen zwei Prosabearbei-

|| fassung des Werks. Kontrovers diskutiert wurde indessen, ob sich ein Passus aus dem Prolog, wonach die Höchsten im Reiche ihre Kinder mit den Kindern dieser beiden verheiraten (V. 16: ir kint ir kinden gebent) auf die Vermählung der bayerischen Herzogstochter Elisabeth mit Konrad IV., dem Sohn Kaiser Friedrichs II., im Jahr 1246 beziehen und damit als weiteres Datierungskriterium heranziehen lässt. Vgl. WILLIAMS-KRAPP, WERNER: Art. Reinbot von Durne, in: 2VL, Bd. 7 (1989), Sp. 1156–61, hier Sp. 1156f.; ausführlich VOLLMANN-PROFE, GISELA: Der Prolog zum Heiligen Georg des Reinbot von Durne, in: GRUBMÜLLER, KLAUS [u. a.] (Hrsg.): Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. FS Hans Fromm, Tübingen 1979, S. 320–41, hier S. 337–39. 4 Auf einen Reimpoto notarius ist auch eine Urkunde Ottos II. von Bayern aus dem Jahr 1240 ausgestellt worden. Ein Zusammenhang zwischen Reinbot von Durne und jenem Reimpoto ist jedoch nach kontroverser Diskussion von Elias Steinmeyer mit guten Gründen ausgeschlossen worden. Vgl. STEINMEYER, ELIAS: Zu Reinbot von Dorn, in: ZfdA 32 (1888), S. 145–47. 5 Neben Wolfram von Eschenbach werden Heinrich von Veldeke und Hartmann von Aue als Bezugspunkte für Reinbots dichterisches Schaffen genannt. Der Epigonalitätsvorwurf findet sich indessen noch in der jüngeren Literaturgeschichtsschreibung. So notiert beispielsweise DE BOOR, HELMUT: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170–1250, München 111991 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 2), S. 361–63: »Während der geistliche Dichter des oberdeutschen Servatius die staufische Entfaltung des ritterlichen Romans noch nicht gekannt hat, steht um mehr als ein Menschenalter später der Ritter Reinbot von Dürne, ein Zeitgenosse Rudolfs von Ems, ganz in der Nachfolge der großen Generation. [...] In all dem spürt man bei Reinbot trotz eines nicht unbedeutenden Talents die Veräußerlichung des Nachfahren.« 6 Zur Problematik dieses Gattungsbegriffs vgl. FEISTNER, EDITH: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20), S. 134–45. 7 Die handschriftliche Überlieferung des mittelhochdeutschen Texts endet in der Mitte des 15. Jahrhunderts. An ihre Stelle treten eine stark kürzende Prosaauflösung, die in die noch im 16. Jahrhundert sehr beliebte Legendensammlung Der Heiligen Leben aufgenommen wurde und Reinbots Entwurf mit der Fassung des Jacobus de Voragine in Einklang zu bringen versucht, sowie eine vollständige Prosabearbeitung des Heiligen Georg aus der Zeit um 1450, die unter dem Titel Die legent vnd dz leben des hochgelopten manlichen ritters sant joergen noch im 17. Jahrhundert durch eine heute in der Fürstlich Hohenzollernschen Hofbibliothek aufbewahrte Abschrift vertreten ist (Cod. 78, 1639). Zur handschrift-

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tungen und eine stark kürzende Übersetzung ins Lateinische von einer durchaus intensiven Rezeption des Heiligen Georg im mittel- und oberdeutschen Raum, die erst im Zuge der Reformation abzuklingen scheint.8 Indessen dürfte das Primärziel dieser Bearbeitung kaum darin gelegen haben, ein dichterisches Experiment zu wagen, das es mit den literarischen Zeugnissen der sogenannten ›Höfischen Klassik‹ aufnehmen kann. Bedenken wir, mit welchem Nachdruck der Prolog die Herrschertugenden des Fürstenpaars und seine Vortrefflichkeit in weltlicher ebenso wie in religiöser Hinsicht hervorhebt, so scheint es wahrscheinlich, dass Reinbots Entwurf vor allem panegyrische Absichten zugrunde liegen: er und sîn reinez wîp, diu hôch edel fürstin, die habent beide sampt ir sin gesetzt ûf werdeclîchez leben, und künnen doch dar under streben nâch dem êwigen lône der himelischen krône. si lebent in solchem werde daz die hœhsten ûf der erde mit triuwn ir beider rât gelebent und ir kint ir kinden gebent. seht hie ir tugent bildær an: 9 niht fürbaz i’iuch gewîsen kan. (V. 6–18) Er und seine vollkommene Ehefrau, die sehr edle Fürstin, die haben beide gemeinsam ihr Denken und Wollen auf ein Leben in hohem Ansehen gerichtet und sind trotzdem imstande, auch nach dem ewigen Lohn der himmlischen Krone zu streben. Sie leben in solcher Vortrefflichkeit, dass die Höchsten auf Erden die Ratschläge dieser beiden treu befolgen und ihre Kinder mit den Kindern der beiden verheiraten. Seht hier ihre vorbildliche Tugend, nichts Besseres vermag ich euch zu zeigen.

Die Wahl eines legendarischen Sujets, noch dazu jenes des exzeptionellen Märtyrers und prototypischen Kreuzritters Georg, scheint in diesem Zusammenhang nur konsequent. Der helle Glanz des Heiligen soll auch das Fürstenpaar im besten Licht erscheinen lassen, das Buch vom Markgrafen aus Palästina ein weithin sichtbares Zeichen

|| lichen Überlieferung des Heiligen Georg vgl. KLEIN, KLAUS: Ein neues Fragment von Reinbots Georg, in: ZfdA 130 (2001), S. 58–62. 8 Fällt die Rezeption der Prosalegendare im 16. Jahrhundert allgemein Luthers Verdikt gegen die Legenden zum Opfer, so lässt sich die nachlassende Wirkung des Heiligen Georg im 15. und 16. Jahrhundert wohl zudem mit dem Fehlen der inzwischen obligatorisch gewordenen Drachenkampfszene erklären. Vgl. WILLIAMS-KRAPP (Anm. 3), Sp. 1159f. 9 Benutzte Ausgabe: Reinbot von Durne: Der Heilige Georg, hrsg. von CARL VON KRAUS, Heidelberg 1907 (Germanische Bibliothek III,1).

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der im ganzen Herzogtum waltenden Frömmigkeit sein.10 Am Ende der Erzählung findet sich jedoch eine Szene, die nicht zuletzt deswegen bemerkwert ist, weil sie dem Ziel einer »dynastisch-politischen Funktionalisierung«11 zuwider zu laufen scheint. Es handelt sich hierbei um ein Streitgespräch zwischen König Dacian und dem heiligen Georg, aus dem ein signifikanter Souveränitätsverlust des Herrschers resultiert: Dô sprach der markîs zehant ›ez ist umb iuch alsô gewant daz ir sît aller sælden bar ze glîcher wîs als Balthazar, [...] ir sît zer helle ouch geselt. sît ir niht erkennen welt den der diu wunder begât, wie möht iur immer werden rât?‹ der künic zurnte, unde sprach ›ir künige, vart an iurn gemach unz sich der mâne wandelt: sô wirt missehandelt von mir aver der Palastîn. wie lange sol sîn zouber sîn?‹ er nam urloup und fuor dan als ein überwunden man. des wârn die liute alle frô daz er in gerûmte dô. mänglîch ze herberge reit. man pflac wol, ist mir geseit, des margrâven unverzaget. des andern morgens, dô ez taget und er nâch sînem sit erschein, die künige wurden des enein, daz si den markîs wolden laden ûf den sal sunder schaden. (V. 5259–312)

|| 10 Darüber hinaus lassen sich Belege dafür finden, dass eine Verehrung des heiligen Georg als Patron der Wittelsbacher schon in die Zeit der Gefangenschaft Ludwigs I. während des fünften Kreuzzugs (1221) zurückreichen könnte; vgl. MURRAY (Anm. 2), S. 179f. 11 WEBER, REGINE: Die ›Heiligen‹ Barlaam und Josaphat, Alexander, Georg und Karl der Große als Integrationsfiguren im monastischen, dynastischen und städtischen Europa, in: KARG, INA (Hrsg.): Europäisches Erbe des Mittelalters. Kulturelle Integration und Sinnvermittlung einst und jetzt. Ausgewählte Beiträge der Sektion II ›Europäisches Erbe‹ des Deutschen Germanistentages 2010 in Freiburg i. Br., Göttingen 2011, S. 31–49, hier S. 38. Einige Widersprüche, die aus der Symbiose legendarischen und höfischen Erzählens resultieren, verzeichnet WYSS, ULRICH: Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik, Erlangen 1973 (Erlanger Studien 1), hier vor allem S. 156–77. Ähnlich STROHSCHNEIDER, PETER: Georius miles – Georius martyr. Funktionen und Repräsentationen von Heiligkeit bei Reinbot von Durne, in: MEYER, MATTHIAS/SCHIEWER, HANS-JOCHEN (Hrsg.): Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens, Tübingen 2002, S. 781–811, hier S. 804–11.

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Da sagte der Markgraf sogleich: ›Um euch steht es folgendermaßen: Ihr seid ohne jedes Heil, genauso wie Belsazar [...]. Auch ihr seid der Hölle anheimgegeben. Da ihr den nicht anerkennen wollt, der die Wunder wirkt – wie könntet ihr jemals gerettet werden?‹ Der König wurde zornig und sagte: ›Ihr Könige, zieht euch in eure Gemächer zurück, bis ein Monat vergangen ist: Dann wird der aus Palästina von mir erneut gepeinigt. Soll seine Zauberei denn ewig währen?‹ Er verabschiedete sich und ging fort wie jemand, der besiegt wurde. Alle, die dort waren, waren darüber froh, dass er sich nun von ihnen zurückzog. Viele ritten zu ihrer Unterkunft. Man kümmerte sich, wie mir berichtet wurde, ohne Scheu um den Markgrafen. Am nächsten Morgen, als der Tag anbrach und wie gewöhnlich eintraf, da kamen die Könige überein, den Markgrafen in den Saal einzuladen, ohne dass ihm Schaden zugefügt werden sollte.

Es ist an dieser Stelle gewiss nicht das erste Mal, dass es in Reinbots Legendenroman zum offenen Disput zwischen den Antagonisten kommt. Diesmal aber nutzt der König zur Wiederherstellung seiner Autorität nicht gleich die Intensivierung der Folterqualen, sondern tritt wie ein Geschlagener von der Bühne, während der Heilige von Dacians Fürsten zu einem höfischen Fest geladen wird. Dort nimmt man ihn glanzvoll in Empfang, platziert ihn auf einer Art Thron (V. 5839: hêrgesidel)12 und bittet ihn um Auskunft über seinen größten Erfolg als Krieger – den Sieg über den stets als der ›Salnecker‹ bezeichneten König von Thessaloniki. Diese Hinwendung der Fürsten zur Gegenpartei hat hohe Symbolkraft, beschreibt sie doch eine Dynamik des politischen Seitenwechsels, wie sie auch unter den Fürsten des hohen Mittelalters häufig zu beobachten ist. Nach diesem Umbruch bleibt der König noch immer grundsätzlich handlungsfähig, so dass es wohl nicht gerechtfertigt wäre, von einem veritablen Staatsstreich zu sprechen. Im Wechsel zwischen extradiegetischer und intradiegetischer Erzählerrede kommt es jedoch zu einem signifikanten Konnex zwischen der symbolischen Entmachtung des Königs Dacian und dem Verweis auf das Menetekel des biblischen Königs Belsazar. Durch diesen Kurzschluss steht eine Option im Raum, welche die mittelalterliche Staatstheorie des Johannes von Salisbury über Thomas von Aquin bis hin zum Tyrannendekret des Konstanzer Konzils (Quilibet tyrannus, 1415) immer wieder besonders im Hinblick auf jene Fälle kontrovers diskutierte, wo der Herrscher die staatliche Ordnung zu pervertieren und die Gnade Gottes zu verlieren schien.13 Es ist die Idee des Tyrannenmords – und Georg macht gegenüber Dacian keinen Hehl dar|| 12 Das Substantiv hêrgesidel findet sich an zwei weiteren Stellen der Erzählung (V. 2481 und V. 4665), wobei stets ein thronartig erhöhter Sitz gemeint ist, so dass das mittelhochdeutsche Wort bei Reinbot als ein Synonym für thrôn (V. 2732, V. 4420) und stuol (V. 1476, V. 1993, V. 2198, V. 3385 und V. 4714 bzw. hêrstuol (V. 3437, V. 4669) zu verstehen ist. Im Hinblick auf die vorliegende Stelle muss jedoch unklar bleiben, wessen Platz Georg konkret einnimmt. Dass es sich dabei um Dacians Thron handelt, wie SEIDL vermutet, ist durch den reinen Wortlaut nicht gedeckt. Vgl. SEIDL, STEPHANIE: Blendendes Erzählen. Narrative Entwürfe von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen Georgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters, Berlin/Boston 2012 (MTU 141), S. 143. 13 Vgl. SPÖRL, JOHANNES: Gedanken um Widerstandsrecht und Tyrannenmord im Mittelalter, in: KAUFMANN, ARTHUR (Hrsg.): Widerstandsrecht, Darmstadt 1972 (WdF 173), S. 87–113.

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aus, welches Ende Belsazar im Buch Daniel ereilen wird, nachdem er gewogen und für zu leicht befunden worden war: ›er wart niht fürbaz alt, niur den tac unz an die naht: dô vlôs er êre unde maht‹ (V. 5288–90) ›Er wurde danach nicht mehr alt, er lebte nur noch bis zum Ende dieses einen Tages, dann verlor er Ehre und Macht.‹

Wie kommt es zu dieser indirekten Todesandrohung?

3 Ein höfischer Tyrann Im Heiligen Georg Reinbots von Durne gilt Dacian als Herrscher über einige Gebiete in den östlichen Provinzen des Römischen Reichs. Zwar wird über seinen Stammbesitz nichts genaues ausgesagt, doch aufgrund seiner Ehe mit Alexandrina hat er Anspruch auf das Land Kappadokien – eine heute in der Türkei gelegene Region also, die durch ihre Lage an der Seidenstraße nicht nur einen wichtigen Außenposten des Imperiums der Römer darstellte, sondern die auch im Zeitalter der Kreuzzüge ein stets umkämpftes und strategisch hochbedeutsames Territorium war.14 Die Heterogenität der historischen und politischen Bezüge findet bei Reinbot von Durne ihren Niederschlag in einer sehr inkonsistenten und zuweilen anachronistischen Darstellung des heidnischen Herrscherhauses: So ist Dacian im Heiligen Georg König der Sarazenen und römischer Statthalter in einem. Gelegentlich wird er auch als Kaiser tituliert, wohl um eine Standesdifferenz zu den ihm unterstellten Kleinkönigen zu markieren. Seine Ehefrau, die Königin/Kaiserin Alexandrina, darf sich je zur Hälfte griechischer und französischer Herkunft erfreuen. An ihrem Beispiel kann der Erzähler seinem Publikum daher ganz nebenbei die neuesten Moden romanischer Courtoisie vermitteln. Zugleich wird – dem Heidenbild der zeitgenössischen Kreuzzugsdichtung entsprechend – die römisch-polytheistische Götterwelt um den Sonnengott Apoll so mit pseudomuslimischen Gottheiten wie Mahmet und Tervigant durchmengt (V. 2370f.). Auch im Hinblick auf die im Roman verhandelten Glaubensfragen sind somit handfeste Anachronismen zu konstatieren.15 || 14 Dacians Hauptstadt Melatia (hier: Millêne), in der sich das Martyrium Georgs zugetragen haben soll, war ein frühes Zentrum des christlichen Glaubens, später Schauplatz griechisch-byzantinischer Kämpfe gegen die Perser und schließlich für viele Jahre Zankapfel zwischen den Danischmendiden und den Seldschuken, ehe die Stadt 1243 von den Mongolen erobert wurde. 15 Vgl. JACKSON, TIMOTHY R.: cristen, ketzer, heiden, jüden. Questions of Identity in the Middle Ages, in: HODKINSON, JAMES/MORRISON, JEFF (Hrsg.): Encounters with Islam in German Literature and Culture, Rochester 2009 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), S. 19–35, hier S. 21f.

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Trotz all dieser Vagheit scheint dem erzählerischen Entwurf im Hinblick auf das Imperium Romanum eine klare Hierarchievorstellung unterlegt, denn im Machtzentrum befinden sich ganz eindeutig die Kaiser Diokletian und Maximian: in wârn diu rîche undertân (V. 416). Dacians Herrschaftshandeln, seine Machtperspektiven und vor allem seine Rolle im Kampf gegen das sich immer weiter ausbreitende Christentum stehen in unmittelbarer Abhängigkeit von den regierenden Augusti. Auch wenn diese Hierarchie zuweilen in den Hintergrund rückt, so erinnert doch auch Dacian selbst an dieses Abhängigkeitsverhältnis, wenn er die Herrscher Roms als seine meister bezeichnet (V. 5069). Als lokaler Machthaber einer Grenzregion befindet sich Dacian somit – wie einst Pontius Pilatus, in dessen typologischer Nachfolge er zu stehen scheint – in einer prekären Stellvertreterposition, die es für die Bewertung seines Handelns zu berücksichtigen gilt: Sehen wir in Dacian einen reinen Erfüllungsgehilfen Diokletians und Maximians, der einer offenkundig aussichtslosen Aufgabe zuweilen nur widerstrebend nachkommt (V. 1764f.: er sprach ›wê, immer wê und ach / waz wolt der margrâve her), so scheint seine Schuld am Tod Georgs vermindert. Verantwortlich wäre Dacian dann primär für sein individuelles Verhalten als König von Kappadokien, was Reinbot gegenüber den klerikalen Entwürfen der Georgslegende eine tendenziell ambivalentere Figurenzeichnung und eine dem Willehalm Wolframs von Eschenbach nachgebildete Höfisierung des Gegners ermöglicht. In der Folge wird Dacian wiederholt als ebenso galanter wie gastfreundlicher Ehrenmann portraitiert, der sich nichts Schöneres vorstellen könnte als eine heroische Freundschaft mit dem Markgrafen von Palästina zu pflegen, wäre dieser doch nur bereit, seine Götter anzuerkennen: ›ey, du vil süezer man waz dir sælden ist beschert! solch êre wirt ûf dich gewert, diu keiser, künige nie geschach. wol mich daz ich dich ie gesach, Georî, her von Palastîn! nu sul wir immer mêre sîn zwêne liebe genozzen.‹ (V. 2328–35) ›Ach, du süßer Mann, welches Glück ist dir bestimmt! Eine solche Ehre wird dir erwiesen, wie sie Kaisern und Königen nie zuteil wurde. Was für ein Glück, dass ich dich, Georg, Herr von Palästina, je erblickt habe. Von nun an werden wir einander für immer treue Gefährten sein.‹

Seine liminale Position im hegemonialen Kampf zweier Glaubenssysteme und politischer Regime stellt den König von Kappadokien ferner vor die Wahl zwischen einem kaisertreuen Selbstverständnis als eine der letzten Bastionen des ›heidnischen‹ Roms oder einer Rolle als Wegbereiter für den Siegeszug des Christentums – eine Option, die textimmanent primär am Beispiel des Salneckers vorgeführt wird, der als ehemaliger Verbündeter Dacians zunächst gegen Georg in die Schlacht zieht, sich dann aber auf Georgs Seite schlägt und den christlichen Glauben annimmt.

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Die höfische Ausgestaltung der Heiligenlegende geht also einher mit einer ambivalenteren Bewertung des Herrschers einerseits und mit der Formulierung von Handlungsalternativen andererseits. In diesem Zuge entwickelt sich Reinbots Bearbeitung zur Geschichte einer gescheiterten Bekehrung, in deren Verlauf jeder den anderen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auf seine Seite zu ziehen versucht (V. 1719–21). Wenn Georg dabei zuweilen im Gewand des christlichen Glaubenslehrers agiert, so tritt auch Dacian gelegentlich als antiker Gelehrter auf. Als solcher ist er nicht nur imstande, eine durchaus stringente Apologie seines auf astrologischer Weltsicht beruhenden Glaubensgebildes zu betreiben,16 er führt mit dem Heiligen auch hitzige Kontroversen über die richtige Deutung des Buchs Josua oder das Problem der Jungfrauengeburt. Er habe das auch alles gelesen und besitze sogar die Bücher darüber – allein, glauben könne er diese seltsamen Geschichten (V. 3995: dirre wilden mære) von dem geweissagten Zauberer Jesus freilich nicht.

4 Alexandrinas Scheltrede Damit zu den politischen Dimensionen des vorliegenden Falls: Wie die meisten Fassungen der Georgslegende greift auch Reinbots Bearbeitung aus dem durchaus umfangreichen ›Pool‹ jener negativen Attribute, die sich im Mittelalter zur Kennzeichnung eines ungerechten, tyrannischen Herrschers eigneten, vor allem die Unbeherrschtheit und den übermäßigen Zorn sowie die Gottesferne Dacians auf.17 Die Verurteilung des Königs stützt sich also primär auf moralische und religiöse Aspekte, wobei dem legendarischen Schema entsprechend die Weigerung des Königs im Vordergrund steht, die von Georg demonstrierte Überlegenheit des Christengottes anzuerkennen. Dass er selbst dann noch an Apoll festhält, als dieser von Georg als machtloser Götze vorgeführt wird, gibt Dacian erstmals dem Gespött der Leute preis: daz was ir sumelîcher spot (V. 3308). Droht dem ›Heiden‹ hier schon früh eine schwere Niederlage im Kampf der Ideologien, so steht seine Demontage als Herrscher im Kontext seines ungezügelten Furors gegen Georg und dessen Glaubensgenossen: Dacian hat Georg soeben in einem schwertbesetzten Rad martern und so viele Christen ermorden lassen, dass man mit ihrem Blut Mühlräder hätte antreiben lassen können (V. 4125–27). Da hebt Königin Alexandrina, die insgeheim längst auf Seiten der Christen steht, zu einer öf-

|| 16 Vgl. DE BOOR (Anm. 5), S. 362f. 17 Vgl. MEIER, CHRISTEL: Der rex iniquus in der lateinischen und volkssprachigen Dichtung des Mittelalters, in: ALTHOFF, GERD (Hrsg.): Heinrich IV., Ostfildern 2009 (Vorträge und Forschungen 69), S. 13–39, hier vor allem S. 18–22. Zu den hagiographischen Topoi der Tyrannendarstellung vgl. DOBSCHENZKI, JENNIFER VANESSA: Von Opfern und Tätern. Gewalt im Spiegel der merowingischen Hagiographie des 7. Jahrhunderts, Stuttgart 2015 (Wege zur Geschichtswissenschaft), S. 100–02, und die dort angegebene weiterführende Forschungsliteratur.

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fentlichen Scheltrede an, in der sich vieles von dem wiederfindet, was in zeitgenössischen politischen Diskursen über das Wesen guter und schlechter Herrschaft formuliert worden ist. Ich gebe diese ungewöhnliche und für die Bewertung Dacians so signifikante Stelle in ihrem vollen Wortlaut wieder: ›owê daz ich iuch ie gesach. wê daz ir ie wurt geborn: sêl und lîp habt ir verlorn. nu seht ir doch diu wunder diu got al besunder durch den margrâven tet: der ist nû an dirre stet ûz dem rat gesprungen, und ist im wol gelungen: sîne wunden die sint heil âne mâsen, sunder meil; ouch hât er iuch überreit mit der ganzen wârheit. dâ kêret ir iuch lützel an, ir winnender hundes zan. ir ungetoufter mordes guft, von iu entwindet sich der luft daz er zer erde niht engât und von iu widerkêre hât. ir senefrîcher biterolf, ir tuot alsam der wolf, der sprichet »lamp«, swaz ieman tuot; alsô stêt ouch iuwer muot: diu red ist üppec, und iuwer zunge lüppec: dâ wæt von der gæhe tôt und wähset nôt über nôt, êwiger helleval. aller grüene derresal, væric als der slange, unheiles wâre zange, gellic als diu vipper, Lûcifers kipper und dar zuo sîn scherge, ir abgründes verge, ir tarandes rücke, valsche hellebrücke ungetriuwes râtes, valscher Pilâtes, driaces houbet unde zagel. ir sît der getouften hagel, der ungetriuwen schermschilt. deheiner freise iuch bevilt, mordic als Herôdes.

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ir sît des êwigen tôdes. ich aht iuch ze gelîcher wîs ze dem wurme aspîs und ze dem basiliscus. der art ist beider sampt sus: der einen smeckt, den andern siht, der enweders mac genesen niht. ir Jûdas, ir Phâraô: jâ geschiht iu alsô als ouch geschach den beiden. iuch beginnet zuo in kleiden Apoll in drîer hande wât, diu iu immer wol an stât; von dem fuoz unz an den gebel in fiure, beche unde swebel: dâ müezt ir ûz und innen immer inne brinnen; iu gelingt als in gelanc.‹ (V. 4154–215) ›Weh mir, dass ich Euch jemals erblickt habe. Weh, dass Ihr überhaupt geboren wurdet. Seele und Leib habt Ihr verloren. Dabei seht Ihr doch die Wunder, die Gott einzig dem Markgrafen zuliebe wirkte. Der ist nun hier von dem Rad gesprungen, und es ist ihm leicht gefallen: Seine Wunden, die sind geheilt, ohne Makel, ohne Narben. Außerdem hat er Euch in Grund und Boden geredet mit unwiderlegbaren Beweisen. Das aber interessiert Euch überhaupt nicht, Ihr tollwütiger Hundezahn mit eurer unchristlichen Mordgier, von Euch machen sich die Lüfte frei, so dass sie nicht zur Erde kommen und sich von Euch abwenden. Ihr grausamer Biterolf, Ihr verhaltet Euch wie der Wolf, der immer »Lamm« sagt, ganz gleich, was man tut. Genauso seid auch Ihr: hochmütige Worte sprecht Ihr und eine giftige Zunge habt Ihr. Von dort her weht der jähe Tod und türmt sich Not auf Not, ein ewiger Fall in die Hölle. Eine Dürre für Wald und Wiesen, hinterlistig wie die Schlange, ein wahrer Zangenbiss des Unheils, gallig wie die Viper, Luzifers unritterlicher Geselle und dabei auch noch sein Lakai, Ihr Höllenfährmann, Ihr Tarantelrücken, falsche Höllenbrücke treuloser Ratschläge, falscher Pilatus, Kopf und Schwanz des Skorpions. Ihr seid den Getauften ein Hagelschlag, ein Schutzschild der Treulosen. Mordgierig wie Herodes, ist Euch kein Verderben zu groß. Zum ewigen Tod seid Ihr bestimmt. Vor Euch habe ich so viel Achtung wie vor der Aspis-Schlange und dem Basilisken. Mit ihrer Natur verhält es sich so: Wer den einen riecht, den anderen sieht, der kann in keinem Fall am Leben bleiben. Ihr Judas, Ihr Pharao – ja, Euch wird es genauso ergehen, wie es auch diesen beiden ergangen ist. Apoll wird Euch wie sie in dreierlei Stoffe hüllen, die Euch auf ewig gut kleiden werden, vom Fuß bis zum Schädel, in Feuer, Pech und Schwefel, müsst Ihr außen und innen für immer darin brennen; Ihr werdet das Gleiche erreichen wie sie.«

Alexandrinas Scheltrede mag impulsiv erscheinen. Ein vergleichender Blick zeigt jedoch, dass sich die Darstellung des Herrschers im Heiligen Georg Reinbots von Durne inhaltlich nicht weit von anderen Fassungen entfernt. Auch in der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine diffamiert Alexandrina den König als Tyrannen und grausamen Henker: tyranne crudelis et carnifex, numquid non dixit tibi, ne saepius christianis molestus esses, quia Deus eorum pro ipsis pugnaret, et nunc scias, me velle fieri christianam (S. 263f.: »›Du grausamer Tyrann und Henker, habe ich Dir denn nicht gesagt,

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dass es töricht ist, die Christen heimzusuchen, denn ihr Gott kämpft für sie? Und wisse nun, dass auch ich Christin werden will‹«).18 Außerhalb der weiblichen Figurenrede hat die Darstellung Dacians als Tyrann eine lange Tradition: Schon gegen Ende des 9. Jahrhunderts bezeichnet das althochdeutsche Georgslied Dacian nicht nur als Machthaber (V. 23: der rhike man),19 sondern führt diesen auch als unbeherrschten Wüterich vor und bedient sich somit jenes Begriffs, der auch in zeitgenössischen Glossaren als Äquivalent für das lateinische Wort tyrannus aufgeführt wird: dacianus uhuoto / zhurnt ezs uhunterdhrato (V. 24: »Dacian, der Wüterich, wurde darüber von Zorn ergriffen«). Beobachten lässt sich die Wertung Dacians als Henker oder Schurke (S. 63: carnifex) sowie als gottloser und grausamer Herrscher (S. 66: impie et crudelis imperator) sogar bereits in der Passio Sancti Georgii, einer lateinischen Prosafassung aus dem 5. Jahrhundert.20 Das Tyrannenbild der Georgslegenden korreliert mit einer für den politischen Diskurs der Antike charakteristischen Diffamierung des politischen Gegners als ›zorngeleiteter Herrscher‹ und ›grausamer Tyrann‹.21 Schon bei Cicero ist crudelis das standardmäßige Epitheton seines Tyrannenbegriffs. Augustinus folgt ihm bekanntlich darin, wenn er in De civitate Dei Tyrannen als sehr schlimme und niederträchtige Könige charakterisiert (5,19: pessimi atque inprobi reges)22 und betont, dass das griechische Wort ›Tyrann‹ für ungerechte Herrscher gebraucht werde (2,21: cum uero iniustus est rex, quem tyrannum more Graeco appellauit). Für Isidor von Sevilla darf gar nicht erst als König bezeichnet werden, wer unrecht handelt. Im Sinne seiner Vorgänger betrachtet er in den Etymologiae als Tyrannen jene Herrscher, die von einem hemmungslosen Machtdrang angetrieben werden und die sich gegenüber dem Volk als grausam erweisen (IX,3,20: iam postea in usum accidit tyrannos vocari pessimos atque || 18 Benutzte Ausgabe: Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Vulgo historia Lombardica dicta, hrsg. von JOHANN GEORG THEODOR GRÄSSE, Osnabrück 1965. Eigene Übersetzung. Die Elsässische Legenda Aurea, eine noch vor 1350 in Straßburg entstandene Übertragung ins Frühneuhochdeutsche, gibt dies mit den Worten du grimer tyranne wieder. Benutzte Ausgabe: Die Elsässische Legenda Aurea, Bd. 1: Das Normalcorpus, hrsg. von ULLA WILLIAMS und WERNER WILLIAMS-KRAPP, Tübingen 1980 (Texte und Textgeschichte 3), S. 295, Z. 14. Die Akzentuierung der Unbeherrschtheit wird noch in der Georgsvita aus der um 1400 entstandenen Legendensammlung Der Heiligen Leben durch die Wendung dv grevleicher man bewahrt. Benutzte Ausgabe: Der Heiligen Leben, Bd. 1: Der Sommerteil, hrsg. von MARGIT BRAND [u. a.], Tübingen 1996 (Texte und Textgeschichte 44), S. 34, Z. 7. 19 Benutzte Ausgabe: Georgslied, in: Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie. Althochdeutsch/Neuhochdeutsch, Altniederdeutsch/Neuhochdeutsch, übers., hrsg. und komm. von STEPHAN MÜLLER, Stuttgart 2007, S. 80–89. 20 Benutzte Ausgabe: Passio Sancti Georgii, hrsg. von WILHELM ARNDT, Leipzig 1874 (Berichte über die Verhandlungen der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse 26,2). 21 Zur Entwicklung des Tyrannenbegriffs von der Spätantike bis ins hohe Mittelalter vgl. PARSONS, WILFRID: The Mediaeval Theory of the Tyrant, in: The Review of Politics 4 (1942), S. 129–43. 22 Benutzte Ausgabe: Aurelius Augustinus: De civitate Dei. Libri I–X, hrsg. von BERNHARD DOMBART und ALFONS KALB, Turnhout 1955 (CCSL 47).

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inprobos reges, luxuriosae dominationis cupiditatem et crudelissimam dominationem in populis exercentes).23 Wenn Reinbots Alexandrina dem Kaiser also Grausamkeit und Mordgier, Hinterlist und Teufelsbündelei, Hochmut gepaart mit mangelnder Vernunft und Verlässlichkeit sowie Ungerechtigkeit und Niedertracht vorwirft, dann steht sie darin nicht allein am vorläufigen Ende einer literarischen Zitatkette, in ihrer Rede reartikuliert sich auch ein Diskurs über das Wesen guter und schlechter Herrschaft, der sich wenigstens bis zur ciceronianischen Staatslehre zurückverfolgen lässt. Mit rund 60 Versen gewährt Reinbot der Rede seiner weiblichen Hauptfigur deutlich mehr Raum als alle anderen überlieferten Fassungen. Genutzt wird der quantitative Zuwachs nicht nur zur Intensivierung, sondern auch zur Entfaltung weiterer negativer Herrscherqualitäten: So bringt Alexandrina eine Reihe traditionell pejorativ konnotierter Tierwesen in Stellung, um Dacian als paganen Despoten zu charakterisieren, der nicht nur den Christen grausam nachstellt, sondern sein ganzes Reich in den Abgrund führen wird.24 Dabei zielen die Vergleiche mit dem Wolf und dem Hund darauf, die Deformation des tyrannischen Staatskörpers zu illustrieren, während die Schlange und der Skorpion verdeutlichen sollen, dass das Oberhaupt Kappadokiens nicht Ebenbild Gottes, sondern des Teufels ist.25 Christlich gelehrt wirken ferner die Vergleiche mit Judas und dem Pharao des Pentateuchs, die Alexandrina in typologischer Hinsicht gebraucht, um ihrem Ehemann zu prophezeien, dass er dereinst dasselbe ernten werde wie diese beiden, wenn er sich anstelle seines prächtigen Königsgewands in Feuer, Pech und Schwefel hüllen muss. Der König wiederum zeigt sich von den Worten seiner Ehefrau zutiefst getroffen: wan im sô leide nie geschach (V. 4217). Er springt auf, reißt ihr die Krone vom Haupt und hätte die Königin wohl auch an Ort und Stelle totgeschlagen, wären seine Barone nicht in letzter Sekunde dazwischen getreten. Doch selbst wenn Dacian den Wahr-

|| 23 Benutzte Ausgabe: Isidorus Hispalensis: Etymologiarum sive originum libri XX, hrsg. von WALLACE MARTIN LINDSAY, 2 Bde., Oxford 1911. 24 In den von Alexandrina verwendeten Tiervergleichen werden einerseits die Psalmen 57 (alienati sunt peccatores a vulva erraverunt ab utero locuti sunt falsa furor illis secundum similitudinem serpentis sicut aspidis surdae et obturantis aures suas quae non exaudiet vocem incantantium et venefici incantantis sapienter) und 91 verarbeitet (super aspidem et basiliscum ambulabis et conculcabis leonem et draconem). Auf der anderen Seite scheint in dem knapp umrissenen Wolfsbild Äsops Fabel Das Lamm und der Wolf verarbeitet zu sein, die auch im Mittelalter im Zeichen der Tyrannenkritik gedeutet worden ist und die von Marie de France bis hin zu Thomas von Aquin das Bild vom ›wölfischen‹ Tyrannen prägt. Vgl. SIEKMANN, HENNING: Wolf und Lamm. Zur Karriere einer politischen Metapher im Kontext der europäischen Fabel, Bamberg 2017 (Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien 21), vor allem S. 322f. 25 Als biblischer Präzedenzfall für die Animalisierung eines Herrschers kann Nebukadnezar gelten, der im Heiligen Georg nur wenige hundert Verse zuvor Erwähnung fand. Zur Abwertung des Königs durch den Tiervergleich vgl. auch KRASS, ANDREAS: Tyrannenmord als Christenpflicht. Statement zum Policraticus des Johannes von Salisbury, online unter: www.uni-konstanz.de/kulturtheorie/Texte/ TyrannenKrass02.pdf (Abrufdatum: 05.04.2019).

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heitsgehalt dieser Vorwürfe performativ durch einen weiteren Gewaltausbruch bestätigt, so hat seine Herrschaft auch im Anschluss an diese Szene nahezu ungebrochen Bestand – im Dienste des römischen Imperiums scheint Dacian ungeachtet aller charakterlicher Schwächen noch immer der Richtige zu sein. Das ändert sich erst, als der König verspricht, dass auch er sich taufen lassen werde, sofern es Georg gelänge, einen alten, mit einem Bann belegten Sarkophag zu öffnen und die darin befindlichen Gebeine von 213 Toten aus vorchristlicher Zeit zum Leben zu erwecken: heiz si lebendic ûf stân, sô wil ich lîhte toufen mich. edel margrâf, nu sich, ob dîn got habe die kraft, sô leist ich dir geselleschaft. (V. 5110–14) Befiehl ihnen, lebendig zu werden und aufzustehen, dann bin ich bereit, mich taufen zu lassen. Edler Markgraf, sieh’ nun, ob dein Gott dazu die Macht hat. Wenn er es ist, dann werde ich dein Gefährte.

Natürlich vollbringt Georg mit Gottes Hilfe das Wunder: Die Toten entsteigen dem Sarg, bitten angesichts der Höllenqualen, die sie für ihren Glauben an Apoll durchleiden mussten, um die Taufe und finden sogleich Einlass ins Paradies. Einzig Dacian weigert sich einmal mehr, das Wunder anzuerkennen und sich von seiner polytheistischen Götterwelt zu lösen (V. 5256–58). Diesmal aber hat der religiöse Sachverhalt eine politische Tragweite, denn während Dacian das Sargwunder für eine Art höfisches Spiel zu halten scheint,26 erkennt Georg in Dacians Weigerung einen eklatanten Wortbruch. Dem starrsinnigen Herrscher stellt er daher mit dem sentenzartigen Ausspruch küniges wort sol wâr sîn (V. 5247)27 seine Eignung für die Königswürde in Abrede. Es ist dieses Schlüsselereignis, auf das der eingangs zitierte intertextuelle Rekurs auf Belsazar und die anschließende symbolische Entmachtung des Königs folgen. Trotz der ungünstigen Position, in der sich die Herrscher christlicher Legenden in paradigmatischer und eschatologischer Hinsicht in der Regel befinden, lässt sich das Tyrannenbild dieser Bearbeitung also nicht auf die simple Dichotomie von Gut und Böse reduzieren. Reinbots höfische Fassung betreibt einen erheblichen Aufwand, um den König als ›gemischten Charakter‹ zu profilieren und sein Herrschaftshandeln zu motivieren. Sehr viel stärker als in der spätantiken Passio, im althochdeutschen Georgslied oder in der Legenda Aurea werden dabei zeitgenössische politische Diskurse aufgerufen. Diese Diskurse laufen in dem komplexen Portrait eines Herrschers

|| 26 Vgl. FEISTNER (Anm. 6), S. 141. 27 Zu den Sprichworten der Kategorie ›Der König soll sein Wort halten‹ vgl. BRACHNA, MATHILDE und MUMPRECHT, VRONI: Art. König, in: SINGER, SAMUEL (Hrsg.): Thesaurus proverbiorum medii aevi, Bd. 7: Kern–Linie, Berlin/New York 1998, S. 124–39, hier S. 129–31.

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zusammen, dessen negative Züge klar genug konturiert sind, um im Sinne eines Fürstenspiegels als Exempel für schlechtes Regieren fungieren zu können, und der doch in einem so höfisch-kultivierten Gewand präsentiert wird, dass er bei Reinbots Publikum nicht rundheraus auf Ablehnung stoßen musste.

5 In der Tugendburg Lesen wir Reinbots Heiligen Georg als einen Text, der über die erbauliche Geschichte vom standhaften und unbezwingbaren Märtyrer hinaus eine moralische Regulierung politischen Handelns intendiert, dann kommen wir nicht umhin, danach zu fragen, ob der Roman dem Bild vom grausamen König Dacian nicht auch ein positives Gegenbeispiel zur Seite stellt. Im Rahmen der Drachentöterlegende, wie sie in der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine erzählt wird, finden wir eine solche Gestalt in Form jenes heidnischen Königs, dessen Reich von dem menschenfressenden Ungeheuer heimgesucht wird. Nach der Erlösungstat durch den Heiligen Georg lässt sich dieser König bereitwillig taufen, stiftet auf Anraten Georgs Klöster, erbaut Kirchen, betreibt Armenfürsorge und führt überhaupt in allen Dingen ein vorbildliches christliches Leben: tunc Georgius regem de quatuor breviter instruxit, scilicet ut ecclesiarum Dei curam haberet, sacerdotes honoraret, divinum officium diligenter audiret et semper pauperum memor esset (S. 262: »Danach gab Georg dem König vier Lehren, die er einhalten solle: dass er die Kirche in seinen Schutz nehme, dass er die Priester ehre, dass er beflissen die Messe höre und dass er stets der Armen gedenke«).28 Auch die mittelhochdeutsche Georgslegende, in der wir von einem derartigen Drachenabenteuer allenfalls am Rande etwas erfahren,29 kennt vorbildliche Herrscher dieser Art insbesondere in Form des edlen Salneckers, dessen tugendhaftes und ruhmvolles Handeln immer wieder hervorgehoben wird. Anhand seiner Einsicht in die historische und religiöse Notwendigkeit einer Bekehrung zum Christentum illustriert Reinbot auf textimmanenter Ebene jenen Weg, den auch König Dacian hätte wählen sollen. Da es sich hierbei um eine Nebenfigur handelt, scheint das erzähleri-

|| 28 Das Thema des königlichen Wortbruchs erscheint in dieser Version indessen auf die Erzählung vom Drachenkampf verschoben, ist dort doch der König entgegen seines eigenen Gebots nicht bereit, seine Tochter, auf die endlich das Los gefallen ist, zur Besänftigung des Drachen zu opfern. 29 Wenngleich ungewiss bleiben muss, ob der heilige Georg in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts überhaupt bereits konkret mit einer Drachentötergeschichte in Verbindung gebracht wurde, so findet sich bei Reinbot zumindest in der stark hyperbolischen Rede eines römischen Boten, in der die ritterlichen Taten des Helden aufgelistet werden, eine entsprechende Andeutung: ez mac vor ihm niht enwern: / er sleht lewen unde bern, / trachen, lintwürme (V. 465–67). Als Allegorie des Bösen ist der Drache ferner präsent in der Darstellung des Gottes Apoll (V. 3426 und V. 5195). Vgl. KRASS (Anm. 1), S. 152.

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sche Gewicht dieses Königs allerdings zu gering, als dass sich an ihrem Beispiel ein umfassendes christliches Herrscherideal entwerfen ließe. Unser Blick soll sich daher nicht nur auf den Tyrannen richten, sondern muss auch die politische Rolle seines Gegenspielers hinterfragen, der in den meisten Fassungen zwar als ritterlicher Held und christlicher Märtyrer profiliert wird, als Herrschergestalt jedoch allein schon deswegen kaum in Erscheinung tritt, weil heiligmäßiges Handeln stets den bereitwilligen Verzicht auf ein weltliches Dasein voraussetzt. Oberflächlich betrachtet folgt auch die mittelhochdeutsche Bearbeitung ganz dem Muster legendarischer Weltentsagung: Alle Machtoptionen, die sich ihm im Laufe der Handlung bieten, schlägt Georg kategorisch aus. Selbst die ererbten Herrschaftsansprüche überträgt er vor seinem Gang zu König Dacian an seine beiden Brüder. An dessen Hof angekommen, inszeniert er schließlich die Preisgabe seiner gesamten sozialen Identität, indem er sich seiner Waffen, seiner Rüstung und seiner höfischen Kleidung entledigt. Nach dieser freiwilligen Devestitur kann es für den Markgrafen von Palästina kein Zurück mehr geben. Doch in demselben Maß, wie der Erzähler im Hintergrund immer wieder an Georgs Leistungen als Gotteskrieger erinnert,30 bleiben auch Georgs Herrscherqualitäten fortwährend ein Thema. Was aber könnte den demütigen, gottesfürchtigen Märtyrer zum christlichen Idealkönig machen? Dass der Heilige grundsätzlich auch für ein weltliches Herrscheramt geeignet wäre, wird in Reinbots Legendenroman von Anfang an betont: Wunderzeichen, die seine Geburt begleiten, künden ebenso von seiner Auserwähltheit wie die strahlende, charismatische Schönheit Georgs (V. 5883: er rôsenkint der schœne).31 Mütterlicherseits aus Antiochien stammend, tritt er rasch in die Fußstapfen seines gleichnamigen Vaters, Georg von Palästina, den der Erzähler mit dem Agnomen der Mezzære (V. 108) versehen hat, was wohl mit ›das Richtmaß‹ zu übersetzen ist. Und weil sich Georg schon in jungen Jahren nicht nur als das Maß aller Tugenden auszeichnet, sondern auch als Krieger im Namen Gottes zu kämpfen bereit ist, entschließen sich seine Brüder bald nach dem Tod des Vaters, dem Drittgeborenen ihr Erbe zu überlassen, auf dass dieser die Macht bündeln und mehren möge. Wollte man diesen Vorgängen im Rahmen des politischen Diskurses einen gewissen normativen Anspruch unterstellen, so ließe sich hierin wohl eine Überwindung des Primogeniturmodells zugunsten einer Wahlmonarchie erkennen, die Königsheil, Gottesfürchtigkeit und individuelle Eignung zu ihren wesentlichen Entscheidungskriterien erhebt. ›Tugendhaftigkeit‹ ist in der Folge auch das Leitthema einer zweiten Wahlszene. Gefragt, weswegen er lieber Georg als Dacian die Treue zu halten gedenkt, erklärt der König von Mayedon schließlich ausführlich, dass eine Versammlung griechischer Fürsten Georgs Vorzüglichkeit erkannt und ihn daher zeinem houbetkünige (V. 1980)

|| 30 Vgl. SEIDL (Anm. 12), S. 106f. und 181f. 31 Vgl. KRASS (Anm. 1), S. 152f., und LEMBKE, ASTRID: Erzählte Heiligkeit. St. Georg in mittelalterlicher Dichtung, Berlin 2008 (Hochschulschriften 23), S. 94–101.

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erhoben habe. Georg aber habe diese Ehre mit Verweis auf die Nichtigkeit aller weltlichen Dinge ausgeschlagen. Die Wahl sei aber dennoch zu recht auf ihn gefallen, wie sich anhand einer wunderburc (V. 5751) aufzeigen lasse, die in ihren Kammern folgende acht Tugenden beherberge: stæte (V. 5765), triuwe (V. 5787), milte (V. 5799), mâze (V. 5807), zuht (V. 5821), kiusche (V. 5839), barmung (V. 5851) und endehaft (V. 5859). Von Georg abgesehen, sei es noch keinem Menschen gelungen, in allen acht Kammern dieser Burg umherzuwandeln und somit alle genannten Tugenden vollumfänglich auszufüllen: ez geschach dâ vor nie keinem man. des vert sîn lop sô hôhe enpor, ez loufet sunder slege vor. (V. 5880–82) Das gelang zuvor keinem anderen Menschen. Deshalb steigt sein Ruhm hoch empor und geht von ganz allein voran.

Bei diesen acht Eigenschaften, die Georg in seinem Wesen vereint, handelt es sich nicht um Herrschertugenden im engeren Sinne, sondern um eine Auswahl aus dem Kanon jener inneren Vorzüge, die im Hochmittelalter allgemein den ethischen Code christlich-höfischer Ritterlichkeit bestimmten.32 Nur, wer die für relevant befundenen ritterlichen Tugenden vollständig ausmisst, wer von hoher adliger Abstammung ist, ein einnehmendes Wesen besitzt und wer auch bereit ist, sich bis zur Selbstvernichtung in den Dienst Gottes zu stellen, der darf in Reinbots Entwurf als oberster König gelten. Anders als die Version des Jacobus de Voragine, die immerhin einige allgemeine Königspflichten formuliert, stellt Reinbots Heiliger Georg dem abschreckenden Beispiel vom Fall des ›heidnischen‹ Tyrannen somit keinen ausgereiften Herrschaftsentwurf entgegen. Wenn überhaupt, so lassen sich diese gleichsam ex negativo aus dem Verhalten Dacians ableiten. Reinbots Märtyrerportrait leistet jedoch etwas anderes: Mit Hilfe des heiligen Georg profiliert sein höfischer Legendenroman Kriterien zur Wahl eines Idealkönigs, dessen Tugenden die kontroverse Frage nach einem Recht auf Insurrektion, also auf Empörung gegen die unerträglich gewordene Gewalt des Tyrannen, hinfällig erscheinen lassen.

|| 32 Vgl. SCHWARZ, MONIKA: Der heilige Georg – Miles Christi und Drachentöter. Wandlung seines literarischen Bildes in Deutschland von den Anfängen bis in die Neuzeit, Köln 1972, S. 63. Zu den höfischritterlichen Tugendkatalogen des Mittelalters vgl. auch SCAGLIONE, ALDO: Knights at Court. Courtliness, Chivalry and Courtesy from Ottonian Germany to the Italian Renaissance, Berkeley [u. a.] 1991, S. 64–67, und BUMKE, JOACHIM: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 122008, S. 416–30.

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6 Wirkmächtige Legenden Ein Text wie Reinbots Legendenroman, der die Andersgläubigen als Sarazenen bezeichnet, der den muslimischen Glauben als Vielgötterei karikiert und der einen getauften Heroen aus Palästina ausschickt, um im östlichen Mittelmeerraum den Kampf um Territorien und Ideologien für das Christentum zu entscheiden, der hat erkannt, welch großen Dienst die Gestalt des heiligen Georg als eine der schärfsten Waffen zeitgenössischer Kreuzzugspropaganda zu leisten vermag.33 Doch wie zu sehen war, verkörpert Georgs Gegenspieler Dacian das Stereotyp des römischen Christenschlächters nur oberflächlich. Im Rahmen eines literarischen Entwurfs, der sich das Fremde nahezu als eine Dublette des Eigenen vorstellt, das heißt als eine feudal strukturierte höfische Gesellschaft, fungiert der Tyrann vielmehr als Sinnbild für jene Deformationen des Staatskörpers, vor denen auch und vor allem die eigene Gegenwart nicht gefeit ist. Nun besitzen wir keine verwertbaren Informationen über Reinbots literarische Quelle. Wahrscheinlich wird es sich eher um eine lateinische als um eine französische Vorlage gehandelt haben, doch unter den vielen zeitgenössischen Bearbeitungen ist uns kein Text überliefert, dessen Spezifika sich in signifikanter Weise mit Reinbots Entwurf vergleichen ließen.34 Bewegen wir uns also hinsichtlich des Prätexts und seiner Intentionen im Bereich des Spekulativen, so liegen doch einige belastbare Indizien dafür vor, dass einflussreiche Gelehrte des 12. und 13. Jahrhunderts wie Hélinand de Froidmont sich auch der hagiographischen Dichtung angenommen haben.35 Johannes von Salisbury belegt die in seinem Policraticus ausformulierten Thesen zum Tyrannenmord sogar an dem Exempel zweier Märtyrer (Mercurius und Edmund von Ostanglien), die posthum vom Himmel herabgefahren seien, um das Todesurteil gegen einen Tyrannen zu vollstrecken (Policraticus, Lib. VIII, Cap. XXI).36 Angesichts der Affinität von Legende und Staatstheorie wäre es gut möglich, dass eine Georgslegende, in der sich zeitgenössische politische Diskurse derart deutlich artikulieren, in einem solchen Umfeld ihren Ursprung hatte. Vieles spricht indessen dafür, dass Reinbot aus den vielen Sinnangeboten dieser Legende vor allem jene zu akzentuieren bestrebt war, die auf die Erhöhung des höfischen Rittertums zielen. Dieses darf sich in seiner Bearbeitung nicht nur im Hinblick

|| 33 Vgl. MURRAY (Anm. 2), S. 177. 34 Zur Quellenfrage vgl. MATZKE, JOHN E.: Contributions to the History of the Legend of Saint George, with Special Reference to the Sources of the French, German and Anglo-Saxon Metrical Versions, in: PMLA 18 (1903), S. 99–171, hier S. 138–46. 35 Vgl. VOORBIJ, JOHANNES BENEDICTUS: The Legend of Guntram in Helinand of Froidmont’s Chronicon, in: GOSMAN, MARTIN/VAN OS, JAAP (Hrsg.): Non nova, sed nove. Mélanges de civilisation médiévale dédiés à Willem Noomen, Groningen 1984 (Mediaevalia Groningana 5), S. 261–77. 36 Benutzte Ausgabe: Joannis Saresberiensis Opera Omnia, Bd. 4: Polycratici libri VI–VIII, hrsg. von JOHN A. GILES, Oxford 1848, S. 339–55.

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auf den Glaubenskrieg moralisch gerechtfertigt wähnen, sondern seine generellen Machtansprüche auch und gerade mithilfe der Tugendburgallegorie untermauert sehen.37 Wie aber lässt sich die Idee des Tyrannenmords mit diesem Anliegen in Einklang bringen? Lässt sich, in anderen Worten, mit Dacian und Belsazar ebenso gut Politik betreiben wie mit dem heiligen Georg? In der Regierungszeit Ottos II. von Bayern, die geprägt war vom Taktieren und Changieren zwischen staufischer und päpstlicher Seite, vom Konflikt mit den bayerischen Kirchenfürsten und vom Versuch, territoriale Ansprüche in Österreich geltend zu machen, ließen sich zahlreiche Referenzpunkte finden, die darauf schließen lassen, dass dem Heiligen Georg ein konkretes strategisches Ansinnen zugrunde liegt. Besonders plausibel erscheint es, das Werk in der Zeit zwischen 1246 und 1253 zu situieren, als der Herzog von Papst Gregor IX. mit dem Kirchenbann belegt worden war, nachdem er seine Tochter Elisabeth mit Konrad IV., also mit dem Sohn des exkommunizierten Stauferkaisers, verheiratet hatte.38 In dieser späten Phase seiner Regierungszeit hätte Otto II. allen Grund gehabt, sich mithilfe eines frommen Werks als gottesfürchtiger Christ und guter Herrscher zu inszenieren.39 In Zusammenhang mit politischen Konsolidierungsbemühungen dieser Art könnte auch der Fall des Königs Dacian und der an ihm exponierte Tyrannenmordgedanke dazu gedient haben, anhand eines Negativbeispiels all jene Eigenschaften vorzuführen, die nach Maßgabe des Prologs auf den Auftraggeber gerade nicht zutreffen. Einem politisch-dynastischen Ansinnen dieser Art wäre zumindest insofern Erfolg beschieden gewesen, als historische Quellen darüber Auskunft geben, dass dem exkommunizierten Herzog zwölf Jahre nach seinem Tod doch noch ein kirchliches Begräbnis gewährt wurde.40 Den Bemühungen um politische Schadensbegrenzung steht allerdings eine zweite Erzählung entgegen, die nach Ottos Tod in einigen Annalen Verbreitung fand: Dabei handelt es sich um die ›Legende‹ von einem Bauern, der im Traum gesehen haben will, wie Otto in der Nacht des St. Michaelstags vor ein Tribunal gerufen worden und wie diesem dort der baldige Tod verkündet worden sei, wenn er nicht umgehend von der Störung des Friedens und der Heimsuchung der Ar|| 37 Vgl. KRASS (Anm. 1), S. 150, und FEISTNER (Anm. 6). S. 143. 38 Vgl. FEISTNER (Anm. 6), S. 144f. Ähnlich MURRAY (Anm. 2), S. 176, der im Hinblick auf den heiligen Georg von einem Akt der Schadensbegrenzung spricht. Zur Reichs- und Kirchenpolitik unter Herzog Otto II. vgl. auch SPINDLER, MAX: Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 2: Das alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, hrsg. von ANDREAS KRAUS, München 21988, S. 36–52, und RIEZLER, SIGMUND: Geschichte Bayerns, Bd. 2, Gotha 1880, S. 62–100. 39 Als Förderer zeitgenössischer volkssprachiger Dichtung trat Otto II. nicht allein durch den Auftrag zum Heiligen Georg in Erscheinung. An seinem Hof haben sich zeitweilig auch Dichter wie Neidhart, Friedrich von Sonnenburg und der Tannhäuser aufgehalten. Neben strategischen und politischrepräsentativen Absichten lassen sich folglich auch genuin literarische Interessen geltend machen. 40 Vgl. Regesten der Pfalzgrafen am Rhein 1214–1508. Bd. 1: 1214–1400, hrsg. von ADOLF KOCH und EDUARD WINKELMANN, Innsbruck 1894, S. 33f., n. 601.

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men und der Kirche ablasse (S. 396: quod ad querimoniam sanctorum sententia mortis data esset in Ottonem ducem et ceteros principes pacis turbatores et ecclesiarum ac pauperum vastatores).41 Der Herzog habe sich dadurch aber nicht zur Umkehr bewegen lassen und sein plötzlicher Tod am 29. November 1253, also am Vorabend des St. Andreastags, sei daher als eine Strafe des Himmels zu werten. Gleichsam im Augenblick des Todes wird hier also noch einmal die politische Schlagkraft legendarischer Tyrannenbilder sichtbar – und wiederum zeigt sich, wie schnell sich diese instrumentalisieren lassen, wie sie sich verkehren und im vorliegenden Fall gerade gegen denjenigen richten können, der sich im Prolog der mittelhochdeutschen Fassung als Urheber des Buchs vom Glaubenskämpfer Georg und dem Christenfeind Dacian rühmen lässt.

|| 41 Benutzte Ausgabe: Hermanni Altahensis Annales, in: PERTZ, GEORG HEINRICH (Hrsg.): Annales aevi Suevici, Hannover 1861 (MGH. Scriptores [in Folio] 17), S. 381–408.

Elke Ukena-Best

Depravation des Herrschers: Zum hagiographischen Tyrannentypus in Hugos von Langenstein Martina Die Figur des ›heidnischen‹ Tyrannen, wie ihn die christliche Hagiographie, speziell im Genus der Märtyrerlegende, vorführt, ist als Konterpart der zur Heiligkeit gelangenden Hauptfigur funktional determiniert und typisiert. Das Bild des Gewaltherrschers erscheint als ein aus Stereotypen generiertes Konstrukt. Zentrales Figurenmerkmal ist sein im unerschütterbaren Unglauben begründeter Hochmut, die Ursünde superbia, deren sich in Gewalt und Grausamkeit äußernde Emanationen Hass, Wut und Zorn (odium, ira, furor, crudelitas, violentia) in der Konfrontation mit der Standhaftigkeit des Christen sein Denken und Agieren bestimmen.1 Die im Götzendienst dokumentierte Teufelsverfallenheit macht ihn erkenntnisunfähig gegenüber den sich im Martyrium ereignenden Manifestationen göttlichen Wunderwirkens, so dass er nach dem gewaltsamen Tod des in den Himmel aufgenommenen Märtyrers als von Gott Verdammter der ewigen Höllenqual zugeführt wird. Seine Handlungen und Verhaltensweisen als Initiator der Reihe von Martern, deren Praktiken und Abläufe einem gattungstypischen Fundus entstammen, gehört im Rahmen der dualen Figurenkonstellation substantiell zum konventionalisierten Erzählschema der Märtyrerlegende bzw. des Martyriumsteils einer vor oder mit der Geburt des Blutzeugen einsetzenden Heiligenvita. Die lineare Geschehensfolge ist durch wenige narrative Grundelemente vorgegeben: die initiale konfliktauslösende Begegnung zwischen Christ und heidnischem Gewalthaber, die Forderung des Götzenopfers mit verbaler Auseinandersetzung, die Gefangenschaft mit Folter, göttlichem Wunder und Heidenbekehrung sowie der Tod des Märtyrers durch Hinrichtung. Die vielfältigen Möglichkeiten der Variation, Wiederholung, Ergänzung oder Erweiterung einzelner Erzählbausteine, auch im Hinblick auf eine männliche oder weibliche Märtyrerfigur, lassen spezielle Gewichtungen und || 1 Zur hagiographischen »Kategorisierung des Gewaltakteurs als Tyrann und [...] Christenverfolger« vgl. DOBSCHENZKI, JENNIFER VANESSA: Von Opfern und Tätern. Gewalt im Spiegel der merowingischen Hagiographie des 7. Jahrhunderts, Stuttgart 2015, hier vor allem S. 100–02, Zitat S. 100. Die bösartigen und gewalttätigen Züge des Legenden-Tyrannen sind wesentliche Charakteristika des rex iniquus, der in der mittelalterlichen Herrschervorstellung das Gegenbild zum Ideal des rex iustus et pacificus verkörpert. Allerdings ist für die legendarische Herrscherfigur zu beachten, dass sich der Fokus nicht gesamthaft auf seine defizitäre Herrschaftsführung als Regent über das heidnische Volk richtet, sondern auf die Gegnerschaft zur christlichen Märtyrerfigur verengt ist. Vgl. MEIER, CHRISTEL: Der rex iniquus in der lateinischen und volkssprachigen Dichtung des Mittelalters, in: ALTHOFF, GERD (Hrsg.): Heinrich IV., Ostfildern 2009 (Vorträge und Forschungen 69), S. 13–39, vor allem S. 29–33 (»Crudelitas/Ira/Furor«). https://doi.org/10.1515/9783110752373-005

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Akzentsetzungen zu. Bei der narrativen Ausgestaltung findet ein traditionelles Reservoir an konstituierenden Motiven Verwendung. Weitere Figuren wie Engel als göttliche Boten, Richter, Folterknechte oder Teufel agieren als funktionsgebundenes Personal auf christlicher oder heidnischer Seite.2 Der Deutschordensgeistliche Hugo von Langenstein hat eine mit über 32.000 Versen außergewöhnlich breit entfaltete Legendendichtung von der heiligen Märtyrerin Martina verfasst, die nach eigener Angabe 1293 vollendet wurde (Epilog, 292,65–72).3 Ihm lag eine nicht bekannte lateinische Version vor, die den im Sanctuarium des Boninus Mombritius von 1479 und in den seit 1643 herausgegebenen Acta Sanctorum des Johannes Bollandus und der ihm nachfolgenden ›Bollandisten‹ überlieferten Fassungen wohl recht nahesteht.4 Hugos von Langenstein Martina-Legende entspricht nach Aufbau, Ablauf, Personal und zentraler Motivik dem Grundtypus der Märtyrerlegende, doch erweitert er die bereits in der Vorlage enthaltenen elf Martern zu einer umfangreichen, detailliert ausgeführten Episodenfolge, die mit langen Gebeten und predigthaften Verkündigungsreden der Märtyrerin sowie expansiven religiösen Kommentaren des als geistliche Lehrautorität inszenierten Erzählers angereichert sind.5 || 2 Zur Typik von Erzählschema und Handlungsträgern der Märtyrerlegende vgl. FEISTNER, EDITH: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20), S. 26–33; BACHORSKI, HANS JÜRGEN/KLINGER, JUDITH: Körper-Fraktur und herrliche Marter. Zu mittelalterlichen Märtyrerlegenden, in: RIDDER, KLAUS/LANGER, OTTO (Hrsg.): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, Berlin 2002 (Körper, Zeichen, Kultur 11), S. 309–33, hier S. 311f.; MOHR, ROBERT: Die deutschsprachigen Fassungen der Martina-Legende. Eine Untersuchung zur institutionsspezifischen und institutionsübergreifenden Rezeption von Legenden, in: ZfdPh 131 (2012), S. 343–88, hier S. 353f.; DITTMEYER, DARIA: Gewalt und Heil. Bildliche Inszenierungen von Passion und Martyrium im späten Mittelalter, Köln [u. a.] 2014 (Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst 5), S. 52–54; HAMMER, ANDREAS: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional, Berlin/Boston 2015 (Literatur – Theorie – Geschichte 10), S. 271–76. 3 Der Text ist singulär überliefert in: Universitätsbibliothek Basel, Cod. B VIII 27, Bl. 1r–292v. Benutzte Ausgabe: Hugo von Langenstein: Martina, hrsg. von ADELBERT VON KELLER, Stuttgart 1856 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 38), Nachdruck Hildesheim 1978. Zu Hugo von Langenstein und seiner Ordenszugehörigkeit vgl. STEER, GEORG: Art. Hugo von Langenstein, in: 2VL, Bd. 4 (1983), Sp. 233–39; BORST, ARNO: Mönche am Bodensee. 610–1525, Sigmaringen 1978, S. 227–46; HELM, KARL/ZIESEMER, WALTHER: Die Literatur des Deutschen Ritterordens, Gießen 1951, S. 44–47. 4 Vgl. Passio Sanctae Martinae Virginis et Martyris, in: Mombritius, Boninus: Sanctuarium seu Vitae Sanctorum II, Paris 1910; Nachdruck Hildesheim/New York 1978, S. 246–56; De S. Martina virgine romana martyre, in: BOLLANDUS, JOANNES: Acta Sanctorum quotquot orbe coluntur, vel a catholicis scriptoribus celebrantur. Januarii tomus primus, Paris 1864, S. 11–18. 5 Inhaltsreferate mit teils unterschiedlichen Gliederungen und Schwerpunktsetzungen finden sich bei DOLD, PAUL: Untersuchungen zur Martina Hugos von Langenstein, Diss. Straßburg/Mühlhausen 1912, S. 76–84; WYSS, ULRICH: Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik, Erlangen 1973, S. 285–99; MEINDL-WEISS, JUTTA: Eine vergessene Heilige. Studien zur Martina Hugos von Langenstein, Frankfurt a. M. [u. a.] 2002, S. 16–29; MOHR, ROBERT: Präsenz und Macht. Eine Untersuchung zur Martina Hugos von Langenstein, Frankfurt a. M. [u. a.] 2010, S. 15–22.

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Überdies stellen voluminöse Exkurse zu Themen aus Heilsgeschichte, Dogmatik, Moraltheologie und Hermeneutik die Legendenhandlung in einen kompendiösen theologischen Kontext. Durchgehend äußert sich der im Erzähler gegenwärtige Autor mit Explikationen und Ausdeutungen zum Geschehen und zur Charakteristik der Handlungsträger, um seinen Adressaten, den meist illiteraten ritterlichen Ordensbrüdern, ein vertieftes Verständnis der Vorgänge dieser – keineswegs zeitgemäßen – Martyriumshandlung zu eröffnen und ihnen theologisches Basiswissens in deutscher Sprache zugänglich zu machen.6 Im Zuge der Ausgestaltung der Folteretappen, die sich jeweils von der Opferforderung des Tyrannen über den verbalen Widerstand der Märtyrerin und den Dialog der Kontrahenten, den reaktiven Zornausbruch des Gewalthabers, die Anordnung und Durchführung der Martern mit göttlichen Wunderzeichen bis zur Einkerkerung der standhaften Christin erstrecken, verleiht Hugo von Langenstein der Figur des christenfeindlichen Herrschers ein eigenes, nachdrücklich konturiertes Persönlichkeitsprofil. Parallel und in Korrelation zu Martinas Heiligwerdung im Martyrium erzählt er die Geschichte ihres Gegners, des römischen Kaisers Alexander, als unaufhaltsamen, in der Depravation von Psyche und Physis sich vollziehenden Niedergang. Die zuletzt vollständige Verdrängung des rationalen Vermögens durch affektiv gesteuertes Verhalten mündet in den finalen Akt der Selbstvernichtung des zur tierischen Kreatur degenerierten Potentaten. Der seinem Persönlichkeitsverlust koinzidente, den Kaiser existentiell vernichtende Machtverlust wird in der fortschreitenden Zerrüttung seiner Herrschaft manifest. Alexander entgleitet die uneingeschränkte Herrschaftsgewalt; er wird zum schwachen Regenten, der nicht mehr Herr seiner selbst ist. Die permanente öffentliche Verhöhnung durch seine unbezwingbare Kontrahentin, den Abfall bekehrter Untertanen, den Spott des römischen Volkes über seine Niederlagen und die katastrophale Zerstörung der Götzenbilder als den Grundfesten des heidnischen Glaubens kann er nicht verhindern, so dass er dem Schwinden von Autorität, Würde und Ehre ohnmächtig ausgeliefert ist. Den Hauptmerkmalen des Tyrannenbildes, dem Charakterisierungsverfahren Hugos von Langenstein und den dem Erzählschema implementierten Phänomenen des Macht- und Persönlichkeitsverlustes gilt die folgende Untersuchung, die dem an Martinas Heilsweg zum Himmel gebundenen Unheilsweg Alexanders in die höllische Verdammnis anhand markanter Partien der Martyriumshandlung nachgehen wird.

|| 6 Zur wahrscheinlichen Gebrauchsfunktion des Textes als Tischlektüre vgl. MOHR, ROBERT: Die Tischlesung im Deutschen Orden. Eine institutionsspezifische Lehrform, in: KUNDERT, URSULA (Hrsg.): Lehre und Schule im Mittelalter. Mittelalter in Schule und Lehre, Berlin 2012 (Das Mittelalter 17/1), S. 76–84 (mit Zusammenfassung und Diskussion der Forschung).

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1 Kaiser Alexander: Personengestaltung und Existenzverlauf Die Personencharakteristik der Handlungsträger – Alexanders und Martinas als Gegenspieler sowie der Mitakteure auf heidnischer oder christlicher Seite – gestaltet Hugo von Langenstein in Verbindung mit der christlichen Sünden- und Tugendlehre auf der Basis des biblischen Menschenbildes von der leibseelischen Ganzheit, wonach das Herz zugleich zentrales Körperorgan und Wirkungsstätte aller Grundkräfte der menschlichen Seele ist. Vegetatives, sensitives und rationales Vermögen werden durch das Herz gesteuert. Als inneres Zentrum der Persönlichkeit macht das Herz den Menschen gut oder böse, es bestimmt über sein Denken, Wollen und Fühlen.7 Im narrativen Kontext der Märtyrerlegende geht es Hugo von Langenstein nicht um eine gelehrte Erörterung theologisch differenzierter Sachverhalte, die von Patristik und Scholastik in teils komplizierter Systematik überliefert werden, sondern um das anthropologische Grundmuster als religiöse Erklärungsfolie für menschliches Verhalten, wie es sich im Widerstreit der handelnden Figuren ausprägt. Diese Zusammenhänge vermittelt er vor allem metaphorisch mit der biblisch fundierten, im religiösen Schrifttum des Mittelalters facettenreich erweiterten Bildlichkeit vom Herzen.8

|| 7 Vgl. z. B. Mt 9,4; Röm 5,5; Röm 10,10; 2 Kor 1,22; 2 Kor 3,3. Einen Abriss zum biblischen Herzbegriff in der Anthropologie des Mittelalters bietet ANGENENDT, ARNOLD: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 2000, S. 236f. und 248–51; zu der für das Mittelalter grundlegenden augustinischen Vorstellung vom Herzen als der ›personalen Mitte‹ vgl. MAXSEIN, ANTON: Philosophia Cordis. Das Wesen der Personalität bei Augustinus, Salzburg [1966]; zur Position des Herzens in der scholastischen Seelenlehre vgl. GEWEHR, WOLF: Hartmanns Klage-Büchlein im Lichte der Frühscholastik, Göppingen 1975 (GAG 167), S. 36–66 (Kap. 2: Die psychologischen Anschauungen der Frühscholastik). Zu den christlichen Tugenden und den ihnen konfrontierten Todsünden mit ihren Filiationen und Emanationen vgl. etwa die das traditionelle Tugend- und Lasterschema für das Mittelalter gültig zusammenfassende Darstellung bei Ps.-Hugo von St. Viktor: Hugonis de S. Victore De fructibus carnis et spiritus, PL 176, 997–1006, sowie Hugonis de S. Victore De vitiis et virtutibus, PL 176, 525A–550C; zur Sünde vgl. den Überblick bei ANGENENDT, S. 614–25 und 830f.; die Grundzüge der mittelalterlichen superbia-Theorie vermittelt HEMPEL, WOLFGANG: Übermuot diu alte … Der Superbia-Gedanke und seine Rolle in der deutschen Literatur des Mittelalters, Bonn 1970, S. 15–37. – Wenn in der Folge beim Rekurs auf die mittelalterliche Sünden- und Tugendlehre, besonders im Zusammenhang der heidnischen, exemplarisch durch den Tyrannen Alexander verkörperten Sündhaftigkeit die dem lateinischen Mittelalter geläufigen Termini herangezogen werden, so geschieht dies zur Präzisierung oder Vereindeutigung der volkssprachigen Begrifflichkeit. Nicht intendiert ist die Ermittlung eines etwaigen faktischen Sünden-Systems bei Hugo von Langenstein. Dieses ganz andere Erkenntnisziel wäre unter Einbezug der moraltheologischen Exkurspassagen anzuvisieren. 8 Zu Hugos von Langenstein insgesamt intensivem Gebrauch von Metaphern mit breitem Funktionsspektrum vgl. die detaillierte Analyse der rhetorischen Elemente und Strukturen bei MEINDL-WEISS (Anm. 5), S. 59–84, die für das Werk eine »exzessive Bildhaftigkeit« (S. 60) konstatiert, die sich passagenweise den Rezipienten, besonders im Bereich religiöser Affektmetaphorik, als »wahrer Metaphernhagel« (S. 141) präsentiert. Dieser Befund bestätigt sich in den folgenden Textuntersuchungen.

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Die Christin und der Heide sind insofern strikt antipodisch disponiert, als Gott im reinen Herzen Martinas wohnt, während Alexanders unreines Herz vom Teufel als Wohnstatt in Besitz genommen wurde,9 ebenso wie die heidnischen Götzenstandbilder, in denen die mit ihren Befehlen das heidnische Volk lenkenden Teufel hausen. So erklärt sich die Einwohnung aller Tugenden im Herzen Martinas, wie entsprechend in Alexanders Herz die Tugenden von den Todsünden und ihren verderbenbringenden Auswirkungen gänzlich verdrängt wurden. Die teuflische Ursünde erfüllt sein Herz so umfassend, dass es von Hochmut angeschwollen ist (78,85: von hoferte swal). Von Martina aber wurde Ir herzin tür [...] wol verspart / Vor der zirblaten hohvart (8,111f.). In einer Rückschau auf Luzifer (218,53–82), den Urheber der ersten sünde (218,68), und seinen Sturz aus dem Himmel In daz grundelose abgründe (218,67) stellt der Erzähler den heidnischen Kaiser in die Nachfolge der zusammen mit dem Höllenfürsten verstoßenen Teufel: Den volgete och der keiser Und wolde ein eigen reiser Sin der vertribener diet Die got von allen froden schiet (218,71–74). Denen folgte auch der Kaiser nach und wollte ein dienstbarer Krieger des vertriebenen [Höllen-] Volkes sein, das Gott von allen [Himmels-]Freuden geschieden hatte.

Dieser essentielle Gegensatz zwischen der aus christlichem Glauben bezogenen Tugendfülle und der dem heidnischen Unglauben inhärenten Sündhaftigkeit verhindert jeglichen Konsens in der Kommunikation zwischen den Kontrahenten. Martina spricht Nach ir herzin lere (186,14), denn Crist hat ir herze [...] / Erliuhtet vnd gevestet / Mit genaden vberlestet (186,104–06), und Div süeze gotis minne / Gewurzet was da inne (141,27f.).10 Den Kaiser aber leitet sin tumbes herze (186,81 und öfter), das ihn unfähig macht, sich der Wahrheit bewusst zu werden. Sin vbil herze swachis, so veranschaulicht Hugo von Langenstein die das Herz Alexanders erfüllende antichristliche Gegnerschaft, Gein der ivncfrowen bran (58,18f.). Martina apostrophiert ihn als Keiser ane witze / In diner sünden hitze (113,17f.) und keiser hofertic (155,1) und bezeichnet sein unverständiges Herz als svnden wüetic (112,75).11 Hier manifestiert sich die Sünde der heidnischen ignorantia, des schuldhaften Unwissens, das sich dem Erkennen göttli|| 9 Gemäß Eph 3,17; Mt 15,19–20; Mk 7,20–23; Röm 1,21; Hebr 3,12. Zur Begrifflichkeit des ›reinen‹ gegenüber dem ›unreinen‹ Herzen vgl. den Überblick bei SCHUMACHER, MEINOLF: Sündenschmutz und Herzensreinheit. Studien zur Metaphorik der Sünde in lateinischer und deutscher Literatur des Mittelalters, München 1996 (Münstersche Mittelalter-Schriften 73), S. 188–96. 10 Gemäß Röm 5,5. Vgl. das ausführliche Lob der auf Gott und die Mitmenschen bezogenen heilbringenden Tugenden Martinas, die in ihrem von der gotes vorhte verschlossenen Herzen gegenwärtig sind (140,100–141,62). Alexanders Herz dagegen was geledigot / Gar von aller tugende (179,108f.). 11 Die traditionelle Bildlichkeit von Hitze und Feuer bestimmt auch bei Hugo von Langenstein die sprachliche Umsetzung des affektiven Wut-/Zorn-Komplexes.

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chen Wirkens willentlich verweigert, denn wie alle Seelenkräfte, so steht auch Alexanders Willenskraft unter teuflischem Einfluss, so dass seine Erkenntnisunfähigkeit im Nicht-wissen-Wollen begründet ist.12 Die ignorantia des törichten Herzens wirkt auf das intellektuelle Vermögen und die sinnliche, vor allem visuelle und auditive Wahrnehmung.13 So fehlt Alexander die Fähigkeit, Martinas religiösen Belehrungen inhaltlich zu folgen, und er vermag es nicht, sinnliche Eindrücke adäquat zu beurteilen und einzuordnen.14 Diese beiden für die gesamte Erzählung konstitutiven Aspekte, die Martinas Heiligwerdung durch Lehramt und Martyrium betreffen, werden – neben ihrer Jungfräulichkeit – als zentrale Darstellungsgegenstände bereits im ersten konfliktären Zusammentreffen zwischen dem Kaiser und der Christin ereignissteuernd exponiert. Als persönlichkeitsprägendes Movens des in der Legende erzählten letzten, ganz in Martinas Passio aufgehenden Lebensabschnitts ist es die Teufelshörigkeit des Tyrannen, die Hugo von Langenstein seinen Rezipienten mit didaktischem Nachdruck vor Augen führt, sowohl handlungsextern durch die Instanz des kommentierenden Erzählers als auch handlungsintern durch den die göttliche Wahrheit verkündenden Mund der Christin Martina. Als Dienstman vnd eigen / Dez tiefils von der helle (90,46f.) und tievils ritter (180,21) ist er gänzlich besezzin / Mit dez tievils rate (94,34f.) und mithin der hofart verfallen (90,98 und 90,102). Entsprechend sind seine Gefolgsleute und Schergen Des tiefils ingesinde (5,36) und tiefils knehte (6,27 und 6,63).15 Zur Verfolgung der Christen in seinem Reich, die er öffentlich mit tiefillichir stimme (4,106) verkündet, hat ihn der böse Rat des Teufels angestachelt: [...] im geriet der helle grubil Daz die von Galylea Den goten solten opfirn sa (4,50–52). Der Höllengräber [Teufel] gab ihm den Rat, dass die von Galiläa sogleich den Göttern opfern sollten.

Alle sich anschließenden, nun auf Martina konzentrierten antichristlichen Handlungen, insbesondere die exorbitanten Grausamkeiten der an ihr vollzogenen Martern,

|| 12 Vgl. z. B. 218,75f.: Vnd wolde niht gelobin han / Swaz gott wunders hat getan; vgl. auch 57,85f., 111,61–63, 111,80–82, 177,109–12 und 184,13–17. 13 Für das zentrale Phänomen des durch ignorantia verschuldeten Nicht- oder Falschverstehens verwendet Hugo von Langenstein verschiedene, teils semantisch differenzierende negative Verstandesbegriffe und Wendungen wie unsin/unsinnic, der sinne beroubit, tumbe sinne, tumpheit, tumbez herze, ane witze, torscher muot. Vgl. dazu die einschlägigen Zitate in den folgenden Ausführungen. 14 Dass die göttlichen Wunderzeichen immer auch als Mahnzeichen auf eine noch mögliche conversio verweisen, wird von Alexander und seinen im Unglauben verharrenden Untertanen nicht erkannt. Vgl. z. B. 186,90–94: Der vngetovfter helle bracke / Der zeichen niht erkande / Da mit in got mande / Daz er keme von schulden / Zvo sinen werden hulden. Vgl. auch 178,43–46; 224,60f. 15 Demgemäß verkünden die nach der zweiten Marter zum Glauben gelangten Folterknechte, dass ihnen die teuflische Herkunft der Abgötter nunmehr bewusst geworden ist und sie den Abgott Apollo aus ihren Herzen verjagt haben (82,50; 82,56–58).

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sind teuflisch initiiert; sie wurden dem Kaiser von seinem vatter [...], dem tievil von der helle, vererbt (94,22–25). Alexander was so gar besezzin / Mit dez tievils rate / Dem volget er zedrate (94,34–36). Seiner Gegnerin zeigt er mit tückischen Wolfsblicken die verzerrte Fratze und das Gebaren des Teufels (183,36: In wolves schaehim blicke; 186,100: tievillich gebaren), wenn er auf ihre Unbeugsamkeit reagiert: Er zvrnde vnde wuote / Gein der megde claren (186,98f.).16 Haz und nit (78,109 und 84,71), die zornauslösenden Sünden odium und invidia, sind von Anbeginn die Triebkräfte der Feindschaft des Teufels gegenüber den erlösungsfähigen Menschen.17 Eklatant offenbart sich das teuflische Wesen des Tyrannen in seiner Doppelgesichtigkeit. Während er in den rational nicht beherrschbaren Phasen reaktiven Zorns mit toblichir stimme (15,44), In tobesvhte brinnic (83,38), außer sich gerät, setzt er zwischen den Martern die verbalen Mittel teuflischer Verlockung ein, um die christliche Jungfrau, in deren körperlicher Schönheit sich ihre vollkommene Tugend abbildet, mit trügerischen Angeboten diesseitiger Glücksgüter in ihrem Glauben zu erschüttern. Dass auch sein valschis smeichen (153,44) eine Erscheinungsform des teuflischen Hasses ist, zieht sich als Darstellungskonstante durch die Redeszenen zwischen dem Tyrannen und der Märtyrerin.18 Am Beginn der Erzählung ist die Machtposition des heidnischen Kaisers als Alleinherrscher über das römische Großreich, dem mehrere Königreiche angehören, uneingeschränkt. Er regiert als der welte herre (6,33), dessen Befehlsgewalt auch die heidnischen Priester unterstehen. Seine scheinbar vollkommene irdische Herrschaft erweist indes ihre Instabilität, als Alexander dem sich ausbreitenden Christentum Einhalt gebieten will und den Christen unter Androhung eines gewaltsamen Todes befiehlt, zum Heidentum zurückzukehren und seinen Göttern zu opfern.19 || 16 Zum Einfluss des Teufels auf Person und Herrschaft Alexanders vgl. auch die von MOHR (Anm. 5), S. 177f., extrahierten Textstellen. 17 Das bekennt der Teufel selbst in einer Höllenszene, in der er die anstelle Martinas vom Feuer des Scheiterhaufens verbrannten Heiden (zehnte Marter) mit einer zynischen Rede über ihre Verdammnis und ihre endlosen Höllenqualen empfängt. Überdies legt er den Verdammten seine eigene Verworfenheit nach dem Engelssturz dar, aus der sein immerwährender Hass und Neid auf die Menschen, die die für ihn auf ewig verlorenen Himmelswonnen erringen können, resultiert (216,101–217,84). 18 Siehe dazu unten, Abschnitt 2. 19 Hugos von Langenstein Darstellungsweise der heidnischen Herrschaft unter Kaiser Alexander und des Martyriums der Christin Martina wird von MOHR (Anm. 5) auf der Basis der von Augustinus in seinem Werk De civitate Dei entworfenen Zweistaatenlehre in welt- und heilsgeschichtlicher Dimension interpretiert. Demnach übt Alexander als tyrannischer Gewalthaber die uneingeschränkte Macht über die polytheistische, teuflisch initiierte civitas terrena aus, der die monotheistische civitas Dei in Gestalt der christlichen Minderheit im römischen Reich gegenübersteht. Mit dem Beginn von Martinas Martyrium erwächst ihm durch die als Stellvertreterin der civitas Dei agierende Blutzeugin und die an ihr erwiesene Omnipräsenz des christlichen Gottes eine Gegenmacht, die seine irdische potestas relativiert und zuletzt in eine vollständige Ohnmacht wandelt (vgl. vor allem S. 162–236, Kap. II/2: Die Wandlung irdischer Machtverhältnisse durch die Präsenz des Überirdischen). Zur anfänglichen Machtvollkommenheit Alexanders vgl. S. 166–79; zu der am Handlungsgang nachgezeichneten Ereignis-

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Sein im heidnischen Götterglauben verankerter Hass auf die valschen kristen (7,35) resultiert aus der Überzeugung, dass ihnen die Durchsetzung ihres Glaubens nur mithilfe ominöser magischer Kräfte gelingen kann. Der die Verfolgung veranlassende Zaubereivorwurf bezichtigt sie, mit ir zovbirlisten / Die rehten gotte wellen tretten (7,36f.). Diese heidnische Unterstellung entlarvt ihren Widersinn gerade dadurch, dass seit Simon Magus, der biblischen Protofigur des Zauberers (Act 8,9–25), die schwarze Magie auf teuflisches Wirken zurückgeführt wird. Nachdem sich Alexanders Christenhass auf Martina, die ihm als Folteropfer ausgelieferte Repräsentantin und Leitfigur der Christen, konzentriert hat, inkriminiert er sie persönlich (90,67–90; 106,29–40; 149,101–150,4; 219,39–66 und öfter). Er beschimpft sie als hexse/Hegxse (90,77 und 106,40), die unter Anwendung von zovbir listen (90,70 und 106,30) und zovberlichen tucken/valschen tucke[n] (90,79 und 106,37) darauf abziele, die Heiden ihres Verstandes zu berauben, sie von ihrer rehten warheit (90,75) abzubringen und ihren Glauben auszurotten, um sie in werendez vngelucke (106,38) zu stürzen.20 Mit List und Tücke, den teuflischen Verführungsmethoden, übe sie ihr Hexenwerk nicht nur als Schadenszauber gegen das gesamte römische Volk und seine Götter aus, sondern auch zum eigenen Vorteil in Form des Überlebenszaubers, durch den sie die mörderischen Martyriumsqualen aller menschlichen Erfahrung zuwider überstehen kann. Die göttlich inspirierten, die cristenlichen e (5,109) verkündenden Worte der gotis predierin (5,107) und die wunderbare Erhaltung ihres jederzeit in Gott geborgenen irdischen Lebens sind für den heidnischen Tyrannen zovberlicher strit (219,58), der mithilfe von Zauberei geführte Kampf der Hexe gegen den römischen Herrscher und sein Volk.21

|| folge, die zum gänzlichen Machtverlust nach Martinas Enthauptung führt, vgl. S. 219–26. In Ausrichtung auf seine Kernthese sind bei MOHR die Bedingungen, Umstände und Konsequenzen des unweigerlichen Machtverlustes des Beherrschers und höchsten Vertreters der civitas terrena das thematische Zentrum seiner Untersuchung. Die Indikatoren des sündenbedingten Persönlichkeitsverlustes werden zwar punktuell als Folge- und Begleiterscheinungen, doch nicht als der prozesshafte, dem Machtverlust kausal konnektierte Vorgang erfasst. 20 Vgl. GOLD, JULIA: Von den vnholden oder hexen. Studien zu Text und Kontext eines Traktats des Ulrich Molitoris, Hildesheim 2016 (Spolia Berolinensia 35), S. 41–47. GOLD untersucht Terminus, Semantik und Funktion von hexse/Hegxse für lat. incantatrix in Hugos von Langenstein Martina anhand der Verse 90,65–85 und 106,29–40 und kann wahrscheinlich machen, dass es sich hier um »den wohl frühesten mittelhochdeutschen Beleg für ›Hexe‹« (S. 43) handelt. Mit dem bewussten Gebrauch dieses offenbar bereits verbreiteten Terminus »macht Hugo sich vor allem die Inversion der eigentlich üblichen Auslegung des Wortes ›Hexe‹ zunutze: Während die ›Hexe‹ üblicherweise Menschen vom ›rechten‹ Glauben abbringt, weil sie sich selbst und – was noch schlimmer ist – andere in den heidnischen Irrglauben zurückzieht, ist es bei Hugo die vorbildliche Christin, die Heilige, die mit diesem Terminus bezeichnet wird« (S. 45). Vermutlich soll mit Martinas Titulatur als Hexe die ihr vom heidnischen Kaiser angelastete Funktion der Anführerin aller die Zauberei praktizierenden Christen gekennzeichnet werden. 21 Dass es die vom Höllenherrscher dirigierten Götzen sind, die den irrgläubigen Heiden ihre Verstandes- und Erkenntniskraft geraubt haben (10,26: ir sin versteinet; 10,28: siv der witze rovbint), bringt

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Das für die Märtyrerinnenlegende wesentliche Motiv der der Christin vom Tyrannen angebotenen Eheschließung eröffnet bei Hugo von Langenstein die Gegnerschaft zwischen der typuskonform schönen, tugendhaften und hochadligen Jungfrau und dem Kaiser, der sie nach ihrer Abwendung vom Christentum als Gemahlin und Kaiserin an seiner Macht partizipieren lassen will. Martinas strikte Zurückweisung dieses ersten verbalen Verführungsversuchs22 mit predigthaften Ausführungen zur Macht Gottes und zur Ohnmacht der Heidengötter kann Alexander nicht begreifen. Der Erzähler erläutert: Dise rede vnd ander Die er hat alda vernomin Von der megde vollekomin Der kvnder rehte niht verstan (7,106–09). Diese Rede und andere, die er da aus dem Munde der vollkommenen Jungfrau gehört hatte, konnte er nicht in richtiger Weise verstehen.

Hier nimmt der offensiv ausgetragene Widerstreit seinen Ausgang, denn Alexanders aus dem Nicht-verstehen-Wollen resultierendes Nicht-verstehen-Können ist die kommunikative Basis aller künftigen Redewechsel. Der Herrscher reagiert gewaltsam und will die Christin zwingen, im Tempel des Apollo das Opfer zu bringen. Ein gottgesandtes Erdbeben lässt die Götzenstatue zerspringen und den Tempel einstürzen. Auch dieser konkrete Erweis göttlicher Allmacht bleibt für Alexander, der die Zeichen nicht zu deuten vermag, unverständlich: Noh konde sich der keisir niht Verstan von sinnen der geschiht Nv prüefen disiv zeichin Und rehten sin erreichin (13,96–99). Weder konnte der Kaiser dieses Ereignis gedanklich erfassen noch diese Zeichen erkennen und die richtige Bedeutung herausfinden.

Die Erklärung folgt: Er was gesihteclichen blint / Als die verworhten alle sint. (13,100f.). Es ist die Blindheit des Herzens (gemäß Eph 4,18; Röm 1,21; vgl. 2 Kor 4,3–6), die dem Sünder das spirituale Verständnis für die mit den Augen aufgenommenen Phänomene verwehrt. Demgegenüber hat Martina die Gewissheit, dass die Augen ihres Herzens von Gott ewig erleuchtet sind, was sie dem Heiden später selbst verkündet (151,40f.: Der [...] eweclich erluhtet / Div ovgen mines herzin).

|| Martina bereits vor der ersten Marter in ihr Gebet um göttlichen Beistand ein (9,17–10,80), in dessen Folge Gott die Apollostatue durch ein Erdbeben zerbrechen lässt (10,81–104). 22 Zu Alexanders Verführungsreden siehe unten, Abschnitt 2.

92 | Elke Ukena-Best Für das Gesamtgeschehen23 bedeutet dies, dass alle visuellen und auditiven Manifestationen göttlicher Transzendenz, die sich als Wunder durch die Handlung ziehen, von Alexander niemals nach ihrem rehten sin, sondern immer falsch, als zoubirlisten der feindlichen Christen, verstanden werden können. Nach Eintritt in die Konfrontation mit Martina sind Alexanders Aktionen und Reaktionen extrem bis zur Entgrenzung den Wirkkräften der sein Herz umfassend erfüllenden superbia/hohvart unterworfen. Die Intensivierung der Martern im Ereignisfortlauf, die die Leidensfähigkeit und den Duldungswillen der Märtyrerin umso verdienstvoller und ihren Widersacher immer monströser erscheinen lassen, ist bei Hugo von Langenstein mit der Anzahl von elf Martern in hohem Maße umgesetzt. Entsprechend dem legendarischen Herrschertypus fungiert Alexander als der geistige Urheber der ausgeklügelten, körperliche Schmerzen mit seelischer Entwürdigung brutal verbindenden Folterpraktiken, während ihre Durchführung den Folterknechten überlassen wird. Gestaltet sich Martinas erste Marter im Blutigschlagen von Rücken und Gesicht und dem Herauszerren der Augenbrauen mit eisernen Haken (54,73–56,43) noch vergleichsweise moderat, so lässt Alexander sie in der neunten Marter an den Händen aufhängen, ihr mit scharf geschliffenen Krallen die Haut abziehen und das Fleisch bis zur Sichtbarwerdung der Knochen herauszerren (184,83–89; 186,3–12). Schon allein die Bestialität der Martern, die der Erzähler den Höllenqualen gleichsetzt, erweist ihre teuflische Urheberschaft. Die demütigenden Niederlagen, die mit Gottes Hilfe ein krankes frowelin (162,41) dem Gewalthaber zufügt, werden von ihm immer gravierender und quälender wahrgenommen, denn die wunderbare Lebenserhaltung und Regeneration der ständig grausameren Torturen unterzogenen Christin scheint über die Länge des Martyriums hinweg endlos zu sein, zumal die gezielten Tötungsversuche der Zerfleischung durch einen wilden Löwen (achte Marter) und der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen (zehnte Marter) von göttlichen Machterweisen verhindert werden.24 Den im Geschehensgang kumulierenden Bekehrungen von Folterknechten, herrscherlichem Gefolge und größeren Volksansammlungen steht Alexander fassungslos gegenüber.25 Wenn Gott diesen Ungläubigen durch Martina die Bekehrungsgnade erweist und sie sich ihm mit Herzensreue überantworten, sieht der Tyrann sich von den Werken christlicher Zauberei bedroht. Stets betont der kommentierende Erzähler, dass ihr Abfall vom heidnischen Glauben einen gefährlichen Destabilisierungsfaktor

|| 23 Die aus dem Handlungsverlauf und der Textüberlieferung nicht immer klar ersichtliche Abgrenzung der einzelnen Marterepisoden wird in der Forschung teils unterschiedlich vorgenommen. Die vorliegende Untersuchung folgt weitgehend der von WYSS (Anm. 5), S. 287–98, vorgeschlagenen Einteilung. 24 Zu den verschiedenen Erscheinungsformen himmlischer Erweise von Hilfe und Stärkung während Martinas Martyrium als den entscheidenden Faktoren für die Schwächung von Alexanders Macht vgl. die ausführliche Zusammenstellung bei MOHR (Anm. 5), S. 179–92. 25 Vgl. z. B. 56,44–56,88 (erste Marter); 79,2–87,40 (zweite Marter); 111,60–1112,12 (vierte Marter); 181,81–182,16 (achte Marter); 186,25–76 (neunte Marter).

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für Alexanders Macht darstellt. So etwa kehren sich die acht konvertierten Folterknechte nach der zweiten Marter im Bewusstsein des ihnen von dem sündigen Gewalthaber aufgezwungenen Heidentums und im Wissen um den sie danach erwartenden Tod öffentlich von ihm ab: [...] Swie er gewaltic keiser si So wellen wir doch wesin fri Vnd von sinem gewalte Swie groz wie menicvalte Er si in disen landen Als wir e wol erkanden Den wellen wir vermiden Und dar vmbe liden Swaz vns nv geschehin mac An disem armen horsac Der doch ie vntugende pflac Beidv naht vnde tac (81,75–86). Wie mächtig der Kaiser auch sei, so wollen wir doch von seiner Gewalt frei sein. Wie stark und verbreitet sie [die Gewalt, E. U.-B.] in diesem Land auch ist – wie wir jetzt klar erkannt haben –, wollen wir uns ihr entziehen und dafür das erleiden, was immer uns nun geschehen mag von die26 sem hinfälligen Schmutzsack/Kotsack, der seit jeher Sünden beging.

Aus Angst vor Missionsaktivitäten der neuen Christen, die das ganze Volk ergreifen könnten, lässt der Kaiser sie umgehend enthaupten. Die Konversionen zu Lebzeiten Alexanders gipfeln in der kollektiven Glaubensannahme der Menschenmenge, die im römischen Amphitheater zusammengeströmt ist, um nach Martinas Verurteilung ad bestias ihre Zerfleischung durch den wilden Löwen zu erleben (achte Marter). Das Wunder ihrer Verschonung durch die zahm gewordene Bestie erweckt alle Zuschauer zum Glauben. Unisono bekennen sie sich zu Gott, sagen sich von den Heidengöttern los und fordern von Alexander Gnade für die Jungfrau (181,81–182,16). Der entsetzte Kaiser sieht darin wiederum eine – nun ins Ungeheuerliche gesteigerte – Aufwiegelung durch Martina und eine akute Bedrohung seiner Macht, gegen die er sich nicht wehren kann. Die schlimmste Niederlage für den Tyrannen ist die Vernichtung seiner drei Hauptgötter – Apollo am Anfang (10,81–104), Artemia (auch: Artemis) in der Mitte (160,79–92)

|| 26 Die Ausdrucksdrastik als adäquates Mittel der Wiedergabe von Sündigem und Teuflischem kennzeichnet Hugos von Langenstein Sprachgebrauch durchgehend und findet sich auch in Martinas Scheltreden gegen den heidnischen Tyrannen. Besonders fallen die Anreden auf, die den Herrscher mit Tieren gleichsetzen, die als verstandlos und/oder böse gelten und in religiösen Zusammenhängen dem Teufel zugeordnet werden, wie etwa tobic hunt (91,107), We dir torschin affen (92,5), Giftiger vipper (112,65), Du eiter slange brüetic / Und dv meintetic vaz (112,76f.; vgl. 93,63), Blinder esil tovbir (112,85) oder Vnsinnic hunt (113,53). Zur generellen Charakterisierung Alexanders durch Tiervergleiche mit negativen Konnotationen vgl. MEINDL-WEISS (Anm. 5), S. 86.

94 | Elke Ukena-Best und Zeus (auch: Dyan)27 am Ende (224,43–59) der Handlung –, denn sie waren die Garanten seiner bis dahin festgefügten und ungefährdeten Herrschaft. Aus ihren Standbildern heraus erhielt er die teuflischen Direktiven, die die Regentschaft des irdischen Gewalthabers scheinbar richtig lenkten. Die Tatsache ihrer Zerstörbarkeit aber lässt ihn die fortschreitende Destruktion seiner Macht erfahren. Der Tiefpunkt des Reputationsverlustes ist erreicht, wenn ihm das Volk nach der Zertrümmerung der Götzenstatue im Zeustempel anstelle der dem Herrscher gebührenden Huldigungen nur noch Spott und Hohn (224,97: Grozen spot vnde schinpf) entgegenbringt und er die Erniedrigung durch dez volkis vngelinpf (224,98) hilflos erdulden muss.28

2 Alexanders verbale Auseinandersetzungen mit Martina Das der Märtyrerlegende als variable Konstante inhärente, der Marter vorausgehende Erzählelement der verbalen Auseinandersetzung zwischen dem das Götzenopfer fordernden Heidenherrscher und dem Märtyrer, der das Ansinnen mit Argumenten christlicher Glaubenslehre verweigert, setzt Hugo von Langenstein entsprechend der Vervielfältigung der Martern in variierender Wiederholung ein. Auch in diesen dialogischen Sequenzen wird durch Anlage, Inhalt, Rhetorik und Wirkung seiner Reden Alexanders Persönlichkeitsverfall evident. Mit wechselnden, doch stets misslingenden Praktiken verbaler Einflussnahme versucht er, Martinas Unbeugsamkeit zu korrumpieren. Neben hasserfüllten Beschimpfungen, Drohungen und immer neuen Folterankündigungen, in denen sich seine maßlose Wut auf die Unbezwingbare entlädt, stehen taktisch eingesetzte lügnerische Schmeichelreden, die Martina zum Götzenopfer verleiten sollen. Hier tritt der Tyrann der Christin in der Maske des höfisch-kultivierten Herrn gegenüber, der sein Anliegen im Duktus der poetischen Sprache der höfischen Dichtung vorbringt.29 In situations-

|| 27 Vermutlich sind in Anlehnung an die in den Acta Sanctorum überlieferte Martina-Version die Götternamen ›Zeus‹ und ›Dyan‹ für die heidnische Hauptgottheit identisch. Vgl. MOHR (Anm. 5), S. 171–73 (unter Einbezug der vorgängigen Forschung). 28 Siehe unten, Abschnitt 3. 29 Ob der Ordensritter Hugo von Langenstein mit dem Einsatz des höfischen Sprechens als Ausdrucksmedium teuflisch inspirierter Falschzüngigkeit möglicherweise implizit Kritik an der – von ihm so verstandenen – Diesseitsbezogenheit ›weltlicher‹ Dichtung, besonders des höfischen Romans und des Minnesangs, insinuieren wollte, wäre im Kontext des Gesamtwerks noch genauer zu untersuchen. Immerhin setzt er im Epilog sein in der geistlichen Liebe zur heiligen Martina (In sant Martinvn minne) verfasstes Werk polemisierend von der höfischen Dichtung ab, deren Gegenstände – ritterschaft, fleischliche minne, der welte aventiure – die Menschen vom rechten Weg zu Gott abbringen (291,91–99).

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bezogen unterschiedlicher Kombination und Darstellungsbreite, aber stets auf das Götzenopfer zentriert, bestehen diese Reden aus konstanten Inhaltselementen: Lob von Tugenden und Vollkommenheit der schönen Jungfrau, Aufforderung zum Götzenopfer, Lob der heidnischen Götter, Werbung mit Heiratsantrag, Angebot diesseitiger Glücksgüter. Hinzu kommen im Vollzug des Martyriums die Heuchelei von Erbarmen, das Versprechen der Folterbeendigung und selbstbezogene Äußerungen zur akuten Verfasstheit des zunehmend von Daseinsangst gepeinigten Kaisers. Die konfliktauslösende, an die adlige frouwe gerichtete ›Werberede‹ des machtbewussten Despoten (7,49–71), der in seiner Hybris von der Freiwilligkeit ihres Götzenopfers überzeugt ist, beginnt als förmliches Lob ihrer von selde überhöhten, Jugend und Klugheit verbindenden höfischen Tugendhaftigkeit, lässt die Aufforderung zum opfir fur die gotte (7,57), das ihr die Gnade des Kaisers erwerben wird, folgen und gipfelt im Angebot der sie zur mächtigen keiserin (7,68) erhebenden Heirat.30 Am Ende steht eine Aufrichtigkeitsbeteuerung in Form einer höfischen Minnefloskel, die auf die Vorstellung von der Entstehung der Minne im Herzen rekurriert: Min herze hat dich vz erlesin / Für alle die ich ie gesach (7,70f.). Dass vor Martinas gottgegebener hohir wisheit (8,94) jegliches Mittel teuflischer Überredung versagen muss, erfährt Alexander nach jeder weiteren Schmeichelattacke aufs Neue. Nach der zweiten Marter konfrontiert er in einer ›Bekehrungsrede‹ (90,105–91,82) Martinas christliches Bekenntnis mit seiner heidnischen Glaubensüberzeugung, deren Annahme er von ihr erzwingen will. Wenn er ein aspektreiches Bild von Allmacht und Präsenz seiner Götter in der Welt zeichnet (90,109–91,47; 91, 69–75), okkupiert er die Werke und das Wirken des christlichen Schöpfergottes: Die Götter gebieten über alle Kreaturen, sie lenken die Ordnung der Natur und des Kosmos, sind Urheber des Firmaments, bestimmen den Lauf von Mond und Sonne. Sie geben der Sonne die Kraft des Lichts und der Wärme, die in der Maienzeit mit dem Aufblühen der Vegetation den Menschen Hohgemuote verleiht,31 und sie sind die Spender von helfe und genade. Alexanders Darlegungen zur meisterschaft seiner Götter geraten ihm so zugleich zu einer Demonstration seiner eigenen, scheinbar noch ungebrochenen Überlegenheit und Stärke. In Martinas entschiedener Abwehr sieht er durch tumpheit (91,68; 91,82) bewirkten Starrsinn,32 so dass er ihrer theologisch fundierten Antwort, übermannt von grozim zorne (93,94), sogleich die dritte Marter folgen lässt.33

|| 30 Bereits die tiefils knehte Alexanders, durch die er Martina vorladen lässt, richten im Sinne ihres Herrn seine Botschaft wie höfische Gesandte aus (6,31–54). 31 Das den Frühling preisende Naturlob zieht Motive und Wendungen der Frühlingscharakteristik heran, wie sie besonders der Minnesang verwendet (91,25–41). Siehe dazu oben, Anm. 29. 32 In Alexanders wiederholt erhobenem tumpheit-Vorwurf gegen Martina entlarvt sich seine eigene ignorantia-bedingte Torheit. Vgl. z. B. 182,29f.; 219,44; 223,46f. 33 Auf Martinas wortmächtige, theologisch weit ausholende pastorale Reden und ihre mit religiösem Wissensgut angereicherten Gebete, die im Gebrauchskontext des Deutschen Ordens den Zuhörern ein breites Spektrum christlicher Glaubensmaximen zur Kenntnis bringen, kann hier nicht explizit ein-

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Anders ist die Situation, als die Unversehrtheit der Jungfrau nach Überstehen der fünften Marter den Tyrannen infolge des eklatanten Versagens seiner herrscherlichen Machtdemonstration ze spotte (148,24) bringt.34 Seine anfangs selbstgewisse Redegewandtheit ist durch die fortschreitende Verunsicherung bereits beeinträchtigt. Der neuerliche Bekehrungsversuch (149,87–150,9) beinhaltet nurmehr ein mit der obligaten Opferforderung verbundenes Götterlob, dem er Martinas vngelobin (149,102) entgegenhält, der auf Zauberei gegründet sei und einem mit Lüge und Betrug agierenden falschen Gott anhänge.35 Nachdem die Christin ihm seinen Untergang mit Höllenfahrt und Verdammnis vorausgesagt hat (151,111–152,16), wechselt der Heide, von dem es soeben noch heißt, dass er Mit vngefugem zorne / In sinem herzen vberladen (153,26f.) ist, zur teuflischen Strategie des peccatum linguae in Form von Lüge, Falschheit, Täuschung und Heuchelei (153,47–106). Mit valschem muote und Mit gelichzenden worten (153,29,31) redet er die Feindin als Edilv maget minnecliche (153,52) und selic frovwe (153,83) an und appelliert an ihre Weisheit, sich mit dem Opfer vor Artemia das von der hochgelobten Göttin gespendete irdische Heil zu erwerben. Sein valschis smeichen (153,44), sein schallen und gelichzen (153,112 und 154,1) schlagen nach Martinas Abweisung sofort wieder in wutgetriebene Brutalität um, so dass die Täuschungsabsicht und die Wirkungslosigkeit seines tückischen Überredungsangriffs coram publico dekuvriert sind. Wenn Martina als Reaktion auf die Drohung, sie von wilden Tieren zerreißen zu lassen, aus einer Götzenstatue den ihr innewohnenden Teufel herauszwingt, muss sich Alexanders erneutes Unterliegen umso krasser erweisen (155,5–156,52).

|| gegangen werden. Sie übersteigen im Dialog die Redeanteile Alexanders um ein Vielfaches, und das Verständnis ihrer Inhalte bleibt auf der Erzählebene dem teufelsverfallenen Adressaten verschlossen. Im Hinblick auf diese von Hugo von Langenstein nachdrücklich aufgezeigte konträre Disposition der Sprechenden ist ein sachlich-faktischer Austausch von Argumenten zwischen der Christin und dem Heiden nicht möglich. Die verbalen Auseinandersetzungen wie WYSS (Anm. 5) als »Disputation« (S. 293), MEINDL-WEISS (Anm. 5) als »Redewettstreit« (S. 71), rhetorischen »Wettkampf« (S. 135) und rhetorisches »Duell« (S. 136), und MOHR (Anm. 5) als »Disput« (S. 120) zu definieren, ist demnach nicht angemessen. Aufgrund der Missrelation von teuflisch versus göttlich infundiertem Reden ist die Kommunikationssituation unausgewogen. Alexander stellt zur universalen Macht der heidnischen Götter nur Behauptungen auf; Martina hingegen widerlegt seine Behauptungen mithilfe differenzierter theologischer Begründungen, denen Alexander wiederum aufgrund seiner mangelnden Erkenntnisfähigkeit nicht folgen kann. Dessen ungeachtet sind die detaillierten Untersuchungen zur Rhetorik der Figurenrede von MEINDL-WEISS (vor allem S. 134–51) höchst aufschlussreich. So kann sie etwa anhand der rhetorischen Strukturen zeigen, dass Hugo von Langenstein die Reden Alexanders mit weit weniger rhetorischem Aufwand ausstattet als diejenigen Martinas, um das »von göttlicher Meisterschaft« (S. 144) begnadete Reden der Christin vom heidnischen Reden des sündigen Kaisers abzusetzen und die »moralische Siegerposition« der Heiligen »auch formal zu unterstreichen« (beide Zitate S. 145). 34 Das faktische Resümee, das der Erzähler zu der Alexander hier widerfahrenen Schande und Machtschwächung zieht, überführt er direkt in die proleptische Schilderung der die unbekehrten Heiden am Lebensende erwartenden Höllenschrecken (148,33–86). 35 Zum Zaubereivorwurf siehe oben, Abschnitt 1.

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Noch prekärer wird seine Lage, als die Christin den Kaiser verspottet und sich voller Hohn auf das von Alexander in seiner Verblendung mit Siegesfreude erwartete Opfer vor Artemia einlässt (sechste Marter), es dann aber im Tempel als Teufelsopfer bloßstellt und Gott um die Vernichtung des Götzen bittet (156,53–161,14). Von der Zerstörung des heidnischen Heiligtums zutiefst getroffen, hebt der Herrscher zu einer langen Klage über sein persönliches Unglück an.36 Einen Gesprächskontakt zu Martina nimmt er nicht auf, sondern lässt die verbale Auseinandersetzung den Richter Justinus führen (163,47–164,2 und 164,51–92). Dieser, ein Teufelsknecht wie der Kaiser, handelt analog. Er geht mit Schelten, Fluchen und Drohen gegen sie vor, liefert sie nach einer Hohnrede Martinas auf ihn und den Herrscher der Streckbett-Folter aus, lässt ihr die Brüste von Metzgerhaken zerfleischen und wirft sie in den Kerker (siebente Marter). Endgültig soll ihr Leben von einem ausgehungerten Löwen beendet werden (achte Marter). Zuvor unternimmt Alexander den nun ins Extrem getriebenen Versuch, der verhassten Jungfrau mit gelichsunge (176,27) doch noch zu obsiegen. Er nähert sich ihr in der Rolle des mitfühlenden, ganz auf die Beendigung ihres Leidens bedachten Helfers. Mit dro er ir smeichte (176,31) in Form einer erneuten höfisch formulierten ›Werberede‹ (175,55–176,26). Der Verursacher von Martinas grausamen Qualen heuchelt Mitleid mit ihrem Unglück und schwört ihr bei seinen Göttern seine vorgebliche Liebe: Bi minen götten swer ich dir Daz ich mit ganzer liebi gir Dich von herzin minne (175,63–65). Bei meinen Göttern schwöre ich Dir, dass ich Dich mit ganzer Liebeskraft von Herzen minne.

Nochmals trägt er ihr den Status der keiserinne (175,89) an und dringt in sie, niht wan ein wort zu sprechen, auf dass es – zur Wiedergewinnung seines Ansehens – hie, in der Öffentlichkeit (176,5f.), vernommen werde. Den Wortlaut des Bekenntnisses gibt er ihr vor: Liebv frowe sprich alsus Daz der hohe werde zeus Ein gewaltic got si Vnd im craft wone bi (176,7–10). Liebe Herrin, sprich folgendermaßen: Dass der würdige, gewaltige Zeus ein mächtiger Gott voller Stärke sei.

Dass für ihn nichts anderes mehr wichtig ist als die eigene, fast zerstörte Existenz doch noch zu retten, bezeugt die flehende, scheinbar sich selbst erniedrigende Schlussbitte um Erbarmen:

|| 36 Zu Alexanders Unglücksklage siehe unten, Abschnitt 3.

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Dv la dich doch erbarmen Frowe mich vil armen Der dir gerne gunde Swaz er gutes kvnde Unde tuo dez ich dich bitte Dur dine tugentrichen sitte (176,21–26). Herrin, erbarme dich doch über mich Armseligen, der dir gerne all das gönnt, was immer er dir an Gutem tun kann, und lass um deiner Tugendhaftigkeit willen das geschehen, worum ich dich bitte.

Wenn der superbia-Sünder für sich selbst die in christlicher humilitas wurzelnde Tugend der erbermde (misericordia) reklamiert und diese im Gegenzug von seinem Folteropfer, als dessen Leidtragender er sich darstellt, erbittet, demaskiert er sich als Erzlügner, dem die Lüge wesensimmanent ist wie dem Teufel selbst (gemäß Joh 8,44). Die Jungfrau legt die Arglist seiner suozen worte (176,87) als gescheiterten Verführungsversuch offen, und Alexander, wieder in Zornesraserei verfallend, lässt den Löwen auf sie hetzen (achte Marter), der statt ihrer jedoch den kaiserlichen Berater Limenius zerfleischt (181,37–45). In Relation zu Martinas immer machtvolleren Standhaftigkeitserweisen und dem an ihr offenbarten göttlichen Heilshandeln reduzieren sich die noch folgenden, Formen und Motive der Schmeichelrede repetierenden Äußerungen des Herrschers im Wesentlichen auf den dringlichen, nun mehr bittend als fordernd vorgetragenen Appell zum Opfer vor Zeus/Dyan, dem letzten unzerstörten Gott seiner Göttertrias. Dass die darin enthaltenen Todesdrohungen die Märtyrerin, deren Weltverachtung das zeitliche Dasein für den Glauben überwinden will, nicht schrecken können, wird dem im Diesseits verhafteten Heiden nicht bewusst. Ihren unbedingten Lebenswillen fraglos voraussetzend, deklariert er das Löwenwunder als Gnadenakt des Gottes Dyan, dem sie sich unterwerfen solle, um den Tod zu vermeiden (180,25–36). Auch dieser und einer weiteren Bekehrungsaufforderung im gleichen Duktus (182,29–40) widersetzt sich Martina mit der Berufung auf ihren göttlichen Auftrag, die falschen Götter zu enttarnen und zur Hölle zu schicken. Vor der neunten Marter zeigt sich die Jungfrau nach ihrer erneuten Einkerkerung als Braut Christi in überirdischer Aura strahlend wie die Sonne (184,3f.: in lihter wunne / Livhtende als diu svnne), denn Crist ir gemahel truter Hatte si so gar geschonit Uber menschlich nature gekronit (184,10–12). Christus, ihr geliebter Bräutigam, hatte sie so schön gemacht und sie über die menschliche Natur hinaus gekrönt.

Der Tyrann, in dem der teuflische Hass lodert (184,20–22: Siner svnden durriv zvnder / Was von dez tievils fiure / Enbrant vil vngehiure), verschließt sich willentlich der Er-

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kenntnis göttlicher Gegenwart im Lichtwunder (184,13–19) und wendet sich in hazze (184,23) an die Jungfrau, der er abermals schmeichelnd mit höfischer Anrede (184,24 und 30: Liebiv frovwe Martina) die Anbetung Dyans und die Werte weltlicher Vergänglichkeit (Heil, Würde, Ehre, Lob) nahelegt. Ihr verbaler Widerstand veranlasst Alexander, sie der längsten und schrecklichsten aller Torturen auszusetzen (neunte Marter), in deren Verlauf er nochmals Erbarmen simuliert und einen defensiv-bittenden Bekehrungsaufruf an sie richtet (185,81f.: Martina frowe bekere dich / Din marter div erbarment mich), auf den die Gemarterte mit einem innigen Bekenntnis zu Gott reagiert. Die für ihn katastrophalen Umstände dieser in göttliche Wunderzeichen mündenden Foltersequenz machen den Kaiser soweit sprachunfähig, dass er zu gesetzter Rede nicht mehr in der Lage ist und sich in explosiver Wut nur noch tievillich gebärdet (186,98–103). So ergibt sich während der zehnten Marter (212,37–218,52), die der unbezwungenen Christin nunmehr den Tod auf dem Scheiterhaufen bringen soll, kein Wortwechsel mehr. Der von Martina verhöhnte und erniedrigte Kaiser musste gewahr werden, dass alle persuasiven Strategien und die grausamsten Praktiken körperlicher Torturen versagt haben. Sein jetzt fast gänzlich eingebüßtes Sprachvermögen wird mit dem übermächtigen Zorn begründet, der in ihm glüht wie der Feuerherd eines Schmiedes und seine Stimme, einst Instrument herrscherlicher Befehlsgewalt, zu heiserem Krächzen degeneriert hat (212,55–60). Dennoch kommt es im Zusammenhang der elften Marter zum finalen feindlichen Dialog. Alexander, der den göttlichen Schutz, durch den Martinas Leben auch im Feuer bewahrt blieb, als Gipfel der Zauberei deutet, glaubt die magischen Kräfte der ›Hexe‹ durch Ausreißen ihrer Haare bannen zu können. Angesichts ihres kahlen, blutüberströmten Kopfes verleiht ihm sein vermeintlich doch errungener Sieg über die Gegnerin Stimmkraft und Redefähigkeit für eine nochmals offensive Bekehrungsattacke. Höhnisch frohlockend überhäuft er Martina mit einer Serie durch Anaphern intensivierter Apostrophen wie Din gewalt muoz wesen arn (219,40), Dir ist din zober nv benomen (219,45), Die valschen liste sint gelegen / So dv lange hast gepflegen (219,47f.) oder Din zober hat nv ende (219,49). Von dieser Position trügerischer Stärke aus bietet er ihr, wieder das christliche Gottesbild pervertierend, die Teilhabe an der unendlichen Güte und Macht des Gottes Dyan als ultimative Rettungsmöglichkeit an. Martina aber, aufrecht und ungebrochen, hält ihrem Peiniger seine abscheuliche Tat unter Berufung auf den Apostel Paulus (gemäß 1 Kor 14f.) als schändlichen Eingriff in die Schöpfung Gottes vor, der das Haar als gezierde der frowen (220,2) erschaffen hat, und kündigt ihm sein nun unmittelbar bevorstehendes Lebensende als von Gott Verworfenem an. Wie den physischen Martern, so konnte die Christin mit göttlichem Beistand auch den Versuchungen verbaler Verführung standhalten und das teuflische Falschreden des Tyrannen außer Kraft setzen.

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3 Sin herze was verwarren (223,64): Zur Symptomatik der psychischen und physischen Depravation Alexanders Einige der für die depravativen Züge der Herrscherpersönlichkeit besonders relevanten Handlungspassagen sind noch etwas genauer in den Blick zu nehmen.37 Im Geschehensgang erfüllt den Kaiser die nicht aufzuhaltende Serie von Misserfolgen, die ihm seit dem Zusammentreffen mit Martina nach eigenem Unverständnis grundlos widerfahren, immer bedrängender mit Verunsicherung und Furcht. Von der gemarterten und eingekerkerten Jungfrau, die ihm wiederholt den alsbaldigen Untergang voraussagt38 und jede noch so krude Folter überwindet, sieht er sich existentiell bedroht. Neben die entgrenzten, vom Hass angestachelten Zornausbrüche treten Phasen von tiefem Leidempfinden, die sich als Indikatoren der eskalierenden Zerstörung seiner sündigen Persönlichkeit erweisen. Als während der Opferszene im Artemiatempel (sechste Marter) nach Martinas Bittgebet eine Feuersbrunst mit Blitz und Donner ausbricht, zerfällt die Götzenstatue in Pulver und Staub, während die Priester und viele Heiden verbrennen (158,85–160,78). Der Herrscher überlebt, doch geht sein kaiserlicher Mantel in Flammen auf. Diese sichtbare Vernichtung des Requisits seiner Herrschermacht, die ihm als direkter Angriff auf seine Person erscheint, versetzt ihn in panische Angst um sein kreatürliches Leben. Der aggressive Zorn schlägt um in truren, den Zustand der Gemütsverfinsterung, der die Todsünde tristitia und ihre Vergegenwärtigung durch timor (Furcht, Angst) offenbar werden lässt. Zwar wurde diese Symptomatik zuvor schon bei Alexander konstatiert,39 doch noch nicht in der nun ausbrechenden Exzessivität und Totalität. Beredtes Zeugnis seiner desolaten Psyche ist die große Unglücksklage, die als Monolog (161,81–162,70) das ganze Ausmaß seiner Leiderfahrung unmittelbar zum Ausdruck bringt. Die Selbstoffenbarung des Tyrannen gibt Hugo von Langenstein in Form einer langen Reihe hochaffektiver Metaphern wieder. So etwa lamentiert er über den Entzug von Macht und Ansehen, den Garanten eines weltlichen Scheinglücks, durch den

|| 37 Eine umfassende, detailliert analysierende Nachzeichnung des Depravationsvorgangs ist aufgrund der immensen Stofffülle hier nicht möglich. 38 So etwa in der fünften Marter: Verenden sol din riche / uil schiere lasterliche (152,15f.); vgl. 220,51–55; 220,65–80; 225,31–34. 39 Bereits vor der ersten Marter hatte der von Martina aus dem vernichteten Apollostandbild vertriebene Teufel dem angstvoll geflohenen Kaiser prophezeit, dass mit dem nahenden Ende seiner Herrschaft die Lebensfreude für immer von truren vernichtet werde (11,24f.; 13,20–28). Während der zweiten Marter, nachdem Martina von der für alle Anwesenden vernehmbaren Gottesstimme Trost und Stärkung erfahren hat (77,21–78,28), wird von Alexander gesagt, dass nach dem Eindringen von Leid in die ›Festung seines Herzens‹ die Freude durch trurin verdrängt wurde (78,83–108).

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ihm seine ganz an das Diesseits und seine vergänglichen Güter gebundene Daseinsfreude geraubt wurde: Mich het vngelucke In vil mengem stucke Under sich gedrucket Min frovde hat sich versmuckit Ich bin iamers ingesinde Mich het zvo einem kinde Der vntrost genomen Den het min herze vollekomen Vnd het zvo mir gehuset (162,27–35). Mich hat das Unglück in jeder Weise unter sich gedrückt. Meine Freude hat sich versteckt. Ich bin Hausgenosse des Jammers. Mich hat die Trostlosigkeit, die mein Herz gänzlich bei sich beheimatet hat, als Kind angenommen.

Nach der Aufzählung von Martinas vermeintlich an ihm begangener Verbrechen – Schändung der Götter Apollo und Artemia, Kränkung seiner Ehre und seiner Herrschergewalt, Untergrabung des kaiserlichen Ruhmes und der kaiserlichen Macht – übergibt der verstörte Tyrann die Märtyrerin dem Richter Justinus mit dem Befehl: Riche mines herzin leit (162,74). Damit zielt dieser Folterauftrag nicht mehr auf die anfangs dominante Intention einer gewaltsamen Repaganisierung der Christen, sondern auf Rache an der für sein persönliches Leid verantwortlich gemachten christlichen Jungfrau. Während der neunten Marter wirkt Gott ein Hilfs- und Bekehrungswunder, indem er den Folterknechten das Blut in den Adern erstarren und die Kraft aus den die Märtyrerin malträtierenden Gliedmaßen entweichen lässt, ihnen zugleich aber den überirdischen Anblick der Engel an Martinas Seite gewährt. Die göttlich erleuchteten Folterer flehen den Kaiser an, ihnen das weitere Peinigen der Jungfrau zu erlassen (186,25–76). In dieser für ihn horriblen Situation des Versagens seiner Autorität erfährt Alexander sein Seelenleid, das sich in unerträglichen körperlichen Schmerzen niederschlägt, auch physisch: Uil truric vnde leidic Wart sin tumbes herze So vngefuger smerze In mit creften hinder greif Daz sin witze gar zersleif (186,80–84). Sein törichtes Herz war voller Trauer und Leid. Gewaltsam ergriff ihn ein so unmäßiger Schmerz, dass sein Verstand vollends zerstört wurde.

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Im organischen, vom tumben herzen ausgehenden Leiden, das sein Gesamtbefinden krankhaft verändert, äußert sich der seelische Verfall.40 Die einzige ihm in der qualvollen Gegenwart verbliebene Freude ist die satanische Freude des Ergötzens an der körperlichen Fragmentierung der Märtyrerin: […] der keiser Der grimme helle reiser Dez herze sich do frowete Do man so nitlich strowete Der megde fleisch vnde bluot (185,1–5) Der Kaiser, der grimmige Höllenkrieger, dessen Herz freute sich, als man der Jungfrau Fleisch und Blut so feindselig herausriss.

Doch selbst die perverse Freude des sündigen Herzens wird ihm durch das göttliche Heilungsmirakel genommen. Mit der Begründung, sich endgültig von dem durch Martina verursachten Leid befreien zu wollen, lässt Alexander die Jungfrau auf den Scheiterhaufen bringen (zehnte Marter). Gottes Hilfe erhält sie am Leben, so dass sie aus dem Feuer heraus eine den Kaiser in Angst versetzende vanitas-Predigt halten kann. Ein himmlisch gesandter Regensturm bläst das Feuer auf die umstehenden Heiden und verbrennt sie. Das nochmalige Scheitern der Tötungsabsicht macht Alexander seine Unterlegenheit gegenüber dem unzerstörbaren Leben der Märtyrerin41 vollends bewusst, so dass ihn der lähmende Zustand des trurens umfassend beherrscht (218,21–32).42 Mit der elften Marter ergreift Alexander seine letzte Rettungsmöglichkeit: Er will die Zauberkraft der Feindin des Kaisers und des römischen Reiches brechen. Das Ausreißen der als Träger der magischen Potenz geltenden Kopfhaare aber bleibt wirkungslos. Martina überwältigt den Tyrannen mit einer wortgewaltigen Rede, die ihm seine endgültig zerrüttete Existenz als dem von den Menschen Gehassten und von

|| 40 Zur bildhaften Wiedergabe von Alexanders Leid durch physisch empfundene Seelenschmerzen, die »den Kaiser als den wahren Gemarterten erscheinen« lassen, vgl. MEINDL-WEISS (Anm. 5), S. 75. 41 Zum verbreiteten Motiv vom unzerstörbaren Leben des Märtyrers, das nicht durch die Martern, sondern die zuletzt vom Märtyrer erwartete und von Gott gewollte Enthauptung endet, vgl. ZWIERZINA, KONRAD: Die Legenden der Märtyrer vom unzerstörbaren Leben, in: Innsbrucker Festgruß von der Philosophischen Fakultät dargebracht der 50. Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner in Graz, Innsbruck 1909, S. 130–58. 42 In den lateinischen Martina-Legenden findet sich allein im Zusammenhang der ›Scheiterhaufen‹Marter ein differenzierender Hinweis auf Alexanders Psyche. Über den ansonsten stereotyp als Imperator iratus auftretenden Tyrannen wird, nachdem ihm seine Niederlage bewusst geworden ist, berichtet: Imperator autem ualde tristis erat, quia uincebatur a beata (Mombritius [Anm. 4], S. 254f.; vgl. Acta Sanctorum [Anm. 4], VII, 46). Möglicherweise hat Hugo von Langenstein von dieser – dann auch in seiner Vorlage enthaltenen – Textstelle die für sein ›Psychogramm‹ des Kaisers substantielle tristitia/truren-Komponente hergeleitet.

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Gott Verfluchten vor Augen führt.43 Im Herzen Alexanders, so realisiert sich jetzt die seelische Konfusion, treffen Trauer und Leid, Zorn und Wut, die gegenläufigen Affekte, aufeinander, so dass Tat- und Willenskraft nicht mehr funktionieren können (220,81–83). Der Kaiser weiß nicht mehr, was er solde / Tvon alder wolde (220,91f.). Er ist Rehter sinne berovbit Vnde volgete also hin Dem tievil vffen ungewin (220,96–98). des richtigen Urteilsvermögens beraubt und folgte geradewegs dem Teufel ins Verderben.

Sin herze was verwarren (223,64), so fasst der Erzähler die pathologische Situation der heillos gestörten Ordnung der im Herzen des Sünders wirkenden Seelenkräfte zusammen. Wenn er Martina nun im Tempel des Zeus, der einzigen noch intakten heidnischen Kultstätte, einschließen lässt, übergibt er ihr Schicksal dem Heidengott, an dessen Allgewalt er unbeirrt glaubt.44 Mit der Rückkehr in den Tempel jedoch, wo auf teuflischen Rat ein großes Opferritual zu Ehren der Abgötter stattfinden soll (223,76–84), ist Alexanders Kampf gegen die Christin definitiv verloren. Ihm und seinem Gefolge bietet sich beim Betreten des heidnischen Heiligtums als Zeichen des Triumphes der Märtyrerin ein aus Betrachterperspektive geschildertes glorioses, alle Sinne mit visuellen, olfaktorischen und auditiven Eindrücken ergreifendes Tableau christlicher Heiligkeit (223,93–108 und 224,33–48). Martina thront auf einem von Engeln umstandenen Sitz, eingehüllt in splendor und odor sanctitatis, den Glanz und den süßen Duft der Heiligkeit. Den Raum erfüllen himmlische Gesänge. Die im Hintergrund verstreuten Bruchstücke der Zeusstatue sind die materiellen Zeugen des endgültigen Zerbrechens der heidnischen Macht. Alexanders Erschütterung angesichts seines zerschmetterten Glaubens- und Herrschaftsfundaments und der durch Martinas Thron symbolisierten Herrschaftsübernahme45 richtet ihn vollends zugrunde. Den Ruin seiner Mit zorne vnd mit leide (226,8) besessenen Psyche beschreibt Hugo von Langenstein mit wiederum vielfarbiger Metaphorik, nun aus dem Bildspenderbereich von Vernichtung und Tod, wie etwa: Der Anblick schneidet ihm mitten durch sein Herz (224,76); seine Freude war zerschlagen (224,77); was immer im Leben er an Freuden hatte, ist im Leid begraben (226,11f.); sein Herz ist ertrunken in ungezählten Sorgen (226,13–15). In seinem Herrscheramt bleibt dem ge-

|| 43 Zum Redewechsel nach der elften Marter siehe oben, Abschnitt 2. 44 Den bald darauf aus dem Tempel dringenden Engelsgesang missversteht Alexander als Zeichen der Präsenz aller Heidengötter, die Zeus um sich versammelt hat, um Martina nun endlich Ze rehter warheit zu bekehren und sie den rehten gelobin zu leren (223,47f.). 45 Nach Alexanders Auffassung sind auch Martinas Sieg und seine Entmachtung Werke der christlichen Zauberei, deren Vernichtung ihm nicht gelungen ist. Die spirituale Bedeutung der thronenden Märtyrerin als Vorausblick auf die sie im Himmel erwartende Krönung mit der Märtyrerkrone bleibt dem Heiden verschlossen.

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brochenen Tyrannen die Erteilung eines letzten Befehls: Er lässt Martina mit dem Schwert enthaupten. Konnte er die Christin ihrem Glauben nicht entreißen, so hat er noch die Macht, ihr diesseitiges Leben gewaltsam zu beenden. Martina nimmt den Märtyrertod, in dem sich ihre imitatio Christi erfüllt, mit Freude auf sich, denn sie hat, Do ir lip den tot enpfie / Und ir sele daz lebin (228,92f.), das zeitliche gegen das ewige Leben eingetauscht.

4 Alexanders Ende Dem Schlussakt des hagiographischen Tyrannenlebens, bestehend aus den Erzählelementen Sterben, Verdammnis und Höllenfahrt, widmet Hugo von Langenstein eine ihrer Wichtigkeit angemessene längere Erzählpassage (229,106–230,102), in deren Zentrum er die drastische Schilderung der Wahnsinnstat einer bestialischen Autophagie stellt. Nach dem Tod der Märtyrerin muss auch der heidnische Herrscher gemäß göttlichem Willen sterben: Der keiser och gerihtet wart / Uon dem rehten rihtere (229,106f.). Ihn quälen grausamste Schmerzen an seinem nun zu Tode verwundeten Herzen, in dessen Innerem die menschliche Persönlichkeit zerstört ist. Vollends von vnsinne besessen, wird er zur rasenden Kreatur, die Reht als ein tobender hunt (230,2) mit geluste (230,5) ihr eigenes Fleisch frisst. Hugo von Langenstein formt das makabre Geschehen zur bildstarken Szene aus, die auf die Höllenqualen vorausweist46 und wohl auch einen Rückbezug zu den Greueleffekten der kleinteiligen Beschreibungen von Martinas Martern herstellen soll: Suz lac der hunt vnd kovwe / Sin bluotic fleisch also rovwe (230,13f.). Und: [Wan] er az mit flize Sin fleisch vnd och mit willen In kvnde nieman gestillen Wan er was ane gebende Und kowe sin selbis hende Reht als ein hunt ein bein (230,34–39). Er fraß eifrig und mit gierigem Verlangen sein Fleisch. Niemand konnte ihn davon abhalten, 47 denn er war ohne Fesseln; er kaute seine eigene Hand, genauso wie ein Hund einen Knochen.

|| 46 Wie es im großen Höllenexkurs (60,43–72,90) angekündigt wird, ist mit Alexanders Wahnsinnszustand bereits eine wesentliche Komponente aus dem Komplex der Höllenstrafen vorweggenommen: Die auf ewig verdammten helle kint müssen In tobendem vnsinne kriechin (67,104). 47 Zu Alexanders sündigem Mund, der die Glieder seines eigenen Körpers auffrisst, führt MEINDLWEISS (Anm. 5), S. 98, Anm. 178, als biblische Referenzstelle Ijob 18,12f. (über das Schicksal des Frevlers) an: »Unheils hungert nach ihm, und Unglück steht bereit zu seinem Sturz. Die Glieder seines Leibes werden verzehrt; seine Glieder wird der Erstgeborene des Todes verzehren«.

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Mit seiner Selbstzerfleischung vernichtet der Tyrann symbolisch auch die monarchische Macht, die durch den intakten Leib des Kaisers im Herrscheramt verkörpert wurde.48 Als Ursache und Ausdruck des Wahnsinns wird Alexanders Sündenverfallenheit benannt. Er ist Von sunden gar entschickit / Und meintat vnderspickit (230,11f.). Die letzte Sünde, die er im Sterben begeht, ist verzwivelunge (230,41 und 230,74) – desperatio –, die nicht vergebbare, da wider den Heiligen Geist gerichtete Sünde der Verzweiflung des reuelosen Sünders. Mit einer Gottesanrufung bekundet Alexander, dass sich ihm jetzt die Erkenntnis der Wahrheit erschlossen hat: Herre herre der cristen got Ich weiz daz ich din gebot Han vil gewaltecliche Vbir gangen vnd frevilliche (230,47–50). Herr, Herr, du Gott der Christen, ich weiß, dass ich dein Gebot gewaltsam und vermessen übergangen habe.

Er rekapituliert seine Untaten und bilanziert: Gott habe ihm nach dem Recht gelohnt, so wie er es verschuldet habe, und schließt: Dv hest reht mir getan (230,72). Trotz seines Schuldeingeständnisses hat Alexander keine Reue gezeigt und nicht um Erbarmen oder Vergebung gebeten, so dass göttliches Gnadenhandeln ausgeschlossen ist: Er Enpfie dekeinen applaz (230,76). In verzwivelunge treibt der Sündenzerfressene jetzt die Selbstzerstörung zum Ende seiner kreatürlichen Existenz. Zum moraltheologischen Sinn der grausamen Sterbeszene stellt der Erzähler fest: Sine svnde erkander / In sinen svnden erstarb er (230,84f.). Mit Sündenerkenntnis sterben zu müssen, ist somit gravierender als der Tod in Verblendung.49

|| 48 Der bei Hugo von Langenstein ausgedehnten Schilderung der Sterbeszene entspricht in den lateinischen Martina-Überlieferungen des Mombritius und der Acta Sanctorum gleichlautend eine kurze Feststellung im sachlichen Berichtstil der lateinischen Prosalegende: Imperator autem Alexander percussus est dolore cordis eadem die et sicut rapidus canis comedebat suas carnes; Mombritius (Anm. 4), S. 256; Acta Sanctorum (Anm. 4), VII,52 (»Der Herrscher Alexander aber wurde am selben Tag von Herzschmerzen ergriffen und verschlang wie ein reißender Hund sein eigenes Fleisch«). 49 Dass Alexanders Schuldeingeständnis mit Reue verbunden sei, wie es in der bisherigen Forschung teilweise behauptet wird – z. B. WYSS (Anm. 5), S. 297, sowie MOHR (Anm. 5), S. 226, 235 und 273 – trifft mithin für das von Hugo von Langenstein geschaffene Profil des reuelosen Sünders nicht zu, ebensowenig wie Martinas Gnadenbitte für den Sünder (so fälschlich bei WYSS [Anm. 5], S. 297; dazu schon korrigierend MEINDL-WEISS [Anm. 5], S. 40, Anm. 80). – Anders als bei Hugo von Langenstein ist in den lateinischen Fassungen der Hinweis auf eine verspätete Reue des Tyrannen enthalten. Fast wörtlich übereinstimmend Mombritius und Acta Sanctorum: dicebat gemens et tremens: Miserere mei deus christianorum: sciens quia transgressus sum praecepta tua Christe et exacerbaui te et nomen tuum persecutus sum et ancillam tuam grauius affeci. Iuste a te crucior sicut feci retribuisti mihi; Mombritius (Anm. 4), S. 256; vgl. Acta Sanctorum (Anm. 4), VII,52 (»Unter Stöhnen und Zittern sprach er: Erbarme dich meiner, Gott der Christen: Ich weiß, dass ich deine Lehren verachtet habe, Christus, und ich habe

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Schon in Martinas letztem Gebet vor ihrer Enthauptung (226,59–228,16; 228,57–73) sind diese Umstände vorgezeichnet, wenn sie das gerechte Gericht für denjenigen, der sich zu Lebzeiten nicht bekehrt und selbst nicht um Gnade gebeten hat (228,21–46), erbittet und an Gott appelliert, Alexanders hartem, ungläubigem Herzen den Schmerz der verlorenen Reue aufzuerlegen (227,107–228,4). Die Gnade der Herzensreue als Voraussetzung für eine Sündenvergebung erbittet sie für ihn gerade nicht (228,32–34: so bat si got / Daz er mit im tete / Als er verschuldit hete). Mit dem Vortragen ihrer Bitte wird Martina bereits zur Verkünderin des göttlichen Ratschlusses, denn so, wie sie es im Gebet ausspricht, lässt Gott den Tyrannen Tod und Verdammnis erleben.50 Alexander vollendet die Selbsttötung als letzten Akt des furor diabolicus,51 indem er sich – gleich einer am eigenen Leib vollzogenen spiegelnden Strafe – mit eigenhändigem Ausreißen der Haare und Abziehen der Haut jene qualvollen Verletzungen zufügt, denen er die Märtyrerin als Folteropfer ausgesetzt hatte. Innerhalb der Legendenliteratur bieten die Viten der Erzsünder Judas und Pilatus, in denen das Suizidmotiv eine exponierte Stellung einnimmt, Exempel für den der desperatio verfallenen Selbstmörder.52 Möglicherweise war es Hugos von Langenstein Absicht, in die von ihm als desperatio-Sünder ausgestaltete Tyrannenfigur der MartinaLegende das Vorbild dieser beiden prominenten Anti-Heiligen einfließen zu lassen.53 Wenn der Verfluchte nach seinem Tod von einer grauenvoll donnernden Himmelsstimme auf ewig in die Hölle geschickt wird, scheint durch den rehten rihter das göttliche Urteil des Jüngsten Gerichts sprachlich, inhaltlich und atmosphärisch antizipiert zu sein.54 Alsbald erhebt sich ein gewaltiges, als göttliches Wunder deklarier|| dich erzürnt und habe deinen Namen bekämpft, und ich habe deine Magd furchtbar gequält. Zurecht werde ich von dir gestraft; gleichwie ich gehandelt habe, hast du es mir vergolten«). Markant ist in dieser Hinsicht die erste Zeile der Gottesanrufung. Offenbar bewusst wurde das (auch für Hugos von Langenstein Vorlage anzunehmende) Erbarmungsflehen Miserere mei deus christianorum durch die zweifache Anrufung Herre herre der cristen got (230,47) ersetzt. 50 Hinsichtlich der ewigen Verdammnis der Sünder weist Hugo von Langenstein in seinem Höllenexkurs darauf hin, dass Gottes in die Herzen der Sünder schauende Augen erkennen, ob ein Sünder den Willen hat, endlos zu sündigen und sich damit selbst der Hölle zuzuführen (71,11–28). 51 Zur dämonologischen Interpretation des im furor diabolicus begangenen Selbstmordes und seiner moraltheologischen Verurteilung seit dem frühen Mittelalter vgl. MATEJOVSKI, DIRK: Selbstmord. Rezeptionstypen eines tabuisierten Motivs, in: KAISER, GERT (Hrsg.): An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters, München 1991 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 12), S. 237–63, dort vor allem S. 240–44; HOLDEREGGER, ADRIAN: ART. Suizid, in: LThK, Bd. 9 (2000), Sp. 1105–08. 52 Vgl. MATEJOVSKI (Anm. 50), S. 237–39. 53 Zwar werden im Höllenexkurs Judas und Pilatus auch als Hölleninsassen genannt, doch (in Verbindung mit Herodes) nur im Hinblick auf ihren Schuldanteil an Jesu Tod (63,65–64,8). Auf ihre Todesart wird hier nicht eingegangen. 54 Aus dieser Perspektive korrelieren die das Verdammungsurteil über Alexander proklamierende Stimme und jene süße Himmelsstimme, die zuvor Martina nach ihrem leiblichen Tod in den Himmel eingeladen hatte (229,7–24), als Verkündigungsstimme des göttlichen Urteils über die Erlösten.

Zum hagiographischen Tyrannentypus in Hugos von Langenstein Martina | 107

tes Erdbeben, in dessen Folge das noch im heidnischen Irrglauben befangene römische Volk gesamtheitlich durch Furcht und Schrecken in den Herzen von der heidnischen Blindheit des Herzens zum Licht der göttlichen Erkenntnis und damit zur Abkehr vom Heidentum gelangt (230,103–231,18). Sein irdisches Reich, heißt es dagegen von Alexander, hat er gegen das höllische Reich eingetauscht (231,53f.). In der ihm vom Teufel zugewiesenen Handlanger-Funktion bei der Vernichtung des Christentums musste er versagen.55 Nicht die Zerschlagung, sondern das Erstarken des christlichen Glaubens ist das Ergebnis seiner Christenverfolgung, so dass zusammen mit dem Ende seiner diesseitigen Herrschaft auch das Heidentum im römischen Reich – vorerst – an sein Ende gekommen ist.

5 Schluss Wie zu zeigen war, lässt Hugo von Langenstein in seiner Version der Martina-Legende den heidnischen Gegenspieler die letzte, mit dem Beginn der Christenverfolgung einsetzende zerstörerische Phase des Tyrannenlebens aus der Perspektive des Unglaubens als persönlichen, durch die widerständige Christin verschuldeten Leidensweg erfahren. Dass sein Leid im Kausalnexus zu dem der Christin von ihm zugefügten maßlosen Leid steht, ist seinem Verständnishorizont, der durch superbia und aus ihr resultierender ignorantia begrenzt ist, nicht zugänglich. Die von ihm veranlasste, sich in himmlischer Verklärung und Heiligkeit vollendende Passio der Märtyrerin generiert eine diametrale Passio des Herrschers, die sich als psychisch-physische Depravation vollzieht und in die ewige Höllenqual mündet. Je rigider der Kaiser Alexander das für ihn daseinsbestimmend gewordene Martyrium Martinas vorantreibt, umso stärker wird seine eigene, ihn durch Macht- und Persönlichkeitsverlust in den Untergang drängende Qual. Seine am Lebensende unerträglichen und unstillbaren körperlichen Schmerzen bereitet ihm – gemäß dem biblisch-anthropologischen Verständnis vom Herzen als dem Gefäß aller Seelenkräfte – das eigene, von Sünden übervolle Herz, während die Märtyrerin aufgrund ihres im Glauben unerschütterbaren, mit christlichen Tugenden angefüllten Herzens die ihr widerfahrenden Folterqualen zu ertragen und durch göttlichen Beistand zu transzendieren vermag. Dass der heidnische Gewalthaber für sein teuflisches Handeln bereits zu Lebzeiten gestraft wird, vergegenwärtigt sich an seinem ihn bis zur Selbstvernichtung und in die Sünde der Verzweiflung treibenden Leid. Vor seinem Tod schon wird ihm das Leben ›zur Hölle‹. || 55 Inwieweit auch die Macht des Teufels durch Martinas Martyrium geschwächt wurde, zeigt MOHR (Anm. 5), S. 227–34. Dass aber der Teufel seinen bis zur Endzeit währenden Kampf gegen Gott und seine menschlichen Geschöpfe (gemäß Eph 2,1f.) nach jeder Niederlage umso verstärkt weiterführt, macht Hugo von Langenstein mit seinen in das gesamte Werk eingelassenen Belehrungen über Wesen, Präsenz und Agieren des Teufels in heilsgeschichtlicher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft deutlich.

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Hugo von Langenstein baut die im traditionellen Genus der Märtyrerlegende fixierte Rollenschablone des eher statisch als dynamisch gezeichneten Antagonisten aus, indem er ihn als plastisch gestaltete Figur mit ausgeprägten Persönlichkeitszügen zum Träger eines eigenen, zielgerichteten Schicksalsverlaufs macht. Durch ausgedehnte Passagen mit dialogischen und monologischen Redeszenen, Schilderungen seiner Gedanken und Handlungen sowie bewertenden, erklärenden und theologisch interpretierenden Erzählerkommentaren erschließt der Autor ein im christlichen Menschenbild fundiertes Deutungsmuster für den teufels- und sündenverfallenen Tyrannen, das als beispielhaft gelten kann. Insofern sind die Kriterien seiner Charakteristik und der durch das Scheitern an der Märtyrerin im Handlungsgang sich vollziehenden Depravation auf die Figur des Imperator iratus in den kürzer gefassten Märtyrer-Viten der gängigen Legendenkompendien übertragbar. Ob es Hugos von Langenstein Absicht war, mit dieser Generalisierbarkeit das Modell einer hagiographischen Tyrannenexistenz zu schaffen, ist allerdings nicht eindeutig zu eruieren. Im Blick auf seinen von der Gebrauchsfunktion determinierten, dem gesamten Werk eingeschriebenen didaktischen Impetus wird gleichwohl offenkundig, dass er mit der heillosen Geschichte von Alexanders Untergang und Höllentod, die er die Zuhörer im Rahmen der Tischlesungen aktuell miterleben lässt, auch ein abschreckendes Exempel als Warnung und Mahnung vorführen will. Gilt doch für jeden einzelnen der elementare Glaubensgrundsatz, dass der sündige und unbekehrbare Mensch, der sich dem Teufel als Werkzeug ausliefert, ohne Einsicht und Reue sein Seelenheil verlieren und mit dem Jüngsten Gericht der Hölle verfallen sein wird. Faktisch und affirmativ gestützt durch die Querverbindungen zwischen narrativen und theoretischen Teilen des Werkes, die sich der Sündenthematik aus unterschiedlicher Perspektive und mit wechselnder didaktischer Methode annehmen, kann diese am Gegenspieler der Märtyrerin explizierte moraltheologische Grundmaxime im Bewusstsein der Rezipienten einmal mehr verankert werden.

Gesine Mierke

wuoterich, wuotgrimme, tiuvels man: Zur Figur des Tyrannen in der volkssprachigen Chronistik des 12. bis 14. Jahrhunderts Ottokar aus der Geul, der Verfasser der Steirischen Reimchronik, einer monumentalen Chronik von knapp 100.000 Versen, die zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstand,1 beschimpft in einer langen eindrucksvollen Schelte Philipp IV. von Frankreich. Dieser wird als schlechter Herrscher par excellence beschrieben, nicht zuletzt indem er als wüeterich unguoter apostrophiert wird. Die Schelte gipfelt schließlich darin, dass Philipp vom Chronisten die Königswürde aberkannt wird. In der umfangreichen Passage heißt es: owê dû bœswiht êren kranc, dû hellehunt, dû mordære, dû schanden vaz, dû triwen lære, dû gîtes giftigiu slange, dû bôsheit habende zange, dû valscher, veiger luhs, dû lieht unerkender fuhs, dû aller houbetschanden rigel, dû valscher, tuckiger igel, dû an güet ein vippernater, dû fræzigiu wolfes blater, dû schamlôsiu hundes muoter, dû wüeterich unguoter, dû ribalt aller êren blôz, dû aller tugent ein widerstôz, dû houbetschanden voller sac, dû senftikeit ein donerslac, dû gîtiger basilisken zagel, dû aller sælikeit ein hagel, dû frides und triwen bruchel, dû manheit lôser kruchel, 2 dû ligender vogelbracke, dû grimmes voller tracke,

|| 1 Vgl. zu Autor und Werk LIEBERTZ-GRÜN, URSULA: Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300. Studien zu Ottokar von Steiermark, Jans Enikel, Seifried Helbling, München 1984 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 5), S. 101–15. 2 Das Wort vogelbracke ist nur bei Ottokar belegt. Er bemüht sich um den geblümten Stil, der sich auch durch ungewöhnliche Substantivkompositionen, metaphorische Neubildung oder pleonastische Zusammensetzungen auszeichnet; vgl. dazu KRÜGER, ANNA: Stilgeschichtliche Untersuchungen zu Ottokars Österreichischer Reimchronik, Leipzig 1938 (Palaestra 215), S. 4f. https://doi.org/10.1515/9783110752373-006

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dû diep der êren dîn, dû in hor ein walgundez swîn, dû schanden vol, dû triwe bar, sît ich dich nicht geschelten tar, sô wil ich doch versuochen, 3 ob ich dir kunne fluochen (V. 63486–514). Oh weh, du ehrloser Verachteter, du Teufel, du Mörder, du, der du voll Schande bist, du Treuloser, du Schlange voll mit dem Gift der Gier, du, dem die Bosheit anhaftet, du trügerischer, unglückseliger Luchs, du listiger Fuchs, du Krone der Todsünden, du trügerischer, tückischer Igel, du Natter ohne Güte, du schwärendes Wolfsgeschwür, du schamlose Hundemutter, du schlechter Despot, du Schurke ohne Anstand, du Gegenbild der Tugenden, du, der du alle Todsünden auf dich vereinst, du Schlag gegen die Sanftmütigkeit, du gieriger Basiliskenschwanz, du, der du die Glückseligkeit zerstörst, du Friedens- und Gelübdebrecher, du Krüppel ohne Manneskraft, du lügender Hühnerhund, du Drache voller Zorn, du Dieb deines eigenen Ruhms, du dich im Kot wälzendes Schwein, du Sündhafter, Treuloser, wenn ich dich nicht beschimpfen kann, so will ich versuchen, dich zu verfluchen.

Dieser Katalog an Beschimpfungen bzw. Verfluchungen ist nur ein Auszug aus der circa 230 Verse umfassenden Herabsetzung Philipps durch den Erzähler. Sie gleicht in der Anlage den Tugendkatalogen, wie wir sie etwa aus der Kaiserchronik auf Karl den Großen kennen, und ist somit als Gegenstück eines Fürstenlobs zu verstehen: Antithetisch wird das Gegenbild zum guten Herrscher entworfen. Das Schmähen und Schelten, das seinen Ursprung in der mittelalterlichen Rechtsprechung hat,4 fand als schriftliche Ehrverletzung insbesondere im spätmittelalterlichen Böhmen, Mähren und Polen in Form von Scheltbriefen Gebrauch.5 Die Schmähung Phillips als Angriff auf seine Ehre scheint eine frühe Form davon zu sein. Auffällig an der sich steigernden Aufzählung ist, dass auf die ersten Beschimpfungen, die auf Tiervergleiche zurückgreifen, im zweiten Teil Verunglimpfungen folgen, die sich auf konkrete Herrschertugenden beziehen. Dieser zweite Teil setzt mit der Bezeichnung Philipps als wüeterich (›Tyrann‹) ein. Dabei werden mit senftikeit, manheit und tugent allgemein Herrscherqualitäten benannt, die Philipp gerade nicht besitzt, und ferner andere Qualitäten aufgezählt, die ihn als schlechten Herrscher ausweisen. So sei er grimmes und schanden voll, ein diep

|| 3 Benutzte Ausgabe: Ottokars Österreichische Reimchronik. Nach den Abschriften FRANZ LICHTENSTEINs hrsg. von JOSEPH SEEMÜLLER, 2 Bde., Hannover 1890/1893 (MGH. Deutsche Chroniken 5,1/2), Neudruck Zürich/Dublin 1974. Eigene Übersetzung. 4 Die Urteilsschelte wurde vor Gericht vorgetragen, bevor das eigentliche Urteil gesprochen wurde. Sie sollte die Entscheidung beeinflussen. Vgl. dazu KÖBLER, GERHARD: Appellation, Berufung, Schelte, in: CZEGUHN, IGNACIO (Hrsg.): Recht im Wandel – Wandel des Rechts. FS Jürgen Weitzel, Köln [u. a.] 2014, S. 281–302, hier S. 287–92. Allerdings nennt KÖBLER, S. 291, nur 15 Stellen, an denen das Schelten in Urkunden des 13. Jahrhunderts erwähnt wird. Zur Urteilsschelte vgl. auch KAUFMANN, EKKEHARD: Urteilsfindung – Urteilsschelte, in: HRG, Bd. 5 (1998), Sp. 619–22. 5 Vgl. MOHRMANN, RUTH E.: Schmähen und Schelten, in: HRG, Bd. 4 (1990), Sp. 1451–54, hier Sp. 1451.

Zur Figur des Tyrannen in der volkssprachigen Chronistik des 12. bis 14. Jahrhunderts | 111

der êren etc. Wir erfahren somit ziemlich genau, welche Eigenschaften dem Tyrannen zugeschrieben werden und welche gerade nicht. Grundsätzlich stellt der Erzähler Philipps Idoneität in Frage, denn dieser sei moralisch nicht integer; ihm seien, so die Aussage der Passage, die zentralen Herrschertugenden gerade nicht eigen, und somit sei er mitnichten in der Lage, als Machthaber zu fungieren. Was aber, so bleibt im Weiteren zu fragen, zeichnet die Herrschaft eines Tyrannen aus? Und wie wird von ihm erzählt? Die Vermutung liegt nahe, dass der Tyrann vor allem in den Herrscherdarstellungen der mittelalterlichen Chroniken präsent ist – wo, wenn nicht hier, werden verschiedenste Herrscherbiographien aneinandergereiht, wird Herrschaft direkt oder indirekt vom Erzähler bewertet. Dabei besteht zumeist eine diskursive Verbindung zu jenem Konzept des Tyrannen, wie es Johannes von Salisbury im Policraticus beschreibt.6 Johannes definiert als Tyrannen denjenigen, der sich der christlichen Herrscherethik entzieht, gerade nicht tugendhaft handelt und in jeglicher Weise gewaltsam herrscht.7 Damit rückt er die Frage, wie der Herrscher sich gegenüber seinen Untertanen verhält, also seine Macht ausübt, in den Mittelpunkt.8 Die Herrschaft des Tyrannen, die der des guten Fürsten entgegensteht, schwächt die Ordnung und pervertiert sie gar.9 Schließlich vergleicht Johannes die Tyrannis mit der Herrschaft Luzifers und verbildlicht mit den beiden Polen Gott und Teufel die Machtausübung des guten Fürsten und des Gewaltherrschers.10 Eines schlechten Herrschers kann man sich nur durch Mord entledigen. Damit ist insbesondere seine Ermordung ein wesentliches Kennzei-

|| 6 Benutzte Ausgaben: Ioannis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici sive de nvgis cvrialivm et vestigiis philosophorum libri VIII, hrsg. von CLEMENS C. I. WEBB, 2 Bde., London/Oxford 1909, unveränderter Nachdruck Frankfurt a. M. 1965; Johannes von Salisbury: Policraticus, Lateinisch-Deutsch, ausgew., übers. und eingel. von STEFAN SEIT, Freiburg [u. a.] 2014 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 14). Die Übersetzungen entstammen im Folgenden der Ausgabe von SEIT. 7 Vgl. grundlegend zum Konzept des Tyrannen bei Johannes von Salisbury STRUVE, TILMAN: Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, Stuttgart 1978 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 16), S. 123–48, vor allem S. 144–46; KRASS, ANDREAS: Tyrannenmord als Christenpflicht. Statement zum Policraticus des Johannes von Salisbury, online unter: http://www.unikonstanz.de/kulturtheorie/Texte/TyrannenKrass02.pdf (Abrufdatum: 15.07.2019). 8 Vgl. Policraticus VIII,18: sed omnes esse tirannos qui concessa desuper potestate in subditis abutuntur (S. 337f.: »sondern dass alle diejenigen Tyrannen sind, die die ihnen von oben überlassene Macht den Untertanen gegenüber missbrauchen«). 9 Vgl. dazu vor allem seine Ausführungen in Buch VIII. Hier heißt es etwa über den Tyrannen: tirannus nil actum putat nisi leges evacuet et populum devocet in servitutem (VIII,17; S. 304f.: »der Tyrann glaubt nur dann, seine Sache ans Ziel gebracht zu haben, wenn er sich der Gesetze entledigt und das Volk in die Knechtschaft stürzt«). 10 Vgl. Policraticus VIII,17: Imago quaedam divinitatis est princeps et tirannus est adversariae fortitudinis et Luciferianae pravitatis imago, siquidem illum imitator qui affectavit sedem ponere ad aquilonem et similis esse Altissimo, bonitate tamen deducta (S. 304f.: »Der Fürst ist gewissermaßen ein Abbild der Gottheit, und der Tyrann ist ein Abbild der feindlichen Macht und der Schlechtigkeit Luzifers; den nämlich ahmt nach, wer danach gestrebt hat, seinen Thron im Äußersten zu errichten [vgl. Jes 14,13f.] und dem Allerhöchsten ähnlich zu sein, allerdings ohne dessen Gutheit«).

112 | Gesine Mierke chen, um einen Tyrannen als solchen zu erkennen.11 Überdies stellt Johannes unmäßiges Begehren und ausschweifendes Verhalten als Merkmale des Tyrannen heraus.12 Ich möchte mich der Frage, was einen Tyrannen ausmacht und wie von ihm erzählt wird, anhand von Beispielen aus der volkssprachigen Chronistik des 12. und 13. Jahrhunderts zuwenden. Da das mhd. wueterich das lateinische Wort tirannus glossiert,13 suchte ich zunächst im Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz und fand für den mittelhochdeutschen Begriff wüeterich/wuoterich 29 Belegstellen verzeichnet.14 Für die volkssprachige Chronistik jedoch ergab meine Abfrage in der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank und der Monumenta Germaniae Historica digital anders als erwartet nur wenige Treffer.15 Diese Textstellen möchte ich im Folgenden in den Blick nehmen und fragen, wie vom Tyrannen bzw. ›Wüterich‹ erzählt wird und welche Funktion der Figur des Tyrannen in den literarischen Texten zukommt. Dazu werde ich mich in einem ersten textanalytischen Teil Beispielen aus der Kaiserchronik (um 1150) und der Weltchronik des Jans von Wien (um 1280) zuwenden. In einem zweiten Teil möchte ich versuchen, ein Konzept des Tyrannen herauszuarbeiten und die Funktion des Erzählens vom Tyrannen für die Komposition des jeweiligen Textes zu bestimmen. Abschließend bleibt zu fragen, inwiefern sich die Ergebnisse im Hinblick auf das vor allem in der Geschichtswissenschaft diskutierte Konzept der Idoneität perspektivieren lassen.16

|| 11 Siehe zum Tyrannenmord ausführlich den Beitrag von Mathias Herweg im vorliegenden Band. 12 So heißt es im Policraticus XVII,3: Et quidem non soli reges tirannidem exercent; privatorum plurimi tiranni sunt, dum id virium quod habent in vetitum efferunt (S. 307: »Freilich entfalten nicht nur Könige die Herrschaft eines Tyrannen; auch in den privaten Angelegenheiten gibt es überaus zahlreiche Tyrannen, insofern sie das, was sie an Kräften besitzen, ins unerlaubte Maß treiben«). Vgl. dazu auch Policraticus VIII,17. Als ein Beispiel für Luxuria verweist er auf Nero, vgl. Policraticus XVIII,5; als Beispiel für Unkeuschheit führt er David an, vgl. Policraticus IV,5: Sane eum affectus ille uxorius proditione et homicidio in adulterium impegit (S. 86: »in der Tat hat ihn seine wohlbekannte Leidenschaft für eine verheiratete Frau unter Verrat und Mord in den Ehebruch getrieben«). 13 Vgl. Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis. E codicibus manuscriptis et libris impressis concinnavit L. DIEFENBACH, Frankfurt 1857 (Supplementum lexici mediae et infimae latinitatis), Neudruck Darmstadt 1968, S. 585. 14 Vgl. GÄRTNER, KURT [u. a.]: Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz. Mit einem rückläufigen Index, Stuttgart 1992, Bd. 3, Sp. 984. 15 Die Abfrage von wuotrîche in der MHDBDB ergab insgesamt 46 Treffer, davon fallen drei auf die Kaiserchronik, acht auf die Steirische Reimchronik, zwei auf die Pulkava Chronik. In den MGH ergab die Suche nach wuoterîch/wuotgrimme/wüterich einen Treffer in der Weltchronik des Jans von Wien, sechs Treffer in der Österreichischen Reimchronik und zwei Belege in der Kaiserchronik. 16 Zum Begriff vgl. die beiden 2015 erschienen Sammelbände: ANDENNA, CRISTINA/MELVILLE, GERT (Hrsg.): Idoneität – Genealogie – Legitimation: Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im Mittelalter. Fachtagung »Idoneität – Genealogie – Legitimation. Überlegungen zur Begründung und Akzeptanz von Dynastischer Herrschaft im Hohen und Späten Mittelalter«, Köln [u. a.] 2015 (Norm und Struktur 43); OSCHEMA, KLAUS [u. a.] (Hrsg.): Die Performanz der Mächtigen. Rangordnung und Idoneität in höfischen Gesellschaften des späten Mittelalters, Ostfildern 2015 (Rank. Politisch-soziale Ordnungen im mittelalterlichen Europa 5).

Zur Figur des Tyrannen in der volkssprachigen Chronistik des 12. bis 14. Jahrhunderts | 113

1 Kaiserchronik Die anonym überlieferte Kaiserchronik vermittelt in mehr als 17.000 Reimpaarversen die Geschichte des römischen Reiches entlang der Porträts von 36 römischen und 19 deutschen Kaisern, beginnend mit Julius Cäsar und endend mit Konrad III. und dem Kreuzzugsaufruf Bernhards von Clairvaux 1146. Im Prolog liefert der Erzähler Hinweise auf das Programm des Textes: iz [das Buch, G. M.] chundet uns dâ von den bâbesen unt von den chuningen, baidiu guoten unt ubelen, die vor uns wâren unt Rômisces rîches phlâgen 17 unze an disen hiutegen tac. (V. 18–23) Es erzählt uns von den Päpsten und von den Königen, gleichermaßen edelen und verworfenen, die vor unserer Zeit lebten und das Römische Reich regierten bis zum heutigen Tag.

Es wird betont, dass von guten und schlechten Kaisern erzählt wird. In Bezug auf das Thema des Sammelbandes bleibt also zu schlussfolgern, dass hier auch Tyrannen als Beispiele für ubele, schlechte Herrschaft auftauchen. Mithin lässt sich im Text eine Reihe von Herrschern ausmachen, die als Tyrann gezeichnet werden. Wichtigster Hinweis auf eine tyrannische Herrschaft und sicheres Identifikationsmittel ist hierbei der Tyrannenmord.18 Auffällig ist indes, dass in der Beschreibung der Herrscher das mhd. Wort wuoterich oder wuotgrimme nur äußerst selten, genaugenommen an sechs Stellen des Textes vorkommt (V. 1319: Claudius/Faustinian; V. 6453: Diocletian und Maximian; V. 6612: Diocletian und Maximian; V. 7680: Constantius wird durch Tyrannen bedroht; V. 10980: Kaiser Julian; V. 14154: Dietrich). So sind es zunächst Diocletian und Maximian, die als ubele[] wuotgrimme[] und Christenverfolger beschrieben werden: Daz rîche besaz duo Dioclêtîânus unde sîn geselle Maxîmîânus, die ubelen wuotgrimmen; si kêrten alle ir sinne, wie si des erdæhten,

|| 17 Benutze Ausgabe (soweit nicht anders angegeben): Die Kaiserchronik. Eine Auswahl. Mhd./Nhd., übers., komm. und mit einem Nachwort versehen von MATHIAS HERWEG, Stuttgart 2014. 18 Siehe dazu auch den Beitrag von Mathias Herweg im vorliegenden Band.

114 | Gesine Mierke

daz si vur bræhten 19 die trût unsers hêrren. (V. 6451–57) Damals regierten Diocletian und sein Gefährte Maximian, die bösen Wüteriche. Sie richteten all ihr Streben darauf, zu überlegen, wie sie die Gefährten unseres Herrn vertreiben könnten.

Unter ihnen erleiden, so wird erzählt, die Heiligen Vitus, Pancratius und Mauritius das Martyrium. Maximian erscheint als zorniger, grausamer Herrscher, der gerade im Kampf gegen Feinde bis zum Äußersten geht. So lässt er zunächst jeden zehnten Christen enthaupten; als die übrigen unbeirrt an ihrem Glauben festhalten, befiehlt er, alle zu töten. Am Ende der Episode wird schließlich noch einmal betont, dass Maximian und Diocletian grimmige[] wuoterîche (V. 6612) gewesen seien, die rihten harte gewalticlîche (V. 6613); man vorhte si harte (V. 6615). Von ihrer Herrschaft heißt es also, dass sie wütende – im Sinne von unberechenbare und aufbrausende – willkürliche Herrscher waren, die gewaltsam regierten und entsprechend von den Untertanen sehr gefürchtet wurden. Dies wird in der Episode anhand ihres unbarmherzigen Vorgehens gegen die Christen beschrieben. So heißt es, dass sie die Christen auszulöschen versuchten, sie bis ins Letzte verfolgten und schließlich die Kirchen zerstörten: si nedolten in allem rîche nehainer slahte kirchen, si zestôrten si mit prande den cristen ze scanden, man suohte si under stunden da ze walde mit den hunden, in den lochen unt in den bergen, si muosen alle resterben. (V. 6600–07) Sie duldeten in ihrem Reich keine Kirche, sie brandschatzten sie zur Beschämung der Christen. Lange verfolgte man sie mit den Hunden in den Wäldern, in Höhlen und in den Bergen. Sie mussten alle sterben.

Hier ist der Tyrann also der grausame, zu äußerster Gewalt bereite Despot, der Gewaltherrscher im wörtlichen Sinne, der gegen sein Volk – und so auch gegen die Christen – keine Barmherzigkeit kennt und seine Untertanen unterdrückt. Damit wird ein Aspekt aufgerufen, den auch Johannes von Salisbury als Kennzeichen des Tyrannen

|| 19 Benutzte Ausgabe: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Hannover 1892 (MGH. Deutsche Chroniken 1,1), Neudruck Hannover 1964. Hier und im Folgenden eigene Übersetzung.

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beschreibt. Dieser sei jemand, der durch seine gewalttätige Herrschaft (violenta dominatione) das Volk unterdrücke.20 Eine weitere Facette des Tyrannen zeichnet der Kaiserchronist in der Episode um Faustinian. In dieser Episode, die mit MATÍAS MARTÍNEZ beinahe als »ein kleiner Roman«21 innerhalb der Chronik gilt, wird die Geschichte um den römischen Kaiser Faustinian und seine Familie erzählt. Die Familie wird getrennt und findet durch göttliche Fügung nach vielen Jahren, in denen jedem Einzelnen Verschiedenes widerfährt, wieder zusammen. In die Handlung eingebunden ist die theologische Diskussion um den wahren Glauben, die in der Erzählung im Bekenntnis der Familie zum Christentum gipfelt. Für unseren Zusammenhang ist eine Nebenfigur interessant: Claudius, der Bruder des Protagonisten. Dieser nähert sich heimlich seiner Schwägerin Mähthilt und bedrängt sie. Mähthilt, die sich des Werbers nicht anders zu erwehren weiß, ersinnt eine List, um den Schwager abzuwehren: diu frouwe gedâhte maniger liste: wie si ir êre gefriste, wie si den wuotgrimmen 22 von der rede mähte bringen. (V. 1317–20) Die Dame ersann manche List, wie sie ihre Ehre bewahren, wie sie den Wüterich von seinem Vorhaben abbringen könne.

Mähthilt verspricht ihm, seinen Wunsch zu erhören, sobald ihr Mann aus dem Haus sei. Da sie in Erwartung eines Kindes ist, vertröstet sie ihn so auf die Zeit nach ihrer Niederkunft. Mähthilt, die auf diese Weise nur Zeit gewonnen hat, steht weiterhin unter großer Bedrängnis. Schließlich träumt sie, dass sie und ihre Kinder stürben, wenn sie das Land nicht verließen. Die Zwillinge werden daraufhin außer Landes gebracht, und Mähthilt folgt ihnen später, um sie zu suchen. Die Claudius-Handlung und der Traum Mähthilts setzen die weitere Handlung in Gang. Anschließend hören wir von Claudius bis zum Ende der Episode nichts mehr.23

|| 20 Vgl. Policraticus VII,1: Est ergo tirannus, ut eum pihilosophi depinxerunt, qui violenta dominatione populum premit, sicut qui legibus regit princeps est (S. 303: »Nach der Darstellung der Philosophen ist der Tyrann jemand, der durch seine gewalttätige Zwangsherrschaft das Volk unterdrückt, so wie der ein Fürst ist, der aufgrund von Gesetzen herrscht«). 21 MARTÍNEZ, MATÍAS: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen 1996 (Palaestra 298), S. 18. 22 Benutzte Ausgabe: SCHRÖDER (Anm. 19). 23 Erst als Mähthilt Sankt Peter ihre Geschichte erzählt, nimmt sie noch einmal auf ihren Schwager als ain fraisllîh man (V. 2713) Bezug. Erst in V. 4038 ist von Claudius die Rede: Claudîus richte daz rîche.

116 | Gesine Mierke Die gesamte Passage ist komplex, entsprechend beforscht24 und bietet auch für die hier interessierende Perspektive Anknüpfungspunkte. Vor allem die Figur des Claudius ist, wie erwähnt, für die Frage nach dem Erzählen vom Tyrannen bemerkenswert. Er wird als Tyrann, als wuotgrimme (V. 1319) bezeichnet, der in Bezug auf die Frau seines Bruders sein Begehren nicht zügeln kann und somit Gewalt gegen diese ausübt. Auch diese Seite des Despoten, das unmäßige Begehren und zügellose Verhalten, beschreibt Johannes von Salisbury als wesentliches Merkmal des Tyrannen.25 Das in der mittelalterlichen Literatur verbreitete Narrativ um die Dreieckskonstellation Mann – Werber – Ehefrau wird hier aufgegriffen und ist Ausgangspunkt für die weitere Handlung. Mähthilt, die als ›unschuldig verfolgte Frau‹26 im Zentrum dieses Verhältnisses steht, wird massiv durch den Werber bedroht (V. 1279–320). Diese Bedrohung und Gewaltausübung gegen die Frau, die auch mit ihrem sozialen Abstieg verbunden ist – denn sie lebt in der Fremde als Bettlerin –, steigert ihr Frömmigkeit und macht den engen Konnex zwischen Begehren, Gewalt und Heiligkeit deutlich.

|| 24 Vgl. grundlegend OHLY, FRIEDRICH: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Münster 1940, Neudruck Darmstadt 1968 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 10), S. 74–84; MARTÍNEZ, MATÍAS: Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustinianerzählung der Kaiserchronik, in: DERS. (Hrsg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn [u. a.] 1996, S. 83–100. 25 Vgl. Policraticus XVIII,4: Est enim tirannis a Deo concessae homini potestatis abusus. […] Patet ergo non in solis principibus esse tirannidem, sed omnes esse tirannos qui concessa desuper potestate in subditis abutuntur (S. 337: »Die Tyrannis ist der Missbrauch der dem Menschen von Gott zugestandenen Macht. [...] Es liegt deshalb offen vor Augen, dass es die Tyrannis nicht bei den Fürsten allein gibt, sondern dass all diejenigen Tyrannen sind, die die von ihnen überlassene Macht den Untertanen gegenüber missbrauchen«). Vgl. dazu auch Policraticus VIII,17 sowie VIII,6. 26 CHRISTIAN KIENING hat diese narrative Konstellation am Beispiel der Crescentia-Episoden ausführlich beschrieben und Elemente benannt: 1. eine vorbildhafte und zumeist hochgestellte Frau gerät 2. in eine trianguläre Situation zwischen Mann und Schwager, 3. durch die Abwesenheit des Ehemanns werden weitere Krisen ausgelöst, 4. die Begabung der Frau mit besonderen Kräften führt zum Wiedersehen und Zusammentreffen der Familie. Vgl. KIENING, CHRISTIAN: Versuchte Frauen. Narrative Muster und kulturelle Konfigurationen, in: MÜLLER, JAN-DIRK (Hrsg.): Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs 64), S. 77–98, hier S. 82f.; vgl. dazu auch KIENING, CHRISTIAN: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens, Würzburg 2009 (Philologie der Kultur 1), S. 89, sowie MIERKE, GESINE: Riskante Ordnungen. Von der Kaiserchronik zu Jans von Wien, Berlin/Boston 2014 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 18), S. 95 und 247. Obwohl sich nicht alle Elemente vollumfänglich auf die Faustinian-Episode übertragen lassen, so wird doch deutlich, dass Mähthilt ebenfalls unschuldig vom Schwager verfolgt wird und somit die Handlung in Gang gerät. Nach einer langen Phase des Leidens wird sie schließlich mit Hilfe des Apostels Petrus erlöst und in dem Sinne geheiligt, dass Gott an ihr und ihrer Familie Gnade erweist (V. 2620–3009).

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In der Forschung wurde diese kurze Episode zwischen Mähthilt und Claudius mehrfach diskutiert.27 Insbesondere das an den Traum Mähthilts angelagerte und scheinbar unmotivierte Einschiffen ihrer Söhne nach Athen und auch die eigene Reise Mähthilts galten als »Lücke«28 im kausalen Zusammenhang. Dies wurde zum einen als Hinweis auf unterschiedliche Quellen, die der Autor in der Faustinianepisode zusammengefügt habe, gelesen.29 Zum anderen wurde anhand der Erzählung die ›Motivation von hinten‹ im Sinne CLEMENS LUGOWSKIs erklärt.30 So wies MATÍAS MARTÍNEZ darauf hin, dass Claudius in der Faustiniangeschichte als »ein Aktant« auftauche, »der vollständig aufgeh[e] in seiner narrativen Funktion«.31 Demnach verschwindet die Figur des Claudius, nachdem sie ihre Funktion im linearen Verlauf der Erzählung erfüllt hat, und taucht nicht mehr auf.32 Der narrative Zusammenhang weise folglich, obwohl der kausale Zusammenhang gestört sei, keine Lücke auf. Für die Motivation von hinten erfüllt die Episode ihre Funktion, und somit ist keine weitere Erklärung des scheinbar Inhomogenen notwendig.33 Soweit der Forschungsstand. Mit Blick auf das Konzept der Kaiserchronik, die von guten und schlechten Kaisern erzählt, wird aber deutlich, dass Claudius, weil er als Tyrann dargestellt wird, mit unbändiger Macht auf Mähthilt einwirkt. Er übt also gegen die Frau Gewalt aus, und deshalb träumt sie von ihrem Tod und sorgt sich um ihre Nachkommen. Weil Claudiusʼ tyrannische Macht dargestellt wird – und hier liegt der Ursprung der kausalen Motivation dieser Episode –, rückt Mähthilt bereits zu Beginn der Episode in die Position der unschuldig verfolgten Frau.34 Für diesen Typus gibt es im Verlauf der Chronik weitere Beispiele. So korrespondiert Mähthilt etwa mit Lucretia oder Crescentia, die ebenfalls durch den Konnex von Gewalt und Heiligkeit als vorbildliche Frauen gezeichnet werden. Lucretia nimmt sich aufgrund des gewaltsamen Begehrens Tarquiniusʼ das Leben; Crescentia wird von ihrem Schwager bedrängt, des Kindsmords bezichtigt und erfährt schließlich nach einer langen qualvollen Odyssee Heiligung, indem sie selbst zur Heilerin wird.35 Hier

|| 27 Vgl. RÖHRSCHEIDT, CARL: Studien zur Kaiserchronik, Diss. Göttingen 1907, S. 9; MARTÍNEZ (Anm. 24); MIEDEMA, NINE: Träume in der Kaiserchronik, in: DIES./REIN, MATTHIAS (Hrsg.): Die Kaiserchronik. Interdisziplinäre Studien zu einem buoch gehaizzen cronicâ. FS Wolfgang Haubrichs, St. Ingbert 2017, S. 181–207, hier S. 193–99. 28 Martínez (Anm. 21), S. 18. 29 Vgl. RÖHRSCHEIDT (Anm. 27), S. 9. 30 Vgl. MARTÍNEZ (Anm. 21), S. 13–36. 31 Beide Zitate ebd., S. 17. 32 Vgl. ebd., S. 92. 33 Vgl. ebd., S. 93. 34 Siehe oben, Anm. 27. Auch MIEDEMA (Anm. 27), S. 192, weist auf das Schema hin. 35 Vgl. dazu ausführlich KIENING 2007 (Anm. 26), S. 87–93.

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gibt es folglich über die Einzelepisode hinaus innertextuelle Korrespondenzen, die mit Blick auf die Gesamtkomposition des Textes sinnstiftend sind.36 Claudiusʼ Werbung motiviert also Mähthilts Suche nach den Zwillingen. Daneben ist die Sequenz auch notwendig, um den langen, beschwerlichen Weg zu Mähthilts Heiligung zu initiieren. Sie gerät durch Claudius in äußerste Bedrängnis und wird auch im Traum von ihren Ängsten heimgesucht, die ihr einen Ausweg aus der Situation erst weisen. Gerade der Traum hat wie Himmelsbriefe oder -stimmen die Funktion, auf die Kommunikation mit dem Transzendenten hinzuweisen. Kurzum ist es für die gesamte Handlung bedeutsam, dass Claudius als Tyrann dargestellt wird und als solcher Mähthilt bedrängt. Somit wird das wesentliche Merkmal tyrannischer Herrschaft, gewaltsam zu sein, literarisch in dieser Dreieckskonstellation zum Ausdruck gebracht und auf Mähthilts Heiligungsprozess transferiert. Damit wird im Hinblick auf die Episode weder Inhomogenes zusammengekittet noch ein scheinbarer Bruch im Erzählfluss überspielt.37 Entsprechend kündigt sich bereits am Anfang der Episode die problematische Situation zwischen den beiden Brüdern an, denn es heißt: Ein buoch saget uns sus: Daz rîche besaz Faustinjânus. Claudîus hiez sîn pruoder, er tet im lait genuogez. (V. 1219–22) Ein Buch erzählt uns Folgendes: Das Reich hatte Faustinian inne, dessen Bruder hieß Claudius. Dieser fügte ihm viel Leid zu.

Damit wird schon zu Beginn auf das kommende Problem der beiden Brüder hingewiesen und die Handlung vorbereitet. Auch die Anspielung darauf, dass Claudius mit dem Teufel im Bunde stehe, polarisiert die Brüder ganz im Sinne des im Prolog angekündigten Vorhabens, dass der Erzähler von guten und schlechten Herrschern berichten wolle. Bereits FRIEDRICH OHLY hat diesen Dualismus zwischen rex iustus und tyrannus am Beispiel der Faustiniangeschichte benannt, aber nicht ausgeführt.38 Dies möchte ich mit Blick auf die literarische Komposition des Textes ein Stück weit nachreichen.

|| 36 Vgl. dazu HERWEG, MATHIAS: Kohärenzstiftung auf vielen Ebenen: Narratologie und Genrefragen in der Kaiserchronik, in: LiLi 47 (2017), S. 281–302. 37 So noch RÖHRSCHEIDT (Anm. 27), S. 9. MARTÍNEZ folgt hier LUGOWSKI und konstatiert, dass der Traum »irgendwie« Folge der Nachstellungen Claudius’ ist und »irgendwie« Ursache für die Verschickung der Zwillinge; vgl. MARTÍNEZ (Anm. 21), S. 17, und DERS. (Anm. 24), S. 93. 38 OHLY (Anm. 24) schreibt: »Erst der Faustiniandichter trägt in die Legende, dem Grundgedanken des Gesamtwerkes entsprechend, den Dualismus zwischen rex justus und tyrannus hinein. Faustinian [...] wird hier selbst zum Kaiser und Nachfolger des Gajus erhoben. Sein Bruder, hier der historische Kaiser Claudius, erscheint als sein Gegenbild. In ihm als dem unsittlichen Verführer der Kaiserin waltet der Teufel, er verbündet sich mit Simon Magus gegen die Mission des Petrus, er treibt es mit den Frauen der Römer, bis diese ihn vergiften« (S. 82, vgl. auch S. 83f.).

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Die Tyrannei des Claudius ist für die Episode äußerst bedeutsam, sie ist gewissermaßen der Nagel, an dem die Geschichte aufgehängt ist, und sie wird in literarische Zusammenhänge integriert. Claudiusʼ Gewalt nämlich richtet sich nicht gegen äußere Feinde, sondern gegen die Frau seines Bruders. Damit wird bereits zu Beginn ein bekanntes Erzählschema aufgegriffen und schließlich die Heiligung der Familie erzählt.39 Claudiusʼ Tyrannei wird mit der Beeinflussung durch den Teufel erklärt: der tievel scunt in alsus (V. 1256). Folglich kann er sein Begehren nicht steuern und kommt damit als Potentat nicht in Frage: er begie sô grôz unmâze nâh der frowen minne, daz er gezwîvelte ain tail an sînem sinne. (V. 1286–88) Er verhielt sich wegen der Frauenminne so unmäßig, dass er einen Teil seiner Sinne verlor.

Er wird zum »Aktant[en] des Teufels«40, dessen sich Mähthilt erwehren muss, was sie zunächst aber nicht kann. Der Druck, der auf ihr lastet, wird so groß, dass sich ihre Ausweglosigkeit schließlich in ihrem Traum entlädt, der Schreckliches verheißt. Mit dem Traum, der erst durch das drängende Werben des Claudius initiiert wird, erklärt sich die Abreise der Zwillinge nach Athen und die anschließende Suche der Mutter nach ihren Kindern. Dies ist mit Blick auf die gesamte Episode nicht widersprüchlich, sondern vor dem Hintergrund des Erzählschemas der unschuldig verfolgten Frau verständlich. Es handelt sich folglich nicht um inkohärentes Erzählen und auch nicht um ein »[I]rgendwie der Motivation«,41 sondern um eine klare Abfolge von Handlungen, in denen Mähthilt als vorbildhafte Frau fokussiert wird. Narratologisch wird dabei die ›abgewiesene Alternative‹42 – nämlich die Herrschaft des Claudius – über die gesamte Erzählung präsent gehalten. Claudius ist somit der Gegenspieler Faustinians, || 39 Zu Quellen und Struktur des Textes vgl. z. B. OHLY (Anm. 24), S. 74–84; HAGENLOCHER, ALBRECHT: Quellenberufungen als Mittel der Legitimation in deutschen Chroniken des 13. Jahrhunderts, in: Niederdeutsches Jahrbuch 102 (1979), S. 15–71; HENNEN, KARL-HEINZ: Strukturanalysen und Interpretationen zur Kaiserchronik, Köln 1973; PÉZSA, TIBOR FRIEDRICH: Studien zur Erzähltechnik und Figurenzeichnung der deutschen Kaiserchronik, Frankfurt a. M. [u. a.] 1993 (Europäische Hochschulschriften I,1378); STOCK, MARKUS: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst B und im König Rother, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 34–72. 40 MARTÍNEZ (Anm. 24), S. 92. Vgl. auch STACKMANN, KARL: Erzählstrategie und Sinnvermittlung in der deutschen Kaiserchronik, in: DERS.: Kleine Schriften, Bd. 1, hrsg. von JENS HAUSTEIN, Göttingen 1997, S. 51–69; STACKMANN, KARL: Dietrich von Bern in der Kaiserchronik. Struktur als Anweisung zur Deutung, in: DERS.: Kleine Schriften, Bd. 1, hrsg. von JENS HAUSTEIN, Göttingen 1997, S. 70–75. 41 Siehe oben, Anm. 37. 42 Zum Begriff vgl. STROHSCHNEIDER, PETER: Einfache Formen ‒ komplexe Regeln. Ein strukturanalytisches Experiment zum Nibelungenlied, in: HARMS, WOLFANG/MÜLLER, JAN-DIRK (Hrsg.): Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 43‒75, hier S. 49 und 58; SCHULZ, ARMIN: Fragile Harmonie. Dietrichs Flucht und die Poetik der ›abgewiesenen Alternative‹, in: ZfdPh 121 (2002), S. 390‒407, hier S. 391f.

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an dem die negativen Aspekte der Ausübung von Herrschaft verdeutlicht werden. Die Darstellung bedient sich der von Johannes von Salisbury beschriebenen Dichotomie von Gott und Teufel/Herrschaft des guten Fürsten und des Tyrannen. Die Figur des Tyrannen ist in der Faustinianepisode folglich notwendig, um gute Herrschaft erst zu beschreiben, und sie hat narratologisch eine wichtige Funktion. Der Tyrann ist auch hier derjenige, der gewaltsam herrscht, allerdings übt er in diesem Fall vor allem im privaten Bereich Gewalt gegen die Frau aus, indem er sie bedrängt. Genealogisch erweist er sich als die schlechte Alternative und wird somit nicht nur als (Ehe-)Mann, sondern auch als Regent des Reiches abgewiesen. Die Figur des Tyrannen ist in diesem Beispiel Teil des Erzählschemas der unschuldig verfolgten Frau; Tyrannei wird auf diese Weise literarisch verhandelt und in literarische Konstellationen überführt.

2 Jans von Wien Weltchronik: Nero In der Kaiserchronik tauchen weitere üble Herrscherfiguren auf. Als der Schlimmste von allen gilt Nero: der was der aller wirste man / der von muoter in dise werlt ie bekom (V. 4085f.). Trotz dieser Einstufung taucht der Begriff ›Tyrann‹ bzw. wüterich/wuotrîche als Zuschreibung für Nero in diesem Zusammenhang erstaunlicherweise n i c h t auf. Erst Jans von Wien, der die Kaiserchronik seiner Darstellung der Weltgeschichte, die er um 1280 verfasste, zugrundelegte, bezeichnet Nero als Tyrannen, und auch dies geschieht nicht direkt, sondern letztlich führt erst der Schreiber der Leipziger Handschrift der Weltchronik, die im 15. Jahrhundert entstand (Leipzig, Universitätsbibliothek, Rep. II. 116a), den Begriff in Bezug auf Nero ein. Dort heißt es: Nero der büetreich, ein ächter der christenhait, der chräwczt sand Peter und enthäwpt sand Pauls. Marcus ward in Allexandria gemortert. [Nero hat gereichsent dreyzehen jar und aindliff 43 monet da von Christ gepurd was siben und fümfczk jar.] (S. 456) Nero der Tyrann, ein Verfolger der Christenheit, der kreuzigte Sankt Peter und enthauptete Sankt Paul. Marcus wurde in Alexandrien ermordet. [Nero regierte dreizehn Jahre und elf Monate, siebenundfünfzig Jahre nach Christi Geburt.]

Der Schreiber des 15. Jahrhunderts bewertet also hier das Herrscherporträt und liefert Gründe für seine Zuschreibung: Nero gilt als Tyrann, weil er die Christen verfolgt und unter seiner Regentschaft Petrus und Paulus das Martyrium erleiden.

|| 43 Benutzte Ausgabe: Jansen Enikels Werke. Weltchronik und Fürstenbuch, hrsg. von PHILIPP STRAUCH, Hannover/Leipzig 1900 (MGH. Deutsche Chroniken 3).

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Diese Beurteilung durch den Schreiber erscheint am Ende der Episode, in der die Vita Neros entfaltet wird.44 In dieser Darstellung nimmt allerdings die Christenverfolgung weniger großen Raum ein, als die Bewertung zunächst vermuten lässt. Vielmehr wird der Blick stärker auf jene Greueltaten und Abscheulichkeiten Neros gelenkt, die ihn als Tyrann ausweisen.45 Diese sind es schließlich, die den Schreiber zu seiner Beurteilung führen. Und auf Neros Konto geht einiges. So wird er bereits als übel man eingeführt: Nâch dem herren Cayus besaz ein künic Rôm alsus, der was geheizen Nerô. des wurden die Rœmer unfrô, wan er was ein übel man. [...] er was ein æhter der kristenheit und was der êrst stœrær. (V. 22935–45) Nach dem Herrn Gaius herrschte ein König über Rom, der Nero hieß. Er stürzte die Römer ins Unglück, denn er war ein schlechter Mann. Er verfolgte die Christen, und er war der erste, der Rom zerstörte.

Ausführlich wird anschließend erzählt, dass Nero zum einen seine Mutter sezieren ließ, um zu sehen, wo er als Kind gelegen habe, zum anderen will er selbst ein Kind gebären und somit in die Rolle der Frau schlüpfen. Aufs Ganze gesehen, sieht Neros Vita in der Enikel-Chronik wie folgt aus:46 – Nero als Christenverfolger: V. 22935–50 – Nero und Seneca: V. 22951–23038 – Vivisektion Agrippinas: V. 23039–52 – Schwangerschaft und Krötengeburt: V. 23053–306 – Enthauptung der Fürstenkinder: V. 23307–432 – Neros Tod: V. 23394–432. In der Darstellung werden also mehrere Argumente zusammengebracht, warum Nero ein schlechter Herrscher war und nicht zur Herrschaft taugte. Insbesondere mit dem Motiv des Geschlechtertausches (Kinderwunsch) wird Neros Verhalten als contra naturam eingestuft, womit er der Vorstellung von vorbildhafter Herrschaft diametral gegenübersteht. Die Miniatur der Regensburger Handschrift (um 1360, siehe Abb. 1) ist eine der frühesten mittelalterlichen Darstellungen der Szene. Sie zeigt den Blick Neros in die geöffnete Bauchhöhle seiner Mutter. In Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts, in denen das Motiv häufiger auftaucht, wird auch die Darstellung des Innern der Bauch-

|| 44 Vgl. zur Darstellung Neros in der Wiener Weltchronik MIERKE (Anm. 26), S. 135–46. 45 Vgl. dazu auch Policraticus VIII,18. 46 Vgl. die ausführliche Tabelle bei MIERKE (Anm. 26), S. 139.

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Abb. 1: Nero seziert seine Mutter (Regensburg, Fürstl. Thurn und Taxische Hofbibl., Ms. Perg. III, fol. 131rb)

höhle differenzierter.47 In der Miniatur scheint Nero den Arzt, der die Vivisektion vornimmt, anzutreiben, wie der Griff an den Arm verdeutlicht. Das Narrativ von der Vivisektion dient der Stigmatisierung der Figuren. In die theologische Argumentation eingebunden, wurde übermäßiger Wissensdrang mit Überschreitung des göttlichen Ordo und Gottesferne gleichgesetzt und damit verurteilt.48 Die Verbindung der Vivisektion Agrippinas mit Neros Wunsch, selbst ein Kind zu gebären, in der Weltchronik greift zugleich in tradierte genealogische Muster ein. Nero will auch auf die Parthenogenese Einfluss nehmen und selbst für Zeugung und Geburt seiner Nachkommen sorgen. Damit steht er gegen das genealogische, dynastische Denken und bewegt sich wiederum außerhalb der Vorstellung von guter Herrschaft.

|| 47 Vgl. PARK, KATHARINE: Secrets of Women. Gender, Generation, and the Origins of Human Dissection, New York 2006, S. 153. 48 Vgl. MIERKE (Anm. 26), S. 137.

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Schließlich bringt er, nachdem verschiedene Ärzte zu Rate gezogen wurden, nur eine Kröte zur Welt. Zudem wird am Ende seiner Biographie betont, dass er alle Kinder seiner Vasallen töten lässt, um ihre Nachkommenschaft auszulöschen und auch sie an der Herrschaftsweitergabe zu hindern. Die Fürsten jedoch sinnen auf Rache, und Neros Vita gipfelt in einer Schlacht, in der er schließlich unterliegt. Diese Schlacht wird im Text mit Kriemhilds Fest im Hunnenland (V. 23372: Krîmhild hôchzît) verglichen, wodurch auf die Einladung der Burgunden an den Hunnenhof und den grausamen Untergang der Burgunden angespielt wird. Die Vita Neros gipfelt wie das Nibelungenlied in einem fatalen Untergangsszenario. Zugleich wird mit der Allusion auf Kriemhilds Rache noch einmal auf die Gewaltherrschaft, die Nero ausübte, verwiesen. Diese kann nur mit dem Tod des Tyrannen enden. Nero wird in der gesamten Darstellung der Weltchronik mit schweren Sünden belegt und als gewaltsamer Despot gezeigt, der sich an keine Gesetze hält. Dies weist ihn, folgt man Johannes von Salisbury, als Tyrannen aus: tirannus nil actum putat nisi leges evacuet et populum devocet in servitutem (VII,1; S. 304: »der Tyrann glaubt nur dann, seine Sache ans Ziel gebracht zu haben, wenn er sich der Gesetze entledigt und das Volk in die Knechtschaft stürzt«). Sein Wissensdrang führt ihn in liminale Situationen, die vor allem der Demonstration seiner willkürlichen Herrschaft dienen und mit seinem ungezügelten Begehren in Zusammenhang stehen.49 Folgerichtig wird er in der Leipziger Handschrift des 15. Jahrhunderts als Tyrann apostrophiert und gehört aufgrund der mehrfachen Grenzüberschreitungen und Verletzung christlicher Ordovorstellungen zu den schlechten Herrschern. Seine Tyrannei wird literarisch durch die Sektion der Mutter, die Krötengeburt und schließlich den Kindermord zum Ausdruck gebracht. Der Tyrann ist in diesem Text derjenige, der sich außerhalb des Ordo bewegt, abscheulich handelt und mit äußerster Grausamkeit gegen seine Untertanen vorgeht.

3 Fazit Mit Blick auf die hier in Rede stehenden Beispiele aus der volkssprachigen Chronistik lassen sich verschiedene Facetten des Tyrannen anhand seiner Gewaltherrschaft und der Frage, in welcher Weise er diese ausübt, nachzeichnen. Zunächst korrespondiert

|| 49 Johannes von Salisbury führt im Policraticus Nero als Beispiel für den Tyrannen an: Libidinibus quoque [Orosius: porro] tantis exagitatus es tut ne a matre quidem vel sorore ullave consanguinitatis reverentia abstinuisse referatur, virum in uxorem duxerit, ipse a viro ut uxor acceptus sit (VIII,18; S. 342: »Auch wurde der durch so große Lüste angestachelt, dass er sich, wie berichtet wird, nicht einmal seiner Mutter oder Schwester oder aus irgendeiner Ehrerbietung vor dem Band der Blutsverwandtschaft enthalten hat. Er habe einen Mann geheiratet; er selbst sei wie eine Frau von einem Mann zu Frau genommen worden«).

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der Tyrann mit dem vorbildlichen Herrscher; beide Typen benötigen im narrativen Kontext eine Projektionsfläche, auf der erst deutlich wird, was schlechte bzw. gute Herrschaft ausmacht. Die Tyrannei wird in der Chronistik folglich immer mit Bezug auf die gute Herrschaft entfaltet. Zudem zeigen die vorgestellten Beispiele, dass sich als Tyrann erweist, wer seine Gewalt, seine Macht oder sein Begehren, kurzum seine Affekte nicht angemessen kontrollieren kann. Jener ist für eine langfristige Herrschaft, die für das Wohl der Untertanen Sorge trägt, nicht geeignet. In den verschiedenen Texten findet dies Ausdruck in übermäßigem Morden, unmäßigem Begehren, zügelloser Kampfeslust oder abscheulicher Taten gegen Widersacher, Untertanen, gar gegen Verwandte. Der Tyrann überschreitet so Grenzen, die ihm als Herrscher vor dem Hintergrund des christlichen Ordo gesetzt sind. Nicht zuletzt hat der Tyrann auch aus narratologischer Perspektive eine wichtige Funktion, da er häufig als Gegenspieler des vorbildhaften Königs auftritt und damit für die Handlungsmotivation bedeutsam ist. Mit der Frage nach dem guten bzw. schlechten Herrscher ist auch die Frage nach der Herrschaftstauglichkeit, nach der Eignung des Einzelnen zur Herrschaftsausübung verbunden. Dieses Konzept der Idoneität wurde in der jüngeren geschichtswissenschaftlichen Forschung erneut aufgegriffen, wobei die »Legitimierung des jeweiligen Herrschers als Einzelperson«50 in den Fokus rückte.51 Mithin wurde vor allem diskutiert, was einen Akteur zum Herrscher befähigt. Diese sei ein Zusammenspiel aus persönlicher Eignung, genealogischer Anbindung und dynastischer Würde gewesen, wobei die »individuelle[] Qualifikation zum Herrschen«52 einen wichtigen Aspekt gebildet habe. Diese Eignung zur Herrschaft ist grundsätzlich auch dem Tyrannen nicht abzusprechen. Bei ihm allerdings geht es stärker um »moralische[] Qualitäten«53 und damit wiederum um die Frage, auf welche Weise Herrschaft ausgeübt wird. Mithin ist es bedeutsam, ob der Potentat auf die rechte Weise herrscht, ob er also, wie FRANK REXROTH definiert, »nach Maßgabe des gemeinen Nutzes handelt und Recht und Eigentum der

|| 50 ANDENNA, CRISTINA/MELVILLE, GERT: Idoneität – Genealogie – Legitimation. Überlegungen zur Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im hohen und späten Mittelalter. Eine Einleitung, in: DIES. (Hrsg.): Idoneität – Genealogie – Legitimation: Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im Mittelalter. Fachtagung »Idoneität – Genealogie – Legitimation. Überlegungen zur Begründung und Akzeptanz von Dynastischer Herrschaft im Hohen und Späten Mittelalter«, Köln [u. a.] 2015 (Norm und Struktur 43), S. 11–22, hier S. 12. 51 Vgl. ebd. sowie ANDENNA, CRISTINA: Idoneität und Performanz im Kontext umstrittener Herrschaftslegitimation, in: KLAUS OSCHEMA [u. a.] (Hrsg.): Die Performanz der Mächtigen. Rangordnung und Idoneität in höfischen Gesellschaften des späten Mittelalters, Ostfildern 2015 (Rank. Politisch-soziale Ordnungen im mittelalterlichen Europa 5), S. 33–54. 52 ANDENNA/MELVILLE (Anm. 50), S. 12. 53 ANDENNA (Anm. 51), S. 33.

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ihm Anbefohlenen«54 richtig behandelt. Für den Tyrannen ist dies entsprechend zu verneinen. Das Spektrum der Gewaltherrschaft des Tyrannen, das in den Texten in verschiedenen Facetten auserzählt wird, reicht dabei von der Christenverfolgung über den gewaltsamen Umgang mit Frauen bis zum Überschreiten der von Gott gesetzten Grenzen. Ohne dass in den Textbeispielen konkret auf einzelne Königsabsetzungen oder Wahlen Bezug genommen wird,55 lässt sich dennoch festhalten, dass die Literatur diese Problematik aufgreift und mit den ihr eigenen Verfahren in literarische Konstellationen überführt. Mit Blick auf die eingangs zitierte Scheltrede aus der Steirischen Reimchronik bleibt abschließend noch einmal hervorzuheben, dass in Anlehnung an den Policraticus des Johannes von Salisbury als Tyrann gilt, wer den geläufigen Herrschertugenden entgegensteht. Somit ist der Tyrann an die Dichotomie zwischen guter und schlechter Herrschaft gebunden; beide bedingen einander und sind erst in ihrer Dialektik greifbar. Diese Abhängigkeit bringen insbesondere die Beispiele aus der Kaiserchronik und der Weltchronik zum Ausdruck. So wird etwa im Prolog der Kaiserchronik bereits betont, dass zur Belehrung der Nachkommenschaft von den guoten und ubelen Herrschern (V. 19) die Rede sei. Der Verfasser der Steirischen Reimchronik hingegen nimmt mit seiner Invektive gegen Philipp IV. auch Bezug auf zeitgenössische Auseinandersetzungen und zeichnet den französischen König als »notorische[n] Rechtsbreche[r]«.56 Während der Kaiserchronist und zum großen Teil auch Jans von Wien sich mit den Porträts von Herrschern aus der Vergangenheit auseinandersetzen, um gute und schlechte Herrschertugenden bzw. allgemeine Verhaltensweisen im Kontext christlicher Moralvorstellungen darzustellen bzw. das Publikum daraus ableiten zu lassen, greift Ottokar aktuelle Ereignisse und Konfliktsituationen auf und nimmt dazu bewertend Stellung. Während Neros Tyrannei durch die literarische Tradition vielfach bezeugt und damit unhinterfragt ist, wird Philipp IV. durch Ottokars Scheltrede erst zum Tyrannen gemacht. Auch er erscheint als gewaltsamer Despot, der seine Macht missbraucht und deshalb als Inbegriff des schlechten Herrschers im kollektiven Gedächtnis verhaftet bleibt.

|| 54 REXROTH, FRANK: Tyrannen und Taugenichtse. Beobachtungen zur Ritualität europäischer Königsabsetzungen im späten Mittelalter, in: HZ 278 (2004), S. 27–53, hier S. 38f. 55 Zu konkreten Beispielen vgl. ebd. S. 34–43. 56 JOSTKLEIGREWE, GEORG: Das Bild des Anderen. Entstehung und Wirkung deutsch-französischer Fremdbilder in der volkssprachlichen Literatur und Historiographie des 12. bis 14. Jahrhunderts, Berlin 2008 (Orbis mediaevalis 9), S. 239.

Mathias Herweg

Gute Kaiser sterben, böse auch – nur anders Zur Narrativierung von Tyrannis in der Kaiserchronik

1 Zum Tyrannenkonzept und -begriff um 1150 Was im Zeichen höfischer Kultur1 um 1200 als gutes und schlechtes Regieren gilt, lässt sich für das Gelehrtenmilieu den einschlägigen normativen Textsorten entnehmen: politisch-standesethischen Traktaten, der Korrespondenz von Königen und Räten, Fürstenspiegeln und anderem mehr.2 Ihnen allen ist gemein, dass sie Tugenden und Laster, gute und abschreckende exempla trennscharf (denn das ist ihre Funktion) sortieren, dabei auf zeitlose Normen rekurrieren und diese wieder auf je aktuelle Belange beziehen, schließlich: urteilen und ermahnen. Die Bibel bietet die zentralen Kriterien,3 dazu eine Überfülle an exempla, positive (David, Salomo) wie negative (Saul, Jeroboam, Antiochus Epiphanes).4 Davon ausgehend hatte schon an der Epochenschwelle zum Mittelalter Augustinus die wesentlichen Maßstäbe für zeitgemäße christliche Herrschaft gesetzt. Er und viele der von ihm beeinflussten Autoren entwickeln das Ideal auch aus der Negation heraus, beschreiben gute Herrschaft mithin als Abwesenheit von Eigenheiten (und Wirkungen) der schlechten. Umgekehrt skizziert um 1150 Johannes von Salisbury schlechte als Inversion guter und rechter Herrschaft: Habet enim et res publica impiorum caput et membra sua, et quasi civilibus institutis legittimae rei publicae nititur esse conformis. Caput ergo eius tirannus est imago diaboli; anima heretici scismatici sacrilegi sacerdotes et, ut verbo Plutarchi utar, praefecti religionis, impugnantes legem Domini; cor consiliarii impii, quasi senatus iniquitatis; oculi, aures, lingua, manus inermis, iudices et leges, officiales iniusti; manus armata, milites violenti, quos Cicero latrones appellat; pedes qui in ipsis humilioribus negotiis praeceptis Domini et legittimis institutis adversantur. 5 (VIII,17)

|| 1 Mit Verwendung dieser Formel sei verwiesen auf BUMKE, JOACHIM: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986, vgl. hier unter anderem Kap. VI (zur Hofkritik). 2 Vgl. zur Tradition SCHROEDER, KLAUS-PETER: Art. Fürstenspiegel, in: 2HRG, Bd. 2 (2008), Sp. 1905f.; ANTON, HANS HUBERT: Art. Fürstenspiegel, in: LexMA, Bd. 4 (1989), Sp. 1040–58; DERS.: Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit, Bonn 1968 (Bonner Historische Forschungen 32). 3 So das Königsgesetz in Dtn 17,14–20; Paulus über die staatliche Obrigkeit in Röm 13,3–7. 4 Besonders einschlägig sind hier naturgemäß die Bücher Könige (1 Kön, 2 Kön) und Chroniken (1 Chr, 2 Chr), doch auch Makkabäer (1 Makk, 2 Makk). 5 Benutzte Ausgabe (mit Übers.): Johannes von Salisbury: Policraticus. Eine Textauswahl. Lateinisch – Deutsch, ausgew., übers. und eingel. von STEFAN SEIT, Freiburg i. Br. [u. a.] 2008 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 14), hier S. 310–13. Zum organologischen Herrschafts- und zum Tyrannenhttps://doi.org/10.1515/9783110752373-007

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Auch das Gemeinwesen der Gottlosen hat nämlich sein Haupt und seine Glieder, und es ist bestrebt, hinsichtlich seiner gleichsam bürgerlichen Einrichtungen dem rechtmäßigen Gemeinwesen gleichgestaltig zu sein. Sein H a u p t ist nämlich der Tyrann, das Abbild des Teufels; seine S e e l e bilden die häretischen, schismatischen und gotteslästerlichen Priester und, um eine Formulierung des Plutarch zu gebrauchen, die Vorsteher des Götterkultes, Leute, die gegen das Gesetz des Herrn kämpfen. Das H e r z sind gewissenlose Ratgeber, gleichsam ein Senat der Unbilligkeit. Als A u g e n und O h r e n , als Z u n g e und als u n b e w a f f n e t e H a n d , also als Richter und Gesetze, fungieren ungerechte Beamte. D i e b e w a f f n e t e H a n d sind gewalttätige Soldaten, die Cicero Räuber nennt. D i e F ü ß e bilden diejenigen, die in ihren nachrangigeren Geschäften den Vorschriften des Herrn und den rechtmäßigen Einrichtungen widerstreiten.

Als Inbegriff schlechter Herrschaft figuriert bei Johannes, wie meist seit antiken Zeiten, der Tyrann. Um andere aristotelische Verfallsformen der Herrschaft muss es hier nicht gehen. Antiker Sprachgebrauch grenzt den tyrannos bzw. tyrannus begrifflich vom basileús (dem legitimen König) und vom modern meist synonym verwendeten despótes ab, der sich ursprünglich auf den unpolitischen Bereich des Hauses (die Herrschaft des Hausherrn über seine familia) bezog.6 Zentrales Typenmerkmal ist die von ius und mos maiorum gelöste, unkontrollierte Herrschaft. In der römischen Republik wurde der Begriff zum antimonarchischen Topos,7 der über den Niedergang der Republik und Roms hinaus fortwirkte, weil die einschlägigen Autoren und Stoffe im Mittelalter populär blieben. Zuerst als Fremdwort, dann als Lehnwort fand der Tyrann schließlich auch ins Deutsche.8 Einen der ersten literarischen Belege9 bietet Ulrich von Etzenbach im Alexander-Anhang (um 1300), signifikanterweise inseriert in ein Mahnschreiben Aristoteles’ an Alexander; und schon hier steht der lange diskursprä-

|| konzept bei Johannes vgl. OTTMANN, HENNING: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 2,2: Das Mittelalter, Stuttgart 2004, S. 104–17, hier S. 109–13 (mit weiterführender Literatur, vgl. S. 116f.); LANGDON FORHAN, KATE The Uses of ›Tyranny‹ in John of Salisbury’s Policraticus, in: History of Political Thought 11 (1990), S. 397–407. 6 Erst Aristoteles überträgt despotía auch auf den Bereich der Polis. Zur Abgrenzung vgl. MANDT, HELLA: Art. Tyrannis, Despotie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6 (1990), S. 651–706, hier S. 654, mit weiterführender Literatur. Zum antik-mittelalterlichen Tyrannenkonzept vgl. auch COBET, JUSTUS: Art. Tyrannis, Tyrannos, in: Der Neue Pauly, Bd. 12/1 (2003), Sp. 948–50; FRIEDEBURG, ROBERT V.: Art. Tyrannis, in: Der Neue Pauly, Bd. 15/3 (2003), Sp. 685–94 (Rezeption des antiken Konzepts); MIETHKE, JÜRGEN: Art. Tyrann, -enmord, in: LexMA, Bd. 8 (1997), Sp. 1135–38. 7 Vgl. MANDT (Anm. 6), S. 658–60. 8 Zur komplexen volkssprachigen Begriffs- und Diskursgeschichte vgl. neben MANDT (Anm. 6), vor allem S. 661–70, auch KIPF, JOHANNES KLAUS: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses in die deutsche Sprache und Literatur (14.–17. Jahrhundert), in: KÄMPER, HEIDRUN/KILIAN, JÖRG (Hrsg.): Wort – Begriff – Diskurs. Deutscher Wortschatz und europäische Semantik, Bremen 2012 (Sprache – Politik – Gesellschaft 7), S. 31–48. 9 Quelle: Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank, Suchbegriff ›Tyrann(us)‹, online unter: http:// mhdbdb.sbg.ac.at/mhdbdb/App (Abrufdatum: 13.11.2018); dort vier Belege.

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gende Konnex von Tyrannis, Legitimitätsdefizit und über die bloße Notwehr hinausgehendem Widerstandsrecht10 im Raum. Der Umgang mit Tyrannen ist so von Beginn an zentraler Teil des Redens über und des Erzählens von Tyrannen: Dem geborn vürsten nieman vürsten reht genemen kan noch vürstenlich erbeschaft noch angevallen hêrschaft: niur daz eine, ob er sî sînem volc sô arger bî, ein t y r a n n u s ungereht: er briht sich selber, daz ist reht, mit rehte welt man in dar abe. ist daz er süne habe, von natiurlîcher erbeschaft 11 die besitzen die hêrschaft (V. 1133–44). Dem rechtgeborenen Fürsten kann niemand seine fürstliche Legitimität, Erbschaft und ererbte Herrschaft nehmen, außer dem einen, wenn er als zügelloser Tyrann unter seinem Volk haust. Dann spricht er sich selbst das rechtmäßige Urteil, man wählt ihn mit Recht ab und wenn er erbberechtigte Söhne hat, übernehmen diese die Herrschaft.

1.1 Der Fall Kaiserchronik Das Deutsche kennt also bis um 1300, und so auch zu Johannes’ von Salisbury Zeiten, den Tyrannenbegriff noch nicht. Es kennt aber sehr wohl das damit Bezeichnete. Die nächsten Äquivalente stammen aus dem derivativen Feld von wuot: wüeterîch, wuotgrimme, wüetegôz etc.12 Sie begegnen in der hier einschlägigen Bedeutung mehrfach in einem Werk, das als ältester großepisch-nichtbiblischer Text im Deutschen gilt und zugleich ein weites Spektrum tyrannischer Phänotypien aufweist: der um 1146 in oder bei Regensburg entstandenen Kaiserchronik.13 Grundsätzlich gelten die wuot-Belege in diesem Zusammenhang Heiden oder Ketzern. Mit der Durchsetzung der christlichen Orthodoxie im Reich verschwinden sie, obwohl es weiterhin Kaiser gibt, auf die sie || 10 Vgl. dazu KERN, FRITZ: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, Darmstadt 1967; MIETHKE (Anm. 6), Sp. 1137f. 11 Benutzte Ausgabe: Ulrich von Eschenbach [sic!]: Alexander, hrsg. von WENDELIN TOISCHER, Tübingen 1888 (BLVS 183). Wenn nicht anders angegeben. Hier und im Folgenden eigene Übersetzungen. 12 Zur Beleglage: http://mhdbdb.sbg.ac.at/mhdbdb/App; http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/ wbgui_py?sigle=Lexer&lemid=LO00006 (Abrufdatum: 13.11.2018). 13 Benutzte Ausgaben: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, München 1892 (MGH Deutsche Chroniken 1,1); kommentierte Auswahledition mit Übersetzung: Die Kaiserchronik. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, übers., komm. und mit einem Nachw. vers. von MATHIAS HERWEG, Stuttgart 2014 (im Nachwort orientierende Informationen zu Autor und Werk).

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passten. Der ›Wüterich‹ bleibt bis an die Schwelle der Neuzeit terminus technicus für den heidnischen Tyrannen und Christenschlächter: Noch der Titel des Mauritius von Craûn im Ambraser Heldenbuch Hans Rieds (abgeschlossen 1516) benutzt ihn so selbstverständlich für Nero wie der Kaiserchronist für dessen Konsorten, und Ried liefert die krudesten Merkmale gleich mit: Von kunig Nero einem Wuettrich. der auch wie ein fraw Swannger wolt sein. Vnnd sein Mueter aufschneiden liess vmb seins furwitz willen etc. Auch wie er Rom zerstoeret (Tabula, fol. 1r).14 Unter den insgesamt gut 60 Herrschern, die die Kaiserchronik von Caesar bis zum ersten Staufer Konrad III. zu Lebzeiten des Dichters aufführt (Doppelviten eingeschlossen), sind 17 eindeutig als Tyrannen markiert (auf die Art der Markierung ist am Ende zurückzukommen). So vielfältig die Tyrannenprofile, so weit ist das Feld der Reaktionen auf sie. Manche werden ertragen, manche früher oder später beseitigt, sei es durch Volkszorn (z. B. Nero und Gallienus), Privatrache (Tarquinius), Usurpation (Vitellus), Rebellion (Severus), Familienkrieg (Heinrich IV.) oder direktes göttliches Eingreifen. Ein einziger, Justinianus, lässt sich durch Lehre bekehren, fällt dann aber in Verfolg alter Gewohnheiten einem Racheanschlag zum Opfer.15 Doch so grausam der Tod auch sein mag, nahezu nie lassen Erzählersympathie und poetische Gerechtigkeit Mitleid mit dem Tyrannen aufkommen. Der Kaiserchronist hat insofern eine immanent klare Antwort darauf, wie weit man im Widerstand gegen Tyrannen gehen darf. Fast zeitgleich gibt Johannes von Salisbury diese Antwort auch ›theoretisch‹, indem er aus mehreren antiken exempla die Legitimität des Tyrannenmords ableitet.16 Was unabhängig von der Begriffsgeschichte ein Tyrann sei und gegebenenfalls Widerstand legitimiere, legen normativ die eingangs genannten Textsorten dar. Ein topisches Indizienbündel bilden dabei: – ›Machterschleichung‹ durch Usurpation (statt durch das Recht der Wahl oder des Geblüts); – selbstherrliche Herrschaft (statt mit Rat und Beistand der Besten und Großen); – Günstlingswirtschaft und Nepotismus (statt Respekt vor Eignung und Stand); – Machterhalt durch Bünde mit ständisch Subalternen, Landfremden oder Glaubensfeinden (statt im Konsens des gesamten Herrschaftsverbandes); – Duldung und Förderung von Intrigen und Verrat (statt Anhörung aller Betroffenen und offenem Konfliktaustrag);

|| 14 Zitiert ist aus dem Digitalisat, online unter: http://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer.faces?doc= DTL_3332756&order=1&view=SINGLE (Abrufdatum: 03.04.2019). 15 Vgl. zu allen Genannten mit Blick auf die Quellen nach wie vor OHLY, ERNST FRIEDRICH: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Darmstadt 1968 [zuerst Münster 1940]. 16 Vgl. NEDERMAN, CARY J.: A Duty to Kill: John of Salisbury’s Theory of Tyrannicide, in: Review of Politics 50 (1988), S. 365–89; ROUSE, RICHARD H./ROUSE, MARY A.: John of Salisbury and the Doctrine of Tyrannicide, in: Speculum 42 (1967), S. 693–709.

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Lust an Grausamkeit und Demütigung (statt Großmut oder auch leidenschaftsloser Härte); – schließlich, alles Vorangehende inkludierend, die Verworfenheit an Triebe jedweder Art: materielle (avaritia), leibliche (gula) und sexuelle (luxuria), samt ungehemmter Neigung zu entsprechenden Übergriffen.17 Zu diesen gleichsam zeitlosen Lastern tritt spät- und nachantik das Heiden- und Ketzertum hinzu, dem die Kardinaltugend der pietas kontrastiert. Pietas muss, wie heidnische exempla von Eneas über Alexander bis Titus oder Trajan zeigen, auch für christliche Autoren nicht zwingend christlich sein, wenn sie (ante gratiam) mit der ›Gnade‹ der ignorantia Dei einhergeht. Wer aber nach der konstantinischen Wende noch Heide ist, wie in der Kaiserchronik Cosdras, oder zum Heidentum zurückkehrt, wie Julian, wird unweigerlich zum Tyrannen. Die ›klassische‹ Gegen- oder Korrespondenzfigur ist nun aber nicht mehr so sehr der selbstlose Heros, der stoische Weise oder die unschuldig verfolgte Frau aus den im Ursprung paganen exempla, sondern, später gipfelnd im barocken Trauerspiel, der Märtyrer.18 Wie dominant das Tyrannenkriterium der Religion alle anderen überlagern kann, bezeugt in der Kaiserchronik Gallienus (V. 7452–603). Züge des gleichnamigen römischen Kaisers (260–268 n. Chr.) und des griechischen Mediziners Galen (gestorben vor/um 216 n. Chr.) verbindend, bringt der kundige arzât und philosophus (V. 7454 bzw. 7475) eigentlich alle Anlagen für einen Idealherrscher mit in sein Amt. Indes pervertiert sein Christenhass diese Anlagen und weitet sich am Ende auf alles Lebende aus. Der Arzt nutzt sein Wissen für brutale Menschenversuche und für die Vergiftung des Flusses Tiber, aus dem die Römer ihr Trinkwasser beziehen; der Philosoph und Astrologe entgeht durch sein Ingenium der verdienten Rache, die ihn erst nach vielen neuen Opfern im zweiten Anlauf ereilt. Dass der Religionsaspekt n i c h t ausschlaggebend sein muss, belegt im gleichen Text Heinrich IV., der a l s C h r i s t alle sonst aufgeführten Tyrannen-Topoi ›bedient‹: Dô wuohs der chunich Hainrîch: vil harte versûmte er sich, hart er sich vergâhte. die vursten er versmâhte, er bespotte ie die edelen, den wîstuom liez er im enfremeden, unkûsce er sich underwant:

|| 17 Eine fast enzyklopädische Liste von Tyrannenlastern, die für viele stehen mag, enthält Alkuins Brief 18 an König Aethelred von Northumbria (793). Benutzte Ausgabe: MGH Epp. Karolini aevi II, hrsg. von ERNST DÜMMLER, Berlin 1895, S. 49–52, hier S. 50. 18 Vgl. eindrücklich BENJAMINs Studien zum barocken Märtyrerdrama (die Tradition reicht indes bis in die frühchristliche Apologetik zurück); BENJAMIN, WALTER: Ursprung des deutschen Trauerspiels [1925], hrsg. von ROLF TIEDEMANN, Frankfurt a. M. ²1982, S. 40–80 passim.

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er rait hovescen in diu lant, er hônde di edelen frouwen, die sîne liez er rouben. frîhait underwant er sich; vil dike saz er obe spil, so er solte rihten daz rîche (V. 16548–60). Damals wurde König Heinrich volljährig. Oft verhielt er sich unentschlossen, oft übereilt. Er behandelte die Fürsten geringschätzig, missachtete fortdauernd den Adel, trieb weise Berater vom Hof [oder: zeigte immer weniger Weisheit], handelte schamlos: In höfischer Manier ritt er aus und entehrte adlige Frauen; seine eigenen Vasallen ließ er berauben. Er nahm sich alle Freiheiten und saß sehr oft beim Spiel, während er regieren sollte.

Unzucht und Zügellosigkeit (frîhait), Jähzorn und Zorn, Übergriffe auf fremdes Gut, Missachtung des Adels, Bevorzugung Subalterner, Kriegstreiberei und Grausamkeit: Das vereint nahezu alles, was Herrschaftslehren und Fürstenspiegel seit der Antike an Tyrannenlastern kennen.19 Selbst der Christenverfolger bleibt nicht ganz aus, denn die Flankierung des Unholds durch eine Mutter, die zur Heidenkebse wird, und beider Kontrastierung durch den edlen und selbstlosen Kreuzritter Gottfried von Bouillon zeigen, dass der Kaiser die Christenheit in schwieriger Lage im Stich lässt und in seiner vornehmsten Aufgabe als Schützer des Glaubens versagt. So arbeitet er den Heiden im Heiligen Land direkt in die Hände. Das Nebeneinander der Fälle Trajan, Gallienus und Heinrich zeigt, dass der Tyrannendiskurs um 1150 religiös offen sein kann, aber nicht indistinkt ist.20 Ein Heide wie Trajan kann Gesinnungschrist sein und dafür sogar noch postum das Seelenheil verdienen, ein Christ wie Heinrich dagegen ist schlimmer als der ärgste Heidentyrann, e b e n w e i l er Christ ist.

1.2 Antik-mittelalterliche und lateinisch-volkssprachige Konstanten Der Vergleich eines relativ beliebigen Tyrannen in der Kaiserchronik mit einem relativ beliebigen Tyrannen in einer zeitgenössischen lateinischen Chronik oder bei einer antiken auctoritas führt zu zwei kulturell und kontextuell keineswegs selbstverständlichen Befunden: 1. Kriterien für und zumeist auch Urteile über Tyrannen sind im Kern unabhängig vom klerikalen oder (semi-)laikalen Kontext und vom je entsprechenden Idiom. Sie || 19 Zugleich besteht hier ein direkter Konnex zur harschen antiheinrizianischen Geschichtsschreibung und Traktatliteratur der Jahrzehnte des Investiturstreits (Lampert von Hersfeld, Libelli de lite). 20 Weiterführend sei auf die (zu) schematische Gruppierung der Herrscherprofile nach den Kriterien Religion und Qualitätsurteil bei NEUENDORFF, DAGMAR: Studie zur Entwicklung der Herrscherdarstellung in der deutschsprachigen Literatur des 9.–12. Jahrhunderts, Stockholm 1982, Kap. 2, verwiesen.

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sind auch unabhängig von Kategorien wie Quellentreue und historischer Authentizität. Ein punktueller Vergleich zwischen der Kaiserchronik und Ottos von Freising Chronica, beide um 1150 entstanden, ist bemerkenswert: Otto führt den Tyrannen Nero wie der deutsche Autor als »durch und durch verbrecherische[n] Mensch[en]« ein, dessen »Ruchlosigkeit sogar seinen Oheim Gajus Caligula übertraf« (III,15).21 Dann wechselt er zu den dieses Urteil beglaubigenden Taten. Den Tiefpunkt der sittlichen Verworfenheit und politischen Tyrannei bildet im Fortgang die im Apostelmartyrium gipfelnde Christenverfolgung. Nicht die Details, aber der Tonfall und das Gesamtbild entsprechen dem Analogpassus der Kaiserchronik, obwohl diese notorisch fragwürdige Anekdoten wie die Schwangerschaft und Froschgeburt hinzufügt und den Bericht narrativ, mitunter auch szenisch-dialogisch aufbricht. Es gibt, wie der Vergleich nahelegt, kein spezifisch lateinisch-klerikales oder vernakular-laikales Tyrannenkonzept, allenfalls gibt es (rare) Fälle wie Dietrich von Bern, deren Gesamtbewertung aus bestimmten Gründen (doch nicht unterschiedlicher Kriterien wegen) zwischen beiden auseinandergeht. 2. Der Tyrannendiskurs ist nicht nur synchron zwischen den um 1150 dominanten (Sprach-)›Kulturen‹, sondern auch makroepochal zwischen Antike und Mittelalter erstaunlich konstant. Wo Tacitus, Sueton, Otto von Freising und der Kaiserchronist merklich konform gehen, verliert die sonst allgegenwärtige Mediaevalisierung antiker Denkformen an Brisanz. Plotrekurrenzen und -differenzen sind dabei unerheblich, denn die Konstanz ist diskursiv, nicht narrativ: Suetons aus Caesarenwahn, angemaßter Göttlichkeit und einer Menschenverachtung, die sich zuletzt gegen das ganze Gemeinwesen richtet, gestrickte Skizze Caligulas ist in der Kaiserchronik schlicht auf mehrere Tyrannen (Nero, Cosdras, Gallienus) verteilt. Und wenn Sueton (wie ihm folgend auch Otto von Freising) die in der Kaiserchronik Gallienus zugeschriebene Geschichte über die Vergiftung des Tiber dem Caligula beilegt, dann ist das vielleicht für Quellenfragen wichtig, aber nicht für das Konzept der Tyrannis. Die epochenübergreifend gültigen Parameter docken die Kaiserchronik recht nahtlos an den antik-spätantiken Herrschaftsdiskurs an, der sich in ihr mit den veränderten Aushandlungsfeldern des Feudalverbands leicht vereinbar erweist.22 Auch produktive Dichotomien wie die zwischen Tyrann und klugem Rat (z. B. Nero und

|| 21 Benutzte Ausgabe: Otto von Freising: Chronica sive historia de duabus civitatibus, hrsg. von WALTHER LAMMERS, übers. von ADOLF SCHMIDT, mit einem Literaturnachtrag von HANS-WERNER GOETZ, Darmstadt 2011, S. 242f.: vir omnium flagitiosissimus, utpote qui et Gaium Galigulam avuneulum suum nequitia transcenderet. 22 Das Fazit deckt sich mit der allgemeinen Beobachtung von KERN, MANFRED/EBENBAUER, ALFRED (Hrsg.): Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, Berlin/New York 2003, S. LVII: Grundsätzlich gelte, »dass jene Gestalten, die die Geschichtsschreibung des Imperiums als positiv wahrgenommen hat, im Mittelalter christlich vereinnahmt werden (Ähnliches gilt für die auctores wie Vergil, Ovid oder Seneca), diejenigen, die der damnatio memoriae verfallen sind, aber zusätzlich noch die christliche Verdammung erfahren.«

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Seneca, Severus und der bairische Ratgeber, Justinian und Tarsilla), unschuldiger Frau (Tarquinius und Lucretia, Claudius und Mähthilt, Dietrich und Crescentia), Rebell (Porsenna und Scaevola, Vitellus und Odnatus, Severus und Adelger) oder Märtyrer (einer Idee: Nero und Seneca, Caracalla und Papinian; des Glaubens: Decius und Laurentius und viele andere mehr) schreiben sich nachantik leicht in neue Plots hinein fort.

2 Vom Reiz und der Schwierigkeit, Tyrannei zu erzählen: Eine Leseanleitung 2.1 Diskursive Klarheit und narrativer Überschuss Die normativ und didaktisch angelegten, im Regelfall klerikal-lateinischen Texte unterscheiden sich von der volkssprachigen Literatur und Chronistik in e i n e m Punkt kaum: Auch sie haben am biblisch u n d antik geprägten Diskurs teil, der regelt, was Tyrannei sei und wie man mit ihr umzugehen habe. Sie unterscheiden sich aber auch im ›Sitz im Leben‹ wenig: Beide Textsorten sind Teil und Ausdrucksform der gleichermaßen höfischen Kultur, zielen auf höfische Akteure und stehen im Dialog miteinander. Und dennoch sind sie grundverschieden durch den Grad diskursiver Konsistenz und die Art der Vermittlung. Zwar verstehen sich auch Chroniken oder Romane der Zeit als exemplarisch, doch tangieren hier narrative Überschüsse die Lehre, konterkarieren sie bisweilen sogar.23 Narrativierte exempla oszillieren zwischen didaktischer Statik und Erzähldynamik. Frühe volkssprachige Epik, sei sie chronistisch oder ›romanesk‹ (was oft eher eine Frage moderner Titelgebung als zeitgenössischer Geltung ist), bezieht dabei schon aufgrund der adaptierten Quellen und Genremodelle eine vermittelnde Position zwischen der gelehrten Welt, in der ihre Autoren wurzeln, und der höfisch-laikalen Kultur, für deren Eigenwert und Geltung sie eine wichtige Rolle gewinnen. Ihr Anspruch auf Historizität schließt Fiktionen nicht aus, doch auch das Fiktive versteht sich dabei als wahr, rekurriert auf geglaubte res gestae, ist nicht nur lehrkompatibel konstruiert wie in genuiner Didaxe. Seit Aristoteles haftet der historia denn auch ein Makel didaktischer Unzulänglichkeit und Unzuverlässigkeit an, gegen den selbst Ciceros magistra vitae-Behauptung nicht leicht ankommt: Wer die Geschichte zur Lehrmeisterin adelt, muss über vieles hinwegsehen oder vieles erst zurichten, denn an sich lehren die Zu- und Wechselfälle irdischen Geschehens ja nur dessen Kontingenz. Noch stärker als die irdischen mutationes und mutabilitates, die schon Otto von Freising programmatisch erörtert, dynamisiert aber die Darbietungsform jede zeitlos stabile Lehre. Man kann ›die‹ Ge-

|| 23 Vgl. grundsätzlich FRIEDRICH, UDO: Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik, in: Poetica 47 (2015), S. 1–24, hier vor allem S. 11f.

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schichte, wie Ottos Widmungsepistel an Kaiser Friedrich I. vermerkt,24 unterschiedlichen modi unterwerfen, weil Ereignisse eben nicht a u f gezählt, sondern sinnstiftend a u s erzählt werden. Der narrative Duktus stellt Sinn, Kausalität und Spannung her, wo an sich keine sind, und er unterminiert sie zugleich durch Überschüsse und Brüche. Eindeutige Lehre ist im Erzählen nur vermittelt zu haben, und sie wirkt, wo sie explizit wird, nicht selten aufgesetzt und ungedeckt. Die Kaiserchronik und ihre Tyrannen bieten dafür Belegmaterial in Fülle.

2.2 Dummer Tyrann und kluges Opfer: Hilfen zum rechten Verstehen Die narrativ vermittelte Lehre bedarf der E r - mittlung durch versierte Lektüre, bedarf entsprechend sensibler (und vom Text sensibilisierter) Hörer und Leser. In den Anfängen volkssprachigen Erzählens um die Mitte des 12. Jahrhunderts muss sich die Literatur ihr Publikum erst in diese Richtung erziehen. Der Kaiserchronist verwendet darauf viel Sorgfalt, gibt er doch in einer mehrfach geschachtelten Erzählung eine Art narrativiertes ›Didascalicon ad studium legendi‹ an die Hand (um den ebenfalls um 1150 anzusetzenden Titel Hugos von St. Victor zu entlehnen), ein exemplarisches Lehrstück also im rechten Verstehen, bei dem gerade nicht, wie es der Chronist nennt, ainvaltege (V. 6924), das heißt einsinnig wortwörtliche Lektüre, sondern Sensibilität für die subtilere Wahrheit zwischen den Zeilen und Buchstaben gefragt ist. Vorab sei der Kontext des Lehrstücks umrissen (Severus-Abschnitt, V. 6622–7135): Erzählt wird von einem Baiernherzog Adelger, der vil dike wider rômischem rîche gehandelt habe (V. 6627f.) und darauf vom Kaiser einbestellt wird. Der Name des Kaisers bezeichnet weniger den historischen Septimius oder Alexander Severus als den topisch ›Strengen‹, der einem ›Edlen‹ entgegentritt. Nach demütigender Bestrafung kehrt Adelger aus Rom in seine Heimat zurück. Bald wird er ein weiteres Mal, nun grundlos, vorgeladen. Durch eine subtile Geschichte gewarnt, zieht er es vor, zum Rebellen zu werden. Er führt ein großes bairisches Heer gegen den Kaiser und siegt triumphal. Anders als sein späterer Landsmann und Standesgenosse Herzog Ernst trägt Adelger also eine initiale Schuld, die sich erst im Erzählen sukzessiv zum Kaiser hin verschiebt: Severus ist nicht nur streng, sondern mit der zweiten Vorladung, die völlig unbegründet auf Leben und Tod erfolgt (V. 6812–21), fraglos auch tyrannisch, so dass der Widerstand gegen ihn legitim ist. Sein betont unheroischer Tod am Rande der Schlacht (er wird ohne Waffe und Gegenwehr erschlagen; V. 7124–28) bestätigt die gegen die Logik einer Reichschronik gerichtete Rechtmäßigkeit der Empörung auch ex eventu: Die womöglich anfängliche Sympathie des intra- und extradiegetischen Publikums für den Kaiser ist irreversibel verspielt. Und dies hängt nun eben || 24 Vgl. LAMMERS/SCHMIDT (Anm. 21), S. 4.

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auch – und vornehmlich – mit dem ›Lehrstück im richtigen Lesen‹ zusammen, das nun näher zu betrachten ist. In Form einer Fabel steht es im Zentrum der doppelt (von Chronikganzem und Abschnitt) gerahmten Geschichte: Ein Hirsch, so wird in Figurenrede erzählt, dringt wiederholt in einen umhegten Nutzgarten ein. Beim ersten Mal kommt er noch mit Blessuren davon, beim zweiten Mal überlebt er die eigene Dummheit dank der Vorkehrungen des Gärtners nicht und verliert überdies buchstäblich sein Herz, den Sitz des Verstandes, an eine diebische Füchsin. Das Geschehen erzählt zunächst der Gärtner, der den Hirsch erlegt hat, sich aber auf das fehlende Herz keinen Reim machen kann, seiner (klügeren) Gattin (V. 6912–21). Auf nächsthöherer Handlungsebene wird aus dem homodiegetischen Bericht eine Metadiegese und Fabel, die funktional als Warnexempel dient, nicht zweimal den gleichen Fehler zu begehen (vgl. V. 6936–55). Sie wird in verschiedenen Konstellationen am Kaiserhof und am Hof des Herzogs ›wiedererzählt‹, dabei von einigen Zuhörern nicht oder falsch, von anderen richtig verstanden. Derjenige, der die ›Moral der Geschicht‹ am folgenreichsten n i c h t versteht, ist Kaiser Severus. Auch und gerade dieses Nichtverstehen kennzeichnet ihn als Tyrannen, denn intellektuelle Trägheit ist bei Autokraten, die sich mit Sykophanten und Lobhudlern umgeben, ein (nicht nur epischer) Topos. Severus kann, von seiner Macht geblendet, in der verkappten Warnung der Fabel nichts als eine alte, unterhaltsame Geschichte sehen. Anders sein Gegenspieler: Der Baier bezieht das ihm hinterbrachte mære sofort auf sich selbst und nimmt es als Handlungsanweisung zu ›beherzter‹ Aktion. Statt der zweiten Vorladung durch den Kaiser zu folgen, zieht er in den Krieg gegen ihn. Der schmähliche Tod des Tyrannen ist so, recht besehen, doppelte Strafe für politisch-ethisches u n d exegetisches Fehlverhalten, wobei das eine das andere bedingt: Die superbia verschließt des Tyrannen Ohr für das Subtil-Subversive, das dem ›Text im Text‹ innewohnt. Und es ist, wiederum recht besehen, sein intellektuelles Versagen, wovor der recht verstehende Hörer beziehungsweise Leser der Chronik, die die Fabel und ihre Rahmenerzählung inkludiert, gewarnt wird: Es ist dieses ein Wesenszug von Tyrannen, den man im Widerstand kühl kalkulierend ausnutzen kann. Immer wieder in der Kaiserchronik bewähren sich denn auch Eloquenz und List gegen missbrauchte Macht, so schon vor Adelger in der zum Herrschersturz führenden Rede der Lucretia (V. 4761–68), nach ihm in der Ortung und Bergung der Giftlade des Gallienus durch einen klugen Arzt (V. 7572–83) oder in der Turmintrige Crescentias gegen ihren mächtigen Verführer (V. 11518–30 und passim).

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3 Das Problem mit der Lehre 3.1 Doppelbödige Geschichte(n) Dem Prolog nach versteht sich die Kaiserchronik weniger als Chronik denn als Lehrdichtung und Exempelsammlung; und auch strukturell erinnert sie eher an die späteren Gesta Romanorum (ein Titel, den sie mit gutem Recht a u c h tragen könnte) als an spätere Reimchroniken. Die Herrscher werden im Prolog didaktisch effektiv, weil eindeutig, in guote und ubele geschieden (V. 20). Doch die scheinbar klare Dichotomie geht in praxi nicht auf, und das in doppelter Hinsicht: Erstens ist der (gute oder üble) Held nicht immer der Kaiser, dem der Abschnitt ›gehört‹, und zweitens wird das starre Schwarz-Weiß des Lehrprogramms von Erzähldynamiken und einander widerstreitenden Diskursen nur allzuoft in ein perspektivisches Chiaroscuro verwandelt, das den unbedarften (oder auf klare Lehre gepeilten) Hörer ratlos zurücklässt. Neben unstrittigen stehen so nur behauptete Tyrannen, neben geborenen Schurken solche, die erst das Umfeld dazu macht, neben exklusiv religiös definierten konfessionell ganz und gar indistinkte. Ja, es gibt Tyrannen, die keine einzige Ruchlosigkeit begehen, sondern nur kontaminiert werden durch das, was zu ihrer Zeit durch Dritte passiert. Das ist der Fall bei Gaius (›Caligula‹), einem Erzschuft schon bei den Antiken, der in der Kaiserchronik durch einen gottgesandten Blitzschlag umkommt (V. 1213–15). Getan aber hat er zuvor nichts, der ihm gewidmete Abschnitt handelt ausschließlich von einem jungen Römer, der sich freiwillig als Opfer hingibt, um den der Stadt zürnenden Gott Jupiter zu besänftigen, die gute Tat aber dadurch entwertet, dass er sich zuvor die Liebe aller Römerinnen ausbedingt, die er begehrt.25 Die Motivlage färbt hier offenbar metonymisch auf den rahmenbildenden Kaiser ab, nur bleibt das ungesagt. Gegenläufig liegt der Fall bei einem ›guten‹ Kaiser wie Nerva, in dessen Umfeld höchst Dubioses geschieht (V. 5686–832). Weder antike noch nachantike Überlieferung kennt Nerva als Tyrannen, der Chronist aber schreibt ihn in eine notorische Tyrannengeschichte ein. Wie unter anderem Ovid und Valerius Maximus überliefern, ließ sich Phalaris, der Tyrann von Akragas, einen bronzenen Stier schaffen, um seine Gegner darin bei lebendigem Leib zu rösten. Das erste Opfer ist der Künstler selbst. In der Kaiserchronik beerbt ausgerechnet Nerva diese Ausgeburt tyrannischer Bestialität. Aber die Adaptation verändert die bekannte Geschichte: Der Künstler bietet Nerva etwas an, das ihm überzeitlichen Ruhm verheißt. Erst als das Werk vollendet ist, verrät er dem Kaiser dessen barbarische Funktion. Das Ende entspricht wieder dem Prätext, doch durch die erwähnten Retuschen kehrt sich das Profil von Tyrann und Höfling, || 25 Zu der merkwürdigen Christuskontrafaktur dieser Figur vgl. HERWEG, MATHIAS: Geschichte erzählen. Die Kaiserchronik im Kontext (nebst Fragen an eine historische Narratologie historischen Erzählens), in: ZfdA 146 (2017), S. 413–43, hier S. 434f.

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Mäzen und Künstler auf den ersten Blick um: Aus dem Tyrannen- wird ein Moralexempel. Aber die Umwertung geht (wie im Fall Gaius) nicht ohne Brüche ab: Dass der Kaiser den Künstler als ersten verbrennt, kann zwar als Strafe für dessen Heimtücke oder für die ethisch-ästhetische Grenzüberschreitung gerecht anmuten; gleichwohl steht aber Nerva als Mäzen hinter dem ›Kunstwerk‹ und wird für jeden Kenner des antiken Prätextes auf Phalaris hin transparent. Wie kann er so noch zum Idealherrscher taugen? Die Frage ist: Fiel dem Dichter das auf, ja wollte er das, oder nahm er es nur hin, um in einer vorgegebenen Struktur mit vorgegebenen Namen schlicht möglichst viele gute Stories unterzubringen, ohne allzu wählerisch zu sein? Warum schrieb er dann aber jene Phalaris-Geschichte nicht einem echten Tyrannen wie Nero zu, statt sie gegen Quelle und Eigenlogik des Erzählten so markant gegen die Rolle zu besetzen und dabei semantisch zu verbiegen? Sind vielleicht der ›guten‹ Tyrannengeschichten (gemessen am erzählerischen Reiz von Reinheit und Tugend) einfach zu viele und der notorischen Tyrannen zu wenige, um sich auf sie zu beschränken? Oder ist die Verwischung der Grenzen das eigentliche konzeptionelle Prinzip? Beispiele wie Gaius und Nerva stehen jedenfalls für viele im Text. Sie sind wohl gar zahlreicher als die eindeutigen, gewissermaßen ›neronischen‹ Fälle, und sie dekuvrieren die Labilität des didaktischen Programms: Statt eingängiger exempla vagiert der Text durch eine summa von Versuchsanordnungen, die mitunter aufgehen, mitunter auch nicht, dabei oft in unziemliche Grauzonen und Abgründe führen, welche teils im Text selbst, teils in dem intertextuellen Bezügereichtum des Erzählten liegen. Dazu trägt die Quellenvielfalt bei, rekurriert der Autor doch auf pagane wie christliche, antike wie zeitgenössische, schriftliche wie mündliche Traditionen mit ihren je eigenen diskursiven Prämissen und Geltungsansprüchen. Aber es scheint die Polyvalenz doch auch so etwas wie sein Programm zu sein.

3.2 Historia magistra? Offenkundig ist der Chronist nicht nur an vorbildhaften oder abschreckenden Taten und Tätern interessiert, sondern sieht einen diffuseren Lehrwert seiner Geschichte(n) auch in der Frage, was eigentlich die Tyrannis mit den Tyrannen und den Tyrannisierten macht. In der Fürstenspiegelliteratur ist das Landeswohl unmittelbarer Ausdruck der Qualität einer Herrschaft: Wo Landschaften blühen und Völker prosperieren, herrscht kein Tyrann. Wo aber Feuer, Pest und Not quälen, muss man nach dem Schuldigen nicht fragen. Wohl am eindrücklichsten stellt diese Evidenz der Freskenzyklus des Ambrogio Lorenzetti in der Sala dei Nove des Palazzo Pubblico zu Siena vor Augen, eine Art bildgewordener Herrschaftsspiegel für den Rat der Kommune (1338/39): Die allegorische Fratze der Tyrannis verbindet sich hier mit den Horrorvisionen ihrer Wirkung in Stadt und Land: Mord, Brand und durch grau-braune Farbtöne markierte trostlose Ödnis (siehe Abb. 1 und 2).

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Abb. 1: Ambrogio Lorenzetti: Allegoria del Cattivo Governo (Ausschnitt: der Tyrann), Siena, Palazzo Pubblico, Bildquelle: https://it.wikipedia.org/wiki/File:Ambrogio_Lorenzetti_008.jpg (Abrufdatum: 02.07.2021)

Abb. 2: Ambrogio Lorenzetti: Effetti del Cattivo Governo (Ausschnitt), Siena, Palazzo Pubblico, Bildquelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5c/Ambrogio_lorenzetti%2C_effetti_del_ cattivo_governo%2C_siena%2C_palazzo_pubblico%2C_1337-1340.jpg (Abrufdatum: 02.07.2021)

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In der Kaiserchronik gibt es diese Logik auch; ihretwegen muss eben ein Gaius selbst gar nichts Böses tun, sondern es reicht der schlichte Evidenzerweis einer Feuersbrunst, die zu seiner Zeit über Rom hereinbricht, um ihn als Tyrannen zu diskreditieren. Doch so einfach wie der Maler und Didaktiker macht es sich der Chronist eben nicht, und dies aus zwei Gründen: zum einen, weil er Chronist ist, zum anderen, weil er erzählt. Der C h r o n i s t liefert sich (mit Otto von Freising) der opaken volubilitas und mutabilitas aller irdischen Dinge aus, unter deren Regiment Lohn oder Strafe oft über Gebühr auf sich warten lassen und dann schon nicht mehr den treffen, der sie verdiente: Das ist die genuin historische Bürde, die Lorenzettis allegorische Abstraktion ignorieren kann. Der E r z ä h l e r indes folgt rhetorisch-narrativen Regeln, die interpretatorische Spannungen und Widerspiele erzeugen. Es macht daher einen Unterschied, ob Johannes von Salisbury Nero als Beispiel für Tyrannei statuiert oder ob der Kaiserchronist Neros Tyrannei als zeitlichen, kausalen, finalen Prozess in Szene setzt. Das Erzählen von Tyrannen kann didaktisch frustrierend sein, eröffnet aber ein faszinierendes polyfunktionales Feld. Das erkennt ein so skrupulöser Chronist wie Otto von Freising an, wenn er im Widmungsschreiben seiner überarbeiteten Chronik über den modus tragediae sinniert, dessen er sich als Verfasser ex amaritudine animi (mit verbittertem Herzen, nämlich wegen der düsteren Zeitläufte seit Beginn des Investiturstreits) befleißigt habe und der ihn dazu verführt habe, jeden Abschnitt in einer Katastrophe enden zu lassen.26 Er hätte es auch anders machen können, will das heißen, und mit je anderen Lehren. Was Otto schreibt, ist beim Kaiserchronisten weniger klar reflektiert, aber doch impliziert. Er spricht nicht über solche Lizenzen narrativer Sinngebung, nimmt sie aber noch exzessiver in Anspruch und sorgt s t r u k t u r e l l dafür, dass sie mit jedem Abschnittsende stillschweigend wieder eingefangen werden und so, notfalls gegen den Geist der Erzählung, post festum didaktische Klarheit herrscht. Dieses massive Irritandum, das die Kaiserchronik dem modernen und gewiss auch vormodernen Leser aufnötigt, sei abschließend mit Blick auf die Polyvalenzfrage skizziert.

|| 26 An Kaiser Friedrich I. gerichtet, heißt es: Quod ante vos [gemeint ist Friedrich, M. H.] fuit, turbulentia inductos ex amaritudine animi scripsisse ac ob hoc non tam rerum gestarum seriem quam earundem miseriam in modum tragediae texuisse et sic unamquamque librorum distinctionem … in miseria terminasse (LAMMERS/SCHMIDT [Anm. 21], S. 4); zum zugrundeliegenden Zeit- und Geschichtsbild Ottos vgl. HANS-WERNER GOETZ, Das Geschichtsbild Ottos von Freising, Köln/Wien 1984; mit Bezug auf die Kaiserchronik auch HERWEG (Anm. 25), S. 439–43.

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4 Buon e Cattivo Governo – die Makrostruktur versucht sich in Klarheit. Merke: Böse ist, wer böse umkommt Die Kaiserchronik besteht, vom Prolog und der Exposition der kultischen Ursprünge Roms abgesehen, aus 53 geste-artigen Abschnitten; etwas höher ist die Zahl der auftretenden Kaiser, da es auch Doppel-gestes gibt. Die in der Überlieferung beeindruckend stabile Makrostruktur ist nur zu Beginn und für den mittelalterlichen Teil cum grano salis historisch. Im Regelfall bestimmen andere, und zwar narratologische-literarische Kriterien über Auswahl, Ein- und Anordnung der Kaiser.27 Es handelt sich dabei vornehmlich um Wiederholungs-, Steigerungs- und Kontrastbezüge, so zwischen Faustinianus, Nero und Tarquinius: dem Leidgeprüften, von Petrus Belehrten und Bekehrten folgt der übelste Christenfeind, diesem ein Unhold gegen die weibliche Würde, letztere beide mit üblem Ende; so auch zwischen Trajan, Philippus und Decius: dem heidnischen Herrscherideal folgt dessen christliche Vollendung, dem Gesinnungschristen der Märtyrer, beiden dann der ärgste Tyrann; so zwischen Julianus und Heraclius: dem Kämpfer wider das Kreuz folgt der Seelsorger und Kreuzritter; so schließlich zwischen Justinianus und Theodosius: beide sind Christen, doch wird der eine zum Adressaten einer Herrschaftslehre, der andere zu deren idealer Verkörperung. Die skizzierten Plots und die zwischen ihnen gestifteten subtilen Bezüge, nicht die leicht falsifizierbare series temporum und imperatorum, verbürgen auch die Logik der Lehre, die schon daher eine primär makrostrukturelle ist. Garantiert wird sie durch stereotype Eingangs- und Endformeln, die alle Abschnitte seriell rahmen. Scheinbar liefern sie chronikartige Fakten, referieren auf Quellen, nennen Umstände der Wahl und Thronsetzung, geben am Ende die Regierungsdauer und Todesart des jeweiligen Herrschers an. Dazu je zwei Beispiele, zunächst zum incipit-Schema, dann zum explizit-Schema: Daz buoch kundet uns sus, daz rîche besaz dô Tybêrîus, der gewan Rômæren michel êre. die wîsen redent, er behielte die sêle. (V. 671–74) Die Quelle berichtet uns, dass das Reich nunmehr Tiberius übernahm. Er gewann den Römern großes Ansehen. Die Gelehrten sagen, er habe [auch] seine Seele bewahrt.

|| 27 Vgl. STOCK, MARKUS: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst B und im König Rother, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 34–72; HERWEG, MATHIAS: Kohärenzstiftung auf vielen Ebenen. Narratologie und Genrefragen in der Kaiserchronik, in: LiLi 166 (2017), S. 281–302.

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Daz buoch kundet uns mêre: daz rîche besaz duo Nêre; der was der aller wirste man der von muoter in diese welt ie bekom. (V. 4083–86) Die Quelle berichtet uns weiter, dass nunmehr Nero das Reich übernahm. Der war der schlimmste Kerl, den je eine Mutter gebar. Der chaiser [...] [...] diente gote mit michelem flîze, er wonete an rômischem rîche rehte drîzech jâr – daz saget daz buoch vur wâr – und sehs mânode mêre. die engele von himele ladeten sîne sêle. (V. 10503–10; gemeint ist Constantin) Der Kaiser [...] diente Gott mit großem Eifer. Das Römische Reich hatte er genau dreißig Jahre und sechs Monate inne, wie die Quelle wahrheitsgemäß sagt. Himmlische Engel holten seine Seele. Dêcîus hiez der christenhaite slahen, daz wir ir nehain zale nemegen haben. die tievel in zebrâchen, die hêren marterâre si râchen. daz rîche hêt er vur wâr niwan ain jâr und zwêne mânode mêre; die tievel wîzzent sîn sêle. (V. 6443–50) Keiner kann die Menge der Christen beziffern, die Decius erschlagen ließ. Die Teufel zerrissen ihm den Leib und rächten so die heiligen Blutzeugen. Die Reichsgewalt hatte er wahrlich nicht mehr als ein Jahr und zwei Monate inne. Die Teufel martern seine Seele.

Indes trügt der faktuale Eindruck, denn die Rahmendaten stimmen meist ebensowenig wie das dazwischen Erzählte. Tatsächlich sucht der Chronist in diesen seriellen ›Modulen‹ das Dilemma zu meistern oder ihm zu entrinnen, das er sich durch das Inund Nebeneinander von doppeltem ›Lehrauftrag‹ (ethisch und historisch), narrativem Medium und behaupteter Quellen- und Faktentreue selbst eingehandelt hat: Er lagert die Lehre kurzerhand aus dem Erzählen in die Struktur aus, anders gesagt, er schafft sich mit der Struktur den Freiraum für ein von didaktischen Fesseln weniger gehemmtes Erzählen. Die Topik, die am Beginn und am Ende herrscht, scheidet ante und post rem jene Geister, die in re verwechselbar werden. Vor allem gilt dies für die Zensur e morte, die fast ausnahmslos einer dreiteiligen Regel zu folgen scheint: – Gute Herrscher kommen in den Himmel, böse überall hin, nur nicht in ein solides Grab; das Spektrum postumer Tyrannenheimstätten reicht von Burggräben über Vulkankrater und Nebelschwaden bis hin zur umweglosen Hölle. – Gute Herrscher sterben (mit Ausnahme der Märtyrer) ohne Schmerzen und ohne Zutun Dritter; Tyrannen sterben unnatürlich d u r c h Dritte (sei es durch ihrer Ex-

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zesse überdrüssige Institutionen wie den Senat, sei es durch mutige Bürger, Rächer, Usurpatoren oder Nebenbuhler), von eigener Hand oder durch Gott. Gute Kaiser werden ehrlich beklagt und würdig bestattet; über den Tod der Tyrannen freuen sich Volk wie Erzähler, ihre Überreste finden kein Grab, ihre Seelen keine Ruhe.

Anstatt mit schon in der oberflächlichen Lektüre leicht zugänglichen Beispielen für diese Beobachtungen will ich mit einer kleinen ›Statistik der Kaisertode‹ schließen. Von den 36 antiken Kaisern in der Kaiserchronik sterben 22 gewaltsam durch Mord, Selbstmord, irdische oder himmlische Strafen. Allein Philippus, der (ahistorisch) erste Christ auf dem Thron, stirbt als Märtyrer – der gewaltsame Tod ist hier rollentopisch anders konnotiert. 14 Kaisern ist ein natürlicher Tod vergönnt, ein Heidenkaiser erringt kontrastanalog zu Philippus postum das Seelenheil (Trajan). Die mittelalterlichen Herrscher sind zu oft mit allzu sparsamen oder zu indistinkten Angaben über Tod und Nachleben versehen, als dass die statistische Methode hier ähnlich verfinge (was indes auch ein instruktiver Befund ist). Der Konnex zwischen Ende und ethischer Bilanz eines Herrschers wurde in der Forschung früh gesehen.28 Er ist im Zeitkontext auch nicht singulär, denn ähnlich verfährt Johannes von Salisbury im abschließenden achten Buch seines Policraticus (cap. 18f.), wenn er die Todesarten der größten Tyrannen Roms listet und kommentiert (siehe Abb. 3, die den entsprechenden Verweis im Register der Uppsalaer Handschrift des Policraticus zeigt);29 als Quelle dient hier namentlich Orosius.

Abb. 3: UB Uppsala (Schweden), C 597 (Johannes Sarisberiensis, Policraticus), geschrieben 1377, Registereintrag: Tirannorum mala mors (Photographie: M. H.)

|| 28 Vgl. bereits OHLY (Anm. 15), S. 18–20. 29 Zur Handschrift vgl. HEDLUND, MONICA: Katalog der datierten Handschriften in lateinischer Schrift vor 1600 in Schweden, Bd. 1: Die Handschriften der UB Uppsala, 1. Text, Stockholm 1977, S. 22.

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Doch arbeitet der deutsche Chronist an dem seit Orosius geläufigen Usus produktiv weiter – und erst dies macht das für sein Tyrannenbild Spezifischere aus: E r s t e n s weitet er es auf Figuren aus, für die die Quellenlage in dieser Hinsicht nichts hergibt; er erfindet also im Zweifel die zur Herrschaft passenden Tode hinzu. Z w e i t e n s nutzt er es erwähntermaßen, um ausufernde erzählerische Lizenzen diskursiv einzufangen, so dass die Todesnachricht mitunter der einzige valide Hinweis auf die Verortung zwischen guot oder übele ist, während in anderen Fällen dem e morte-Urteil ein solches e gestis einspricht. D r i t t e n s schließlich systematisiert der Chronist das Zensurverfahren zur regelrechten Klimax, die vom natürlichen Tod (kein Tyrann) über Krankheit (vielleicht ein Tyrann), Mord (sicher ein Tyrann), Tod durch Blutsverwandte bis Gottesstrafe oder Selbstmord (Erztyrann) führt. Je grauenvoller oder grausamer der Tod (und der Umgang mit den sterblichen Resten), so lässt sich als Faustregel formulieren, desto höher der Rang auf der nach unten wie oben begrenzten Tyrannis-Skala. Auch eine solche Skalierung generiert Polyvalenz, wobei freilich die Polyvalenz der e r z ä h l t e n Tyrannengeschichten dann doch etwas spannender, oder schlicht: doppelbödiger, ist.

5 Anhang Liste der Tyrannen (fett), der uneindeutigen (recte) und der guten Herrscher (kursiv), ihrer Regierungszeiten und Todesarten in der Kaiserchronik:

5.1 Pagane Antike mit Zentrum Rom 1.230 Julius Caesar (Krieg und Bund mit den ›Deutschen‹): nach fünf Regierungsjahren ermordet, postum mit einer Ehrensäule gewürdigt, mithin kontradiktorischunentschiedene Indizienlage. 1.3 Augustus: nach 56 Regierungsjahren vergiftet, sonst keine klaren Tyrannis-Indizien. 1.4 Tiberius (Pilatus- und Veronicalegende): nach 33 Regierungsjahren vergiftet, Nähe zum Christentum, mithin uneindeutige Indizienlage. 1.5 Gaius (Iovinus-/Marcus Curtius-Sage): nach drei Regierungsjahren von göttlichem Blitzschlag getroffen, sonst keine Tyrannis-Indizien. 1.6 Faustinianus/Claudius (Clemenslegende): Faustinian entsagt nach unbestimmter Zeit dem Herrscher- und Weltleben, Claudius wird nach 13 Jahren vergiftet;

|| 30 Die laufende Ziffer bezieht sich auf die Abschnitte; der erste Abschnitt nach dem Prolog, die Tagesgöttersequenz, ist noch kaiserlos.

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Frauenverführer und Förderer eines Teufelsbündlers; Charakterisierungen: unmâze (V. 1286), wuotgrimme (V. 1319). 1.7 Nero: Selbstmord nach 13 Jahren und elf Monaten, Teufel holen seine Seele, Wölfe fressen den geschändeten Leichnam; Christenverfolger und Erztyrann, Inbegriff aller Laster; Charakterisierungen: der aller wirste man (V. 4085), ubeler kunig (V. 4114), grimmiger hêrre (V. 4130). 1.8 Tarquinius (Lucretiasage): nach drei Jahren und acht Monaten aus Rache ermordet; Frauenschänder; Charakterisierung: der ubermuotigeste man (V. 4303). 1.9 Galba/Piso: beide nach sieben Monaten vom Nachfolger ermordet, sonst keine Tyrannis-Indizien. 1.10 Otto (Otho): nach drei Monaten vom Nachfolger erschlagen; Charakterisierung: der verworfen Ottô (V. 4848), aber keine dafür einschlägigen Taten. 1.11 Vitellus (Scaevola-Mythe): Attentatsversuch scheitert; nach neun Monaten lebendig begraben, sonst keine belastbaren Tyrannis-Indizien. 1.12 Vespasianus (Jüdischer Krieg): natürlicher Tod (Krankheit) nach acht Jahren und zehn Monaten. 1.13 Titus (Clemenza di Tito): natürlicher Tod nach einem Jahr – tyrannische Gegenfigur Milian von Babylon (V. 5180: der aller wirste kunic). 1.14 Domitianus (Märtyrerlegenden): Aussatz, ertrinkt nach zwei Jahren und zwei Monaten im Tiber, Teufel holen seine Seele; Christenverfolger; Charakterisierungen: gotes widerwarte (V. 5559), æhtære der cristenhait (V. 5561), grimmiger man (V. 5576), der verworhte (V. 5647). 1.15 Nerva (Phalaris-Sage): Tod nach einem Jahr an Podagra (wie Nero), tief betrauert; uneindeutiger Fall vor der Folie des prätextuellen Tyrannen Phalaris! 1.16 Trajanus (Exempel der Witwe, Gregorlegende): natürlicher Tod nach 19 Jahren und zwei Monaten, tief beklagt; erfährt durch Einsatz von Papst Gregor für einen Heiden singulär postume Seelenrettung. 1.17 Philippus: Tod als Märtyrer nach sechs Jahren und sechs Monaten. 1.18 Decius (Mörder des Vorgängers, Laurentius- und andere Märtyrerlegenden): nach einem Jahr und zwei Monaten von Teufeln ›zerbrochen‹; Kaiserund Papstmörder, Christenverfolger; Charakterisierungen: fraislîch man (V. 6115), furore repletus (V. 6172), grimmiger man (V. 6151), cunic grimme (V. 6249). 1.19 Diocletianus/Maximianus (Mauritius- und andere Märtyrerlegenden): Diocletian wird erschlagen, Maximian begeht nach 20 Regierungsjahren Selbstmord; Christenverfolger; Charakterisierung beider: ubele wuotgrimme (V. 6453). 1.20 Severus (Adelger-Empörer-geste): nach sechs Jahren und sechs Monaten in Rebellion der Baiern erstochen; ungerechter Richter, intellektuell überfordert.

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1.21 1.22

1.23

1.24 1.25

1.26

Helius Pertinax: nach sieben Monaten in Privatrache erschlagen; Tyrannis-Indizien superbia, Gladiatorenkampf. Helius Adrianus (Neugründung Jerusalems als Hybris): nach elf Monaten erschlagen; superbia und Gottesstrafe als Tyrannis-Indiz: daz rach got sciere dâ (V. 7229). Lucius Accomodus/Gegenkaiser Alaricus: Lucius wird von Alaricus erschlagen, Alaricus nach fünf Jahren und sechs Monaten von eigenen Leuten vergiftet; Tyrannis-Indizien bei beiden. Achilleus/Gegenkaiser Postumus: nach neun Monaten ermordet; sonst keine Tyrannis-Indizien. Gallienus (kontaminiert mit Arzt Galen: Medizinersagen): nach vier Jahren erschlagen; Christenverfolger und Volksvergifter; Charakterisierungen: grimmiger hêrre (V. 7459), seine Ermordung gereicht den Rômæren ze êren (V. 7601f.). Constantius (Rebellensagen): natürlicher Tod nach 17 Jahren und fünf Monaten.

5.2 Christliche Antike mit den Zentren Rom/Konstantinopel 2.1

2.2

2.3

2.4 2.5

2.6 2.7 2.8

Constantinus (Silvesterlegende): natürlicher Tod nach 30 Jahren und sechs Monaten (Silvester: 24 Jahre und sechs Monate), Engel holen die Seele; gleichwohl fragwürdige Umstände der Gründung Konstantinopels. Julianus (Bocca della Verità-Sage, Mercuriuslegende): nach zwei Jahren und fünf Monaten durch Heiligen erstochen, Teufel holen seine Seele, wallt bis zum Jüngsten Tag ruhelos in einer Schwefelhöhle; Christenverfolger; Charakterisierungen: gotes widerwarte (V. 10637), ubel (V. 10849), vil grimme (V. 10890), wuoterîch (V. 10981). Heraclius (Kreuzlegende): nach 32 Jahren natürlicher Tod nach Krankheit – tyrannische Gegenfigur Cosdras von Persien (Zerstörer Jerusalems, Räuber des Heiligen Kreuzes, lässt sich als Gott verehren). Narcissus/Dietrich (Crescentiageschichte): Narcissus ohne Angaben, Dietrich entsagt nach acht Jahren und vier Monaten der Herrschaft und Welt. Justinianus (Fürstenlehre Tarsillas): nach sechs Jahren und sechs Monaten in Privatrache erstochen; bekehrter Tyrann, Ehebrecher; Charakterisierungen: truoch ze hôhe sînen muot (V. 12816), unmâze (V. 12838), bevangen mit hazze unt mit nîde (V. 12844f.). Theodosius (Siebenschläferlegende): natürlicher Tod nach 26 Jahren und sieben Monaten, Engel holen die Seele. Constantinus Leo (Stephanuslegende/-translatio): natürlicher Tod nach 30 Jahren, Grab neben Heiligen. Zeno (Dietrichsage): Dietrich wird durch Teufel in den Berg Vulkan gestürzt; Zeno stirbt nach 36 Jahren und fünf Monaten eines natürlichen Todes und

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2.9

wird in Konstantinopel bestattet; schwache Tyrannis-Indizien bei zugleich positiven Taten; Charakterisierung Dietrichs: ubel wuotgrimme (V. 14154). Constantinus: nach zeitlich unbestimmter Herrschaft geschändet und abgesetzt, sonst ohne Tyrannis-Indizien. Darauf folgt Thronvakanz.

5.3 Römisch-deutsche Ära, Zentren Donau und Rhein 3.1

Karl der Große (diverse Sagen und Legenden): natürlicher Tod nach 46 Regierungsjahren und neun Monaten; hymnisch gepriesen trotz einer unausgesprochenen Sünde. 3.2 Ludwig: ohne Angaben zum Tod nach 37 Regierungsjahren. 3.3 Lothar: Weltentsagung nach 17 Regierungsjahren. 3.4 Ludwig II. (schwacher König): ohne Angaben zum Tod nach 36 Jahren und drei Monaten. 3.5 Karl II. (Ricardislegende): Despot aus Schwäche, Verfolger weiblicher Unschuld; Amtsverzicht nach 11 Jahren, ohne Angaben zum Tod. 3.6 Arnulf (Klostergründer): ohne Angaben zum Tod nach 12 Regierungsjahren und fünf Monaten. 3.7 Ludwig III.: schwacher König (V. 15587: wênigez chint), stürzt nach 12 Regierungsjahren zu Tode: Selbstmord, Mord, Unfall? Sonst keine Tyrannis-Indizien. 3.8 Konrad: Empörer-geste, despotische Züge aus Schwäche; Krankheit und Tod nach sieben Regierungsjahren. 3.9 Heinrich (Heidenkrieg): ohne Angaben zum Tod nach 17 Jahren und einem Monat. 3.10 Otto (Heidenkrieg; Bistumsgründer): ohne Angaben zum Tod nach 38 Regierungsjahren. 3.11 Otto II.: schwacher König, Krankheit und Tod in Rom nach neun Regierungsjahren. 3.12 Otto III.: Empörer-geste; ohne Angaben zum Tod nach 18 Regierungsjahren und vier Monaten; Kindkaiser, doch keine Tyrannis-Indizien. 3.13 Heinrich II. (Bistumsgründer, Heiliger): nach 23 Jahren und zwei Monaten Tod und Grabeswunder. 3.14 Konrad II: ohne Angaben zum Tod nach 15 Regierungsjahren. 3.15 Heinrich III.: Krankheit und Tod nach 17 Regierungsjahren. 3.16 Heinrich IV.: Tod bei der Flucht vor dem Sohn nach 48 Regierungsjahren; Tyrann, Versager im Schutz der Christenheit; vernichtende Charakterisierung e gestis (V. 16548–561) – ideale Kontrastfigur Gottfried von Bouillon (Glaubenskrieger), farcehafte Komplementärfigur Agnes (Heidenkebse). 3.17 Heinrich V. (Zwist mit dem Papst und Lösung): ohne Angaben zum Tod nach 17 Regierungsjahren und sechs Monaten. 3.18 Lothar II. (Friedenssucher und Schlichter im Papstschisma): ohne Angaben zum Tod nach 12 Regierungsjahren und drei Monaten. 3.19 Konrad III.: Textende noch zu Lebzeiten beim Aufbruch zum Kreuzzug.

Julia Gold

Das Winnen des Herrschers Überlegungen zum Erzählen vom wahnsinnigen Tyrannen Nero in der Kaiserchronik

1 Wahnsinnige Herrscher – wahnsinnige Tyrannen? Herrscher können wahnsinnig1 werden. Wie ein solcher Herrscher-Wahnsinn narrativiert werden kann, zeigen bereits Ovids Metamorphosen aufs Schönste, die dem deutschsprachigen Mittelalter durch die Übertragung Albrechts von Halberstadt bekannt sein konnten.2 Der fragmentarisch überlieferte mittelhochdeutsche Text,3 dessen Lücken sich mit einer späteren Bearbeitung Georg Wickrams inhaltlich füllen lassen, bietet einiges an Anschauungsmaterial für das Erzählen vom wahnsinnigen Herrscher und von den dämonischen Wesen, die den mentalen Ausnahmezustand hervorrufen. So sind beispielsweise Athamas, der König von Böothien, und seine Frau Ino verrückt geworden: 4 Auf Geheiß der Göttin Juno hin werden sie von der personifizierten Tobe-

|| 1 Zur Terminologie des ›Wahnsinns‹ und seiner historischen Codierungen vgl. DIETL, CORA [u. a.]: Seismographien des Wahnsinns – zur Einführung, in: DIES. [u. a.] (Hrsg.): Wahnsinn und Ekstase. Literarische Konfigurationen zwischen christlicher Antike und Mittelalter, Wiesbaden 2020 (Imagines Medii Aevi 49), S. VII–XIV. Grundsätzlich gilt, dass es meinem Beitrag nicht darum zu tun ist, nach ›tatsächlichen‹ psychopathologischen Befunden zu fragen; vielmehr soll es um literarisch inszenierte psychische Ausnahmezustände gehen, die in ihrem narrativen Kontext beschrieben und gedeutet werden. Vgl. dazu auch LINDEN, SANDRA: Erzählen als Therapeutikum? Der wahnsinnige Königssohn im Bussard, in: ACKERMANN, CHRISTIANE/BARTON, ULRICH (Hrsg.): »Texte zum Sprechen bringen«. Philologie und Interpretation. FS Paul Sappler, Tübingen 2009, S. 171–82, hier S. 172, Anm. 9. 2 Zur mittelalterlichen Ovid-Rezeption vgl. KLEIN, DOROTHEA: Metamorphosen eines Dichters. Zur OvidRezeption im deutschen Mittelalter, in: DIES./KÄPPEL, LUTZ (Hrsg.): Das diskursive Erbe Europas. Antike und Antikerezeption, Frankfurt a. M. [u. a.] 2008 (Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und der frühen Neuzeit 2), S. 159–78, hier S. 164–70 (zu Albrecht). 3 Überliefert sind fünf Fragmente (A–E); vgl. STACKMANN, KARL: Art. Albrecht von Halberstadt, in: 2 VL, Bd. 1 (1978), Sp. 187–91; ferner http://handschriftencensus.de/1462 (Abrufdatum: 03.09.2020). Zu den Fragmenten vgl. außerdem RÜCKER, BRIGITTE: Die Bearbeitung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram und ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius, Göppingen 1997 (GAG 641), S. 54–85. 4 Georg Wickram gibt dem Kapitel die Überschrift Von der Hellischen tobsucht / irer art und eygentschafft. Benutzte Ausgabe: Georg Wickram: Ovids Metamorphosen, in: Sämtliche Werke. Hrsg. von HANS-GERT ROLOFF. Bd. 13/1, Berlin/New York 1990, hier S. 251. Zu Albrechts von Halberstadt und Georg Wickrams Bearbeitung der Ovid’schen Metamorphosen vgl. allgemein RÜCKER (Anm. 3). Zu Wickrams Bearbeitung von Albrechts Ovid-Übertragung vgl. ferner KIPF, JOHANNES KLAUS: Wann beginnt im deutschen Sprachraum die Mittelalterrezeption? Vergleichende Beobachtungen zu Rezeptionshttps://doi.org/10.1515/9783110752373-008

150 | Julia Gold sucht (V. 1)5 mit Wahnsinn geschlagen und kommen von sinnen (V. 51).6 Psychopathologisch äußert sich dieses Von-Sinnen-Kommen durch wirres, abstehendes Haupthaar (V. 56: hâr zu berge gân), Selbstvergessenheit (V. 57: vergezzenheit), Weinen und Herzschmerz (V. 58: weinen und herzenleit) sowie Mord und übermäßigen Zorn (V. 59/60: manslacht/morderîe; V. 59: grôze[n] zorn). Auch Lügen im Sinne vom Ablegen eines falschen Zeugnisses (V. 61: meineide) ist Teil des Krankheitsbildes. Die Beschreibung folgt dabei dem gängigen Schema a capite ad calcem, angefangen bei den Haupthaaren hin zum Herzen als Sitz der überbordenden Affekte.7 Die Tobesucht selbst ist als hässliche Figur konzipiert, deren abschreckendes Äußeres dem Kalokagathia-Konzept entsprechend auf ihre innere Schlechtigkeit verweist. In einer detaillierten descriptio erscheint sie als Höllenwesen, dem nicht nur Nattern aus dem Mund kommen, sondern das auch schlangenumgürtet (vgl. V. 21f.) und bluttriefend (vgl. V. 17–19) ist. Auch stehen ihr die Gehilfen Vorchte und Vreise (V. 23) zur Seite. Vorbereitet wird das Ereignis des Wahnsinnig-Machens und Wahnsinnig-Werdens durch die sinnliche Wahrnehmung der Dunkelheit: Die Sonne verfinstert sich: der sunnen was zur vluchte gâ, / wan sie schûhet ir [der Tobesucht, J. G.] lîp (V. 26f.). Die schlangenbehangene Tobesucht verwehrt Athamas und seiner Frau die Flucht, indem sie ihnen mit den Giftschlangen den Weg versperrt und diese sodann als Wurfgeschosse nutzt. Bezüge zur Unterwelt werden auch durch das gewissermaßen pharmakologische Geschick der

|| weisen volkssprachiger und lateinischer mittelalterlicher Literatur (ca. 1450–1600), in: HERWEG, MATHIAS/KEPPLER-TASAKI, STEFAN (Hrsg.): Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur, Berlin/Boston 2012 (TMP 27), S. 15–49, hier S. 25–31, sowie TOEPFER, REGINA: Ovid und Homer in teutschen Reymen. Zur Bedeutung humanistischer Antikenübersetzungen für die Versepik der Frühen Neuzeit, in: Daphnis 46 (2018), S. 85–111, hier S. 89–93. 5 Benutzte Ausgabe: Albrecht von Halberstadt und Ovid im Mittelalter, hrsg. von KARL BARTSCH, Quedlinburg/Leipzig 1861 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 38), hier Nr. 11, S. 82–84. – Das mhd. Substantiv tobesuht kann durchaus Verschiedenes bezeichnen: Neben »Wahnsinn, Tobsucht, Verrücktheit« kann es auch »Wut, Raserei« meinen; vgl. LEXER, Bd. 2, Sp. 1454. KLEIN, DOROTHEA: Nebukadnezar und seine Kinder. Wahrnehmung und Darstellung von Wahnsinn in deutscher und lateinischer Literatur des Mittelalters, in: PENZKOFER, GERHARD/SCHAROLD, IRMGARD (Hrsg.): WahnSinn in Literatur und Künsten, Würzburg 2017 (Würzburger Ringvorlesungen 10), S. 43–79, hier S. 47, formuliert, dass das Wort »primär auf die den Wahnsinn begleitenden Affekt- und Verhaltensstörungen« zielt. Ferner zeigt sich, dass tobesuht frenesis und mania glossiert und damit eben auch indiziert, dass der oder die so Bezeichnete aus einer Außenperspektive heraus betrachtet wird; vgl. DIEFENBACH, LORENZ: Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis. E codicibus manuscriptis et libris impressis concinnavit Laurentius Diefenbach, Frankfurt 1857 (Supplementum lexici mediae et infimae latinitatis), Neudruck Darmstadt 1968, S. 182 und 245. 6 Zu Athamas bei Albrecht von Halberstadt vgl. KERN, MANFRED/EBENBAUER, ALFRED (Hrsg.): Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, Berlin/New York 2003, S. 122. 7 Das Herz gilt als wichtigstes Organ des menschlichen Körpers und Sitz des Lebens, der Seele und des Gefühls; vgl. HARMENING, DIETER: Wörterbuch des Aberglaubens. 2., durchges. und erw. Aufl., Stuttgart 2009 (RUB 18620), S. 204.

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Tobesucht deutlich, die aus dem giftigen Schleim des Höllenhundmauls und anderen Ingredienzien eine Salbe herstellt, die wahnsinnig macht: daz wart zu einem bulver naz mit bilsensaf gemachet, der die sinne swachet und bringet dêchte verlust. der salben gôz sie in ir brust unde stiez dar daz blas, daz mit blûte vol was. (V. 64–70) 8

das wurde zu einer Salbe aus Bilsensaft gemacht, welche die Sinne schwächt und Gedächtnisverlust hervorruft. Die Salbe goss sie ihnen auf die Brust und stieß eine Fackel dahin, die blutgefüllt war.

Ausgesprochen bildreich beschreibt Albrecht das Wahnsinnigwerden des Herrscherpaares, das durch eine Giftsalbe der personifizierten Tobsucht hervorgerufen wird. Die blutgefüllte Fackel, die sie stößt (V. 17f. und 69f.), wirkt wie eine magische Geste, ein Feuerritual, das die Wirkung unterstützt. Verstärkt wird so der Eindruck des Furchterregenden, Unentrinnbaren, das die Krankheit auszeichnet. Sie erscheint als eine von außen den Menschen befallende und auf ihn einwirkende Macht, gegen die es kein Remedium gibt. Dass diese Macht der Hölle zugewiesen wird, bezeugt das Wirken transzendent numinoser Kräfte auf die menschliche Lebenswelt, und sie machen auch vor den Machthabern nicht halt. Dass der Wahnsinn Indiz für den tyrannischen Herrscher sei, davon berichten Ovid und – in dessen Folge – Albrecht freilich nichts. Zumindest aber scheint die Verknüpfung des literarischen Motivs ›Wahnsinn‹ mit Diskursivierungen von Herrschaft narrativ ergiebig zu sein. Hier knüpft der folgende Beitrag an und fragt danach, ob und wie gerade der unrechte Herrscher durch mentale Auffälligkeiten gekennzeichnet ist, die sich entweder in tyrannischem Handeln äußern oder finaler Ausdruck tyrannischen Verhaltens sind. Für die exemplarische Analyse einer Narrativierung des wahnsinnigen Tyrannen bietet sich die Kaiserfigur Nero an, die wie kaum eine zweite mit den Epitheta ›wahnsinnig‹ und ›tyrannisch‹ verbunden wird. Geboren am 15.12.37 n. Chr. als Lucius Domitius Ahenobarbus, von Seneca erzogen, herrscht er als römischer Kaiser von 54–68. Im Juli 64 brennen weite Teile Roms nieder, wofür später vielfach Nero verantwortlich gemacht wird. In diese Zeit fallen auch die Massenhinrichtungen von Christen. Wegen Verschwendungssucht und Ausschweifungen wird er vom Senat zum hostis erklärt. Im Juni 68 begeht Nero Selbstmord; es folgt die damnatio memoriae.9 Neros zweifelhafter

|| 8 Zur Übersetzung von bulver naz mit »Salbe« vgl. LEXER, Bd. 2, Sp. 306. 9 Zu den Lebensdaten Neros vgl. KIENAST, DIETMAR: Römische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiserchronologie, 6., überarb. Aufl., Darmstadt 2017, S. 88–90; ferner ECK, WERNER: Art. Nero, in: Der Neue Pauly, Bd. 8 (2000), Sp. 851–54. Zu Nero in der mittelalterlichen Literatur vgl. KERN/EBENBAUER (Anm. 6), S. 420–24; zu Nero und seiner Rezeption in den Künsten allgemein vgl. KUGELMEIER,

152 | Julia Gold Ruhm als schlechtester Mensch, der jemals geboren wurde,10 dessen Name bis heute »Chiffre [...] für den archetypischen Tyrannen«11 ist, eilt ihm schon seit der Antike und dem Frühchristentum voraus. Dieser Umstand ist nicht zuletzt auf die Rezeption der Kaiserviten Suetons zurückzuführen, die Nero als Musterbeispiel für Caesarenwahn beschreiben und ihm »Hemmungslosigkeit, Wollust, Verschwendungssucht, Habgier und Grausamkeit« (26,1: [p]etulantia[], libid[o], luxuria[], avaritia[] [und] crudelita[s])12 als seiner Natur entsprechende Laster (ebd.: naturae illa vitia) attestieren. Wie die narrative Auseinandersetzung mit der Verstandlosigkeit 13 des Gewaltherrschers aussehen kann, soll das Beispiel Neros in der Kaiserchronik zeigen; auch dort erscheint er als prototypisch schlechter Herrscher und ›Erzschuft‹. Gerade um 1150 haben wir es mit einer Zeit zu tun, in der sich ein Scheitelpunkt von Konzepten unrechter Herrschaft – gewissermaßen ein ›Tyrannen-Peak‹ – ausmachen lässt.14 Nach dem knapp skizzierten normativen Kontext eines Sprechens vom wahnsinnigen Tyrannen um 1150 ist erstens danach zu fragen, mit welchen Worten der tyrannische Herrscher Nero in der Kaiserchronik als wahnsinnig ausgewiesen wird und wie diese semantisiert sind. Zu fragen ist zweitens, wie die Konfliktstruktur der Episode gestaltet ist, um die Herrscherfigur als geistig unzurechnungsfähig zu erweisen. Drittens interessiert, wie sich das Außer-sich-Sein als Disposition der Figur des Tyrannen insge|| CHRISTOPH: Art. Nero, in: VON MÖLLENDORF, PETER [u. a.] (Hrsg.): Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik, Stuttgart 2013 (Der neue Pauly, Supplemente 8), Sp. 691–706. 10 So wird es die Kaiserchronik formulieren (V. 4085f.: aller wirste[r] man / der von muoter in dise werlt ie bekom), die ich in diesem Beitrag fokussiere. Benutzte Ausgabe: Die Kaiserchronik. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, übers., komm. und mit einem Nachw. vers. von MATHIAS HERWEG, Stuttgart 2014. Die Übersetzungen folgen, soweit nicht anders angegeben, dieser Ausgabe. 11 KUGELMEIER (Anm. 9), Sp. 705. 12 Benutzte Ausgabe: C. Suetonius Tranquillus: Die Kaiserviten/De vita caesarum. Berühmte Männer/De viris illustribus. Lateinisch-deutsch, hrsg. und übers. von HANS MARTINET, 4., korr. Aufl., Berlin 2014 (Sammlung Tusculum), S. 668. 13 Die deutsche Terminologie zur Beschreibung des ›Wahnsinnigen‹ verweist etymologisch eben darauf: mhd. wan mit der Bedeutung ›leer‹ (Lexer, Bd. 3, Sp. 667), mhd. sin mit der Bedeutung ›Verstand‹ (Lexer, Bd. 2, Sp. 926); zur Verstand- bzw. Vernunftlosigkeit als Signum des Tyrannen vgl. MEIER, CHRISTEL: Der rex iniquus in der lateinischen und volkssprachigen Dichtung des Mittelalters, in: ALTHOFF, GERD (Hrsg.): Heinrich IV. Ostfildern 2009 (Vorträge und Forschungen 69), S. 13–39, hier S. 20 (mit Bezug auf Thomas von Aquin). 14 Siehe dazu den Beitrag von Mathias Herweg im vorliegenden Band. Warum das Thema ›Tyrannis‹ in der Zeit um 1150 besonders virulent ist, wäre noch genauer zu diskutieren. Sehen kann man darin einen Reflex auf die sich im 12. Jahrhundert verändernden Herrschaftspraktiken (u. a. stärkere Verrechtlichung, Kommerzialisierung von Herrschaftsrechten, Widerstand der Kirchenreformer gegen die Tradition der adligen Kirchen- und Klostervögte, die nunmehr als Tyrannen delegitimiert werden). Diese Veränderungen mögen Kritik und Widerstand, aber auch ein neues Nachdenken über Herrscherethik und die Maßstäbe für gute und gerechte Herrschaft ausgelöst haben. Vgl. dazu mit Fokussierung auf Otto von Freising LYON, JONATHAN R.: Otto of Freising’s Tyrants. Church Advocates and Noble Lordship in the Long Twelfth Century, in: MENGEL, DAVID C./WOLVERTON, LISA (Hrsg.): Christianity and Culture in the Middle Ages. Essays to Honor John van Engen, Notre Dame/Indiana 2015, S. 141–67.

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samt beschreiben lässt. Abschließend werden einige Spezifika formuliert, die sich aus der exemplarischen Analyse einer Narrativierung des wahnsinnigen Tyrannen um 1150 ergeben.

2 Zum normativen Kontext: Der Policraticus des Johannes von Salisbury und seine Nero-Darstellung D a s staatstheoretische Standardwerk um die Mitte des 12. Jahrhunderts ist bekanntermaßen der Policraticus des Johannes von Salisbury (abgeschlossen 1159). Johannes entwirft darin eine Herrschafts-, Gesellschafts- und Institutionenkritik. Dabei gibt er eine Definition des Tyrannen, den er vom Fürsten abgrenzt: Est ergo tiranni et principis haec differentia sola vel maxima quod hic legi obtemperat et eius arbitrio populum regit cuius se credit ministrum (IV,1: »Zwischen dem Tyrannen und dem Fürsten besteht also dieser einzige und größte Unterschied, dass der Fürst dem Gesetz gehorcht und nach seinem Willen das Volk regiert, als dessen Diener er sich betrachtet«).15 Hervorgehoben wird die Gesetzmäßigkeit ›guten‹ herrscherlichen Handelns, und herausgestellt wird auch, dass der ›gute‹ Herrscher stets das Beste für sein Volk will, ihm stets zu Diensten ist. Das Gesetz wiederum ist ein Geschenk Gottes (VIII,17: lex donum Dei est) und insofern unhintergehbare oberste Richtschnur. Der Tyrann hingegen erfüllt gerade diese Kriterien von Gesetzmäßigkeit und Gemeinwohl nicht. Pointiert formuliert Johannes im achten Buch: tirannus est adversariae fortitudinis et Luciferianae pravitatis imago, siquidem illum imitatur qui affectavit sedem ponere ad aquilonem et similis esse Altissimo, bonitate tamen deducta (VIII,17: »der Tyrann ist ein Abbild der feindlichen Macht und der Schlechtigkeit Luzifers; den nämlich ahmt nach, wer danach gestrebt hat, seinen Thron im äußersten Norden zu errichten [vgl. Jes 14,13f.]16 und dem Allerhöchsten ähnlich zu sein, allerdings ohne dessen Gutheit«). Johannes führt also den Tyrannen mit Luzifer und dessen superbia eng, und er negiert die menschliche Gottesebenbildlichkeit, wenn er ihn, den weltlichen Herrscher, als Abbild des Teufels kennzeichnet. Umgekehrt gesprochen sind die pervertierte Ordnung und die Hybris des Tyrannen ein Missbrauch dieser göttlichen Ebenbildlichkeit. Tyrannen omnia posse volunt, contempnentes quid potentiam antecedat hanc et sequatur

|| 15 Benutzte Ausgabe: Johannes von Salisbury: Policraticus. Eine Textauswahl. Lateinisch – Deutsch, ausgew., übers. und eingel. von STEFAN SEIT, Freiburg i. Br. [u. a.] 2008 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 14). Die Übersetzungen folgen, soweit nicht anders angegeben, dieser Ausgabe. 16 Die eingefügte eckige Klammer, die das entsprechende Bibelzitat ausweist, folgt der benutzten Textausgabe.

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(VIII,17: »wollen alles können, ohne sich um die Voraussetzungen und Folgen dieser ihrer Macht zu kümmern«). Einen solchen Tyrannen sieht Johannes in Nero. Ebenfalls im achten Buch widmet er ihm längere Ausführungen (Kapitel 18), die den Titel Ministros Dei esse tirannos;17 et quid tirannus: et de moribus Gai Caligulae et Neronis nepotis eius et exitu utriusque (»Die Tyrannen sind Diener Gottes. Was ein Tyrann ist. Über die Sitten des Gaius Caligula und seines Neffen Nero; von beider Tod«) tragen und für dessen Zusammenschau Johannes sich auf Orosius beruft. Eingeführt wird Nero mit der rhetorischen Frage: Quis enim Gaio Caligula Augusti tertio successore tetrior aut immanior praeter Neronem, qui antecessores et successores omnes turpitudine vitae et inauditis flagitiis superavit? (VIII,18: »Wer war nämlich abscheulicher oder entsetzlicher als Gaius Caligula, der dritte Nachfolger des Augustus, außer Nero, der alle seine Vorgänger und Nachfolger in der Schändlichkeit der Lebensführung und durch seine unerhörten Freveltaten übertroffen hat?«). Wie schon Sueton benennt Johannes, vermittelt über Orosius, die Charakteristika Neros konstant mit Schamlosigkeit, Wollust, Verschwendung, Habgier und Grausamkeit.18 Sodann füllt er die Laster mit Inhalt: Neros Lust am Musizieren und am Schauspiel in Kostümierung, seine homo- wie heterosexuellen, dabei nicht selten inzestuösen Ausschweifungen, seine Verschwendungssucht und Habgier sowie seine Lust zu töten, wobei über den Brand Roms ausführlich berichtet wird. In Bezug auf die Mordgier fällt auch das Stichwort des Rasens und Tobens: Crudelitatis autem rabie ita effrenatus est (VIII,18: »Er war aber in der Raserei seiner Grausamkeit so zügellos«). Mit ›Tollwut‹ (rabie) setzt Johannes (nach Orosius) ein Wort, das schon in der antiken Literatur eine Hundekrankheit bezeichnet.19 Die Animalisierung Neros, die positiv in der attestierten, crudelitas hervorrufenden Tierkrankheit und negativ in der nicht vorhandenen Domestizierung (effrenatus) greifbar wird, negiert seine Herrscher-

|| 17 Hier spielt Johannes darauf an, dass Tyrannen auch göttliche Erziehungsmaßnahme sein können, um das Volk aufgrund begangener Sünden zu strafen. 18 Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Charakteristika Neros bis in die Frühe Neuzeit hineintransportiert werden. So überträgt etwa Jakob Vielfeld 1536 die betreffende Passage aus Suetons Kaiserviten: Geyl, vnkeusch, geitzig, verwent in allem vberfluß, tyrannisch hat er sich von ersten aber heymlich, alß in eym jrrthumb der juget, gebt, vnd das also, das niemandt zweiffelt solchs jm also angeborn sein von natur vnd nit der juget schuldt. Benutzte Ausgabe: BRIX, KERSTIN: Die deutsche Suetonübersetzung Jakob Vielfelds (1536). Transkript nach dem Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München (Res/2 A.lat.b. 705; VD16 S 10107), Würzburg 2017, S. 139, online unter: https://opus.bibliothek.uniwuerzburg.de/frontdoor/index/index/year/2017/docId/15283 (Abrufdatum: 03.09.2020). Vgl. ferner die grundlegende Studie von BRIX, KERSTIN: Sueton in Straßburg. Die Übersetzung der Kaiserviten durch Jakob Vielfeld (1536), Hildesheim 2017 (Spolia Berolinensia 36). 19 Vgl. bereits Aristoteles: Historia animalium (4. Jahrhundert v. Chr., über die Tollwut): »Hunde leiden an drei Krankheiten, sie heißen Tollwut, Staupe und Fußgicht [Podagra, J. G.]. Von diesen erzeugt die Tollwut einen Wahnsinn, von dem auch alle ergriffen werden, die gebissen sind, außer dem Menschen« (VIII,22). Benutzte Ausgabe: Aristoteles: Tierkunde, in: ders.: Die Lehrschriften. Hrsg., übertragen und in ihrer Entstehung erl. von PAUL GOHLKE, Paderborn 21957, S. 365.

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qualität, präsentiert sein Handeln als außerhalb aller gesellschaftlichen Normen und sozialen Gesetzmäßigkeiten. Erst danach folgt im Sinne einer Klimax das schwerste Verbrechen, seine Gottlosigkeit, die in Christenverfolgung und Apostelmartyrium (Petrus stirbt am Kreuz, Paulus mit dem Schwert) augenfällig wird. Es ist dies ein Vergehen wider Gott und die Christenheit, welches das gesamte Land leiden lässt; zumindest fügen sich Kriegsverluste, Epidemien und Erdbeben (VIII,18: clades, pestilentia, diripere, terrae motus) bestens in das Bild einer Strafe biblischen Ausmaßes. Die Wahrheit der Gräueltaten Neros betont Johannes dabei ausdrücklich; er habe bewusst den Wortlaut des Orosius beibehalten, da dieser wie kein anderer für die Wahrheit bürge.20 Der tollwütige, wahnsinnige Nero ist im gelehrt-klerikalen Kontext um 1150 eine mehrfach beglaubigte historische Gestalt.

3 Der winnende Kaiser: Annäherungen an ein frühmittelhochdeutsches Wort und seine Verwendung [Z]e jungist begunder [Nero, J. G.] ze winnen (V. 4275) – so beschreibt die Kaiserchronik den Gesundheitszustand des Tyrannen Nero kurz vor seinem Lebensende. Zunächst ist daher zu fragen, welcher Bedeutungsgehalt des Wortes winnen mitzudenken ist, wenn den Kaiser letztlich die Tobsucht befällt. Verbunden ist damit zugleich die Frage, welches Tyrannis-Konzept der Figur Nero eignet. Die einschlägigen Wörterbücher verzeichnen winnen als Grundwort zu gewinnen.21 Vorstellungen, die mit dem Lexem winnen verbunden sind, scheinen seit althochdeutscher Zeit in den Bereich des Sich-Abmühens und Leidens zu weisen. Als Stammbedeutung gilt in den germanischen Sprachen »Drangsal durchmachen«.22 Diese spezifische Bedeutung ist schon im Gotischen bezeugt.23 Die verschiedenen Bedeutungszweige von winnen scheinen hier ihre Wurzel zu haben. Zur Bezeichnung

|| 20 Haec Orosius fere; cuius verbis et sensu eo libentius utor quod scio Christianum et magni discipulum Augustini propter religionem fidei nostrae veritati diligentius institisse (VIII,18: »In etwa dies berichtet Orosius. Ich bediene mich umso lieber seiner Worte und seiner Auffassung, als ich weiß, dass er als Christ und Schüler des großen Augustinus aus Pflichttreue gegenüber unserem Glauben überaus gewissenhaft für die Wahrheit eingetreten ist«). 21 Vgl. die einschlägigen Wörterbücher: LEXER, Bd. 3, Sp. 910, BMZ, Bd. 3, Sp. 709a, DWb, Bd. XXX, Sp. 406. 22 Ebd. 23 Vgl. etwa 2 Thess 3,8: nih arwjo hlaib matidedum at hvamma, ak winnandans in arbaidai naht jah daga waurkjandans, ei ni kauridedeima hvana izwara (»haben auch nicht umsonst Brot von jemandem genommen, sondern mit Mühe und Plage haben wir Tag und Nacht gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen«). Benutzte Ausgabe: Die gotische Bibel. Erster Teil: Der gotische Text und seine grie-

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eines unkontrollierten Leidens, das zur Raserei gesteigert sein kann, verwendet vor allem das Alt- und Frühmittelhochdeutsche das Lexem winnen. Das Grimm’sche Wörterbuch formuliert: »eine weiterbildung dazu [zu Sich-Abmühen, Leiden, J. G.] wäre ahd. winnan, mhd. winnen ›toben, wüten‹ etwa mit der übergangsstufe ›vor schmerz rasen‹«.24 Sowohl von ›Mühe haben‹ wie von der spezifischen Mühe im Kampf leitet sich die Bedeutung ›erarbeiten, erkämpfen, erringen, gewinnen‹ ab, die dann im Mittelhochdeutschen vorherrschend ist. Auch tritt im Mittelhochdeutschen die Grundform winnen gegen die mit ge-Präfix gebildete Form gewinnen ganz zurück.25 Bei der Glossierung fällt ins Auge, dass Formen von winnen für lateinisch furiare (ahd. winnan), freneticus (winnanter) und epilepticos (winnante) eingesetzt werden.26 Die pathologische Qualität des Verhaltens steht damit ebenso im Blick wie das Agens, das diese Psychopathologie hervorruft (furiare als ›rasend/wahnsinnig machen‹). Als Interpretamente der alt- und frühmittelhochdeutschen Belegstellen listen die Wörterbücher sodann nahezu einhellig Emotionswörter, die mithin als Ausdruck eines Affekts, einer Affektstörung und/oder Triebgesteuertheit gelesen werden können. Auffällig ist, dass die Benennung des Affekts winnen vor allem in moraltheologischem Kontext eingesetzt wird. So stammen die Belegstellen dieser Zeit größtenteils aus der geistlich-theologischen Tradition (unter anderem Tatian, Heliand, Otfrid). Von hier aus implizieren sie einen klerikalen Deutungshorizont, wobei zu bedenken ist, dass ein Großteil der überlieferten Texte diesem Bereich zuzuordnen ist. Noch eine Beobachtung ist markant: Das Winnen wird in geistlich-theologisch ausgerichteten Texten auffallend häufig mit dem Hund in Verbindung gebracht und schließt sich damit an die antike Tradition an, die den rasenden, wütenden Menschen mit einem tollwütigen Tier vergleicht oder sogar gleichsetzt. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts findet sich dafür ein Beleg in der Hochzeit, einem allegorischen Gedicht, das »die Begegnung zwischen Bräutigam und Braut im Blick auf einen zweiten, geistigen Sinn«27 thematisiert. Dabei ermahnt es zu einem christlichen Lebenswandel mit der Aussicht, das Himmelreich zu erlangen und ewig in Christus zu leben. Der in der Millstätter Handschrift auf den Blättern 142r–154v verzeichnete lückenhafte Text setzt sich in einer geradezu programmatisch zu lesenden Passage mit dem guten und dem schlechten Mann (Menschen) auseinander, indem er den Menschen als Hund und den

|| chische Vorlage. Mit Einleitung, Lesarten und Quellennachweisen sowie den kleineren Denkmälern als Anhang, hrsg. von WILHELM STREITBERG, Heidelberg 72000 (Germanistische Bibliothek 3). 24 DWb, Bd. XXX, Sp. 406. 25 Einzig in mitteldeutschen, elsässischen und mittelniederdeutschen Texten ist sie noch vereinzelt zu finden. Vgl. ebd., Sp. 407. 26 Vgl. dazu ebd., Sp. 406. 27 HAUG, WALTER/VOLLMANN, BENEDIKT KONRAD: Kommentar zur Hochzeit, in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland. 800–1150, hrsg. von DENS., Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1/Bibliothek deutscher Klassiker 62), S. 1514–31, hier S. 1515. Vgl. einführend zur Hochzeit GANZ, PETER: Art. Die Hochzeit, in: 2VL, Bd. 4 (1983), Sp. 77–79.

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Hund wiederum als Menschen deutet (V. 103–08). Der Text setzt Recht gegen Unrecht, gute gegen schlechte Menschen. Im Folgenden wird der niht guot[e] chneht (V. 105)28 als Hund bezeichnet, der wütet, sich selbst nicht kontrollieren kann und den Mann (Menschen) beißt – also anderen Schaden zufügt bzw. andere verletzt: 29

der bezeichent den hunt, der 〈da wuo〉tet, der sin selbes nine huotet, der 〈bizzet〉 den man, wan er andirs nine cha〈n〉 〈wa〉n er mit der tobesuhte winnet, unz 〈er〉 den tot gewinnet. (V. 109–14) Er ist wie ein tollwütiger Hund [Er bezeichnet den tollwütigen Hund, J. G.], der sich nicht in der Gewalt hat, sondern den Mann beißt, denn er kann nicht anders als in seiner Tollwut rasen, bis er stirbt.

Die Ursache des Wütens und Beißens führt uns zum Winnen, nämlich: wan er andirs nine chan / wan er mit der tobesuhte winnet (V. 112f.). Das Verhalten des Hundes wird als zügellos, als Wahnsinn und Raserei beschrieben, wobei zugleich konstatiert wird, dass er nicht anders als in dieser Weise handeln kann. Die tobesuhte zwingt ihn dazu, wobei die tautologische Formulierung ›mit der tobesuhte zu winnen‹ das aggressive, unberechenbare Potenzial verstärkt. Das Bild besagt jedoch nicht, dass das Winnen per se in der tierischen Natur des Hundes angelegt ist. Vielmehr scheint er der von außen auf ihn einwirkenden Macht der tobesuhte nichts entgegensetzen zu können. Das Winnen wird mit einer unheilbaren Krankheit erklärt, die zwangsläufig mit dem Tod endet.30 Er ist vorläufiger Endpunkt des Wahnsinns. Doch mit dem Tod des tobenden (tollwütigen) Hundes lässt der Text es freilich nicht bewenden. Angeschlossen wird eine weitere Deutung auf das analoge Verhalten des Menschen hin. Ihn erwartet die ewige Strafe, die Hölle, die den

|| 28 Benutzte Ausgabe: Die Hochzeit, in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland. 800–1150, hrsg. von WALTER HAUG und BENEDIKT KONRAD VOLLMANN, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1/ Bibliothek deutscher Klassiker 62), S. 784–849 (Kommentar S. 1514–31). Die Übersetzung folgt, soweit nicht anders angegeben, dieser Ausgabe. 29 Mit dem ›Bezeichnen‹ ist der Marker für die explizite Allegorese gesetzt. Vgl. auch bereits den Beginn des Gedichts, der das zeichen (V. 4) nennt und damit signalisiert, neben der literalen auch eine allegorische Sinnebene transportieren zu wollen. 30 Den tollwütigen Hund darf man töten, was nicht zuletzt zahlreiche Sprichwörter des Mittelalters belegen. Vgl. den Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, hrsg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, begr. von SAMUEL SINGER, Bd. 11, Berlin/New York 2001, S. 396f.: »Dem Hund Tollwut (Jemandem Tollheit) zur Last legen« und »Wer seines Hundes überdrüssig ist, legt ihm Tollwut zur Last« (S. 397), darunter 16 verzeichnete Sprichwörter.

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Seelen arbeit (V. 122) bereitet. Der schlechte Mensch ›bezeichnet‹ folglich den Hund, der wiederum auf den Menschen verweist.31 Wurde der Hund zuvor entlastet (V. 112: wan er andirs nine cha〈n〉), so erhält der Mensch nun keinen Freispruch für sein frevelhaftes Handeln. Hier scheinen Gesagtes und Gemeintes nicht ganz deckungsgleich zu sein. Sie, die vehtent ane guote / mit ubirmuote (V. 117f.), sind so in ihrer superbia verstrickt, dass sie, obwohl sie anders als der Hund die Möglichkeit zur Belehrung (V. 107: swie vil man in [den schlechten Menschen, J. G.] geleret) und zur Besserung (V. 120: newerdent si niht gebezzerot) besitzen, diese nicht nutzen. Zweifelhafter Lohn ist die Hölle als Ort der Seelenqualen. In der arbeit zeigt sich eine weitere oben angeführte Wortbedeutung von winnen, nämlich durch »Mühsal erwerben«. Die prophezeite Plage der Seelen ist Warnung und Mahnung zugleich. Den Abschluss der Passage bildet die Warnung vor dem Hören auf falsche Ratgeber: daz lat iu nieman widirsagen (V. 124). Was hat dies nun, abgesehen von der zeitlichen Nähe und der Wortverwendung, mit der Nero-Figur in der Kaiserchronik zu tun? Vorzuliegen scheinen hier ganz ähnliche Beschreibungsmuster, wie sie bei der Darstellung des Tyrannen Nero begegnen. Dies bedenkend, nehme ich im Folgenden die Nero-Episode und das Winnen des Kaisers genauer in den Blick.

4 Neros Winnen Für die Analyse der Nero-Darstellung und deren Narrativierung in der Kaiserchronik schaue ich zunächst auf die Mikroebene, und zwar auf die Reihe von Einzelszenen, die zum Winnen führen. Dabei ist vor allem die Handlungsstruktur der Episode interessant. Der Chronist reiht die Formen konkreter Gewaltausübung und Unzurechnungsfähigkeit Neros in einer Beschreibungskette, die auf heterogenem Quellenmaterial fußt.32

|| 31 also tuont alle, die da 〈vare〉nt, / die des rehtes niweht warent, / die vehtent ane guote / mit ubirmuote. / begriffet si also der tot, / newerdent si niht gebezzerot, / die sterbent in der tobeheit; / des choment die sele in arbeit. / daz sint die rehten hellezagen, / daz lat iu nieman widirsagen (V. 115–24: »So handeln alle, die leben, ohne auf das Recht zu achten, die verrennen sich heillos in Überheblichkeit. Wenn der Tod sie so packt, ohne dass sie sich bessern, sterben sie in ihrer Tobsucht. Da geraten die Seelen in Not. Das sind die wahren Höllenschufte; das laßt euch von niemandem ausreden«). Die Missachtung des göttlichen bzw. gottgegebenen Gesetzes, die als Charakteristikum des Tyrannen gilt, scheint hier ebenfalls auf. 32 Zu den Quellen der Nero-Episode vgl. MASSMANN, HANS F.: Der keiser und der kunige buoch, oder die sogenannte Kaiserchronik, Bd. 3, Quedlinburg/Leipzig 1854, S. 677–714; ferner OHLY, ERNST FRIEDRICH: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, 2., unveränd. Aufl., Darmstadt 1968 (Nachdruck der Ausg. Münster/Westf. 1940), S. 84–88, und FICHTENAU, HEINRICH: Vom Verständnis der römischen Geschichte bei deutschen Chronisten des Mittelalters, in: CLASSEN, PETER/SCHEIBERT, PETER (Hrsg.): FS Percy Ernst Schramm, Bd. 1, Wiesbaden 1964, S. 401–19, hier S. 416, sowie HERWEG (Anm. 10), S. 402.

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Insgesamt bietet er für die Nero-Episode ein Szenenarrangement, das den Herrscher letztlich als wahnsinnig qualifiziert.33 Die erste Schandtat, die dem aller wirste[n] man / der von muoter in dise werlt ie bekom (V. 4085f.) zur Last gelegt wird, ist der Brand Roms. Der Kaiserchronik zufolge ist das keine gegen die Christenheit gerichtete Tat; vielmehr lässt Nero zahlreiche Ritter gegeneinander kämpfen, um herauszufinden, wie es den Trojanern beim Brand Trojas ergangen sei. Das lebendige Schauspiel wiederholt und bestätigt, was zuvor bereits vom Chronisten festgehalten worden war: daz dûht in ain scône spil (V. 4089). Nero ist, glauben wir seiner erzählten indirekten Rede, von einem grundsätzlichen Wissensdrang besessen.34 Die epische Schlacht nachempfinden zu wollen, das historische bzw. als historisch geglaubte Ereignis im wahrsten Sinne des Wortes erleben zu können, ist ihm Motivation genug, um über Leichen zu gehen. Konterkariert wird Neros Selbstaussage freilich durch den Hinweis des Erzählers, dass der Kaiser all jene, die den Flammen entkommen konnten, vur die hunde slahen (V. 4100) ließ. Die Erzähler- und die Figurenperspektive lassen ein disparates Bild entstehen, das den Herrscher als wenig vertrauenswürdig zeichnet. Gleichwohl fungiert der von Nero für sich behauptete Wissensdrang sodann als narratives Scharnier zwischen dieser und der folgenden Szene des Muttermords. Nero lässt seine Mutter gefangennehmen und aufschneiden, um zweifelsfrei zu sehen, wier in ir wambe læge (V. 4111).35 Was er sich aus dem verifizierten Wissen erhofft, lässt der

|| 33 Zur Nero-Episode in der Kaiserchronik vgl. OHLY (Anm. 32), S. 84–88. Für die Analyse wenig ergiebig ist indes FLUCH, HANS FRANZ JOSEF: Nero-Darstellungen, insbesondere in der deutschen Literatur. Auszug Diss. Gießen 1924, Mainz 1924. 34 Auf die Nero eigene curiositas verweist noch das Ambraser Heldenbuch (in der Titelangabe zum Mauricius von Craûn in der Tabula): der auch wie ein fraw Swannger wolt sein. Vnnd sein Mueter aufschneiden liess vmb seins furwitz willen (fol. 1r). Zitiert nach dem Digitalisat: Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. Ser. nova 2663 (http://data.onb.ac.at/rep/100277D3, Abrufdatum: 03.09.2020). Ausweis mag dies auch dafür sein, dass der (vermeintliche) Wissensdrang als Charakteristikum Neros literarisch konstant bleibt. 35 Vgl. dazu mit Fokus auf die Nero-Darstellung im Mauricius von Craûn BAUSCHKE, RICARDA: sex und gender als Normhorizonte im Moriz von Craûn, in: BENNEWITZ, INGRID/TERVOOREN, HELMUT (Hrsg.): Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien Körper und Geschlecht in der deutschen Literatur des Mittelalters. Internationales Kolloquium der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft und der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, Xanten 1997, Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9), S. 305–25. – Variiert erscheinen die Motive des Wahnsinns und des Bauchaufschneidens dann auch in anderen Tyrannen-Darstellungen. Zu nennen wäre etwa Ezzelino da Romana (1194–1259), den Benedict von Watt (1569–1616) in einem Meisterlied als unberechenbaren, wahnsinnigen und wilden Herrscher zeichnet. Semantisiert wird Ezzelino als rasender (tollwütiger) Hund (V. 13: wütig hund), der nicht davor zurückschreckt, Schwangeren die Bäuche aufschneiden zu lassen (vgl. V. 14f.). Sodann holt er eigenhändig die Föten heraus und verbrennt sie (vgl. V. 16–18). Begründet wird das Handeln des tyrannen (V. 5) und wüterich[s] (V. 7) mit seiner Freude am Schaden anderer: Er hatte ob ihrer plag ein freud (V. 8). Die göttliche Strafe folgt auf dem Fuße: Ezzelino wird im Kampf verwundet und stirbt im Zustand des Wahnsinns und der Raserei (V. 22: er starbe gancz wütig). Benutzte Ausgabe: KLESATSCHKE,

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Text signifikanterweise offen, denn das makabre Erkenntnisstreben, das selbst vor der Tötung der eigenen Mutter nicht zurückschreckt, ist laut Erzähler nur ein scheinbarer Grund für die grausame Tat; er weiß um die tatsächliche Motivation: Duo flîzte sih der kunic Nêre, waz er mêr unt mêre ubeles gefrumete, daz man iemer von im sagete. (V. 4101–04) Fortan trachtete König Nero danach, seine Übeltaten weiter und weiter zu steigern, damit man ewig von ihm spreche.

Nero-Figur und Erzähler liefern hier wiederum unterschiedliche Begründungen für das Handeln. Unterstützt wird die zur Schau gestellte Diskrepanz zwischen Schein und Sein sowohl beim Brand Roms als auch beim Muttermord durch Incipit-Formeln, die Neros Behauptungen rahmen: der kunic sprach, er wolte sehen mære (V. 4095) und er sprah, er wolte sehen ân zwîvel (V. 4110); in beiden Fällen hält der Erzähler mit seiner Perspektivierung des Geschehens dagegen. Hier nun, beim Muttermord, demaskiert er das ebenso grausame wie groteske Erkenntnisbemühen als Drang nach negativ konnotierter ewigwährender memoria. Er attestiert dem Herrscher superbia, mithin die älteste und schwerste Sünde seit Luzifers Sturz, als Ursache für dessen unerhörte Tat. Nicht verwunderlich ist insofern, dass die von Nero als Wissensdrang ausgewiesenen Taten nicht explizit als concupiscentia oculorum, als »Begierde der Augen«, wie Augustinus es nennt,36 ausgewiesen werden. Auf den ersten Blick hätte dies die Intention einer ex negativo erzählten Tugend unterstützt. Auf den zweiten Blick hingegen unterstreicht das Fehlen eines entsprechenden Erzählerkommentars, dass den Aussagen Neros nicht zu trauen ist, sie vielmehr als unglaubwürdig zu gelten haben. Wenigstens intrikat erscheint freilich, dass die memoria mit der ausführlichen Narration der Schandtaten dann doch gegeben ist; der Erzähler entspricht gewissermaßen Neros Wunsch. Die dritte Szene erzählt von der Krötengeburt. Auch hier reklamiert Nero für sich einen ›Forschergeist‹, ein geradezu naturwissenschaftliches Interesse an der Biologie des Menschen und an einem empirischen Selbstversuch. Er möchte schwanger sein – dass er das Kind auch gebären will, davon ist zunächst nicht die Rede: er sprah, er newoltes nehain rât haben, / er wolte selbe kint tragen (V. 4117f.). Mit Hilfe wîse[r] arzâte (V. 4116) und deren zahlreicher seltsamer Tränke (V. 4136: vil wunderlîchiu tranch) wächst in ihm ein wurm ungehûre (V. 4142) heran, der einige Verse später als Kröte

|| EVA/BRUNNER, HORST (Hrsg.): Meisterlieder des 16. bis 18. Jahrhunderts, Tübingen 1993 (Frühe Neuzeit 17), Nr. 55, S. 152f. Als Quelle benennt Benedict von Watt Sabellicus. 36 Aurelius Augustinus: Confessiones, X,35. Benutzte Ausgabe: PL 32, 802.

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identifiziert wird.37 Die ungeheuerliche Schwangerschaft und Geburt einer chrote vil braitiu (V. 4149), die vom Erzähler als wider der manne natûre (V. 4141) qualifiziert wird, mündet in einer pseudoetymologischen Deutung des Lateran (V. 4152: lâtâ rânâ). Mehrfach wird betont, dass die Ärzte die Schwangerschaft nur ins Werk setzen, um ihr Leben zu retten, hatte der Kaiser ihnen doch mit marteren unt houpten (V. 4120) gedroht. Auch hier zeigt das Schweigen des Erzählers darüber, ob Nero tatsächlich Erfahrungen und Erkenntnisse gewonnen hat, an, dass er die Behauptungen Neros als irrelevant wertet. Was stattdessen geboten wird, ist ein Auserzählen der grausamen Taten des Kaisers und des ungeheuerlichen Geschehens. Unterstrichen wird so zum einen die Kompetenz des Erzählers, der ohnedies andere Beweggründe für das Handeln Neros ausgemacht hatte, zum anderen zeigt es auch die narrative Freude am Außergewöhnlichen, am Skandalösen und Schauerlichen. Auf Handlungsebene bedeutet dieses Skandalon nicht nur eine Verletzung, sondern (zumindest für den Moment) vollständige Aushebelung der sozialen, rechtlichen und sogar der naturgegebenen Ordnung. Zugleich aber wundert sich niemand über die Absonderlichkeiten Neros. Die Furcht der Ärzte vor dem Tyrannen wiegt offenkundig schwerer als ihre Verwunderung über seine ausgefallenen Wünsche. Das verbindende Moment zwischen der Krötengeburtsszene und dem darauffolgenden Wettstreit zwischen Simon Magus und den Aposteln stellt die dialogische Struktur dar, die in der Apostelszene besonderes Gewicht erhält. Sie nimmt mit über 100 Versen den größten Raum der Nero-Episode ein und ist damit schon quantitativ alleingestellt. Erzählt wird vom gaukelære Simon (V. 4161) und seinem Verhältnis zum Kaiser, vor allem aber vom Sprechen und Handeln Petri und Pauli, das vollständig auf Gott bezogen ist. In die übrigen Szenen fügt sich die Apostelszene nur bedingt ein, besitzt sie doch auch erzählerisch eine ganz andere Faktur, die an der Legende ausgerichtet ist.38 Hier nun wird Nero zum Christenverfolger, womit der »Tiefpunkt der sittlichen Verworfenheit und politischen Tyrannei«39 erreicht ist; und wie in hagiographischen Texten üblich, ist es der große Anteil direkter Figurenrede, der einen Präsenzeffekt bewirkt und somit Unmittelbarkeit erzeugt. Zugleich ist diese Figurenrede Ausweis der Anbindung an die hagiographische Tradition, in die sich auch die || 37 Die Kröte besitzt bereits bei antiken Autoren negative Konnotation; die biblische Tradition der Tiere (Ex 7,27–29 und 8,1–10, Offb 16,13) tut ein Übriges, um das negative Bild zu verstärken; auch in Darstellungen von Sünde und Laster ist sie ikonographisch und literarisch beliebt. Vgl. GERLACH, PETER: Art. Kröte, Frosch, in: LCI, Bd. 2 (1968), Sp. 676f., und BÄCHTOLD-STÄUBLI, HANNS: Art. Kröte, in: HDA, Bd. 5, Sp. 608–35. Zur sexuellen Konnotation der Kröte vgl. auch BAUSCHKE (Anm. 35), S. 312f., die zudem darauf verweist, dass das Krötenmotiv in Kombination mit dem zuvor erzählten Brand dazu beiträgt, Nero als Antichrist zu stilisieren (vgl. ebd., S. 313). 38 Mit der legendenspezifischen Faktur meine ich hier zum einen die funktionale Ausrichtung auf eine narrativ vermittelte Heilsgewissheit, die inhaltlich im göttlichen Wirken durch die Apostel sichtbar wird, sowie auf das spannungsvolle Verhältnis von imitatio und admiratio der Heiligen. Bezogen ist sie zum anderen aber auch auf die rhetorisch-stilistische Gestaltung durch einen hohen Anteil an Redeszenen, die in der Eloquenz der Heiligen die Wahrheit des christlichen Glaubens ausstellen. 39 HERWEG (Anm. 14), S. 133.

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Nero-Episode der Kaiserchronik einschreibt. Nero gerät über weite Strecken vollständig aus dem Blick, um die Macht des himmlischen Gottes zu präsentieren, nicht zuletzt an Neros ›Schlechtigkeitsstellvertreter‹ Simon Magus. Dass Nero sich mit einem Zauberer – seinem »Gott« (V. 4181) – umgibt, ihm Gehör schenkt und seinem Wort getreu folgt,40 mag nicht zuletzt Indiz dafür sein, auf falsche Ratgeber zu trauen. Konventionell wird der ›falsche‹ Gott (Simon Magus) mit dem ›rechten‹ Gott parallelisiert und dabei zugleich die Himmelfahrt Christ nachgeahmt.41 Im Wettstreit zwischen Magier und Apostel wird der Kaiser narrativ marginalisiert. Stattdessen kommt der Erzähler selbst zu Wort, um ein Glaubensbekenntnis abzulegen: sanct Pêter huop ûf sîne hant, / er bescainte mînes trehtînes gewalt (V. 4231f.). Die apotropäische Geste des Kreuzzeichens lässt die Teufel fliehen, die den Magier in die Lüfte gehoben hatten; Simon stirbt. Nun erst lenkt der Chronist die Aufmerksamkeit wieder auf Nero: Er beleuchtet dessen Reaktion, die von Trauer in Zorn umschlägt (V. 4248f.). Nero befiehlt den sofortigen Tod der Apostel und offenbart dergestalt sein Affekthandeln. Petrus und Paulus verbalisieren nicht nur die göttliche Omnipotenz, indem sie predigen und beten; sie figurieren auch die Wahrheit der Heilsgeschichte Gottes mit dem Menschen, indem sie mit ihrem Martyrium wortwörtlich Zeugnis ablegen und den Triumph der ›Rechtgläubigen‹ sichtbar machen.42 Eben diese göttliche Omnipotenz ist es, mit der Nero nicht gerechnet hat und die er an seinem Lebensende zu spüren bekommt. Die narrativ inszenierte Transzendenzerfahrung (V. 4254–56: die himele wâren ûf getân: / duo kômen die engele frône, / si enphiengen ir crône) kontrastiert scharf mit dem Tod, der Nero, zumindest nach dem ordo der Erzählung, kurz darauf ereilt. Das in die Nero-Episode inserierte Apostelmartyrium verstärkt das Bild des ›heidnischen‹, tyrannischen Herrschers und legt dabei die christliche Deutungsperspektive des Geschehens weiter offen, als es zuvor der Fall war. Der geistliche Sinnhorizont ist sodann auch für Neros Leiden, Sterben und Tod mitzudenken. Wir nähern uns also diesem Ende und damit auch Neros Wahnsinn, von dem trotz vieler vom Chronisten eingesetzter Epitheta, die seine Schlechtigkeit ausstellen (V. 4085: aller wirst[]; V. 4114: ubele[]; V. 4130: grimmig[]), bislang nicht die Rede war.43

|| 40 Vgl. Simon: ›hie sint zwêne irrære, / daz ist mir vil swære‹ (V. 4163f.); Nero: ›ir birt irrære, / daz ist mir vil swære‹ (V. 4179f.). 41 Ausgelassen hat der Kaiserchronist freilich jenen Teil der Legende, der davon berichtet, dass Simon christusanalog nach drei Tagen auferstehen will. 42 Dass die Fürbittfunktion der Heiligen dabei allen Gläubigen präsent sein soll, macht der Erzähler explizit; und er schließt sich in die Gemeinschaft der Fürbitter ein: von ir gewalte unt von ir genâden / muozen wir alle daz gotes rîche enphâhen (V. 4263f.). 43 Ferner werden genannt: er []frumete [ubeles] (V. 4103), er zurnte (V. 4170 und 4249), mit michelm grimme (V. 4171). Es sind dies Affekte, die immer ein Zuviel des rechten Maßes bedeuten und folglich negative Konnotation besitzen.

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Nach einer Herrschaft von 13 Jahren und elf Monaten scheinen Neros Tage gezählt. Zwischen Apostelmartyrium und Tod des Kaisers liegen folglich mehrere Jahre. Da aus dieser Zeit freilich nichts berichtet wird, erscheinen beide Ereignisse enggeführt; sie folgen und beziehen sich aufeinander. Der Zeitsprung, der mit konkreten Zahlen benannt wird, um das erzählte Geschehen als wahr und empirisch nachprüfbar auszuweisen, spielt für die Handlungsstruktur keine Rolle. So stellt der Chronist denn auch lapidar fest, nach dem Martyrium Petri und Pauli sei Nero krank und schließlich rasend geworden: nâh dirre marter hêre begunder siechen sêre, ze aller êrist von pôdagrâ – sô stât gescriben dâ – dar nâh von der vergihte, dar nâh von miselsuhte; ze jungist begunder ze winnen. (V. 4269–75) Nach dem heiligen Martyrium [der beiden Apostel, J. G.] befielen ihn schwere Leiden, zunächst die Podagra (so steht es geschrieben), danach die Gicht, danach der Aussatz; zuletzt ergriff ihn die Tobsucht.

Der Chronist skizziert das Bild eines nach und nach von Krankheit gezeichneten Körpers: Zuerst betroffen sind die Füße (pôdagrâ), es folgen die Hände (vergiht) und der gesamte Körper (miselsuht), zuletzt betroffen ist der Kopf (winnen). Dass die Krankheiten dabei gegen das übliche Schema a capite ad calcem genannt werden, könnte auf das grundsätzlich Widerständige der Nero-Figur verweisen, das nur durch die Umkehrung der Regel beschrieben werden kann. Ausgewiesen ist damit aber auch der Primat des Kopfes als Signum des menschlichen Verstandes. Den physisch degenerierten Herrscher ereilt der psychische Verfall als zentraler, alles überbietender Schlusspunkt des Krankheitsverlaufs. Bedeutet wird zugleich, dass die zuvor erzählten skandalösen und devianten Taten des Tyrannen Nero gerade nicht in einem solchen mentalen Ausnahmezustand vollzogen wurden. Nun, für das Erzählen vom Wahnsinn Neros und dessen geistlich fundierter Bewertung, nimmt der Chronist Anleihen an der bekannten Stelle aus Dtn 28: percutiat te Dominus amentia et caecitate ac furore mentis (Dtn 28,28: »Der Herr soll dich schlagen mit Wahnsinn und Blindheit und Verrücktheit«).44 Sie ist Teil des Fluches Gottes, der jene trifft, die seine Gebote nicht befolgen.45 Zuvor werden

|| 44 Benutzte Ausgabe: Biblia Sacra Vulgata. Editio quinta, hrsg. von ROBERT WEBER und ROGER GRYSON, Stuttgart 2007. Die Übersetzung folgt Hieronymus: Biblia Sacra Vulgata. Lateinisch – deutsch. Bd. 1: Genesis – Exodus – Leviticus – Numeri – Deuteronomium, hrsg. von ANDREAS BERIGER [u. a.], Berlin/Boston 2018 (Sammlung Tusculum). 45 Vgl. Dtn 28,15: quod si audire nolueris vocem Domini Dei tui ut custodias et facias omnia mandata eius et caerimonias quas ego praecipio tibi hodie venient super te omnes maledictiones istae et adprehendent te (»Denn wenn du nicht auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hast hören wollen, sodass du

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die physischen Leiden gelistet, die den psychischen vorausgehen: percutiat te Dominus ulcere Aegypti et parte corporis per quam stercora digeruntur scabie quoque et prurigine ita ut curari nequeas (Dtn 28,27: »Der Herr soll dich schlagen mit dem Geschwür Ägyptens und am Körperteil, durch den Exkremente ausgeschieden werden, auch mit Krätze und mit Jucken, sodass du nicht geheilt werden kannst«). Wenige Verse später schließt sich eine Wiederholung mit Akzentverschiebung an: et stupens ad terrorem eorum quae videbunt oculi tui (Dtn 28,34: »und erstarrt vom Schrecken dessen, was deine Augen sehen werden«) und percutiat te Dominus ulcere pessimo in genibus et in suris sanarique non possis a planta pedis usque ad verticem tuum (Dtn 28,35: »Der Herr wird dich schlagen mit schlimmstem Geschwür an den Knien und an den Waden. Und du sollst nicht geheilt werden können, von der Fußsohle bis zu deinem Scheitel«). Was der biblische Prätext über das im Singular angesprochene Kollektiv des Volkes Israel sagt, überträgt der Chronist auf den Christenverfolger Nero. Körperlicher und geistiger Verfall scheinen unumkehrbar; Nero sieht seinen einzigen Ausweg darin, andere mit in den Tod zu reißen, um Trauer über die Stadt Rom zu bringen, wohlwissend, dass dies durch seinen Tod nicht gegeben ist. Jeder soll einen Toten beweinen und beklagen. Mehr noch: Er entschließt sich dazu, ûzer dem senâte / der hêristen Rômære zehenzich unde drî (V. 4278f.) enthaupten und damit einen Teil der politischen Elite der Stadt auslöschen zu lassen. Auf den erzählten Wahnsinn folgt eine als rational ausgewiesene Tat; und ebenso bedacht nimmt Nero sich das Leben: [a]lsô er daz wort volsprach, / daz swert er in sich stach (V. 4287f.). Der wahnsinnige Tyrann ist gleichzeitig ein rationaler Tyrann, er ist Tier im Toben und Mensch im bewussten Handeln. Das Ende des Herrschers lässt ihn polyvalent und damit umso unberechenbarer erscheinen. Diese Polyvalenz der Figurenzeichnung scheint im Bestreben des Chronisten zu wurzeln, eine christlich-moralische Deutung des Kaiserlebens zu geben, dabei freilich auch Details der Vorlage nicht zu vernachlässigen. Das Oszillieren zwischen Wahn und ratio kann als Signum des Tyrannen gelten, dessen Bedrohungspotenzial eben darin begründet liegt. In der Kaiserchronik erscheint das Winnen dabei nicht (nur) als Krankheitssymptom, sondern als moralisches Defizit, als Ausdruck der Gottesferne,46 die ihren Tiefpunkt in der Selbsttötung erreicht. Der gewaltsame Tod, durch den antiken Stoff vorgegeben, bestätigt und potenziert die ausgestellte Todsündhaftigkeit des Herrschers, dessen Seele die Teufel in Gestalt schwarzer Vögel holen (V. 4293–97) und dessen unraine[r] Leib von Wölfen zerfleischt wird (V. 4299f.). Dergestalt wird Neros Tod letztlich als Sieg über das Böse schlechthin semantisiert. Auch hier ist sein Ende in Dtn 28

|| alle seine Gebote und Riten, die ich dir heute vorschreibe, bewahrst und nach ihnen handelst, werden alle diese Flüche über dich kommen und dich erfassen«). Mitgedacht sind dabei die den Verfluchungen vorausgegangenen Segensverheißungen (Dtn 28,1–14). 46 Siehe dazu auch die oben ausgeführten Überlegungen zur Hochzeit.

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vorgebildet: sitque cadaver tuum in escam cunctis volatilibus caeli et bestiis terrae et non sit qui abigat (Dtn 28,26: »Und deine Leiche soll allen Vögeln des Himmels und wilden Tieren der Erde zum Fraß dienen, und keiner soll da sein, der sie vertreibt«).47 So entwirft der Chronist das Bild einer biblischen Verfluchung und macht zugleich höchsten autoritativen Anspruch geltend. Das zuvor eingebundene Legendenschema tut sein Übriges, um die Nero-Vita als Ausweis der Verfluchung Gottes zu lesen. Das fehlende Auserzählen des Winnens führt zu einer Unentschuldbarkeit von Neros Handeln. Die Wahnsinnstat der Massentötung wird als perfide durchdacht präsentiert, was eben auch bedeutet, dem Erzählen vom winnenden, »schlechtesten Menschen, der je von einer Mutter geboren wurde«, gerade keine entlastende Funktion einzuschreiben. Der geistig unzurechnungsfähige Herrscher, den ein defizitärer Zustand des Winnens kennzeichnet, erhält keine Option der Läuterung. Was zunächst ganz unspezifisch konstatiert wird, nämlich, den schlechtesten Menschen präsentieren zu wollen, erhält im Fortlauf der Nero-Episode ein detailliertes Profil und wird narrativ mit Hilfe einer Überbietungstechnik umgesetzt. Nero ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein Beispiel für Hochmut. Als legitimer Herrscher ist er scheinbar in eine Ordnung eingebunden, faktisch aber geht er in allen Belangen über diese hinaus. Dabei ist er als transgressive Figur gedacht: Jede erzählte Szene verdeutlicht einen Normverstoß, der nach dem Apostelmartyrium kaum mehr gesteigert werden kann. Nero ist dem Tod geweiht und für die Hölle bestimmt. Die Raserei sowie das unrühmliche Ende seiner sterblichen Überreste und seiner Seele weisen ihn deutlich als Tyrannen aus. Hier gilt, was MATHIAS HERWEG gezeigt hat, nämlich, dass der Chronist final gedacht und vom Ende her erzählt hat. Bestätigung christlicher Morallehre bedeutet dabei allerdings nicht, die Freude am Erzählen der seltsæniu mære[n] (V. 4112) vom wahnsinnigen Herrscher aufzugeben. Vielmehr scheint das scône spil (V. 4089) auch Kennzeichen für das poetische Verfahren des Chronisten zu sein.

5 Fazit Die kleine Nero-Fallstudie hat gezeigt, dass eine Polyvalenz der narrativen Inszenierung von Tyrannis in der Deutung der Figur des Tyrannen selbst begründet liegt. Die unterschiedliche Perspektivierung, die durch die inhaltlich divergierende Figuren- und Erzählerrede gegeben ist, trägt dazu bei, den Herrscher als unglaubwürdig, da hier auch unzurechnungsfähig zu erweisen. Besonderes Gewicht kommt dabei dem Motiv des ›wahnsinnigen Tyrannen‹ zu. Das mental Disparate wird um die Mitte des 12. Jahrhun|| 47 Das hebräische Pendant für cadaver begegnet im Tanach ausschließlich im Singular. Die Vulgata ahmt den Singular des Begriffs nach. Die Septuaginta hingegen setzt den Plural. Die Übersetzung der Luther-Bibel überträgt diesen analog dazu, weil der semantische Plural trotz des syntaktischen Singulars impliziert sein kann. Für freundliche Auskunft danke ich Matthias Schmidt (Gießen).

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derts für die Nero-Figur in der Tradition vorgefunden, dann aber mit Hilfe eines Neuund Anderserzählens48 in Einzelepisoden neu montiert und in spezifisch christlichmoralischem Sinn gedeutet. Demonstriert werden so auch die Grenzen menschlicher Herrschaft. Das Erzählen vom Winnen des Kaisers hat dabei zunächst – dies mag nicht überraschen – erzieherische und paränetische Funktion: Es ruft nicht nur zur Disziplinierung der Affekte, zu einem kontrollierten, besonnenen Lebenswandel auf, sondern auch zur Umkehr aus der Sünde, und warnt vor den drohenden Höllenstrafen. Erzählen ist so gleichzeitig Remedium gegen mentale Ausnahmezustände.49 Unschwer lässt sich daran der lehrhafte Gestus des Klerikers ablesen, der das herrscherliche Verhalten als Hochmut (superbia, ubirmuote) auffasst. Das bedeutet auch, dass Tugendkonzepte ex negativo formuliert werden. Die wörtliche Entsprechung der Charakteristika, insbesondere des Winnens, scheint mir Ausdruck der Übereinstimmung des moralischen Urteils zu sein, ist Vergewisserung von Heilsinstanz, von Recht und Gerechtigkeit. Abgegrenzt wird so gute von schlechter, rechte von unrechter Herrschaft. Schlechte, das heißt tyrannische Herrschaft ist dabei ohne die Folie der guten Herrschaft nicht zu denken. Und doch scheint Nero auch ein Exempel dafür zu sein, die Freude am Erzählen einer Klimax der Tyrannis vorzuführen und bei den Deutungsmustern zugleich polyvalent zu bleiben. Den bedrohlichsten Tyrannen befällt nicht nur das Winnen, er übt auch Wahnsinn mit Methode. Doch auch er entkommt weder dem göttlichen Richter noch den narrativen Zwängen des Kaiserchronisten, dessen Erzählschematik darauf beruht, dass nur ein toter Tyrann ein guter (tatsächlicher) Tyrann ist.

|| 48 Zur Terminologie des ›Neu- und Anderserzählens‹ vgl. BUMKE, JOACHIM: Retextualisierungen in der mittelalterlichen Literatur, besonders in der höfischen Epik. Ein Überblick, in: DERS./PETERS, URSULA (Hrsg.), Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, Berlin 2005 (ZfdPh 124, Sonderheft), S. 6–46, sowie HAMM, JOACHIM/MASSE, MARIE-SOPHIE: Aeneasromane, in: CLAASSENS, GEERT H. M. [u. a.] (Hrsg.): Germania Litteraria Mediaevalis Francigena. Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300), Bd. 4: Historische und religiöse Erzählungen, Berlin/New York 2014, S. 79–116, hier S. 92–108. 49 Vgl. dazu in ähnlichem Zusammenhang LINDEN (Anm. 1), S. 171–82, die bereits im Titel ihres Beitrags von einem »Therapeutikum« spricht.

Marion Darilek

Animalität und Inhumanität, Vergiftung und Zerspaltung Zur Ambiguität idealer und tyrannischer Herrschaft am Beispiel des Straßburger Alexander und des Reinhart Fuchs

1 Prolegomena 1.1 Zu Animalität, Inhumanität und Herrschertod in der antiken und mittelalterlichen Tyrannenlehre Tiere treten sowohl in der politischen Theorie als auch im religiösen Diskurs oder in literarischen Texten vielfach als Reflexionsfiguren von Herrschaft1 in Erscheinung. Die Cultural (and Literary) Animal Studies wenden sich daher immer wieder den politischen Tieren zu.2 Die unterschiedlichen Forschungsansätze sind sich dabei dahingehend einig, dass Tiere es in besonderer Weise vermögen – sei es als handelnde Figuren, sei es in Vergleichen oder Metaphern –, die Ambiguitäten menschengemachter politischer Ordnung(en) zutage treten zu lassen. Für die politische Theorie sind therio-

|| 1 Der Terminus der ›Herrschaft‹ und die damit verbundenen Konzepte werden seit einiger Zeit interdisziplinär wieder intensiv diskutiert. Zur mangelnden inhaltlichen und theoretischen Auseinandersetzung mit dem in den deutschsprachigen Geisteswissenschaften ubiquitär gebrauchten Begriff und dessen terminologischer Unschärfe im Deutschen vgl. BECHER, MATTHIAS [u. a.]: Einleitung. (Be-)Gründung von Herrschaft. Strategien zur Bewältigung von Kontingenzerfahrung. Eine interdisziplinäre Annäherung, in: Das Mittelalter 20 (2015), S. 1–10, hier S. 4–7. Zur Notwendigkeit, »›Macht‹ und ›Herrschaft‹ als Analysekategorien [...] angesichts ihrer Entstehung in der europäischen bzw. deutschen Wissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts [...] auf eine neue Basis« zu stellen und insbesondere den Allgemeingültigkeitsanspruch der Macht- und Herrschaftsdefinitionen MAX WEBERs zu hinterfragen, vgl. BECHER, MATTHIAS: Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive, in: DERS. [u. a.] (Hrsg.): Macht und Herrschaft transkulturell. Vormoderne Konfigurationen und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2018 (Macht und Herrschaft 1), S. 11–41, hier S. 14f. Im Anschluss an BECHER [u. a.] 2015, S. 8, wird der Begriff im Folgenden für die Frage nach der »Legitimität von Herrschaft« und den fortwährenden Prozess der Aushandlung über das Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten gebraucht. Im Fokus steht dabei die narrative Inszenierung dieser Aushandlungsprozesse in deutschsprachigen literarischen Texten des 12. Jahrhunderts. 2 Vgl. etwa VON DER HEIDEN, ANNE/VOGL, JOSEPH (Hrsg.): Politische Zoologie, Zürich/Berlin 2007; GLÜCK, JAN [u. a.] (Hrsg.): Reflexionen des Politischen in der europäischen Tierepik, Berlin/Boston 2016; KLING, ALEXANDER: Die Tiere der politischen Theorie, in: BORGARDS, ROLAND (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 97–110, passim; BORGARDS, ROLAND: Tiere und Literatur, in: DERS. (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 225–44, hier S. 232. https://doi.org/10.1515/9783110752373-009

168 | Marion Darilek morphe und theriophore3 Beschreibungsverfahren ROLAND BORGARDS zufolge deshalb so attraktiv, weil sowohl das Verhältnis von Mensch und Tier als auch die Legitimation politischer Herrschaft wesentlich von der Doppelbödigkeit von Gewalt und Gewaltabwehr bzw. Gewaltenbann bestimmt ist.4 Für die nutzbringende Bannung der animalischen Gewalt »im befriedeten Raum der Kultur«5 bzw. die Verbannung derselben »aus dem entwilderten Raum der Kultur«6 sei eine Gegengewalt erforderlich, die über die gebannte bzw. verbannte Gewalt noch hinausgehe, wie z. B. die Ausrottung oder die Zähmung.7 Für den »theriotopen Gewaltenbann«8 gelte somit, so BORGARDS weiter, dass »stets Aus- und Einschluss [von Gewalt, M. D.] ununterscheidbar ineinander wirken.«9 Von besonderer Brisanz sind diese grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Politischem und Animalischem mit Blick auf die tyrannische Gewaltherrschaft. So bedient Cicero sich in De officiis der Grenzziehung zwischen Mensch und Tier, um den Tyrannen zu charakterisieren und den Tyrannenmord zu legitimieren. Nulla est enim societas nobis cum tyrannis et potius summa distractio est, neque est contra naturam spoliare eum, si possis, quem est honestum necare, atque hoc omne genus pestiferum atque impium ex hominum communitate exterminandum est. Etenim, ut membra quaedam amputantur, si et ipsa sanguine et tamquam spiritu carere coeperunt et nocent reliquis partibus corporis, sic ista in figura hominis feritas et immanitas beluae a communi tamquam humanitate 10 corporis segreganda est. (III,32) Mit Tyrannen haben wir nämlich keine Gemeinschaft; vielmehr herrscht schärfste Trennung zwischen uns und ihnen; darum ist es nicht gegen die Natur, denjenigen zu berauben, den zu töten, wenn man es kann, ehrenvoll ist, und diese Verderben bringende und gottlose Brut muss vollständig aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen werden. Denn ebenso wie manche Glieder amputiert werden, wenn sie selbst angefangen haben, ihr Blut und gewissermaßen ihre Lebenskraft zu verlieren und die übrigen Teile des Körpers schädigen, so muss diese scheußliche

|| 3 Zur Terminologie vgl. BORGARDS, ROLAND: Hund, Affe, Mensch. Theriotopien bei David Lynch, Paulus Potter und Johann Gottfried Schnabel, in: BERGENGRUEN, MAXIMILIAN/BORGARDS, ROLAND (Hrsg.): Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Göttingen 2009, S. 105–42, hier S. 110: »Als ›theriomorph‹ (aus griechisch ther für ›wildes Tier‹ und morphe für ›Gestalt‹, ›Form‹, ›Aussehen‹) werden tiergestaltige Nicht-Tiere (Götter und Menschen) bezeichnet; ›theriophor‹ (aus griechisch ther und phoros für ›tragend‹) werden Tiernamen tragende Nicht-Tiere genannt (z. B. Meister Böck aus Wilhelm Buschs Max und Moritz).« 4 Vgl. BORGARDS, ROLAND: Wolf, Mensch, Hund. Theriotopologie in Brehms Tierleben und Storms Aquis Submersus, in: VON DER HEIDEN, ANNE/VOGL, JOSEPH (Hrsg.): Politische Zoologie, Zürich/Berlin 2007, S. 131–47, hier S. 135. 5 BORGARDS (Anm. 3), S. 112. 6 Ebd. 7 Vgl. ebd. 8 Ebd. Mit dem Begriff der ›Theriotopie‹ bezeichnet BORGARDS kulturelle Grenzziehungen an und mit Tieren. 9 Ebd. 10 Benutzte Ausgabe: Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch-deutsch, hrsg. und übers. von RAINER NICKEL, Düsseldorf 2008 (Sammlung Tusculum).

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und menschenfeindliche Bestie in Menschengestalt aus dem Organismus der gesamten Menschheit sozusagen entfernt werden.

Den strikten Ausschluss des Tyrannen aus der menschlichen Gemeinschaft begründet Cicero damit, dass dessen Gestalt zwar einem Menschen, sein Wesen aber einer rohen und brutalen, ja inhumanen Bestie gleicht. Analog zur Amputation eines abgestorbenen, schädlichen Körperteils sei der Tyrann aus dem menschlichen Sozialkörper zu entfernen und seine Tötung geboten. Diese theriotopische Apologie des Tyrannizids kann sich, wie HILLGRUBER ausführt, auf Ciceros frühere Überlegungen zu Animalität und Tyrannei in De re publica stützen: »Eben weil der Tyrann gar kein Mensch mehr ist, d a r f man ihn töten, ohne unehrenhaft zu handeln, und wenn die Gemeinschaft keinen Schaden nehmen soll, m u ß man ihn sogar töten.«11 Obwohl Ciceros De officiis ebenso wie Ambrosius’ Adaptation De officiis ministrorum sich »unzählige Male in den Dom- und Klosterbibliotheken der Zeit«12 finden, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, inwiefern und über welche Instanzen der Vermittlung Ciceros Überlegungen zum Zusammenhang von Tyrannei und Animalität im frühen und hohen Mittelalter rezipiert wurden und nachwirkten.13 Wenn Johannes von Salisbury in seinem Policraticus Mitte des 12. Jahrhunderts über tyrannische Herrschaft reflektiert, ist aber doch zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit von einer Beeinflussung durch Cicero auszugehen, den er auch in anderen Schriften immer wieder lobend erwähnt und zitiert.14 Unter den wenigen Werken Ciceros, auf welche || 11 HILLGRUBER, MICHAEL: Nulla est enim societas nobis cum tyrannis. Die antiken Bemühungen um eine Rechtfertigung des Tyrannenmordes mit einem Ausblick auf ihre Nachwirkung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Toruń 2004 (Xenia Toruniensia VIII), S. 33 [Hervorhebung im Original]. In De re publica bestimme Cicero den Tyrannen als abscheuliche Kreatur: »Nur das Aussehen eines Menschen habe ein solches Wesen noch bewahrt, an Grausamkeit aber übertreffe es die schlimmsten Ungeheuer; denn wer könne denjenigen mit Recht noch einen Menschen nennen, der mit seinen Mitbürgern, ja mit dem ganzen Menschengeschlecht weder Rechts- noch Sittengemeinschaft haben wolle?«; vgl. ebd., S. 29f. Die theoretische Begründung des Tyrannenmords finde sich jedoch erst in De officiis. Möglicherweise spielt Cicero dabei HILLGRUBER zufolge auf die von ihm begrüßte Ermordung Caesars ein Jahr zuvor an, da er als Fallbeispiel die Tötung des Tyrannen durch dessen eigene Freunde wählt. Vgl. dazu sowie zu den möglichen Quellen für Ciceros Begründung des Tyrannizids ebd., S. 35–38. 12 JAEGER, STEPHEN C.: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter. Aus dem Amerikanischen übers. von SABINE HELLWIG-WAGNITZ, Berlin 2001 (Philologische Studien und Quellen 167), S. 170. 13 »Eine Geschichte der Wirkung Ciceros auf das Mittelalter steht leider noch aus«, wie JAEGER (Anm. 12), S. 168, feststellt. In Bezug auf seine ethischen Schriften sei »Cicero zusammen mit Seneca der einflußreichste unter den römischen Autoren« (ebd.) gewesen. Bedeutsam für die deutschsprachige Rezeption von De officiis ist dessen Adaptation im Moralium dogma philosophorum, das Wernher von Elmendorf verdeutschte; vgl. KESTING, PETER: Art. Cicero, Marcus Tullius, in: 2VL, Bd. 1 (1978), Sp. 1274–82, hier Sp. 1277f. 14 So etwa in einem Cicero gewidmeten Kapitel des Entheticus de dogmate philosophorum; vgl. HERMAND-SCHÉBAT, LAURE: John of Salisbury and Classical Antiquity, in: GRELLARD, CHRISTOPHE/LACHAUD,

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Johannes direkten Zugriff hatte, befand sich nachweislich auch eine Abschrift von De officiis.15 Zwar fehlt bei Johannes die ausdrückliche Verbindung von Tyrannei und Bestialität, analog zu Cicero aber setzt er den Tyrannen in Opposition zum Humanen, indem er ihn als Feind des Menschengeschlechts (VIII,19; Bd. 2, S. 371, Z. 4: hostis humani generis)16 bestimmt und so – wie Cicero unter Bezugnahme auf die Denkfigur des Staatskörpers – die Notwendigkeit des Tyrannizids begründet.17 Welcher Status der Tyrannei und dem Tyrannenmord bei Johannes von Salisbury zukommt, ist in der Forschung umstritten.18 Von besonderem Gewicht in Johannes’

|| FRÉDÉRIQUE (Hrsg.): A Companion to John of Salisbury, Leiden 2015 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 57), S. 180–214, hier S. 196. 15 Dies ist durch seinen Nachlass an die Kathedrale von Chartres bekannt; vgl. ebd., S. 196f. Laut HERMAND-SCHÉBAT waren Cicero und sein philosophisches Denken überaus wichtig für Johannes von Salisbury, obwohl er nur wenige seiner Schriften besessen habe. Von den rhetorischen Werken habe er De inuentione und die apokryphe Schrift Ad Herennium gekannt. Der Kathedrale von Chartres habe er eine Abschrift von De oratore vermacht. Von den philosophischen Schriften habe er außer zu De officiis Zugang zu De amicitia und De senectute gehabt, die der Katalog der Bibliothek von Canterbury 1170 verzeichne. Die wenigen ihm bekannten Werke Ciceros habe Johannes sich intensiv angeeignet und seine Ideen verinnerlicht. Zudem habe er Cicero mittelbar über Zitate bei anderen antiken oder spätantiken Autoren rezipiert. 16 Benutzte Ausgabe: Ioannis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici sive de nvgis cvrialivm et vestigiis philosophorum libri VIII, hrsg. von CLEMENS C. I. WEBB, 2 Bde., London/Oxford 1909, unveränderter Nachdruck Frankfurt a. M. 1965. Hier und im Folgenden eigene Übersetzung. 17 Vgl. III,15 (Bd. 1, S. 232, Z. 18f.): Porro tirannum occidere non modo licitum est sed aequum et iustum (»Ferner ist es nicht nur erlaubt einen Tyrannen zu töten, sondern recht und billig«). WEBB verweist hier auf Ciceros De officiis. Im Fortgang seiner Ausführungen argumentiert Johannes wie Cicero organologisch, vgl. III,15 (Bd. 1, S. 233, Z. 5–7): Certe hostem publicum nemo ulciscitur, et quisquis eum non persequitur, in seipsum et in totum rei publicae mundanae corpus delinquit (»Allerdings straft niemand den Staatsfeind und jeder, der ihn nicht verfolgt, vergeht sich an sich selbst und am gesamten weltlichen Staatskörper«). Vgl. auch VIII,19 (Bd. 2, S. 371, Z. 6f.): Sicut ergo dampnatum hostem licet occidere, sic tirannum (»So wie es folglich erlaubt ist, den verdammenswerten Feind zu töten, so auch den Tyrannen«). Als »clearly Ciceronian« bestimmt auch VAN LAARHOVEN, JAN: Thou Shalt N o t Slay a Tyrant! The So-Called Theory of John of Salisbury, in: WILKS, MICHAEL (Hrsg.): The World of John of Salisbury, Oxford 1984, S. 319–41, hier S. 321, die Argumentation in Policraticus III,15. 18 Der Policraticus stellt den Tyrannenmord vorsichtig abwägend dar (vgl. VIII,17–20). Daher moniert etwa DUGGAN, ANNE J.: Art. Johannes von Salisbury (1115/20–1180), in: TRE, Bd. 17 (1988), S. 153–55, hier S. 154, dass der Tyrannizid durch seinen »revolutionären« Charakter »unverhältnismäßig große Beachtung« gefunden habe. Der Policraticus greife vielmehr grundsätzlich »den Mißbrauch von Macht im weitesten Sinne« (ebd., S. 155) an. Die neuere Forschung akzentuiert denn auch die Widersprüche und Einschränkungen seiner Argumentation. Vgl. ROUSE, RICHARD H./ROUSE, MARY: John of Salisbury and the Doctrine of Tyrannicide, in: Speculum 42 (1967), S. 693–709; KERNER, MAX: Johannes von Salisbury und die logische Struktur seines Policraticus, Wiesbaden 1977, S. 199–203; STRUVE, TILMAN: Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, Stuttgart 1978 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 16), S. 144f.; MIETHKE, JÜRGEN: Art. Widerstand/Widerstandsrecht I. Alte Kirche und Mittelalter, in: TRE, Bd. 35 (2003), S. 739–50, hier S. 746. Laut VAN LAARHOVEN (Anm. 17), S. 332f., legt Johannes von Salisbury keine ›Tyrannen m o r d lehre‹ oder Theorie des Tyranni-

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Darstellung tyrannischer Herrschaft aber ist die umfangreiche Beispielreihe von Tyrannen aus der römischen Antike und dem Alten Testament, die alle gewaltsam und schmählich zu Tode kommen.19 In historischer Perspektive bemisst sich die Qualität eines Herrschers bei Johannes somit nicht nur nach dessen Handeln, sondern insbesondere auch nach dessen Lebensende, das für die retrospektive Kategorisierung als Tyrann entscheidend ist.20 Hervorzuheben ist gleichwohl die Einbindung dieser Beispiele und der Rechtfertigung des Tyrannenmords in das Vertrauen auf die Gerechtigkeit Gottes, das den Policraticus trägt, denn der Tyrann wird laut Johannes durch göttlichen Willen i m m e r seiner gerechten und schrecklichen Strafe zugeführt – sei es durch Menschenhand oder auf andere Weise, ob im Diesseits oder im Jenseits.21

|| zids, sondern eine ›Tyrannenlehre‹ (»tyrannology«) mit moralistischer Tendenz vor, die vor »inhuman tyranny itself« (beide Zitate ebd., S. 329) warne. Die These der Tyrannenmordlehre habe sich durch die verzerrte spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Policraticus-Rezeption verfestigt, die ihn immer wieder theoretisch im Kontext mit Tyrannenmorden herangezogen habe. Kritisch äußert sich NEDERMAN, CARY J.: John of Salisbury’s Political Theory, in: GRELLARD, CHRISTOPHE/LACHAUD, FRÉDÉRIQUE (Hrsg.): A Companion to John of Salisbury, Leiden 2015 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 57), S. 258–88, hier S. 279, zu VAN LAARHOVEN und betont die argumentative Einbindung des Tyrannizids in die organologische Staatsauffassung des Policraticus und den übergeordneten Wert der Gerechtigkeit. Haupt und Glieder sollten bei der gerechten Urteilsfindung und -vollstreckung kooperieren. Sei aber der Herrscher selbst tyrannisch und ungerecht, seien außergesetzliche Wege zu beschreiten, denn »it becomes impossible to impose the law upon the ruler, because he is himself its source and final judge« (ebd., S. 282). Johannes wolle nicht zum Tyrannenmord anstiften, sondern dessen theoretische Prämissen darlegen, und demonstriere die Pflicht der Tyrannentötung, wenn die Umstände es erfordern. Die Forschungsdebatte zu Johannes’ Tyrannen(mord)lehre bündelt auch SEIT, STEFAN: Einleitung, in: Johannes von Salisbury: Policraticus. Eine Textauswahl. Lateinisch – Deutsch, ausgew., übers. und eingel. von DEMS., Freiburg i. Br. [u. a.] 2008, S. 11–54, hier S. 35–43. 19 Vgl. ROUSE/ROUSE (Anm. 18), S. 696. Zum Ende tyrannischer Herrscher vgl. Policraticus IV,12 (Bd. 1, S. 276, Z. 26–30): Rarus eorum aut nullus filium reliquit heredem, et omnes in breui post uaria pericula et caedes sui et suorum plurimas diuersis mortibus et fere ignominiosis quasi in momento deleti sunt et descendentes ad inferos successores habuerunt aut hostes aut ignotos (»Kaum einer oder keiner von ihnen aber hinterließ einen Sohn als Erben und alle wurden schnell nach verschiedenen Gefahren und sehr vielen Morden entweder an ihnen selbst oder an den Ihrigen mit unterschiedlichen und meistens schimpflichen Todesarten gleichsam innerhalb eines Augenblicks ausgelöscht und während sie zu den Toten hinabstiegen, hatten sie entweder Feinde oder Fremde als Nachfolger«). Johannes’ Beispiele resümiert VAN LAARHOVEN (Anm. 17), S. 324. Er führe 16 römische Kaiser von Caesar bis Septimius (Kap. 19), 10 biblische Könige oder Befehlshaber von Nimrod bis Holofernes (Kap. 20) sowie ein ›buntes Gemisch‹ weiterer Beispiele (Kap. 21) an. 20 Zur Bestimmung des Tyrannen von seinem Ende her siehe auch den Beitrag von MATHIAS HERWEG zur Kaiserchronik im vorliegenden Band. 21 Vgl. ROUSE/ROUSE (Anm. 18), S. 703. Die Ermordung des Tyrannen durch einen Menschen sei nur eine Möglichkeit der göttlichen Strafe; ebenso könne Gott den Tyrannen durch Naturgewalten, Engel, Krankheiten oder auch erst im Jenseits strafen. Vgl. auch NEDERMAN (Anm. 18), S. 282f.

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1.2 Tyrannisches im Straßburger Alexander und im Reinhart Fuchs? Auf der Basis der vorstehenden Vorüberlegungen zur prinzipiellen Ambiguität des Animalischen in Bezug auf die Herrschaftslegitimation, zur Beziehung von Animalität, Inhumanität und Tyrannei sowie zum Regizid als Signum tyrannischer Herrschaft in der politischen Theorie sollen im Folgenden mit dem Straßburger Alexander und dem Reinhart Fuchs zwei Werke in den Blick genommen werden, die wie der Policraticus in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden sind. Im Alexanderroman wie im Tierepos kommt nicht nur dem Verhältnis des jeweiligen Herrschers zum Animalischen eine entscheidende Rolle für die Legitimation und Delegitimation von Königsherrschaft zu, sondern der Makedonenherrscher Alexander22 und der Löwenkönig Vrevel23 finden auch auf dieselbe eigentümliche Art den Tod: vergiftet und mit in Folge der Vergiftung gespaltenem Schädel. So sterben sowohl Alexander als auch Vrevel, dessen Zunge über die Dreiteilung seines Kopfes hinaus noch in neun Teile zerbirst, durch die Vergiftung einen schmählichen und in politisch-organologischer Perspektive aufgrund der Zerspaltung ihres Kopfes höchst symbolträchtigen Tod. Zerspaltene Schädel sind als Todesursache durchaus nicht selten in der deutschen Literatur des Mittelalters – jedoch in der Regel durch das Schwert und nicht durch Gift.24 Auch setzt sich im Mittelalter gemeinhin die Auffassung vom Gifttod Alexanders des Großen durch.25

|| 22 Vgl. V. 6823/7271–6825/7273. Benutzte Ausgabe: Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., komm. und übers. von ELISABETH LIENERT, Stuttgart 2007. Im Folgenden eigene Übersetzung. Die Ausgabe gibt ab V. 250 eine doppelte Verszählung an; eine eigene neue sowie die der folgenden Ausgabe: Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und den lateinischen Quellen hrsg. und erklärt von KARL KINZEL, Halle a. d. S. 1884 (Germanische Handbibliothek 6). Zur Verszählung vgl. LIENERT, ELISABETH: Einführung, in: Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., komm. und übers. von DERS., Stuttgart 2007, S. 7–51, hier S. 48f. Zur besseren Vergleichbarkeit mit älteren Studien werden im Folgenden doppelte Versangaben gemacht. 23 Vgl. P, V. 2165–91; 2241–48. Benutzte Ausgabe: Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und erl. von KARL-HEINZ GÖTTERT, Stuttgart 1976, bibl. erg. Ausg. 2005. Die Ausgabe enthält die Reinhart Fuchs-Fassungen der Heidelberger Handschrift Cpg 341 (Sigle P) sowie die Kasseler Bruchstücke 8° Ms. poet. germ. et roman. 1 aus der Murhardschen Bibliothek Kassel (Sigle S1–S4). Im Folgenden eigene Übersetzung. 24 Zu denken ist hier etwa an Gottfrieds Tristan, der Morgan tötet, indem er dessen Schädeldecke, Gehirn und Zunge mit dem Schwert zerteilt: er zucte swert und rande in an: / er sluoc im obene ze tal / beidiu hirne und hirneschal, / daz ez im an der zungen want (V. 5450–53). Benutzte Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold, hrsg. von WALTER HAUG/MANFRED GÜNTER SCHOLZ. Mit dem Text des Thomas, hrsg., übers. und komm. von WALTER HAUG, 2 Bde., Berlin 2012 (Bibliothek deutscher Klassiker 192/Bibliothek des Mittelalters 10/11). 25 Vgl. BELLON-MÉGUELLE, HÉLÈNE: Mourir de laide mort despite. L’empoisonnement d’Alexandre dans la littérature française médiévale, in: Cahiers de recherches médiévales et humanistes 17 (2009): Les Poisons au Moyen Âge, S. 141–60, hier S. 142.

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Der Tod durch Vergiftung in Verbindung mit einer Spaltung von Haupt und/oder Zunge aber ist in der mittelhochdeutschen Literatur singulär und sowohl in der AlexanderTradition als auch in der europäischen Tierdichtung ohne Vorbild. Umso mehr erstaunt es, dass dieses bemerkenswerte Bindeglied zwischen Alexanderroman und Tierepos bislang kaum Beachtung gefunden hat.26 Während der Löwenkönig Vrevel von der Forschung immer wieder als Tyrann identifiziert worden ist,27 erscheint WERNER SCHRÖDERs beiläufige Bemerkung im Verfasserlexikon, dass »[d]er Giftmord, dem Alexander erliegt, [...] in der Kaiserchronik die bevorzugte Todesart für Tyrannen«28 sei, innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Straßburger Alexander als eher randständig. So betont etwa ELISABETH LIENERT die Linderung negativer Charakteristika im Straßburger Alexander

|| 26 Auf die ähnlichen Folgen der Vergiftung im Straßburger Alexander und im Reinhart Fuchs macht bereits GRIMM, JACOB: Reinhart Fuchs, Berlin 1834, S. 114, in der Anmerkung zu V. 2243 aufmerksam. Eine Beeinflussung der Darstellung von Vrevels Tod im Reinhart Fuchs durch den Alexanderroman hält auch SPECKENBACH, KLAUS: Der Reichsuntergang im Reinhart Fuchs und in der Nibelungendichtung, in: GOOSSENS, JAN/SODMANN, TIMOTHY (Hrsg.): Third international Beast Epic, Fable and Fabliau Colloquium, Köln/Wien 1981, S. 404–34, hier S. 429–31, vor allem Anm. 56, für wahrscheinlich, ohne dies aber weiter zu verfolgen. 27 Einige Beispiele: SCHWAB, UTE: Zur Datierung und Interpretation des Reinhart Fuchs, mit einem textkritischen Beitrag von KLAUS DÜWEL, Neapel 1967 (Quaderni della sezione linguistica degli annali V), spricht vom »exemplarische[n] Tod des bösen Tyrannen aus der Hand seines skrupellosen Ratgebers« (S. 156); KOLB, HERBERT: Nobel und Vrevel. Die Figur des Königs in der Reinhart-Fuchs-Epik, in: STRELKA, JOSEPH P./JUNGMAYER, JÖRG (Hrsg.): Virtus et Fortuna. Zur Deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. FS Hans-Gert Roloff, Bern [u. a.] 1983, S. 328–50, hier S. 337, bemerkt, dass der König im mittellateinischen Tierepos, dem Ysengrimus, im Unterschied zum Roman de Renart, der den Löwenherrscher mit dem Eigennamen Noble versieht, nicht als nobilis bezeichnet werde, sondern mehrfach »mit dem negativen Herrscher-Signum tyrannus« belegt werde. Im Reinhart Fuchs werde der Begriff wüeterich, der im Mittelhochdeutschen den Tyrannen bezeichne, zwar nicht verwendet, »doch man darf vermuten, daß er mit dem Namen Vrevel ein ähnliches meint: der Löwe, König der Tiere, ist ein Tyrann« (ebd., S. 343). Zur Forschungsdiskussion über die Ambiguität des Königsnamens Vrevel vgl. DARILEK, MARION: Füchsische Desintegration. Studien zum Reinhart Fuchs im Vergleich zum Roman de Renart, Heidelberg 2020 (Beihefte zur GRM 100), S. 331f. Eine Verbindung zwischen dem Policraticus, der den Stauferherrscher Friedrich I. »zu einem maßlosen, hochmütigen, machtgierigen, grausamen und treulosen Tyrannen« macht und zudem das »Bild des Löwen für Friedrich [nutzt]«, und dem Reinhart Fuchs sieht SCHWOB, ANTON: fride unde reht sint sêre wunt. Historiographen und Dichter der Stauferzeit über die Wahrung von Frieden und Recht, in: HAUCK, KARL [u. a.] (Hrsg.): Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. FS Ruth Schmidt-Wiegand, Berlin/New York 1986, S. 846–69, hier S. 859. WIDMAIER, SIGRID: Das Recht im Reinhart Fuchs, Berlin/New York 1993 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker NF 102 = 226), S. 222, meint, dass vieles dafür spreche, dass die Löwendarstellung im Reinhart Fuchs sich gegen Friedrich I. wende, der auch kritisch als »deutsche[r] Tyrann[]« herabgewürdigt worden sei. 28 SCHRÖDER, WERNER: Art. Der Pfaffe Lambrecht, in: 2VL, Bd. 5 (1985), Sp. 494–510, hier Sp. 507.

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gegenüber seinen Prätexten, darunter auch dem Vorauer Alexander, und die Annäherung Alexanders an das Idealbild eines Herrschers im Mittelalter.29 Ziel des vorliegenden Beitrags ist es folglich n i c h t , Alexander in der Straßburger Fassung des Alexanderromans zum Tyrannen zu stilisieren, was der Gesamtanlage und der Figurenkonzeption des Texts widerspräche. Zu verorten ist der Straßburger Alexander jedoch innerhalb der Umwertungen, die das Alexanderbild am Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert erfährt: Die zunächst dominierende geistliche Deutung, die Alexanders Hochmut und Unersättlichkeit betont und moralisch verurteilt (so z. B. der Policraticus), wird allmählich abgelöst von einer weltlichen Perspektive, die den Makedonenherrscher zum herrscherlichen Idealbild erhebt.30 So formuliert FRANÇOIS ROUILLÉ pointiert, dass die Alexander-Darstellung sich in diesem Zeitraum derart wandle, dass der Tyrann allmählich zum guten Fürsten mutiere (»tyran devenant bon prince«).31 In Bezug auf den Straßburger Alexander wird im Folgenden die These verfolgt, dass sich diese Spannungen zwischen idealer und tyrannischer Herrschaft auch und gerade am Aspekt des Animalischen und der Entmenschlichung sowie an der Inszenierung des Herrschertods festmachen lassen. Das Animalische ist dabei nicht per se als das Tyrannische zu verstehen, da im Straßburger Alexander wie im Reinhart Fuchs, wie zu zeigen ist, ein animalisches Gewaltpotenzial am Ausgangspunkt legitimer Herrschaft steht, die auf je unterschiedliche Weise als Einhegung ungebändigter tierlicher Gewalt entworfen wird. Tyrannei liegt – im Anschluss an Cicero und Johannes von Salisbury – dann vor, wenn das Herrscherhandeln eine Enthumanisierung im ethischen Sinne bewirkt und der Herrscher sich gleichsam von der Menschlichkeit abwendet. Der Vergleich kann so in zweierlei Hinsicht dazu beitragen, den Blick auf die ›Polyvalenz der Tyrannis‹ zu schärfen: zum einen durch die dem theriotopischen Gewaltenbann inhärente Ambiguität, zum anderen durch die infolge der divergierenden Figurenkonzeption im Tierepos und im Antikenroman notwendigerweise voneinander abweichende Darstellung und Funktionalisierung des Animalischen und des Inhumanen für die Legitimation und Delegitimation von Herrschaft. Die Untersuchung widmet sich im Folgenden zunächst der Frage nach der Bedeutung von Animalität und Inhumanität für die Legitimation, den Erwerb und die Ausübung von Herrschaft im Straßburger Alexander (2) und im Reinhart Fuchs (3). Aus-

|| 29 Vgl. LIENERT, ELISABETH: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 45f. 30 Vgl. ROUILLÉ, FLORENT: La Tyrannie à l’épreuve de la littérature. Arthur, Alexandre et le Policraticus de Jean de Salisbury, in: CASANOVA-ROBIN, HÉLÈNE/LÉVY, CARLOS (Hrsg.): Le Tyran et sa postérité dans la littérature latine de l’Antiquité à la Renaissance, Paris 2013, S. 223–54, hier S. 252f. Negativ stelle insbesondere der Policraticus Alexander dar; vgl. ebd., S. 240–45. Johannes betone Alexanders Laster, allen voran seine Ruhmsucht, tilge die Verbindung Alexanders mit Aristoteles, um ihn der schlechten Ratgeberwahl zu bezichtigen, und akzentuiere das Fehlen leiblicher Nachkommen. 31 Ebd., S. 253.

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gelotet werden soll so, inwiefern Animalität und Inhumanität in der mittelhochdeutschen Literatur als ein möglicher Schlüssel zur Ambiguität von gerechter Herrschaft und Gewaltherrschaft, von Herrscheridealität und Tyrannei und zum Umschlagen (oder zum graduellen Übergang?) vom einen ins andere fungieren können. Ausgehend von der Korrelation zwischen der Art des Herrschertods und der Herrscherqualität in der politischen Theorie, steht abschließend der Regizid durch Gift in den beiden Werken (4) im Fokus. Im jeweiligen Werkzusammenhang und vor dem Hintergrund zeitgenössischer Positionen zur Vergiftung und zum Tyrannizid gilt es dabei, nach den Rückschlüssen zu fragen, die das nahezu identische Ende Vrevels und Alexanders auf die Beurteilung ihrer respektiven Eignung zur Herrschaft und ihres Herrscherhandelns zulässt.

2 sîn ougen wâren freislîch: Animalität und Königsherrschaft im Straßburger Alexander Eine Untersuchung der politischen ›Literaturtiere‹ im Straßburger Alexander erscheint lohnenswert, da ›semiotische‹ wie ›diegetische‹ Tiere32 in diesem ersten deutschsprachigen Antikenroman33 im Zusammenhang mit dem Erzählen von Herrschaft auf vielfältige Weise in Erscheinung treten. Besonders prominent sind die Tiervergleiche bei der initialen descriptio Alexanders (V. 145–66) sowie bei Alexanders Bezwingung des Streitrosses Bucephalus (V. 271/272–376/377) gleich zu Beginn. Bei Alexanders Eroberungszügen ist nicht nur die humanimalische Kampfgemeinschaft von Ross und Reiter von Bedeutung (V. 1359/1811–1370/1822), sondern ebenso die kriegerische Instrumentalisierung weiterer Tiere34 sowie unterschiedliche Formen der metaphorischen Vertierung oder Entmenschlichung in der militärischen Auseinandersetzung.35 In den

|| 32 BORGARDS (Anm. 2), S. 226, unterscheidet zwischen diegetischen Tieren und non-diegetischen bzw. semiotischen Tieren. Erstere treten innerhalb der Diegese als Lebewesen auf. Letztere sind nicht als Lebewesen, sondern z. B. in »Redewendungen, Metaphern und Namen« (ebd.) in der Diegese präsent. Tiere in literarischen Texten bezeichnet BORGARDS generell als ›literarische Tiere‹ oder ›Literaturtiere‹ (ebd., passim). 33 Eine chronologische Text- und Quellen-Übersicht zu »[a]ntike[n] epische[n] Stoffe[n] in der Literatur des Mittelalters« bietet LIENERT (Anm. 29), S. 23f. Die Entstehung des Alexander des Pfaffen Lambrecht sei um 1155/60 anzusetzen, der Vorauer Alexander um 1160 und der hier betrachtete Straßburger Alexander wohl um 1185 zu datieren. 34 Porus setzt unbezwingbare Kriegselefanten ein, die Alexander aber durch List ausschaltet (vgl. V. 3877/4327–3993/4443). Zu den möglichen Quellen vgl. OBERMAIER, SABINE: Alexander und die Elefanten. Antike Zoologie und christliches Herrscherideal im deutschsprachigen Alexanderroman, in: ALTHOFF, JOCHEN [u. a] (Hrsg.): Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption XVIII, Trier 2008, S. 77–100, hier S. 79–87. 35 V. 845/1296–868/1319 (Kampf gegen die Tyrer); V. 2340/2792–2350/2802 und 2889/3341–2893/ 3345 (Kampf gegen Darius); V. 3861/4311–3865/4315 (Herabsetzung Porus’).

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Orientabenteuern sind Alexander und seine Männer mit einer wunderlichen, furchterregenden Tierwelt konfrontiert.36 Von besonderer Bedeutung sind Tiere auch bei Alexanders Begegnung mit der Königin Candacis.37 Da der Fokus im Folgenden zum besseren Vergleich mit der Darstellung des Löwenherrschers im Reinhart Fuchs auf Alexander als Herrscherfigur liegt, konzentriert sich die Untersuchung auf die Tierdarstellungen in Verbindung mit Alexanders Einführung, Jugend und Herrschaftsantritt sowie auf ausgewählte Kriegs- und Eroberungshandlungen des ersten Handlungsteils. Die Orientabenteuer und die Candacis-Episode werden hingegen weitestgehend ausgeklammert.

2.1 Alexander und Bucephalus Die eingangs angeführte Ambiguität von animalischer Gewalt und Gewaltenbann als Ausgangspunkt politischer Herrschaft wird im Straßburger Alexander geradezu mustergültig an der Verbindung zwischen Alexander und seinem Pferd Bucephalus deutlich, denn die Bändigung des offenbar unüberwindbaren, gewaltigen Reittiers,38 das im harschen Gegensatz zur üblichen Einheit von Ross und Reiter39 Menschen durch || 36 Vgl. V. 4519/4969–4605/5055. Zur »fremde[n] Natur« des Orients, von welcher Alexander in einem Brief berichtet, vgl. STOCK, MARKUS: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst B und im König Rother, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 113–20. 37 So ist Candacis’ Herrschaftsbereich von einer erstaunlichen, wundersamen Flora und Fauna (V. 5355/5803–5384/5832) umgeben. Auch versucht Candacis, Alexander durch eine Vielzahl an Tiergeschenken zu gewinnen: Darunter sind mehr als 90 Elefanten, über 60 Panther, 100 Leoparden, 500 Vögelchen, Papageien und Sphingen (vgl. V. 5102/5550–5112/5560). Unter den Geschenken besonders herausgestellt wird ein monosceros (V. 5135/5583), ein Einhorn. Inmitten von Candacis’ Palast befindet sich zudem eine überaus kunstvoll gearbeitete Tierfigur, die einem Automaten gleicht (V. 5553/6001– 5581/6029). Zur Candacis-Episode vgl. FRIEDRICH, UDO: Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander, in: HARMS, WOLFGANG/JAEGER, C. STEPHEN (Hrsg.): Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 119–36, hier S. 133–36; FRIEDRICH, UDO: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2009 (Historische Semantik 5), S. 317–21, sowie STOCK (Anm. 36), S. 120–25. 38 Bucephalus wird als wunderlîch, irre und vil strîtich (V. 271/272f.) charakterisiert sowie als snel und starc von gescafnisse (V. 273/274) beschrieben. Zudem schreibt der Text ihm unzallîche craft und ummâzlîche maht (V. 275/276f.) zu. 39 Vgl. PASTOUREAU, MICHEL: Bestiaires du Moyen Âge, Paris 2011, S. 101. Die Feudalgesellschaft sei eine »sociéte du cheval«, die Pferde besonders wertgeschätzt habe. Die Heldenepik und der höfische Roman idealisierten sie, versähen sie oftmals mit Eigennamen und verfügten im Unterschied zu Bestiarien über ein differenziertes equines Vokabular. Das teilweise gänzliche Fehlen von Pferden in Bestiarien erklärt PASTOUREAU damit, dass diese möglicherweise so sehr als Gefährte des Menschen (»compagnon de l’homme«, ebd.) wahrgenommen wurden, dass man sie nicht als ›echtes‹ Tier (»véritable animal«, ebd.) betrachtet, sondern ihnen einen spezifischen Sonder- und Zwischenstatus zwischen Tier- und Menschenwelt zugewiesen habe.

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Bisse und Tritte tötet,40 weist den Bezwinger einer Prophezeiung zufolge als legitimen Nachfolger von Alexanders Vater, König Philipp, aus.41 Als der fünfzehnjährige Alexander (V. 409/410) von seiner Ausbildung bei unterschiedlichen Lehrmeistern zurückkehrt (V. 317/318), macht Bucephalusʼ rasendes Schreien und Wiehern (V. 327/328f.), das einem freislîche[n] tiere (V. 339/340) gleicht, ihn auf das Pferd aufmerksam. Nachdem man ihn über die Unbezwingbarkeit und die tödliche Gefahr, die von dem Ross ausgeht, nicht jedoch über die Prophezeiung aufgeklärt hat (V. 342/343–356/357), begibt Alexander sich unmittelbar (V. 358/359: schiere) zu Bucephalus. Tatsächlich gelingt ihm das scheinbar Unmögliche – die Unterwerfung des bis dahin nicht zu bändigenden Reittiers: Dô sîn daz ros wart gware und er iz begunde ane stare, iz vergaz allir sîner maht unde woldime wesen dienisthaft. Iz knête fur in der nider und ne unsitete niwit sider. Ime worden sîne gebêre, alsiz des kindes vil wol gewone wêre. (V. 359/360–366/367) Als das Ross ihn bemerkte und er begann, es anzustarren, vergaß es alle seine Kraft und wollte ihm dienstbar sein. Es kniete vor ihm nieder und wütete seitdem nicht mehr. Es begann sich so zu benehmen, als wäre es an den Jüngling bestens gewöhnt.

Bemerkenswert ist, dass Alexander keine unmittelbare, manifeste Gewalt ausüben muss, um sich des Tiers zu bemächtigen. Sein Blick allein bewirkt, dass das Ross seine exorbitante Kraft (maht) vergisst und sich ihm freiwillig durch die Geste des Kniefalls dienisthaft unterwirft – und dies nicht nur für die Dauer des buchstäblichen Augenblicks, sondern für immer. Zudem konstatiert der Text eine eigentümliche Vertrautheit zwischen Jüngling und Pferd und suggeriert so, dass beide füreinander bestimmt seien. Dass Alexander es vermag, Bucephalus auch ohne physische Gewaltausübung gefügig zu machen, liegt – und hierin zeigt sich die Ambiguität des »theriotopen Gewaltenbann[s]«42 – an seinem eigenen animalischen Gewaltpotenzial, das sich unter anderem in seinen Augen manifestiert.43 Diese werden bei der einführenden descriptio

|| 40 Vgl. V. 277/278; vgl. auch FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 308. 41 Ein Bote fordert König Philipp dazu auf, das Pferd gut zu behüten, da man durch es in Erfahrung bringen werde, an wen sein Königreich nach seinem Tod fallen solle: iz solde rehte derre sî, / der iz allir êrist beschrite, / wandiz noh diu nehein man ne gerite (V. 314/315–316/317). 42 BORGARDS (Anm. 3), S. 112. 43 SCHLECHTWEG-JAHN, RALF: Macht und Gewalt im deutschsprachigen Alexanderroman, Trier 2006 (Literatur – Imagination – Realität 37) deutet die »›Freiwilligkeit‹ der Unterwerfung« (S. 46) in Bezug auf den Vorauer Alexander als Angstreaktion: »Heroische ›Macht‹ ist Verzicht auf Gewalt durch öffentliche, im und am Körper präsente Gewaltandrohung« (S. 47).

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Alexanders gleich zwei Mal erwähnt. Noch bevor Alexanders weitere Physis beschrieben wird, vergleicht der Text seinen Blick mit dem eines gefräßigen Wolfs vor seiner Nahrung: Und alsime iht des gescach, daz ime ubile ze hugen was, sô sach er alse der wolf deit, alser ubir sînem âze steit. (V. 145–48) Und wenn ihm etwas zustieß, das ihm schlecht erschien, so blickte er drein wie ein Wolf über seinem Fressen.

Der Beschreibung Alexanders wird somit ein Vergleich mit der unter anderem aus der biblischen Tradition bekannten, violenten und unersättlichen Raublust des Wolfs44 sowie mit dessen in theologischen und naturkundlichen Schriften belegtem schreckenerregendem Blick45 vorangestellt.46 Ob der Wolfsblick als Reaktion auf ihm widerfahrendes Übel berechtigt ist oder ob hier auf die Gefahr abgezielt wird, Alexanders subjektives Missfallen zu erregen, bleibt offen. In der Formulierung daz ime ubile ze hugen was könnte Letzteres mitschwingen, wenngleich der Erzähler von einer expliziten Bewertung des Phänomens absieht. Zum zweiten Mal ist die Rede von Alexanders Augen bei der Beschreibung seines Kopfes. Als Vergleichstiere für seine blaue (V. 158: weiden)47 und schwarze (V. 164: || 44 In der Bibel wird der Wolf immer wieder (Gen 49,27, Mt 7,15, Apg 20,29) als rapax (›reißend‹, ›räuberisch‹, ›gierig‹) bezeichnet. Zu den Ursprüngen der religiösen Auslegung des Wolfs vgl. WEITBRECHT, JULIA: Lupus in fabula. Mensch-Wolf-Relationen und die mittelalterliche Tierfabel, in: SCHEUER, HANSJÜRGEN/VEDDER, ULRIKE (Hrsg.): Tiere im Text. Exemplarität und Allegorizität literarischer Lebewesen, Bern [u. a.] 2015 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik NF 29), S. 23–35, hier S. 25. Für den Wolf im Tierepos hebt WALTENBERGER, MICHAEL: Wortgewaltige Wolfsvernichtung. Aspekte des Politischen im lateinischen Ysengrimus (um 1150), in: HÖFELE, ANDREAS/KELLNER, BEATE (Hrsg.): Menschennatur und politische Ordnung, Paderborn 2016, S. 95–115, hier S. 98, dessen wesenhafte »rapacitas (vgl. Gen 49:27), die aggressive Gewalt eines karnivoren Raubtiers«, hervor. Zu fragen sei, inwiefern die Tierepik anhand von Raubtieren wie Wolf, Bär, Löwe oder Fuchs Interferenzen zwischen natürlicher und politischer Ordnung sowie die »Bedingungen der Möglichkeit einer Abgrenzung legitimer von illegitimer Gewalt« (ebd.) diskutiere. 45 Vgl. HÜNEMÖRDER, CHRISTIAN: Art. Wolf, in: LexMA, Bd. 9 (1999), Sp. 302f., hier Sp. 302. 46 Die Forschungsdiskussion über die Abweichung von der altfranzösischen Vorlage, die keinen Wolfs-, sondern einen Löwenvergleich bietet, resümiert MACKERT, CHRISTOPH: Die Alexandergeschichte in der Version des ›Pfaffen‹ Lambrecht. Die frühmittelhochdeutsche Bearbeitung der Alexanderdichtung des Alberich von Bisinzo und die Anfänge weltlicher Schriftepik in deutscher Sprache, München 1999 (Beihefte zur Poetica 23), S. 134, Anm. 219. MACKERT selbst geht von einer planvollen Umgestaltung Lambrechts aus. Die Abwandlung des Löwen in einen Wolf kommentiert mit Referenz auf MACKERT zu V. 147 auch LIENERT, ELISABETH: Stellenkommentar, in: Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., komm. und übers. von DERS., Stuttgart 2007, S. 555–634, hier S. 561. 47 Das Farbadjektiv bezeichnet das Blau des Färberwaids; vgl. BMZ, Bd. 3, Sp. 562a; DWb, Bd. XXVII, Sp. 1032.

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swarz) Augenfarbe werden Drache (V. 159) und Greif (V. 165) herangezogen, also Tiere, die aus moderner Sicht zwar eindeutig den Fabelwesen zuzuordnen wären, aber Teil des realen48 mittelalterlichen Bestiariums sind.49 Bestiarien kategorisieren Drachen gemeinhin als größten Vertreter der Gattung der Schlangen. Auch besitze der Drache einen schreckenerregenden Blick und könne sich in allen Elementen bewegen.50 In der europäischen Tradition ist der Drache ausschließlich negativ besetzt und wird mit dem Teufel verglichen und identifiziert.51 Ähnliches gilt für den Greif, bei dem es sich um ein erschreckend anzublickendes, praktisch unbesiegbares Mischwesen aus Adler und Löwe handelt52 und der in der geistlichen Tradition immer wieder mit dem Teufel gleichgesetzt wird.53 Alexander erhält so nicht nur animalische, sondern auch diabolische Züge. Die animalisch-wilden, teils auch teuflisch konnotierten Körpermerkmale Alexanders sind jedoch nicht auf seine Augen beschränkt, sondern umfassen seinen gesamten Kopf: Über sein Haar heißt es, es sei strûb unde rôt und nah eineme vische getân, / den man in den mere sehet gân (V. 150–52). Diabolisch aufgeladen sind die rote Haarfarbe54

|| 48 BORGARDS (Anm. 2), S. 227, fordert eine Historisierung der Kategorien ›realistisch‹ und ›phantastisch‹. 49 PASTOUREAU (Anm. 39), S. 203, erinnert bei seiner Darstellung des Drachen daran, dass es sich um ein »animal réel« der mittelalterlichen Kultur handle. Eine umfassende Untersuchung zum Drachen bietet REBSCHLOE, TIMO: Der Drache in der mittelalterlichen Literatur Europas, Heidelberg 2014 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte); zum Straßburger Alexander vgl. S. 313–15. »›Drachenartige[]‹ Tiere[]« (ebd., S. 315) wie slangen, (ge-)wurm(e) oder trachen träten öfters in der Diegese auf und seien als »natürlicher Bestandteil der Wildnis« (ebd., S. 314) zu sehen, da sie wie andere wilde Tiere auch mit dem Adjektiv freislîch attribuiert werden. 50 Vgl. PASTOUREAU (Anm. 39), S. 203–06. 51 Vgl. ebd., S. 203–08. So vergleicht z. B. der Tristan den als mortsame slange (V. 9038) bezeichneten Drachen mit einer ›Ausgeburt des Teufels‹ (V. 8972: alse des tiuveles kint). Zum Drachen vgl. auch LAUER, CLAUDIA: Art. Drache, in: BUTZER, GÜNTER/JACOB, JOACHIM (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 2. durchges. Aufl., Stuttgart/Weimar 2012, S. 77–79. Die politische Symbolik des Drachen gehe unter anderem auf Platons Entwurf des Tyrannen (Staat IX, 588) zurück. 52 Vgl. PASTOUREAU (Anm. 39), S. 144f. 53 Vgl. SCHMIDTKE, DIETRICH: Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100–1500), 2 Bde., Berlin 1968, Bd. 1, S. 298. Daneben findet sich auch eine christologische Auslegung. In der Forschung wurde erwogen, ob der Greifenvergleich als Reminiszenz an die superbia der gestrichenen Greifenflug-Episode zu werten ist; vgl. MACKERT (Anm. 46), S. 133, Anm. 218. 54 Das Rot der Haare wird im Mittelalter mit Verrat und Falschheit assoziiert; vgl. PASTOUREAU, MICHEL: Rouge, jaune et gaucher. Note sur l’iconographie de Judas, in: DERS.: Couleurs, images, symboles. Études d’histoire et d’anthropologie, Paris 1989, S. 69–83, hier S. 69. Zur Negativwertung roter Haare vgl. auch MACKERT (Anm. 46), S. 133, Anm. 217. Vgl. zum struppigen und roten Haar auch den Stellenkommentar bei LIENERT (Anm. 46), S. 561, die unter Verweis auf die Negativwertung der roten Haarfarbe bei MACKERT hervorhebt, dass der Text eine Ambiguierung gegenüber der Vorlage herbeiführe, indem er »das rotblond gelockte[] durch rotes, struppiges Haar« ersetze. Ebenfalls unter Rückgriff auf MACKERT merkt LIENERT zudem an, dass die Symbolik der Tiervergleiche im Vorauer und Straßburger Alexander im Unterschied zur Version Alberics, die Alexander durch heraldische Tiere und Standeskennzeichen höfisch idealisiere, »durch drastisch-kuriose Elemente (etwa die struppigen roten Haare) verunklart« (ebd.) werde.

180 | Marion Darilek und der Vergleich mit Meerestieren.55 Wildheit indizieren das Adjektiv strûbe (›struppig‹), das in semantischer Opposition zum slehten (›Glatten‹) steht,56 sowie sein krauses Haar (V. 154: crisp), das eines wilden lewen locke (ebd.) gleicht. Zwar avanciert der Löwe im Mittelalter zum unangefochtenen König der Tiere.57 Jedoch rekurriert der Text nicht auf die Vorstellung des milden, barmherzigen und großmütigen Löwenherrschers der naturkundlichen Tradition;58 mit der Akzentuierung der Wildheit aktualisiert der Text vielmehr das Wissen von der gefährlichen, machthungrigen und grausamen Natur des Löwen in der Bibel,59 im theologischen Diskurs60 oder der Fabel.61

|| 55 Laut PASTOUREAU (Anm. 39), S. 178f., war die Meeresfauna im Mittelalter gefürchtet, da man aufgrund von apokalyptischen Darstellungen der Bibel eine Analogie zwischen der dämonischen Tierwelt der Hölle und jener der Meerestiefe annahm. OBERMAIER, SABINE: Wassertiere. Mittelalterliche Denkfiguren zur Erfassung einer unbekannten Welt, in: HUBER-REBENICH, GERLINDE [u. a.] (Hrsg.): Wasser in der mittelalterlichen Kultur/Water in Medieval Culture. Gebrauch – Wahrnehmung – Symbolik/Uses, Perceptions, and Symbolism, Berlin/Boston 2017 (Das Mittelalter, Beihefte 4), S. 501–07, hier S. 501f., betont ebenfalls die »Fremdheit« (S. 504 und 506) der »Wassertiere« (passim), denen im Mittelalter mehr als nur Fische angehörten. Welche Art von Meerestier hier gemeint ist, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit bestimmen. MACKERT (Anm. 46), S. 131, geht von einem Robbenfell aus und beruft sich hierfür auf WIS, MARJATTA: Zum Problem der vremder visce hiute im Nibelungenlied, in: Neuphilologische Mitteilungen 85 (1984), S. 129–51, sowie DIES.: Der Pfaffe Lambrecht als Interpret eines Passus in der Alexanderdichtung Alberics von Pisançon. Saur ab lo peyl cum de peysson, in: Neuphilologische Mitteilungen 91 (1990), S. 129–37. WIS stützt ihre These vom Robbenfell auf Werke der Literatur um 1200, auf Handelsurkunden und auf Vergleiche mit Lambrechts altfranzösischer Vorlage. 56 Vgl. LEXER, Bd. 2, Sp. 1251, sowie BMZ, Bd. 2,2, Sp. 702a. 57 Vgl. JÄCKEL, DIRK: Der Herrscher als Löwe. Ursprung und Gebrauch eines politischen Symbols im Frühund Hochmittelalter, Köln [u. a.] 2006 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 60), sowie PASTOUREAU, MICHEL: Der Bär. Geschichte eines gestürzten Königs. Aus dem Frz. von SABINE ÇORLU, Neu-Isenburg 2008. 58 Nur verletzt wird der Löwe laut Isidor von Sevilla wütend. Barmherzig sei er, da er vor ihm Niedergeworfene verschone und Gefangene freilasse; vgl. Etymologiae, XII,II,6. Benutzte Ausgabe: Isidorus Hispalensis: Etymologiarum sive originum libri XX, hrsg. von WALLACE MARTIN LINDSAY, 2 Bde., Oxford 1911. Plinius berichtet von der leoninen Milde gegen Flehende; vgl. Naturkunde VIII,48. Benutzte Ausgabe: C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde, hrsg. und übers. von RODERICH KÖNIG, Düsseldorf/Zürich 1976. 59 Vgl. Spr 28,15: leo rugiens et ursus esuriens princeps impius super populum pauperem (»Ein brüllender Löwe und ein hungernder Bär ist ein gottloser Fürst über einem armen Volk«). Benutzte Ausgabe: Hieronymus: Biblia sacra vulgata. Lateinisch – deutsch, hrsg. von ANDREAS BERIGER [u. a.], 5 Bde., Berlin/Boston 2018 (Sammlung Tusculum). Das Löwenbild der Bibel ist insgesamt jedoch ambig, da sie ebenso den christologischen Löwen kennt. Zur Vielfalt der Löwenbilder vgl. OBERMAIER, SABINE: Macht und Wut, Treue und Mut: Das Bild des Löwen im Mittelalter und seine antiken und christlichen Traditionen, in: TORI, LUCA/STEINBRECHER, ALINE (Hrsg.): Animali. Tiere und Fabelwesen von der Antike bis zur Neuzeit. 01. März 2013 bis 14. Juli 2013. Eine Ausstellung des Schweizerischen Nationalmuseums im Landesmuseum Zürich, Genf/Mailand 2012, S. 129–41. 60 Da Augustinus den Löwen wegen seiner Wildheit und Grausamkeit verteufelt, überwiegt laut PASTOUREAU (Anm. 57), S. 171, auch bei den Kirchenvätern die Negativdarstellung. 61 Vgl. z. B. die äsopische Fabel vom Fuchs vor der Höhle des Löwen: Der alt gewordene Löwe gibt vor, krank zu sein und frisst der Reihe nach alle Tiere, die zum Krankenbesuch zu ihm kommen. Nur der Fuchs erkennt die Gefahr, da die Spuren der Tiere nur in die Höhle hinein, nicht aber wieder aus

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Dass bei den diversen animalischen Zügen Alexanders die angeführten zeitgenössischen Tierwissensbestände mitzudenken und in die Interpretation einzubeziehen sind und es sich hierbei um mehr als einen bloßen »heraldischen Merkmalskatalog«62 handelt, legen insbesondere die Orientabenteuer nahe, denn dort fließen mehrfach mit geradezu enzyklopädischem Charakter Beschreibungen aus Bestiarien in die Erzählung ein, so etwa bei den Elefanten (V. 3877/4327–3935/4385) oder beim Einhorn (V. 5130/5578–5140/5588). Insgesamt evoziert der Text für Alexanders Kopf so den Eindruck einer gleichsam inkorporierten, gewaltigen und in Teilen diabolischen Tiernatur, die zudem von einer eigentümlichen Hybridität gekennzeichnet ist.63 In dieser hybriden Mischung unterschiedlicher animalischer Züge, die noch potenziert wird durch Vergleiche mit anderen Hybridwesen wie dem Greifen oder Wassertieren,64 ähnelt Alexander dem zu überwindenden Pferd Bucephalus, denn dessen gesamter Körper gleicht ebenfalls einem mixtum compositum.65 Lexikalisch wird die wesenhafte Verbindung zwischen beiden durch das Adjektiv freislîch angezeigt, das im Straßburger Alexander vorwiegend bedrohliche, gewaltige Tiere,66 aber auch Kampfeshandlungen beschreibt.67 Dieses Attribut wird Bucephalus speziell bei seiner Einführung immer wieder zugeordnet68 und ist aufs Engste mit der Erklärung verbunden, die der Text für Alexanders erstaunliches Aussehen gibt: freislîche bilide (V. 162), die seiner Mutter während der Schwangerschaft erschienen sind.69

|| ihr hinausführen. Vgl. Babrios: Äsopische Fabeln 103, in: Antike Fabeln in einem Band, hrsg. und aus dem Griech. und Lat. übers. von JOHANNES IRMSCHER, Berlin/Weimar 21987 (Bibliothek der Antike), S. 295. 62 So FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 306. 63 Zum hybriden Körperbau Alexanders in der antiken und mittelalterlichen Tradition vgl. SAURMAJELTSCH, LIESELOTTE E.: Das Pferd Bucephalus als ›Alter Ego‹ Alexanders des Großen, in: KLINGER, JUDITH/ KRASS, ANDREAS (Hrsg.): Tiere. Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters, Köln [u. a.] 2017, S. 33–45, Anm. S. 256–59, hier S. 35. Alexanders »immer wieder geschilderte[]« diverse tierliche Anteile schafften »in allen Fassungen das Bild eines wundersamen, außerordentlichen Menschen, in dem animalische Natur inkorporiert ist«. 64 OBERMAIER (Anm. 55), S. 505, nennt als eine mittelalterliche »Denkfigur« zum Begreifen von Wassertieren die »Monstrifizierung«, die aber zur Kreation neuer Monster und »bizarre[r] Hybridwesen« führe, wodurch »die Meeresfauna [als Ganzes] wieder fremd und unheimlich« erscheine. 65 Bucephalus’ Maul gleicht einem Esel (V. 279/280–281/282), seine Augen schillern in allen Farben wie die eines fliegenden Adlers (V. 285/286f.), am Hals hat er gelocktes Fell nach Art eines Löwen (V. 287/288f.), an den Gesäßbacken Rinderfell (V. 289/290) und an der Flanke Leopardenflecken (V. 290/291). 66 Hierauf weist auch STOCK (Anm. 36), S. 94f. und 121, hin. 67 Von 30 Belegen von freislîch im Straßburger Alexander entfallen fünfzehn auf Tiere, fünf auf MenschTier-Verbindungen, sieben auf Kämpfe, zwei auf psychische Schmerzen und einer auf sonstige Naturgewalten. 68 Vgl. V. 278/279; 332/333; 337/338; 339/340; 343/344; 351/352. 69 FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 305, kommentiert, dass »Traumgesichter der Mutter, eine nach zeitgenössischer Medizin bzw. Naturkunde anerkannte Erklärung monströs aussehender Geburten« seien. Die »Deformationen« würden im Falle Alexanders jedoch positiv gewertet.

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Alexander und Bucephalus gleichen so, wie SAURMA-JELTSCH für die AlexanderTradition im Allgemeinen treffend formuliert, »füreinander prädestinierte[n], verwandt strukturierte[n] Körper[n]. Beide sind gleichsam aus mehreren Wesen montierte Gestalten.«70 Auch verbindet beide die Eigenschaft des als einzigartig71 gekennzeichneten wunderlîchen, Erstaunlichen.72 Hierin dürfte wohl auch der Grund für die bereits erwähnte unmittelbare Vertrautheit der einander zunächst Unbekannten (V. 365/366f.) liegen. In der physischen Analogie zwischen zu bezwingendem Tier und menschlichem Bezwinger wird dabei die Ambiguität evident, die der Bannung der tierlichen73 Gewalt inhärent ist. Zwar bilden die weiteren Verfahren der Herrschaftslegitimation wie die Betonung von Alexanders Abkunft von König Philipp (V. 10; 83–124),74 die Hervorhebung seiner vorzüglichen höfischen Gestalt halsabwärts (V. 167–76), die Erzählung von seiner Erziehung und Ausbildung (V. 190–253/254) und die wiederholte Betonung seiner Klugheit75 ein Gegengewicht zu dieser hybriden Animalität. Sie vermögen es jedoch nicht, die bestialisch-bedrohliche Komponente76 zu tilgen, die sich am Haupt des Herrschers und somit an einer hinsichtlich der politischen Körpermetaphorik77 bedeutsamen || 70 SAURMA-JELTSCH (Anm. 63), S. 35. Auch FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 307, spricht von einer »Synthese unterschiedlicher animalischer Gattungsbezüge«. 71 Zu Alexander vgl. V. 48: Ime ne gelîchet dehein ander; zu Bucephalus vgl. V. 344/345: Ime ne wart nie nehein gelîch. 72 Das erste Attribut, mit dem Bucephalus belegt wird, ist wunderlîch (V. 271/272). Auf Alexander wird das Adjektiv immer wieder bezogen, erstmals im Zusammenhang mit der Erwähnung seiner unvergleichlichen Macht (V. 47f.). STOCK (Anm. 36), S. 89, betont, dass Alexander »im Negativen wie im Positiven« Erstaunen hervorrufe, und bezieht das Epitheton des wunderlîchen, das er über längere Strecken in seiner Arbeit verfolgt (vgl. ebd., S. 89–127), insbesondere auf seine Kriegs- und Eroberungsleistungen. LIENERT (Anm. 29), S. 38, sieht darin einen »Ausdruck der Bewunderung wie auch des Vorbehalts und der Kritik.« 73 Der Begriff ›tierlich‹ wird in den Cultural and Literary Animal Studies gebraucht, um die pejorative Konnotation von ›tierisch‹ zu umgehen (analog zu ›weiblich‹ vs. ›weibisch‹ oder ›kindlich‹ vs. ›kindisch‹). Vgl. KOMPATSCHER, GABRIELA [u. a.]: Human-Animal Studies. Eine Einführung für Studierende und Lehrende, Münster/New York 2017, S. 223. 74 Darin, dass der Text »die legitime Herkunft Alexanders als Sohn Philipps gegen jeden Zweifel verteidigt« – so FRIEDRICH 2009(Anm. 37), S. 305 –, unterscheidet sich der Alexander des Pfaffen Lambrecht deutlich von anderen Versionen der Alexandergeschichte, in denen Alexander vom Magierkönig Nectanebus abstammt, wie z. B. in der Historia de preliis. Vgl. ebd., S. 80–82. 75 So hebt STOCK (Anm. 36), S. 89f., hervor, dass listich (V. 7) nicht nur ein Attribut sei, das Alexander wiederholt beigegeben werde, sondern auch das erste, mit dem er charakterisiert werde. 76 MACKERT (Anm. 46), S. 135, konstatiert für die Vorauer Fassung, dass »die überragende Herrscherpersönlichkeit Alexanders auch eine destruktive Komponente einschließt« und dass die »normabweichende[n] Körpermerkmale den Eindruck des Bedrohlichen verstärken«, wenngleich »an dieser Stelle jede explizite Wertung unterbleibt«. Alexander bleibe zwar »positive Identifikationsfigur« (ebd.), vereine in sich jedoch »sapientia, fortitudo und Destruktivität« (ebd., S. 205). 77 Vgl. dazu grundlegend STRUVE (Anm. 18), zum Haupt S. 132. Zur Symbolik des Kopfes vgl. auch LE GOFF, JACQUES/TRUONG, NICOLAS: Une Histoire du corps au Moyen Âge, Paris 2003, S. 185f.

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Stelle manifestiert. Letztlich handelt es sich bei der bestialischen Gewalt, die zur Bändigung des Streitrosses nötig ist, auch um den entscheidenden Faktor, der Alexander gemäß der Prophezeiung als legitimen Nachfolger Philipps und als makedonischen König ausweist.78 Die exorbitante, nachgerade monströse Körpergestalt Alexanders und Bucephalusʼ erfährt zunächst jedoch keine unmittelbare Negativwertung – im Gegenteil. So wird das Ross gleich zweimal als das beste aller Pferde bezeichnet.79 Alexanders physische Eignung zum Herrscher wird im Anschluss an die Beschreibung seines animalischen Kopfes und der Pracht seines restlichen Körpers abermals hervorgehoben: Unde ubir allen sînen lîb / was er rehte hêrlîch (V. 175f.).

2.2 Animalität und Kampfeskraft Als ambig erweist sich das Verhältnis von Animalität und Herrschergewalt auch bei den anschließenden Kriegs- und Eroberungszügen, die den ersten Handlungsteil des Straßburger Alexander dominieren. Eine positive Wertung im Sinne eines heroischen Kriegerideals80 erfährt das Animalische, wenn Alexander gegen die Spartaner (V. 1867/2319: Lacedemones) mit dem mût eines Löwen (V. 1912/2364) an vorderster Front (V. 1905/ 2357: ze vorderôst) kämpft81 und so seinen Mitstreitern (V. 1906/2358: heleden) Zuversicht (V. 1906/2358: trôst) spendet. Tiervergleiche finden auch Eingang in die Figurenrede, wenn Alexander seinem Heer im Kampf gegen Darius’ quantitativ überlegene Truppen durch das Gleichnis von einer Heerschar Fliegen, die zwei Wespen in ihrem Nest nicht schaden könnten (V. 2747/3199–2749/3201), Mut zuspricht oder wenn er Darius (V. 1067/1519–1075/1527) und Porus (V. 3861/4311–3865/4315) durch den Vergleich mit einem bellenden, knurrenden Hund schmäht, der ihm nichts anhaben könne. Weniger eindeutig stellt sich die Wertung von Alexanders tierlichem Vorkämpfertum in einer der Schlachten gegen Darius dar.

|| 78 Zur legitimierenden Funktion der Bucival-Szene vgl. auch STOCK (Anm. 36), S. 91. So begrüße Alexanders Vater ihn nach der Bezwingung als künftigen Herrscher (V. 397/398–400/401). 79 Dies geschieht zunächst vom Erzähler bei der Einführung des Streitrosses (V. 291/292f.), anschließend von Vestian, einem jungen Adligen, der Alexander darüber aufklärt, was es mit dem Pferd auf sich hat (V. 348/349f.). 80 Auf die »heldenepischen Codierungen« im ersten Teil des Romans und den »Heroismus als konstitutive[n] Faktor von Alexanders Kriegsführung« weist FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 312f., verschiedentlich hin. Die Intensivierung der »heldenepische[n] Note« (ebd., S. 308) im Vergleich zum lateinischen Text hält FRIEDRICH für eine Anpassung mit Blick auf ein Adelspublikum. In der betrachteten Passage äußert sich die heroische Haltung auch im grimmigen mût (V. 1937/2389) der Kämpfenden, die den Tod der Verwundung im Kampf vorziehen (V. 1935/2387f.). 81 FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 308, macht auf die »Nähe Alexanders zum Tier« (ebd., S. 308) aufmerksam, die sich über seine Physiognomie hinaus auch »in den üblichen Kampfmetaphern« äußere.

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Dô faht Alexander mêr dan ein ander. Er hete grimmigen mût, alse der zornige bere tût, sô in die hunde bestân: Swâz er ir mit den clâwen mach gevân, dar ane richet er sînen zorn. Der kuninc fâht imer fore. Er slûch ros unde man und alliz, daz ime zô quam an den berch und in daz tal. (V. 2340/2792–2350/2802) Alexander kämpfte da mehr als andere. Er war so wütend gesinnt wie ein zorniger Bär, der von Hunden angegriffen wird: Seinen Zorn rächt er an allem, was er mit den Klauen erreichen kann. Der König kämpfte stets vorne. Er tötete Rösser und Männer und alles, was ihm begegnete bis zum Berg und ins Tal.

Zwar lässt sich Alexanders grimmige[r] mût abermals dem heroischen Ideal zuordnen. Auch trägt sein Zürnen zu seinem siegreichen Handeln bei, da seine Feinde, die Alexanders gewaltiges Wüten beobachten (V. 2351/2803–2354/2806), die Flucht ergreifen.82 Gleichwohl ist hier auch die negative Semantik des Bären zu berücksichtigen, als dessen zentrales Laster in der Patristik, der Zoologie oder in Bußschriften der Zorn gilt,83 denn im Vergleich mit dem von Hunden bedrängten zürnenden Bären, der mit seinen Klauen auf alles losgeht, was sich in seiner Reichweite befindet, deutet sich ein Umschlagen von l e g i t i m e m Kampfeszorn84 in ein w a h l l o s e s und u n g e r i c h t e t e s animalisches Wüten an, das ein Kippen des gerechten Herrscherzorns in ein als tyrannisch zu wertendes Zürnen aufschimmern lässt.

|| 82 FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 311, liest diese Passage als Inszenierung des Herrschers Alexander als »das stärkste Tier, das denn auch wiederholt im Alleingang Schlachten entscheidet«. Die ira bestialis sei nötig, um im Kampf die hemmende Reflexion (list) auszuschalten. 83 Vgl. PASTOUREAU (Anm. 57), S. 217: »Der Bär ist das stärkste aller Tiere, aber seine Stärke ist böse und macht ihn furchterregend, gefährlich, gewalttätig, unberechenbar«. 84 Zur Aufwertung des Zorns als Teil guten und gerechten Herrscherhandelns unter der Maxime der iustitia in historiographischen Quellen des 12. Jahrhunderts vgl. ALTHOFF, GERD: Ira Regis. Prolegomena to a History of Royal Anger, in: ROSENWEIN, BARBARA H. (Hrsg.): Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, Ithaca/NY 1998, S. 59–74, hier S. 66 und 70–73. Auch die germanistische Mediävistik hat verschiedentlich die ambige Herrschertugend des Zorns thematisiert. Vgl. z. B. GRUBMÜLLER, KLAUS: Historische Semantik und Diskursgeschichte. zorn, nît und haz, in: JAEGER, STEPHEN C./ KASTEN, INGRID (Hrsg.): Codierungen von Emotionen im Mittelalter, Berlin 2003 (TMP 1), S. 47–69; RIDDER, KLAUS: Kampfzorn. Affektivität und Gewalt in mittelalterlicher Epik, in: BRAUNGART, WOLFGANG [u. a.] (Hrsg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld 2004, S. 41–55; FREIENHOFER, EVAMARIA: Verkörperungen von Herrschaft. Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2016 (TMP 32). Zum Zorn des Löwenkönigs im Reinhart Fuchs vgl. DARILEK (Anm. 27), S. 320–33, vor allem S. 323f.

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Explizit als unreht (V. 878/1329) verurteilt der Erzähler Alexanders Kampf gegen die Tyrer.85 Das Animalische spielt hier zum einen bei der Erwähnung von Alexanders in Drachenblut gebeiztem und in der Folge mit einer Hornhaut überzogenem Brustpanzer eine Rolle (V. 849/1300–854/1305).86 Zum anderen manifestiert die animalische Gewalt sich an Alexanders Kampfesgegnern, deren Wunden als freislîch[] (V. 847/1298) und somit mit dem animalischen Attribut des Alexanderromans schlechthin bezeichnet werden. Ihr Überlebenswille (V. 865/1316) bringt die Helden von Tyrus dazu, wie Wildschweine (V. 866/1317: sô die wilden swîn) zu kämpfen. Der Wildschwein-Vergleich ließe sich einerseits als kriegerische Auszeichnung und als Ausweis besonderer Kampfesstärke betrachten.87 Andererseits könnte die Tierwerdung der Tyrer im aussichtslosen Überlebenskampf (V. 867/1318f.) in Verbindung mit den freislîche[n] wunden (V. 847/ 1298) aber auch als eine Vertierung im Sinne einer Entmenschlichung gelesen werden. Diese zweite Lesart der animalisierenden Enthumanisierung lässt sich durch Alexanders Umgang mit Darius’ Truppen stützen. Als diese nämlich in der Entscheidungsschlacht wie ihr zuvor schon verzagender Heerführer (V. 2883/3335–2885/3337) die Flucht ergreifen (V. 2888/3340), reitet Alexander ihnen nach und erschlägt sie wie Tiere: und slûch si nider alsein vê (V. 2892/3344). Wie aber ist dieses Handeln zu werten? Aufschlussreich ist hier der intertextuelle Vergleich. So beurteilt der Erzähler in Wolframs von Eschenbach Willehalm es als grôze[] sünde (450,18), dass man die Heiden sluoc alsam ein vihe (450,17), da auch diese Geschöpfe Gottes (450,19: gotes hantgetât) seien.88 Wenngleich der Erzähler im Straßburger Alexander Alexanders entmenschlichendes Handeln an dieser Stelle nicht ausdrücklich verurteilt, sondern das Versagen des verzagten und glücklosen Darius hervorhebt (V. 2932/3384–37/89), deutet sich doch in der Art der narrativen Darstellung eine erzählerische Distanzierung und implizite Verurteilung des enthumanisierenden Gewaltakts an, da der Erzähler Alexanders Tat mehrfach als mort (V. 2890/3342; 2931/3383: ›Gemetzel‹) bezeichnet

|| 85 LIENERT (Anm. 29), S. 33f., vergleicht die Darstellung der Tyrus-Episode in der Vorauer und der Straßburger Fassung. Erstere verurteile den Krieg und den grausamen Sieg deutlicher, während Letztere zwiespältige Wertungen vornehme, denn trotz der »Distanzierung des Erzählers vom Waffenhandwerk des Kriegers« sei von den erstaunlichen »Heldentaten« (beide Zitate ebd., S. 38) Alexanders und vom heldenhaften Kampf seiner Krieger die Rede. 86 MACKERT (Anm. 46), S. 291, nimmt an, dass der deutsche Autor Alexander hier bewusst an Siegfried annähert. FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 309, macht hierin eine Anbindung Alexanders an »den naturbezogenen heldenepischen Waffenmythos« aus. 87 So FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 309, Anm. 51: »Selbst die Tyrer fuhten sô die wilden swîn«. Zu dieser Wertung gelangt FRIEDRICH, da der entscheidende Kampf von Alexander und Porus ebenfalls mit einem Wildschwein-Vergleich beschrieben wird (V. 4207/4657f.). An anderer Stelle merkt FRIEDRICH an, dass der wilde Eber als das »kühnste und bösartigste Tier« gelte (ebd., S. 185). 88 Benutzte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Willehalm, hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt a. M. 2009 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 39). HEINZLE betrachtet diese Verurteilung im Stellenkommentar zu 450,15–20 als »Absage an die traditionelle Kreuzzugsideologie« (ebd., S. 1086), der zufolge die Heiden als zu erschlagendes Vieh betrachtet worden seien, so etwa im Rolandslied.

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und die Opfer seines Handelns in den Blick rückt. So kommentiert er, dass das Gemetzel noch immer beklagenswert sei (V. 2889/3341f.) und schildert ausführlich das unermessliche Leid der Perser (V. 2894/3346–921/73), das gar kosmische Dimensionen annimmt: Di mâne unde di sunne, di verwandelôten ir lieht und ne wolden schînen nieht und ne wolden niet besehen den mort, der dâ was geschên (V. 2927/3379–31/83). Der Mond und die Sonne verfinsterten ihr Licht und wollten nicht scheinen und wollten das Gemetzel nicht ansehen, das dort geschehen war.

An anderer Stelle bilden Alexander und sein Pferd Bucephalus im Perserkrieg eine furchterregende humanimalische Kampfgemeinschaft. Entscheidend ist hierbei wie in der initialen descriptio der freislîche Blick Alexanders, wobei syntaktisch zunächst unklar ist, ob damit Alexander oder sein Pferd gemeint ist.89 In der Folge kommt es nicht nur zur Enthumanisierung des Gegners im Sinne einer Vertierung, sondern sogar zu dessen Verdinglichung: Seinem Streitross die Sporen gebend, setzt Alexander sein Schwert in einer Weise ein, dass er das gegnerische Heer niederschlägt wie Grashalme (V. 1369/1821f.). Zwar betont der Text das weinen unde clagen (V. 1377/1829) angesichts der zahllosen Toten und Verletzten (V. 1371/1823–1376/1828), explizit verurteilt wird Alexanders Handeln hier aber nicht. Das Verhältnis von Animalität und Herrschaft im Straßburger Alexander stellt sich somit in vielfacher Hinsicht als ambig dar. So weist zwar die Einhegung der unbändigen Gewalt des freislîchen Streitrosses Bucephalus dessen Bezwinger als legitimen Thronfolger aus. Unabdingbar hierfür ist jedoch das Verfügen über ebensolche animalische Qualitäten. An Alexander manifestieren sich diese physisch in der zu Bucephalus’ Körpergestalt analogen hybriden und schreckenerregenden Animalität seines Kopfes und insbesondere seiner Augen. Bei Alexanders Kriegs- und Eroberungszügen qualifizieren ihn diese außerordentlichen tierlichen Eigenschaften zum Vorkämpfer und versehen ihn mit dem notwendigen kriegerischen Furor, um auch die Kampfmoral seiner Mitstreiter zu steigern, wodurch er letztlich zum militärischen Erfolg gelangt.

|| 89 Vgl. V. 1359/1811–1363/1815: Dô Alexander wart lôs, / dô spranc er ûf sîn ros. / Sîn gebêre, daz was eislîch, / sîn ougen wâren freislîch; / dar umbe vorhte in manic man. Sîn gebêre und sîn ougen sind aufgrund der für Maskulina und Neutra identischen Possessivpronomina syntaktisch ambig und könnten sowohl auf Alexander als auch auf Bucephalus referieren. Erst der Nachsatz, dass in (ihn) zahlreiche Menschen fürchten, löst die Ambiguität auf und stellt klar den Bezug zu Alexander her. Die Episode schließt sich an eine Situation äußerster Bedrängnis im Kampf an, da Alexander zuvor seinen Helm verloren hat (V. 1298/1750), vom Pferd gestürzt (V. 1286/1738f.) und durch heftige Schläge auf seinen Kopf wie betäubt ist (verschellet, V. 1345/1797–1347/1799). FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 311, bemerkt hierzu, dass nach dem Sturz »erst die Verbindung mit dem Pferd [den Ritter] restituiert«.

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Alexanders Animalität ist jedoch nicht allein »Chiffre für Durchsetzungsfähigkeit, die den Herrscher in seiner Besonderheit auszeichnet und Politik zum Demonstrationsfeld überlegener Energien macht«,90 wie FRIEDRICH für den ersten Teil des Alexanderromans resümiert. Zumeist zeichnet sich der Text zwar durch eine Offenheit und Ambiguität der Erzählerwertungen aus, etwa durch die Kontrastierung des durch Alexander verursachten Leids mit der Abqualifizierung der ihm unterlegenen Kampfesgegner als feige und verzagt. Stellenweise aber deutet sich doch ein Kippen zu einem unbändigen, wahllos destruktiven Zürnen und Wüten an, das zu einer Vertierung oder Verdinglichung und somit zur Entmenschlichung seiner Kampfesgegner führt. Vereinzelt zumindest wird Alexanders exzessives Gewalthandeln dabei auch implizit durch die narrative Darstellung oder explizit durch Erzählerkommentare als enthumanisierender Gewaltakt und als Unrecht verurteilt. Setzt man mit Cicero und Johannes von Salisbury inhumanes, entmenschlichendes Herrscherhandeln als Indiz der Tyrannei an, so ließe sich hier mit aller Vorsicht, auch da jene Handlungen stets im Kontext von Krieg und Eroberung stehen, von Spuren des Tyrannischen sprechen, deren Wurzeln in Alexanders inkorporiertem animalischem Gewaltpotenzial liegen dürften. Dass die Verbindung des Makedonenherrschers mit dem Tyrannischen dem Straßburger Alexander nicht fernliegt, zeigt sich darüber hinaus noch an anderer Stelle, nämlich bei Alexanders Zug zum Paradies. Zunächst bemängelt der Erzähler, dass Alexander tumber lûte rât (V. 6220/6668) für gût (ebd.) erachtet, bevor er ihn als tobende[n] wûterîch (V. 6223/6671) schmäht. Bei wüeterîch handelt es sich gemeinhin um die mittelhochdeutsche Entsprechung zu lat. tyrannus.91 Zur Last gelegt wird Alexander an dieser Stelle insbesondere seine unersättliche Machtgier (V. 6230/6678: daz ungesatlîche hol; V. 6235/6683: sîne giricheit). Das Animalische spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, da sein als tumplîch[] (V. 6255/6703) verurteilter Kriegszug und sein Eroberungsstreben Alexander und seinen Leuten durch den Kampf mit freislîchen wurmen / unde mit den tieren (V. 6244/6692f.) in Bedrängnis (V. 6247/6695: nôt) bringen.

3 e wir verlisen die vele: Inhumanität und Königsherrschaft im Reinhart Fuchs Dass Animalität für die Darstellung und Verhandlung von Herrschaft im Tierepos eine tragende Rolle spielt, ist evident. Schließlich handelt es sich um eine Gattung, deren Handlungsträger sowohl tierliche als auch menschliche Anteile besitzen und in sozi-

|| 90 FRIEDRICH 2009 (Anm. 37), S. 312. 91 Vgl. BMZ, Bd. 3, Sp. 536b–537a. Angeführt werden unter anderem diverse mittelhochdeutsche Glossen.

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alen, religiösen, politischen und kulturellen Ordnungen agieren, die jene des jeweiligen außerliterarischen Kontexts reflektieren. Das Tierepos vermag es daher nicht nur, die genannten Ordnungen zu hinterfragen, sondern auch vermeintlich fixe theriotopische Grenzziehungen wie jene zwischen Mensch und Tier in Frage zu stellen und zu unterminieren.92 Im Folgenden werden mit der Einführung Vrevels und seinem anfänglichen Agieren als Eroberer sowie mit der Interferenz zwischen seinem Richteramt und seiner Krankheit beim Hoftag bewusst nur zwei den Löwenkönig betreffende und für den Vergleich mit dem Straßburger Alexander relevante Aspekte herausgegriffen.93 Der Löwenkönig Vrevel wirkt zunächst deutlich weniger animalisch-wild und bedrohlich als Alexander. Die Einführung Vrevels scheint vielmehr geradezu konträr zu jener des menschlichen Welteroberers mit seiner animalischen Physiognomie angelegt zu sein. Ditz geschah in eime lantvride, den hatte geboten bi der wide ein lewe, der was Vrevil genant, gewaltic vber daz lant. keime tier mochte sin kraft gefrvmen, izn mveste vur in zv gerichte kvmen. si leisten alle sin gebot, er was ir herre ane got. den vride gebot er dvrch not: er wande den grimmigen tot vil gewisliche an ime tragen. (P, V. 1239–49) Das geschah während eines Landfriedens, den ein Löwe namens Vrevel beim Tod durch den Strang geboten hatte und der die Gewalt über das Land hatte. Keinem Tier war seine Kraft von Nutzen, wenn es vor ihm zu Gericht geladen war. Alle befolgten sie sein Gebot, nach Gott war er ihr Herr. Den Frieden befahl er aus Bedrängnis: Er war überzeugt davon, dass er dem schrecklichen Tod geweiht war.

Auf eine Beschreibung von Vrevels Äußerem verzichtet der Text völlig. Dass es sich um eine nicht-menschliche Figur handelt, geht nur aus der einmaligen Nennung der

|| 92 So stellt BORGARDS (Anm. 2), S. 228, fest, dass »im Tier zoologische Forschung, politische Theoriebildung und literarische Formfindung unlösbar ineinander verschlungen sind.« BÜHLER, BENJAMIN: Zwischen Tier und Mensch. Grenzfiguren des Politischen in der Frühen Neuzeit, München 2013, S. 141f., stellt die »unhintergehbare strukturelle Ambivalenz« (ebd., S. 141) der Überlagerung von Tierlichem und Menschlichem bei den Figuren in Fabel und Tierepos heraus. Beunruhigende Kippeffekte aufgrund der »hybriden Überblendung menschlicher und tierischer Aspekte« macht WALTENBERGER (Anm. 44), S. 97, insbesondere in der Tierepik aus. Daraus erwachse eine »konstitutive ontologische Inkonsistenz und semiotische Instabilität der erzählten Welt«. 93 Vgl. ausführlich zum Zerfall der Königsherrschaft im Reinhart Fuchs DARILEK (Anm. 27), Kap. II. 3. (»Desintegration von Körper und Herrschaft«), S. 307–406.

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Gattungsbezeichnung (ein lewe) hervor.94 Anstelle der tierlichen Natur des Herrschers wird die gewalteinhegende Wirkung seiner göttlich legitimierten Gerichtstätigkeit betont, die es vermag, die Gewalt (kraft) der ihm untergebenen Tiere zu bändigen.95 Die Strafe für die Übertretung des Landfriedensgebots, der Tod durch den Strang, ist denn auch eine spezifisch menschliche, juristisch reglementierte Form der Gewaltausübung. Das Bild von Vrevels souveräner, friedenstiftender Landesherrschaft und seiner erfolgreichen Einhegung der illegitimen animalischen durch die legitime richterliche Gewalt wird jedoch in zweierlei Hinsicht getrübt: erstens durch die vorausgehende Erzählung von den Untaten, die Reinhart, der Fuchs, zuerst an den kleineren Tieren, dann an der Wolfsfamilie trotz der für Landfriedensbruch drohenden Todesstrafe verübt;96 zweitens durch die nachgeschobene Erläuterung, dass not und die Sorge um das eigene Leben es sind, die Vrevel zur Ausrufung des Landfriedens bewogen haben. Ursächlich für jene Bedrängnis ist, wie der Fortgang der Erzählung zeigt, ein lächerlicher Akt der Eroberung, gefolgt von einem maßlosen Akt der Zerstörung: Als der Löwenkönig an dem Versuch scheitert, die Herrschaft über einen Ameisenhaufen (P, V. 1251) zu beanspruchen, dessen Bewohnern er den Stillstand befiehlt (P, V. 1252: nv hiez er si alle stille stan), versetzt ihn dies in solchen Zorn, dass er auf die Ameisenfestung springt97 und zahllose der schwachen (P, V. 1258: kranken) Tiere tötet oder schwer verwundet (P, V. 1260f.). Das Handeln des Löwenkönigs in der Ameisenepisode steht somit gleich zweifach im Widerspruch zu seiner Einführung durch den Er-

|| 94 Dies gilt auch für den weiteren Verlauf der Erzählung, denn auch an späterer Stelle wird nirgendwo das Äußere des Löwenherrschers beschrieben. Die Gattungsbezeichnung bleibt ebenfalls marginal und wird nur noch drei weitere Male im Zusammenhang mit Vrevels Angriff auf die Ameisen gebraucht (P, V. 1292, 1306 und 1314). 95 DIETL, CORA: Violentia und potestas. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im Reinhart Fuchs, in: LÄHNEMANN, HENRIKE/LINDEN, SANDRA (Hrsg.): Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2009, S. 41–54, hier S. 51, ordnet die Einführung Vrevels in das Schema von vis, violentia und potestas ein, in welches sie den deutschen Begriff der ›Gewalt‹ auffächert. Die potestas des Herrschers werde der vis der anderen Tiere gegenübergestellt. 96 Unmittelbar vor Vrevels Einführung gipfeln diese in der öffentlichen Vergewaltigung der Wölfin durch den Fuchs. Auch WIDMAIER (Anm. 27), S. 115, weist auf den Landfrieden als Folie der »anfangs erwähnten Feindseligkeiten« hin. Zur Zeitstruktur vgl. auch JANZ, BRIGITTE: Strukturierte Zeit. Die dreimalige Ladung im Reinhart Fuchs, in: DILG, PETER [u. a.] (Hrsg.): Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993, Sigmaringen 1995, S. 181–97, hier S. 187. Der Landfrieden gehe allem bis zur Ameisenepisode Erzählten zeitlich voraus. Reinharts Untaten enttarnten diesen als »unwirksam« und würden so »rückwirkend zu Landfriedensbrüchen«. DIETL (Anm. 95), S. 44f., vergleicht Reinhart Fuchs und Roman de Renart. Jener mache den Landfrieden von Anfang an deutlich. Die lange Missachtung der »Gewaltregulierungsmaßnahme« (S. 45) rücke Vrevel wie den Landfrieden in ein »kritisches Licht« (ebd.). 97 Die Ameisen verweigern seinen Befehl zum Stillstand und weisen seinen Herrschaftsanspruch zurück. Vgl. P, V. 1255–57: des enwolden si niht volgen. / des wart sin mvt erbolgen. / vor zorne er vf die burc spranc […].

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zähler: Zum einen führt sie Vrevel im Kontrast zu dessen zuvor postulierter Allmacht über die Gesamtheit der Tiere in einer Situation der Ohnmacht vor, zum anderen stellt sie mit der leoninen Zerstörungswut, die sich gegen die ihm physisch so offenkundig unterlegenen Ameisen richtet, just ein solches Gewalthandeln vor Augen, das die königliche Rechtsprechung vorgeblich unterbindet.98 Der Erzähler aber distanziert sich von Vrevels Handeln, indem er dieses als nur vermeintlich notwendig99 sowie als maßlose Schädigung (P, V. 1265: geschadet ane maze) beurteilt. Der scheinbare Triumph der überlegenen Körperkraft währt jedoch nur kurz, da die Rache des Ameisenherrn, ein gewaltiger Sprung ins Ohr des Löwenkönigs,100 schließlich die not bewirkt, die zur Einberufung des Landfriedens führt. Seine dadurch verursachten Kopfschmerzen deutet Vrevel nämlich irrigerweise als göttliche Strafe für die Vernachlässigung seines Richteramts (P, V. 1319–21). Der Gerichtstag als Ausübung der Herrschaft von Gottes Gnaden und als animalischer Gewaltenbann wird somit als Schein entlarvt, da dahinter ein maßloser Gewaltakt steht. Vrevels Versehrung ist wohl auch der Grund dafür, dass Reinhart trotz der Strafe für Landfriedensbruch nicht von seinen Untaten ablässt, denn der Fuchs allein weiß um den schaden (P, V. 1301) des Löwenkönigs, da er den Racheakt der Ameise unbemerkt beobachtet hat (P, V. 1302f.). Als der angeklagte Fuchs sich endlich zum Gerichtstag begibt, nutzt er dieses Wissen um Vrevels Versehrtheit, indem er sich als heilkundiger Arzt ausgibt.101 Die Täuschung gelingt, da der Löwe auf Heilung brennt und alle Warnungen, dass er es mit einem verräterischen Mörder zu tun habe, in den Wind schlägt (P, V. 1835–64; 1913–25; 1956–62): Reinhart steigt so zum königlichen Leibarzt und quasi alleinigen Ratgeber Vrevels auf. Die füchsische Therapie bewirkt dabei ein Umschlagen der durch Gott legitimierten richterlichen Gewalt in eine nicht mehr animalische, sondern inhumane, entmenschlichende und daher als tyrannisch zu beurteilende Gewalt. Für Vrevels Heilung benötige man, so der Fuchs, unter anderem ein Wolfs- (P, V. 1897f.) und ein Bärenfell (P, V. 1899), einen Hut aus Katzenfell (P, V. 1902), ein gekochtes Suppenhuhn (P, V. 1936f.) || 98 Vgl. dazu auch DIETL (Anm. 95), S. 52. Beim Angriff auf die Ameisen sei »der Vertreter der potestas [...] in besonderer Weise der violentia schuldig«. 99 Vgl. P, V. 1259: in dvchte, daz iz im tete not. Zur Kontrastierung von Löwenkönig, Ameisen und Ameisenherr vgl. DARILEK, MARION: Von emsigen Ameisen und schlafenden Löwen. Zu narratio und moralisatio im Reinhart Fuchs, in: REICH, BJÖRN /S CHANZE, C HRISTOPH (Hrsg.): narratio und moralisatio, Oldenburg 2018 (BmE Themenhefte 1), S. 15–51, hier vor allem S. 20–30, online unter: https://doi.org/ 10.25619/BmE2018110 (Abrufdatum: 14.01.2019). 100 Der Sprung erfolgt ironischerweise mit kraft (P, V. 1300), einer Eigenschaft, die im Reinhart Fuchs ansonsten nur Raubtieren wie Wolf und Wölfin zugeschrieben wird, und ist in eine Parodie heroischen Handelns eingebunden; vgl. dazu ebd., S. 29f. 101 Vgl. P, V. 1821–27. Der Bär, der Kater und der Dachs werden nacheinander zu Reinharts Vorladung ausgesandt. Die ersten beiden Sendboten richtet der Fuchs übel zu. Erfolg hat erst sein Verwandter (P, V. 1783: kvllinc), der Dachs. Zu den Botengängen vgl. WIDMAIER (Anm. 27), S. 189–208, sowie JANZ (Anm. 96).

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sowie einen hirschenen Gürtel (P, V. 1951). Vrevel erfüllt all diese Forderungen, ohne zu zögern. Die ethische Inhumanität dieses Gewaltakts zeigt sich darin, dass der Löwenkönig den Befehl zum Ergreifen der Tiere jeweils erteilt, indem er sie anders als Reinhart, der neutral den unbestimmten Artikel und die Gattungsbezeichnung gebraucht, bei ihrem Eigennamen oder ihrer Funktion bei Hofe nennt.102 Der Gebrauch des Eigennamens oder der Amtsbezeichnung, der die Figuren im Tierepos als menschlich ausweist,103 steht im harschen Kontrast dazu, dass der Löwenkönig zugleich über seine Untertanen verfügt, wie Menschen es über Tiere tun: Er nutzt sie als Ressource zur Gewinnung von Heilmitteln, nimmt ihnen ihr Fell, ihr Fett, ihr Fleisch und ihr Leben. Beunruhigend hieran ist, dass es beim Hoftag des Löwenkönigs im Unterschied zur Fabel oder zum Ysengrimus104 eben nicht zum animalischen Gewaltexzess des karnivoren Raubtiers kommt. Vielmehr missbraucht der Löwenherrscher seine politische Befehlsgewalt in ethischer Hinsicht auf inhumane Weise, indem er seine Untertanen auf ihre animalische Natur reduziert und sie so gewaltsam ihrer Menschlichkeit beraubt. Reinhart stellt dabei explizit den Zusammenhang zwischen dem Erfolg der Therapie und dem Königtum von Gottesgnaden her: Durch göttliche Gnade sei alles vorhanden, was zu Vrevels Genesung nötig sei – sofern er ihm, dem Fuchs, Gehorsam leiste. Tatsächlich unterwirft der Löwe sich, obwohl er als König nur Gott allein unterstehen sollte,105 gänzlich dem füchsischen Gebot.106 Die Perversion seiner Herrschergewalt führt zwar kurzfristig zu Vrevels Heilung, da die Hitzekur mittels der Tierfelle

|| 102 Vgl. P, V. 1899f.: »ovch mvzet ir eines bern hvt han.« / der kvnic sprach: »daz si der kapelan.« Vgl. P, V. 1936–38: »ein versoten hvn svl wir han / mit gvtem specke eberin.« / der kvnic sprach: »daz sol vor Pinte sin.« Ähnlich verhält es sich beim Wolf (P, V. 1897f. und 1905–07), beim Kater (P, V. 1902–04 und 1932f.) und beim Hirsch (P, V. 1951–55). SCHWAB (Anm. 27), S. 155, macht hierzu darauf aufmerksam, dass die Befehle des Königs mit den Forderungen des Fuchses darüber hinaus über den Reim verzahnt sind. 103 Eigennamen erhalten die Tierfiguren erstmals im mittellateinischen Ysengrimus; vgl. GROSSE, MAX: Art. Tierepos, in: Der neue Pauly, Bd. 15/3 (2003), Sp. 494–98, hier Sp. 496. 104 Zur Fabel vom Fuchs vor der Höhle des Löwen siehe oben, Anm. 61. KOLB (Anm. 27), S. 337f., erwähnt, dass die Fabel von der Beuteteilung zwischen Löwe, Wolf und Fuchs bzw. vom Löwenanteil im Ysengrimus noch enthalten sei, dann aber aus dem Tierepos verschwinde, bis Reinaerts Historie sie wieder aufgreife. Als der Wolf die Beute, ein Kalb, zwischen sich, dem Fuchs und dem Löwen gerecht aufteilen soll, legt er drei gleich große Teile an. Erbost über die ungerechte Teilung, greift der Löwe den Wolf an und zerreißt ihm das Fell. Die ›gerechte‹ Teilung (der Löwe und seine Familie erhalten quasi die gesamte Beute) nimmt, wie auch in der Fabel, anschließend der Fuchs vor. Weder der Roman de Renart noch der Reinhart Fuchs enthalten diese Fabel. 105 Vgl. dazu die Einführung Vrevels: er was ir herre ane got (P, V. 1246). Auch für Johannes von Salisbury untersteht der König als Haupt des Staates nur Gott allein (Policraticus, V,2, Bd. 1, S. 282f., Z. 25; 1f.). Zum Löwenkönig »[z]wischen Gottesgnadentum und Gottlosigkeit« (S. 333) vgl. DARILEK (Anm. 27), S. 333–42. 106 Vgl. P, V. 1974–78: »von gotes genaden so habe wir, / da mite dv wol macht genesen, / wilt dv mir nv gehorick wesen.« / »ia«, sprach der kvnic, »meister min, / swi dv mich heizest, also wil ich sin.« Vgl.

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die Ameise aus seinem Kopf vertreibt (P, V. 2030–42; 2079f.). Zugleich bewirkt diese Enthumanisierung aber auch den Zerfall der politischen Ordnung der Tiere, da die Augenzeugen der Gewalttaten aus Sorge davor, ebenfalls ihr Fell zu verlieren, eilends fliehen (P, V. 1987–93). Der Hoftag als Ort und Organ der Gerichtsbarkeit zerfällt: der hof zvsleif sa. (P, V. 1993). Der König bleibt allein zurück (P, V. 1999f.). Zum Konnex von Animalität und Königsherrschaft im Reinhart Fuchs ist somit zu resümieren, dass zunächst die vorgebliche Einhegung der animalischen kraft durch die richterliche Gewalt des Löwenkönigs als Farce enthüllt wird, denn Anlass des Landfriedens sind die Folgen des maßlosen Angriffs des größten und stärksten auf die kleinsten und schwächsten Tiere und damit just ein solcher Akt der ungezügelten, animalischen Gewalt, den der Gerichtstag einzuhegen vorgibt. Reinharts Wissen um Vrevels Versehrung macht auch die königliche Rechtsprechung und das Königtum verwundbar. Als tyrannisch kann hier im Anschluss an Cicero und Johannes von Salisbury Vrevels Missbrauch seiner gottgegebenen, legitimen Königsmacht gewertet werden, da er zum Zweck seiner Genesung auf inhumane, entmenschlichende Weise über Leib und Leben seiner Untertanen verfügt. Die Fragilität und Ambiguität politischer Herrschaft – verstanden als Abwehr oder Bannung animalischer Gewalt – führt das Tierepos dabei in besonderer Weise vor Augen, denn die Vertierung als Ausweis der Tyrannei ist hier nicht nur Metapher, sondern manifestiert sich in der Körperlichkeit der Figuren und resultiert aus einer spezifisch menschlichen Art der Gewaltausübung.

4 dô wart ime vergeben: Vergiftung und Verrat Da der Herrschertod entscheidend für die Beurteilung der Herrscherqualität ist, kommt dem eigentümlichen Tod durch Gift und mit gespaltenem Haupt und/oder Zunge, der Alexander wie Vrevel ereilt, eine besondere Bedeutung zu. Zu fragen ist daher nach den Rückschlüssen, die sich aus der jeweiligen narrativen Darstellung und Kommentierung des Gifttods auf die Herrscherqualität und die respektive Konzeption idealer und tyrannischer Herrschaft in den beiden Werken ziehen lassen. Die Symbolik der Zerspaltung und ihre Verbindung zum Animalischen sind in der anschließenden Schlussbetrachtung in den Blick zu nehmen. Deutlich unterscheidet sich die Ausführlichkeit der Erzählung und Kommentierung des Gifttods in den beiden Werken. Im Straßburger Alexander wird von der Vergiftung des Königs und vom Zerspringen seines Schädels äußerst knapp in nur drei Versen erzählt.107 Die Vergiftung erfolgt unvermittelt, da Alexander bei seinem Tod seit || auch P, V. 2027–29: Der kvnic sprach, wen er siech was, / als ein man, der gerne genas: / »din gebot ich gerne ervullen sol.« 107 Vgl. V. 6823/7271–6825/7273: Dô wart ime vergeben. / Sint ne mohter niwit leben, / wandime sîn houbit gare zespielt.

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12 Jahren sein kriegerisches Handeln eingestellt und sich »nach geistlicher Belehrung zum idealen Herrscher [ge]wandelt«108 hat.109 Die Umstände der Tat blendet der Text ebenso aus wie den Täter oder dessen Motiv. Eine Reflexion über den Regizid findet nicht statt.110 Im Reinhart Fuchs ist der Giftmord in die füchsische Therapie beim Hoftag eingebunden. So dient Reinhart Vrevel sein tödliches Gebräu (P, V. 2171) als hocheffektiven weiteren Heiltrank (P, V. 2168f.) an und wird eindeutig als Täter benannt.111 Als der Löwenkönig die Vergiftung bemerkt, betrachtet er sich als unschuldiges Opfer des Fuchses (P, V. 2232–35). Zunächst scheint der Text die Tat zu verurteilen, da von der Falschheit und vom Verrat (P, V. 2165f.) des vbele[n] vnde rot[en] (P, V. 2172) füchsischen Arztes die Rede ist. Unmittelbar darauf aber schwenkt die narrative Wertung um, wenn der Erzähler dazu auffordert, Vrevels Schicksal nicht zu beklagen, da von Reinhart nichts anderes zu erwarten gewesen sei.112 Noch weiter geht er, wenn er die Tötung von Herrschern, die Falschheit (P, V. 2180: valsches) an ihrem Hof dulden, generell gutheißt.113 Vor dem Hintergrund der abwägenden Haltung der zeitgenössischen politischen Theorie zum Tyrannizid erscheint dieses Erzählerurteil skandalös – umso mehr, als der Policraticus den Giftmord ablehnt.114 Entscheidend für die divergierenden narrativen Darstellungen des Königsmords durch Gift im Alexanderroman und im Fuchsepos dürfte die diametral entgegengesetzte Stellung des Verrats in den beiden Werken sein. Der Giftmord wird im Mittelalter grundsätzlich mit Verrat gleichgesetzt und als Angriff auf soziale Treuebindungen und Hierarchien gewertet.115 Der Gifttod inkriminiert jedoch nicht allein den Mörder, sondern ebenso das Opfer, das nicht nur um einen ruhmvollen Kampfestod gebracht wird, sondern offenbar auch Verrat in seinem Umfeld verkennt.116 Der Reinhart Fuchs || 108 LIENERT (Anm. 29), S. 45. 109 Den Umschlagspunkt bildet Alexanders Belehrung über die menschliche Vergänglichkeit nach seinem vermessenen Versuch, das Paradies zu erobern (V. 6737/7185–6798/7246). Der Erzähler beurteilt diesen Verhaltens- und Gesinnungswandel (V. 6799/7247–6822/7270) als Besserung (V. 6811/7259). Zu Alexanders Paradiesfahrt und seiner Umkehr vgl. STOCK (Anm. 36), S. 127–43. 110 Es folgt lediglich eine Ermahnung zur fortwährenden Sorge um das Seelenheil, zur Buße und zur Gottesfurcht; vgl. V. 6833/7281–6850/7298. 111 Vgl. P, V. 2172–74: Reinhart was vbele vnde rot, / daz tet er da vil wol schin: / er vergab dem herren sin. 112 Vgl. P, V. 2175f.: daz sol niman clagen harte; / waz want er han an Reinharte? 113 Vgl. P, V. 2183: daz weren gvte mere. 114 Vgl. Policraticus, VIII,20 (Bd. 2, S. 378, Z. 7–9). Den Policraticus als Vergleichsfolie für die Darstellung und Beurteilung des Regizids im Reinhart Fuchs heranzuziehen, liegt auch deshalb nahe, weil beide Texte sich wohl an Friedrich I. Barbarossa abarbeiten. Vgl. dazu WIDMAIER (Anm. 27), S. 17 und 222–26. Diesen hätten »kritische Zeitgenossen als ›deutschen Tyrannen‹« (S. 222) geschmäht. 115 Vgl. COLLARD, FRANCK: Le Crime de poison au Moyen Âge, Paris 2003, S. 160–64 und 282. Als Beispiel für eine solche Verkehrung der sozialen Ordnung führt COLLARD unter anderem die Arzt-PatientenBeziehung an, wenn der Arzt vergiftet anstatt zu heilen: »le médecin empoisonne au lieu de soigner [...]« (S. 282). 116 Zur Problematik des Erkennens von Verrat vgl. STOCK, MARKUS: Lesbarkeit. Herrscher und Verräter im Alexander Rudolfs von Ems, in: MEYER, MATTHIAS/SAGER, ALEXANDER (Hrsg.): Verstellung und

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betont eben diese sozial destruktive Verbindung von Vergiftung und Verrat, wenn er beim Hoftag mehrfach herausstellt, dass alle Tiere außer dem Löwenkönig Reinharts trügerische Absichten und Falschheit erkennen. 117 Diese narrative Einbindung des Giftmords macht auch das irritierende Erzählerlob des gvten Reinharte[s] (P, V. 2248) und des Regizids (P, V. 2181–83) einsichtig, der so als begründeter Tyrannizid erscheint.118 Das moralische Dilemma des Königsmords wird durch die Klagen von Vrevels Untertanen über des edelen kvniges tot (P, V. 2246) gleichwohl präsent gehalten. Das Attribut edel dürfte dabei anzeigen, dass Vrevel kein illegitimer tyrannischer Usurpator ist, sondern als legitimer, aber ungerechter und grausamer König seine Macht missbraucht. Diese Unterscheidung ist auch für die Tyrannenlehre relevant.119 Der Straßburger Alexander hingegen scheint das Ziel zu verfolgen, das mit dem Gifttod verbundene Odium des Verrats zu neutralisieren. So ist in Verbindung mit Alexanders tödlicher Vergiftung keine Rede von Untreue.120 Stattdessen wird im Verlauf der Erzählung mehrmals akzentuiert, dass Alexander Verrat erkennt und konsequent bestraft.121 Relevant für den Vergleich mit dem Reinhart Fuchs sind z. B. Alexanders Vertrauen in seinen Arzt, als man diesen fälschlicherweise der Vergiftung seines erkrankten Herrn bezichtigt,122 oder sein Vorgehen gegen Darius’ Mörder. So preisen Griechen wie Perser Alexander als rehten rihtere,123 als er diese wegen des Verrats an ihrem Herrscher erhängen lässt.124 Der Straßburger Alexander fügt sich so in den ein-

|| Betrug im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur, Göttingen 2015 (Aventiuren 7), S. 239–59, hier S. 256–59. 117 Vrevels Untertanen warnen ihn mehrfach eindringlich vor dem verräterischen (P, V. 1856: ein verrataere) und mörderischen (P, V. 1861: morder) füchsischen Arzt, so z. B. der Hirsch. Vgl. P, V. 1958–60: »iz mac wol sin der werlde spot, / daz ir dem volget hie, / der nie trewe begie.«. Zum Verrat beim Königstod vgl. auch WIDMAIER (Anm. 27), S. 217f. 118 Vom Gifttod als einer »nach der Gesamtkonzeption des Werkes [...] nur gerechte[n] Strafe für den Unrechtsherrscher« spricht WIDMAIER (Anm. 27), S. 229. 119 Während Johannes von Salisbury auch den rechtmäßigen Herrscher, der seine Macht missbraucht, als Tyrannen auffasst, zählt Thomas von Aquin darunter nur den Usurpator; vgl. FRENZEL, ELISABETH: »Tyrannei und Tyrannenmord«, in: DIES.: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 6. überarb. und erg. Aufl., Stuttgart 2008, S. 682–700, hier S. 687. 120 Vgl. hierzu auch SCHLECHTWEG-JAHN (Anm. 43), S. 68: »Alexander soll offenbar auch im Tod derjenige bleiben, der den Verrat im Griff hat und dem eine funktionierende vasallitische Ordnung gelingt.« 121 Zur »kompromißlose[n] Haltung« (S. 67) Alexanders gegen jede Art von Verrat im Straßburger Alexander vgl. ebd., S. 65–67. 122 Vgl. V. 2103/2555–2155/2607. Zur Problematisierung des Vertrauens im Kontext von Alexanders Krankheit vgl. generell STOCK (Anm. 116), S. 244–48. 123 Die Bezeichnung als rehter rihtere stellt eine weitere lexikalische Verbindung zum Reinhart Fuchs dar, denn als Reinhart als Arzt zum Hoftag kommt, appelliert der Hahn an Vrevel als ihren rehte[n] rihtere (P, V. 1859) und ermahnt ihn, den Verräter (P, V. 1856) und Mörder (P, V. 1861) nicht ungestraft zu lassen. Daraufhin jedoch etabliert Reinhart sich mit den bekannten Folgen als königlicher Leibarzt. 124 Vgl. V. 3527/3979–3529/3981. Zu Alexanders »Solidarität« (S. 66) mit Darius angesichts des Verrats vgl. SCHLECHTWEG-JAHN (Anm. 43), S. 66f.

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gangs bereits skizzierten Wandel des Alexanderbilds an der Schwelle vom 12. zum 13. Jahrhundert ein. Überwog zunächst die geistliche Perspektive auf den hochmütigen, unersättlichen König, wird er zunehmend weltlich als idealer Herrscher vereinnahmt.125 Die idealisierenden Alexanderdichtungen müssen daher Wege finden, um den schmählichen, durch die Stofftradition vorgegebenen Gifttod zu bewältigen.126 Die erzählerische Marginalisierung des Giftmords und die Akzentuierung der triuwe lassen sich als eine solche Strategie werten. Gleichwohl markiert der Straßburger Alexander die Vergiftung in auffälliger Weise, indem er sie mit der innerhalb der Alexander-Tradition singulären Zerspaltung des Herrscherhaupts verknüpft, und stellt so eine Verbindung zu Alexanders animalischer Körperlichkeit und damit einhergehend zu seinen potenziell tyrannischen Qualitäten her, wie abschließend zu zeigen ist.

5 Schlussbetrachtung: Zerspaltene Königshäupter Animalität und Inhumanität werden mithin in beiden untersuchten Werken auf ganz verschiedene, aber gleichermaßen ambige Weise zur Legitimation und Delegitimation von Königsherrschaft herangezogen. Im Straßburger Alexander prädestiniert seine furchterregende, hybride tierliche Physiognomie Alexander zum Herrscher. Der Reinhart Fuchs versieht die Königsposition mit dem Löwen als größtem und stärkstem Raubtier, hebt als Funktion seiner Rechtsprechung aber die Unterbindung der kraft der Vrevel untergebenen Tiere hervor. Im Alexanderroman artikuliert sich Alexanders animalisches Gewaltpotenzial nur im Kontext von Krieg und Eroberung. Dort trägt es einerseits zu seinem kämpferischen Triumph bei, macht ihn andererseits aber auch zu einem erbittert wütenden Kampfesgegner – bis hin zur Vertierung oder Verdinglichung seiner Opponenten. Im Fuchsepos zeigt sich die physische Gewalt des Löwen als Raubtier nur beim maßlosen Angriff auf die Ameisen. Zur Vertierung seiner Untertanen führt hingegen der inhumane Missbrauch der königlichen Befehlsgewalt. Bedrohlich wirkt im Straßburger Alexander somit das Animalisch-Violente, während im Reinhart Fuchs das Menschlich-Inhumane die politische Ordnung gefährdet. Ausgehend von der Vertierung bzw. Entmenschlichung, die Cicero und Johannes von Salisbury als Indikator der Tyrannenherrschaft ansetzen, kann im Alexanderroman somit von Spuren des Tyrannischen gesprochen werden, da in Alexanders animalischer Physis ein violentes Potenzial angelegt ist, das sich in Form von hemmungslosen, entmenschlichenden Gewaltakten manifestieren kann. Wenngleich dies in der Romanhandlung nur vereinzelt im Kampf der Fall ist und der Text gegen den Konnex || 125 Vgl. ROUILLÉ (Anm. 30), S. 252f. 126 Vgl. COLLARD (Anm. 115), S. 238–40, und BELLON-MÉGUELLE (Anm. 25), S. 149f. Das tödliche Gift könne z. B. ex negativo seine Unbesiegbarkeit mit Waffengewalt markieren oder metaphorisch zum Schwert werden.

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von Vergiftung und Verrat als Indiz schlechter Herrschaft anerzählt, so ist Alexanders inkorporierte bedrohliche Animalität doch als fortwährende latente Gefährdung seines rühmlichen Handelns als gerechter Richter durch ein Umschlagen in willkürliches, tyrannisches Wüten stets mitzudenken. Das Tierepos zeichnet hingegen recht klar das Bild eines tyrannischen Herrschers, da Vrevels moralische Unmenschlichkeit sich auch und gerade in seinem Agieren als zwar rechtmäßiger, gleichwohl aber ungerechter Richter zeigt und bei seiner Vergiftung Verrat und Falschheit akzentuiert werden. Auf das Verhältnis der beiden Könige zum Animalischen verweist auch die Zerspaltung ihres Haupts und/oder ihrer Zunge infolge der Vergiftung. So manifestiert sich die Wirkung des Gifts an Alexanders Kopf und somit an jenem Körperteil, an welchem sein tierliches Gewaltpotenzial und seine Unbesiegbarkeit sichtbar werden. Einerseits sind diese animalischen Qualitäten für den Erwerb und die räumliche Ausweitung seiner Herrschaft durch Eroberungen vonnöten und nicht per se schlecht. Andererseits erscheint diese Alexanders Körper eingeschriebene und daher trotz seines Gesinnungsund Verhaltenswandels fortbestehende Befähigung des Unbesiegbaren zu Gewalt und Schrecken als permanente Bedrohung, speziell bei der Herrschaftsausübung. Der infame Giftmord, der Alexanders Kopf als Sitz seiner tierlichen Züge zerspringen lässt, schaltet das Animalisch-Bedrohliche, latent Tyrannische somit endgültig aus – um den Preis der Vernichtung des Herrschers. Im Reinhart Fuchs könnte die Dreiteilung von Vrevels Haupt auf den Verlust göttlicher Gnade infolge seines Machtmissbrauchs hindeuten;127 insbesondere, wenn man die politische Körpermetaphorik in Betracht zieht, die den König als Haupt des Staates entwirft. Hinzu kommt das Zerspringen seiner Zunge. Dies kann zum einen als Indiz für Verrat, zum anderen für die Inhumanität von Vrevels Gewaltherrschaft gedeutet werden.128 Schließlich wird mit der Zunge als Sprachorgan gleichsam auch die menschliche Sprachfähigkeit des Löwenkönigs destruiert, denn der Kontrast zwischen dem humanen Anschein in seiner Sprache und der dehumanisierenden Degradierung seiner Untertanen in seinem Handeln ist es, der Vrevels Agieren als Richter eine solch inhumane, ja tyrannische Grausamkeit verleiht.

|| 127 Die Drei- und die Neunzahl wären dann auf die Trinität zu beziehen. Anschließen lässt sich hier abermals an Johannes von Salisbury, der vom Fürsten als Abbild der Gottheit (imago diuinitatis) und vom Tyrannen als verzerrtem Abbild des Teufels (Luciferianae prauitatis imago) spricht; vgl. Policraticus, VIII,17 (Bd. 2, S. 345, Z. 21–23). Auch WIDMAIER (Anm. 27), S. 225, zitiert diese Stelle im Zusammenhang mit dem Widerstandsrecht, jedoch ohne Bezugnahme auf die politisch-religiöse Symbolik des dreigeteilten Kopfes. Zur Drei- und Neunteilung von Vrevels Schädel und Zunge vgl. auch DARILEK (Anm. 27), S. 396–98. 128 Auf den Zusammenhang von Spaltung und Verrat weist NEUDECK, OTTO: Frevel und Vergeltung. Die Desintegration von Körper und Ordnung im Tierepos Reinhart Fuchs, in: JAHN, BERNHARD/NEUDECK, OTTO (Hrsg.): Tierepik und Tierallegorese. Studien zur Poetologie und historischen Anthropologie vormoderner Literatur, Frankfurt a. M. [u. a.] 2004 (Mikrokosmos 71), S. 101–20, hier S. 107f. und 118f., hin.

Matthias Standke

Vom erzählten Tyrannen Das Bild Morolds im Tristanstoff des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

1 Tyrann: Erzählmotiv und kommunikatives Handlungsmuster Roger II. entstammte dem mächtigen normannischen Geschlecht der Hauteville und erwarb für sich und seine Nachkommen 1130 die Königsherrschaft über Sizilien. Zudem war Roger II. der Großvater Kaiser Friedrichs II., jenes Staufers, der 28 seiner 39 Regierungsjahre vornehmlich in den großväterlichen Landen verbrachte. Von diesem Roger II. berichtet ein Zeitgenosse und staufischer Parteigänger,1 Bischof Otto von Freising: Ea tempestate Reginaldo mortuo Rogerius Apuliam rectore destitutam ingreditur; [...] tam ipsam quam Campaniam recepit ac multis malis incolas eius afflixit et usque hodie premit. Beati etiam Benedicti monasterium in monte Cassino positum totique orbi venerabile multis ecclesiasticis ornamentis inmaniter spoliavit. [...] Capta quippe urbe non solum vivos diversis tormentorum generibus affecit, sed etiam in mortuos seviens Reginaldum ducem effossum per plateas trahi iussit. Haec et alia crudelitatis opera ad antiquorum Siculorum formam tyrannorum [...] omittimus. Um diese Zeit [1139] rückte Roger nach Reginalds Tode [gemeint ist Rogers Schwager, Rainulf von Alife, Herr über die Grafschaft Capua; M. S.] in das führerlose Apulien ein; [...] er nahm Capua und Kampanien wieder in Besitz; dessen Bewohnern fügte er viel Ungemach zu und bedrückt sie noch bis zum heutigen Tage. Auch das aller Welt verehrungswürdige Kloster des seligen Benedikt auf dem Monte Cassino hat er bestialisch vieler kirchlicher Kostbarkeiten beraubt. [...] nach der Einnahme der Stadt [Bari] verhängte er nicht nur über Lebende Folterungen aller Art, sondern ließ, auch gegen Tote wütend, Herzog Reginald ausgraben und durch die Straßen schlei-

|| 1 Die Vorstellung abstrakter parteilicher Oppositionen, wie sie die Moderne kennt, ist im Hinblick auf die Auseinandersetzung zwischen d e n S t a u f e r n und d e n W e l f e n im 12. und 13. Jahrhundert falsch, vielmehr ist von einer Vielzahl einzelner personaler Konflikte auszugehen. Wenn hier dennoch von Parteigänger, Partei oder ähnlichem gesprochen wird, ist dies vor dem Hintergrund einer historischen Zusammenschau der einzelnen Konflikte und der jeweils Beteiligten zu verstehen. Vgl. dazu grundlegend HECHBERGER, WERNER: Staufer und Welfen (1125–1190). Zur Verwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft, Köln [u. a.] 1996 (Passauer Historische Forschungen 10), sowie DERS./SCHULLER, FLORIAN (Hrsg.): Staufer und Welfen. Zwei rivalisierende Dynastien im Hochmittelalter, Regensburg 2009. https://doi.org/10.1515/9783110752373-010

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fen. Diese und andere grausame Taten nach dem Vorbild der sizilischen Tyrannen des Altertums 2 [...] übergehen wir [...].

Mehr als deutlich zeichnet der Chronist das Bild eines Usurpators, mit dem man nur wenig zu tun und schon gar nicht irgendetwas gemein haben möchte. Neben der Annexion eines offenen Lehens, der andauernden Unterdrückung der Bevölkerung, dem ruchlosen Raub kirchlicher Güter sowie dem Foltern benennt Otto auch die Schändung des Leichnams Reginalds als Vergehen. Die Klimax der Grausamkeiten gipfelt im Vermerk, dass Rogers Handeln den bekannten Taten der antiken Tyrannen gleiche und insoweit keiner weiteren Ausführungen bedürfe. Ganz anders als der Bischof von Freising in seiner spätestens 1157 abgeschlossenen Chronica berichtet ein anderer Zeitgenosse, der Erzbischof Romuald von Salerno, in seinem wohl vor 1180 vollendeten Chronicon. Die Taten Rogers II. und mehr noch ihre Auswirkungen skizziert Romuald folgendermaßen: Rex autem Roggerius in regno suo perfecte pacis tranquillitate potitus, pro conservanda pace camerarios et iustitiarios per totam terram instituit, leges a se noviter conditas promulgavit, malas consuetudines de medio abstulit. Nachdem König Roger in seinem Königreich die Ruhe eines vollkommenen Friedens erreicht hatte, setzte er zur Bewahrung des Friedens Kämmerer und Justitiare im ganzen Land ein, ver3 kündete neu von ihm erlassene Gesetze und schaffte schlechte Gewohnheitsrechte ab.

Die schon bei Otto von Freising vermerkte ›Wieder‹-Inbesitznahme eines angeheirateten Lehens wird bei Romuald von Salerno zwar nicht explizit erwähnt, wohl aber die damit verbundenen Friedensbemühungen Rogers und seine Gesetzgebungen, die erst zu einem gesicherten und ruhigen Landfrieden führten. Rogers Handeln erscheint als nützlich und sinnvoll – ein Handeln, das zu Rechtssicherheit und Frieden führte. Gräueltaten und Willkür eines antiken Tyrannen ebenbürtig, wie sie Otto von Freising als Außenstehender benennt, kennt die Beschreibung des ›Insiders‹ Romuald nicht.4 Während der Erzbischof von Salerno, der 1166 unter anderem auch den Enkel Rogers II.,

|| 2 Benutzte Ausgabe: Otto von Freising: Chronica sive duabus civitatibus, hrsg. von ADOLF HOFMEISTER, Hannover/Leipzig, 21912 (MGH SS rer. Germ. 45), S. 540f. Die Übersetzung entstammt Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten, übers. von ADOLF SCHMIDT, hrsg. von WALTHER LAMMERS, Darmstadt 41980 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 16). 3 Benutzte Ausgabe: Romuald von Salerno: Chronicon, hrsg. von CARLO ALBERTO CARUFI, Città di Castello 1935 (RIS VII/1), S. 226. Die Übersetzung folgt HOUBEN, HUBERT: Politische Integration und regionale Identitäten im normannisch-staufischen Königreich Sizilien, in: MALECZEK, WERNER (Hrsg.): Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa, Ostfildern 2005 (Vorträge und Forschungen des Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte 63), S. 171–84, hier S. 175; vgl. zu den Streitigkeiten und der historischen Person Rogers II. ebd. 4 Möglicherweise bietet auch die Vita Rogers II., die Alexander von Telese zeitlich näher an den Geschehnissen verfasste, einen weiteren Vergleich; dies vor allem weil Mathilde von Alife den Auftrag

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Wilhelm II., zum König von Sizilien krönte, einen durchweg positiven Herrscher zeichnet, in dessen Herrschaftsgebiet er selbst lebte, entwirft Otto von Freising im fernen Herzogtum Bayern das Bild eines Tyrannen.5 Ob Roger II. tatsächlich ein Tyrann war, lässt sich nur schwer belegen. Mit HANNA VOLLRATH steht man vor der schwierigen Trias von ›historischem Konflikt‹, ›Konfliktwahrnehmung‹ und ›Konfliktdarstellung‹, die den späteren Rezipienten immer vor das Problem der subjektiven »Perspektive des Quellenproduzenten«6 stellt. Für die normannischen Chronisten, egal ob Romuald von Salerno oder Alexander von Telese, war Roger II. kein Tyrann. Zum Tyrannen wird er nur durch einen kommunikativen, genauer gesagt einen narrativen Akt Ottos von Freising.7 Roger II. wird für die Rezipienten der Chronik des Freisinger Bischofs zu einem erzählten Tyrannen. Im Erzählen nutzt Otto das Motiv des Tyrannen, um im Rahmen der staufisch-welfischen wie staufisch-normannischen Auseinandersetzungen im 12. und 13. Jahrhundert in seiner chronistischen Weltdarstellung Partei zu ergreifen und die Kontrahenten seines Halbbruders, Konrads III., zu diskreditieren. Mit ERIKA FISCHER-LICHTEs Differenzierung von ›Inszenierung‹, ›Aufführung‹, ›Korporalität‹ und ›Wahrnehmung‹ sowie in der Perspektive des Dresdner kulturwissenschaftlichen Forschungsansatzes kann die beschriebene Kommunikation und ihre performative Darbietung wie Rezeption als ›Invektivität‹ verstanden werden, die als »invektive Triade von Invektierenden, Invektierten und Publikum« realisiert wird.8 Das Tyrannenmotiv fungiert insoweit als

|| zu dieser Lebensbeschreibung gab. Sie war die Frau des Grafen von Capua, dessen Länder ihr Bruder Roger II. nach dem Tod ihres Mannes Rainulf in Besitz nahm. 5 Ottos Darstellung des normannischen Herrschers schließt direkt an seine Beschreibung Herzog Heinrichs des Stolzen an und geht den Episoden über die Aberkennung der doppelten Herzogswürde Heinrichs in Bayern und Sachsen durch König Konrad III. sowie der Geiselnahme Papst Innocenz’ II. durch Roger voraus. Ohne eine ausführliche Analyse der Chronica leisten zu wollen, kann man sicherlich sagen, dass Otto in diesen Passagen bewusst zwei politische Kontrahenten seines Königs parallelisiert. Als rhetorischen Kniff kann man dabei die eingeflochtene Paraphrase eines Ausspruchs Heinrichs des Stolzen ansehen, die die Parallele nicht nur in der dargestellten Wirkabsicht, sondern auch auf der Wortebene festigt. Nach Otto soll sich Heinrich selbst gerühmt haben, dass seine Herrschaft »von Meer zu Meer, nämlich von Dänemark bis Sizilien« reiche (a mari usque ad mare, id est a Dania usque ad Siciliam; siehe Anm. 2). Dem Chronisten liefert also einer der Kontrahenten das Stichwort für den zweiten, nämlich Roger von Sizilien. Den Herrscher über Süditalien vergleicht Otto in einer Klimax von Untaten mit den antiken Tyrannen Siziliens. 6 Vgl. VOLLRATH, HANNA: Konfliktwahrnehmung und Konfliktdarstellung in erzählenden Quellen des 11. Jahrhunderts, in: WEINFURTER, STEFAN [u. a.] (Hrsg.): Die Salier und das Reich, Bd. 3: Gesellschaftlicher Wandel und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, Sigmaringen 1991, S. 279–96, hier S. 280. 7 Zu den unterschiedlichen Darstellungen Rogers II. von Sizilien vgl. auch HOUBEN, HUBERT: Roger II. von Sizilien. Herrscher zwischen Orient und Okzident, Darmstadt 22010, S. 4 und 79f. 8 Vgl. FISCHER-LICHTE, ERIKA: Diskurse des Theatralen, in: DIES. (Hrsg.): Diskurse des Theatralen, Tübingen [u. a.] (Theatralität 7), S. 11–34, hier S. 11f., sowie ELLERBROCK, DAGMAR [u. a.]: Invektivität –

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Invektive, als es »innerhalb eines Geflechts aus kulturellem Wissen, sozialer Normierung, medialer Speicherung und situativer Ermöglichung manifestier[t]« wird.9 Mir geht es im Folgenden um eine literarische Figur, die – ob nun zu Recht oder Unrecht, das will ich gar nicht beurteilen – zu einem erzählten Tyrannen wird, oder anders gesagt: zu einer Figur, die im Zentrum einer narrativ entfalteten Invektivität steht. Der Fokus richtet sich auf die Darstellung Morolds in unterschiedlichen Tristanerzählungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Analyse möchte in Anlehnung an die Beobachtungen JAN-DIRK MÜLLERs zur angeblichen Gotteskriegerschaft Tristans zeigen bzw. dafür sensibilisieren, dass das Tyrannenmotiv im Tristanstoff eine Zuschreibungskategorie narrativer, meist diegetischer Instanzen ist.10 Dafür gilt es dreierlei zu hinterfragen: Erstens: Wie wird die Zuschreibung jeweils ausgefüllt bzw. welche Vorwürfe und Argumente werden vorgebracht? Zweitens: Wer belegt die Figur Morolds mit dem Motiv – Figuren (welche?) oder der Erzähler? Drittens: Welche Funktion kommt diesen Passagen neben dem Evozieren von Invektivität zu? Es geht also um Transfomationen eines narrativ entworfenen Tyrannenbildes, wobei der invektive Charakter des Erzählten und des Erzählens sich erst in der Zusammenschau der Diskontinuitäten zeigt.

2 Die Morold-Episode und das Tyrannenmotiv Nach WOLFGANG HIERSE ist der Moroldkampf einer der ältesten Bestandteile der Tristanerzählungen, auch wenn man mit ANDREAS HAMMER zurecht die stoffgeschichtlichen Überlegungen HIERSEs relativieren muss.11 || Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 1 (2017), S. 2–24, hier S. 9. 9 FISCHER-LICHTE (Anm. 8), S. 9. 10 Für die nachfolgenden Analysen sind JAN-DIRK MÜLLERs Überlegungen zur Morold-Episode leitend, die bereits vergleichend (bezogen auf den Tristram Bruder Roberts und den Tristrant Eilharts) zeigen, dass die Gottfried’sche Figur Morolds auf Erzählerebene und Figurenebene differente Zuschreibungen erfährt und ein Pauschalurteil dieser Figur, wie es die rezente Forschung vorhält, meist der Perspektive der Figurenebene folgt: MÜLLER, JAN-DIRK: Gotteskrieger Tristan?, in: KÖBELE, SUSANNE/QUAST, BRUNO (Hrsg.): Literarische Säkularisierung im Mittelalter, Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte 4), S. 39–64. 11 Vgl. dazu HIERSE, WOLFGANG: Das Ausschneiden der Drachenzunge und der Roman von Tristan, Diss. Tübingen 1969, S. 197, und HAMMER, ANDREAS: Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im Tristan Gottfrieds von Straßburg und im Iwein Hartmanns von Aue, Stuttgart 2007, S. 83, vor allem Anm. 160. Ob man der von MARTIN HOWARD JONES 1990 erneut aufgestellten Behauptung folgen mag, dass diese Episode selbst für die nur fragmentarisch überlieferte Fassung Bérouls gilt, ist für die nachfolgenden Analysen nicht von Belang und auch nicht das von DORIS FOUQUET 1971 aufgezeigte Vorkommen der Szene in den meisten bildlichen und plastischen Darstellungen des Tristanstoffs. Wichtig scheint vor allem, dass die Morold-Episode auf Grund ihrer relativen Häufigkeit

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Kern der Episode sind die folgenden sieben Aspekte: Erstens ist der vom irischen König erhobene Zins gegenüber dem von ihm unterworfenen Cornwall zu nennen. Beides, Unterwerfung wie auch Zinspflicht, ist entweder ein alter ›Rechtsbrauch‹, wie JAN-DIRK MÜLLER betont, und/oder vom römischen Senat als höchster weltlicher Instanz rechtlich bestätigt, wie es ROSEMARY N. COMBRIDGE in ihrer rechtshistorischen Studie zeigt.12 Zweitens scheint nicht genau definiert zu sein, was als Zinspflicht zu entrichten ist, anders als drittens die schon bei Eidleistung zugesicherte Möglichkeit, die Zinspflicht durch Gegengewalt, im Besonderen den Gewinn eines Zweikampfs, zu beenden. Viertens schickt der irische König als Zinseintreiber einen auch verwandtschaftlich eng an ihn gebundenen Vasallen, seinen Schwager Morold von Irland. Fünftens wandeln sich die Zinsforderungen von Geld- in Geiselzahlungen, die zu Unmut führen. Sechstens erklärt Tristan am Markehof seine Bereitschaft, sich mit Morold zu duellieren, um die Zinspflicht – wie im Eid zugesichert – zu beenden. Siebtens kämpfen Morold und Tristan miteinander; Tristan gewinnt, womit die Zinspflicht endet. Ob man die Morold-Episode noch kleinschrittiger unterteilen könnte, ist von der jeweiligen Erzählung abhängig. Für einen ersten Überblick reicht jedoch diese Zergliederung. Sie offenbart, dass die Morold-Episode auf einem in der Vormoderne bekannten machtpolitischen Phänomen basiert: der paria, wortwörtlich einem Ausgleichsgeld, das eine unterlegene Partei dem Sieger zu zahlen hatte. So war es etwa bei König Heinrich I. der Fall, dem die Ungarn 924 eine zunächst neunjährige Tributpflicht zur Friedenswahrung auferlegt hatten. Widukind von Corvey berichtet in seiner Res gestae Saxonicae (I,32),13 dass Heinrich I., obwohl es ihm gelungen war, eine hochrangige ungarische Geisel zu nehmen, erst durch eine militärische Großoffensive, die Schlacht von Riade am 15. März 933, die Zahlungsverpflichtungen beenden konnte (I,38). Monetäre Tributpflicht bei Unterlegenheit, Geiselnahme und die Lösung der Abhängigkeit durch eine Machtdemonstration im Kampf sind typische Muster des herrschaftspolitischen Handelns im Mittelalter. Teil dieser Handlungsmuster ist aber auch die bereits dargestellte Diffamierung der anderen Partei, um die eigene Legitimität zu untermauern. Die erfolgreiche Umsetzung dieses kommunikativen || innerhalb der schrift- und bildsprachlichen Überlieferung ea ipsa für die Untersuchung von Transformationen ihres Erzählens geeignet ist. Vgl. JONES, MARTIN H.: The depiction of military conflict in Gottfried’s Tristan, in: WISBEY, ROY ALBERT/STEVENS, ADRIAN (Hrsg.): Gottfried von Strassburg and the Medieval Tristan Legend. Papers from an Anglo-North American Symposium, Cambridge 1990 (Arthurian Studies 23), S. 45–65, hier S. 48, sowie FOUQUET, DORIS: Wort und Bild in der mittelalterlichen Tristantradition. Der älteste Tristanteppich von Kloster Wienhausen und die textile Tristanüberlieferung des Mittelalters, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 62). 12 Vgl. dazu MÜLLER (Anm. 10), S. 44, sowie COMBRIDGE, ROSEMARY NORAH: Das Recht im Tristan Gottfrieds von Straßburg, 2. überarb. Aufl., Berlin 1964 (Philologische Studien und Quellen 15), im Folgenden vor allem S. 49–53. Zur Kritik an COMBRIDGE vgl. MÜLLER (Anm. 10), S. 44, Anm. 21. 13 Benutzte Ausgabe: Widukind von Corvey: Res gestae Saxonicae. Die Sachsengeschichte, Lateinisch/ Deutsch, bibliograph. erg. Aufl. hrsg. und übers. von EKKEHART ROTTER/BERND SCHNEIDMÜLLER, Stuttgart 2011.

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Handlungsmusters begründet neben dem militärischen Sieg zugleich die Idoneität des Handelnden. Im Falle Heinrichs I. sind die Ungarn zwar keine Tyrannen, dafür aber kultur- und gottlose Barbaren. In der Morold-Episode des Tristanstoffs wird das kommunikative Handlungsmuster nicht allein in den fast immer aufscheinenden, typischen Reizreden der Gegner Tristan und Morold greifbar. Vielmehr eignet bereits den Darstellungen der Zinspflicht bzw. der Abhängigkeit Cornwalls von Irland sowie der Beschreibung des Zinseintreibers Morold ein invektiver Charakter. Folgende Aspekte werden dafür in den Erzählungen an den eben vorgestellten Kern der Morold-Episode geknüpft: erstens eine ausführliche Darstellung des Unmuts und zum Teil der Leiden der Zinspflichtigen, zweitens die von Seiten der unterlegenen Partei behauptete Unrechtmäßigkeit des Zinses, drittens die dazugehörige Argumentation, die vor allem auf die Unverhältnismäßigkeit und Gottlosigkeit der Geiselnahme zielt, viertens die exzeptionelle Stärke Morolds, die ihm unmenschliche Züge verleiht, fünftens Morolds Ehr- und Treueverständnis, das als Hochmut und Gier ausgelegt wird. Diese Zusätze führen erst zu einem Moroldbild, das ihn und im Grunde auch seinen Herrn, den irischen König, innerhalb der Erzählungen zu Tyrannen stilisiert. Wie, wann und von wem diese invektiven Einschübe in den Narrationen vorgenommen werden, soll nachfolgend für eine Auswahl von Tristanerzählungen gezeigt werden.

3 Analysen Für die Analysen habe ich sechs Tristanfassungen ausgewählt, die aus dem späten 12. bis Mitte des 16. Jahrhunderts stammen und in verschiedenen Gattungen und Volkssprachen überliefert sind: Eilharts von Oberg Versroman Tristrant,14 der um 1170/80 entstand und am ehesten der nur fragmentarischen Fassung Bérouls entspricht; Gottfrieds von Straßburg Versroman Tristan,15 der um 1205/10 entstand und auf die fragmentarische Thomas’sche Version Tristans zurückgeht; die 1226 entstandene altnordische Tristrams saga ok Ísondar des Abtes Robert,16 die eine Prosaübertragung der Thomas’schen Fassung bietet; das anonym überlieferte altenglische Lied Sir Tristrem,17 || 14 Benutzte Ausgabe: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. Mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch, hrsg. von DANIELLE BUSCHINGER/WOLFGANG SPIEWOK, Greifswald 1993 (Wodan 27/Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 12). 15 Benutzte Ausgabe: Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold, hrsg. von FRIEDRICH RANKE, Berlin 7 1963. 16 Benutzte Ausgabe: Die nordische Version der Tristan Sage. Tristrams Saga ok Ísondar, hrsg. von EUGEN KÖLBING, Heilbronn 1878, Nachdruck Hildesheim 1978 (Die nordische und die englische Version der Tristan-Sage 1). 17 Benutzte Ausgabe: Die englische Version der Tristan Sage. Sir Tristrem, hrsg. von EUGEN KÖLBING, Heilbronn 1882, Nachdruck Hildesheim 1985 (Die nordische und die englische Version der Tristan-Sage 1).

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entstanden zwischen 1300 und 1330, ebenfalls in Anlehnung an die Fassung Thomas’; den Augsburger Druck von 1484 Tristrant und Isalde,18 eine Prosaauflösung von Eilharts Versroman; schließlich Hans Sachs’ Von der strengen lieb herr Tristrant mit der schönen königin Isalden, ein am 7. Februar 1553 vollendetes ›Trauerspiel‹,19 das sich wiederum auf die gedruckte Prosafassung des Eilhart’schen Romans bezieht. Nexus der nachfolgenden Überlegungen ist die Zinspflicht, die den narrativen Kern der Morold-Episode bildet und die Handlungen der Figuren motiviert. Für die einzelnen Episoden richtet sich der Blick dafür auf die jeweilige Art der Zinspflicht (Geld, Geiseln etc.), die narrative Präsentation der Zinspflicht (Wer spricht zuerst über sie?),20 die mit dem Zins eingeführte Moroldfigur (Darstellung und Handeln), die Wirkung der Zinspflicht (Leid, Empörung etc.) und die argumentative Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit des Zinses (Tristan, Morold und Erzähler).

3.1 Zinspflicht I: Forderungen, Wirkungen und Auftritt der Morolde Beim Vergleich der Fassungen fällt zunächst eine inhaltliche Differenz auf. Während der Tristan Gottfrieds, der Tristram Roberts und der Sir Tristrem – also die auf der Thomas’schen Fassung beruhenden Texte – sowohl den sich steigernden Geldzins als auch die Forderung von Geiseln kennen,21 nennen der Tristrant Eilharts, der Augsburger Druck und die Tragödie von Hans Sachs – also die Fassungen,22 die vermutlich auf Béroul fußen – keinen Geldzins, dafür weiten sie aber, anders als die drei erstgenannten, den Kreis der Geiseln aus. In ihnen werden nicht nur die Söhne der Fürsten || 18 Benutzte Ausgabe: Tristrant und Isalde. Prosaroman. Nach dem ältesten Druck aus Augsburg vom Jahre 1484, versehen mit den Lesarten des zweiten Augsburger Druckes aus dem Jahre 1498 und eines Wormser Druckes unbekannten Datums, hrsg. von ALOIS BRANDSTETTER, Tübingen 1966 (ATB Ergänzungsreihe 3). 19 Benutzte Ausgabe: Tragedia mit 23 personen, von der strengen lieb herr Tristrant mit der schönen Königin Isalden, in: Hans Sachs, Bd. 12, hrsg. von ADALBERT VON KELLER, Tübingen 1879 (BLV 140), S. 142–86. Die Datumsangabe lässt sich dem Kolophon des ersten Drucks entnehmen. 20 Das genutzte narratologische Instrumentarium entstammt GENETTE, GÉRARD: Die Erzählung, München 21998 (zuerst im frz. Orig. Figures I–III, Paris 1969–1976). Zu meinem Verständnis der hier hauptsächlich berücksichtigten GENETTE’schen Kategorien ›Modus‹ und ›Stimme‹ vgl. STANDKE, MATTHIAS: Der Held im Wald der Stimmen. Zur programmatischen Dialogizität des Wîgâlois, in: ZfdPh 136 (2017), S. 343–62, hier S. 346–49. 21 Gottfrieds Tristan: V. 5942–65; Roberts Tristram: Kap. XXVI; Sir Tristrem: Str. LXXXVI. Gottfried gestaltet die Darstellung explizit als Erzählerkommentar: was abr dez zinses were, / den man zu Yrlanden sande, / von itwederem lande, / des bescheide ich iuch rehte unde vur war (V. 5942–45). 22 Eilharts Tristrant: V. 425–31 (Eilhart lässt Môrolt die Zinsforderung durch einen Boten selbst erläutern); Augsburger Druck: Z. 159–69 (Morholts Forderung wird in indirekter Rede wiedergegeben); Hans Sachs’ Tragödie: gleich nach dem Prolog des Ernholdts benennt König Marx die unrechten Forderungen (K 143,12–39).

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oder gar alle männlichen 15-jährigen Einwohner Cornwalls als Tribut gefordert, sondern auch alle Töchter gleichen Alters. Im Tristrant Eilharts und im Augsburger Druck wird zudem ergänzt, dass die Jungen als Knechte Môrolts/Morholts dienen müssen und die Mädchen von ihm in ein hûrhûse (Eilhart, V. 439) bzw. frawhauß (Druck, Z. 170) geschickt werden, damit sie Geld für ihn verdienen. Allerdings sind es auch jene zwei Fassungen, in denen König Marke/Marchs den Eroberungszügen und Zinsforderungen Môrolts/Morholts bereits seit 15 Jahren widersteht,23 es also noch gar keine Zahlungen wie in allen anderen Fassungen gab. Folgerichtig setzen diese Erzählungen mit Darstellungen ihrer Morolde ein, die zunächst nur einen außergewöhnlich starken (Augsburger Druck: Z. 144f.: Nun wz ein helt in jrlannt mit namen Morholt der wz gar ein starck man. vnd hette allein vier mannes sterck),24 aber machthungrigen Helden beschreiben.25 Erst danach erwähnt jeweils der Erzähler den Widerstand Cornwalls und den daraus resultierenden Ehrverlust Morolds. Die sich daraus ergebende Motivation, Cornwall erneut mit einem Heer zu belagern und einen Zins zu fordern, ist für einen expansiv auftretenden Helden durchaus adäquat. Eilhart lässt an dieser Stelle Môrolt selbst zu Wort kommen, und dieser klagt wütend gegenüber dem König von Irland sein grôz ungemach (V. 388).26 Für den Erzähler ist das Handeln der Figur nachfolgend affektorientiert; ähnlich verhält es sich im Augsburger Druck. Môrolt kommt bei Eilhart jedoch noch einmal zu Wort. Mittels eines Boten fordert er den Zins und lässt seine Forderungen durch diesen in direkter Rede erläutern. In diesen Fassungen wird die einleitende, negative Charakterisierung der Morolde durch den Erzähler und durch die Figurenrede des anstelle Môrolts sprechenden Boten untermauert. Narratologisch lassen sich die Stimmen von Bote und Môrolt zwar differenzieren, inhaltlich spricht aber der Bote mit Môrolts Stimme, womit keine Fokalisierung und im Grunde auch kein Stimmwechsel vorliegen. Vielmehr dient der Bote als Artikulationsmedium für die Figur/Stimme Môrolts, ein typisches Phänomen vormoderner Literatur.27 Die Morolde Eilharts und des Augsburger Drucks treten insoweit als ›Unholde‹ auf. Hans Sachs verfährt hingegen ähnlich wie die auf Thomas zurückzuführenden Fassungen und stellt den Zins sowie die Abhängigkeit, welche Tristrant bei Sachs üb|| 23 Eilhart: V. 408f.; Druck: Z. 158f. 24 Eilhart: V. 351–53. 25 Eilhart: V. 354–65; Augsburger Druck: Z. 146–48. 26 Im Augsburger Druck heißt es: Do aber Morholt dz [scil. der Widerstand Cornwalls; M. S.] sahe beschwaeret er sich darumb. vnd meint sich selbs deßt ringer vnd leichter sein. an seinen wirden vnd eren. ob er jm [scil. der König von Irland; M. S.] dz land nit auch vndertenig macht. vnd schwuor darauf ein herfart. er woelt den leib verliesen oder das land bezwingen (Z. 151–56). 27 Zur Funktion und Form der Botenrede vgl. MÜLLER, STEPHAN: Datenträger. Zur Morphologie und Funktion der Botenrede in der deutschen Literatur des Mittelalters am Beispiel von Nibelungenlied und Klage, in: LIEB, LUDGER/MÜLLER, STEPHAN (Hrsg.): Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, Berlin/New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20), S. 89–120, hier vor allem 89–97. MÜLLER bietet einen umfassenden Einblick, geht allerdings nicht explizit auf die hier erwähnten narratologischen Aspekte ein.

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rigens als Tyrannei bezeichnet (K 145,3–5: So treibet er nur tiranney, / Das er dein reich unter sich brecht; / Hat darzu weder fug noch recht), vor die erste Erwähnung und Darstellung der Figur Morolds. In Sachs’ Tragödie bestätigt König Marx, als erste auftretende Figur, die Abhängigkeit und Zinspflicht gegenüber Irland. Erst danach erwähnt er den überstarken Morholdt als Eintreiber. Letzterer wird im Übrigen durchgehend als einzige der 23 Figuren der Tragödie auf paratextueller Ebene als der Held attribuiert, der zudem über sich selbst sagt, dass er bereits als solcher besungen und beschrieben wird: Welch ritter ich all hab entleibt. Von meim kempffen man singt und schreibt. Derhalben im gantzen land mein lob Schwebt mit groß preiß und ehren ob. (K 145,25–28)

In den auf Thomas beruhenden Fassungen sind es die Erzähler, die den Zins als erstes in die Erzählung einführen und entweder durch parteiische Kommentare die Zinspflicht als schändlich bewerten oder mittels interner Fokalisierung auf die Figur des heimkehrenden Tristan die leidvollen Auswirkungen des nicht mehr monetären Tributes hervorheben.28 Im Sir Tristrem wird dafür die Freude Markes über die Rückkehr Tristrems nach Cornwall der höfischen Trauer gegenübergestellt, die der Ankömmling sogleich bemerkt: Mark was glad and bliƥe, ƥo he miʒt Tristrem se; he kist him fele siƥe, welcom to him was he. Marke gan tidings liƥe, hou he wan londes fre. Tristrem seyd ƥat siƥe: ›Wat may ƥis gadering be? ƥai grete!‹ (Str. LXXXVIII) Marke war froh und freute sich sehr, da er Tristrem sah; er küsste ihn viele Mal, willkommen war er ihm. Sofort vernahm Marke die Neuigkeiten, wie er [Tristrem, M. S.] die Länder befreit hatte. Tristrem sagte in diesem Moment: ›Was mag das für eine Versammlung sein? Sie weinen [alle, M. S.]!‹

Die in diesen Fassungen bereits doppelte Bewertung des Zinses auf Erzähler- und Figurenebene unterstützt die erst darauf einsetzende Charakterisierung der Morolde, die bei Gottfried, Robert und im Sir Tristrem immer von seiner besonderen Stärke auf dessen »bösen character« (Robert, Kap. XXVI, bezeichnet Morold als illgjarn) und sein unerbermig Verhalten (Gottfried, V. 5974) übergehen. Aber auch diese drei Fassungen variieren in ihrer Zinsdarstellung und dessen Auswirkungen, bevor die Erzähler die

|| 28 Gottfrieds Tristan: V. 6007–47; Roberts Tristram: Kap. XXVI.

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jeweilige Moroldfigur einführen. Im Tristan Gottfrieds (V. 5879–6006) erfahren wir vom Erzähler im Rahmen einer Vorgeschichte König Gurmûns von Irland, wie die Abhängigkeit und der Zins entstanden sind und dass der römische Senat als höchste Rechtsinstanz einbezogen wurde.29 Im Tristram Roberts (Kap. XXVI) ist Rom hingegen vorheriger Empfänger eines Zinses und der König von Irland bereits der zweite Usurpator Cornwalls. Der irische König verlangt bei Robert nicht nur einen gesteigerten Zins, sondern erlässt im vierten Jahr der Abhängigkeit in Anwesenheit Markis und seiner Fürsten Gesetze: En á hinum fjorða vetri skyldi Englands konungr ok hofðingjar safnast saman á Írlandi, at heyra log ok svara réttindum ok halda uppi allra manna refsingum (Kap. XXVI). Der Sir Tristrem erwähnt Rom und seinen Senat an keiner Stelle und auch wenn der Erzähler in einem parteiischen Kommentar die Schändlichkeit anprangert, weiß er doch, dass der Zins dem Landesrecht entspricht: ƥe ferƥ ʒere, a ferly roun! [...] ƥe barnes asked he ƥo als it war londes riʒt. (Str. LXXXVI und LXXXVII) im vierten Jahr – eine schreckliche Vereinbarung! [...] forderte er die Knaben, wie es das Landesrecht vorschrieb.

Im Mittelpunkt dieser Fassungen steht also zuerst die Rechtmäßigkeit des erhobenen Zinses, die zumindest in den ersten Darstellungen der Erzähler nicht angezweifelt, wohl aber parteiisch kommentiert wird.

3.2 Zinspflicht II: Rechtmäßigkeit, Wirkung und Argumentationen Die Unrechtmäßigkeit der Forderungen anzuzweifeln, obliegt den Figuren – entweder wie bei Gottfried und Robert den Tristanfiguren, die den Zins vor allem als göttliches Unrecht anprangern, oder wie im Sir Tristrem und bei Hans Sachs, wo König Mark/Marx vor seinem Rat die Unrechtmäßigkeit der Forderungen benennt.30 Im Sir Tristrem stimmt die Figur des Tristrem König Mark allerdings in einem eingeschobenen inneren Monolog sofort zu:

|| 29 KÜSTERS, URBAN: Liebe zum Hof. Vorstellungen und Erscheinungsformen einer ›höfischen‹ Lebensordnung in Gottfrieds Tristan, in: KAISER, GERT/MÜLLER, JAN-DIRK (Hrsg.): Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 141–175, hier S. 146 mit Anm. 6, sieht mit JOSEF BENZINGER bereits in der Erwähnung Roms eine Invektive, allerdings eine zeitgenössische gegen Rom. Ansonsten bietet KÜSTERS eine vergleichende Analyse der Romane Eilharts und Gottfrieds, die den herrschaftspolitischen Charakter der Morold-Episode und die darin aufscheinende machtpolitische Kommunikation belegen. 30 Sir Tristrem: Str. LXXXVIII–LXXXIX; Hans Sachs: K 143,12–39.

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›ƥer to ich held min hond‹ Tristrem seyd ƥan Al stille, ›Moraunt, ƥan michel can, 31 schal nouʒt han his wille.‹ (Str. LXXXIX) ›Dafür erhebe ich meine Hand‹, sprach da Tristrem insgeheim, ›Moraunt, der viel vermag, soll nicht seinen Willen bekommen.‹

Grundsätzlich kommt bei Gottfried, Robert, Hans Sachs und im Sir Tristrem die ausführliche Rechtsargumentation den Tristanfiguren in direkter Rede zu, die vor dem anwesenden Rat am Markehof und später auch gegenüber den Morolden die fehlende rechtliche Legitimation der Zinsforderung erörtern.32 Ausschlaggebend ist dabei immer die Forderung von Geiseln, die in der Argumentation als Unrecht gegenüber einer göttlich verbürgten Freiheit dargestellt wird. Im Tristram Roberts lenkt der Erzähler dafür die Sympathie der Rezipienten in besonderer Weise. Erstens erläutert er, dass die männlichen Geiseln ausgelost werden (at hluta; alle folgenden Zitate entstammen Kap. XXVI), weshalb sich sowohl die Väter als auch die Mütter mit ihren Söhnen am Hof Markes versammelt haben (hæsta hofðingja [...] ƥar varu ok mœðr). Mittels mehrerer interner Fokalisierungen auf die Eltern kann der Erzähler zweitens die Angst und Furcht (hver sem ein er hrædd um sínum sonum [...] at ƥeir hrygðust af slíku ófrelsi), die die Auslosung der Geiseln verursacht, nachvollziehbar vergegenwärtigen. Drittens kommentiert der Erzähler den Zins erst in diesem Kontext als Knechtschaft und Sklaverei (ƥrældóm ok ánauð). Viertens fügt er diesem Kommentar noch einen metaleptischen Einschub in Form eines in direkter Rede vorgebrachten Stoßgebets hinzu, das er den verzweifelten und vor Markis und Tristram über die jeweilige Unfähigkeit streitenden Eltern widmet (›Dróttinn guð ƥolinmóðr ertú, at ƥú ƥolir slíkt: miskunna ƥessum harmi hinum hǫrmuliga!‹). Diese dramatisierende Darstellung der Forderungen bei Robert, aber auch die Darstellungen der Fassungen Gottfrieds, Hans Sachs’ und im Sir Tristrem offenbaren nicht nur eine gesteigerte Anteilnahme an den Geschehnissen am Markehof durch die Erzähler, sondern ermöglichen die Rezipientenlenkung. Die Forderung von Geiseln wird derart als Unrecht dargestellt, dass es für den Rezipienten zugleich nachempfindbar wird. Die Forderungen erscheinen als Willkür gegenüber Cornwall und im Rahmen ihrer stetigen Steigerung als Gier der fordernden Partei. Gottfrieds Tristan und Roberts Tristram wissen ihrer Argumentation gegenüber

|| 31 Vgl. dazu bereits VON CONTZEN, EVA: Emotion und Handlungsmotivation in Sir Tristrem, in: DIETL, CORA [u. a.] (Hrsg.): Emotion und Handlung im Artusroman, Berlin/Boston 2017 (SIA 13), S. 229–42, hier vor allem S. 232, die für den Sir Tristrem diese besondere Form der Handlungsmotivation durch Figurenrede betont, die sich auch in der Moraunt-Episode des Textes zeigt. 32 Gottfrieds Tristan: V. 6067–496; Roberts Tristram: Kap. XXVI–XXVII; Hans Sachs’ Tragödie: K 145,1–8; Sir Tristrem: Str. LXXXIX–XCI.

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Môrold/Mórold neben der geraubten Freiheit noch ein weiteres Unrechtsargument in direkter Rede hinzuzufügen, bei Gottfried äußert Tristan vor Markes Hofrat: [›]nu habet ir iuwer frîheit iuwern vînden geleit ze füezen und ze handen mit zinslîchen schanden[‹] (V. 6079–82). [›]nun habt ihr eure Freiheit euren Feinden zu Füßen gelegt und in ihre Hände einen schändlichen Zins[‹].

Es ist das Moment der Gewalt,33 welches die Moroldfiguren nutzen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Dadurch wird der Zins zu einem wörtlich »üblen Gewinn« (illvirki at réttum domi) und »Raub« (rán; beide Zitate Robert, Kap. XXVII). 34 Das Unrecht, welches durch Gewalt entsteht, kann nur durch Gewalt gelöst werden, womit die Tristane dieser Fassungen zugleich ihre Kampfbereitschaft gegenüber den Morolden signalisieren. Die inhaltliche Füllung der Zinspflicht und die Androhung von Gewalt belegen die Unmenschlichkeit und die von den Erzählern dieser Fassungen zunehmend negativ skizzierten Züge der Moroldfiguren. In der Diegese werden die Morolde als Einforderer des Zinsrechts zu gottlos bzw. gotteslästerlich Handelnden (Gottfrieds Tristan, V. 6110: [›]ez ist gâr wider gotes gebote[‹]).35 Insofern die Erzähler diesem Bild nicht widersprechen, sondern es durch ihre Perspektivierungen und parteiischen Kommentare sogar unterstreichen bzw. erst evozieren, werden die in diesen Fassungen zunächst noch neutral eingeführten Moroldfiguren ebenfalls zu tyrannischen ›Unholden‹. Die nur bei Gottfried, Robert und im Sir Tristrem vorgebrachten Empörungen der Morolde, dass der Markehof einen Treuebruch begeht und die Tristane Lügen über den Zins und seine Rechtmäßigkeit äußerten (Sir Tristrem, Str. XCII: Moraunt oʒain sede: / ›ƥou lexst a foule lesing! / Mi body to batayl y bede, / To proue befor ƥe king, / To loke.‹),36 verhallen nach den vorherigen Darstellungen. Die direkte Rede der Moroldfiguren wird zudem anders als die direkte Rede der Tristanfiguren nicht vom kommentierenden Erzähler gestützt. Im Gegenteil erscheinen die Morolde in ihrem geäußerten Unverständnis und dem Beharren auf der bestehenden Zinspflicht noch unmenschlicher. Der sich anschließende Kampf wird so unausweichlich.

|| 33 Vgl. zu diesem Argument bei Gottfried die Überlegungen von SCHNYDER, MIREILLE: Erzählte Gewalt und die Gewalt des Erzählens. Gewalt im deutschen höfischen Roman, in: BRAUN, MANUEL/HERBERICHS, CORNELIA (Hrsg.): Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, München 2005, S. 365–79, hier S. 369–71. 34 Gottfrieds Tristan: V. 6467f. ›[...] noch mit gewalt kein ander man / zins ze rehte nie gewan [...]‹. 35 Roberts Tristram: Kap. XXVI: [›]einn móti einum gjarna berjast með slíku afli, sem guð hefir mér lét; en ef ƥessi er sterkr, ƥá er guð máttugr at hjálpa mér[‹]. 36 Gottfrieds Tristan: V. 6357–61; Roberts Tristram: Kap. XXVII.

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Vor dem Kampf bietet die Beschreibung der jeweiligen Wappnung der Morolde und Tristane den Erzählern noch einmal eine Möglichkeit der Charakterisierung, die bei Gottfried interessanterweise Môrold in seiner vollekommenen ritterschaft (V. 6516) zeigt, nur um wenige Verse später erneut die übermäßige Stärke des veigen vâlandes man (V. 6910) herauszustellen.37 Am Ende des Kampfes,38 darauf hat JAN-DIRK MÜLLER für die Fassungen von Eilhart, Gottfried und Robert hingewiesen,39 werden die Morolde nicht nur getötet, sondern die Tristane nähern sich in ihrer Ansprache dem höhnischen Auftreten der Morolde an. Der Erzähler Eilharts markiert dies sogar explizit durch die gleiche Wertung der Rede von Tristrant und Môrolt als vormezzinlîche (V. 924). Zudem ist von der Unrechtmäßigkeit des Zinses keine Rede mehr. Vielmehr wird jeweils der Leichnam Morolds als Tribut ausgegeben, den man in dieser Form jederzeit an Irland zahlen könne. Diese Aspekte, die höhnische Ansprache der Tristane und die Transformation der toten Morolde in eine bereitwillige Tributzahlung, sind auch Bestandteil der übrigen Fassungen (Sir Tristrem, dem Augsburger Druck und der Tragödie von Hans Sachs).40 In den von MÜLLER hervorgehobenen Worten der Tristane deutet sich also an, dass Morold nur in einer bestimmten, von den Erzählern gelenkten Perspektive, ein – wie es CHRISTOPH HUBER äußert – »Diener des Teufels [ist], der für die Partei des Unrechts [kämpft]«.41

|| 37 Hierzu passen auch die Beobachtungen FLORIAN KRAGLs zur Ironie des Erzählers, gerade im Rahmen der Wappnung Morolds, die ich als Beleg für seine parteiische Erzählhaltung werte: KRAGL, FLORIAN: Gottfrieds Ironie: Vorüberlegungen zu einer Narratologie des Unernsts. Zu Morolds Wappnung und der Brautwerbung um Isolde, in: DIETL, CORA [u. a.] (Hrsg.): Ironie, Polemik und Provokation, Berlin/Boston 2014 (SIA 10), S. 17–49, hier S. 22–28. 38 Der Zweikampf zwischen den Tristanen und Morolden bzw. das Gottesurteil wird hier nicht noch einmal gesondert analysiert. MÜLLER (Anm. 10), S. 57f., hat für diesen häufig interpretierten Abschnitt auf einen »Spalt zwischen profanem Kampf und seiner Sinngebung« hingewiesen, der sich im zweigliedrigen Aufbau der Szene spiegelt und allein durch die narrative Instanz des Erzählers gelöst wird. Im Anschluss an seine These, dass Tristan erst im Erzählen zu einem ›Gotteskrieger‹ gemacht wird, hält er fest: »Man stößt hier auf eine Grundfigur der Gottfried’schen Poetik [...] eine Überblendung von allegorisch-metaphorischer und auf die Erzählwelt referierender Rede. [...] Die narrative Inszenierung des Kampfes gegen Morolt scheint mir deshalb kein Fiktionssignal zu sein, sondern poetisches Mittel, um auf den prekären Status einer Wahrheit zu zeigen.« Es ist also auch in der Kampf-Episode der Erzähler, der in diesem Fall eher strukturell als kommentierend eingreift und eine parteiische Inszenierung zugunsten der Tristane evoziert. 39 Vgl. MÜLLER (Anm. 10), S. 58. 40 Sir Tristrem: Str. C; Augsburger Druck: Z. 375–79; Hans Sachs’ Tragödie: K 147,4–7. 41 Vgl. HUBER, CHRISTOPH: Gottfried von Straßburg: Tristan, Berlin 2000 (Klassiker Lektüren 3), S. 67.

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4 Resümee Allein die Iren bieten in ihrer Trauer um den gefallenen Helden Morold in allen hier berücksichtigten Fassungen eine explizite Gegenperspektive zu den Darstellungen durch die Erzähler und die Figuren am Markehof. Vor allem der in den auf Béroul beruhenden Fassungen erzählte Versuch Isoldes, Morold zu heilen, und die bei Gottfried explizit erwähnte Todesstrafe gegenüber allen Engländern offenbaren eine übergroße Sympathie für den angeblichen ›Unhold‹.42 Sie belegen eine andere Wahrnehmung Morolds in der Diegese. Diese Passagen bieten eine Perspektive, die vielleicht nicht wie in der direkten Rede des Riesen Urgân im Gottfried’schen Tristan aufzeigt, dass Morold mit grozem unrechte getötet (V. 16002f.) wurde, wohl aber, dass dessen Darstellung als tyrannischer Unhold eine Charakterisierung durch eine vormals unterlegene Partei ist. Die hier analysierten Tristanfassungen, die Tristangeschichten besingen und beschreiben (anders als der bereits besungene und beschriebene Morholdt bei Hans Sachs)43 stützen die Sicht Cornwalls und minimieren in ihrer narrativen Anlage andere Perspektiven. Dass Morold zu einem erzählten Tyrannen wird, steht außer Frage, aber die Fragen, von wem, wann und wie er im Erzählen dazu gemacht wird, offenbaren den invektiven Charakter der Narrationen. Dabei fallen Unterschiede auf, die einerseits gattungsbedingt und andererseits stoffgeschichtlich begründet sind. Darüber hinaus zeugen die hier nur ansatzweise aufgezeigten narrativen Anlagen – selbst innerhalb einer Stofftradition – von einem nuancenreichen Umgang. Am auffälligsten erscheint mir die beobachtbare Transformation des Eilhart’schen Moroldbildes. Während am Ende des 12. Jahrhunderts – vermutlich in Béroul’scher Tradition – die Moroldfigur gleich zu Beginn als vreislîch (Eilhart, V. 355) vorgestellt wird, steht im 16. Jahrhundert bei Hans Sachs Morhold, der Held im Personenregister, der dann explizit mit dem Tyranneivorwurf (1. Akt, 2. Antwort) konfrontiert wird, in dieser Fassung aber am wenigsten entsprechende Züge erhält. Aber alle hier betrachteten Morolde werden im Erzählen zu Tyrannen. Das – so könnte man sagen – i n v e k t i v e E r z ä h l e n von den Morolden diskreditiert den irischen Hof und dessen hegemoniale Stellung gegenüber dem Markehof. Es rechtfertigt aus Sicht Cornwalls den Gewaltakt der Tristane. Erzähler und Figuren des Markehofs sind Invektierende, die die Moroldfigur mithilfe der Invektive des Tyranneivorwurfs für die Rezipienten zum Invektierten machen.44 Die Lösung der Streitigkeiten – der alten Feindschaft (3. Akt, 4. Antwort), wie es der irische König Wilhelm bei Hans Sachs selbst formuliert – wird erst mittels eines weiteren kommunikativen Handlungsmus|| 42 Gottfrieds Tristan: V. 7104–234; Roberts Tristram: Kap. XXVIII–XXIX; Eilharts Tristrant: V. 934–64; Sir Tristrem: Str. C; Augsburger Druck: Z. 386–400; Tragödie von Hans Sachs: K 147,25–35; 148,1–11. 43 Siehe oben. 44 In der hier zusammengefassten ›invektiven Triade‹ offenbart sich die ›Invektivität‹ der untersuchten Narrationen. Siehe dazu oben, Anm. 8.

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ters erreicht.45 Gemeint ist die Eheschließung zwischen Marke und Isolde, die die Zwistigkeiten zwischen Irland und Cornwall innerhalb der Narrationen beendet. Ein Ehebund zwischen verfeindeten Parteien, die sich sogar mit Invektiven diskursiv belegen, ist auch die Lösung im Rahmen der eingangs erwähnten staufischnormannischen Auseinandersetzungen. Roger II. zeugte kurz vor seinem Tod 1154 in dritter Ehe seine Tochter Konstanze, die 1186 den König und späteren Kaiser Heinrich VI., einen Staufer, heiratete. Heinrich VI. war zudem ein Großneffe Ottos von Freising, jenes Chronisten, der den Vater der Braut, Roger II., zu einem sizilischen Tyrannen nach antikem Vorbild erklärte.

|| 45 Vgl. MÜLLER (Anm. 10), S. 59. MÜLLER nennt es eine »dynastische Allianz«, die dazu dient »auf die übliche profane Weise [zu] versöhnen«.

Thomas Poser

Tyrannis der Untätigkeit – zur Figur des Herrschers in Konrads von Würzburg Schwanritter und Heinrich von Kempten Die Neukonzeption der Reclam-Ausgabe der kürzeren Verserzählungen Konrads von Würzburg bietet eine willkommene Gelegenheit, zwei der nunmehr darin enthaltenen Texte noch einmal mit frischem Blick einander gegenüberzustellen,1 denn bei genauerem Hinsehen haben der Schwanritter und der Heinrich von Kempten mehr gemein als nur die bloße Selbstbezeichnung als mære,2 die laut Nachwort der Herausgeberin die Textauswahl des Bändchens formal begründet.3 Tatsächlich verbindet die beiden Erzählungen nämlich eine tiefere stoff- und motivgeschichtliche Verwandtschaft, die sich allerdings erst dann offenbart, wenn man auch andere Versionen der Schwanrittersage mit in den Blick nimmt: In den meisten Zeugnissen wird die zentrale Herrscherfigur nicht, wie in der Version Konrads, mit Karl dem Großen gleichgesetzt, sondern trägt – genau wie der Kaiser im Heinrich von Kempten – den Namen Otto: so etwa in der ältesten erhaltenen französischen Fassung des Chevalier au Cygne in der sog. Chanson d’Antioche4 oder in den altfranzösischen Handschriften D (Paris, Bibl. Nat. fr., Nr. 1621, 12. Jahrhundert)5 und R (Brüssel, Bibliothèque royale de Belgique, Nr. 10391, Redaktion des 14. Jahrhunderts),6 die beide der Version Konrads offenbar besonders

|| 1 Benutzte Ausgabe: Konrad von Würzburg: Das Herzmære und andere Verserzählungen. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach den Textausg. von EDUARD SCHRÖDER übers. und komm. von LYDIA MIKLAUTSCH, Stuttgart 2016 (RUB 19381). Die Texte Konrads sowie die neuhochdeutschen Übersetzungen werden im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert, die im Verlagsprogramm die ältere Ausgabe von HEINZ RÖLLEKE ablöst: Konrad von Würzburg: Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmære. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausg. von EDWARD SCHRÖDER, übers. mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von HEINZ RÖLLEKE, Stuttgart 1968 (RUB 2855). Die abweichende Textauswahl bei RÖLLEKE, die den Schwanritter nicht berücksichtigt, folgt ihrerseits der Edition EDWARD SCHRÖDERs: Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, Bd. 1: Der Welt Lohn. Das Herzmaere. Heinrich von Kempten, Berlin ²1930. 2 Vgl. Schwanritter, V. 1613, sowie Heinrich von Kempten und Kaiser Otto, V. 754. 3 Vgl. MIKLAUTSCH, LYDIA: Anhang, in: DIES. (Anm. 1), S. 217–40, hier S. 222. MIKLAUTSCH weist freilich sogleich darauf hin, dass diese – denkbar allgemeine – Bezeichnung kaum »als Gattungsbegriff im Sinne von Hanns Fischer zu verstehen« (ebd.) sei. 4 Vgl. EHRISMANN, OTFRID: Art. Schwan(en)ritter, in: EM, Bd. 12 (2007), Sp. 296–307, hier Sp. 297. 5 Vgl. La Chanson du Chevalier au Cygne et de Godefroid de Bouillon, hrsg. von CELESTIN HIPPEAU, 2 Bde., Paris 1874–77, V. 2878. Zur Überlieferung der altfranzösischen Schwanritter-Tradition vgl. AUGUST-GEORG KRÜGER: Die Quellen der Schwanritterdichtungen, Gifhorn 1936, S. 28–33. 6 Vgl. Le Chevalier au Cygne et Godefroid de Bouillon, hrsg. von FRÉDÉRIC AUGUSTE FERDINAND THOMAS DE REIFFENBERG, 4 Bde., Brüssel 1846–59, V. 2860: Devant l’emperéour cʼon apiella Othon (»vor dem https://doi.org/10.1515/9783110752373-011

214 | Thomas Poser nahestehen.7 Jedenfalls darf der Versuch inzwischen als überholt gelten, von der Verknüpfung Karls mit der Schwanrittersage in der altnordischen Karlamagnussaga auf eine verschollene gemeinsame französische Vorlage zu schließen, von der aus Karl als Herrscher dann sowohl in die deutsche als auch in die altnordische Dichtung übernommen worden wäre,8 denn zum einen bleiben die Karlamagnussaga und Konrads Schwanritter bis heute die beiden einzigen Belege für die Karls-Version der Sage, zum anderen ist, wie KARL-HEINZ GEITH bemerkt, die Schwanritter-Episode in der Saga »so singulär, daß an eine gemeinsame stoffliche Tradition nicht gedacht werden kann«. Bis auf Weiteres muss demnach »die Einführung Karls d. Großen in die Schwanrittererzählung als Konrads Werk angesehen werden«, so lange jedenfalls, als uns »kein anderes Material vorliegt«.9 GEITH begründet die »Entscheidung« des jeweiligen Bearbeiters »für einen bestimmten Kaisernamen« mit den »bei der Entstehung [der entsprechenden Fassung] vorliegenden politischen und literarischen Konstellationen«.10 Dennoch überrascht die offenbar so umstandslose Austauschbarkeit der Namen Karls und Ottos, verknüpfen sich doch mit diesen Namen traditionell auch zwei verschiedene Konzepte von Herrschaft, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Auf der einen Seite steht der zeitenthobene[ ] ideale[ ] Herrscher, der politische und militärische Präpotenz, judikative und politisch-administrative Kompetenz, Herrschertugenden wie constantia und fortitudo, Gelehr11 samkeit und Frömmigkeit in idealtypischer Weise verkörpert,

|| Kaiser, den man Otto nennt«). Es trifft also keineswegs zu, dass der Name des Kaisers »in der Fassung R des Chevalier au Cygne [...] unbenannt« bleibe, wie GEITH, KARL-ERNST: Carolus Magnus. Studien zur Darstellung Karls des Großen in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, Bern/München 1977 (Bibliotheca Germanica 19), S. 143, konstatiert. 7 Vgl. CRAMER, THOMAS: Lohengrin. Edition und Untersuchungen, München 1971, S. 65 und 124. Vgl. dazu auch GEITH (Anm. 6), S. 305, der die »Nähe zur Fassung R« herausstreicht, »weil Konrads Werk neben den wörtlichen Anklängen auch einige Handlungsmotive mit R gemeinsam hat«. Daneben gibt es auch Versionen der Sage, die entweder einen völlig anderen oder gar keinen Herrschernamen anführen. So handelt es sich bei der Herrscherfigur im Lohengrin etwa um Heinrich I. Vgl. dazu ebd., S. 164–72. 8 Diese These wurde zuerst von GOLTHER, WOLFGANG: Lohengrin, in: Romanische Forschungen 5 (1890), S. 103–36, hier S. 113, vorgebracht (»Bei Konrad ist der Kaiser Karl genannt. Natürlich ist dies keine willkürliche Änderung von Seiten des deutschen Dichters, der nicht den mindesten Anlaß dazu hatte, sondern stand nach Ausweis der Karlamagnussaga bereits in der französischen Vorlage«) und wurde in der Folge insbesondere durch KRÜGER (Anm. 5), S. 106, vehement vertreten. 9 Alle Zitate GEITH (Anm. 6), S. 144. 10 Alle Zitate ebd. GEITH verweist dabei auf CRAMER (Anm. 7), S. 164–72, der die Entscheidung des Lohengrin-Dichters für Heinrich I. mit den sinnfälligen Parallelen zum amtierenden Herrscher Rudolf von Habsburg begründet: »Wie Rudolf ist er [Heinrich I., Th. P.] durch einstimmiges Votum der Fürsten gewählt als erstes Glied einer neuen Dynastie; wie Rudolf führt er eine innerpolitische Einigung herbei; und schließlich als Wichtigstes: wie Rudolf ist er nicht zum Kaiser gekrönt worden und stand dennoch bei Mit- und Nachwelt in ungetrübtem Ansehen« (S. 165). 11 KLEIN, DOROTHEA: Art. Karl der Große, in: BRUNNER, HORST/HERWEG, MATHIAS (Hrsg.): Gestalten des Mittelalters. Ein Lexikon historischer und literarischer Personen in Dichtung, Musik und Kunst. Mit 73 Abbildungen, Stuttgart 2007 (Kröners Taschenausgabe 352), S. 226–32, hier S. 226f.

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auf der anderen Seite der unberechenbare und in seinen Absichten oft undurchschaubare Kaiser Otto, der dem Typus des Tyrannen deutlich näher steht. Die Staatstheorie des Mittelalters, deren Vorstellung von ›Tyrannis‹ bekanntlich nicht unmittelbar an die antike Begriffsgeschichte anschließt, sondern sich aus der kirchlichen Überlieferung speist, rückt nämlich nicht so sehr den rechtlichen (die Legitimität der Herrschaft Ottos wird nie auch nur im Ansatz angezweifelt) als viel mehr den moralischen Aspekt der Tyrannenherrschaft in den Vordergrund.12 Bereits Augustinus definiert tyranni als »sehr schlimme und ruchlose Könige« (De Civitate Dei 5,19: pessimi atque improbi reges),13 Isidor von Sevilla folgt ihm darin und benennt »Ausschweifung und Grausamkeit« (Etymologiae, IX,3,20: cupiditatem et crudelissimam dominationem)14 als deren wichtigste Wesenszüge. Geradezu sprichwörtlich ist die Willkür des Tyrannen, der sich demnach dadurch vom gerechten König unterscheide, »daß er sein Eigenwohl und nicht das Gemeinwohl verfolge«.15 Mehr oder weniger willkürliches Handeln scheint aber schon vor Konrad zum festen Merkmalsinventar der Figur Ottos gehört zu haben, wie etwa die Herzog-Ernst-Tradition belegt. Im Herzog Ernst B16 zeigt sich dies unter anderem in der irritierenden Inszenierung des Wiedersehens zwischen Ernst und dem Kaiser nach der Orientfahrt des Helden: Nachdem Otto seinem Stiefsohn zunächst aus der Distanz verzeiht und ihn sogar persönlich bitten lässt, ins Reich zurückzukehren (V. 5741–56), reagiert er später völlig unvermittelt und ohne klar erkennbares Motiv mit zorn (V. 5956), als sich die beiden tatsächlich gegenübertreten. Erst als die Fürsten des Reiches intervenieren und ihn an sein zuvor gegebenes Wort erinnern, gelingt es, das Gemüt des Kaisers zu besänftigen (V. 5946–69). Im Heinrich von Kempten, der auch ansonsten auffällige Parallelen zum Herzog Ernst B aufweist,17 doch auch schon in Konrads mutmaßlicher Vorlage, dem Pantheon Gottfrieds von Viterbo, scheint sich die Figur des Herrschers ohne Weiteres in dieses gän-

|| 12 Vgl. MIETHKE, JÜRGEN: Art. Tyrann, -enmord, in: LexMA, Bd. 8 (1997), Sp. 1135–38, hier Sp. 1135. 13 Benutzte Ausgabe: Aurelius Augustinus: De Civitate Dei, hrsg. von BERNHARD DOMBART/ALPHONSUS KALB, Turnhout 1955 (Aurelii Augustini Opera 14 / CCSL 47–48). 14 Benutzte Ausgabe: Isidorus Hispalensis: Etymologiarum sive originum libri XX, hrsg. von WALLACE MARTIN LINDSAY, 2 Bde., Oxford 1911. 15 MIETHKE (Anm. 12), Sp. 1136. 16 Benutzte Ausgabe: Herzog Ernst, hrsg. von KARL BARTSCH, Wien 1869. 17 Vgl. dazu NEUDECK, OTTO: Erzählen von Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung von Geschichte in mittelhochdeutscher Literatur, Köln [u. a.] 2003 (Norm und Struktur 18), S. 285: »Der Schauplatz [des Heinrich von Kempten, Th. P.] ist Bamberg, die Stadt, in der im Herzog Ernst die Versöhnung zwischen Kaiser Otto und seinem herzoglichen Kontrahenten stattfindet. Daß diese Versöhnung am Weihnachtsfest erfolgt, verweist auf eine weitere Analogie zwischen den beiden Texten: Die Feier der Geburt Christi bzw. seiner Auferstehung (im Heinrich von Kempten) bilden jeweils den symbolträchtigen Hintergrund für kaiserliche Hoftage, auf denen es zur Konfrontation zwischen der höchsten weltlichen Spitze und einem Vasallen kommt. Daß schließlich im Heinrich von Kempten sogar explizit der ›Waise‹ erwähnt wird, den der Ritter – als pars pro toto der Reichskrone – vom kaiserlichen Haupt zu stechen droht, offenbart am deutlichsten den intertextuellen Bezug zum Herzog Ernst. Denn nur hier,

216 | Thomas Poser gige Otto-Bild einzufügen.18 Doch wie ist es zu bewerten, wenn Konrad im Schwanritter statt dieses Namens, der eben auch mit einem ganz bestimmten Herrscherbild verbunden ist, offenbar ganz bewusst einen völlig anders konnotierten Namen einsetzt? Die verdeckte motivgeschichtliche Verwandtschaft zwischen Schwanritter und Heinrich von Kempten gibt Anlass, die beiden Texte noch einmal in Bezug auf ihre zentralen Herrscherfiguren miteinander zu vergleichen und dabei den Blick vor allem auf eine Reihe von Irritationsmomenten zu lenken, die direkt oder indirekt mit der Frage nach dem zugrundeliegenden Herrschaftskonzept zusammenhängen und die meines Erachtens noch nicht hinreichend beachtet worden sind. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass auch die Figur Karls im Schwanritter keineswegs den makellos idealen Herrscher repräsentiert, als den ihn insbesondere die Kommentare des Erzählers auf den ersten Blick erscheinen lassen. Beiden Figuren, Karl und Otto, ist nämlich ein auffälliges Verhaltensmuster gemein, das man als ›Tyrannis der Untätigkeit‹ bezeichnen könnte, denn in der Vorstellung der mittelalterlichen Staatstheorien gilt nicht nur derjenige Herrscher als Tyrann, der aktiv Unrecht begeht, sondern auch, wer es versäumt, seiner Würde und Funktion als Herrscher entsprechend ›richtig‹ oder ›angemessen‹ zu handeln: »Ein Monarch, der seine Pflichten vernachlässigt, verliert den Ehrennamen rex und heißt tyrannus«.19 Zu diesen Pflichten gehören neben der Frömmigkeit, pietas, auch iustitia als die Verkörperung eines abstrakten Prinzips ›Gerechtigkeit‹ wie auch aequitas im Sinne der billigen oder angemessenen Anwendung der allgemeinen Rechtsgrundsätze im konkreten Einzelfall. Johannes von Salisbury definiert aequitas, die er naturrechtlich als ›Gesetz Gottes‹ auffasst, als »eine gewisse Angemessenheit [...], die jedem das seine zuteilt« (IV,2: rerum conuenientia [...], tribuens unicuique quod suum est).20 So wie im Heinrich von Kempten gerade das aequitas-Prinzip als Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe prominent zur Disposition gestellt wird, so wird im Falle des Schwanritters zwar die Funktion des Herrschers als Repräsentant von aequitas und iustitia von Seiten des Erzählers rhetorisch heraufbeschworen, bleibt aber im tatsächlichen Hergang der Handlung faktisch uneingelöst. Erst die Zusammenschau von Heinrich von Kempten und Schwanritter ermöglicht es, beide Erzählungen als komplementäre Aspekte eines gemeinsamen Meta-Narrativs zu lesen: als Reflexion darauf, wie nahe (vermeintlich) ideale und tyrannische

|| insbesondere in der Fassung B, kommt es zur selben Korrelation des legendären Edelsteins der Reichskrone mit der Stadt Bamberg und einem Kaiser Otto«. 18 Vgl. NEUDECK (Anm. 17), S. 88–96. 19 WOHLHAUPTER, EUGEN: Aequitas canonica. Eine Studie aus dem kanonischen Recht, Paderborn 1931 (Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft 56), S. 45. 20 Benutzte Ausgabe: Ioannis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici sive de nvgis cvrialivm et vestigiis philosophorum libri VIII, hrsg. von CLEMENS C. I. WEBB, 2 Bde., London/Oxford 1909. Übersetzung nach ROUSE, MARY A./ROUSE, RICHARD HUNTER: Johann von Salisbury und die Lehre vom Tyrannenmord, in: KERNER, MAX (Hrsg.): Ideologie und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 1982 (WdF 530), S. 241–67, hier S. 243f.

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Herrschaft beieinanderliegen können, wenn der Herrscher im jeweils entscheidenden Augenblick passiv bleibt und damit seine angestammte Rolle verfehlt.

1 rihten und verslihten – König Karl im Schwanritter Am Anfang meiner Überlegungen steht die Diskrepanz zwischen der Stilisierung König Karls »als dem vorbildlichen Richter und dem Wahrer der Rechtsordnung«21 einerseits und seiner später verhältnismäßig blassen Rolle im Erbstreit der Hinterbliebenen Gottfrieds von Brabant andererseits, um den es in Konrads Text geht. Gottfried hatte noch zu seinen Lebzeiten schriftlich verfügt, dass sein Herzogtum nach seinem Tod als Erbteil seiner hinterbliebenen Frau und Tochter zufallen solle. Das freilich widerspricht den gewohnheitsrechtlich verbürgten Gesetzmäßigkeiten der agnatischen Erbfolge, und so tritt erwartungsgemäß der Herzog von Sachsen, der Bruder des Erblassers und damit dessen nächster lebender männlicher Verwandter, auf den Plan, um den beiden Frauen ihren Erbanspruch mit Gewalt streitig zu machen. Die Frauen suchen einen Ausweg aus diesem Konflikt, bei dem nicht nur zwei konkurrierende Parteien, sondern auch zwei gegensätzliche Rechtsauffassungen aufeinanderprallen, indem sie sich an König Karl persönlich wenden. Gleich bei seinem ersten Auftritt wird Karl als Schirmherr (V. 183: voget) des Reiches eingeführt, der in allen Rechtsfragen rihten und verslihten möchte, so wie es auch heute noch und alle Zeit angestammte Aufgabe des Königs von Rom sei: Ze jungest sich diu zît getruoc von wilder âventiure alsô daz der künec Karle dô rîlichen als ein rœmscher voget quam in daz Niderlant gezoget und wolte drinne rihten und allez daz verslihten daz für in quæme da ze clage, als noch hiute und alle tage billîche ein rœmscher künec tuot. (V. 180–89) Zuletzt trug sich zu dieser Zeit ein wirklich erstaunliches Ereignis zu, und zwar als König Karl in seiner Würde als römischer Schirmherr in die Niederlande reiste, um dort zu richten und in allem einen Ausgleich zu finden, was ihm an Anklage vorgetragen werde, so wie es noch heute und für alle Tage für einen römischen König angemessen ist.

Mit dem Ausdruck billîche, der die mhd. Übersetzung des römisch-lateinischen Rechtsterminus aequus darstellt,22 ist das Ideal des gerechten Herrschers aufgerufen, an dem

|| 21 GEITH (Anm. 6), S. 145. 22 Vgl. DWb, Bd. II (1860), Sp. 27.

218 | Thomas Poser sich König Karl im Folgenden messen lassen muss.23 Nicht weniger als dreimal wird im weiteren Verlauf der sinnfällige Signalreim rihten : slihten (V. 409f., 621f. und 657f.) variierend wiederholt, zuletzt im ›Urteilsspruch‹ Karls nach der Anhörung der beiden Parteien: Antwürte gab der künec dô der frouwen unde sprach alsô: ›geloubent, werdiu herzogin, daz man iu hie gerihtes schîn gerne und williclichen tuot. iu sol der herzog iuwer guot mit fride lân und iuwer lant, daz fürstentuom ze Brâbant: [...] unreht ich kûme dulde und mac sîn niht gelîden: davon geruoche er mîden gewalt und übermüetekeit. swaz ime erteilent ûf den eit die fürsten alle umb iuwer clage, daz sol er âne widersage dur mînen willen stæte lân. iu beiden muoz hie reht getân vor mînen ougen werden. sît daz mich got ûf erden zeime rihter hât gezelt und ich ze künge bin erwelt, sô weiz ich unde erkenne wol daz ich dur wâre schulde sol die crumben sache slihten einem armen rihten als eime rîchen alle frist. davon gebiute ich, wizze Crist, dem fürsten ûzer Sahsenlant, daz er mit minne sâzehant den criec hie lâze scheiden.[‹] (V. 622–63) Der König antwortete der Dame und sprach: ›Glaubt mir, edle Herzogin, dass man Euch hier gerne und bereitwillig einen Gerichtsbescheid geben wird. Euch soll der Herzog Euren Besitz und Euer Land, das Fürstentum Brabant, friedlich überlassen. [...] Unrecht dulde ich keinesfalls und werde es nicht zulassen. Deshalb soll er von Gewalt und Überheblichkeit absehen. Was auch immer die Fürsten aufgrund Eurer Klage unter Eid urteilen, dem soll er sich ohne Widerspruch gemäß meinem Willen fügen. Euch beiden muss hier vor meinen Augen Recht geschehen. Da mich Gott auf Erden zum Richter ernannt hat und ich zum König gewählt worden bin, weiß ich || 23 Dabei bleibt die genaue Referenz des Begriffs hier freilich einigermaßen unbestimmt: Wird damit auf die Tatsache abgehoben, d a s s der römische König die Funktion als höchste Rechtsinstanz einnimmt (billîche im Sinne von ›rechtmäßig‹), oder bezieht er sich eher auf die Art und Weise, w i e er Recht spricht (billîche im Sinne von ›gerecht‹)?

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und erkenne das an, dass ich dazu verpflichtet bin, Ungerechtigkeiten zu beseitigen und für alle Zeit einem Armen genauso wie einem Reichen zu seinem Recht zu verhelfen. Gott sei mein Zeuge, dass ich dem Fürsten von Sachsen befehle, im gegenseitigen Einverständnis den Krieg sofort zu beenden.‹

Von einem eigentlichen ›Urteilsspruch‹ kann allerdings genau genommen nicht die Rede sein:24 Zwar bezieht Karl zunächst eindeutig Stellung zugunsten von Witwe und Tochter des Verstorbenen und betont, dass er unreht [...] kûme dulde und sîn niht gelîden möchte (V. 642f.); doch statt ein Urteil zu verhängen, sucht er zunächst eine gütliche Einigung (V. 662: mit minne)25 und weist die Gegenpartei, den Herzog von Sachsen, an, sich der Entscheidung der Kurfürsten zu beugen, an die er damit die eigentliche Urteilsfindung delegiert. Seine Rolle wandelt sich so unter der Hand von der des Richters zu der eines Prozessvorsitzenden, der zwar über den rechtmäßigen Hergang des Verfahrens wacht, selbst aber keine Entscheidungsgewalt mehr ausübt. Zuletzt scheint Karl sogar die eigene Parteinahme zurückzunehmen, denn statt eines Urteils oder auch nur eines eindeutigen Plädoyers steht am Ende seiner Ausführungen de facto eine bloße Tautologie: Wenn die beiden Frauen Recht haben, soll der Bruder ihnen das Land überlassen, steht es aber ihm zu, dann soll es ihm gehören: [›]sult ir Brâbant zeim erbe hân, daz lâze er iu, so tuot er wol; ist aber daz er haben sol die selben lantriviere sô neme er si vil schiere, und sî dâmite an dirre zît gescheiden iuwer beider strît.‹ (V. 668–74) [›]Wenn es so ist, dass ihr Brabant zum Erbe habt, soll er es Euch lassen, dann handelt er richtig. Ist es aber so, dass die selben Ländereien ihm zustehen, soll er sie sogleich annehmen, so dass Euer Streit hiermit noch heute geschlichtet wird.‹

Von dem zuvor immer wieder emphatisch heraufbeschworenen Anspruch, alles, swaz crumbes dinges wære da zu verslihten (V. 410f.), bewegt sich der König mit dieser ge|| 24 Vgl. dagegen WESTPHAL-WIHL, SARAH: Minne und reht tuon. Konfliktlösung am Königshof in Konrads Schwanritter und Hartmanns Iwein, in: EMING, JUTTA/JARZEBOWSKI, CLAUDIA (Hrsg.): Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 4), S. 163–86, hier S. 171: »Ich möchte darauf hinweisen, dass ich das Wort ›Urteil‹ verwende, um deutlich zu machen, dass der König Partei nimmt. Er täuscht keine Neutralität vor. Aber ebenso wenig verleiht er dem Urteil in dem Sinne Endgültigkeit, dass er der Herzogin einen klaren Sieg über den Herzog zuspräche«. 25 Der Versuch einer solchen ›gütlichen Konfliktbeilegung‹ ist keineswegs unüblich für die Zeit, da »ein durch minne herbeigeführter Ausgang«, anders als das förmliche Gerichtsverfahren, »den Vorteil [hatte], dass er einen Kompromiss« miteinschließen konnte. Insofern war minne »also auf das Überleben der Gemeinschaft ausgerichtet und machte die Bürde des Rechts erträglicher, da sie gerecht war, ohne unnachsichtig zu sein«; WESTPHAL-WIHL (Anm. 24), S. 167.

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radezu banalen Feststellung aber so weit weg wie nur möglich. Diese eigentümliche Zurückhaltung Karls muss umso mehr verwundern, wenn man den zeitgenössischen Rechtsdiskurs als Bezugspunkt des Textes ansetzt: Brabant als Herzogtum hat den Status eines Kronlehens. Es wird also nicht automatisch geerbt oder vererbt, sondern es unterliegt, zumindest für die damalige Theorie, dem Heimfallrecht. Karl als König hätte also in jedem Fall ein Mitspracherecht, wenn nicht sogar umfassendes Verfü26 gungsrecht für die erneute Herrschaftsvergabe.

Auch die Kurfürsten, die immerhin noch als Vollzugsinstanz des herrscherlichen Willens gelten könnten, kommen im Folgenden nicht zum Zuge: Noch bevor sie überhaupt in ihrer Funktion als Geschworene in Erscheinung treten, macht der Bruder seinen Anspruch auf ein Gottesurteil geltend. Der König wird ein letztes Mal versuchen, den Herzog von Sachsen von seinem Ansinnen abzubringen und ihn zu einer friedlichen Beilegung des Streites zu bewegen, doch ohne Erfolg (V. 764–78). In dem Moment, in dem dieser letzte Versuch scheitert, gibt der König die Situation endgültig aus der Hand. Der Gerichtskampf, bei dem der Bruder schließlich seinen Tod findet, führt zwar eine definitive Entscheidung des Rechtsstreits herbei, doch König Karl, jener – laut eigener Aussage – von Gott berufene Richter und rechtmäßige König (V. 652f.), ist darin im Grunde gar nicht mehr involviert.

2 Die Rolle des fremden Ritters Das zweite Irritationsmoment, das mich beschäftigt, ist der Zeitpunkt, an dem die Figur des Schwanritters in den Text eingeführt wird, bevor sie schließlich beim Ordal auf Seiten der Frauen antritt. Aus kompositorischer Sicht wäre zu erwarten, dass der rätselhafte Fremde im Sinne des Motivs der ›rechtzeitigen Rettung‹ möglichst spät in Erscheinung tritt: Die Konstellationen, in denen der Held jemanden aus unverschuldeter Zwangslage retten muß, haben regelmäßig einen progressiven Zeitparameter, denn drängende Gefahr drängt nicht so sehr,

|| 26 KOKOTT, HARTMUT: Konrad von Würzburg. Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie, Stuttgart 1989, S. 19f. KOKOTT wertet denn auch diese und weitere Abweichungen gegenüber dem faktischen Rechtsbrauch der Zeit, »die dem Publikum für objektivierbare, erfahrungs- und wissensgeleitete Überprüfung offen waren«, als Ausweis einer »bewußte[n] Fiktionalität« (beide Zitate S. 20) und wendet sich damit gegen ältere Interpretationen, die in Konrads Text vor allem die historisch akkurate Darstellung eines »komplizierten Rechtsfall[s] – Erbrecht und Herrschaftsfolge – und seine[r] Lösung« (S. 18f.) erkennen wollten; vgl. etwa WEIDENKOPF, STEFAN: Poesie und Recht. Über die Einheit des Diskurses von Konrads von Würzburg Schwanritter, in: CORMEAU, CHRISTOPH (Hrsg.): Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Mit 52 Abbildungen, Stuttgart 1979, S. 296–337.

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wenn die Rettung Zeit hat. Wenn der Ritter als Retter kommen will, muß er rechtzeitig am Ort 27 sein; kommt er zu spät, ist er, zumindest in dieser Absicht, gescheitert.

Das vielleicht prominenteste Beispiel für eine Erzählung diesen Typs finden wir in Hartmanns von Aue Iwein: Nachdem Iwein die Frist versäumt, die ihm seine Frau Lunete für die Turnierfahrt zugestanden hatte, wird das Thema ›Zeit‹ und genauer ›Zeitdruck‹ zum zentralen Erzählparadigma der zweiten Romanhälfte.28 Auch neben und nach Hartmann wurde das Motiv, dass der Held fast zu spät zur Rettung von Hilfebedürftigen kommt, immer wieder aufgegriffen und variiert, so zum Beispiel in Eilharts Tristrant oder im Daniel des Strickers.29 Ganz anders dagegen der fremde Ritter in Konrads Text: Tatsächlich taucht er nämlich noch vor der Anhörung wie aus dem Nichts auf, lange bevor sich überhaupt abzeichnet, dass es zu einem Gerichtskampf kommen wird und man seinen Beistand benötigt. Erzähllogisch ließe sich argumentieren, dass der Schwanritter sich erst ein Bild über die Sachlage verschaffen und deshalb dem Verfahren beiwohnen muss, bevor er sich bewusst zur Beihilfe im Gerichtskampf entschließen kann. Allerdings lässt der Ritter keinen Zweifel daran, dass er sich sein Urteil schon längst gebildet hat, ja, dass er überhaupt erst in das Land aufgebrochen ist, um als Kämpe der Frauen anzutreten: ›vil werdiu herzogîn beitet guotlîche! joch bin ich in daz rîche dur daz nu komen und gesant daz ich beschirmen iuwer lant mit kamphe wil noch hiute.[‹] (V. 884–89) ›Edle Herzogin, seid beruhigt. Wahrhaftig, ich bin in das Land gekommen und gesandt worden, damit ich es noch heute im Kampf beschützen kann.‹

Die Anwesenheit des Ritters beim Gerichtsverfahren bleibt vor diesem Hintergrund merkwürdig redundant und erzähllogisch dysfunktional.30

|| 27 STÖRMER-CAYSA, UTA: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin/New York 2007, S. 121. 28 Weil Iwein seinem Gastgeber versprochen hatte, ihm im Kampf gegen den Riesen Harpin beizustehen, kommt der Held beinahe zu spät, um Lunete im Gerichtskampf zu vertreten, als ihr aufgrund ihrer Beteiligung bei der Hochzeit Laudines mit dem Mörder ihres Mannes das Todesurteil droht. Auch im Erbstreit der beiden Töchter des Grafen vom Schwarzen Dorn kommt Iwein gerade noch rechtzeitig zum Gerichtskampf, nachdem er zuvor auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer in einen weiteren Riesenkampf verwickelt war; vgl. dazu ausführlich ebd., S. 121–27. 29 Vgl. ebd., S. 132–48. 30 Diese Überlegung geht zurück auf eine aufmerksame Beobachtung meines Studenten Kerem Taktak, dem ich an dieser Stelle ganz herzlich für seine Anregung danken möchte.

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Es scheint also einerseits irgendwie darauf anzukommen, d a s s der Ritter beim Prozess zugegen ist, wie es andererseits offenkundig an der Sache vorbeiginge, würde man darin so etwas wie ein ›realistisches‹ Motivationsgerüst erkennen wollen. Das Motiv der gerade noch rechtzeitigen Ankunft des Helden war in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein etabliertes Erzählmuster, und es wäre nur naheliegend, dass auch Konrad sich in diese Tradition einreiht. Der Schwanritter scheint sich dem allerdings gezielt zu verweigern, und ich möchte darin einen impliziten, im Erzählarrangement angelegten Kommentar zur Rolle Karls beim Gerichtsprozess sehen. Mein Vorschlag geht dahin, den Befund im Kontext der in der Zeit höchst kontrovers diskutierten Frage nach dem Status von Gottesurteilen – und damit verbunden: nach dem Verhältnis von göttlicher und menschlicher Rechtsausübung generell – zu lesen. Menschliches Recht kann, im Verhältnis zum – als solchem unverfügbaren – göttlichen Recht, immer nur abgeleitet und vorläufig sein. Doch gerade weil göttliches Recht per se unverfügbar bleiben muss, kann das Ordal kein Mittel sein, den Willen Gottes zu offenbaren, sondern stellt allenfalls den Versuch dar, göttlichen Willen unter die Bedingungen menschlicher Rechtspraxis zu stellen.31 Das wurde durchaus kritisch bewertet, und zwar nicht allein von theologischer Seite, sondern auch in der volkssprachigen Erzählliteratur: Konrad selbst setzt sich in seinem Engelhart ausführlich mit dem Thema auseinander, wenn sich der »bei einem Schäferstündchen mit der Königstochter Engeltrud überraschte« Held beim darauffolgenden Gerichtskampf durch seinen »ihm aufs Haar gleichende[n] Gefährte[n] Dietrich« vertreten lässt, der dann auch »– tatsächlich unschuldig – im Kampf siegt«.32 Indem es seinem Protagonisten solchermaßen gelingt, das Gottesurteil zu den eigenen Gunsten zu manipulieren, stellt sich Konrad in eine literarische Tradition, die ihn nicht zuletzt mit Gottfried von Straßburg verbindet33 – bekanntlich auch ansonsten einer der wichtigsten Im-

|| 31 Entproblematisierend scheint es mir, wenn PETER STROHSCHNEIDER: Ur-Sprünge. Körper, Gewalt und Schrift im Schwanritter Konrads von Würzburg, in: WENZEL, HORST (Hrsg.): Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 127–53, hier S. 150, die These HARTMUT KOKOTTs (Anm. 26), dass es im Schwanritter »zu keiner klaren juristischen Entscheidung oder gar zu einem Urteilsspruch komme« (S. 20), mit der Begründung zurückweist, dass hier »Recht noch immer metaphysisch legitimiert« sei. Damit ignoriert STROHSCHNEIDER die literatur- und diskursgeschichtliche Situation, innerhalb derer sich der Schwanritter bewegt und die eben diese Durchdringung von Recht und Metaphysik im Gottesurteil kritisch hinterfragt; vgl. dazu unten sowie GRÖCHENING, HANS: Art. Gottesurteil, in: EM, Bd. 6 (1990), Sp. 24–31, hier Sp. 26, mit zahlreichen weiteren (literarischen) Beispielen. 32 Alle Zitate ebd., S. 26. 33 Vgl. zum Engelhart auch OETJENS, LENA: Amicus und Amelius im europäischen Mittelalter. Erzählen von Freundschaft im Kontext der Roland-Tradition. Texte und Untersuchungen, Wiesbaden 2016 (MTU 145), S. 302–37. Zur kontroversen Diskussion des Gottesurteils vgl. ebd., S. 313 (mit weiteren Literaturhinweisen), zur konzeptionellen Nähe zu Gottfrieds Tristan vgl. ebd., S. 314–37.

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pulsgeber Konrads.34 Wenn Isolde in Gottfrieds Tristan die Eisenprobe besteht, dann nicht wegen, sondern trotz ihres Schwindels bei der Durchführung des Ordals: Menschliches Recht darf nicht beschaffen sein wie Almosen: gegeben aus Barmherzigkeit, genommen im Zorn. Göttliches Recht hingegen ist anders beschaffen: wintschaffen, wetterwendisch und launisch, menschlichem Verstand zwar nur – aber daher gerade nicht-menschlich. Ordalien erwarten von Gott, über Schuld und Unschuld nach menschlichem Ermessen zu befinden. Dieser 35 Vermessenheit erteilt Gottfrieds zweites Ordal eine Absage.

Kontingentes Handeln, das im Kontext menschlicher Herrschaftspraxis den Herrscher als ungerecht und tyrannisch ausweisen würde, gehört im theologischen Diskurs des 13. Jahrhunderts gerade zu den Wesensmerkmalen des omnipotenten deus absconditus.36 Wenn das Gottesurteil am Ende zu Gunsten des Liebespaares ausgeht, lautet der angemessene Terminus hierfür aber gerade nicht ›Recht‹ – weder göttliches noch menschliches –, sondern ›Gnade‹.37 Wie PETER STROHSCHNEIDER herausgearbeitet hat, zielt Konrads Schwanritter darauf ab, in einer komplexen Verschränkung von juristischen, genealogischen und medialen Diskursen die dynastische Legitimität der Nachfahren von Brabant aus- oder vielmehr allererst herzustellen.38 In diesem Zusammenhang ist der Text offenkundig darauf bedacht zu zeigen, dass sich der Ursprung dieser dynastischen Legitimität zwar auch, doch nicht ausschließlich einem Akt göttlicher Gnade – mithin, in Gottfried’schem Sinne: göttlicher Willkür – verdankt, sondern dass er auch im Wortsinne ›recht-mäßig‹ ist. Der Schwanritter ist nicht allein Verkörperung des göttlichen Willens, sondern eben auch irdischer Gerechtigkeit. Genau um dies zu verdeutlichen, ist seine physische Präsenz nicht erst beim Gerichtskampf, sondern auch schon beim vorangegangenen Prozess erforderlich. Auch wenn das Verfahren am Ende durch das Gottesurteil entschieden wird, stellt Konrad die menschliche Rechtsordnung solcher-

|| 34 Vgl. neben zahlreichen stilistischen Anleihen etwa die expliziten Namensnennungen im Herzmaere (V. 9) und in der Goldenen Schmiede (V. 94–99); benutzte Ausgabe: Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg, hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Berlin 1925. 35 WALDMANN, BERNHARD: Natur und Kultur im höfischen Roman um 1200: Überlegungen zu politischen, ethischen und ästhetischen Fragen epischer Literatur des Hochmittelalters, Erlangen 1983 (Erlanger Studien 38), S. 166. 36 Vgl. BECKMANN, JAN P.: Wilhelm von Ockham, München 1995 (Beck’sche Reihe 533), S. 36–40. 37 Vgl. etwa BITTER, GOTTFRIED: Art. Gnade, in: LThK, Bd. 4 (1995), Sp. 780: »Das G[nade]-Handeln Gottes ist nur v[on] ihm selbst her zu begreifen; er ist in seiner G[nade] völlig frei und souverän. Wie der schöpfer[ische] G[naden]-Wille Gottes das Dasein des Menschen überhaupt erst begründet, so entspricht auch jede Beziehung zw[ischen] Gott u[nd] Mensch seiner reinen ›ungeschuldeten‹ G[naden]Wahl [...]. G[nade] ist darum zunächst nicht Reaktion auf den Menschen oder seine Verdienste, sondern urspr[üngliche], den Menschen liebenswert machende u[nd] seine Vorzüge erst weckende Liebe. Erst recht wird dem Sünder die Rechtfertigung ohne Vorleistung unverdient aus G[nade] allein zuteil«. 38 Vgl. STROHSCHNEIDER (Anm. 31).

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maßen nicht grundsätzlich in Frage, sondern belässt diese bis zuletzt ›in ihrem Recht‹. Woran aber Konrad sehr wohl Kritik zu üben scheint, ist die Position jener Figur, die als oberster Richter eigentlich das Funktionieren dieser Rechtsordnung gewährleisten sollte. Am Ende ist es eben nicht Karl, der qua seiner königlichen Souveränität und Idoneität Unrecht beseitigt und Recht wiederherstellt, eben rihtet und verslihtet, sondern der Schwanritter durch seinen beherzten Einsatz im Zweikampf. Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund auch mehr als nur eine Höflichkeitsbekundung, wenn der König ihm den höchsten Rang in der Sitzordnung bei Gericht zuweist, nämlich den Platz an seiner eigenen Seite, noch vor allen anderen Fürsten des Reiches (V. 400–06).39 Vielleicht ist dies bereits ein leiser Hinweis darauf, dass der Ritter am Ende genau jene Funktionsstelle einnehmen wird, die der Text anfangs noch König Karl selbst zuzuweisen vorgibt. Nur weil Karl selbst offenbar nicht imstande ist, im Prozess tatsächlich Recht zu finden, wird das Eingreifen Gottes in Gestalt des Ritters überhaupt notwendig, und seine physische Präsenz schon bei der Gerichtsverhandlung soll genau dies in Erinnerung rufen. Wenn man bedenkt, dass laut mittelalterlicher Staatstheorien für die moralische Bewertung des Herrschers nicht nur allfälliges begangenes Unrecht eine Rolle spielt, sondern ebenso sehr die Frage, inwieweit dieser seine herrscherlichen Pflichten erfüllt, dann kommt Karl dem ›Tyrannen‹ Otto aus Konrads Heinrich von Kempten mit einem Mal überraschend nahe.

3 und was mitalle ein übel man – Kaiser Otto im Heinrich von Kempten Als Richter wird auch Kaiser Otto im Heinrich von Kempten vorgestellt, jedoch nicht als rex iustus, der alle crumben sache slihten und rihten (Schwanritter, V. 657f.) möchte, sondern als jähzorniger Willkürherrscher, der mit einem Todesurteil allzu schnell bei der Hand ist: Ein keiser Otte was genannt, des magencrefte manic lant mit vorhten undertænic wart. [...] || 39 Es ist bemerkenswert, dass die – in ihrer Knappheit ansonsten erstaunlich akkurate – Paraphrase der Erzählung in Grimms Deutschen Sagen gerade in diesem Detail von der Darstellung Konrads abweicht: Auch hier wird nämlich der fremde Ritter zwar bereitwillig in die Runde der anwesenden Würdenträger aufgenommen, doch weist Karl ihm gerade keinen herausgehobenen Ehrenplatz zu, sondern lediglich »eine Stelle unter den andern Fürsten« (Der Ritter mit dem Schwan [Nr. 538], in: Brüder Grimm: Deutsche Sagen. Ausg. auf der Grundlage der ersten Auflage, ediert und komm. von HEINZ RÖLLEKE, Frankfurt a. M. 1994, S. 635–37, hier S. 636). Es scheint, als wären Grimms Sagen, einige Jahrhunderte nach Konrads Text verfasst, eher an den wunderbaren Elementen der Erzählung interessiert als an dem darin enthaltenen Herrschaftsdiskurs.

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er hete rœtelehtez hâr und was mitalle ein übel man. sîn herze in argem muote bran daz er bewârte an maneger stete: swer iht wider in getete, der muoste hân den lîp verlorn. über swen der eit gesworn von des keisers munde wart: ›du garnest ez, sam mir mîn bart!‹ er muoste ligen tôt zehant, wand er dekeine milte vant an sîner hende danne (V. 1–19). Ein Kaiser hieß Otto. Unter seiner Herrschaft standen furchtsam viele Länder. [...] Er hatte rotes Haar und war insgesamt ein böser Mensch. Sein Herz brannte vor Missgunst, das bewies er immer wieder. Wer etwas gegen ihn unternahm, hatte sein Leben verloren. Jeder, gegen den aus dem Mund des Kaisers der Schwur gerichtet wurde, ›Du sollst es büßen, bei meinem Bart!‹, musste auf der Stelle sterben, weil er dann vor ihm keine Gnade mehr fand.

Gleich zu Beginn macht der Erzähler auf das auffällige rœtelehte[] Haar (V. 8) des Herrschers aufmerksam. Obwohl Kaiser Otto II. (955–983), eine jener historischen Persönlichkeiten, die in der literarischen Figur Otto synkretistisch zusammenlaufen, der historiographischen Überlieferung zufolge tatsächlich rotes Haar hatte,40 scheint es Konrad weniger um historische Akkuratesse als vielmehr um die symbolische Dimension dieses Attributs zu gehen. In der christlichen Ikonographie ist rotes Haar äußerliches Merkmal der beiden Christusmörder Judas41 und Pontius Pilatus.42 Wie selbstverständlich kann der Erzähler deshalb auch von Ottos Erscheinungsbild auf dessen Charakter schließen: und was mitalle ein übel man (V. 10). Das Epitheton übel lässt unmittelbar an die auf Augustinus und Isidor zurückgehende, im Mittelalter weit verbreitete Charakterisierung der Tyrannen als die schlimmsten und ruchlosesten aller Könige denken. Damit steht auch das Nachfolgende im Zeichen dieser moralischen Wertung: swer iht wider in getete, / der muoste hân den lîp verlorn (V. 12f.). Das ist nicht die rechtmäßige Ausübung herrscherlicher Gewalt, sondern Ausdruck des zügellosen und gewalttätigen Wesens des Kaisers (V. 10: in argem muote) – laut Isidor ebenfalls Merkmale des Tyrannen –, und entsprechend leben Ottos Untertanen auch in ständiger Furcht vor ihrem Herrscher (V. 3), der keine Gnade kennt (V. 18). Der feh-

|| 40 Vgl. NEUDECK (Anm. 17), S. 243 passim. 41 Vgl. MELLINKOFF, RUTH: Judas’s Red Hair and The Jews, in: Journal of Jewish Art 9 (1982), S. 31–46. 42 Vgl. etwa die Darstellung des Pilatus auf der sog. Goldenen Tafel, dem Hochaltarretabel in der Benediktinerkloster-Kirche St. Michaelis in Lüneburg (auf der Außenseite des rechten Innenflügels): https://www.landesmuseum-hannover.de/wp-content/uploads/goldene-tafel-aussenseite-des-rechten-innenfluegels-1400-20.jpg (Abrufdatum: 31.08.2019); vgl. zu dieser Ikonographie auch JANTZEN, SIGRUN: Der Marienaltar im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg im Kontext der zeitgenössischen Altaraufbauten, Frankfurt a. M. [u. a.] 1997 (Europäische Hochschulschriften 289), S. 31.

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lende Gleichmut (aequitas) Ottos steht also gleichsam programmatisch schon am Beginn der Erzählung. Wie Karl im Schwanritter, so wird auch Otto nur wenig später als voget (V. 35) bezeichnet, als oberster Richter und Schirmherr des Reiches. Bezeichnenderweise ist der Kaiser in dem Moment aber, in dem das Eingreifen eines solchen Schirmherrn am dringendsten von Nöten wäre, nicht zugegen: Nachdem der Truchsess des Kaisers den Sohn des Herzogs von Schwaben rabiat züchtigt, weil dieser am Ostertag noch vor Eröffnung der Mahlzeit Brot vom Tisch genommen hat, schreitet der Erzieher des Jungen, der Ritter Heinrich von Kempten, ein und tötet kurzerhand den kaiserlichen Hofbeamten. Als Otto selbst am Schauplatz des Geschehens ankommt, ist die Situation freilich längst eskaliert und der Truchsess liegt in seinem Blut. Auffällig ist, wie sich der Kaiser gleich bei seiner Ankunft verhält. Noch bevor er das Debakel überhaupt wahrnimmt, setzt er sich an seinen Tisch und wäscht sich die Hände: Nu was ouch der keiser komen und hæte wazzer dâ genomen und waz gesezzen über tisch. daz bluot begunde er alsô frisch ûf dem esteriche sehen (V. 159–65). Inzwischen war auch der Kaiser gekommen und hatte sich die Hände gewaschen und an den Tisch gesetzt. Da bemerkte er das frische Blut auf dem Boden.

Schon zuvor wurde darauf hingewiesen, dass man alles entsprechend bereitet habe, damit der Kaiser nach Beendigung der Osterfeier umgehend wazzer nemen (V. 49) und damit das Mahl offiziell eröffnen könne: nu daz gesungen messe was an dem ôsterlichen tage, dô wâren sunder leides clage al die tische dâ bereit, und het man brôt dar ûf geleit und manic schœne trincvaz dar ûf gesetzet umbe daz, sô der keiser Otte mit siner fürsten rotte von deme münster quæme, daz er da wazzer næme und er enbizze sâ zehant. (V. 38–49) Als am Ostertag die Messe beendet war, hatte man die Tische schon mit besonderer Sorgfalt gedeckt, Brot darauf aufgeteilt und viele schöne Trinkbecher auf diese gestellt, damit der Kaiser Otto, zusammen mit der Schar der Fürsten, nach seiner Rückkehr aus dem Münster sich die Hände waschen und sogleich mit dem Essen beginnen könne.

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Das scheint an und für sich nichts Besonderes, gehört doch das Händewaschen zu den zentralen Bestandteilen höfischer Tischkultur.43 Doch gerade weil dieser Vorgang so selbstverständlich ist, macht es durchaus hellhörig, wenn er nun gleich zweimal hintereinander ganz explizit benannt wird, zumal seine Funktion als Eröffnungszeremoniell bei Tisch in diesem Fall ja ins Leere geht. Bezeichnenderweise findet, soweit ich sehe, dieses Motiv in den anderen überlieferten Bearbeitungen des Stoffs keine Erwähnung, allen voran in der Version Gottfrieds von Viterbo (entstanden zwischen 1185 und 1191),44 die als wahrscheinlichster Kandidat für Konrads Vorlage gelten darf.45 Bei Gottfried lautet die entsprechende Stelle lakonisch, ohne jede weitere Ausführung: Turba gemit, rex Otto venit, causamque requirit (V. 17: »Die Menge seufzt, der König kommt und fragt nach den Ursachen [des Blutvergießens, Th. P.]«). Dass es sich bei Konrads Zutat um mehr handelt als um eine dilatatio um der dilatatio willen, wird vor allem mit Blick auf den unmittelbaren Kontext der Stelle deutlich, in dem ›Hände‹ ja durchaus noch einmal eine Rolle spielen: Gemeint sind die blanken hende (V. 63) des adeligen Knaben, mit denen er vorzeitig nach dem Brot greift und damit die Gewaltspirale allererst ins Laufen bringt: der selbe knabe reine des tages dâ ze hove gie vor den tischen unde lie dar ûf die blanken hende sîn: ein lindez brôt nam er dar în, des brach der hôchgeborne knabe ein lützel unde ein wenic abe und wolte ez ezzen sam diu kint, diu des sites elliu sint und in der wille stât dar zuo daz si gerne enbîezent fruo. (V. 60–70) Eben dieser unschuldige Knabe ging am gleichen Tag dort bei Hof an den Tischen entlang, legte seine makellos reinen Hände darauf und nahm sich ein helles Brot. Davon brach der hochgeborene Knabe ein winziges Stück ab und wollte es essen, wie sich die Kinder einmal nun alle benehmen, wenn ihnen der Sinn danach steht, gerne etwas vor der Zeit zu essen.

|| 43 Vgl. etwa BUMKE, JOACHIM: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 2 Bde., München 1986, S. 254 und 262. 44 Benutzte Ausgabe: Konrad von Würzburg, Kaiser Otto und Heinrich von Kempten. Abbildungen der gesamten Überlieferung und Materialien zur Stoffgeschichte, hrsg. von ANDRÉ SCHNYDER, Göppingen 1989 (Litterae 109), S. 19–21. 45 Bei Gottfrieds Text handelt es sich »zum einen um die einzige lateinische Version, die definitiv älter als Konrads Erzählung ist, zum anderen steht diese Version der mittelhochdeutschen Versnovelle am nächsten: In keiner anderen mittelalterlichen Fassung werden« beide Teile der Handlung, die Hoftagepisode und der anschließende Italienteil, »zusammen überliefert, zudem stimmen Handlungsverlauf und strukturelles Grundgerüst mehr oder weniger mit denen des Heinrich von Kempten überein«; beide Zitate NEUDECK (Anm. 17), S. 275.

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Traditionell ließe sich die Farbe der Hände als Zeichen seiner hohen Geburt deuten, die mit der Farbe des Brotes korrespondiert: Zu den hellen, von bäuerlicher Arbeit verschonten Händen des Buben gehört das helle Brot (V. 64: lindez Brot), das als solches ja ebenfalls Privileg des Adels ist. Dadurch aber, dass unmittelbar davor das Motiv des Händewaschens eingespielt wird, tritt ein weiterer Bedeutungsaspekt hinzu: blank nicht mehr im Sinne von ›hellhäutig‹ = ›adelig‹, sondern im Sinne von ›rein, sauber‹ und – in übertragenem Sinn – vielleicht auch von ›unschuldig‹.46 Die blanken hende stehen also in einem doppelten Verweiszusammenhang, der einerseits Knabe und Brot einander zuordnet, andererseits aber Knabe und Kaiser, hier jedoch im Sinne einer Kontrastfigur, denn die semantische Isotopie um die Begriffstrias ›Hände‹ – ›waschen‹ – ›rein/unschuldig‹ aktiviert einen weiteren Bezugshorizont, der die Figur Ottos mit zusätzlichen allusiven Nuancen anreichert. Ähnlich den roten Haaren, gehört auch das Händewaschen fast schon sprichwörtlich zur biblischen Gestalt des Pontius Pilatus, der seine Hände ›in Unschuld wäscht‹, nachdem er sich dem Druck der jüdischen Autoritäten gebeugt und Jesus zum Tode verurteilt hat (Mt 27,24). Als Repräsentant der römischen Fremdherrschaft käme Pilatus aus jüdischer Sicht per se schon die Klassifizierung als Tyrann zu. Es ist allerdings auffällig, dass der – freilich nicht unparteiische – biblische Bericht, der offenbar darauf bedacht ist, die Schuld am Tode Jesu so weit als möglich den jüdischen Autoritäten anzulasten, den Statthalter Roms gerade nicht als (illegitimen) Gewaltherrscher inszeniert. Seine Schuld liegt weniger darin, dass er willkürlich Gewalt anwendet, als vielmehr darin, dass er trotz seiner Zweifel an der Begründetheit der Anklage (Mt 27,18) seinen eigenen Gerechtigkeitssinn nicht gegen den Willen des jüdischen Volkes durchsetzen kann. Für die moralische Beurteilung der Figur in den nachfolgenden Jahrhunderten macht dies freilich kaum einen Unterschied. So fällt etwa das Urteil des Kirchenvaters Leo des Großen über Pilatus und dessen Versuch, sich von der Schuld reinzuwaschen, ganz eindeutig aus: Non purgant contaminatum animum manus lotae, nec in aspersis aqua digitis expiatur quod famulante impia mente committitur. Excessit quidem Pilati culpam facinus Judaeorum, qui illum nomine Caesaris territum et invidiosis vocibus increpatum, ad effectum sui sceleris impulerunt. Sed nec ipse evasit reatum, qui cooperatus seditiosis, reliquit judicium proprium, et in crimen transivit alienum. (PL 54, Sermo LIX, Cap. II) Das Waschen der Hände macht die befleckte Seele nicht rein, und das Besprengen der Finger mit Wasser sühnt nicht die Untat, zu der er sich aus knechtischer, gottloser Gesinnung herbeiläßt. Freilich sind die Juden in höherem Grade schuldig als Pilatus, da sie ihn durch Hereinziehen des Kaisers schrecken und durch gehässige Schmähreden zur Ausführung ihres Verbrechens veranlaßten, aber dennoch hat auch er gefehlt, weil er dem wütenden Volke seinen Arm

|| 46 Vgl. auch die Übersetzung von V. 60 bei MIKLAUTSCH (Anm. 1): der selbe knabe reine – »Eben dieser unschuldige Knabe«.

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lieh, sein eigenes Urteil umstieß und sich so zum Mitschuldigen an der Missetat anderer mach47 tet.

Insofern Pilatus höchste Schuld dadurch auf sich lädt, dass er sein eigenes Rechtsverständnis aus Angst vor Unruhen hintanstellt und damit zum willfährigen Handlanger der jüdischen Autoritäten wird, erweist sich seine Herrschaft geradezu als Musterbeispiel dessen, was ich als Tyrannis der Untätigkeit beschrieben habe. Vor diesem Hintergrund scheint es gut möglich, dass Konrad das Motiv des Händewaschens im Heinrich von Kempten bewusst inseriert, um den Kaiser so, wie subtil auch immer, in ein entsprechendes Licht zu rücken. Die im Prolog bereits eingeführte Charakterisierung Ottos als eines tyrannischen Herrschers wird damit nur ein weiteres Mal akzentuiert. Man hat wiederholt auf das Missverhältnis von Vergehen und Strafe in der Verkettung von Gewalt hingewiesen,48 wie sie Konrads Erzählung vor Augen führt: Auf eine Bagatelle folgt eine rabiate körperliche Züchtigung, die ihrerseits mit Totschlag geahndet wird, bis Heinrich schließlich dem Kaiser selbst die Klinge an den Hals setzt und so erwirkt, dass das drohende Todesurteil zuletzt in einen Bann umgewandelt wird.49 Das Fehlen der aequitas als Gewaltregulativ, das schon im Prolog der Erzählung thematisch eingeführt wurde, erweist sich nunmehr als zentrales Bezugsproblem des ersten Teils der Handlung, das alle beteiligten Figuren, nicht allein den Herrscher, miteinbezieht. Wenn auch die einzelnen Akteure in ihrem Handeln jeweils in

|| 47 Übersetzung nach: Des Heiligen Papstes und Kirchenlehrers Leo des Großen sämtliche Predigten, aus dem Lateinischen übers. von THEODOR STEEGER, München ²1927 (Bibliothek der Kirchenväter I,44/45), S. 119. Vgl. zu dieser Stelle MATTIG-KRAMPE, BETTINA: Das Pilatusbild in der deutschen Bibelund Legendenepik des Mittelalters, Heidelberg 2001 (Germanistische Bibliothek 9), S. 75. Vgl. zum Motiv des Händewaschens auch SCHUMACHER, MEINOLF: Lavabo in innocentia manus meas. Zwischen Schuldanerkennung und Schuldabwehr: Händewaschen im christlichen Kult, in: ROBERT JÜTTE/ROMEDIO SCHMITZ-ESSER (Hrsg.): Handgebrauch. Geschichten von der Hand aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit, Paderborn 2009, S. 59–77. 48 Vgl. etwa NEUDECK (Anm. 17), S. 281: »Bereits die unverhältnismäßige Bestrafung des Kindes durch den Truchseß, den verlängerten Arm des Herrschers, zeigt die Gefährdung der feudalen Ordnung von innen: Im Affekt ausgeführt, stellt die blutige Maßregelung des Knaben einen Angriff auf die Herrschaftskontinuität im Herzogtum Schwaben dar; darüber hinaus wird die Hierarchie als systemkonstitutives Prinzip in Frage gestellt, wenn ein inferiores Mitglied der Feudalgesellschaft ein weit über ihm stehendes existentiell bedroht«. Vgl. auch KELLNER, BEATE: Zur Kodierung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten, in: Wolfgang Braungart [u. a.]: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld 2004 (Bielefelder Schriften zur Linguistik und Literaturwissenschaft 20), S. 74–103, hier S. 87f.: »Da dem Truchsessen institutionell die Funktion zukommt, die Ordnung des Mahles und die Einhaltung der hovezuht zu kontrollieren, ist es nicht abwegig, daß er den Regelbruch des Fürstenkindes zu ahnden versucht, doch stehen ›Delikt‹ und Strafe in krassem Mißverhältnis zueinander«. 49 Vgl. V. 355–61: ›ich hân iu sicherheit gegeben / daz îch iu lîp unde leben / unverderbet lâze. / nu strîchent iuwer strâze / alsô daz ir mich iemer / vermîdet, unde ich niemer / mit mînen ougen iuch gesehe.‹

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geradezu desaströser Weise über das Ziel hinausschießen, darf man jedoch nicht übersehen, dass sich ihnen andererseits auch keine echten Handlungsalternativen bieten: Der Truchsess macht sich schuldig, indem er die körperliche Integrität eines Kindes verletzt, das als Herzogssohn sozial über ihm steht – doch genauso hätte er sich dem Kaiser gegenüber verschuldet, in dessen Auftrag er ja handelt, hätte er den Knaben nicht gemaßregelt. Heinrich von Kempten macht sich dem Kaiser gegenüber schuldig, und zwar nicht erst darin, dass er diesen persönlich bedroht,50 sondern schon mit der Tötung seines Truchsesses. Hätte er allerdings das Vergehen an dem hochadeligen Kind unbestraft gelassen, so hätte er seine Pflicht als Schutzbeauftragter des Knaben vernachlässigt. Hier entfalten sich Spannungen, die in der Architektur der Lehnspyramide bereits angelegt sind, in der sich Macht nämlich nicht linear von oben nach unten verteilt, sondern in der jeder Einzelne in ein komplexes Geflecht von unterschiedlichen, teils konkurrierenden Dienst- und Verpflichtungsverhältnissen eingespannt ist. Wie zentral dieser Aspekt für Konrads Text ist, wird im Mittelteil der Erzählung deutlich, wenn Heinrichs Dienstpflicht gegenüber seinem Lehnsherren, dem Fürstabt von Kempten, gegen den kaiserlichen Bann ausgespielt wird: Der Fürstabt, seinerseits als Kronvasall zur Bereitstellung militärischer Mittel verpflichtet, fordert Heinrich, seinen besten Krieger, zur Teilnahme am kaiserlichen Italienfeldzug auf. Heinrich bittet darum, seine Verpflichtungen ausnahmsweise auszusetzen, da er beim Kaiser in Ungnade gefallen sei (V. 454–63). Erst als der Fürstabt damit droht, Heinrich das Lehen zu entziehen, lenkt dieser ein und erklärt sich bereit, für ihn in den Krieg zu ziehen: Lieber möchte er gegen die Weisung des Kaisers verstoßen und so sein eigenes Leben verspielen, als mit seinem Lehen auch seine Ehre, will heißen: alles, was seine soziale Identität ausmacht, zu verlieren (V. 498–505). Die einzige Figur, die ihrerseits nicht in diese Verstrickungen eingebunden ist, ist der Kaiser selbst, der an der Spitze der feudalen Ordnung steht und allenfalls noch Gott gegenüber verpflichtet ist. An ihm läge es – schon beim Hoffest zu Babenberg –, einen Ausgleich zu finden zwischen den konkurrierenden Interessen und so das Funktionieren der feudalen Ordnung sicherzustellen. Das Gesellschaftsmodell, das die im Heinrich von Kempten entfalteten Wertantinomien implizieren, entspricht im Grunde einem organologischen Verständnis des Staatswesens, wie es Johannes von Salisbury in seinem Policraticus entwickelt: Das Gemeinwesen ist, wie der menschliche Körper, ein integriertes, organisches Ganzes; und das Wohlbefinden des ganzen Gemeinwesens hängt davon ab, daß jedes Glied seine ihm gemäße

|| 50 Dieser Angriff wird übrigens auch dadurch nicht gedeckt, dass er sich gegen einen tyrannischen Herrscher richtet, denn selbst Johannes von Salisbury, der vielleicht prominenteste Apologet des Tyrannenmordes im 12. Jahrhundert, hält fest, dass niemand »den Tod eines Tyrannen planen« solle, »wenn er durch einen Treueschwur oder Lehenseid an diesen gebunden ist«, was »es praktisch für illegal« erklärt, »einen Tyrannen zu töten – es sei denn, es handle sich um den Herrscher eines fremden Landes!«; alle Zitate ROUSE/ROUSE (Anm. 20), S. 246.

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Funktion richtig erfüllt, so wie der Körper darauf angewiesen ist, daß alle seine Organe am Platz 51 verharren und ihre Aufgabe erfüllen, für die sie geschaffen sind.

Die größte Verantwortung schreibt Johannes dabei dem Herrscher als dem Kopf des Staatswesens zu, denn »er hat die Aufgabe, die übrigen Glieder zu zwingen, sich richtig zu verhalten«.52 Wenn der Staat ein schlechtes Oberhaupt hat, gefährdet das das Gemeinwohl aller: »Ein Tyrann als Haupt verdirbt alle Glieder«.53 Wenngleich nahezu alle Figuren im Heinrich von Kempten in die tödliche Verkettung von Gewalt eingebunden sind, kommt am Ende niemand anderem als dem Kaiser die Pflicht zu, das Prinzip der aequitas zu verwirklichen und für ein angemessenes Verhältnis von Ordnungsstörung und Strafe zu sorgen, um so eine Eskalation zu verhindern. Im entscheidenden Moment aber ist der Kaiser nicht ›da‹ bzw. treibt, indem er später das Todesurteil über Heinrich ausspricht, die Gewaltspirale sogar noch weiter. Wie das moralisch zu bewerten sei, gibt der Erzähler klar zu verstehen, wenn er Otto, wie Pontius Pilatus, sich die Hände in Unschuld waschen lässt.

4 Interne Störung – externe Lösung Der zweite Teil der Erzählung berichtet dann, wie Heinrich entgegen dem Urteil des Kaisers den Italienfeldzug als Vasall des Fürstabtes antritt. Während er ein Bad nimmt, beobachtet er aus der Ferne, wie der Kaiser in den Hinterhalt italienischer Städter gerät. Ohne zu zögern, springt Heinrich aus dem Bad und eilt Otto zu Hilfe – nur mit einem Schwert bewaffnet, aber ohne jeglichen Schutz oder Kleidung. Weil Heinrich solchermaßen demonstriert, dass er unter allen Umständen dazu bereit ist, sein Leben für das Wohl des Kaisers aufs Spiel zu setzen, entschließt dieser sich, den Ritter zu begnadigen – freilich nicht ohne Hinweis auf die situative Ironie, dass es eben jene bedingungslose Gewaltbereitschaft Heinrichs ist, die den Kaiser in der Vergangenheit selbst beinahe das Leben gekostet hätte: wer hæte ouch anders diz getân daz er nacket hiute streit? wand er ouch die getürstekeit || 51 ROUSE/ROUSE (Anm. 20), S. 249. Vgl. z. B. V,2, passim, oder VIII,17. 52 ROUSE/ROUSE (Anm. 20), S. 249. Vgl. etwa IV,1: principi onera imminent uniuersa. Vnde merito in eum omnium subditorum potestas confertur. 53 ROUSE/ROUSE (Anm. 20), S. 250. Vgl. VIII,17: Habet enim et res publica impiorum caput et membra sua, et quasi ciuilibus institutis legittimae rei publicae nititur esse conformis. Caput ergo eius tirannus est imago diaboli; anima here- tici scismatici sacrilegi sacerdotes [...]; cor consiliarii impii, quasi senatus iniquitatis; oculi, aures, lingua, manus inermis, iudices et leges, officiales iniusti; manus armata, milites uiolenti, quos Cicero latrones appellat; pedes qui in ipsis humilioribus negotiis praeceptis Domini et legittimis institutis aduersantur.

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truog in sînem herzen hôch daz er bî dem barte zôch einen kaiser über tisch. (V. 668–73) [D]enn wer sonst hätte das auch zustande gebracht, heute nackt zu kämpfen. War er es doch, der die Kühnheit so hoch in seinem Herzen trug, dass er einen Kaiser an seinem Bart über den Tisch zog.

BEATE KELLNER macht auf eine augenscheinliche Veränderung in der Figurenzeichnung zwischen erstem und zweitem Teil der Erzählung aufmerksam: Handelt Heinrich von Kempten in Babenberg aus Rache bzw. Notwehr und im eigenen Interesse, stellt er sich und sein ›nacktes Leben‹ in Italien nun selbstlos in den Dienst des Reiches. Das Handeln des Ritters ist sich [...] gleich geblieben und hat sich doch verändert: Gewandelt hat sich nicht die umstandslose Form der Anwendung von Gewalt, doch gewandelt haben sich deren 54 Antriebe und Konsequenzen.

Entsprechend sei auf Seiten des Kaisers »Selbstkontrolle [...] an die Stelle des Zwanges von außen getreten«, insofern er sich in Italien »eben jenen Prinzipien der triuwe und êre verpflichtet« zeige, »zu denen er zehn Jahre vorher beim ersten unfreiwilligen Zusammenstoß mit dem Ritter in Babenberg – unter dem Zwang von Heinrichs Attacke – übergegangen war«.55 Dabei bleibt freilich zu beachten, dass die beiden Situationen beim Hoffest und in Italien sich in so wesentlichen Punkten voneinander unterscheiden, dass sich unmittelbare Rückschlüsse auf die Charaktereigenschaften der beiden Protagonisten im Grunde verbieten: In Italien ist es keine Störung von innen, die der Auslöser von Gewalt wäre, sondern eine Bedrohung von außen. Heinrich kann auch nur deshalb seine Kampfkraft in den Dienst des Kaisers stellen, weil er in dieser Situation eben nicht, wie damals vor dem Kaiser, sein eigenes Leben akut bedroht sieht (zwar hat ihm der Kaiser unter Androhung der Todesstrafe verboten, ihm noch einmal unter die Augen zu treten, doch hat Otto in diesem Moment, salopp gesagt, andere Sorgen). Der Kaiser kann entsprechend auch nur deshalb Heinrich gegenüber Gnade walten lassen, weil inzwischen keine Gefahr mehr von diesem ausgeht, sondern nunmehr eben von Dritten. Was sich wandelt, sind weniger die »Antriebe und Konsequenzen«56 der Gewalt, sondern vor allem die äußeren Umstände, die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich adeliges Gewalthandeln entfaltet. HUBERTUS FISCHER und PAUL-GERHARD VÖLKER haben erstmals auf das Paradox hingewiesen, dass »persönliche Gewalt« im Heinrich von Kempten »als Auflösungsmoment der feudalen Lehensordnung [...] gleichzeitig Grundlegung dieser Ordnung« ist:

|| 54 KELLNER (Anm. 48), S. 95. 55 Alle Zitate ebd. 56 Ebd.

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Beides, sich gegenseitig widersprechend, muß sich dennoch bedingen: ein unvermittelter, sich ausschließender Gegensatz würde die Unmöglichkeit der Existenz dieser Gesellschaftsordnung 57 bedeuten.

Konrads Erzählung liefert sogleich die Antwort, wie dies gelingen mag: Es bedarf einer externen Gefahr, gegen die sich das feudale Gewalthandeln richten kann. Mir scheint es riskant, von hier aus auf eine grundlegend veränderte Charakterdisposition der beiden Hauptfiguren zwischen den zwei Handlungsteilen schließen zu wollen. Tatsächlich wird im Text auch weder explizit gesagt, dass aus dem übele[n] man Otto zuletzt ein guoter man geworden wäre, noch dass der Kaiser künftig nicht mehr jähzornig gewesen sei. Alles, was wir hierzu erfahren, ist, dass sich sein Zorn nicht länger gegen Heinrich richtet, dass dieser also fortan von Ottos Willkürakten ausgenommen bleibt: ir zweier vîntschaft was dahin, wan der keiser hôchgeborn und sîn grimmeclicher zorn was dem ritter niht gevêch. (V. 734–37) Ihre Feindschaft war vorbei, denn der hochgeborene Kaiser richtete seinen Zorn nicht mehr gegen den Ritter.

Vielleicht ist Konrads Text überhaupt nicht darauf bedacht, einen Wandel in Ethos und Verhalten des Kaisers zur Schau zu stellen – die Halsstarrigkeit und Unbelehrbarkeit des Tyrannen sind schon bei Johannes von Salisbury topisch.58 Vielleicht kommt es ihm eher darauf an zu zeigen, dass die feudale Ordnung sich schlechterdings nicht aus sich selbst heraus wiederherstellen kann, wenn es am Kopf dieser Ordnung selbst krankt. In einem solchen Fall bedarf es vielmehr, wie schon im Schwanritter, entweder eines direkten Eingriffs höherer Mächte – auch dies ein Gedanke, der bereits bei Johannes vorgeprägt ist –,59 oder zumindest einer fundamentalen Umstrukturierung der äußeren Bedingungen dieser Ordnung.

|| 57 Alle Zitate HUBERTUS FISCHER/PAUL-GERHARD: Konrad von Würzburg: Heinrich von Kempten. Individuum und feudale Anarchie, in: DIETER RICHTER (Hrsg.): Literatur im Feudalismus, Stuttgart 1975 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft 5), S. 83–130, hier S. 87. Vgl. dazu auch NEUDECK (Anm. 17), S. 269, der festhält, dass dieses paradoxe Bedingungsgefüge für Konrad offenbar gerade kein »strukturelles Defizit« darstellt, »das es ›aufzuheben‹« gilt: »Vielmehr gibt es für ihn zur feudalen Ordnung keine Alternative und damit auch nicht zu ihrem ambivalenten Konstituens, der Gewalt«. 58 Vgl. ROUSE/ROUSE (Anm. 20), S. 246. 59 Vgl. ebd., S. 252f.

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5 Fazit Was bedeutet dies alles nun für die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis der beiden Herrscherfiguren Karl und Otto zueinander? Beide Figuren sind, wie unschwer zu erkennen ist, so unterschiedlich angelegt, dass es für Konrad als Autor schon allein deshalb mehr oder weniger ausscheidet, beide mit demselben Namen zu belegen, und zwar ganz unabhängig davon, was in Konrads Vorlage gestanden haben mag.60 Anders als Otto wird Karl zu keinem Zeitpunkt explizit als schlechter Herrscher bezeichnet. Laut GEITH war für die Namenswahl im Schwanritter, ganz im Gegenteil, ausschlaggebend, dass sich traditionell mit dem Namen Karls des Großen die Vorstellung des »vorbildlichen Richter[s] und [...] Wahrer[s] der Rechtsordnung«61 verbindet. Allerdings dürfte deutlich geworden sein, dass es sich bei Konrads Karl gerade nicht um den idealen Herrscher handelt, den man aus der Tradition kennt, denn er ist es ja nicht, der am Ende Gerechtigkeit herstellt und die Rechtsordnung durchsetzt. Es wäre erst zu erwägen, inwieweit Konrads Erzählung hier möglicherweise der französischen Karlstradition nähersteht, die insgesamt bekanntlich ein deutlich ambivalenteres Karlsbild zeichnet als die deutschsprachige Chanson-degeste-Rezeption.62 Entscheidend allerdings ist, dass Konrad in der sprachlichen Inszenierung seines Textes klar an die ungetrübte Idealität der deutschen Karlstradition anschließt, doch nur, um die daran geknüpften Erwartungen in der faktischen Untätigkeit Karls beim Gerichtsverfahren umso mehr zu unterlaufen. In dieser Hinsicht zeichnet sich vielleicht doch eine Gemeinsamkeit ab, die Karl mit dem Tyrannen Otto verbindet und die man vielleicht als Reflex ihres gemeinsamen stoff- und motivgeschichtlichen Erbes betrachten kann: Beide Figuren repräsentieren im gewissen Sinne eine Leerstelle, insofern hier wie dort eine Situation konstruiert wird, in welcher der Herrscher – wenn auch aus je anderen Gründen und Antrieben – seiner angestammten Aufgabe als Vogt des Reiches nicht gerecht wird. Otto NEUDECK weist darauf hin, dass der Heinrich von Kempten, »der zwischen 1260 und 1275 anzusetzen ist, [...] wohl noch in die kaiser- bzw. königslose Periode des Interregnums«63 falle, und vielleicht steckt dahinter mehr als bloßer Zufall. Die Datierung des Schwanritters ist etwas unsicherer: Die Angaben schwanken zwischen ›um 1257‹ (dafür spräche die Erwähnung der Grafen von Geldern und Cleve sowie des niederrheinischen Adelsgeschlechts der

|| 60 Das gilt umso mehr, wenn man von einer Spätdatierung des Schwanritters ausgeht (zur Datierungsfrage siehe unten): Dann könnte man Konrads Wahl des Herrschernamens als bewusste Entscheidung lesen, um den Herrscher im Schwanritter deutlicher von der chronologisch älteren Figur im Heinrich von Kempten abzugrenzen. 61 GEITH (Anm. 6), S. 145. 62 Vgl. dazu etwa BASTERT, BERND: Helden als Heilige. Chanson-de-geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum, Tübingen 2010 (Bibliotheca Germanica 54). 63 NEUDECK (Anm. 17), S. 274.

Zur Figur des Herrschers in Konrads von Würzburg Schwanritter und Heinrich von Kempten | 235

Rienecker, die zu dieser Zeit in Würzburg begütert waren)64 und ›nach 1282‹ (das Datum eines historischen Rechtsfalls, bei dem es tatsächlich um die Frage weiblicher Erbfolge ging).65 Immerhin könnte es sich – im Falle einer Spätdatierung – noch um einen Nachhall auf die Zeit des Interregnums handeln.66 Ich möchte aber gar nicht so weit gehen, die beiden Erzählungen als Schlüsseltexte auf eine bestimmte historische Situation zu lesen, sondern verstehe sie eher als ein fiktionales Durchspielen von Möglichkeiten. Obgleich Karl und Otto zwei unterschiedliche Typen von Herrschern repräsentieren, sind sie doch in stoffgeschichtlicher Hinsicht miteinander verwandt, genauso, wie auch die jeweiligen Fragen und Bezugsprobleme, die anhand dieser beiden Figuren gleichsam kasuistisch verhandelt werden, einander verwandt sind: Was passiert, wenn der Herrscher, der als Schirmherr des Reiches eigentlich als Garant von Recht und Ordnung fungieren sollte, entweder zwar die besten Absichten hegt, aber in seinem Habitus merkwürdig passiv bleibt oder in dem Moment, auf den es ankommt, gar nicht erst ›da‹ ist? Die typischen Merkmale des Tyrannen, wie sie von Theoretikern wie Johannes von Salisbury beschrieben wurden (Hang zu Willkür, Grausamkeit und Ausschweifung), fehlen Karl zwar auch im Schwanritter ganz traditionsgemäß. In ihren faktischen Konsequenzen aber ist Karls Herrschaft der offenkundigen Tyrannis Ottos ähnlicher, als man zunächst erwarten würde, denn was sowohl der Schwanritter als auch der Heinrich von Kempten auf ihre je eigene Weise vor Augen führen, ist, wie sehr die soziale Ordnung von rein äußerlichen Faktoren abhängt, wenn die Position des Herrschers nur schwach besetzt ist: So wie im Schwanritter Recht nur durch das unmittelbare Eingreifen Gottes durchgesetzt werden kann, so steht und fällt im Heinrich von Kempten das Gelingen feudaler Vergesellschaftung damit, ob es eine Bedrohung durch Dritte gibt, auf die sich das adelige Gewalthandeln richten kann – oder, wie im ersten Teil der Handlung, eben nicht.

|| 64 Vgl. BRUNNER, HORST: Genealogische Phantasien. Zu Konrads von Würzburg Schwanritter und Engelhard, in: ZfdA 110 (1981), S. 274–99. 65 Vgl. RITSCHER, ALFRED: Das Recht und die Politik Rudolfs von Habsburg im Spiegel des Schwanritters Konrads von Würzburg, in: HORST BRUNNER (Hrsg.): Konrad von Würzburg. Seine Zeit, sein Werk, seine Wirkung, Wiesbaden 1988/89 (Jahrbuch des Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 5), S. 239–50. 66 RITSCHER (Anm. 64), S. 246, sieht in dem – tatsächlich auffälligen – Befund, dass Karl im Schwanritter durchweg als König und nicht als Kaiser bezeichnet wird, eine Anspielung auf Rudolf von Habsburg, mit dessen Wahl 1273 das Interregnum offiziell endete, denn auch Rudolf war »während seiner gesamten Regierungszeit lediglich römischer König; alle seine Bemühungen, in Rom zum Kaiser gekrönt zu werden, sind bekanntlich stets gescheitert«. Wenn man bedenkt, dass die ambivalente Darstellung Karls im Schwanritter kaum zum uneingeschränkt wohlwollenden Herrscherlob taugt, könnte man die Erzählung in der Tat als Widerhall der anhaltenden sozialen und politischen Unsicherheiten auch nach Beendigung der königslosen Zeit lesen.

Michael Schwarzbach-Dobson

Tyrann und Weiser Verhandlungen über die Relation von Macht und Weisheit in historischen Exempeln des Mittelalters

1 Einleitung: Macht und Weisheit Aus dem Aufeinandertreffen von Alexander dem Großen und Diogenes dem Kyniker resultiert – so suggerieren es jedenfalls antike und mittelalterliche Exempel – im Wesentlichen eine Aushandlung von politischer Macht und philosophischer Weisheit.1 Valerius Maximus berichtet in seinen Facta et dicta memorabilia, dass sich Alexander direkt vor Diogenes stellt und diesem anbietet, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Diogenes aber wünscht sich von Alexander allein, dass jener ihm aus der Sonne trete.2 Petrus Alfonsi erweitert im 12. Jahrhundert in der Disciplina clericalis die Erzählung erheblich: Bei ihm trifft ein namenloser rex auf Sokrates, der hier (und auch häufiger) mit Diogenes vertauscht wird.3 Bei Petrus Alfonsi spielt sich die Sonne/Schatten-Szene zwischen dem Philosophen und einigen Dienern des Königs ab, wobei letztere versuchen, den im Fass lebenden Sokrates/Diogenes zum Weggehen zu überreden, damit der bald vorbeikommende König nicht durch seinen Anblick gestört werde. Der Philo|| 1 Für einen luziden Überblick zu den Diogenes-Exempeln vgl. LARGIER, NIKLAUS: Diogenes der Kyniker. Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Mit einem Essay zur Figur des Diogenes zwischen Kynismus, Narrentum und postmoderner Kritik, Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 36), S. 1–85. 2 Vgl. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia, IV,3, ext. 4: Alexander vero, cognomen inuicti adsecutus, continentiam Diogenis cynici vincere non potuit. ad quem cum in sole sedentem accessisset hortareturque ut si qua praestari sibi vellet indicaret, quemadmodum erat in crepidine collocatus, sordidae appellationis, sed robustae vir constantiae, ›mox‹ inquit ›de ceteris, interim velim a sole mihi non obstes‹ (»Alexander, welcher den Beinamen des Unbesiegten erlangt hatte, vermochte die Enthaltsamkeit des Cynikers Diogenes nicht zu überwinden. Dieser saß in der Sonne, als er zu ihm trat und ihn aufforderte, sich eine Gnade auszubitten. Diogenes, wie er auf einem (Ufer-)Rande saß, kräftig und edel, ungeachtet seines schmutzigen Namens, erwiederte [sic!]: ›davon nachher. Inzwischen wünsche ich, daß du mir nicht in die Sonne stehest.‹«). Benutzte Ausgabe: Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia, hrsg. von JOHN BRISCOE, 2 Bde., Stuttgart [u. a.] 1998 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Die (veraltete und nicht ganz adäquate) Übersetzung entstammt Valerius Maximus Sammlung merkwürdiger Reden und Thaten, übers. von D. FRIEDRICH HOFFMANN, Diaconus zu Balingen im Königreich Württemberg, Stuttgart [u. a.] 1828/1829. 3 Vgl. Petrus Alfonsi: Disciplina clericalis, Nr. 28. Benutzte Ausgabe: Die Disciplina Clericalis des Petrus Alfonsi. Nach allen bekannten Handschriften hrsg. von ALFONS HILKA/WERNER SÖDERHJELM, Heidelberg 1911 (Sammlung mittellateinischer Texte 1).

https://doi.org/10.1515/9783110752373-012

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soph spricht jedoch dem König die Verfügungsgewalt über ihn, Sokrates, ab, und bezeichnet den Herrscher als »Diener meiner Diener«.4 Dem bald eintreffenden König erklärt der Philosoph dann, dass der Herrscher seinem Verlangen untertan sei, er als Philosoph hingegen sein Verlangen beherrsche, dieses also sein Diener geworden ist. Die bekannte Anekdote zieht ihre Prägnanz aus einer Umkehrlogik, die eine vermeintliche Schwäche als Stärke deutet und somit in erster Linie rhetorisch argumentiert. Sie setzt dem entfesselten Machtstreben Alexanders die Zufriedenheit des Kynikers entgegen, ein Kontrast, der etwa im Alexanderroman auch in der Begegnung zwischen Alexander und Dindimus thematisiert wird.5 Die Antike liest dies in philosophischer Perspektive nicht bloß als Absage an das Verlangen nach Macht, vielmehr als Absage an das Verlangen generell: »Diogenesʼ Antwort negiert nicht nur den Machtwunsch, sondern die Wunschmacht überhaupt«, formuliert PETER SLOTERDIJK pointiert in seiner Kritik der zynischen Vernunft.6 Im Mittelalter erhält das Exempel bei Petrus Alfonsi ein christliches Substratum, das Diogenes abermals vom Mächtigen emanzipiert, hier aber stärker auf den Sieg über den Körper, das heißt die eigene Natur – naturae victor humanae – zentriert bleibt.7 Darüber hinaus impliziert das Exempel einen politisch-rhetorischen Topos – denjenigen des ›Mehr oder Minder‹: Wer schon nicht seinen eigenen Körper beherrscht, der kann auch kein ganzes Reich beherrschen. Die Überlieferung zeigt damit auch einen Wandel kultureller Logiken innerhalb einer politisch-moralischen Machtdiskussion.8 Im Folgenden soll jedoch weniger die philosophiehistorische Genese der Diogenes-Figur vorgestellt als ein genereller Blick auf das Verhältnis von Mächtigem (bzw. hier vor allem des Tyrannen) und Weisem in historischen Exempeln geworfen werden. Das Exempel von Alexander und Diogenes inszeniert ein weitestgehend symbiotisches Verhältnis aus Herrschaft und Philosophie: Der Mächtige erkennt das überlegene Wissen des anderen, er erkennt auch seine eigene Defizienz und unterwirft seine Herrschaft dem Ratgeber. Schon DELEUZE und GUATTARI haben Macht und Weisheit in Tausend Plateaus als tragende Doppelsäule vormoderner Gesellschaftsformen bestimmt, die dort in symmetrischer Relation zueinander stehen und in erster Linie auf || 4 Non est, inquit [gemeint ist Sokrates/Diogenes], uester dominus meus dominus, sed pocius mei est serui seruus (Disciplina clericalis, Nr. 28). 5 Vgl. dazu auch FRIEDRICH, UDO: Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Strassburger Alexander, in: HARMS, WOLFGANG/JAEGER, C. STEPHEN (Hrsg.): Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 119–36. 6 Vgl. SLOTERDIJK, PETER: Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1983, S. 304. 7 Vgl. dazu auch LARGIER (Anm. 1), S. 20f. 8 Der Vergleich von antiker und mittelalterlicher Variante des Exempels ist hier verkürzt dargestellt, auch das Mittelalter kennt die Erzählung in der Version des Valerius, wie sie etwa in den Gesta Romanorum überliefert ist (Nr. 183). Hier erhält das Exempel allerdings eine christlich-moralische Auslegung. Benutzte Ausgabe der Gesta Romanorum: Gesta Romanorum, hrsg. von HERMANN OESTERLEY, Reprograf. Nachdruck der Ausg. Berlin 1872, Hildesheim 1963.

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zwei Personen verteilt sind: den Stammesführer und den Priester, den König und den Ratgeber, den Fürsten und den Philosophen usw.9 Die Symmetrie dieser Relation droht jedoch stets zu kippen: Zeigt sich der Mächtige als Tyrann, erweist sich sein Verhältnis zum Weisen als ein zutiefst asymmetrisches, das durch die permanente Gefahr einer sich nicht nach Gesetzen richtenden Gewaltausübung des Herrschers bedroht ist. Der Weise kann immer noch für Einsicht plädieren, doch lassen zahlreiche Exempel die oppositionellen Pole aus Tyrann und Weisem in harter Konfrontation enden, die mit dem Tod des Weisen, aber auch mit dem Tod des Tyrannen enden kann. Die graduellen Abstufungen zwischen einsichtigem Herrscher, der auf den Weisen hört, und eigensüchtigem Tyrannen, der sich gegenüber der aufs Gemeinwohl zielenden Philosophie verschließt, sind dabei stark vom historischen und kulturellen Kontext abhängig: Exempel, die in der Antike noch einen gerechten Herrscher imaginieren, können diesen im Mittelalter als Tyrannen auftreten lassen; Herrscher, die im höfischen Kontext idealisiert werden, erscheinen in klerikaler Perspektive als Gewaltherrscher usw. (vgl. etwa Artus, der in Legendenerzählungen wie der Vita Sancti Paterni als quidam tirannus vorkommt).10 Damit verschieben sich auch die Axiologien der Figuren: Mächtiger und Weiser sind nicht mehr Schüler und Lehrer, sondern werden etwa durch ein pathologisches Modell ersetzt, das heißt als Kranker und Arzt inszeniert, oder in christlicher Perspektive als Sünder und Heiliger. Dient die Konstellation aus Weisem und Mächtigem noch als Demonstrationsfolie eines politischen Erfolgsmodells, wird die Kombination von Weisheit und Tyrannis in der Überlieferung häufig in den oppositionellen Polen von Kultur und Barbarei verortet, mithin als ein asymmetrischer Gegenbegriff (im Sinne KOSELLECKS) aufgefasst.11 Die Exempel des Typus ›Tyrann gegen Weisen‹ sind damit in einen Aushandlungsprozess eingebunden, der die Janusköpfigkeit politischer Herrschaft immer wieder neu herausstellt – noch Walter Benjamin vermerkt in seinen Geschichtsreflexionen: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.«12

|| 9 Vgl. DELEUZE, GILLES/GUATTARI, FÉLIX: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1997, S. 482f. Sie stützen sich dabei auf die (methodisch fragwürdigen) Untersuchungen von DUMÉZIL, GEORGES: Aspekte der Kriegerfunktion bei den Indogermanen, Darmstadt 1964. 10 Vgl. Vita Sancti Paterni, Z. 228; ähnlich Z. 238. Benutzte Ausgabe: Vita Sancti Paterni. The Life of Saint Padarn and the original Miniu, ed. and transl. with a comm. by CHARLES THOMAS and DAVID HOWLETT, Lampeter 2003. 11 Vgl. KOSELLECK, REINHART: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: DERS.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 211–59. 12 BENJAMIN, WALTER: Über den Begriff der Geschichte, in: DERS.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, ausgew. von SIEGFRIED UNSELD, Frankfurt a. M. 1977, S. 251–61, hier S. 254.

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2 Das Exempel als rhetorisches Argument Es soll hier jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass anscheinend gerade die vormoderne Diskussion um das politische Modell der Tyrannis zu nicht unerheblichen Teilen auf exemplarischen Beispielen beruht bzw. ihren argumentativen Stellenwert gerade über das Anführen von Exempeln herausstellt. Die gegenwärtige Forschung hat anhand einer ›Epistemologie des Exemplarischen‹ die narrativen und argumentativen Möglichkeiten des Beispiel-Gebens neu umrissen:13 Kleine narrative Formen sind nicht auf eine Funktion des Illustrierens normativer Aussagen zu beschränken, vielmehr besitzen sie ein rhetorisches Potenzial zur Persuasion, das in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit gleichermaßen abgerufen wird. Die exemplarische Kurzerzählung operiert dabei nicht über logische Schlüsse, sondern über Wahrscheinlichkeiten, ist also ein genuin rhetorisches Instrument, was sich nicht zuletzt in einer Formenvielfalt in der Praxis spiegelt: Mittelalterliche Texte aus dem christlichen, didaktischen oder historischen Spektrum inkorporieren Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel, die in narrativer Argumentation den besonderen Anwendungsfall einer allgemeinen Lehre aufzeigen. Exempelsammlungen archivieren Hunderte von Beispielfällen für neue Kontexte, in denen die Aussagemöglichkeiten der Exempel je nach weiterer Verwendung neu angepasst werden können.14 So scheint auch der Diskurs um Tyrannis im weiteren Sinn wie das Verhältnis von Tyrann und Weisem im engeren Sinn gerade in Exempeln fassbar zu werden. Dies überrascht insofern, als das Exempel im klassischen Verständnis eine Regel voraussetzt, die im Beispiel, das heißt im Fall, zur Anschauung kommt. Nun ist es aber gerade Kennzeichen des Tyrannen, sich jeder gesetzlich gebundenen Regel zu widersetzen und nach Willkür zu regieren – hier öffnet sich somit bereits abseits des je erzählten Inhalts ein konzeptuelles Spannungsfeld, das im Folgenden berücksichtigt werden muss. Vor dem Hintergrund einer politischen Ideengeschichte entwerfen die kleinen literarischen Formen eine zugespitzte, Grenzen und Möglichkeiten des Herrschaftskonzepts aufzeigende Form der Tyrannis-Zuschreibung. Die Exempel fungieren als ein Archiv der Erfahrung, aus dem Schlüsse für den Umgang mit zukünftigen Tyrannen gezogen werden können. Johannes von Salisbury etwa, der eine der umfang-

|| 13 Vgl. stellvertretend für die neuere Forschung PETHES, NICOLAS [u. a.]: Zur Systematik des Beispiels, in: DIES. (Hrsg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007 (LiteraturForschung 4), S. 7–59, für ältere Ansätze MOOS, PETER VON: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im Policraticus Johanns von Salisbury, Hildesheim [u. a.] 1988 (Ordo 2). 14 Für eine ausführliche Diskussion neuer Theorieansätze und einer Applikation auf exemplarische Kurzerzählungen vgl. SCHWARZBACH-DOBSON, MICHAEL: Exemplarisches Erzählen im Kontext. Mittelalterliche Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel in narrativer Argumentation, Berlin 2018 (Literatur – Theorie – Geschichte 13).

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reichsten politischen Diskussionen um den Tyrannen im Mittelalter vorgelegt hat, ergänzt die systematischen Überlegungen im Policraticus immer wieder durch eine Vielzahl an Beispielen.15 Er entwirft hier weniger eine klassische politische Theorie der Tyrannis bzw. des Tyrannenmordes, als dass die von ihm herangezogene Reihe an gewaltsam gestorbenen römischen Tyrannen eine Legitimationsbasis für den Widerstand gegen einen ungerechten Herrscher bildet.16 Die Exempel zeigen ein historisches Archiv an Auseinandersetzungen, das soziale Handlungsstrategien für gegenwärtige und kommende politische Streitfälle offeriert: ex quibus [den historischen Exempeln, M. S.-D.] facile liquebit quia semper tiranno licuit adulari, licuit eum decipere et honestum fuit occidere, si tamen aliter coherceri non poterat.17 Johannes von Salisbury kann sich auf eine lange rhetorische Tradition berufen: Schon die römische Antike integriert immer wieder Beispiele aus der Frühzeit der Republik in ihren Diskurs um Tyrannenmord – Spurius Cassius oder Sextus Tarquinius bilden etwa diejenigen exempla maiorum, die prototypische Qualitäten des Tyrannen im kollektiven Bewusstsein zementieren.18 Der Tyrann avanciert so zum Gegenstand

|| 15 Vgl. Johannes von Salisbury: Policraticus, lib. VIII, c. 18. Benutzte Ausgabe: Ioannis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici sive de nvgis cvrialivm et vestigiis philosophorum libri VIII, hrsg. von CLEMENS C. I. WEBB, 2 Bde., London/Oxford 1909. 16 Vgl. die Einleitung von SEIT in: Johannes von Salisbury: Policraticus. Eine Textauswahl. Lateinisch – Deutsch, ausgew., übers. und eingel. von STEFAN SEIT, Freiburg i. Br. [u. a.] 2008 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters 14), vor allem S. 27–32; NEDERMAN, CARY J.: John of Salisburyʼs Political Theory, in: GRELLARD, CHRISTOPHE (Hrsg.): A Companion to John of Salisbury, Leiden [u. a.] 2015, S. 258–88, hier S. 278–82. 17 Policraticus, lib. VIII, c. 18. (»Daraus [das heißt durch die historischen Exempel, M. S.-D.] wird es leicht deutlich, dass es immer erlaubt war, dem Tyrannen zu schmeicheln, es war immer erlaubt, ihn zu täuschen und es ist ehrenhaft gewesen, ihn zu töten, solange es nicht möglich war, ihn auf andere Weise zu beschränken«). Eigene Übersetzung. Ganz ähnlich plädiert auch Thomas von Aquin in De regno ad regem cypri für die bessere Evidenz durch das Beispiel: Hoc etiam non minus exemplis quam rationibus apparet. Si quis enim antiquorum gesta et modernorum euentus consideret, uix inueniet tyranni alicuius dominium diuturnum fuisse; unde Aristotiles in sua Politica multis tyrannis enumeratis, omnium monstrat dominium breui tempore fuisse finitum (I,10: »Das aber ist nicht weniger durch Beispiele als durch Gründe der Vernunft klarzumachen. Denn wenn jemand die Taten der alten und die Geschehnisse der neueren Geschichte überlegt, so wird er kaum finden, daß die Herrschaft eines Tyrannen lange Zeit gedauert hätte. So beweist auch Aristoteles in seiner Politik bei der Aufzählung vieler Tyrannen, daß ihrer aller Herrschaft in kurzer Zeit zu Ende gegangen sei.«). Benutzte Ausgabe: Sancti Thomae Aquinatis doctoris Angelici opera omnia. T. 42: Compendium theologiae, De articulis fidei et ecclesiae sacramentis, Responsio de 108 articulis, Responsio de 43 articulis, Responsio de 36 articulis, Responsio de 6 articulis, Epistola ad ducissam Brabantiae, De emptione et venditione ad tempus, Epistola ad Bernardum Abbatem Casinensem, De regno ad regem Cypri, De secreto. Iussu impensaque Leonis XIII. P. M. ed., Rom 1979, S. 447–71. Die Übersetzung entstammt der folgenden Ausgabe: Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten, Übers. von FRIEDRICH SCHREYVOGL, Nachw. von ULRICH MATZ, Stuttgart 1971. Die deutsche Übersetzung des Textes richtet sich allerdings nicht nach der kritischen Ausgabe von 1979. 18 Vgl. PANITSCHEK, PETER: Sp. Cassius, Sp. Maelius, M. Manlius als Exempla Maiorum, in: Philologus 133 (1989), S. 231–45; VON HAEHLING, RABAN: Rex und Tyrannus. Begriffe und Herrscherbilder der rö-

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der Rhetorik, an dem sich paradigmatisch bestimmte Facetten politischen Handelns darstellen und diskutieren lassen.19 Die Verteidigungsrede bzw. Anklage eines Tyrannen und die Argumentation für oder gegen Tyrannenmord bilden häufige Übungsstücke antiker Rhetorenschulen, an denen der Rhetor weniger seine juristischen oder staatsrechtlichen Kenntnisse einbringt, als dass er lernt, situationsangepasste Argumente zu liefern, die den Tyrannen je nach Kontext sowohl verteidigen wie anklagen können. Aus dem politischen Modell lassen sich so Streitfälle, das heißt Kasus, generieren. Seneca d. Ä. gibt in seinen Controversiae dazu folgendes Beispiel: Als Regel ist festgesetzt, dass Tyrannenmord belohnt wird. Ein Mann liegt mit der Frau eines Tyrannen im Bett. Der Tyrann entdeckt die beiden und will den Mann töten, doch dieser entwendet dem Tyrannen sein Schwert und erschlägt damit den Herrscher. Soll er die ausgesetzte Belohnung erhalten, da er den Tyrannen tötete, oder nicht, da er nur aus dem Affekt und nicht aus überindividuellen Beweggründen gehandelt hat?20 Die Verbindung zur Rhetorik scheint für den Tyrannen-Diskurs seit der griechischen Antike prägend zu sein. Xenophon präsentiert sein politisches Modell etwa als Dialog,21 also in einer genuin rhetorischen, auf diskursiven Argumentaustausch angelegten Form: Der Dichter Simonides (der Künstler bildet hier gewissermaßen einen Subtypus des Weisen) spricht mit dem Tyrannen Hieron über Möglichkeiten eines glücklichen Lebens. Xenophons Dialog ist deutlich nach der sog. sokratischen Methode angelegt: Anstatt dem Tyrannen Rat zu geben, befragt Simonides den Herrscher nach dessen eigenen Möglichkeiten des glücklichen Lebens im Vergleich zu einer Privatperson und lässt Hieron so über seinen eigenen Tyrannenstatus reflektieren.22 Anstelle einer Klage über den ungerechten Herrscher inszeniert Xenophon eine Selbstanklage des Tyrannen – rhetorisch das deutlich geschicktere Mittel der Herrschaftskritik. Erst im zweiten Teil des Dialoges zeigt Simonides dem Tyrannen Lösungen für sein eingeschränktes Herrscherleben (Hieron lamentiert unter anderem darüber, dass er als Tyrann nie Ruhe finden und niemandem trauen könne): Hieron habe als Herrscher für das Gemeinwohl zu sorgen, so dass seine Untertanen ihm freiwillig folgen || mischen Antike, in: BAUMANN, UWE (Hrsg.): Basileus und Tyrann. Herrscherbilder und Bilder von Herrschaft in der englischen Renaissance, Frankfurt a. M. 1999, S. 13–34, hier S. 16–18. 19 So schon WALSER, ERNST: Die Gestalt des tragischen und des komischen Tyrannen in Mittelalter und Renaissance, in: Kultur- und Universalgeschichte. FS Walter Goetz, dargebracht von Fachgenossen, Freunden und Schülern, Leipzig [u. a.] 1927, S. 125–44, hier S. 129–31, und SCHLUMBOHM, DIETRICH: Tyrannenmord aus Liebe. Überlegungen zu einer Motivkombination, in: Romanistisches Jahrbuch 18 (1967), S. 97–122, hier S. 100. 20 Seneca: Controversiae IV, 7. Benutzte Ausgabe: Seneca d. Ä.: Controversiae/Declamations. In two volumes, tansl. by M. WINTERBOTTOM, Cambridge, Mass. [u. a.] 1974. Weitere Belegstellen bei Seneca bietet WALSER (Anm. 19), S. 129, Anm. 1. 21 Eine Edition des Textes findet sich in: STRAUSS, LEO: Über Tyrannis. Eine Interpretation von Xenophons Hieron mit einem Essay über Tyrannis und Weisheit von ALEXANDRE KOJÈVE, Neuwied a. Rh. 1963, S. 7–29. 22 Vgl. dazu auch ebd., S. 91–108.

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würden.23 Xenophon deutet so an, dass der Tyrann der Führung eines Weisen bedarf, um noch ein guter Herrscher zu werden.24 Auch das Mittelalter kennt diesen Gedanken, stellen lateinische und vernakulare Fürstenspiegel doch einen der zentralen Überlieferungsorte für Exempel vom Tyrannen und Weisen dar. Die Möglichkeiten an Um- und Neubesetzungen der zwei zentralen Positionen von Herrscher und Philosoph scheinen hier und in den zahlreichen Exempelsammlungen des Mittelalters fast unendlich modellierbar: Historische Personen wie Nero, Alexander oder Tarquinius können eingesetzt werden, als Gegenpart zum Tyrannen treten Kleriker, Ratgeber, Künstler usw. auf. Sogar der Tyrann selbst kann sich plötzlich qua rhetorischer Pointe als Weiser herauskristallisieren: Als Augustus vorgeworfen wird, er sei ein Tyrann, antwortet er dem Ankläger: Si essem, inquit, non diceres (»Wäre ich einer, würdest du dies nicht sagen können«).25

3 Relationen von Macht und Weisheit Im Folgenden sollen aus dieser Formenvielfalt des Exempeltypus ›Mächtiger und Weiser‹ drei Konstellationen herausgegriffen werden, nämlich ›Tyrann und artifex‹, ›Tyrann und philosophus‹ und ›Tyrann und alte Frau‹. Fokussiert werden damit allein historische Exempel, das heißt exemplarische Kurzerzählungen, die ein historisches Substrat aufweisen bzw. dies suggerieren. Zwar existiert auch ein breites Spektrum an Fabeln, die von ungerechter Gewaltherrschaft erzählen (›Wolf und Lamm‹, ›Frösche wünschen sich einen König‹ usw.), doch rekurrieren diese selten auf das politische Modell der Tyrannis, auch kontrastieren sie das mächtige Tier in der Regel nicht mit einem Weisen.26 In diesem Aufsatz sollen vielmehr die je synchron wie diachron || 23 Womit er – zumindest nach der mittelalterlichen Tyrannenauffassung wie bei Thomas von Aquin – dann allerdings kein Tyrann mehr wäre. 24 Der Grundgedanke, dass der Mächtige vom Weisen richtig erzogen werden muss, findet sich schon bei Platon, vgl. ZIMMERMANN, BERNHARD: Das Herrscherbild in der griechischen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr, in: BAUMANN, UWE (Hrsg.): Basileus und Tyrann. Herrscherbilder und Bilder von Herrschaft in der englischen Renaissance, Frankfurt a. M. 1999, S. 1–12, hier S. 7. 25 Policraticus, lib. III, c. 14. Johannes nennt allerdings nicht direkt Augustus, der jedoch in den Varianten dieses Exempels ansonsten mit der pointierten Antwort verknüpft ist, vgl. Mensa philosophica 4,5; Pauli/BOLTE. Bd. 2, Nr. 733. Benutzte Ausgaben: Mensa philosophica. Faksimile und Kommentar, hrsg. von ERWIN RAUNER/BURGHART WACHINGER in Verb. mit CAROLINE RUPRECHT-ALEXANDER und FRIEDER SCHANZE, Tübingen 1995; Johannis Pauli: Schimpf und Ernst. Teil 2: Paulis Fortsetzer und Übersetzer, Erläuterungen, hrsg. von JOHANNES BOLTE. Nachdruck der Ausg. Berlin 1924, Hildesheim [u. a.] 1972. 26 Es scheint daher problematisch, Fabeln in einen Bezug zum Tyrannis-Diskurs zu setzen, wie es etwa CLASSEN, ALBRECHT: The People rise up against the Tyrants in the courtly World. John of Salisbury’s Policraticus, the Fables by Marie de France, and the anonymous Mai und Beaflor, in: Neohelicon 35 (2008), S. 17–29, tut.

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an verschiedenen historischen Exempeln beobachtbaren divergenten Möglichkeiten, von Tyrannis und Weisheit zu erzählen, untersucht werden. Wenn dabei ein Erzählstoff von der Antike bis ins Mittelalter verfolgt wird, so geht es dabei ausdrücklich nicht um ein Postulat direkter Abhängigkeit, sondern um die jeweils unterschiedlich realisierten narrativen Potenziale vergleichbarer Erzählstoffe oder, mit STIERLE ausgedrückt, um die je kontextabhängige Explikation der narrativen Implikationen eines Exempels.27

3.1 Tyrann und artifex Der Künstler als Variation des Weisen steht traditionell in enger Beziehung zum Herrscher, insofern er als Entwickler neuartiger Machttechnologien zwar einerseits ein Bündnis mit dem Mächtigen eingeht, andererseits aber der künstlerische »Machtanspruch über die Natur [...] in Konkurrenz mit der politischen Macht«28 des Tyrannen treten kann. FRIEDRICH OHLY und UDO FRIEDRICH haben dies am Phalaris-Exempel verdeutlicht: Der Künstler Perillus baut für den Tyrannen Phalaris einen Stier aus Erz, der so groß ist, dass in ihm ein Mensch platziert werden kann, welcher anschließend durch ein Feuer unter dem Stier getötet wird. Die Konstruktion des Stiers bewirkt, dass die Todesschreie des Sterbenden wie Tierlaute klingen und der Herrscher so nicht zu Mitleid bewegt wird. Der Tyrann Phalaris testet diese Grausamkeit aber dadurch, dass er Perillus als ersten in den Stier legen lässt.29 UDO FRIEDRICH hat hier den politischen Status des Exempels herausgearbeitet: Die Erzählung unterwandert herkömmliche Gabenlogiken und zeigt diese Ambivalenz auch semiotisch – der Stier dient dazu, die Wahrheit durch den äußeren Schein zu überdecken, genau wie das Kunstwerk nur ex post seine doppelte Wahrheit zeigt. Der Tyrann reagiert gegenüber || 27 Vgl. STIERLE, KARLHEINZ: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte, in: KOSELLECK, REINHART/STEMPEL, WOLF-DIETER (Hrsg.): Geschichte. Ereignis und Erzählung, München 1973 (Poetik und Hermeneutik 5), S. 347–75, hier S. 362f. 28 FRIEDRICH, UDO: Zur Verdinglichung der Werte in den Gesta Romanorum, in: MÜHLHERR, ANNA [u. a.] (Hrsg.): Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne, Berlin [u. a.] 2016 (Literatur – Theorie – Geschichte 9), S. 249–66, hier S. 259. 29 Wiedergegeben ist die Version der Gesta Romanorum, Nr. 48. Valerius erzählt etwa: Saevus etiam ille aenei tauri inventor, quo inclusi subditis ignibus longo et abdito cruciatu mugitus resonantem spiritum edere cogebantur, ne eiulatus eorum humano sono vocis expressi Phalaridis tyranni misericordiam implorare possent. quam quia calamitosis deesse voluit, taeterrimum artis suae opus primus inclusus merito auspicatus est (Facta et dicta memorabilia, 9.2.ext.9: »Ein entsetzlicher Mensch war auch der Erfinder jenes ehernen Stiers, in welchen die Leute eingeschlossen wurden, während man Feuer unter demselben anzündete. Er wollte nämlich die Stimme Derjenigen, die unsichtbar darin gemartert wurden, in den brüllenden Ton jenes Thieres [sic!] verwandeln, damit nicht ihr Geschrei, wenn es menschlich lautete, das Mitleid des Phalaris erregte. Aber gerade dieses Mitleid, das er den Unglücklichen entziehen wollte, mußte der Künstler selbst mit Recht ansprechen, indem er in sein eigenes Kunstwerk zuerst eingeschlossen wurde«).

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Perillus mit Willkür, doch Resultat ist paradoxerweise eine höhere Gerechtigkeit, insofern die Grausamkeit des Künstlers auf diesen zurückfällt.30 Interessant ist aber auch die von OHLY herausgearbeitete Überlieferungsgeschichte, die eine axiologische Verschiebung vornimmt: Während Phalaris erst als alleiniger Tyrann auftritt, der seine Opfer im Stier verbrennt, gewinnt später der Künstler Kontur als grausamer Erfinder – in der Kaiserchronik etwa tritt der Mächtige sogar als gerechter Herrscher auf, der den diabolischen Künstler bestraft.31 Derartige Verschiebungen in der Erzählkonzeption von Tyrannis-Exempeln sind keine Seltenheit. Plinius d. Ä. berichtet z. B. sehr knapp, dass ein Künstler in der Regierungszeit des Tiberius biegsames Glas erfunden habe, Tiberius dann aber die Werkstatt des Erfinders zerstören ließ, damit anderes Edelmetall nicht an Wert verliere.32 Bei Isidor von Sevilla ist dieser Konflikt bereits in direkter Konfrontation beschrieben: Ein Künstler schenkt Tiberius eine gläserne Trinkschale, die dieser abschätzig zu Boden wirft. Als die Trinkschale aber nicht zerbricht, sondern sich zusammenrollt, versichert sich der Kaiser erst, ob der Künstler der einzige sei, der dieses dehnbare Glas herstellen könne, und lässt ihm dann mit der schon bei Plinius zu findenden Begründung den Kopf abschlagen.33 Das Exempel findet sich im Mittelalter unter anderem in lateinischen Erzählsammlungen wie den Gesta Romanorum (Nr. 44), in denen die kleine Erzählung eine Vorgeschichte bekommt: Bevor er Kaiser wurde, war Tiberius ein hochangesehener Mann, berühmt für seine Redekunst (clarus eloquio) und erfolgreich im Krieg. Von der Ernennung zum Kaiser an stellt er aber seine militärischen Unternehmungen ein, unterdrückt das Volk und bringt sogar eigene Söhne und Konsuln um, kurz: Er avanciert zum prototypischen Tyrannen. Darauf folgt die Episode des dehnbaren Glases; ähnlich wie Isidor beschreiben die Gesta Romanorum eine Form von Experiment, mit dem Tiberius das Glas testet, wobei hier viel deutlicher gemacht wird, dass Tiberius das Glas absichtsvoll gegen die Wand und nicht zufällig zu Boden wirft. Die Frage des Kaisers an den Künstler richtet sich dann auch nicht nach weiteren Mitwissern um die Herstellung, sondern wie man generell ein derartiges Glas herstellen könne, worauf der Künstler antwortet, das wisse niemand (neminem hanc artem scire super ter-

|| 30 Vgl. FRIEDRICH (Anm. 28), S. 259. 31 Vgl. etwa die frühe Erwähnung bei Polybios, die keinen Künstler nennt, sondern Phalaris als Schöpfer des Stiers ansieht (Geschichte, XXII, 25). Benutzte Ausgabe: Polybios: Geschichte. Gesamtausgabe in zwei Bänden, Bd. 2, hrsg. von HANS DREXLER, Zürich/Stuttgart 1963. Vgl. OHLY, FRIEDRICH: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung. 2., unveränd. Aufl., Darmstadt 1968, S. 113–19. 32 Vgl. Plinius d. Ä.: Naturalis historia, XXXVI, 195. Benutzte Ausgabe: C. Plini Secvndi natvralis historiae libri XXXVII, hrsg. von KARL MAYHOFF, Stuttgart 1967 [1897]. Die folgenden Überlegungen zum Exempel ›Dehnbares Glas‹ entstammen SCHWARZBACH-DOBSON (Anm. 14), S. 220–22. 33 Vgl. Isidor: Etymologiae, XVI,XVI,6. Benutzte Ausgabe: Isidorus Hispalensis: Etymologiarum sive originum libri XX, hrsg. von WALLACE MARTIN LINDSAY, Oxford 1911.

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ram). Es schließt sich die Enthauptung des Künstlers mit der bekannten Begründung durch Tiberius an. Während Plinius sich in erster Linie für den Prozess der Glasherstellung interessiert und die kurze Episode nur im Konjunktiv und unter dem Hinweis auf ihre Ungenauigkeit (eaque fama crebrior diu quam certior fuit)34 bringt, finden sich bei Isidor bereits zwei oppositionelle Figuren (Herrscher gegen Künstler), und durch die Strukturierung von Anfang, Mitte, Ende (Geschenkübergabe, Experiment, Enthauptung) bildet sich aus der historischen Anekdote eine narrative Form. Damit korrespondiert eine andere Funktionalisierung: Wo Plinius noch allein von ökonomischen Überlegungen bei der Zerstörung der Werkstatt spricht, inszeniert Isidor die Entscheidung zur Enthauptung als Habgier des Herrschers und verweist so bereits auf die problematische Relation von Tyrann und Künstler. Die Gesta Romanorum erweitern den Bezugsrahmen durch die Kombination mit der Tiberius-Vorgeschichte nochmals in drei Richtungen: Erzähltheoretisch erhält die Figur des Tiberius eine markantere Wertzuschreibung, die seine Willkür gegenüber dem Künstler biographisch zu erklären versucht. Der Wechsel vom vorbildlichen Herrscher zum Tyrannen öffnet eine zusätzliche Sinnebene, die auch mit der verschobenen Axiologie des Glasherstellers korrespondiert, zeigt dieser doch Hybris in seiner Antwort, niemand auf der Welt sei so klug wie er. Damit hat sich die symmetrische Beziehung von Mächtigem und Weisem vollends zu einer Asymmetrie aus Tyrann und falschem Künstler verschoben. Konsequenterweise bezieht sich das Exempel zweitens auf moralphilosophische Implikationen (Macht korrumpiert), die in der allegorischen Auslegung des Exempels sowohl über das Reservoir der Erfahrung wie über die Bibel eingefangen werden: et ideo dicetur communiter: Honores mutant mores, et Psalmista: Homo cum in honore esset non intellexit etc.35 – Alltagswissen und religiöses Wissen werden dadurch in Relation gestellt. Drittens avanciert das ökonomisch-naturkundliche Beispiel damit zum historischen, auch heilsgeschichtlich verorteten Exempel.36 Die heilsgeschichtliche Relevanz der Tyrannis des Tiberius (in dessen Regierungszeit historisch die Kreuzigung Jesu Christi fällt) wird mit der Episode des ›Dehnbaren Glases‹ verknüpft, wodurch der Zusammenstoß mit dem Künstler paradigmatischen Wert für die Regierung des Tiberius gewinnt. Aus heilsgeschichtlicher Perspektive interessiert nicht die Entwicklung des Glases, sondern die gewalttätige Reaktion des Tyrannen gegen den Erfinder, || 34 Plinius d. Ä.: Naturalis historia, XXXVI, 195: »Und dieses Gerücht war mehr verbreitet als richtig.« Zitierte Übersetzung: Die Naturgeschichte des Gaius Plinius Secundus, ins Deutsche übers. und mit Anm. vers. von G. C. WITTSTEIN, hrsg. von LENELOTTE MÖLLER/MANUEL VOGEL, Wiesbaden 2007. 35 »Und deshalb lautet das Sprichwort: ›Ansehen verändert die Sitten‹, und der Psalmist spricht: ›Wenn der Mensch zu Ansehen kommt, dann versteht er nicht mehr usw.‹«. Zitierte Übersetzung: Gesta Romanorum. Lat., Dt., ausgew., übers. und hrsg. von RAINER NICKEL, Stuttgart 1991, Nr. 44. 36 Dass Tiberius nach Erlangung des Kaiseramtes sein vorbildliches Leben aufgibt, überliefern einige Gesta Romanorum-Redaktionen auch als einzelnes Exempel, vgl. etwa Gesta Romanorum, Nr. 205.

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entwirft die Heilsgeschichte doch kein technisches Fortschrittsnarrativ, sondern eines der Lösung aus irdischer Unvollkommenheit.

3.2 Tyrann und philosophus Der enge Zusammenhang zwischen Belehrung und Überzeugung, das heißt zwischen Didaktik und Rhetorik, wie er sich im politischen Rat Geben manifestiert,37 kommt besonders in einem Tyrannen-Exempel zum Tragen, das sich an prominenter Stelle in den sogenannten Schachzabelbüchern findet. Mittelalterliche Schachbücher sind in erster Linie als eine Art Ständedidaxe zu verstehen, die jeder Spielfigur auf dem Schachfeld einen Stand bzw. spezifische Berufsgruppen und damit ein Set an Werten zuordnen, welche jeweils durch eine Vielzahl von (größtenteils antiken) Kurzerzählungen exemplifiziert werden. Hier sollen sowohl der einflussreiche und am weitesten überlieferte lateinische Schachtraktat herangezogen werden, der Text des Jacobus de Cessolis (um 1300), als auch derjenige seines prominentesten deutschen Bearbeiters, Konrad von Ammenhausen (1337).38 Jacobus wie Konrad eröffnen ihren Text mit einer Erzählung über die Ursprünge des Schachspiels, bieten also gleichzeitig eine Legitimationsbasis des eigenen Schreibens wie auch eine autoritätsbasierte Historisierung des Spiels selbst. Sie verwerfen die These, das Schachspiel sei als Mittel zum Zeitvertreib während der Belagerung Trojas erfunden worden, und erzählen stattdessen folgende Geschichte: Der babylonische König Nabuchodonosor (historisch: Nebukadnezar) wird für seine Hoffart von Gott bestraft und verhält sich wie ein Tier. Sein Sohn Evilmerodach (historisch: AmelMarduk) übt in seiner Abwesenheit eine Schreckensherrschaft aus (Konrad von Ammenhausen: Schachzabelbuch, V. 854: der was ein vil müelich vies). Als Nabuchodonosor seinen Verstand zurückgewinnt, lässt er seinen Sohn einsperren, doch übernimmt dieser nach dem Tod des Vaters abermals die Herrschaft. Aus Angst, Nabuchodonosor könne wieder lebendig werden, lässt Evilmerodach die Leiche seines Vaters in 300 Stücke zerteilen, die zusätzlich noch an 300 Geier verfüttert werden. An der sich anschließenden Schreckensherrschaft betonen Jacobus wie Konrad besonders, dass der Tyrann Evilmerodach keinerlei Rat annehmen will bzw. jeglichen Kritiker töten lässt.39

|| 37 Vgl. zur Geschichte des Rat Gebens: MACHO, THOMAS: Zur Ideengeschichte der Beratung. Eine Einführung, in: PRECHTL, GERD (Hrsg.): Das Buch von Rat und Tat. Ein Lesebuch aus drei Jahrtausenden, München 1999, S. 17–32. 38 Benutzte Ausgabe: Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen, Mönchs und Leutpriesters zu Stein am Rhein. Nebst den Schachbüchern von Jakob von Cessole und des Jakob Mennel, hrsg. von FERDINAND VETTER, mit einem Exkurs über das mittelalterliche Schachspiel von V. HEYDEBRAND UND DER LASA, Frauenfeld 1892 (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes). 39 Vgl. Konrad von Ammenhausen: Schachzabelbuch, V. 924–932.

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Die leidenden Untertanen bitten den Philosophen Xerxes, der auch Philometer genannt wird, um Hilfe. Dieser erfindet das Schachspiel, welches von den Hofleuten sogleich begeistert aufgenommen wird. Evilmerodach beobachtet die Spieler an seinem Hof und entwickelt dabei den Wunsch, das Spiel auch zu lernen. Xerxes führt ihn in die Spielregeln ein, der Herrscher erkennt über das Schachspiel seinen eigenen Platz im politischen Modell und gibt seine Tyrannis auf. Das Exempel greift zurück auf die schwierige Frage nach den Möglichkeiten des Weisen, Einfluss auf die Politik des Tyrannen zu üben. Wo eine direkte Belehrung nicht durchzuführen ist, muss indirekt argumentiert werden: Bei Jacobus und Konrad fungiert das Spiel als Instrumentarium, um den Herrscher in einen Schüler zu verwandeln. Die Beobachtung der Spielenden weckt ein mimetisches Begehren40 des Herrschers – schon Aristoteles verweist in der Nikomachischen Ethik auf den Zusammenhang von Macht und Spiel und den Wunsch der Mächtigen nach eutrapelischem (das heißt in Maßen gehaltenem) Vergnügen. Dieses Vergnügen aber, so Aristoteles, sei nicht als Ziel (telos) des Daseins anzusehen, sondern gleichsam nur als Mittel zum Zweck.41 So ist auch für den Tyrannen Evilmerodach das Schachspiel zwar oberflächlich Vergnügen, eigentlich aber Einübung in ein politisches Wertesystem, das die Spielregeln des Schachs analog zu sozialen Wertekonstellationen setzt. Indem sich Evilmerodach dem System des Schachs unterwirft, ordnet er sich gleichzeitig einem spezifischen Herrschaftsschema unter. Basis dafür ist ein Verständnis von Schach als Zentralmetapher für ein politisches Modell, das zwar über klare Hierarchien verfügt, gleichzeitig aber über die Spielzüge auch eine funktional angelegte Abhängigkeit der Figuren voneinander betont.42 Gerade diese vielfältigen Übertragungsmöglichkeiten des Spiels werden von Jacobus daher immer wieder hervorgehoben: Et propter multitudinem rationum et variorum similitudinum ac ingenia bellorum in eodem certantium famosus fuit.43 Macht und Weisheit avancieren im Spiel so zu kommensurablen Größen, die erst in gegenseitiger Übereinstimmung Erfolg garantieren.

|| 40 Vgl. zur Begrifflichkeit GIRARD, RENÉ: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1992, S. 211–47. 41 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. und hrsg. von URSULA WOLF, 5. Aufl., Reinbek b. H. 2015, X, 6; vgl. zum Konnex ›Spiel und Philosophie‹ in diesem Exempel auch FISCHER, ANDREAS HERMANN: Spielen und Philosophieren zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2016, S. 116–19. 42 Vgl. dazu DITTMANN, WOLFGANG: Zur Erfindung des Schachspiels im Schachzabelbuch. Die erzählte Primär-Rezeption bei Konrad von Ammenhausen, in: HAFERLAND, HARALD/MECKLENBURG, MICHAEL (Hrsg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 303–26, hier S. 312; vgl. auch ADAMS, JENNY: Power Play. The Literature and Politics of Chess in the Late Middle Ages, Philadelphia 2006, S. 17f. 43 Jacobus de Cessolis, Liber de moribus hominum et officiis nobilium ac popularium super ludo scacchorum, Sp. 75f.: »Und wegen der Menge an Spielzügen und verschiedensten Übertragungsmöglichkeiten und wegen des Scharfsinns der Schlachten wurde das Spiel berühmt«. Eigene Übersetzung.

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Für die Erzählung vom Philosophen Xerxes und dem Tyrannen Evilmerodach lässt sich keine antike Vorlage finden.44 Tatsächlich scheint der bei Jacobus aufgegriffene Grundgedanke des Exempels, dass auch der schrecklichste Herrscher sich ethisch bessern lasse, gegenüber dem christlichen Herrschaftsmodell des Mittelalters deutlich anschlussfähiger. Dass der Tyrann zwar pervertiert sei, aber doch unter providentia stehe, ist schon bei Augustinus die Grundlage für eine generelle Möglichkeit von moralischer Bindung und Selbstzügelung des Herrschers.45 Auch die von KANTOROWICZ prominent hervorgehobene politische Theorie des Königs als Doppelperson, ex natura und ex gratia, verortet neben einer überpersönlichen, überzeitlichen, gleichsam göttlichen Seite im Herrscher eine menschliche Komponente, die sterben und ungerecht sein kann, aber ebenso das Potenzial zur Besserung in sich trägt.46 In den Schachbüchern von Jacobus de Cessolis und Konrad von Ammenhausen fungiert das Exempel jedoch nicht nur als Aushandlungspunkt von Macht und Weisheit im politischen Modell, es ist auch Ausgangsbeispiel für die erfolgreiche Applikation des eigenen Textes. Das Exempel verweist auf das Leistungsvermögen des Schachspiels als Staatsmetapher generell wie auch auf seine Wirkungsfähigkeit als Instrument ethischer Besserung. Gleichzeitig bildet das Schachspiel aber auch die Gliederung für die bei Jacobus und Konrad gesammelten Exempel:47 Es ist damit Struktur, Argument und Erzählung zugleich und steht so in rhetorisch-narrativer Funktionalität. Dies kommt auch im Exempel selbst zum Tragen, das mehrmals von Binnenerzählungen unterbrochen wird. Als etwa Evilmerodach sich nach Erlernen des Schachspiels bei Xerxes erkundigt, warum dieser das Spiel erfunden habe, deckt Xerxes nicht nur seine didaktischen Gründe auf, sondern antwortet auch mit einem Exempel, in dem der maßlose Herrscher Alexander von einem weisen Ritter an die begrenzte Zeitlichkeit allen Machtstrebens erinnert wird. Konrad ergänzt: Dis und manig bîschaft mê wart geseit dem küng, den ich nand ê ich mein Evilmoradach; Xerses der meister zuo im sprach: ›her küng, ir sont wissen, das dis der sachen einiu was, darum ich dis spil erdâht:

|| 44 Vorlage für Jacobus ist das Breviloquium des Johannes von Wales (um 1260/1270), der das Evilmerodach-Exempel in kürzerer und teils anders besetzter Variante enthält. Vgl. VIDMANOVÁ, ANEŽKA: Die mittelalterliche Gesellschaft im Lichte des Schachspiels, in: ZIMMERMANN, ALBERT (Hrsg.): Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters. Halbbd. 1, Berlin [u. a.] 1979, S. 323–35, hier S. 325. 45 Vgl. für Hinweise MIETHKE, JÜRGEN: Art. Tyrann, -enmord, in: LexMA, Bd. 8 (1999), Sp. 1135–38, hier Sp. 1136. 46 Vgl. KANTOROWICZ, ERNST H.: The Kingʼs two Bodies. A Study in mediaeval political Theology, Princeton, NJ 1957, S. 45–55. 47 Vgl. FISCHER (Anm. 41), S. 118.

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das ir wurdent darzuo brâht, das ir gelerndent guote site und iuwer gewalt untugende mite.‹ (V. 1539–48) Diese und noch weitere Beispielerzählungen wurden dem König erzählt, den ich vorhin genannt habe; ich spreche von Evilmerodach. Der Meister Xerxes sprach zu ihm: ›Herr König, ihr sollt wissen, dass dies eine der Ursachen war, weswegen ich dieses Spiel erdacht habe: dass ihr dazu gebracht wurdet, dass ihr angemessenes Verhalten lerntet und eure Herrschaft Untugend miede.‹

3.3 Tyrann und alte Frau Ein in Antike wie Mittelalter weit verbreitetes Exempel48 erzählt folgende Geschichte: Das Land Syrakus leidet unter den Grausamkeiten des Tyrannen Dionysius, alle Einwohner hoffen auf den Fall des ungerechten Herrschers. Eine alte Frau allerdings betet für dessen Gesundheit. Als Dionysius davon hört, ruft er sie zu sich und fragt, womit er dies verdient habe. Die alte Frau erklärt, sie habe schon als Kind unter einem Tyrannen gelitten, als dieser jedoch gestorben sei, wäre sein Nachfolger noch schlimmer gewesen. Und als dessen Regime unterging, sei Dionysius gekommen, abermals grausamer als die Tyrannen vor ihm. Nun habe sie Angst vor dem, der nach Dionysius kommen werde. Der Tyrann Dionysius schämt sich daraufhin, derartige Kühnheit zu bestrafen. Soweit das Exempel in der Version des Valerius Maximus, der die Erzählung in seinen Facta et dicta memorabilia (6.2.ext.2) unter den Punkt libere dicta subsumiert. Der Kontext ›Freiheit‹ wird ebenfalls von Johannes von Salisbury dem Exempel vorangestellt, der sich im Policraticus (lib. VII, c. 25) relativ eng an die Fassung des Valerius anlehnt, ähnlich wie auch Thomas von Aquin (De regno ad regem Cypri, I,6).49 Letzterer führt die Erzählung allerdings an einem der diffizilsten Punkte seiner politischen Schrift De regno ad regem Cypri an: der Frage, was zu tun sei, wenn die beste Herrschaftsform (laut Thomas die Einzelherrschaft, also das Königtum) zu kippen drohe, da ebendieser Einzelherrscher sich als Tyrann erweist. Thomas führt dazu eingangs Gründe auf, warum man den Tyrannen ertragen solle (die Revolte könnte scheitern und der Tyrann würde noch wütender; man könnte sich nach der Absetzung zerstreiten; oder derjenige, der den Tyrannen absetzt, wird noch grausamer) und führt dazu das Exempel als Argument an. Thomas legitimiert das antike Exempel dabei in christlicher Perspektive durch die Addition eines Satzes aus den Petrusbriefen: || 48 Vgl. zur Verbreitung TRÜMPY, HANS: Gebet für den Tyrannen, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 5 (1987), Sp. 803–05, hier Sp. 803. 49 Vgl. zur politischen Konzeption bei Thomas, besonders vor dem Hintergrund seiner Aristotelesrezeption, die grundlegende Untersuchung von SCHMIDT, HANS JOACHIM: König und Tyrann. Das Paradox der besten Regierung bei Thomas von Aquin, in: BURGARD, FRIEDHELM [u. a.] (Hrsg.): Liber amicorum necnon et amicarum für Alfred Heit. Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte und geschichtlichen Landeskunde, Trier 1996 (Trierer Historische Forschungen 28), S. 339–57.

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»Denn das ist Gnade, wenn jemand um des Gewissens willen vor Gott Übel erträgt und Unrecht leidet« (1 Petr 2,19).50 Diese Uminterpretation, welche die alte Frau geradezu zur Märtyrerin stilisiert, scheint aber dennoch nur auf den Einzelfall zu verweisen und kein normatives Handlungsmuster vorzugeben, erläutert Thomas doch abschließend die Möglichkeit, den Tyrannen bei allzu großem Machtmissbrauch abzusetzen, und führt dazu eine Reihe an römischen Herrschern an, die erfolgreich aus ihren Ämtern gedrängt wurden. Auf Argument und Gegenargument lässt Thomas (ganz im Sinne der Scholastik) die conclusio folgen, nach der man sich im Zweifelsfall immer bittend an Gott wenden müsse, der die Härte des Tyrannen in Milde verwandeln könne,51 was abermals implizit auf das Exempel von Tyrann und alter Frau anspielt. Von allen mittelalterlichen Versionen baut Thomas von Aquin das Exempel am deutlichsten in eine politische Diskussion ein. Die mittelhochdeutschen Bearbeitungen, wie etwa bei Konrad von Ammenhausen, modifizieren hingegen stärker die Erzählung an sich: In Konrads Schachzabelbuch (V. 12974–13035) ist die alte Frau die Ehegattin des Tyrannen, die sich für ihren Mann quält. Als dieser fragt, warum sie dies tue, gibt sie an, dass ihre vorherigen Ehemänner sie ebenfalls schlecht behandelt hätten, Dionysius aber noch schlimmer sei und sie daher Angst vor ihrem nächsten Ehemann habe. Konrad behält die basale Erzählstruktur bei, inszeniert aber kein dezidiert politisches Modell, sondern ein familiäres, in dem der Gewaltherrscher sich als Ehetyrann erweist.52 In all diesen Varianten setzt das Exempel die Konstellation aus ›Tyrann und Weisem‹ aber noch einmal in eine neue Opposition: Kontrastiert wird der Mächtige mit einem Archiv an Erfahrung, das hilft, aus den Ereignissen der Vergangenheit eine Schlussfolgerung für die Zukunft zu ziehen. Die alte Frau argumentiert strikt induktiv: Aus der Reihung von drei immer schlechter werdenden Herrschern folgt die Erkenntnis, dass der nächste noch schlimmer werden muss. Basis dafür ist ein Reservoir an Erfahrung, das in der Rhetorik traditionell den Ausgangspunkt für Sprichworte und Argumente aus dem Bereich des common sense bildet: historia magistra vitae, so der damit verbundene Topos. Die Bitte der alten Frau für die Gesundheit des Tyrannen wirkt jedoch auf den ersten Blick widersprüchlich und »kontraintuitiv«53 und erweist || 50 De regno ad regem Cypri, I,6: Docet enim nos Petrus ›non solum bonis et modestis, uerum etiam dyscolis dominis reuerenter subditos esse: hec est enim gratia, si propter conscientiam Dei sustineat quis tristitias patiens iniuste.‹ 51 Ebd.: Quod si omnino contra tyrannum auxilium humanum haberi non possit, recurrendum est ad regem omnium Deum qui est ›adiutor in opportunitatibus, in tribulatione.‹ Eius enim potentie subest ut cor tyranni crudele conuertat in mansuetudinem [...]. 52 Auch Johannes von Salisbury betont im Policraticus, dass man im privaten, das heißt im familiären Rahmen Tyrann sein könne, nicht nur im Staat, vgl. dazu NEDERMAN (Anm. 16), S. 266. Konrads Vorlage, das Schachbuch des Jacobus de Cessolis, enthält das Exempel in der Version des Valerius Maximus. Eventuell hat Konrad das Latein seiner Vorlage hier missverstanden. 53 So FRIEDRICH, UDO: Mythische Narrative und rhetorische Entscheidungskalküle im Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach, in: QUAST, BRUNO [u. a.] (Hrsg.): Mythen und Narrative des Entscheidens, Göttingen 2019 (Kulturen des Entscheidens 3), S. 23–45, hier S. 27.

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sich nur ex post als eigentliche Pointe der Erzählung. Erst in der Erklärung der Frau, die wohl nicht zufällig schon die narrative Basisstruktur einer Geschichte bzw. Biographie annimmt – »ich litt stark, ich leide stärker, ich könnte noch stärker leiden«54 – zeigt sich eine Tiefendimension der Erfahrung, die aus der Perspektive der alten Frau dem Tyrannen Dionysius seinen historischen Platz anzeigt. Argumentiert der Philosoph Xerxes noch synchron, indem er dem Tyrannen Evilmerodach das ihn umgebende politische Modell verdeutlicht, so argumentiert die alte Frau in diachroner Linie: Die Ausmaße der Grausamkeit des Dionysius ergeben sich erst in Relation zu seinen Vorgängern. Beide aber arbeiten indirekt und zeigen so neue Möglichkeiten auf, den Tyrannen zu bessern: der Philosoph durch das Schachspiel, die alte Frau durch eine historische Perspektive, die sich aus individueller Erfahrung ergibt. Die Entscheidung des Dionysius, die alte Frau nicht zu bestrafen, zeigt dann auch den Geltungsanspruch einer Rhetorik auf, die mit dem Rekurs auf Vergangenheit über ein schlagkräftiges Argument der Erfahrung verfügt. Das Exempel plädiert so auch nur vordergründig für eine Duldung des Tyrannen, eigentlich aber für dessen Mäßigung im Angesicht einer historischen Perspektive. Es ist somit wohl kein Zufall, dass gerade im Spätmittelalter, zu einer Zeit, in der politische Diskurse aufgrund der verstärkten Aristotelesrezeption immer präzisere Antworten auf die Frage entwerfen, wie man dem ungerechten Herrscher begegnen soll, häufig auf ebendieses Exempel zurückgegriffen wird.55

4 Fazit Alle hier angeführten Exempel basieren auf einer binären Unterscheidung, das heißt einer Differenz zwischen Machthaber und einer Figur, die zum Herrscher in Relation gesetzt wird. Indem aber ebendiese Figur modellierbar bleibt, also die aktantielle Position des ›Gegenparts zum Mächtigen‹ auf der Textoberfläche mit den Figuren Künstler, Philosoph, alter Frau usw. besetzt werden kann, integrieren die Exempel unterschiedliche kulturelle Kontexte in die Tyrannis-Diskussion. Historiographie, Naturkunde, Theologie und Spieltheorie entwerfen das Verhältnis von Tyrannis und Weisheit je neu und zeigen so einerseits verschiedene Facetten der Grausamkeit des Herrschers, andererseits aber auch unterschiedlich gestaltete Versuche, ebendiese zu überwinden. Dass dann zudem einem einzelnen Exempel, wie etwa der Erzählung von Dionysius und der alten Frau, in verschiedenen Kontexten divergierende Aussagen zugestanden werden, verkompliziert den Befund nochmals. || 54 FRIEDRICH (Anm. 53), S. 27. 55 Vgl. dazu MIETHKE (Anm. 45), Sp. 1137. Die zahlreichen Überlieferungen des Exempels zeigen, dass häufig anstelle von Dionysius ein beliebiger (meist der lokale) Herrscher eingesetzt werden kann, vgl. TRÜMPY (Anm. 48), Sp. 803.

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Es sollte damit darauf aufmerksam gemacht werden, dass kleine Erzählformen in der Diskussion um Tyrannis eng in die argumentativen Strukturen ihres jeweiligen Kontextes eingebunden werden. Erst ein genauer Blick auf Erzählung und Auslegung einerseits, Kontext und Argumentationsführung andererseits zeigt das rhetorische Potenzial der Exempel auf. Die ›Mächtiger und Weiser‹-Kurzerzählungen fungieren in Antike und Mittelalter als historisches Archiv, das bestimmte Formen der Tyrannis für das kollektive Gedächtnis bewahrt, gleichzeitig aber auch Beispiele der Auseinandersetzung mit dem gewalttätigen Herrscher offeriert und heute Aufschluss über politische Vorstellungwelten der Vormoderne bietet.

| II Tyrannenbilder im politischen Konflikt

Christian Stadelmaier

Der Tyrann bei Walahfrid Strabo – ein programmatisches Leitmotiv? 1 Einleitung In seinem Gedicht De imagine Tetrici (829) beschreibt Walahfrid Strabo den Ostgotenkönig Theoderich ganz in der kirchlich-gelehrten Tradition als häretischen Tyrannen. Maßgeblich sind dabei die ihm zugeschriebenen Charaktereigenschaften avaritia und superbia. Des Weiteren ist in diesem Zusammenhang der Umstand zentral, dass Theoderich der homöischen Häresie anhängig war.1 Bei einer vergleichenden Betrachtung von Walahfrids hagiographischen Werken fällt auf, dass der Autor auch andernorts das Motiv des Tyrannen mit den genannten Charakteristika verwendet: In seinen Viten der Heiligen Gallus und Otmar aus den 830er-Jahren werden die beiden vom fränkischen

|| 1 Benutzte Ausgabe: Walahfridi Strabi carmina, 23: Versus in Aquisgrani palatio editi anno Hludowici imperatoris XVI. De imagine Tetrici, in: DÜMMLER, ERNST (Hrsg.): Poetae Latini aevi Carolini (II), Berlin 1884 (MGH Poetae 2), S. 370–78, hier die unten in Abschnitt 2.1 zitierten Stellen. Im Folgenden: Walahfrid, De imagine Tetrici. Vgl. ergänzend auch die jüngere Edition von HERREN, MICHAEL W.: The »De imagine Tetrici« of Walahfrid Strabo: Edition and Translation, in: The Journal of Medieval Latin 1 (1991), S. 118–39. Ferner ist noch auf eine ältere Edition zu verweisen: DÄNTL, ALOIS: Walahfrid Strabos Widmungsgedicht an die Kaiserin Judith und die Theoderichstatue vor der Kaiserpfalz zu Aachen, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 52 (1930), S. 1–38. Im Folgenden eigene Übersetzungen. Vgl. aufgrund etwaiger Ähnlichkeiten neben den Übersetzungen in den angeführten Ausgaben auch die folgenden Übersetzungen: HOMEYER, HELENE: Walahfrids Gedicht über das Theoderich-Denkmal in Aachen, in: BLUME, HORST-DIETER/MANN, FRIEDHELM (Hrsg.): Platonismus und Christentum. FS Heinrich Dörrie, Münster 21985 (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 10), S. 106–17, hier S. 109–17; THÜRLEMANN, FELIX: Die Bedeutung der Aachener Theoderich-Statue für Karl den Großen (801) und bei Walahfrid Strabo (829). Materialien zu einer Semiotik visueller Objekte im frühen Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 59 (1977), S. 25–65, hier S. 46f., 50f., 54 und 58f. Zu den oben im Text angesprochenen Aspekten vgl. z. B. GOLTZ, ANDREAS: Barbar – König – Tyrann. Das Bild Theoderichs des Großen in der Überlieferung des 5. bis 9. Jahrhunderts, Berlin/New York 2008 (Millennium-Studien zur Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr./Millennium Studies in the Culture and History of the First Millennium C.E. 12), S. 601 und 603; RAFF, THOMAS: Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, Münster [u. a.] 22008 (Münchner Beiträge zur Volkskunde 37), S. 163–65; SMOLAK, KURT: Bescheidene Panegyrik und diskrete Werbung: Walahfrid Strabos Gedicht über das Standbild Theoderichs in Aachen, in: ERKENS, FRANZ-REINER (Hrsg.): Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Akten des 8. Symposiums des Mediävistenverbandes, Leipzig 15.–18. März 1999, Berlin 2001, S. 89–110, hier vor allem S. 92 und 94; THÜRLEMANN (oben), S. 49. Herzlichen Dank möchte ich an dieser Stelle Frau Monika Gerundt aussprechen, die das Manuskript des vorliegenden Aufsatzes korrekturgelesen hat. Manuskriptabschluss: Juli 2019. Seitdem erschienene Publikationen konnten nicht mehr berücksichtigt werden. https://doi.org/10.1515/9783110752373-013

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König Pippin in Alemannien Mitte des 8. Jahrhunderts eingesetzten Statthalter Warin und Ruthard aufgrund von Angriffen auf das Kloster St. Gallen als tyrannisch handelnde Akteure dargestellt, wobei es auch in diesem Fall die Habgier (avaritia) ist, die als ausschlaggebender Charakterzug die Tyrannei definiert.2 In der Gallusvita tituliert Walahfrid den Konstanzer Bischof Sidonius aufgrund seiner Unterstützung der Missetaten der Grafen ebenfalls als Tyrannen. Auch in diesem Fall ist es die Habgier, die das Tyrannentum determiniert. Dies wird durch eine ihm unterstellte superbia ergänzt.3 Während die thematisierten Aspekte in De imagine Tetrici stark rezipiert und von unterschiedlichen Seiten untersucht worden sind,4 verwundert es, dass die Forschung

|| 2 Benutzte Ausgabe der Gallusvita: Vita Galli auctore Walahfrido, in: KRUSCH, BRUNO (Hrsg.): Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici (II), Hannover/Leipzig 1902 (MGH SS rer. Merov. 4), S. 280–337, hier die unten in Abschnitt 2.1, zitierten Stellen. Vgl. ergänzend folgende Editionen: Walahfrid Strabo: Leben des heiligen Gallus, in: DIRLMEIER, CAMILLA (Übers.): Quellen zur Geschichte der Alamannen von Marius von Avenches bis Paulus Diaconus, durchgesehen und mit Anm. versehen von KLAUS SPRIGADE, Sigmaringen 1979 (Quellen zur Geschichte der Alemannen 3 = Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Kommission für Alamannische Altertumskunde. Schriften 5), S. 34–67 (mit Übersetzung); Walahfrid Strabo: Vita sancti Galli/Das Leben des heiligen Gallus, Lat./Dt., übers. von FRANZISKA SCHNOOR, Anm. und Nachwort von ERNST TREMP, Stuttgart 2012 (RUB 18934), S. 7–149 (mit Übersetzung). Benutzte Ausgabe der Otmarvita: Walafridi Strabonis vita S. Otmari, hrsg. von ILDEFONS VON ARX, in: PERTZ, GEORG HEINRICH (Hrsg.): Scriptores rerum Sangallensium. Annales, chronica et historiae aevi Carolini, Hannover 1829 (MGH SS 2), S. 41–47. Vgl. ergänzend folgende Editionen: Leben des heiligen Abtes Otmar, in: DIRLMEIER, CAMILLA (Übers.): Quellen zur Geschichte der Alamannen von Marius von Avenches bis Paulus Diaconus, durchgesehen und mit Anm. versehen von KLAUS SPRIGADE, Sigmaringen 1979 (Quellen zur Geschichte der Alemannen 3 = Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Kommission für Alamannische Altertumskunde. Schriften 5), S. 68–73 (mit Übersetzung). Im Folgenden: Leben Otmar. Im Folgenden eigene Übersetzungen der zitierten Stellen aus beiden Heiligenviten. Vgl. aufgrund etwaiger Ähnlichkeiten neben den Übersetzungen in den bereits angeführten Ausgaben beider Viten auch die folgende Übersetzung der Otmarvita: Über das Leben des heiligen Abtes Otmar, in: DUFT, JOHANNES (Übers./Hrsg.): Die Lebensgeschichten der heiligen Gallus und Otmar, aus den lateinischen Viten, St. Gallen/Sigmaringen 21990 (Bibliotheca Sangallensis 9), S. 57–68. Zur Datierung der Gallus- und Otmarvita siehe unten, Abschnitt 2.1. Zu Warins und Ruthards erwähnter Funktion als Statthalter in der Alemannia und der zeitlichen Verortung vgl. ZETTLER, ALFONS: Geschichte des Herzogtums Schwaben, Stuttgart 2003, S. 61, und auch DERS.: Karolingerzeit, in: SCHAAB, MEINRAD [u. a.] (Hrsg.): Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Erster Band: Allgemeine Geschichte. Erster Teil: Von der Urzeit bis zum Ende der Staufer, Stuttgart 2001 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg), S. 297–380, hier S. 319f. Warin und Ruthard werden in der Literatur auch als »die Beauftragten König Pippins« bezeichnet, so BORGOLTE, MICHAEL: Geschichte der Grafschaften Alemanniens in fränkischer Zeit, Sigmaringen 1984 (Vorträge und Forschungen. Sonderband 31), S. 252f. 3 Siehe die unten in Abschnitt 2.1 zitierten Stellen. 4 Vgl. dazu HOMEYER (Anm. 1), S. 106, mit einer Auswahl älterer Literatur in Anm. 1. Vgl. darüber hinaus die oben in Anm. 1 genannten Forschungsarbeiten sowie BREDEKAMP, HORST: Theoderich als König der Aachener Thermen, in: Stiftung Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Kaiser und Kalifen. Karl der Große und die Mächte am Mittelmeer um 800, Darmstadt 2014, S. 278–89; GODMAN, PETER: Louis ›the Pious‹ and his Poets, in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 239–89, hier S. 274–86;

Der Tyrann bei Walahfrid Strabo – ein programmatisches Leitmotiv? | 259

die genannten Gesichtspunkte in den Heiligenviten in Bezug auf die narrative Motivik und damit verbundene Diskurse ihrer Entstehungszeit bisher kaum systematisch beachtete.5 Außerdem wurden die Viten und das Gedicht immer nur isoliert betrachtet und die intertextuellen Bezüge, die durch das Tyrannenmotiv evident sind, nicht in den Blick genommen. Dies erstaunt aufgrund der Tatsache, dass die Tyrannei und vor allem das Laster der Habgier gerade in der Karolingerzeit diskutiert wurden.6 In Anbetracht dessen stellt sich die zentrale Frage, inwiefern der Tyrann mit den ihm zugewiesenen Eigenschaften ein programmatisches Leitmotiv im Schaffen Walahfrids darstellt und wie dies aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu bewerten ist. Grundsätzlich muss deshalb erörtert werden, wer aus welchen Gründen und zu welchem Zweck als Tyrann dargestellt wird. Was intendiert Walahfrid damit? Inwiefern ist der Tyrann mit seinen Eigenschaften ein (narratives) Modell Walahfrids? In welchen Diskursen der Karolingerzeit ist dieses anzusiedeln? Gibt es spezifische historische Hintergründe für Walahfrids Ausführungen? Stellt er Bezüge zu anderen Entwicklungen seiner Zeit her? Im Folgenden werden daher zunächst die einschlägigen Quellenstellen präsentiert, worauf eine Einordnung des Tyrannenmotivs bei Walahfrid vorgenommen wird (Abschnitt 2). Auf dieser Basis wird im Anschluss daran den eben formulierten Detailfragen nachgegangen (Abschnitt 3).

|| HERREN, MICHAEL W.: Walahfrid Strabo’s De Imagine Tetrici: an Interpretation, in: NORTH, RICHARD/ HOFSTRA, TETTE (Hrsg.): Latin Culture and Medieval Germanic Europe. Proceedings of the First Germania Latina Conference held at the University of Groningen, 26 May 1989, Groningen 1992 (Mediaevalia Groningen 11 = Germania Latina 1), S. 25–41; NOBLE, THOMAS F. X.: Images, A Daydream, and Heavenly Sounds in the Carolingian Era: Walahfrid Strabo and Maura of Troyes, in: DE NIE, GISELLE/NOBLE, THOMAS F. X. (Hrsg.): Envisioning Experience in Late Antiquity and the Middle Ages. Dynamic Patterns in Texts and Images, Farnham/Burlington 2012, S. 23–45, hier S. 25–32. 5 Entsprechende Ansätze verfolgen z. B. in unterschiedlichem Ausmaß: INNES, MATTHEW: Property, Politics and the Problem of the Carolingian State, in: POHL, WALTER/WIESER, VERONIKA (Hrsg.): Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven, Wien 2009 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften 386 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), S. 299–313, hier S. 307 und 311 mit Anm. 54, und auch mit Bezügen zur Entstehungszeit DIEM, ALBRECHT: Die »Regula Columbani« und die »Regula Sancti Galli«. Überlegungen zu den Gallusviten in ihrem karolingischen Kontext, in: SCHNOOR, FRANZISKA [u. a.] (Hrsg.): Gallus und seine Zeit. Leben, Wirken, Nachleben, St. Gallen 2015 (Monasterium Sancti Galli 7), S. 65–97, hier S. 76–79, und allgemein zur narrativen Ausgestaltung S. 74f. Verschiedene Anpassungen der Texte beziehungsweise der hier zugrundegelegten Textstellen Walahfrids an Belange ihrer Entstehungszeit und damit verbundene Bezüge zu ihrer historischen Gegenwart sind von der Forschung bereits erkannt und thematisiert worden. Siehe dazu unten, Abschnitt 2.1, und ausführlich Abschnitt 3.2. 6 Siehe dazu unten, Abschnitt 2.2.

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2 Die Quellenstellen und ihre Einordnung 2.1 Die Quellenstellen In Walahfrids 829 in Dialogform verfasstem Gedicht De imagine Tetrici ist die gängige negative Darstellung des ostgotischen Königs Theoderich zentral. Die kritische Darstellung Theoderichs entwickelt Walahfrid aus der Betrachtung des Reiterstandbildes des Königs in Aachen:7 Bereits eingangs wird Theoderich (Tetricus) als avarus bezeichnet, der viel Besitz anhäufte (V. 30f.). Dann befasst sich Walahfrid in Bezug auf das Reiterstandbild mit Theoderichs Hochmut, indem er ihm unterstellt, dass er selbst den Befehl gegeben habe, die simulacra, also die Reiterstatue, darzubringen (V. 40f.),8 quod saepe superbia dictat (V. 41: »was der Hochmut oft diktiert«). Kurz darauf führt Walahfrid Theoderich dann als Tyrannen ein. Auf die Feststellung [c]ernimus aerias simul adventare columbas, / Terque die exorta, media et vergente venire (V. 46f.: »Wir sehen gleichzeitig, dass himmlische Tauben erscheinen und dass sie dreimal am Tag, am Morgen, am Mittag und abends kommen«), wird erwidert: Nonne vides humiles saevos quasi amare tyrannos / Non ex corde tamen, sed enim pro temporis huius / Pace (V. 49–51: »Siehst du nicht, dass die Demütigen [also die Tauben, C. S.] die schrecklichen Tyrannen gewissermaßen lieben, doch nicht aus dem Herzen, jedoch aber für den Frieden des Augenblicks«). Dann macht Walahfrid die Habsucht des Tyrannen am Beispiel der Statue fest:9 Fulget avaritia exornatis aurea membris (V. 60: »Habsucht blitzt von den golden ausstaffierten Gliedern«). Die Habsucht wird nachfolgend weiter thematisiert und mündet in ein programmatisches Horaz-Zitat:10 Semper ava-

|| 7 Vgl. dazu und im Folgenden z. B. auch in Bezug auf die Materialien des Reiterstandbildes RAFF (Anm. 1), S. 163–66. Vgl. des Weiteren BREDEKAMP (Anm. 4), S. 280f., GOLTZ (Anm. 1), S. 601 und 603, und jüngst differenzierend zur Frage, ob Walahfrid das Reiterstandbild mit Theoderich identifizierte HELLGARDT, ERNST: Agnellus von Ravenna und Walahfrid Strabo zum Reiterstandbild Theoderichs des Großen, in: BAUER, ALESSIA/PESCH, ALEXANDRA: Hvanndalir – Beiträge zur europäischen Altertumskunde und mediävistischen Literaturwissenschaft. FS Wilhelm Heizmann, Berlin 2018 (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsbände 106), S. 135–75, hier S. 157f. Eine ausführliche Analyse der Kritik am Reiterstandbild, auf die auch für das Folgende zu verweisen ist, bei SMOLAK (Anm. 1), hier vor allem S. 92–98. Vgl. auch THÜRLEMANN (Anm. 1), S. 39f. (Datierung/Dialogform) und 49 (Kritik an Theoderich). Zu verweisen ist auch für das Folgende auf THÜRLEMANNs textimmanente Interpretation des Gedichts (ebd., S. 45–63). Ferner sind die Interpretationen von GODMAN (Anm. 4), S. 274–85, und HERREN (Anm. 4) zu beachten. 8 Vgl. ÖNNERFORS, ALF: Philologisches zu Walahfrid Strabo, in: Mittellateinisches Jahrbuch 7 (1972), S. 41–92, hier S. 83f., der in Bezug auf eine andere Stelle im Gedicht simulacra als poetischen Plural deutet und weiter erwähnt, dass Walahfrid auch in der oben im Text besprochenen Stelle den Plural simulacra für das Objekt gebraucht. Demnach ist simulacra auch hier als poetischer Plural zu interpretieren. 9 Vgl. RAFF (Anm. 1), S. 164, und auch HELLGARDT (Anm. 7), S. 161, sowie HERREN (Anm. 4), S. 28. 10 Vgl. Walahfrid, De imagine Tetrici (Anm. 1), S. 372, Anm. 6, und RAFF (Anm. 1), S. 164f. mit Anm. 461.

Der Tyrann bei Walahfrid Strabo – ein programmatisches Leitmotiv? | 261

rus eget (V. 68: »Der Habgierige leidet immer Not«). Daraufhin findet wieder die superbia Erwähnung (V. 71). In Gegenüberstellung mit Ludwig dem Frommen entlarvt Walahfrid Theoderich schließlich nochmals als Tyrannen: Tu bonitate places, aliique tyrannide gaudent (V. 98: »Du gefällst durch Güte, andere haben Freude an der Tyrannei«). Dementsprechend stellt Walahfrid Ludwig, so eine gängige Interpretation, als frommen christlichen Herrscher und damit als Gegenpol zu Theoderich dar.11 Ludwig soll also gerühmt werden, was über den konstruierten Gegensatz zu Theoderich erzielt wird.12 Dazu wird letzterer »zur Epiphanie von Lastern oder einer Ausdrucksform des Bösen schlechthin, der sich gegen Adel und Kirche erheben will«.13 MAYKE DE JONG hat vor einiger Zeit die Frage der Herrscherkritik zur Zeit Ludwigs auch unter kritischer Beachtung bisheriger Thesen zum Gedicht relativiert und diesen Punkt sowie das Gedicht in den Kontext der admonitio und den diesbezüglichen Diskurs gerückt.14 Dies wird durch den Umstand unterstützt, dass die avaritia bereits in der Admonitio generalis Karls des Großen in Bezugnahme auf die Bibel als Dienst an den Götzen bezeichnet und damit als von der christlichen correctio abweichend definiert wird (Kap. 65, S. 218, Z. 276–78).15 Gegen Ende des Gedichts konstatiert Walahfrid in De imagine Tetrici ebenfalls in Anlehnung an dieselben Bibelstellen (Eph 5,5 und Kol 3,5)16 im Abschnitt über den Erzkaplan am Hof, Hilduin (S. 376):17 Idola avarus habet (V. 218: »Der Habgierige hat Götzen«). Hilduins Darstellung als Götzendiener und die damit verbundenen Implikationen in Bezug auf die Habsucht mögen damit durchaus an jene Theoderichs erinnern.18 Die Interpretation MICHAEL W. HERRENs geht aufgrund des Ab-

|| 11 Vgl. GOLTZ (Anm. 1), S. 603f.; RAFF (Anm. 1), S. 163–65; SMOLAK (Anm. 1), S. 95–98; THÜRLEMANN (Anm. 1), S. 41f. 12 Vgl. GOLTZ (Anm. 1), S. 603f.; RAFF (Anm. 1), S. 163; SMOLAK (Anm.1), S. 95; THÜRLEMANN (Anm. 1), S. 41–43. 13 SMOLAK (Anm. 1), S. 94. 14 Vgl. DE JONG, MAYKE: The Penitential State. Authority and Atonement in the Age of Louis the Pious, 814–840, Cambridge 2009, S. 112–14. Bereits früher wurde der Aspekt der Herrscherkritik in De imagine Tetrici in Frage gestellt, so bei HOMEYER, HELENE: Zu Walahfrid Strabos Gedicht über das Aachener Theoderich-Denkmal, in: Studi Medievali, 3. Serie, 12 (1971), S. 899–913, hier S. 908f., und HOMEYER (Anm. 1), S. 107. Zur Interpretation des Gedichts als Herrscherkritik vgl. GODMAN (Anm. 4), S. 275. 15 Benutzte Ausgabe: Die Admonitio generalis Karls des Großen, hrsg. von HUBERT MORDEK [u. a.], Hannover 2012 (MGH Fontes iuris 16), S. 179–239 (mit Übersetzung). Zu den zugrundeliegenden Bibelstellen vgl. ebd., S. 219, Anm. 148. Zur Tradition der motivischen »Verbindung zwischen avaritia und idolatria« im Frühmittelalter und ihrer Rezeption in De imagine Tetrici EMMERICH, BETTINA: Geiz und Gerechtigkeit. Ökonomisches Denken im frühen Mittelalter, Stuttgart 2004 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 168), S. 199. 16 Benutzte Ausgabe: Biblia Sacra. Iuxta Vulgatam versionem, durchgesehen und mit kurzem kritischen Apparat vers. von ROBERT WEBER, von ROGER GRYSON vorb. Aufl. Stuttgart 52007. Vgl. zu Eph 5,5 Walahfrid, De imagine Tetrici (Anm. 1), S. 376, Anm. 15, und auch EMMERICH (Anm. 15), S. 199 mit Anm. 841. 17 Vgl. dazu auch HERREN (Anm. 4), S. 38. 18 So GODMAN (Anm. 4), S. 285. Zur Darstellung Hilduins im Gedicht ohne Querverbindung zur Darstellung Theoderichs vgl. TAYLOR, ANNA: Books, Bodies and Bones: Hilduin of St-Denis and the Relics

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schnitts insgesamt in eine andere Richtung, indem Ludwig der Fromme als falscher Mose gedeutet wird, da er das Reiterstandbild nicht entfernt.19 Nach HERREN hält Hilduin als falscher Aaron der Idolatrie Stand, während Ludwig seinen Hof von dem Übel der Idolatrie in Form der Statue, als goldenes Kalb gedeutet, eben nicht befreien kann.20 Er geht soweit, den Mose im Gedicht als Götzendiener zu deuten.21 Dabei muss jedoch Folgendes im Blick bleiben: Bereits früh im Gedicht wird Theoderich als »zu den ewigen Feuern« (V. 37: Ignibus aeternis) der Hölle verdammter Blasphemiker (Blasphemus dei) eingeführt (V. 36f.). Für die Reiterstatue verwendet Walahfrid, wie erwähnt, den Terminus simulacra. Simulacrum kann unter anderem mit Götzenbild übersetzt werden. So wird deutlich, dass unabhängig von der Stoßrichtung der Deutungen die Häresie als Abweichung von der Orthodoxie am Beispiel des Ketzers Theoderich und der ihn verkörpernden Statue von Walahfrid grundsätzlich als ein zentrales Problem dargestellt wird.22 Diese Überlegungen stellen die bisherigen Interpretationen nicht in Frage, sie führen aber dazu, die Bedeutung und die Implikationen des Tyrannenbilds und der ihm zugeschriebenen Attribute Hochmut und vor allem Habgier in der Karolingerzeit insgesamt und speziell bei Walahfrid weiter zu untersuchen. In seiner zwischen 834 und 838 entstandenen »Kurzfassung« der Vita Sancti Otmari, die auf einer nicht überlieferten Fassung des St. Galler Mönchs Gozbert basiert,23 berichtet Walahfrid Strabo über folgende Geschehnisse, die Ende der 750er-Jahre anzusiedeln sind:24 Die Grafen Warin und Ruthard, die in dieser Zeit mit der Verwaltung von ganz Alemannien betraut gewesen seien, hätten kirchlichen Besitz in ihrer Einflusssphäre ihrem Eigentum inkorporiert, weil sie – vom Teufel überredet – von einer als krankhaft beschriebenen Form der Habgier ergriffen wurden. Dabei hätten sie sich auch Besitz des Klosters St. Gallen angeeignet (Kap. 4, S. 43, Z. 13–17). Später in der Erzählung, im Kontext der hilfesuchenden Kontaktaufnahme Otmars mit Pippin, wird ihr Handeln von Walahfrid als »tyrannische Anmaßung« (Kap. 4, S. 43, Z. 19: tyrannicam […] praesumptionem) bezeichnet (Kap. 4, S. 43, Z. 18f.). In der 833/34 entstandenen Gallusvita macht Walahfrid die Vorgänge ebenfalls zum Thema, allerdings in leicht abgeänderter Form (Buch 2, Kap. 14, S. 322, Z. 31–S. 323, Z. 6), indem er die Habgier der Grafen durch den Terminus ›Raubsucht‹ (rapacitas) er-

|| of St Dionysius, in: AKBARI, SUZANNE CONKLIN/ROSS, JILL (Hrsg.): The Ends of the Body. Identity and Community in Medieval Culture, Toronto [u. a.] 2013, S. 25–60, hier S. 29f. 19 Vgl. HERREN (Anm. 4), S. 37–39, und diesen Thesen folgend NOBLE (Anm. 4), S. 30. 20 Vgl. ebd., S. 39. 21 Vgl. ebd., S. 120. 22 Vgl. dazu HOMEYER (Anm. 1), S. 107, und ergänzend HOMEYER (Anm. 14), S. 901; THÜRLEMANN, (Anm. 1), S. 49. 23 Leben Otmar (Anm. 2), S. 68. 24 Zur zeitlichen Verortung der Ereignisse vgl. ZETTLER 2001 (Anm. 2), S. 322, und ZETTLER, ALFONS: St. Gallen als Bischofs- und als Königskloster, in: Alemannisches Jahrbuch 2001/2002 (2003), S. 23–38, hier S. 33f.

Der Tyrann bei Walahfrid Strabo – ein programmatisches Leitmotiv? | 263

setzt (Buch 2, Kap. 14, S. 323, Z. 6).25 In der Gallusvita berichtet Walahfrid weiter, dass die Grafen, »um ihr Verbrechen der Tyrannei zu vermehren« (Buch 2, Kap. 15, S. 323, Z. 15f.: ut suae tyrannidis crimen augmentarent) den Konstanzer Bischof Sidonius anstachelten, das Kloster dem Bistum zu unterwerfen (Buch 2, Kap. 15, S. 323, Z. 16f.), was dieser getan habe (Buch 2, Kap. 15, S. 324, Z. 1f.). »Durch die Krankheit der Habgier« (Buch 2, Kap. 15, S. 234, Z. 5: per avaritiae morbum) habe er damit die Privilegierung des Klosters verletzt (Buch 2, Kap. 15, S. 234, Z. 5f.). Zu anderer Zeit habe Sidonius wiederholt versucht, das Kloster dem Bistum zu unterwerfen, wobei sein Handeln als Tyrannei bezeichnet wird. Die demütige Bitte des Churer Bischofs Tello, seine Angriffe auf die Brüder einzustellen, habe Sidonius hochmütig abgewiesen (Buch 2, Kap. 17, S. 324, Z. 21–27). Dieser kommt in der Folge, wie in einer längeren Episode ausführlich beschrieben wird, durch eine plötzliche und heftige Krankheit ums Leben und wird damit seiner gerechten Strafe zugeführt (Buch 2, Kap. 17, S. 325, Z. 1–12). Walahfrid definiert also die folgenden Sachverhalte als tyrannisch: Zum einen ist es die gewaltsame Entfremdung von Besitztümern des Klosters St. Gallen aus Habgier durch die Grafen und zum anderen das Paktieren des Bischofs von Konstanz mit den Grafen, mit dem Ziel, St. Gallen dem Bistum Konstanz zu unterwerfen. Letzteres geschieht aufgrund desselben Motivs sowie des Hochmuts des Bischofs. Quellenkritisch ist dabei auf Folgendes hinzuweisen: Der Abschnitt mit Sidonius fehlt in der Otmarvita vollständig.26 Weitere Abweichungen zwischen den zwei Viten bezüglich der geschilderten Vorgänge sind der Forschung bekannt.27 Daneben enthalten die untersuchten Abschnitte in den Viten offenbar unzutreffende und anachronistische Nachrichten.28 Beachtenswert im Zusammenhang mit den hier thematisierten Besitzentfremdungen ist ferner, dass ebenfalls bereits in der Admonitio generalis Karls des Großen die Beanspruchung fremder Ländereien als Ausdruck von Habgier disqualifiziert wird (Kap. 33, S. 198, Z. 141f.). PATRICK BRETERNITZ hat gezeigt, dass in Radberts von Corbie Epitaphium

|| 25 Zur Datierung der Vita vgl. z. B. TREMP, ERNST: Nachwort, in: Walahfrid Strabo: Vita sancti Galli/ Das Leben des heiligen Gallus, Lat./Dt., übers. von FRANZISKA SCHNOOR, Anm. und Nachwort von ERNST TREMP, Stuttgart 2012, S. 219–38, hier S. 225. »Den Stoff« des hier zitierten zweiten Buchs der Gallusvita »schöpfte« Walahfrid, so ebd., S. 227, insbesondere aus einem von Gozbert dem Jüngeren stammenden Mirakelbuch, wobei er diese Vorlage »stilistisch« umgestaltete. 26 Vgl. dazu TISCHLER, MATTHIAS M.: Der ottonische Heilige und sein karolingischer Heiliger. St. Wolfgang, St. Otmar und das Problem der historischen Wahrnehmungsfähigkeit im Frühmittelalter, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 112 (2001), S. 7–52, hier S. 14. 27 Vgl. zu der unterschiedlichen Ausgestaltung der thematisierten Stellen BORGOLTE, MICHAEL: Die Grafen Alemanniens in merowingischer und karolingischer Zeit. Eine Prosopographie, Sigmaringen 1986 (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 2), S. 233, und ausführlicher TISCHLER (Anm. 26), S. 13–15. 28 Siehe dazu detailliert die Beispiele unten, Abschnitt 3.2. Allgemein dazu z. B. mit Blick auf die Otmarvita: Leben Otmar (Anm. 2), S. 68.

264 | Christian Stadelmaier Arsenii die Entfremdung von kirchlichem Besitz als Sakrileg definiert wird.29 Dadurch und aufgrund des auf den ersten Blick vagen historischen Erzählrahmens der Viten erhalten die Berichte gerade durch den Gebrauch des Tyrannenmotivs in diesem Kontext eine Qualität, die Fragen jenseits der ereignisgeschichtlichen Dimension aufwerfen. Die Stellen zeigen plausibel, dass das Konzept ›Tyrannei‹, definiert vor allem durch Habgier und Hochmut, im Schaffen Walahfrids während seiner Phase am karolingischen Hof zwischen 829 und 838 Relevanz besessen hat.30 Gerade durch die Verwendung des identischen Tyrannenmotivs in diesen unterschiedlichen Texten mit ihren verschiedenen Betrachtungsgegenständen deutet sich bereits eine konzeptionelle Programmatik dieses Motivs an. Deshalb wird im weiteren Verlauf der Fokus auf die moralisch-theologischen und historisch-politischen Hintergründe des Entstehungszeitraums der Texte verlegt.31

2.2 Habgier, Hochmut und Tyrannis: Tradition, Rezeption und Innovation. Zur Einordnung des Tyrannenmotivs bei Walahfrid In einem Beitrag von 1971 befasst sich ROGER J. DUNKLE mit dem »Rhetorical Tyrant in Roman Historiography« im Zeitraum von der späten Republik bis in die Frühzeit des Imperiums.32 Im ersten Schritt, in dem er »the development of the rhetorical tyrant as a popular stereotype« nachzeichnet,33 konstatiert er, die »[a]varitia had been closely linked with the tyrant«, und stellt resümierend fest, es sei »quite clear that saevitia and avaritia are well established characteristics of the rhetorical tyrant along with vis, superbia, libido and crudelitas.«34 Die Vermittlung dieses antiken Tyrannenbilds erfolgte im Mittelalter in erster Linie durch Augustinus und Isidor von Sevilla.35 Habgier

|| 29 Vgl. BRETERNITZ, PATRICK: Ludwig der Fromme und die Entfremdung von Kirchengut. Beobachtungen zum Epitaphium Arsenii, in: UBL, KARL/ZIEMANN, DANIEL (Hrsg.): Fälschung als Mittel der Politik? Pseudoisidor im Lichte der neuen Forschung. Gedenkschrift Klaus Zechiel-Eckes, Wiesbaden 2015 (MGH. Studien und Texte 57), S. 187–206, hier S. 196. 30 Zu Walahfrids Aufenthalt am Hof vgl. HERREN (Anm. 1), S. 118, und TREMP (Anm. 25), S. 219f. 31 Das hat vor allem die ältere Forschung in Bezug auf De imagine Tetrici gemacht. Vgl. dazu kritisch zusammenfassend THÜRLEMANN (Anm. 1), S. 26f. 32 Vgl. DUNKLE, ROGER, J.: The Rhetorical Tyrant in Roman Historiography: Sallust, Livy and Tacitus, in: The Classical World 65 (1971), S. 12–20, hier zur zeitlichen Eingrenzung S. 12. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 15. Vgl. dazu neuerdings DOBSCHENZKI, JENNIFER VANESSA: Von Opfern und Tätern. Gewalt im Spiegel der merowingischen Hagiographie des 7. Jahrhunderts, Stuttgart 2015 (Wege zur Geschichtswissenschaft), S. 100. 35 Vgl. ebd., S. 110, und – mit Bezug auf Isidor und den Schwerpunkt der avaritia – NEWHAUSER, RICHARD: The Early History of Greed. The Sin of Avarice in Early Medieval Thought and Literature, Cambridge 2000 (Cambridge Studies in Medieval Literature 41), S. 107–10.

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und Hochmut zählen zum Lasterseptenar, das teilweise auf Johannes Cassian zurückgeht und in der Abwandlung Gregors des Großen im Mittelalter gängig wurde.36 In der merowingischen Hagiographie, so konnte JENNIFER VANESSA DOBSCHENZKI neuerdings zeigen, hat »das aus der Antike vermittelte Tyrannenbild auch [...] Anwendung« gefunden.37 So dienen hier Hochmut und Habgier als typische Charakteristika des Tyrannen zur Markierung von Gewaltakteuren, wobei die direkte Bezeichnung der mit diesen Charakteristika gekennzeichneten Personen als Tyrannen nicht zwingend zu sein scheint.38 Demnach bewegt sich Walahfrid in Bezug auf die thematisierten Quellenstellen zum einen durch diese Charakterisierung der Tyrannen und zum anderen durch die Verbindung der Eigenschaften Hochmut und vor allem Habgier mit der Tyrannei ganz klar in dieser literarischen Tradition.39 Er weitet die genannte Verbindung jedoch auf Grafen und Bischöfe aus, indem er ihnen tyrannisches Verhalten vorwirft und vor allem die Habgier neben dem Hochmut dafür verantwortlich macht. Damit stellt sich gerade hinsichtlich der Beispiele bei Walahfrid und angesichts der Ausweitung des Tyrannendiskurses auf andere gesellschaftliche Gruppen die Frage der Weiterentwicklung der (literarischen) Tradition in der Karolingerzeit. Des Weiteren ist die Ausprägung oder Verortung der Tradition speziell während der Regierungszeit Ludwigs des Frommen und damit einhergehenden Diskursen aufzuarbeiten. Beides ist notwendig, um Walahfrids Ansätze zeitgenössisch einordnen zu können. Dabei ist es gerade im Zusammenhang mit Walahfrid von Bedeutung, die begriffliche Verknüpfung im Blick zu behalten und zu untersuchen, ob und wann der direkte Zugriff auf die klassisch-antike Tradition der Tyrannendarstellung vollzogen wird, um zu klären, inwiefern Walahfrids Ansatz originell und innovativ ist. Auffallend für die Zeit Karls des Großen ist die Tatsache, dass vor allem die Habgier zumindest unter Mitbeachtung der superbia häufig thematisiert wird. Direkte wörtliche Bezüge zur Tyrannis sind dabei jedoch nicht zu greifen beziehungsweise werden in den Forschungsarbeiten nicht angesprochen.40 Während Gregor der Große noch der || 36 Vgl. DOBSCHENZKI (Anm. 34), S. 125, und auch DIESENBERGER, MAXIMILIAN: Predigt und Politik im frühmittelalterlichen Bayern. Arn von Salzburg, Karl der Große und die Salzburger Sermones-Sammlung, Berlin/Boston 2016 (Millennium-Studien zur Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr./ Millennium-Studies in the Culture and History of the First Millennium C.E. 58), S. 294. Ausführlich und differenziert dazu mit dem Schwerpunkt der avaritia NEWHAUSER (Anm. 35), S. 96–106. 37 DOBSCHENZKI (Anm. 34), S. 111. 38 Vgl. dazu die Beispiele ebd., S. 102–11, und ergänzend S. 125–27. 39 Dazu HOMEYER (Anm. 14), S. 906: »Dem Hraban-Schüler und Theologen Walahfrid waren natürlich auch die Ausführungen der Kirchenväter über die Laster geläufig, besonders die des Augustin und Gregors des Grossen«. Speziell in Bezug auf Theoderich muss auf den Entwurf seines negativen Bildes bei Boethius hingewiesen werden. Vgl. dazu THÜRLEMANN (Anm. 1), S. 35. Zu Bezügen zu Boethius in Walahfrids Gedicht vgl. GODMAN (Anm. 4), S. 278f.; HERREN (Anm. 4), S. 28; HOMEYER (Anm. 14), S. 904. 40 Vgl. dazu die zahlreichen von DIESENBERGER (Anm. 36), S. 294–317, und NEWHAUSER (Anm. 35), S. 113–21, zusammengetragenen Beispiele und Belege. Anzumerken ist, dass sich der Bedeutungsinhalt der Habgier von Autor zu Autor unterscheiden konnte. Vgl. dazu die Ausführungen zur Entwicklung der

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superbia eine essentielle, allen anderen Lastern übergeordnete Bedeutung zumaß, sprach Alkuin der Habsucht einen gewichtigen Rang zu.41 Demnach wird die Habgier im späten 8. und frühen 9. Jahrhundert in unterschiedlichen Quellengattungen in verschiedenen Zusammenhängen behandelt. MAXIMILIAN DIESENBERGER wies, um ein Beispiel herauszugreifen, kürzlich darauf hin, dass superbia und cupiditas in zahlreichen Predigten kritisch thematisiert werden.42 In diesem Kontext macht er auf den Umstand aufmerksam, dass Paulinus von Aquileia im Text seines Liber exhortationis den Grafen Erich von Friaul »vor den Gefahren der superbia, die Anfang, Ende und Grund aller Sünden sei«, mahnend warnt.43 Dabei wird die cupiditas der superbia beigeordnet. Letztlich »wird die avaritia im 9. Jahrhundert als die größte Bedrohung der sozialen Ordnung angesehen und ist ein wesentlicher Gegenstand der Sorge um die Sünder und der seelsorgerischen Verhinderung von Sünden«.44 In Bezug auf die literarischen Grundlagen der Habgier im 9. Jahrhundert geht RICHARD NEWHAUSER von einer »second rise of avarice« aus.45 Neu ist nun, dass die Problematik der avaritia alle gesellschaftlichen Gruppen betreffend betrachtet wird, wie er anhand von Smaragdus’ von Mihiel Fürstenspiegel Via regia, der an Ludwig adressiert ist, aufzeigt.46 So konstatiert NEWHAUSER für die Untersuchungszeit: »The task of correcting avarice and the other chief vices was not only important for those advising the nobility«, sondern blieb auch weiterhin »part of the instructional and pastoral work of the clergy dealing with the laity as a whole.«47 Diese »pastoral concerns« seien auch in Werken des Hrabanus Maurus, etwa in De institutione clericorum, zu greifen.48 Walahfrid selbst hat bereits in seiner Visio Wettini (827) dementsprechend vor allem die Habgier in Bezug auf Grafen, aber auch die Geistlichkeit thematisiert.49 || Begrifflichkeit ebd., S. 107–24, und ergänzend bei DIESENBERGER (Anm. 36), S. 294f. Des Weiteren wurden, so ebd., S. 293, »[i]m Zuge der verschiedenen Definitionsbemühungen dieser spezifischen Sünde [...] die lateinischen Begriffe avaritia und cupiditas von manchen Autoren unterschiedslos gebraucht, während andere durchaus die semantischen Unterschiede dazu nutzten, um verschiedene Aspekte der Habsucht zu bezeichnen.« Vgl. dazu auch die Abschnitte zur mittelalterlichen Entwicklung der Terminologie bei NEWHAUSER (Anm. 35), S. 107–24, vor allem S. 110–16. Es muss also immer im Einzelfall das semantische Feld der Begriffe beachtet werden. 41 Vgl. EMMERICH (Anm. 15), S. 194. Diese Entwicklung deutet sich schon im Verlauf des 8. Jahrhunderts bei Pirmin und Ambrosius Autpertus an. Vgl. dazu NEWHAUSER (Anm. 35), S. 113–16, sowie ausführlich und differenzierend zu Alkuin S. 118–121; NEWHAUSER, RICHARD: Avaritia and Paupertas. On the Place of the Early Franciscans in the History of Avarice, in: DERS. (Hrsg.): In the Garden of Evil. The Vices and Culture in the Middle Ages, Toronto 2005 (Papers in Mediaeval Studies 18), S. 324–48, hier S. 331. 42 Vgl. DIESENBERGER (Anm. 36), S. 81f. 43 Ebd., S. 82. 44 EMMERICH (Anm. 15), S. 206f. 45 Vgl. NEWHAUSER (Anm. 35), S. 121–24 (Zitat auf S. 121). 46 Vgl. ebd., S. 121–22. 47 Ebd., S. 122. Vgl. dazu auch DIESENBERGER (Anm. 36), S. 294. 48 NEWHAUSER (Anm. 35), S. 122. 49 Vgl. DE JONG (Anm. 14), S. 138f., und GODMAN (Anm. 4), S. 273 und 282.

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Die Quellenstellen in den Viten Walahfrids reflektieren diese Entwicklung, da hier nun auch Grafen und der Bischof von Konstanz in diesem Zusammenhang erscheinen. Damit spricht der Autor exakt auch diese Gruppen durch seine Exempel an. Nicht unterschlagen werden darf aber der Umstand, dass der Hochmut während der Regierungszeit Ludwigs immer noch eine zentrale Bedeutung hatte, wie sich etwa daran zeigt, dass die superbia in den bedeutenden Akten der Pariser Synode von 829 unter den zentralen Sünden subsumiert wird.50 Inwiefern wird nun aber auf das Konzept der Tyrannis in der Karolingerzeit eingegangen? HANS HUBERT ANTON hielt bereits 1968 fest: »Die christlich interpretierte Tyrannuslehre setzte sich im 9. Jahrhundert auf der ganzen Linie durch.«51 SUMI SHIMAHARA konstatiert für die Karolingerzeit: »Tyranny [...] is defined as abusive exercise of power no matter where it comes from: it could be royal or not, lay or clerical.«52 Abschließend resümiert sie in Bezug auf die karolingerzeitlichen Autoren, dass diese »pagan and patristic authorities with their own ethico-political norms and ideals« verknüpften und auf diese Weise einen neuen »discourse on tyranny« kreierten.53 SHIMAHARA hebt dabei das alleinige Regieren als Charakteristikum des karolingischen Tyrannentypus hervor, welcher »falls prey to vice, gives rise to scandal, undermines social stability, and chooses to forget that his power is coming from god, the only real king.«54 Das betrifft nicht nur »usurpers or cruel and unjust rulers«, sondern jeden machtmissbrauchenden Akteur, »either secular or ecclesiastical«, und gilt besonders für »the devil, as the head of a polity opposed to that of Christ.«55 Weiter hält sie fest: »This speaks to the kind of moralism that permeated political life in the Carolingian period, starting especially with the reign of Louis the Pious.«56 Es ist auffällig, dass dies exakt in der Zeit verortet wird, in der auch Walahfrid als Autor mit seinem Tyrannenkonzept in Erscheinung tritt. Es sind dementsprechend zwei zentrale Aspekte des Diskurses, die SHIMAHARA festhält und die bei Walahfrids Konzeption des Tyrannenmotivs oder des Motivs tyrannischen Verhaltens wesentlich sind: zum einen die Las|| 50 Vgl. PATZOLD, STEFFEN: Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts, Ostfildern 2008 (Mittelalter-Forschungen 25), S. 155. Zur großen Bedeutung der Akten der Pariser Synode vgl. z. B. ebd., S. 150 und 153, sowie HARTMANN, WILFRIED: Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien, Paderborn [u. a.] 1989 (Konziliengeschichte. Reihe A: Darstellungen), S. 182. 51 ANTON, HANS HUBERT: Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit, Bonn 1968 (Bonner historische Forschungen 32), S. 401. 52 SHIMAHARA, SUMI: Evil Lords and the Devil. Tyrants and Tyranny in Carolingian Texts, in: PANOU, NIKOS/SCHADEE, HESTER (Hrsg.): Evil Lords. Theories and Representation of Tyranny from Antiquity to the Renaissance, New York 2018, S. 119–36, hier S. 128. 53 Ebd., S. 135. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 135f. Für seine oben genannte These zur Durchsetzung des Tyrannuskonzepts im 9. Jahrhundert bringt ANTON (Anm. 51), S. 401, gerade Beispiele aus der Zeit Ludwigs des Frommen bei.

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teranfälligkeit des Tyrannen (vor allem die avaritia), zum anderen die Anwendung des Tyrannenkonzepts nicht nur auf den Herrscher oder Fürsten, sondern auch auf die Laien insgesamt und auf Geistliche, denen unkorrektes Verhalten vorgeworfen wird. Die tyrannisch handelnden Akteure sind nicht nur der König, sondern auch Grafen und ein Bischof. Ihr tyrannisches Verhalten entspringt in erster Linie dem Laster der Habgier und des Weiteren dem Laster der Hochmut. Der Umstand, dass Walahfrid gerade in der von NEWHAUSER als »second rise of avarice«57 bezeichneten Phase die Verknüpfung des Tyrannenbegriffs vor allem mit der Habgier aufgreift, an den Diskursen teilnimmt und sie gezielt durch ihre Rückbindung an eine ältere Tradition mitgestaltet, ohne sich jedoch in diesen Texten in besonderem Maß an weiteren Fragen und Definitionen zu den Begriffen abzuarbeiten, ist damit evident. Habgier und Hochmut werden auf den ersten Blick als schlichtweg tyrannisch definiert. Wie sind Walahfrids Ansätze in den zeitlichen Kontext einzuordnen? In Bezug auf die Tyrannei stellt SHIMAHARA fest, dass, beginnend mit der Regierungszeit Ludwigs des Frommen, »capitularies and acts of councils also make use of the root tyran-«.58 Hier finden sich dann tatsächlich Schnittstellen der Termini, die auch für die vorliegenden Ausführungen relevant sind. Eine kursive Durchsicht der Konzilsakten und Kapitularien aus der Zeit Ludwigs ergab zwei Funde, in denen die Tyrannei mit Habgier, nicht jedoch mit Hochmut, in Verbindung steht: Schon in der Ordinatio imperii Ludwigs von 817 wird die Habgier (cupiditas) nach weltlichem Besitz in Hinblick auf seine Söhne als ein potentieller Grund genannt, eine Tyrannei auszubilden (Kap. 10, S. 272, Z. 20–23).59 In den Konzilsakten des Pariser Konzils 829 wird in Bezug auf Streitigkeiten (iurgia) und Klagen (quaerimonia) von Seiten des Volks (populus) gefordert (Buch 2, Kap. 3, S. 653, Z. 6f.),60 dass der König dafür »die Habgier hassende [Personen, C. S.] bestimmt« (Buch 2, Kap. 3, S. 653, Z. 8: avaritiam odientes constituat). Diese Forderung wird im weiteren Verlauf mit einem Zitat aus dem Buch Exodus gefestigt (Buch 2, Kap. 3, S. 653f., Z. 19f.): Provide autem de omni populo viros potentes et timentes deum, [...] qui oderint avaritiam (Buch 2, Kap. 3, S. 653, Z. 20f.: »Ernenne nämlich aus dem ganzen Volk fähige und Gott fürchtende Männer, die [...] die Habgier hassen«). Später wird in einem Zitat des Isidor von Sevilla noch auf die Habgier in Bezug auf den guten Richter eingegangen (Buch 2, Kap. 3, S. 653, Z. 42–S. 654, Z. 5): Non infirmat iustitiam avaritiae flamma (Buch 2, Kap. 3, S. 654, Z. 5: »Er [der gute Richter, C. S.] schwächt die Gerechtigkeit nicht durch die Flamme der Habgier«). Als solche, so der || 57 NEWHAUSER (Anm. 35), S. 121. 58 SHIMAHARA (Anm. 52), S. 127. 59 Benutzte Ausgabe: Ordinatio imperii. 817, mense Iulio, in: BORETIUS, ALFRED (Hrsg.): Capitularia regum Francorum I, Hannover 1883 (MGH Capit. 1), Nr. 183, S. 270–73. Eigene Übersetzung. Dazu bereits in Bezug auf die Habgier »als Ursache der Tyrannis« ANTON (Anm. 51), S. 403, Anm. 192. 60 Benutzte Ausgabe: Concilium Parisiense. 829 mensis Iunii die 6, in: WERMINGHOFF, ALBERT (Hrsg.): Concilia aevi Karolini 1,2, Hannover/Leipzig 1908 (MGH Conc. 2,2), Nr. 50 D, S. 605–80. Im Folgenden eigene Übersetzungen.

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Text weiter, sollen nur integre Männer, duces und comites, in Frage kommen (Buch 2, Kap. 3, S. 654, Z. 8–10). Von ihnen wird unter anderem erwartet (Buch 2, Kap. 3, S. 654, Z. 11), neque ut populum Dei suum estiment aut ad suam gloriam sibi illum subiciant, quod non pertinet ad iustitiam, sed potius ad tyrannidem et iniquam potestatem (Buch 2, Kap. 3, S. 654, Z. 12–14: »dass sie das Volk Gottes nicht als für das ihrige halten und zu ihrem eigenen Ruhm sich dieses unterwerfen, was nicht zur Gerechtigkeit gehört, sondern vielmehr zur Tyrannis und ungerechten Herrschaft«). Die wörtliche Verbindung des Tyrannendiskurses mit der Problematik der Habgier findet sich damit schon in der Frühzeit der Herrschaft Ludwigs des Frommen in einem der zentralen Dokumente seiner Regierungszeit und in den bedeutenden Akten der Pariser Synode.61 Dass diese zentralen Quellen der Reichsgeschichte zur Zeit Ludwigs wie Walahfrids Texte Besitzentfremdung aus Habgier als tyrannisch bezeichnen und daneben Habgier ganz in der literarischen Tradition als zentrales Charakteristikum des Tyrannen definieren, ist beachtenswert. Besonders auffällig ist der Umstand, dass im zweiten Beispiel Grafen in diesem Kontext thematisiert werden, was eine weitere Gemeinsamkeit mit den Vitenstellen darstellt. Dies sind offenbar zwei der wenigen anderen Belege aus der Karolingerzeit, die explizit den Begriff der Tyrannei in Verbindung mit dem aufgeführten Charakteristikum nutzen. Daneben wird die Problematik des Hochmuts im Kontext der Tyrannei auch nur an wenigen weiteren Stellen abgehandelt. Hrabanus Maurus warnt beispielsweise in einem Schreiben an Ludwig den Frommen, das im Kontext der Konflikte mit seinen Söhnen zu verorten ist und in dem er demgemäß programmatisch das Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern erörtert,62 durch den Vergleich mit dem hochmütigen Tyrannen Nimrod davor, hochmütig und aufständisch gegen seine principes zu sein (Kap. 3, S. 407, Z. 30–33). Smaragdus von St. Mihiel definiert die superbia in seinem Kommentar zur Benediktsregel als das zentrale Kennzeichen der Tyrannei (Sp. 853D–854A; vgl. auch Sp. 919D),63 macht aber auch deutlich, dass jeder Hochmütige auf seine jeweils spezifische Art Tyrannei ausübe (Sp. 853D). || 61 Zum zentralen Stellenwert der Ordinatio imperii vgl. z. B. HARTMANN, MARTINA: Art. Ordinatio imperii, in: 2HRG, Bd. 4, 25. Lieferung (2017), Sp. 191f., hier Sp. 191; KASCHKE, SÖREN: Die Teilungsprojekte der Zeit Ludwigs des Frommen, in: DEPREUX, PHILIPPE/ESDERS, STEFAN (Hrsg.): La productivité d’une crise. Le règne de Louis de Pieux (814–840) et la transformation de l’Empire carolingien/Produktivität einer Krise. Die Regierungszeit Ludwigs des Frommen (814–840) und die Transformation des karolingischen Imperiums, Ostfildern 2018 (Relectio. Karolingische Perspektiven/Perspectives carolingiennes/ Carolingian Perspectives 1), S. 87–127, hier S. 93f.; KASTEN, BRIGITTE: Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit, Hannover 1997 (MGH. Schriften 44), S. 176. Verweise zur großen Bedeutung der Akten der Pariser Synode oben, Anm. 50. 62 Benutzte Ausgabe: Hrabani (Mauri) abbatis Fuldensis et archiepiscopi Moguntiacensis epistolae, hrsg. von ERNST DÜMMLER, in: DÜMMLER, ERNST/HAMPE, KARL (Hrsg.): Epistolae Karolini aevi (III), Berlin 1899 (MGH Epp. 5), S. 379–516, hier Ep. 15, S. 404–15. Vgl. zu den angesprochenen Aspekten PATZOLD (Anm. 50), S. 192. 63 Benutzte Ausgabe: Smaragdi abbatis commentaria in Regulam Sancti Benedicti, in: PL 102, 689A–932C. Vgl. dazu ANTON (Anm. 51), S. 402 mit Anm. 189 (»Superbia ist das allgemeine Signum

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Wenngleich es nur wenige Parallelstellen gibt, bewegt sich Walahfrid also mit seiner Verbindung von Tyrannei mit Habgier und Hochmut im Bezugsrahmen der anhängigen Diskurse und der theologisch-moralischen Grundsätze der Karolingerzeit. Walahfrid handelt aber insofern innovativ, indem er all dies nun auch in Dichtung und Hagiographie implementiert.

3 Kontexte, Intentionen, Bezüge und Hintergründe 3.1 correctio, admonitio und Gelehrsamkeit Wie gezeigt wurde, bestätigen und ergänzen die Beispiele Walahfrids zum einen die Thesen NEWHAUSERs und SHIMAHARAs zur Entwicklung des Habgier- und Tyrannendiskurses, zum anderen werden durch ihre Verknüpfung bei Walahfrid unter Einbezug der superbia und der damit verbundenen Aspekte weitere Perspektiven eröffnet. Besonders die Bezüge zu den oben zitierten Ausschnitten aus der Ordinatio imperii und vor allem den Konzilsakten der Pariser Synode, in denen, so STEFFEN PATZOLD, eine »›Grundordnung‹ für das christliche Reich« entwickelt wurde,64 wofür die correctio konzeptionell den Bischöfen vom Kaiser als Aufgabe aufgetragen worden war,65 zeigen eindrucksvoll Folgendes: Die Akteure in den untersuchten Quellenstellen Walahfrids agieren gegen die intendierte kirchlich-politische Ordnung, weil sie den Lastern der Habgier und der Hochmut verfallen sind oder dementsprechend handeln. Aus diesem Grund ist ihr Handeln als tyrannisch beziehungsweise sind die Akteure als Tyrannen zu bezeichnen. Die bereits erwähnte »task of correcting avarice«,66 die NEWHAUSER als substantielles Merkmal der »second rise of avarice« definiert,67 macht die Platzierung der »task« und damit der Diskussion über die Habgier im correctio-Kontext greifbar. Des Weiteren ist der Umstand zu beachten, dass alle falsch handelnden Akteure in der Karolingerzeit als Tyrannen abqualifiziert werden konnten.68 Damit ist auch der Tyrannendiskurs eindeutig im Kontext der karolingerzeitlichen correctio zu betrachten, und es waren, so RICHARD CORRADINIs konzise Formulierung, seit Alkuin Intellektuelle, die »an active and integrative role in the programmatic correctio of Carolingian society« einnahmen.69 Besonders in der Regierungszeit Ludwigs des Frommen kam der correctio || der Tyrannis«). SHIMAHARA (Anm. 52), S. 126, sieht Tyrannei aufgrund der Stelle durch Hochmut motiviert. 64 PATZOLD (Anm. 50), S. 153. 65 Vgl. ebd., S. 149f., und ferner S. 155, ergänzend HARTMANN (Anm. 50), S. 180. 66 NEWHAUSER (Anm. 35), S. 122. 67 Ebd., S. 121. 68 Vgl. SHIMAHARA (Anm. 52), S. 135. 69 CORRADINI, RICHARD: Pieces of a Puzzle: Time and History in Walafrid’s Vademecum, in: Early Medieval Europe 22 (2014), S. 476–91, hier S. 477.

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eine große Bedeutung zu: Die diesbezüglichen »ideas were tried and tested, and adapted accordingly.«70 Dementsprechend beteiligte sich Walahfrid durch die sonst in der Regierungszeit Ludwigs selten, aber eben an prominenten Stellen vorkommende Verbindung der thematisierten Aspekte an diesen Prozessen. Damit sind Walahfrids Ausführungen im karolingerzeitlichen Kontext der correctio zu verorten. CORRADINI unterstützt diese These weiter durch den Hinweis, dass sich gerade »in den 820er- und 830er-Jahren ein hoher moralischer Erwartungsdruck in die Gesellschaft eingenistet« hatte, welcher durch das Reformprogramm Karls des Großen und dessen ambitionierte Fortführung seitens seines Sohnes entfacht worden war.71 Daraus sei »für Intellektuelle wie Walahfrid, der in der schwierigsten Phase dieses Konfliktes Berater und Hofpoet des Kaisers war«, die Aufgabe erwachsen, »sich im zunehmend labilen politischen Rahmen zu positionieren, korrektive Perspektiven vorzuschlagen und Gemeinschaftsvisionen zu entwerfen.«72 Die untersuchten Quellenstellen aus den Viten Walahfrids zeigen ihre Einbettung in diese Anforderungen und die damit verbundene correctio durch die oben zitierten gattungstypischen Exempel sowie einige Gegenbeispiele konsequent auf. Ein Gegenbeispiel ist etwa Otmar, den Walahfrid in der Otmarvita als gerade nicht habgierig darstellt: Als er Pippin nach der Besitzentfremdung durch die Grafen Warin und Ruthard um Hilfe bittet (Kap. 4, S. 43, Z. 16–19), macht er das »nicht, weil er nach irdischen Gütern gierte« (Kap. 4, S. 43, Z. 17: non possessionibus terrenis inhians), sondern weil er Sorge trug, dass das Bestehen des Klosters durch die Folgen der Entfremdung in Gefahr war (Kap. 4, S. 43, Z. 17f.). Bischof Tello von Chur, der Sidonius erfolglos darum gebeten haben soll, von der Belästigung des Klosters abzulassen, ist ein weiteres Beispiel dafür: Dass der Autor an dieser oben zitierten Stelle erzählerisch mit dem Gegensatzpaar D e m u t (Tello) und H o c h m u t (Sidonius) spielt, veranschaulicht den korrektiven Zweck des Exempels schlüssig. Auch die Darstellung Pippins ist in diesem Kontext zu verorten. Er wird als Förderer des Klosters dargestellt.73 So soll er laut Walahfrids Gallusvita, auf eine Petition seines Bruders Karlmann reagierend, der jungen Gemeinschaft neben anderen Dingen den Ort des Klosters, Zinser zur Erbauung notwendiger Werkstätten und ihre jährlichen, dem König zustehende Abgaben zum Lebensunterhalt der fratres übergeben haben (Buch 2, Kap. 10, S. 320, Z. 1–21). Um zu verhindern, dass die Habgier von irgendjemandem das Wachstum des Klosters behindere, bestätigte Pippin Otmar und seinen Nachfolgern urkundlich, das Kloster zu besitzen, und unterstellte die Einrichtung den principes (Buch 2, Kap. 10, S. 320, Z. 22–26). Damit soll, so die Gallusvita, dem Kloster die || 70 DE JONG (Anm. 14), S. 5. 71 CORRADINI, RICHARD: Das Zeitbuch des Walahfrid Strabo. Langzeitperspektiven und Nachhaltigkeitskonzepte, in: CZOCK, MIRIAM/RATHMANN-LUTZ, ANJA (Hrsg.): ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung, 750–1350, Köln [u. a.] 2016, S. 39–62, hier S. 44. 72 Vgl. ebd., S. 44f. (Zitate auf S. 45). 73 Vgl. dazu z. B. ZOTZ, THOMAS: St. Gallen im Breisgau. Die Beziehungen des Klosters zu einer Fernzone seiner Herrschaft, in: Alemannisches Jahrbuch 2001/2002 (2003), S. 9–22, hier S. 12.

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Immunität verliehen worden sein. Die Urkunde wird dort weiter unten als »Privileg der Immunität« (Buch 2, Kap. 11, S. 321, Z. 2: emunitatis privilegium) wörtlich genannt. Zudem – so Walahfrid wieder in der Otmarvita – intervenierte Pippin auf Bitten Otmars gegen die zwei Grafen und drohte ihnen mit Gnadenverlust im Falle, dass sie den rechtswidrig entfremdeten kirchlichen Besitz nicht ohne Verzug zurückgeben (Kap. 4, S. 43, Z. 17–23). Walahfrid stellt in seinen Viten damit die unkorrekt agierenden Personen erzählerisch konzeptualisiert als habgierige und hochmütige Tyrannen dar. Dadurch werden sie zu Gegenentwürfen zum heiligen Otmar,74 der sich ihnen selbstlos entgegenstellt, zu Bischof Tello, der Sidonius demütig bittet einzuhalten, und zu Pippin, den er als Förderer und Schutzherr des Klosters einführt.75 Dies verlegt vorerst unabhängig von der Frage der historischen Authentizität der narrativen Rahmenhandlung den Fokus auf die diskursiven Elemente. Dieser Aspekt wird unten nochmals detailliert aufgegriffen, um zur Frage der ereignisgeschichtlichen Bezugnahmen und Hintergründe der Walahfrid’schen compositio überzuleiten. In Bezug auf das untersuchte Gedicht Walahfrids werden Tyrannei sowie Habgier und Hochmut unter einem konkreten übergeordneten Gesichtspunkt zusammengeführt, der im Kontext der correctio anzusiedeln ist, nämlich dem Ketzertum Theoderichs.76 Ausgehend vom homöischen Ketzertum des Königs konstatierte HELENE HOMEYER bereits, dass die Reiterstatute Walahfrid als Vorwand gedient habe, »um zeitgenössische Lehrstreitigkeiten [...] zu geißeln.«77 Weiter führt sie aus, dass das Standbild »für alle verderblichen Abweichungen von der rechtmäßigen Lehre« stehe, wobei er auf »Einzelheiten« an keiner Stelle eingehe und »sich auf Hinweise, die sich allegorisch deuten lassen«, beschränke.78 Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist dies gerade durch die flankierenden Abschnitte der hier und oben betrachteten Vitenstellen weiterzudenken. Aufgrund dieser Beobachtungen wird genau erkennbar, dass der Aspekt der correctio am Beispiel der Verknüpfung von Tyrannei, Habgier und Hochmut über ihre Projektion in das Standbild in den Blick genommen wird. || 74 Dazu auch INNES (Anm. 5), S. 307: »Otmar’s fate meant that he could be remembered by the St Gallen community as a martyr. By the reign of Louis the Pious, Otmar’s career could be written up in such terms, with Warin and Ruthard cast as the stereotypical persecutors of hagiographical tradition.« 75 Vgl. dazu ebd., S. 311. 76 HAUCK, KARL: Heldendichtung und Heldensage als Geschichtsbewußtsein, in: Historisches Seminar der Universität Hamburg (Hrsg.): Alteuropa und die moderne Gesellschaft. FS Otto Brunner, Göttingen 1963, S. 118–69, hier S. 162, konstatierte bereits, dass es für die Ludwig dem Frommen gegenüber loyalen »Männer der Hofpartei« in der Krise »nur die Flucht in eine gesteigerte Legitimität und immer heftigere Kaiserpropaganda geben« konnte, »in der jede Abweichung zur Ketzerei und Blasphemie, jeder Versuch der Richtungsänderung als Todsünde der superbia hingestellt wurde.« Dabei wird auch der Aspekt der »Götzenverehrung« (ebd.) aufgegriffen. Auch wenn KARL HAUCK ebd. den Begriff correctio nicht benutzt, klingt die Thematik in seinen Ausführungen an. Die mit seiner Argumentation aus heutiger Sicht verbundenen Probleme, die seine Ansätze in Frage stellen, werden unten, Abschnitt 3.2, dargelegt. 77 HOMEYER (Anm. 1), S. 107. Vgl. dazu ferner HOMEYER (Anm. 14), S. 907 und 912. 78 HOMEYER (Anm. 1), S. 107.

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Daneben ist, wie oben angesprochen, mit DE JONG Walahfrids Gedicht im Kontext des Ermahnungsdiskurses seiner Entstehungszeit anzusiedeln. DE JONG hat die Tragweite und den Charakter der admonitio während der Regierungszeit Ludwigs des Frommen grundsätzlich untersucht und ihre besondere Bedeutung prägnant aufgezeigt.79 In der deutschsprachigen Mediävistik hat zuletzt MONIKA SUCHAN die Tragweite des Mahnens unter Ludwig im Kontext der diesbezüglichen Diskursebene dezidiert herausgestellt.80 Dabei rekurriert sie auch auf die bereits angesprochenen Pariser Konzilsakten.81 Hier ist der Aspekt des Mahnens intentional verankert.82 Dieser wird ausgerechnet im Kontext der Habgier aufgegriffen: So mahnt der Herrscher die Geistlichkeit in einem eigenen Kapitel, nicht der Todsünde zu verfallen (Buch 1, Kap. 13, S. 619–621, und zur wörtlichen Erwähnung der admonitio S. 620, Z. 25).83 Das oben zitierte Kapitel, in dem Tyrannei und Habgier verknüpft werden, ordnet SUCHAN auch in den Mahnkontext ein.84 Auffällig ist, dass bereits in der ebenfalls oben zitierten Stelle der Ordinatio imperii mit ihrer Beziehung zwischen Habgier und Tyrannei die admonitio von bestimmender Bedeutung ist:85 Falls einer der Brüder, also der Söhne Ludwigs, aus Habgier nach weltlichem Besitz eine Tyrannei ausbilden sollte, solle er bis zu dreimal durch königliche Boten zur Verbesserung ermahnt werden. Sollte er sich dem widersetzen, so solle ihn einer der Brüder mahnen. Für den Fall, dass er die heilsbringende Ermahnung gänzlich schmähen oder sie nicht imstande sein sollte, von verbrecherischem Treiben abzuhalten, werden ebenfalls Regelungen getroffen (Kap. 10, S. 272, Z. 20–29). Bereits in der Einleitung der Ordinatio imperii erscheinen admonitio und ammonere als programmatische Termini (S. 270, Z. 35 und 37). Durch die inhaltlichen Entsprechungen in den unterschiedlichen Texten wird evident, dass die untersuchten Stellen des Gedichts und der Viten auch vor diesem Hintergrund betrachtet werden können. Neben DE JONG und SUCHAN hat sich jüngst DIESENBERGER im Kontext der Predigt dem Aspekt der Ermahnung in der Zeit um 800 gewidmet und stellt dazu fest: »Es || 79 Vgl. DE JONG (Anm. 14), S. 5, 12 und 112–147. 80 Vgl. SUCHAN, MONIKA: Mahnen und Regieren. Die Metapher des Hirten im früheren Mittelalter, Berlin/Boston 2015 (Millennium-Studien zur Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr./ Millennium Studies in the Culture and History of the First Millennium C.E. 56), S. 233–318. Speziell in Bezug auf Ludwigs des Frommen Admonitio ad omnes regni ordines PATZOLD (Anm. 50), S. 140–42, hier vor allem S. 142. Während ebd., S. 140–42, die innovativen Züge diesbezüglich hervorgehoben werden, möchte SUCHAN (oben), S. 240f., die traditionellen Züge des Mahndiskurses herausstellen. Vgl. zur Bedeutung der admonitio während der Regierungszeit Ludwigs auch DIESENBERGER (Anm. 36), S. 77. 81 Vgl. SUCHAN (Anm. 80), S. 271–303. 82 Die Termini admonitio und admonere finden sich in den Akten an mehreren Stellen. Vgl. dazu PATZOLD (Anm. 50), S. 154f., 158 und 162–66, und grundsätzlich SUCHAN (Anm. 80), S. 271–303, hier vor allem S. 296f. 83 Vgl. dazu HARTMANN (Anm. 50), S. 183. 84 Vgl. SUCHAN (Anm. 80), S. 293. 85 Vgl. dazu ebd., S. 259 und 261f.

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waren unterschiedliche Personenkreise, die ihre Stimmen erhoben, um zu predigen. [...] Obwohl zum Großteil Geistliche predigten, waren Mahnreden auch bei Weltlichen verbreitet«, wobei dies »für den karolingischen Hof als gesellschaftliches Zentrum, an dem der Kaiser sein Wort erhob«, und genauso »für kleinere Personenverbände, in denen die patres familiarum die moralische Verantwortung trugen«, gegolten habe.86 Das schloss auch die Frauen ein, die bei der Kindererziehung grundlegende moralische Gesichtspunkte erklärten.87 In Bezug auf Akten der 820er-Jahre spricht PATZOLD von einer »Idee der gegenseitigen Hilfe und Ermahnung zwischen dem Kaiser und seinen geistlichen und weltlichen Amtsträgern«.88 Auch bei DE JONG wird der Gegenstand des reziproken Ermahnens unterschiedlicher Kreise hervorgehoben.89 Bereits in Walahfrids Visio Wettini ist die Ermahnung verschiedener Gruppierungen ein integraler Bestandteil und gerade hinsichtlich der Habgier der Grafen wie auch der Geistlichkeit konsequent formuliert.90 Diesen Gedanken nimmt der Autor, ergänzt um die Tyrannei, die er im Gedicht grundsätzlich einführt, in den untersuchten Vitenstellen also wieder auf. Walahfrid reiht sich thematisch und praktisch in die Praxis des wechselseitigen Mahnens in zeitgenössischer Art und Weise ein. Die Ermahnung als »key notion« ist in Hinblick auf die Hagiographie sicherlich als Allgemeinplatz zu bezeichnen.91 Aufgrund der beigebrachten Parallelstellen wird der ermahnende Charakter der behandelten Abschnitte der hagiographischen Beispiele mit ihrer Verknüpfung der Tyrannei mit Habgier und Hochmut deshalb umso schlüssiger nachgewiesen und kann als eine zentrale Intention Walahfrids bezeichnet werden. Walahfrid geht es dabei um das orthodoxe Handeln, und er ermahnt durch die Negativbeispiele und ihre Folgen: auf der einen Seite mit dem Ketzer Theoderich, der, wie oben ausgeführt, seine gerechte Strafe in der Hölle erleidet, auf der anderen Seite mit Sidonius, der seinem gerechten Ende zugeführt wird. Letzterer stirbt in der Gallusvita durch eine »Durchfallattacke«,92 wodurch Walahfrid seinen Tod in die »Tradition des Erzhäretikers Arius« einordnet, »dessen Durchfalltod zum Grundrepertoire hagiographischer Diffamierung || 86 DIESENBERGER (Anm. 36), S. 92. Vgl. insgesamt zur Ermahnung in diesem thematischen Zusammenhang und Zeitraum besonders ebd., S. 10f., 21 und 58–93. 87 Vgl. ebd., S. 92f. 88 PATZOLD (Anm. 50), S. 149. Vgl. SUCHAN (Anm. 80), S. 297–303, die die weitere Entwicklung bezüglich der Akten des Pariser Konzils differenzierend im Blick behält. 89 Vgl. DE JONG (Anm. 14), z. B. S. 5 und 135. Innerhalb einer Gruppierung, so z. B. bei den Bischöfen, ist auch »wechselseitige« admonitio nachgewiesen, so SUCHAN (Anm. 80), S. 286. 90 Grundlegend dazu DE JONG (Anm. 14), S. 137–40. Dies ist bereits in der Vorgängerfassung Heitos zu greifen, so KLEINE, UTA: Zukunft zwischen Diesseits und Jenseits. Zeitlichkeit und ihre Visualisierung in der karolingischen Visionsliteratur, in: CZOCK, MIRIAM/RATHMANN-LUTZ, ANJA (Hrsg.): ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung, 750–1350, Köln [u. a.] 2016, S. 135–68, hier S. 160. Vgl. zur Bezugnahme der Textanalyse auf Heitos Fassung ebd., S. 151, sowie zu den Fassungen der Visio Wettini S. 149f. 91 DE JONG (Anm. 14), S. 117. 92 DIEM (Anm. 5), S. 77. Siehe dazu auch oben, Abschnitt 2.1.

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gehört«.93 Dadurch wird Sidonius’ tyrannisches Handeln mit den damit verbundenen Charakteristika bei Walahfrid ebenfalls, wenn auch nicht expressis verbis, in den häretischen Kontext gerückt, und das exemplarisch-ermahnende Moment wird komplementär zu Theoderich herausgestellt. Plausibel ist daher, dass sich Walahfrids Thematisierung des Tyrannenbildes mit seinen typischen Zügen in den eng verflochtenen Diskursen der admonitio und correctio seiner Zeit situieren lässt. Besonders der Rückgriff auf das antike Tyrannenbild und die damit zusammenhängende Tradition zeigen eine weitere Dimension exemplarisch auf, die in diesem Kontext für die Karolingerzeit insgesamt und für Walahfrid typisch ist: die Rezeption römisch-antiker Tradition und deren Beziehung zu gegenwärtigen Entwicklungen und Diskursen. Hinsichtlich der Intellektuellen am Hof formuliert CORRADINI dazu treffend: »In a certain sense their texts mirror efforts to create and to use resources that could help to develop a long-distance perspective, in order to overcome the seismic impact of complex social challenges.«94 Zentral dabei, so CORRADINI weiter, war eine stark auf römischen und spätantiken Quellen basierende anspruchsvolle Vergangenheitsrekonstruktion, die gerade von einer »generation of young scholars like Walahfrid« getragen wurde.95 Dabei ist folgende Feststellung zentral: »[T]o take Roman history and late antique knowledge on board means to integrate into contemporary discourse a whole distant horizon and a sample of techniques of erudition.«96 Besonders signifikant im Falle Walahfrids ist die Verflechtung des Habgierdiskurses (unter Einbezug des Aspekts der superbia) mit dem Tyrannendiskurs, der auch damit letztlich durch diese Dimension in karolingerzeitlichen Auseinandersetzungen betreffend die correctio und admonitio verortet werden kann: Der habgierige Tyrann beziehungsweise die tyrannische Habgier wird bei Walahfrid in Verbindung mit Hochmut unter Rückgriff auf die antiken römischen Traditionen zum narrativen Motiv, das exemplarischen und ermahnenden Charakter besitzt. Diese Tradition ist folglich die Basis seiner Zielvorstellungen für die Gesellschaft seiner Gegenwart. Auf der Basis der bisherigen Ausführungen stellt sich nun gerade im Zusammenhang der Gelehrsamkeit und der Fokussierung auf die textliche Ebene die Frage, inwiefern dieses Motiv als ein diskursives Element der correctio mit dem Zweck der Ermahnung auch realhistorisch-politische Bezüge aufweist oder ob es sich um eine Debatte unter den die antike und christliche Tradition rezipierenden Gelehrten im Kontext der correctio handelte. Dazu werden vor allem die historischen Hintergründe der Viten Walahfrids in den Blick genommen. Dabei ist es wichtig, die bereits angesprochenen Anpassungen Walahfrids im Verhältnis zu den tatsächlichen, ereignisgeschichtlich nachweisbaren

|| 93 DIEM (Anm. 5), S. 77. Ob dieses als »überaus drastisch[]« bezeichnete Ableben zugleich auch »satirisch« aufgefasst werden kann (ebd.), wäre zu diskutieren. 94 CORRADINI (Anm. 69), S. 477. 95 Ebd. 96 Ebd.

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Vorgängen und deshalb auch der alternativen Überlieferung zu untersuchen, um auf seine Gegenwart bezogene historisch-politische Stoßrichtungen seiner Texte greifen und beurteilen zu können. In diesem Zusammenhang soll abschließend wieder der Blick auf das Gedicht De imagine Tetrici gerichtet werden und die kontrovers diskutierte Frage der Einbettung in die historisch-politischen Kontexte seiner Entstehungszeit gerade bezüglich des Tyrannenmotivs im Vergleich mit den Viten nochmals diskutiert werden.97

3.2 Realhistorisch-politische Bezüge: St. Gallen und die Ereignisse der Jahre 830 und 833 Die in den Viten Walahfrids in den Zusammenhang der Tyrannei gerückte Entfremdung kirchlichen Besitzes ist offenbar nicht nur auf erzählerischer Ebene zu greifen. BRETERNITZ wies kürzlich konzis darauf hin, dass während der Regierungszeit Ludwigs des Frommen regional begrenzt Kirchengut entfremdet wurde, und DIESENBERGER hat Belege für solche Besitzentfremdungen während der Karolingerzeit zusammengetragen.98 In diesem Zusammenhang ist das Beispiel der Grafen Warin und Ruthard sowie des Konstanzer Bischofs Sidonius und daher der Blick auf St. Gallen aufschlussreich, da hier Verbindungslinien von der Mitte des 8. Jahrhunderts bis in die Zeit Ludwigs des Frommen gezogen werden können. Die Forschung ist sich einig, dass die beiden Grafen nachweislich St. Galler Besitz und generell Liegenschaften in verschiedenen Bereichen der Alemannia entfremdet haben.99 Direkt damit zusammenhängende Entwicklungen erstreckten sich bis in Ludwigs Regierungszeit. So wurden Teile dieses Besitzes, auch aus dem Bestand des Sohnes Warins, Isanbard, sukzessive dem Kloster wieder restituiert.100 Bereits das erste Diplom, das Ludwig 816 für St. Gallen ausstellte, unterrichtet uns über die potentielle Gefahr des Rückgangs klösterlichen Besitzes.101

|| 97 Vgl. dazu den kritischen Forschungsüberblick bei THÜRLEMANN (Anm. 1), S. 26f. Siehe auch unten, Abschnitt 3.2. 98 Vgl. BRETERNITZ (Anm. 29), S. 203; DIESENBERGER (Anm. 36), S. 301f. und 311f. 99 Vgl. BORGOLTE (Anm. 2), S. 249; BORGOLTE (Anm. 27), S. 75, 197, 216f., 233f. und 283f.; DENDORFER, JÜRGEN: König und Adel in Alemannien. Narrative der Forschung zum 8. und 9. Jahrhundert, in: DERS. [u. a.] (Hrsg.): 817 – Die urkundliche Ersterwähnung von Villingen und Schwenningen. Alemannien und das Reich in der Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen, Ostfildern 2016 (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 83 = Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der Städtischen Museen Villingen-Schwenningen 39), S. 177–96, hier S. 189f.; INNES (Anm. 5), S. 306f. 100 Eine differenzierte Darstellung der hochkomplexen Vorgänge im breiteren karolingischen Kontext findet sich ebd., hier vor allem S. 308–11. Vgl. auch DENDORFER, (Anm. 99), S. 190. Zum Ausgleich mit St. Gallen ausführlich BORGOLTE (Anm. 27), S. 44, 153f., 234 und 284. 101 Vgl. ERHART, PETER: Das Diplom Ludwigs des Frommen von 817, seine Vervielfältigung und das Schicksal der St. Galler Klostergüter auf der Baar, in: DENDORFER, JÜRGEN [u. a.] (Hrsg.): 817 – Die urkundliche Ersterwähnung von Villingen und Schwenningen. Alemannien und das Reich in der Zeit Kaiser

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MATTHEW INNES situiert unser Beispiel in diesem Zusammenhang in einem breiteren Kontext: Demnach hätten sich die Erinnerungen an die Auseinandersetzungen der ersten Jahre der Karolingerherrschaft in der Alemannia nicht nur wegen dem Otmarkult, sondern auch wegen der »claims over property confiscated in this period reverberated down the subsequent century and a half.«102 Resümierend hält er dann fest: »After all, Carolingian rule in Alemannia rested, in its material and physical aspects, on expropriation.«103 Die in den untersuchten Viten eng mit dem Aspekt der Besitzentfremdungen verbundene Unterstellung St. Gallens unter das Bistum Konstanz fand tatsächlich unter Sidonius statt.104 Nach dem Tod von Bischof Johannes II. (782), der zugleich Abt von St. Gallen und Otmars Nachfolger war, begann der langwierige Prozess der Lösung St. Gallens von Konstanz, der sich bis in die 850er-Jahre zog,105 also über den hier untersuchten Zeitraum hinaus. Gerade in der Regierungszeit Ludwigs des Frommen sind die entscheidenden Etappen dieses Prozesses nachgewiesen.106 In Hinblick auf das bereits zitierte Diplom Ludwigs von 816 hat PETER ERHART noch ergänzt, dass St. Gallen gehofft habe, mit kaiserlicher Unterstützung »jene monastische Ruhe, die nur ohne Beeinträchtigung des Klosterbesitzes durch den Ortsbischof möglich war«, zu erlangen.107 Für die Lösung von Konstanz war dies ein ausschlaggebender Vorgang.108 Hier zeigen sich also die zentralen Angelegenheiten, die in den Viten behandelt werden und in der Folge der dort geschilderten Ereignisse wichtig bleiben, nämlich das Verhältnis zum Bistum Konstanz und die Besitzfrage. Die realhistorischen Hintergründe der betrachteten Episode in den Viten und – hier besonders wichtig – ihre Nachwirkungen, unabhängig von der Frage nach ihrer historischen Authentizität, sind also durchaus nachgewiesen. Dabei ist jedoch Folgendes zu beachten: Auch wenn der narrative Grundstock, die Besitzentfremdungen und ihre Protagonisten, tatsächlich greifbar ist, so hat Walahfrid doch die historischen Tatsachen erzählerisch verändert, wie folgende Beispiele zeigen: So »wurde der Status St. Gallens als || Ludwigs des Frommen, Ostfildern 2016 (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 83 = Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der Städtischen Museen Villingen-Schwenningen 39), S. 43–52, hier S. 46. 102 INNES (Anm. 5), S. 310. 103 Ebd. 104 Zur Unterstellung St. Gallens unter das Bistum Konstanz unter Sidonius vgl. TREMP, ERNST: St. Gallen, Reichenau und Konstanz im 8. und frühen 9. Jahrhundert, in: DENDORFER, JÜRGEN [u. a.] (Hrsg.): 817 – Die urkundliche Ersterwähnung von Villingen und Schwenningen. Alemannien und das Reich in der Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen, Ostfildern 2016 (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 83 = Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der Städtischen Museen Villingen-Schwenningen 39), S. 123–43, hier S. 126. 105 Ausführlich dazu zuletzt ebd., S. 126–31. Vgl. auch ZETTLER (Anm. 24), S. 35 und 37. 106 Vgl. TREMP (Anm. 104), S. 129–31, und ZETTLER (Anm. 24), S. 35 und 37. 107 ERHART (Anm. 101), S. 46. 108 Vgl. TREMP (Anm. 104), S. 129. Vgl. auch ZETTLER (Anm. 24), S. 35.

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quasi-bischöfliches Eigenkloster« erst mit Abt Johannes verbindlich gemacht und nicht unter Otmar.109 Auch die Besitzkonfiskationen können nicht einfach unter Sidonius nachgewiesen werden. Einer der laut Ratpert konfiszierten Orte (Uznach) fiel erst unter Sidonius’ Nachfolger Johannes der Entfremdung zum Opfer.110 Daneben ist die Verleihung der Immunität an das Kloster St. Gallen beachtenswert. 818 nahm Ludwig der Fromme das Kloster in seinen Schutz und verlieh ihm die Immunität.111 Walahfrid verlegt, wie oben dargelegt, diese Privilegierung in die Frühzeit des Klosters und macht kurzerhand Ludwigs Großvater Pippin zum Verleiher des Privilegs.112 Durch das Immunitätsprivileg emanzipierte sich das Kloster jedenfalls um einen zentralen Schritt mehr vom Bistum Konstanz.113 Neben diesen Anpassungen sind tendenziös besonders verkehrende Darstellungen bei Walahfrid greifbar. MICHAEL BORGOLTE konnte nachweisen, dass die den beiden Grafen in den St. Galler Quellen unterstellen »eigennützigen Motive« bei den Besitzbeschlagnahmungen nicht in jedem Fall einfach vorausgesetzt werden können, sondern dass damit die Eingliederung der Alemannia ins Frankenreich vorangetrieben wurde.114 Auch die Unterwerfung St. Gallens unter das Bistum Konstanz war für die klösterliche Entwicklung durchaus nicht schlecht; mit dem Abbatiat des Johannes verzeichnete das Kloster eine hohe Zahl an Prekarien und Traditionen.115 Eine grundlegende Debatte existiert daneben in Hinblick auf die Bewertung der Handlungen der Protagonisten der Ereignisse in den späten 750er-Jahren. So weiche der aus dem späten 9. Jahrhundert stammende, aufgrund seiner Quellen verlässlichere Bericht in den St. Galler Klostergeschichten Ratperts in Bezug auf die Rolle des Bischofs Sidonius laut ALFONS ZETTLER von Walahfrids Version ab: Sidonius soll die || 109 TREMP (Anm. 104), S. 126. 110 Vgl. BORGOLTE (Anm. 2), S. 81, und BORGOLTE (Anm. 27), S. 233. Vgl. dazu auch MAURER, HELMUT (Bearb.): Das Bistum Konstanz 2: Die Konstanzer Bischöfe vom Ende des 6. Jahrhunderts bis 1206, Berlin/New York 2003 (Germania Sacra. Historisch-statistische Beschreibung der Kirche des Alten Reiches NF 42,1: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz), S. 47. 111 Vgl. KÖLZER, THEO: Das Aachener Kaiserdiplom vom 4. Juni 817, in: DENDORFER, JÜRGEN [u. a.] (Hrsg.): 817 – Die urkundliche Ersterwähnung von Villingen und Schwenningen. Alemannien und das Reich in der Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen, Ostfildern 2016 (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 83 = Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der Städtischen Museen Villingen-Schwenningen 39), S. 29–42, hier S. 41. 112 Vgl. INNES (Anm. 5), S. 311 mit Anm. 54; ZOTZ (Anm. 73), S. 11f. Vgl. dazu auch DIEM (Anm. 5), S. 78f. 113 Vgl. DEPREUX, PHILIPPE: Kaiserliche Amtsträger und Entourage Ludwigs des Frommen in und aus Alemannien und dem Elsass, in: DENDORFER, JÜRGEN [u. a.] (Hrsg.): 817 – Die urkundliche Ersterwähnung von Villingen und Schwenningen. Alemannien und das Reich in der Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen, Ostfildern 2016 (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 83 = Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der Städtischen Museen Villingen-Schwenningen 39), S. 197–206, hier S. 199; KÖLZER (Anm. 111), S. 41; TREMP (Anm. 104), S. 130; ZETTLER (Anm. 24), S. 35 und 37; ZOTZ (Anm. 73), S. 11. 114 BORGOLTE (Anm. 27), S. 234. 115 Vgl. TREMP (Anm. 104), S. 126.

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Grafen instrumentalisiert haben, Otmar zu bedrängen und nicht umgekehrt,116 er habe sie dazu »angestachelt«.117 Bei Ratpert steht aber ausdrücklich, dass Sidonius von den Grafen dazu angetrieben wurde, das Kloster unter die Herrschaft des Bischofs zu bringen (Kap. 2/6, S. 156, Z. 2–6).118 BORGOLTE hat zu dieser Angelegenheit auf Ratpert bezugnehmend ähnlich formuliert, dass Sidonius, nachdem Otmar von Ruthard und Warin ins Exil gezwungen worden war, den Versuch unternommen habe, »St. Gallen unter die Herrschaft des Bistums zu bringen und, um dafür die Unterstützung der beiden Grafen zu gewinnen, diesen beneficia geschenkt« habe.119 Dies entspricht exakt den oben dargelegten Ausführungen Walahfrids in der Gallusvita.120 Was ZETTLER wahrscheinlich meint, ist der Umstand, dass Sidonius die Grafen nach der Ausschaltung Otmars um ihre Unterstützung in Bezug auf das weitere Vorgehen bat, weshalb er ihnen Besitz versprach und auch übergab (so Ratpert, Kap. 2/6, S. 154, 156), wobei Letzteres nach Ratperts Erzählung ja erst nach der Unterwerfung St. Gallens unter Konstanz möglich war. So konnten die Enteignungen der Grafen gar nicht vorausgehen, sie waren die Konsequenz. Warin und Ruthard erscheinen in Bezug auf St. Gallen damit als die Vollstrecker der Konfiskationen, die mit Anteilen belohnt wurden. Demnach wäre Ratpert hier durchaus nahe an Walahfrids Konstruktion, nur die Abläufe sind verkehrt. Bei Walahfrid steht die Konfiskation der Klostergüter durch die Grafen vor der Unterstellung St. Gallens unter das Bistum.121 Der Unterschied liegt demnach in der darstellerischen Fokussierung auf die Grafen mit Blick auf die Einziehungen. Sidonius ist im weiteren Verlauf der Unterstützer der Grafen bei der Unterwerfung St. Gallens. Bereits ZETTLER selbst deutete die Vorgänge als eine Beuteteilung.122 Wird, wie eben erwähnt, bedacht, dass einer der entfremdeten Orte unter Johannes und nicht unter Sidonius konfisziert wurde, stellt dies die Aktivität des Sidonius bei den Besitzentfremdungen durchaus in Frage. In Bezug auf die Konfiskationen vermerkt auch die Einleitung zur Edition Ratperts, dass die Sidonius dabei zugewiesene Rolle durchaus diskutabel ist, während gerade im Falle Uznachs die Entfremdung durch die überlieferte Besitzrestituierung nachgewiesen ist.123 Damit unterstützen diese Feststellungen die Relativierung von Sidonius’ tatsächlicher Protagonistenrolle in Bezug auf die Besitzentfremdungen insgesamt. Was Ratpert anbelangt, sei es den

|| 116 Vgl. ZETTLER 2001 (Anm. 2), S. 322f., und ZETTLER (Anm. 24), S. 34. 117 ZETTLER 2001 (Anm. 2), S. 322, und ZETTLER (Anm. 24), S. 34. Ähnlich auch STEINER, HANNES: Einleitung, in: Ratpert: St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli), hrsg. und übers. von HANNES STEINER, Hannover 2002 (MGH SS rer. Germ. 75), S. 1–122, hier S. 15. 118 Benutzte Ausgabe: Ratpert: St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli), hrsg. und übers. von HANNES STEINER, Hannover 2002 (MGH SS rer. Germ. 75), S. 135–239 (mit Übersetzung). 119 BORGOLTE (Anm. 2), S. 81. Ähnlich auch MAURER (Anm. 110), S. 47. 120 Vgl. dazu auch ebd., S. 46f. 121 Siehe hier und im Folgenden oben, Abschnitt 2.1. 122 Vgl. ZETTLER 2001 (Anm. 2), S. 322, und ZETTLER (Anm. 24), S. 34. 123 Vgl. STEINER (Anm. 117), S. 36f.

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konzeptionellen Eigenheiten seines Werks geschuldet, wenn an Stelle von Johannes sein Vorgänger Sidonius im Kontext der Konfiskation angeführt wird.124 Letztlich kann Ratpert deswegen nicht als verlässlicher als Walahfrid bezeichnet werden und demnach nicht dazu dienen, nach Abweichungen Walahfrids von der ereignisgeschichtlichen Realität zu suchen. Dies kann durch Folgendes weiter aufgezeigt werden: Mit Ratperts Version der Vorgänge wären »wir sicherlich auf einer besseren Fährte als mit der sonst etwas unerfindlichen Maßnahme der königlichen Beamten«, von denen die Otmarvita berichtet, dass sie sich »sogar über den Willen ihres Herrn und Königs Pippin hinweggesetzt haben sollen.«125 Es ist aber doch erst Walahfrids erzählerische Erfindung der Privilegierung St. Gallens durch Pippin gewesen, was die diese Privilegierung verletzenden Aktionen der Akteure in seiner Erzählung unrechtmäßig gemacht hat.126 Damit führt ZETTLERs Vorgehen, diese ausschließlich narrative Ebene bei Walahfrid mit der ereignisgeschichtlich als verlässlicher betrachteten bei Ratpert zu kreuzen, zu methodischen Komplikationen und relativiert zugleich seine These. Es deutet sich durch diesen Vergleich und das zuvor Erörterte an, dass diese Anachronismen und tendenziösen Umgestaltungen offenbar bewusst gewählte narrative Mittel bei Walahfrid sind. In Hinblick auf den ereignisgeschichtlichen Gehalt der Viteninhalte zeigt sich so, dass Walahfrids Ausführungen in mehrerlei Hinsicht konstruiert sind. Was Sidonius betrifft, ist festzuhalten, dass dieser in Walahfrids Gallusvita eine klar definierte Rolle als ein mit den Grafen paktierender Akteur zugewiesen bekommt, der die Grafen auf seinen eigenen Vorteil bedacht gewähren lässt. Insgesamt ist festzustellen, dass die Intention des Autors damit einer wie auch immer gearteten historischen Realität untergeordnet ist, die dadurch eben vage und nur in ihrer zweckgebundenen Anpassung greifbar wird, was bei Ratpert gerade nicht der Fall ist. Dabei ist der Bezug zu St. Gallen evident. Es geht um die Belange des Klosters, die von den negativ handelnden Akteuren missachtet werden, weshalb sie sich sogar über die Privilegierungen des Königs hinwegsetzen, was als tyrannisches Handeln definiert wird. Bereits für die Merowingerzeit konstatierte DOBSCHENZKI kürzlich allgemein im Zusammenhang mit dem Tyrannenbild und seinen Charakteristika, dass es keine Rolle spiele, »ob der Gewaltakteur in der Realität tatsächlich diese negativen Eigenschaften aufweist oder nicht«.127 Seine Stilisierung als Tyrann durch den Hagiographen sei maßgeblich für die Begründung seines Handelns.128 Genau diese Praxis greifen wir hier bei Walahfrid.

|| 124 Vgl. BORGOLTE (Anm. 2), S. 81. 125 ZETTLER 2001 (Anm. 2), S. 322f. Vgl. dazu auch ZETTLER (Anm. 24), S. 34. 126 Vgl. ZOTZ (Anm. 73), S. 12. 127 DOBSCHENZKI (Anm. 34), S. 100. 128 Vgl. ebd.

Der Tyrann bei Walahfrid Strabo – ein programmatisches Leitmotiv? | 281

Vor diesem Hintergrund stellt sich nun grundsätzlich die Frage, warum Walahfrid den nachgewiesenen authentischen historischen Rahmen so verfremdete, dass es schwierig ist, die tatsächlichen ereignisgeschichtlichen Vorgänge zu rekonstruieren. Dadurch, dass sich Warin und Ruthard durch die »mit langem Atem betriebene Restitutionspolitik St. Gallens mit dem Ziel, von den Grafen entzogene Güter wiedererstattet zu bekommen«, in der Erinnerung festsetzten,129 wodurch sie in der Folge auch im politischen Tagesgeschäft präsent geblieben sein dürften, ist der realhistorische Kontext bis zur Entstehungszeit der Viten evident. Walahfrid dürften diese Entwicklungen als Mönch auf der Reichenau nicht unbekannt geblieben sein.130 Weiter bezeichnet BORGOLTE es als auffällig, dass »die Bedrückung« durch Warin und Ruthard »auch nur in St. Gallen so beredten Ausdruck gefunden« habe.131 Aus diesem Grund schließt er sich einer älteren These ROLF SPRANDELs an, die besagt, dass die Grafen das im Volk hohes Ansehen genießende Kloster St. Gallen unter die Herrschaft des Reiches brachten und dieses jedoch später im Kontext des Lösungsprozesses vom Bistum Konstanz »in seiner Historiographie königliche Anfänge fingierte und die alte Empörung über die Karolinger auf deren Beauftragte umlenkte.«132 Auch DIEM ordnet die Darstellung in diesen Kontext ein. So soll Walahfrid den Abschnitt mit dem Ketzertod des Sidonius aus Gründen der Aktualität in den Text der Gallusvita eingebaut haben.133 Während der Entstehungszeit des Textes, 833, wurde St. Gallen von Ludwig dem Deutschen entsprechend der Benediktsregel mit der freien Abtswahl privilegiert, was »ein bedeutender Schritt in einem langwierigen Prozess« in der Loslösung »vom schwierigen Erbe des Sidonius« und der Befreiung von der »Kontrolle der Konstanzer Bischöfe« war.134 So sei anzunehmen, dass Sidonius von den Mönchen St. Gallens schlecht erinnert wurde, da er des Klosters Anbindung an das Bistum Konstanz dauerhaft erwirkte, was mit der Grund dafür gewesen sei, weshalb Walahfrid Sidonius diffamiert habe.135 In diesem Gesamtzusammenhang können auch die eben genannten Anpassungen Walahfrids verortet werden. So ist besonders die Vorverlegung der Verleihung der Immunität des Klosters im Kontext des geschilderten Loslösungsprozesses vom Bistum Konstanz zu lesen.136 Die Anpassungen Walahfrids zeigen insgesamt eine zielgerichtete negative Memoria, und ebenso sollen sie die Rechte des Klosters in königlichem Kontext verorten und die Loslösung von Konstanz legitimieren. Gerade die eben aufgeführten Punkte, welche die negative Darstellung der Akteure

|| 129 DENDORFER (Anm. 99), S. 190. 130 Walahfrid wurde im Kloster Reichenau ausgebildet und legte dort etwa 825 die Mönchsgelübde ab, bevor er 827 nach Fulda ging, so TREMP (Anm. 25), S. 219. 131 BORGOLTE (Anm. 27), S. 234. 132 Ebd. Vgl. dazu auch DENDORFER (Anm. 99), S. 190. 133 Vgl. DIEM (Anm. 5), S. 77. 134 Ebd. Vgl. dazu auch TREMP (Anm. 104), S. 130, und ZETTLER (Anm. 24), S. 37. 135 Vgl. DIEM (Anm. 5), S. 78. 136 Vgl. dazu ebd.

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relativieren, haben damit Konsequenzen für die weitere Deutung der thematisierten Abschnitte: Als zentrales Movens für ihr Handeln unterstellt Walahfrid den beiden Grafen und dem Bischof Habgier und Hochmut. Mit dieser narrativen Strategie stilisiert er sie zu Tyrannen, wodurch die Erinnerung an die Akteure und ihr Vorgehen negativ transformiert wird. Dadurch, dass mit der Walahfrid’schen Gallusvita »das Kloster St. Gallen zum ersten Mal sich seiner Geschichte vergewisser[te]«,137 war die Episode mit Sidonius und die damit verbundene Darstellung der klösterlichen Entwicklung zentral im dramaturgischen Aufbau: Die an Sidonius narrativ geknüpfte Unterordnung St. Gallens unter das Bistum Konstanz ist erzählerisch notwendig, so dass der historische Prozess der Loslösung vom Bistum, der synchron zur Entstehung der Vita und im Verlauf der Regierungszeit Ludwigs des Frommen wesentlich vorangetrieben wurde, den Zeitgenossen umso transparenter entgegentrat. Dies belegt gerade auch der Umstand, dass in der Vorgängerfassung der Gallusvita von Wetti das alles nicht angesprochen wird.138 Die Konsequenz ist dann in der etwas jüngeren Otmarvita die noch stärkere Fokussierung auf die fiktive karolingische Privilegierung.139 Zudem intendierte Walahfrid, durch die Verbindung der Viten »a composite work« zu schaffen, wodurch der Fokus auf die Institution St. Gallen gerichtet wurde, so dass die Verbindung der Texte den Zweck verfolgt, eine Geschichte der Einrichtung anzufertigen.140 Dies lässt sich wiederum in die Gegenwartsbezogenheit der Texte einordnen. Es geht um die aktuellen Entwicklungen in St. Gallen. Auffällig ist dabei, dass mit der Tyrannei und der sie konstituierenden Aspekte Habgier und Hochmut und damit gängige, im Kontext der correctio und admonitio diskursivierte Themen von Walahfrid verwendet werden. Diese Konstruktion ist dadurch gerade wieder in der Intention Walahfrids zu sehen, korrektes Handeln anzumahnen. So dürfte er in diesem Kontext bewusst

|| 137 ZOTZ (Anm. 73), S. 10. 138 Benutzte Ausgabe: Vita Galli auctore Wettino cum prologo metrico ad Gozbertum, in: KRUSCH, BRUNO (Hrsg.): Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici (II), Hannover/Leipzig 1902 (MGH SS rer. Merov. 4), S. 256–80. Dazu ZOTZ (Anm. 73), S. 10: »Walahfrid überarbeitete nun also [...] Wettis Opus, fügte aber im Rahmen der Wundergeschichten einen neuen Teil an, in dem er, gestützt auf schriftliche und mündliche Berichte, die geschichtlichen Anfänge des Klosters darstellte«. Dazu auch allgemeiner BROOKE, MARTIN: The Prose and Verse Hagiography of Walahfrid Strabo, in: GODMAN, PETER/ COLLINS, ROGER (Hrsg.): Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814–840), Oxford 1990, S. 551–64, hier S. 553: »The larger part of Walahfrid’s Book II consists of narratives that do not appear in Wetti«. Dann passt es nicht, wenn TISCHLER (Anm. 26), S. 14, im Weglassen des Sidonius in der Otmarvita gewissermaßen eine Form der damnatio memoriae sehen möchte. Dies macht aufgrund der vorliegenden Ausführungen und allein schon aufgrund der Existenz des Sidonius in der nur wesentlich jüngeren Gallusvita wenig Sinn. Damit verbunden kann die Auslassung der SidoniusEpisode auch mit darin begründet liegen, dass die Otmarvita bewusst als eine gekürzte Fassung gedacht war. Vgl. dazu auch BROOKE (oben), S. 554. 139 Vgl. TISCHLER (Anm. 26), S. 14. 140 BROOKE (Anm. 138), S. 554. DIEM (Anm. 5), S. 91, benutzt den Terminus »Ortshagiographie« für die Gallusvita.

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das Motiv des Tyrannen mit seinen impliziten Charakteristika aufgegriffen haben, um diese Zwecke zu erfüllen. Die historischen Realitäten und die zweckgebundenen narrativen Anpassungen sowie der damit verbundene Gegenwartsbezug gehen deshalb Hand in Hand. Diesbezüglich sind die grundlegenden Vorgänge im Fluss, womit die Erzählung insgesamt in den Zusammenhängen ihres Entstehungszeitraums zu verorten ist, aber Aspekte aufgreift, die bereits über einen längeren Zeitraum schwelten und nun aufgebrochen und sukzessive bewältigt wurden. Für die Zeitgenossen, die mit der Geschichte vertraut waren, muss dadurch das Erzählerische in den Vordergrund gerückt sein: Die Grafen und Bischof Sidonius stehen stellvertretend für dieses negative Tyrannenmotiv mit den ihm immanenten Charakteristika. Das unkorrekte Handeln der Akteure in den Viten mahnt exemplarisch all jene, die bis in die Gegenwart entsprechend handeln oder das Kloster St. Gallen in Bedrängnis bringen. Es mahnt all jene, die den Besitz, die Rechte und den Status des Klosters nicht anerkennen oder in Frage stellen wollen. Solches Handeln wäre tyrannisch, da es aus Habgier und Hochmut motiviert ist. Wenn »Walahfrids Gallus« in Hinblick auf den idealen monastischen Werdegang und damit verbundene Gesichtspunkte »in einer faszinierenden Engführung vieles von dem« personifiziert, »wofür das karolingische Reformprogramm steht«,141 so sind auch Walahfrids Ausführungen zu den Grafen und Sidonius dem karolingischen Reformprogramm verpflichtet. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob sich die dargelegten Befunde in der Zeit Ludwigs des Frommen nur auf St. Gallen und die Alemannia beschränken lassen. Im Kontext der aufgezeigten Bedeutung der Tyrannen-, Habgier- und Hochmutsdiskurse während Ludwigs Regierungszeit scheint dies ein verkürzter Blick zu sein. MATTHIAS M. TISCHLER konstatiert, dass »Walahfrids Kritik an den unzuverlässigen Amtsleuten des Karolingerherrschers« von den karolingerzeitlichen Rezipienten keinesfalls »als eine in ein biographisches Gewand gekleidete Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse der 830er-Jahre verstanden« worden sei, »die im Kontext der zeitgenössischen Reformbemühungen Ludwigs d[es] Fr[ommen] um die Trennung von Adelsherrschaft und ungebührlicher Nutzung von Kirchengut durch den Adel zu sehen ist.«142 TISCHLER stellt damit in Bezug auf die nachweisbaren Besitzentfremdungen eine Beziehung zur damaligen Gegenwart her. Dabei wird der engere St. Galler Kontext überschritten und der Bedeutungsgehalt der Viteninhalte auf übergeordnete sozio-politische Aspekte und Fragen des Reichs gelenkt. Diese Stoßrichtung von TISCHLERs Ansatz und weitere zu benennende Auffälligkeiten sind der Anlass, im Folgenden Koinzidenzen zwischen den Viteninhalten und den Entwicklungen in den Jahren um 830 nachzugehen. Es ist in diesem Zusammenhang bereits an sich beachtenswert, dass Walahfrid seine Viten zum Teil zeitgleich, im Großen und Ganzen aber erst nach den Rebellio|| 141 Vgl. DIEM (Anm. 5), S. 82f. (Zitate auf S. 82). 142 TISCHLER (Anm. 26), S. 15.

284 | Christian Stadelmaier nen gegen Ludwig den Frommen 830 und 833 schrieb.143 Walahfrid, so die im weiteren Verlauf zu erhärtende These, hat durch sein erzählerisches Vorgehen eine Verbindung dieser Herrschschaftskrise zu den in den Viten thematisierten Vorgängen hergestellt. PATZOLD hat in den letzten Jahren die Krisenzeit und die Hintergründe der Rebellion von 830 wesentlich neu bewertet. Grundsätzlich ist er der Ansicht, dass es keiner »Reichseinheitskonzeption« bedürfe, um »den Aufstand von 830 zu erklären« und dass »verschiedene Motive, unterschiedliche Ziele und Interessen« ineinandergegriffen hätten.144 Zentral ist dabei sein Resümee, dass der »Antagonismus einer Partei, die eine Reichseinheitskonzeption vertreten habe, und einer traditionalistischen Gegenpartei, die das Teilungsprinzip befürwortete«, während der Regierungszeit Ludwigs des Frommen in Hinblick auf die Geschichte des fränkischen Reichs keineswegs überschätzt werde dürfe.145 So lasse sich neben der Nachfolgeordnung (817) auch die Revolte des Jahres 830 nicht »einseitig aus einem solchen Antagonismus zweier politischer Konzeptionen heraus erklären.«146 Ein wesentlicher Grund der Schwierigkeiten seien die sich ab 828 im nächsten kaiserlichen Umfeld steigernden machtpolitischen Auseinandersetzungen gewesen, was zur Entlassung zweier seiner einflussreichsten Berater, der Grafen Matfrid von Orléans und Hugo von Tours, geführt habe.147 SÖREN KASCHKE formulierte zuletzt treffend, dass »der erste Aufstand [...] von unzufriedenen Großen« initiiert wurde.148 Die einschlägigen Quellen, die zu den Vorgängen berichten, nennen unter anderem den Bischof Jesse von Amiens und die bereits angeführten Grafen Matfrid und Hugo als maßgebliche Akteure der Rebellion.149 Es ist aber – trotz aller quellenkritischer Vorbehalte –150 soweit anerkannt, dass sich die Grafen im Kon|| 143 Die Literatur zu den Vorgängen ist äußerst umfangreich. Vgl. dazu z. B. die Angaben bei PATZOLD (Anm. 50), S. 185, Anm. 5f. Zuletzt ausführlich zu den Rebellionen SCHÄPERS, MARIA: Lothar I. (795–855) und das Frankenreich, Wien [u. a.] 2018 (Rheinisches Archiv. Veröffentlichungen der Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn 159), S. 195–298. 144 PATZOLD, STEFFEN: Eine »loyale Palastrebellion« der »Reichseinheitspartei«? Zur Divisio imperii von 817 und den Ursachen des Aufstands gegen Ludwig den Frommen im Jahre 830, in: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S. 43–77, hier S. 73. 145 Ebd., S. 76f. 146 Ebd., S. 77. 147 Vgl. PATZOLD, STEFFEN: Alemannien um 829. Eine Minimalsicht auf das erste Herrschaftsgebiet Karls des Kahlen, in: DENDORFER, JÜRGEN [u. a.] (Hrsg.): 817 – Die urkundliche Ersterwähnung von Villingen und Schwenningen. Alemannien und das Reich in der Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen, Ostfildern 2016 (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 83 = Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der Städtischen Museen Villingen-Schwenningen 39), S. 225–37, hier S. 236. 148 KASCHKE (Anm. 61), S. 96. Vgl. dazu auch DOHMEN, LINDA: Die Ursache allen Übels. Untersuchungen zu den Unzuchtsvorwürfen gegen die Gemahlinnen der Karolinger, Ostfildern 2017 (MittelalterForschungen 53), S. 126. 149 Vgl. ebd., S. 127, und PATZOLD (Anm. 144), S. 49 und 51. 150 Vgl. dazu z. B. DOHMEN (Anm. 148), S. 127 und 136f.; PATZOLD (Anm. 144), S. 48; SCHÄPERS (Anm. 143), S. 205.

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flikt gegen Ludwig den Frommen gestellt und an der Rebellion teilgenommen haben.151 Als Grund dafür kann im Falle der Grafen durchaus ihre Absetzung angesehen werden.152 Neben den genannten Ursachen der Revolte von 830 zählt PATZOLD »handwerkliche Fehler bei den letzten Reformversuchen von 828/29« zu den Gründen des Aufstands.153 So will er nicht bezweifeln, dass unter anderem in irgendeiner Weise Bischöfe am Aufstand gegen den Kaiser mitwirkten, die sich auf dem Pariser Konzil von 829 um eine grundlegende Reichsreform bemühten.154 Unter anderem soll Bischof Jesse von Amiens einer der Teilnehmer des Aufstands gewesen sein.155 Die Rebellion von 833 unterschied sich vom Aufstand des Jahres 830.156 Hier hatten gerade die Bischöfe eine besondere Bedeutung.157 Dies betrifft vor allem Ebo von Reims, der nachweislich einen großen Anteil an Ludwigs Absetzung und öffentlicher Buße 833 hatte.158 Daneben müssen zahlreiche weitere Bischöfe, darunter wiederum Jesse von Amiens, beteiligt gewesen sein.159 Wichtig ist es, hier das Verhältnis von narrativer Verarbeitung der Vorgänge und der Ereignisgeschichte im Blick zu behalten. Die literarische Darstellung der Rebellen ist offensichtlich stark zugespitzt: So wird Ebo bei Thegan als einer der »real enemies« Ludwigs des Frommen in Bezug auf 833 dargestellt.160 Nach DE JONG erscheint Ebo bei Astronomus, Nithard und Thegan || 151 Vgl. DEPREUX, PHILIPPE: Prosopographie de l’entourage de Louis le Pieux (781–840), Sigmaringen 1997 (Instrumenta 1), S. 263 (Hugo) und 331 (Matfrid); DOHMEN (Anm. 148), S. 127 und 146; DE JONG (Anm. 14), S. 43; SCHÄPERS (Anm. 143), S. 205. 152 Vgl. PATZOLD (Anm. 144), S. 73. 153 PATZOLD (Anm. 147), S. 236. 154 Vgl. PATZOLD (Anm. 144), S. 71. 155 Vgl. DOHMEN, LINDA: ...evertit palatium, destruxit consilium... Konflikte im und um den Rat des Herrschers am Beispiel der Auseinandersetzungen am Hof Ludwigs des Frommen (830/31), in: BECHER, MATTHIAS/PLASSMANN, ALHEYDIS (Hrsg.): Streit am Hof im frühen Mittelalter, Göttingen 2011 (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike 11), S. 285–316, hier S. 298, und auch DOHMEN (Anm. 148), S. 129. 156 Vgl. dazu z. B. DE JONG (Anm. 14), S. 45, und konzis PATZOLD (Anm. 50), S. 185 mit Anm. 5f. 157 Vgl. dazu diesen Umstand auf den Punkt bringend ebd., S. 186–88; SCHÄPERS (Anm. 143), S. 265. Grundlegend und ausführlich DE JONG (Anm. 14), S. 228–49. 158 Vgl. PATZOLD (Anm. 50), S. 186f.; SCHÄPERS (Anm. 143), S. 265 und 296; SCHRÖR, MATTHIAS: Aufstieg und Fall des Erzbischofs Ebo von Reims, in: BECHER, MATTHIAS/PLASSMANN, ALHEYDIS (Hrsg.): Streit am Hof im frühen Mittelalter, Göttingen 2011 (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike 11), S. 203–21, hier S. 203f. und 210f.; TREMP, ERNST: Einleitung, in: Theganus: Gesta Hludowici imperatoris/Thegan: Die Taten Kaiser Ludwigs; Astronomus: Vita Hludowici imperatoris/Astronomus: Das Leben Kaiser Ludwigs, hrsg. und übers. von ERNST TREMP, Hannover 1995 (MGH SS rer. Germ. 64), S. 1–155, hier S. 15. Vgl. dazu auch DEPREUX (Anm. 151), S. 173, und DE JONG (Anm. 14), S. 234. Ebo von Reims und Agobard von Lyon werden bei SCHÄPERS (Anm. 143), S. 265, als »treibende Kräfte hinter der Forderung nach Buße Ludwigs des Frommen« bezeichnet. 159 Vgl. DE JONG (Anm. 14), S. 234f., und SCHÄPERS (Anm. 143), S. 259f. 160 Vgl. DE JONG (Anm. 14), S. 77f. (Zitat auf S. 78). Vgl. dazu auch BOOKER, COURTNEY M.: Past Convictions. The Penance of Louis the Pious and the Decline of the Carolingians, Philadelphia 2009 (The Middle Ages Series), S. 31f.; PATZOLD (Anm. 50), S. 231f.; SCHÄPERS (Anm. 143), S. 296; TREMP (Anm. 158), S. 15.

286 | Christian Stadelmaier als einer der »scapegoats who were blamed for the sins commited collectively in 833.«161 Auffällig ist in Hinblick auf die Vorgänge im Jahr 833 die von COURTNEY M. BOOKER hervorgehobene Behandlung des Bischofs Ebo von Reims in einem Walahfrid zugewiesenen Prolog zur Episcoporum de poenitentia, quam Hludowicus imperator professus est, relatio Compendiensis, die Thegans negative Darstellung der Rolle des Bischofs in der Rebellion von 833 aufgreift, bei der vor allem die zu nachlässige Bestrafung und die Forderung nach noch ausstehenden weiterführenden Konsequenzen im Fokus . steht 162 Walahfrids kritische Vermittlung von Ebos Rolle bei den Vorgängen im Jahr 833 spiegelt so durchaus die Darstellung des unkorrekt handelnden Sidonius, der in der Vita gegen das vom weltlichen Herrscher Pippin geförderte Kloster St. Gallen agiert. Thegans Text ermöglicht es aufgrund der Ebo dort zugeschriebenen Merkmale, Verbindungslinien zu Sidonius in Walahfrids Viten zu ziehen: In den Gesta Hludowici wird als Ursache für Ebos Handeln auch seine Habgier (cupiditas) genannt (Kap. 44, S. 234, Z. 20f./S. 236, Z. 1f.).163 Des Weiteren wird hier die Verbindung zwischen Tyrannis und Habgier in Bezug auf Ebos Taten hergestellt (Kap. 44, S. 236, Z. 8–14). Ebenso wird die superbia dabei in den Blick genommen (Kap. 50, S. 242, Z. 20f.). Der Text entstand im Nachgang der Rebellionen gegen Ludwig den Frommen zwischen 835 und 838,164 also im Prinzip kurz nach Walahfrids Gallusvita. Damit werden offenbar gängige narrative Muster für die bischöflichen Widersacher der Gegenwart bei Thegan bereits für den bischöflichen Akteur in Walahfrids Text verwendet. Die Verbindung zur Gallusvita Walahfrids und ihrem negativ handelnden bischöflichen Akteur wird umso augenfälliger, wenn bedacht wird, dass Walahfrid Thegans Werk nicht nur mit

|| 161 DE JONG (Anm. 14), S. 149. Auch bei PATZOLD (Anm. 50), S. 186, wird Ebo in Bezug auf »die dramatischen Ereignisse« als »Sündenbock« bezeichnet. 162 Vgl. BOOKER, COURTNEY M.: A New Prologue of Walahfrid Strabo, in: Viator 36 (2005), S. 83–105, hier S. 91–96, vor allem S. 91 (hier Zitat Prolog mit Übersetzung), und siehe besonders S. 95: » […] near the end of his account Thegan clamors that, although Ebbo had been punished for his leading role in the events of 833, his sentence was far too light and that justice has yet to be done. As Thegan’s editor in late 840, Walafrid supported this strident claim and actually supplied the evidence of Ebbo’s villainy. By appending the bishops’ narrative – what he calls the ›work of a deadly contrivance‹ – to Thegan’s text and providing it with a prologue of its own, Walafrid reminds the reader that Ebbo was the ›author of this evil.‹« Vgl. auch BOOKER (Anm. 160), S. 92f., und weiter SCHÄPERS (Anm 142), S. 381. Vgl. des Weiteren die Neuedition der Quelle: BOOKER, COURTNEY M.: The Public Penance of Louis the Pious. A New Edition of the Episcoporum de poenitentia, quam Hludowicus imperator professus est, relatio Compendiensis (833), in: Viator 39/2 (2008), S. 1–20, hier S. 11 (Text des Prologs), und zu den angesprochenen Aspekten S. 5. Zur negativen Darstellung Ebos bei Thegan vgl. außerdem TREMP (Anm. 158), S. 15. 163 Benutzte Ausgabe: Theganus: Gesta Hludowici imperatoris/Thegan: Die Taten Kaiser Ludwigs; Astronomus: Vita Hludowici imperatoris/Astronomus: Das Leben Kaiser Ludwigs, hrsg. und übers. von ERNST TREMP, Hannover 1995 (MGH SS rer. Germ. 64), S. 167–259 (mit Übersetzung). Vgl. zum im Text thematisierten Aspekt auch BOOKER (Anm. 160), S. 32. 164 Vgl. TREMP (Anm. 158), S. 6f.

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einem Vorwort versah, sondern rezensierte.165 Dass er dabei auf eine Überarbeitung verzichtete,166 zeigt letztlich, dass diese Form der Darstellung rebellierender Akteure üblich war. Dies erklärt auch die Ähnlichkeit der negativen Darstellungen der Bischöfe Ebo von Reims und Sidonius von Konstanz bei Thegan und Walahfrid. Auch der Graf Matfrid wird in den einschlägigen Quellen neben anderen Personen als einer der Hintermänner genannt, die die Söhne Ludwigs des Frommen zum rebellischen Aufstand motivierten, auch wenn ihre Aktivitäten vorerst unscharf bleiben.167 Dies betrifft neben Matfrid auch Graf Hugo, die als Initiatoren des Aufstands erscheinen.168 Sie sind nach DE JONG die weiteren »scapegoats«, die zusammen mit Ebo für die gemeinsamen Sünden des Jahres 833 bei genannten Autoren verantwortlich gemacht wurden.169 Im Nachgang der Geschehnisse wurden sie gar annährend für die Krise der Jahre 830 bis 833 insgesamt verantwortlich gemacht.170 Dass Matfrid wie auch Hugo im Anschluss an die Krise bei Nithard als habgierig und verräterisch stilisiert werden,171 wobei die Habgier in beachtenswerter Weise als maßgeblicher Grund für die Geschehnisse 830 und 833 angeführt wird,172 bringt sie wieder in die Nähe der Grafen in den Viten von Walahfrid. Augenfällig ist diesbezüglich der Umstand, dass Matfrid bereits 829 tatsächlich beschuldigt wurde, unrechtmäßig Besitz an sich genommen zu haben.173 Gerade in diesem Kontext könnte nach LINDA DOHMEN Matfrid neben Hugo als einer der in der B-Fassung der Epistola generalis genannten tyrannischen Akteure identifiziert werden.174 Dass Walahfrid die besitzentfremdenden Grafen Warin und Ruthard in den Mittelpunkt der zitierten Vitenstellen gerückt hat, macht durch die greifbaren Querbezüge einen Konnex zum politischen Geschehen der Zeit um 830 und ihrer Verarbeitung in der Folge der Geschehnisse durchaus plausibel. Folgendes macht das nochmals deutlicher: Auffällig in Bezug auf die rebellischen Grafen ist, || 165 Vgl. TREMP (Anm. 158), S. 24. 166 Vgl. ebd., S. 25. 167 Vgl. SCHÄPERS (Anm. 143), S. 237f. Vgl. zur Teilnahme Matfrids am Aufstand 833 auch DEPREUX (Anm. 151), S. 331. 168 Vgl. SCHÄPERS (Anm. 143), S. 259 und 296f. 169 DE JONG (Anm. 14), S. 149. 170 Vgl. ebd., S. 152. 171 Vgl. AIRLIE, STUART: The World, the Text and the Carolingian: Royal, Aristocratic and Masculine Identities in Nithard’s Histories, in: WORMALD, PATRICK/NELSON, JANET L. (Hrsg.): Lay Intellectuals in the Carolingian World, Cambridge 2007, S. 51–76, hier S. 68 mit Anm. 64. Vgl. dazu auch Booker (Anm. 160), S. 41. 172 Vgl. ebd., S. 40f. 173 Vgl. DIESENBERGER, MAXIMILIAN: »Über die verfluchenswerten Laster«. Eine Predigt aus der Zeit Ludwigs des Frommen, in: DEPREUX, PHILIPPE/ESDERS, STEFAN (Hrsg.): La productivité d’une crise. Le règne de Louis de Pieux (814–840) et la transformation de l’Empire carolingien/Produktivität einer Krise. Die Regierungszeit Ludwigs des Frommen (814–840) und die Transformation des karolingischen Imperiums, Ostfildern 2018 (Relectio. Karolingische Perspektiven/Perspectives carolingiennes/Carolingian Perspectives 1), S. 217–33, hier S. 223, und DOHMEN (Anm. 148), S. 176. 174 Vgl. ebd., S. 175.

288 | Christian Stadelmaier dass Matfrid und Hugo, obwohl nicht aus alemannischem Adel,175 Beziehungen zur Alemannia und auch, wie besonders im Falle Matfrids ersichtlich wird, zu St. Gallen pflegten. Das zeigt zum einen der Umstand, dass Matfrid als ambasciator, also sozusagen als »eine Art ›Sachbearbeiter‹«,176 in zwei Urkunden Ludwigs des Frommen für St. Gallen von 817 und 821 erscheint,177 zum anderen die Tatsache, dass Matfrid und Hugo an prominenter Stelle sowohl im Reichenauer als auch im St. Galler Verbrüderungsbuch zu finden sind.178 Daneben verfügten sie über Familienbesitz in dieser Region und hatten dort auch Kontakte.179 Die genannten Punkte bringen sie also damit neben den ähnlichen Vorwürfen durchaus ganz in die Nähe von Warin und Ruthard, den »fränkischen Grafen und Sachverwalter[n] Pippins in der Alamannia«.180 Die Bezüge Matfrids und Hugos zur Alemannia – dies muss jedoch im Unterschied zu Warin und Ruthard hervorgehoben werden – sind also meist positiv. Erst im Kontext der Rebellionen kommen die negativen Vorwürfe auf. Wie gezeigt, ist die negative Darstellung Warins und Ruthards aber ebenfalls nicht allein repräsentativ. Warin und Ruthard sind beispielsweise, dies kann hier differenzierend ergänzt werden, nicht im

|| 175 Vgl. dazu z. B. LE JAN, RÉGINE: Reichenau and its amici viventes: Competition and Cooperation?, in: MEENS, ROB [u. a.] (Hrsg.): Religious Franks. Religion and Power in the Frankish Kingdoms. Studies in Honour of Mayke de Jong, Manchester 2016, S. 262–78, hier S. 273. 176 KÖLZER (Anm. 111), S. 32f. (Zitat auf S. 33). 177 Vgl. DEPREUX (Anm. 151), S. 329f.; DEPREUX, PHILIPPE: Bitte und Fürbitte am karolingischen Hof. Zugleich ein Beitrag zur politischen Bedeutung der Ambasciatoren- und Impetratorenvermerke (Mitte 8. bis Mitte 9. Jahrhundert), in: Archiv für Diplomatik 58 (2012), S. 57–101, hier Anhang 1, S. 95f.; ZOTZ, THOMAS: Alemannien im Übergang von Karl dem Großen zu Ludwig dem Frommen, in: DENDORFER, JÜRGEN [u. a.] (Hrsg.): 817 – Die urkundliche Ersterwähnung von Villingen und Schwenningen. Alemannien und das Reich in der Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen, Ostfildern 2016 (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 83 = Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der Städtischen Museen Villingen-Schwenningen 39), S. 163–76, hier S. 173–75, mit S. 174, Anm. 81. Ebd., S. 175, wird darauf hingewiesen, dass Matfrid auch als Vermittler an einer Besitzrestitution Ludwigs des Frommen für St. Gallen beteiligt war. Dabei handelt es sich tatsächlich um Besitz, den laut Ratpert Ruthart von Sidonius erhalten haben soll, so BORGOLTE (Anm. 27), S. 233. Bei diesem Beispiel (Uznach), so ebd., S. 234, sollen »eigennützige[] Motive, die die St. Galler Überlieferung den Konfiskationen Warins und Ruthards unterstellt«, aber »kaum vorauszusetzen« sein. Zur Klärung der Entsprechung der Beispiele vgl. die Angaben bei ZOTZ (oben), S. 175, Anm. 89, mit Verweis auf diese und weitere Stellen bei BORGOLTE (Anm. 2). 178 Vgl. ZOTZ (Anm. 177), S. 174. Speziell zum Reichenauer Verbrüderungsbuch vgl. LE JAN (Anm. 175), S. 270–74. Vgl. dazu auch BUTZ, EVA-MARIA: Die Memoria Ludwigs des Frommen in St. Gallen und auf der Reichenau. Herrschergedenken zwischen Krise und Konsens, in: DENDORFER, JÜRGEN [u. a.] (Hrsg.): 817 – Die urkundliche Ersterwähnung von Villingen und Schwenningen. Alemannien und das Reich in der Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen, Ostfildern 2016 (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 83 = Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der Städtischen Museen VillingenSchwenningen 39), S. 145–59, hier S. 152f. 179 Vgl. LE JAN (Anm. 175), S. 273. 180 ZETTLER 2001 (Anm. 2), S. 320.

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Gedenkbuch St. Gallens aufgenommen worden, finden sich aber im Verbrüderungsbuch der Reichenau unter den Wohltätern des Klosters,181 was eine weitere Parallele zu Matfrid und Hugo herstellt und zeigt, dass im Falle Warins und Ruthards auch dezidiert zwischen negativer Memoria und tatsächlicher Wirkung unterschieden werden muss. Die ähnlich negative Darstellung Matfrids und Hugos und die an sie gerichteten ähnlichen Vorwürfe sind im Kontext der Rebellionen zu sehen. Es ist davon auszugehen, dass Walahfrid durch seinen alemannischen Hintergrund und den Umstand, dass er Mönch auf der Reichenau war,182 das ursprünglich positive Ansehen der Grafen in Alemannien bekannt war. Dem scheint jedoch aufgrund der Rolle der Grafen in der Rebellion keine Bedeutung mehr zugesprochen worden zu sein. Der dem Kaiser gegenüber loyale Walahfrid maß dem Verrat die größere Bedeutung bei.183 So könnte er tatsächlich mit seiner zugespitzten Darstellung von Warin und Ruthard die beiden Grafen seiner Gegenwart und die damit verbundenen Implikationen als negative gräfliche Rollenmodelle im Sinn gehabt haben, oder er hat die negative Memoria von Warin und Ruthard aufgrund ihrer Passgenauigkeit in Bezug auf die Vorwürfe so aktualisiert, dass sie auf Matfrid und Hugo zu beziehen waren. Damit ließen sich Walahfrids nur schlecht nachvollziehbare Anpassungen in den Viten erklären, und TISCHLERs oben zitierte These vom Gegenwartsbezug der Grafendarstellungen wäre zu bestätigen. Beachtenswert ist außerdem das Paktieren der Grafen und Bischöfe in den Quellenberichten zu den Rebellionen und ihre Entsprechung in der Gallusvita Walahfrids. Es scheint daher evident, dass Walahfrid den historischen Kontext in Bezug auf die Grafen und den Bischof seiner Wahrnehmung der Rollen der weltlichen und geistlichen Protagonisten der Rebellionen gegen Ludwig den Frommen angepasst und auf narrativer Ebene zusammengeführt hat. Was das Handeln in den Auseinandersetzungen betrifft, wurde offenbar die programmatische Ermahnung hinsichtlich der Habgier während Ludwigs Regierungszeit gezielt als Mittel dafür eingesetzt, das Missverhalten der Rebellen zu beschreiben und zu definieren: Dies muss gerade nicht aus unserer Perspektive historisch nachweisbaren Vorgängen entsprochen haben. Insbesondere die narrative Vermittlung normativer Aspekte als Tatsachen dient der Kenntlichmachung des rebellischen Handelns. Dies belegt, dass die normativen Forderungen der oben zitierten Quellen aus der Zeit vor der Krise nun bewusst als den Tatsachen entsprechend eingesetzt wurden, um das Missverhalten zu kennzeichnen. Vor allem die Todsünde Habgier wurde im Nachgang der Geschehnisse als Grund für die Auflehnung gegen den Kaiser stilisiert. Diese einengende Erklärung der Zeitgenossen ist ein Deutungsmuster, das sich aus dem Mahndiskurs bezüglich der Habgier ergibt. Scheinbar konnte die Rebellion nur so plausibel vermittelt werden. So ist also vor allem die

|| 181 Vgl. BORGOLTE (Anm. 27), S. 285. 182 Vgl. TREMP (Anm. 25), S. 219. Speziell zur alemannischen Herkunft ZETTLER 2003 (Anm. 2), S. 74. 183 Zur Loyalität Wahlahfrids vgl. z. B. BOOKER (Anm. 162), S. 84, und DE JONG (Anm. 14), S. 73.

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identische Verwendung der narrativen Muster von Tyrannei und ihrer Charakteristika Habgier und Hochmut für dieselben Gruppierungen in Texten der Krisenjahre sowie der Jahre davor und ihrem Nachgang eine auffällige Tatsache, und die Verbindungen zu den realgeschichtlich nicht immer genau erkennbaren Prozessen ist nicht von der Hand zu weisen. Wie oben bereits thematisiert, wies Walahfrid schon in seiner Visio Wettini mahnend auf die Habgier von Geistlichen und vor allem von Grafen hin. PETER GODMAN konstatiert gar, dass viele der »abuses which Visio Wettini denounces«, darunter auch hier relevante Punkte, »link this text with the concerns of the reforming party at court led by Benedict of Aniane.«184 Die mittlerweile revidierte Ansicht der zwei Gegenparteien am Hof Ludwigs des Frommen muss bei der Bewertung des Zitats berücksichtigt werden.185 Im Sinne der jüngeren Forschungen zeigt dies aber, dass die problematisierten Sachverhalte generell und unabhängig von irgendwelchen mutmaßlichen Parteinahmen weit verbreitet waren. Dabei ist wiederum auf die oben bereits angesprochene Mahnpraxis am Hof und generell zu verweisen. In seinen Viten, die zeitlich synchron zu den Auseinandersetzungen und in deren Nachgang entstanden sind, werden diese Dinge wieder gezielt aufgenommen. In Bezug auf die »explizierende Rede« in Heitos Fassung der Visio Wettini sieht UTA KLEINE intensive Anklänge an den »aktuellen politischen Diskurs«.186 Generell konstatiert sie ein »Zusammenspiel von visionärer Zukunftsschau und politischer Gegenwartsanalyse«.187 Bei Walahfrid ist damit eine Interaktion zwischen hagiographischer Rückschau und politischgesellschaftlicher Analyse in der Gegenwart der Entstehungszeit der Texte erkennbar. Die Verflechtung mit der historischen Gegenwart und ihrer zeitnahen narrativen Verarbeitung ergibt sich bei Walahfrid also dadurch, dass er den historischen Kontext seiner Viten erzählerisch verändernd offensichtlich konkret an die historisch-politischen Gegebenheiten der 810er bis 830er Jahre anpasst, die Geschichte St. Gallens mit der Reichsgeschichte überkreuzt und damit offenbar anachronistische und historisch betrachtet unkorrekte Parallelen zwischen den Akteuren in den Viten und denen der Krisenzeit um 830 evoziert. Gerade durch die zugespitzte, die Ereignisgeschichte nur tendenziös und nicht immer ganz gesichert wiedergebende Darstellung der Quellen zur Krisenzeit kann damit eine Parallele zwischen Pippin und Ludwig dem Frommen als Unterstützer des Klosters gesehen werden, eine weitere zwischen den Grafen Warin und Ruthard und den Grafen Matfrid und Hugo und eine letzte zwischen Sidonius und den Bischöfen – hier beispielsweise mit Jesse von Amiens und ganz zentral Ebo von Reims –, die sich in der Krise gemeinsam mit den Grafen gegen Ludwig stellten || 184 GODMAN (Anm. 4), S. 273. 185 Vgl. auch DIETER GEUENICHs kritische Auseinandersetzung mit der ›anianischen Reform‹: GEUENICH, DIETER: Kritische Anmerkungen zur sogenannten »anianischen Reform«, in: BAUER, DIETER R. [u. a.] (Hrsg.): Mönchtum – Kirche – Herrschaft 750–1000. FS Josef Semmler, Sigmaringen 1998, S. 99–112. 186 KLEINE (Anm. 90), S. 164. Vgl. zur Bezugnahme der Textanalyse auf Heitos Fassung ebd., S. 151, sowie zu den Fassungen der Visio Wettini S. 149f. 187 Ebd., S. 166.

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oder auf diese Weise von ihren Zeitgenossen wahrgenommen wurden. Letztlich sind die Zusammenhänge durch die Bezüge der Texte zum historischen Kontext aber doch frappierend. Dadurch wird der Bezug der untersuchten Vitenstellen zu den historischen Ereignissen kurz vor ihrer Entstehungszeit umso plausibler und zeigt, dass die Diskurse in den Texten reale Vorbilder haben, die jedoch erzählerisch der offensichtlich eigentlichen Intention Walahfrids angepasst wurden. Die verfremdeten historischen Beispiele sind das Setting, in dem das Tyrannenmotiv und die damit verbundenen Charakteristika angesiedelt sind und ihren Zweck im Kontext der correctio als mahnendes Exempel erfüllen. Es ist Walahfrid damit durchaus zu unterstellen, dass er die Inhalte der Viten bewusst in diesem Kontext und aufgrund der genannten Intention erzählerisch anachronistisch ausgestaltet hat. Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen zu dem den untersuchten Quellenstellen gemeinsamen Tyrannenmotiv mit seinen Charakteristika und auf der Basis der aufgezeigten Verbindung zum historischen Kontext der Jahre um 830 steht abschließend der Versuch, wieder eine Verbindungslinie zu De imagine Tetrici zu ziehen. Die anachronistische Ausgestaltung, dies vorweg, liegt bei diesem Beispiel durch die bereits angesprochene Gegenüberstellung von Theoderich und Ludwig dem Frommen auf der Hand. Allein durch Ludwig ist hier ein Gegenwartsbezug evident. Interessant ist dabei, dass der in den Walahfrid’schen Viten und ferner den Texten, die sich mit den Rebellionen befassen, zentrale Aspekte der Tyrannei und ihrer Signa Habgier und Hochmut antizipiert werden. Das Gedicht entstand 829 am Aachener Hof,188 an dem der Neuankömmling Walahfrid die Spannungen registriert haben muss.189 Gerade die Entlassung Matfrids von Orléans und Hugos von Tours, die, wie oben dargelegt, erst kurz zurücklag, und die damit verbundene Situation muss er zur Kenntnis genommen haben. So ist durchaus mit HERREN zu konstatieren, dass ohne ein gewisses Verständnis der Ereignisse am kaiserlichen Hof im Jahr 829 und während der vorangehenden Zeit der Bedeutungsgehalt des Gedichts kaum verstanden werden könne.190 HOMEYER sieht nur geringe Bezugnahmen Walahfrids auf die bestehenden politischen Verhältnisse während der Entstehungszeit des Gedichts.191 GODMAN geht dagegen soweit, zu bemerken, dass Walahfrid sein Publikum mit dem Gedicht vor den »dangers within the empire« warnte,192 wobei auch die Theoderich zugewiesene avaritia ein

|| 188 Vgl. dazu z. B. HERREN (Anm. 4), S. 25; GODMAN (Anm. 4), S. 274; DE JONG (Anm. 14), S. 94; SMOLAK (Anm. 1), S. 89f. 189 Vgl. GODMAN (Anm. 4), S. 274f.; HELLGARDT (Anm. 7), S. 136; DE JONG (Anm. 14), S. 95. HERREN (Anm. 1), S. 119, konstatiert treffend: »The poet’s anxiety for the future of the empire pervades the poem.« Zu Walahfrids Eintreffen am karolingischen Hof in Aachen 829 vgl. BREDEKAMP (Anm. 4), S. 280; GODMAN (Anm. 4), S. 274; HERREN (Anm. 1), S. 118; DE JONG (Anm. 14), S. 94; SMOLAK (Anm. 1), S. 93. 190 Vgl. HERREN (Anm. 4), S. 26. Vgl. dazu auch HERREN (Anm. 1), S. 119. Ähnlich bereits HOMEYER (Anm. 14), S. 908. 191 Vgl. ebd. 192 GODMAN (Anm. 4), S. 285, und vgl. auch S. 287.

292 | Christian Stadelmaier narratives Mittel dieser Krisenpropheterie sein soll.193 Dass Walahfrid eine Warnung intendiert haben könnte, wird ihm bereits bei FRIEDRICH VON BEZOLD unterstellt.194 VON BEZOLD zieht dabei auch Verbindungslinien zum gegenwärtigen politischen Geschehen 829: So würden sich »unabweisbar die beherrschenden Sorgen und Wünsche der Tagespolitik in die Huldigungen [drängen], die er den führenden Persönlichkeiten des Hofs darbringt«, womit sich Walahfrid, obwohl »unpolitische[r] Natur«, dennoch unter Zwang sah, »Partei zu ergreifen.«195 Ähnliche Ansätze finden sich in der älteren Literatur auch andernorts: Nach ALOIS DÄNTL sei nicht beachtet worden, »daß die Statue Theoderichs für Walahfrid nur das Symbol des zu vernichtenden politischen Gegners abgeben mußte«, und in der Konsequenz weist er De imagine Tetrici »eine ausgesprochen politische Tendenz« zu.196 Weiter konstatiert DÄNTL: »In dieses Ränkespiel der Parteien klingen warnend Walahfrids Verse.«197 Hier erscheint auch bereits der Verweis auf die primäre Bedeutung der »Habsucht Theoderichs« in der Gegenüberstellung der Vertreter »der Reichseinheit« mit »ihren durch Theoderich personifizierten Gegnern«.198 Dabei nennt er im weiteren Verlauf seiner Argumentation auch Jesse von Amiens, Hugo von Tours und Matfrid von Orleans als Widersacher Ludwigs des Frommen.199 Auch KARL HAUCK möchte im Text eine Warnung der »siegreiche[n] Hofpartei« sehen.200 Er ist ebenfalls von einer politischen Wirksamkeit des Gedichts überzeugt.201 Grundsätzlich sieht HAUCK hier eine Parteinahme des Autors gegen ein an Dietrich (Theoderich) gebundenes Komplott des Adels.202 Auch wenn Walahfrid durchaus die Statue angegriffen habe, ziele er »dabei zugleich auf Dietrich als Haupt einer ganzen Gruppe«, nämlich die »der superbi und tyranni«.203 Dabei bringt er ähnlich wie DÄNTL die Rebellen zum einen mit den Theoderich zugeschriebenen Untugenden und zum anderen mit dem Götzendienst in Verbindung.204 Generell wurde kritisiert, dass HAUCK das Gedicht »zur historischen Quelle für eine angebliche Rolle der Dietrich-Figur bei der Adels-coniuratio, die zum Sturze Ludwigs führte«, mache.205 Damit ist die ereignisgeschichtliche Analyse HAUCKS als problematisch zu betrachten. Dass die Ansätze, die im Gedicht verfolgt werden, diskursiver Natur sind, wird oben aufgezeigt. Was an || 193 Vgl. GODMAN (Anm. 4), S. 283. 194 Vgl. VON BEZOLD, FRIEDRICH: Kaiserin Judith und ihr Dichter Walahfrid Strabo, in: Historische Zeitschrift 130 (1924), S. 377–439, hier S. 386. 195 Ebd., S. 389. 196 DÄNTL (Anm. 1), S. 2 197 Ebd., S. 25. 198 Ebd. 199 Vgl. ebd., S. 27. 200 HAUCK (Anm. 76), S. 163. 201 Vgl. ebd., S. 164, und auch S. 156. 202 Vgl. ebd. und die darum kreisende Argumentation ebd., S. 156–64. 203 Ebd., S. 157. 204 Vgl. ebd., S. 162. 205 THÜRLEMANN (Anm. 1), S. 27.

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dieser Stelle aus heutiger Perspektive zusätzlich als besonders problematisch zu werten ist, ist der Umstand, dass HAUCKs Thesen ebenso wie jene DÄNTLs und VON BEZOLDs dem mittlerweile überholten antagonistischen Ansatz zweier gegensätzlicher Parteien im Reich Ludwigs des Frommen geschuldet sind. Es ist gerade in diesem Kontext gemäß DE JONGs Ansicht sicherlich nicht zielführend, Walahfrid aufgrund des Gedicht als einen »prophet of doom« anzusehen.206 Dennoch kann wegen der zentralen Bedeutung des Tyrannenmotivs im Gedicht und den ihm anhängigen Aspekten dieses doch als ein Mittel der Ermahnung betrachtet werden, das realistische gegenwärtige Unstimmigkeiten am Hof diskursiv aufgreift. DE JONG hält es für möglich, dass Walahfrids »appeal to concordia« eine »reference to the various tensions«, die er registriert habe, gewesen sei, ergänzt aber einschränkend, dass er als Neuankömmling »would have been careful not to give any offence.«207 Eine weitere mahnende Intention, um im Sinne DE JONGs in der Konsequenz der wahrgenommenen Probleme die concordia am Hof zu wahren, ist damit unter Beachtung der bisherigen Ausführungen ebenfalls näherliegend als die älteren, überholten Prämissen geschuldeten Thesen. Theoderich kann demnach aufgrund seiner Bezeichnung und Charakterisierung als Tyrann als mahnender Gegenpol zu Ludwig dem Frommen, aber auch als ein mahnendes Exempel in Hinblick auf die sich zuspitzende, nicht der intendierten Ordnung entsprechende tatsächliche Situation am Hof und im Reich interpretiert werden.208 Werden VON BEZOLDs und vor allem DÄNTLs und HAUCKs Thesen von ihren überholten Prämissen gelöst und in die hier betrachteten alternativen Ansätze (correctio und admonitio) eingebunden, können damit durchaus realhistorische Bezüge im Gedicht gesehen werden, die jedoch auf erzählerischer Ebene diskursiv thematisiert werden und deshalb nicht oder nur bedingt für ereignisgeschichtliche Fragen herangezogen werden können. Für eine diskursive Verbindung der Tyrannenmotivik mit den Geschehnissen der Krisenjahre spricht letztlich der Umstand, dass Walahfrid in einem der Königin Judith gewidmeten Traumgedicht von 834, in dem er die Geschehnisse der vorangegangenen Jahre verarbeitet, das Tyrannenmotiv aufgreift und mit den Rebellionen zusammenbringt:209 Solaque per gremium regni nutantis ineptos / Perfidia exeruit fervore tyrannidis ausus (V. 6f.: »Allein der Verrat entblößte mit der Glut der Tyrannei die

|| 206 DE JONG (Anm. 14), S. 95 und 112. 207 Ebd., S. 95. Ähnlich zuvor bereits HOMEYER (Anm. 14), S. 908f. Neuerdings auch HELLGARDT (Anm. 7), S. 136, der zudem konstatiert, dass hinsichtlich De imagine Tetrici trotzdem die Frage erörtert werden könne, »inwieweit es […] den Charakter eines politischen Gedichts trägt.« 208 Vgl. dazu auch DE JONG (Anm. 14), S. 95. 209 Benutzte Ausgabe: Walahfridi Strabi carmina, 24: Ad eandem de quodam somnio, in: DÜMMLER, ERNST (Hrsg.): Poetae Latini aevi Carolini (II), Berlin 1884 (MGH Poetae 2), S. 379f. Im Folgenden eigene Übersetzung. Vgl. zu den angesprochenen Aspekten DUTTON, PAUL EDWARD: The Politics of Dreaming in the Carolingian Empire, Lincoln/London 1994 (Regents Studies in Medieval Culture), S. 105–07, und VON BEZOLD (Anm. 194), S. 425f. Ergänzend zum Bezug der »dream-poetry« zu den »revolts of 831 and 833« GODMAN (Anm. 4), S. 286, und vgl. neuerdings HELLGARDT (Anm. 7.), S. 166f.

294 | Christian Stadelmaier törichten Unternehmungen im Innersten des wankenden Reichs«).210 Wenngleich die Habgier hier nicht wörtlich genannt wird, so hat PAUL EDWARD DUTTON das Gedicht als »allegorical exercise« bezeichnet, die zeige, dass »the tyrants were not identified as individuals, but as the evil impulses impiety and greed.«211 Bereits zuvor konstatiert er, »[t]he rebels remind us of his image of Theoderic as avaricious and tyrannical«,212 wodurch sich der Kreis schließt. Das, was Walahfrid vor den Rebellionen mahnend mit dem Tyrannenmotiv in De imagine Tetrici in den Blick nimmt, greift er im Nachgang der Krise mit derselben Motivik, die komplementär in der Aufarbeitung der Geschehnisse der Jahre 830 und 833 von anderen verwendet wird, auch in seinen Viten auf. In Bezug auf die älteren Thesen resümiert FELIX THÜRLEMANN beispielsweise kritisch: »Die These von der politischen Funktion der Standbildbeschreibung, die sich auf keine eindeutige Textstelle stützen kann, wird so zu einem Passepartout der Interpretation.«213 Die genannten intertextuellen Bezüge und die vorgebrachten Argumente können diese Sicht der Dinge relativieren und ordnen damit den greifbaren politischen Kontext narrativ-diskursivierend in andere Zusammenhänge ein als die ältere Forschung. Nachgewiesen wird dies gerade durch das zuletzt zitierte Gedicht: Walahfrid spricht mit der Tyrannenmotivik und ihren Implikationen ganz direkt die Rebellen, Widersacher und Peiniger Ludwigs des Frommen an, bei denen es sich eben gerade um Grafen und Bischöfe handelte. Durch diese Erweiterung der intertextuellen Querbezüge zeigt sich die inhaltlich-thematische und damit zugleich realhistorisch-politische Verbindungslinie vom Gedicht De imagine Tetrici zu den Stellen in den Viten explizit. Der correctio entgegengesetzte Gesichtspunkte, auf die vor den Rebellionen mit der Tyrannenmotivik eingegangen wurde, werden von Walahfrid im Nachgang der Krise in ihrer Verarbeitung ebenfalls als korrektem Handeln entgegengesetzt aufgegriffen. Der zentrale Konnex ist neben dem Hochmut vor allem die Habgier als das wichtigste Charakteristikum der Tyrannei. Gerade letztere wird vor den Rebellionen mahnend thematisiert und danach genauso ermahnend als Grund für die Rebellionen ins Feld geführt. Die untersuchten Quellenstellen können damit nicht nur auf der narrativen Ebene des Tyrannenmotivs in ihrer Verflechtung mit Habgier und Hochmut, sondern auch auf einer erzählerisch frei gestalteten realhistorischen Ebene als verflochten angesehen werden, die sich chronologisch von der Mitte des 8. Jahrhunderts bis in die 830er-Jahre zieht und auf die tagespolitischen Vorgänge der Krisenjahre um 830 abzielt. Die realhistorischen Aspekte sind aufgrund der eigenständigen narrativen Ausgestaltung der untersuchten Quellen aber eindeutig den moralisch-theologischen Intentionen des Autors untergeordnet. Das belegen die verklausulierte Darstellung und

|| 210 Vgl. dazu DUTTON (Anm. 209), S. 105. 211 Ebd., S. 106. 212 Ebd. 213 THÜRLEMANN (Anm. 1), S. 26.

Der Tyrann bei Walahfrid Strabo – ein programmatisches Leitmotiv? | 295

zugespitzte tendenziöse Thematisierung gegenwärtiger ereignisgeschichtlicher politischer Entwicklungen um 830. Besonders die aufgezeigten Bezüge zur Gegenwart mahnen zu korrektem Verhalten und Handeln. Die Texte Walahfrids diskursivieren durch ihre narrative Ausgestaltung die Geschehnisse um 830.

4 Fazit Tyrann oder tyrannisch handelnder Akteur ist bei Walahfrid Strabo derjenige, der die karolingische moralisch-theologische Ordnung, also auch intendierte und im Diskurs befindliche Normen, nicht respektiert und deshalb als Gegenbeispiel zu aus seiner Perspektive richtig handelnden Akteuren konstruiert wird. Das narrative Motiv des Tyrannen oder tyrannisch handelnden Akteurs baut bei Walahfrid scheinbar immer auf denselben Strukturen und Inhalten auf: die Tyrannei beziehungsweise der Tyrann definieren sich über Habgier und Hochmut. Dazu greift Walahfrid auf das antike Tyrannenbild zurück, was in dieser konzisen Form in der Karolingerzeit sonst offenbar nicht vergleichbar gehandhabt wurde. Über dieses Tyrannenbild bringt Walahfrid prominente isolierte Diskurse zusammen. So lässt sich Walahfrids Tyrannenkonzept im Kontext der karolingerzeitlichen correctio verorten. Es dient dabei als mahnendes Exempel. Des Weiteren wird deutlich, dass Walahfrid dazu in seinen beiden hier betrachteten Viten bestimmte Ereignisse erzählerisch anachronistisch umformt. Insgesamt lassen die hier präsentierten Befunde deutlich erkennen, dass das Tyrannenkonzept in den untersuchten Texten Walahfrids die Funktion eines programmatischen Leitmotivs besitzt, welches in den aktuellen politischen Anliegen der correctio und admonitio einzuordnen ist.

Albrecht Dröse

Si bienen die sie wolten – Invektiven gegen päpstliche Willkür in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts 1 Vorüberlegungen zum Topos der päpstlichen Tyrannei Die Rede von der ›päpstlichen‹ bzw. ›römischen Tyrannei‹ markiert zunächst einmal einen protestantischen Topos in den konfessionellen Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit, mit Nachwirkungen bis in die Moderne. Im Anschluss an NOAH BUBENHOFER ließe sich von einem »Sprachgebrauchsmuster« sprechen, das heißt von einer im gegebenen Korpus überzufällig häufigen Wortverbindung (Kollokation), deren Rekurrenz eine diskursive Praxis indiziert.1 Zurückführen lässt sich dieser Sprachgebrauch in erster Linie auf Luther selbst,2 der beispielsweise in seiner Schrift An den Christlichen Adel deutscher Nation (1520) von der römischen Kurie als der tyranney der hellischen pforten spricht, die die christenheit on leyp und seel vorterbet, sein wir hie schuldig allen vleisz furtzuwenden, solch jamer und zurstorung der christenheit zu weren.3 Bei Luther fungiert der Begriff der Tyrannei als eine Invektive, das heißt, er dient der öffentlichen Bloßstellung und Delegitimation des Papsttums als einer letztlich antichristlichen Institution, woraus sich Luthers Appell ableitet, diese ungerechte, ungerechtfertigte und vor allem widergöttliche Herrschaft zu beenden.4 Zur Prominenz || 1 Vgl. BUBENHOFER, NOAH: Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse, Berlin/New York 2009 (Sprache und Wissen 4), S. 309. Die Fülle der Belege kann hier nicht ausgebreitet werden, exemplarisch sei verwiesen auf die Vorrede zur Druckausgabe des Schoen Spiel von Fraw Jutten des Hieronymus Tilesius, in dem er die Argumente seines Gegners Julius Pflugk als bloß vorgeschoben bezeichnet, allein zu begrefftigung der Bäpstischen Barbarischen tyranney. Benutzte Ausgabe: Dietrich Schernberg: Ein schön Spiel von Frau Jutten. Nach dem Eislebener Druck von 1565, hrsg. von MANFRED LEMMER, Berlin 1971, hier S. 93f. Vgl. auch das Lemma ›tyrannei‹ im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB-online): »im Gefolge der Reformation wird der katholischen Kirche und ihren Vertretern tyrannei zugeschrieben«, online unter: https://fwb-online.de/lemma/tyrannei.s.1f?q=tyrannei&page=1 (Abrufdatum: 28.08.2021). 2 Siehe dazu auch den Beitrag von JOHANNES KLAUS KIPF im vorliegenden Band. 3 Benutzte Ausgabe: Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 6, hrsg. von KARL KNAAKE, Weimar 1888, S. [381] 404–69; hier S. 427. 4 Vgl. VON FRIEDEBURG, ROBERT: Art. Tyrannis, in: Der Neue Pauly, Bd. 15/3 (2006), Sp. 685–94; MANDT, HELGA: Art. Tyrannis, Despotie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6 (1990), S. 651–706. Mit dem Begriff der Invektive schließe ich an den Dresdner SFB 1285 Invektivität. Konstellationen und Dynamiken https://doi.org/10.1515/9783110752373-014

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dieses Topos hat beigetragen, dass Luther dem politischen Begriff der Tyrannis auch eine theologische Bedeutung abgewann, wie sich etwa in De captivitate Babylonica ecclesiae (Oktober 1520) zeigt, wo er von der babylonischen Gefangenschaft der Christenheit spricht und diese als römische Tyrannei, also als Unterdrückung der Gläubigen durch Vorschriften und Gewissenszwang expliziert, wogegen er wenig später die Freiheit eines Christenmenschen (November 1520) profiliert.5 Luther hat diese Zuschreibung jedoch nicht selbst erdacht; vielmehr fand er dieses Muster, wie KURT STADTWALD plausibel gemacht hat, im Diskurs der deutschen Humanisten vorgeprägt,6 etwa bei Ulrich von Hutten, als Verfasser des Phalarismus ohnehin einer der Experten für Tyrannis im frühen 16. Jahrhundert.7 In seinem Dialog Vadiscus empören sich die Dialogfiguren Hutten und Ernhold gemeinsam über die Tyrannei der römischen Kurie, die Deutschland ausbeute und unterdrücke.8 Zuvor hatte bereits Erasmus von Rotterdam in seinem satirischen Dialog Julius exclusus (1513) den berüchtigten Papst Julius II. als arroganten Krieger vorgeführt, der vergeblich am Himmelstor rüttelt und den Türhüter und Vorgänger Petrus schließlich zu dem Kommentar veranlasst: Tyrannum plus quam mundanum videre me, Christi hostem, Ecclesiae pestem (»Daß ich einen mehr als weltlichen Tyrannen gesehen hätte, den Feind Christi und das Unheil der Kirche«).9 Die Virulenz solcher Invektiven ergibt sich aus ihren histo|| der Herabsetzung an. Zu diesem Konzept der Invektivität vgl. ELLERBROCK, DAGMAR [u. a.]: Invektivität – Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2 (2017), S. 2–14, hier S. 2: »Invektivität soll jene Aspekte von Kommunikation (verbal oder nonverbal, mündlich, schriftlich, gestisch oder bildlich) fokussieren, die dazu geeignet sind, herabzusetzen, zu verletzen oder auszugrenzen«. Der kommunikationstheoretische Ansatz ist darauf ausgerichtet, die Invektiven von ihren vielschichtigen historischen Konstellationen her zu analysieren. Hierbei stellt sich auch die Frage nach den jeweils verwendeten Gattungen, Formen und Sprachgebrauchsmuster. Vgl. dazu die Beiträge in: SABLOTNY, ANTJE [u. a.] (Hrsg.): Invektive Gattungen. Formen und Medien der Herabsetzung. Sonderheft der Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift 2/2021 (im Erscheinen). 5 Benutzte Ausgabe: Martin Luther: De captivitate Babylonica ecclesiae/Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Lateinisch/Deutsch, hrsg. und übers. von HANS HERMANN TIEMANN, Stuttgart 2016, unter anderem S. 6, 120 und 190. Zu diesem Zusammenhang vgl. demnächst DRÖSE, ALBRECHT: Die Funktion der Invektive für die lutherische Theologie (in Vorbereitung). 6 Vgl. STADTWALD, KURT: Roman Popes and German Patriots. Antipapalism in the Politics of the German Humanists Movement from Gregor Heimburg to Martin Luther, Genf 1996. 7 Vgl. zu Hutten unter anderem KRAUS, MARIUS: Invektivität und Öffentlichkeit. Die Bedeutung der humanistischen Invektiven Ulrichs von Hutten im Kontext der publizistischen Fehde gegen Herzog Ulrich von Württemberg, in: ISRAEL, UWE [u. a.] (Hrsg.): Agonale Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung im italienischen und deutschen Humanismus, Heidelberg 2021 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Beihefte 17), S. 243–80. 8 Benutzte Ausgabe: Ulrich von Hutten: Vadiscus sive Trias Romana, in: Ulrichs von Hutten Schriften, hrsg. von EDUARD BÖCKING, Bd. 4: Gespräche, Leipzig 1860, S. 145–261, unter anderem S. 213, 222 und 225. Vgl. STADTWALD (Anm. 6), S. 92–103. 9 Benutzte Ausgabe: Erasmus von Rotterdam: Papst Julius vor der Himmelstür/Julius exclusus e coelis, hrsg. und übers. von WERNER VON KOPPENFELS, Mainz 2011, S. 138f.

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rischen Konstellationen: STADTWALD verweist auf die spezifischen Ressentiments der deutschen Humanisten, die sich aus Erfahrungen der Zurücksetzung speisten, die sie in Italien machen mussten. Dort lernten sie aber auch die literarische Tradition des Pasquills kennen, in der unter anderem das tyrannische Gebaren mancher Päpste in Form von Personalsatiren thematisiert wurde, und adaptierten sie für ihre Zwecke.10 Zudem ist die humanistische Invektive gegen die römische Tyrannei nicht ohne ihren politischen Resonanzraum zu denken: Es war namentlich Kaiser Maximilian selbst, dem daran gelegen war, sein angespanntes Verhältnis zur Kurie auch publizistisch zu flankieren.11 Auffällig ist, dass die Humanisten sich intensiv darum bemühten, der päpstlichen Tyrannis auch eine historische Evidenz zu verleihen, indem sie die Leidensgeschichte der deutschen Könige und Kaiser seit dem Investiturstreit herausstellten. Eine wirkmächtige Narrativierung päpstlicher Tyrannis war die angebliche Demütigung Kaiser Friedrich Barbarossas durch Papst Alexander III., wonach der Papst dem Kaiser anlässlich ihrer Versöhnung 1177 den Fuß in den Nacken gesetzt habe, eine Umdeutung des Rituals des Fußkusses in eine Unterwerfungshandlung.12 Diese ›Fuß im NackenLegende‹ wurde mehrfach aufgegriffen, unter anderem von Robert Barnes in seiner Papsttrew Hadriani iiij. und Alexanders iij. gegen Keyser Friderichen Barbarossa geuebt (1545), die von Luther mit einer Vorrede versehen wurde.13 Die päpstliche Tyrannis fungierte somit als ein zentraler Gesichtspunkt für die Rekonstruktion deutscher Geschichte, die sich im Modus agonaler und invektiver Absetzung von anderen nationalen Selbstbeschreibungen vollzog.14 Eine solche Fokussierung hatte daher vor allem identitätspolitische Funktionen. Es ist allerdings auch die schiere Stofffülle selbst, die diesen historischen Bezug so fruchtbar erscheinen ließ: Die Humanisten aktualisierten ja nicht nur eine etablierte antirömische Topik, etwa diejenige der römischen Habgier (avaritita Romana),15 sondern schlossen dabei auch an einen älteren Diskurs über und gegen die päpstliche Herrschaft an. So hat Ulrich von || 10 Vgl. STADTWALD (Anm. 6), S. 59–70. 11 Vgl. ebd., S. 20f. 12 Vgl. dazu SCHREINER, KLAUS: Vom geschichtlichen Ereignis zum historischen Exempel. Eine denkwürdige Begegnung zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. in Venedig 1177 und ihre Folgen in Geschichtsschreibung, Literatur und Kunst, in: WAPNEWSKI, PETER (Hrsg.): Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion, Stuttgart 1986, S. 145–64; STADTWALD, KURT: Pope Alexander III’s Humiliation of Emperor Frederick Barbarossa as an Episode in Sixteenth-century German History, in: The Sixteenth Century Journal 23 (1992), S. 755–68; GÖRICH, KNUt: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, München 2011, S. 442–61, zur Legende S. 452–55. 13 Benutzte Ausgabe: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 54, Schriften 1543– 1546, hrsg. von KARL DRESCHER, Weimar 1928, S. [300] 310–45. Vgl. dazu ausführlich STADTWALD (Anm. 12). 14 Vgl. dazu HIRSCHI, CASPAR: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005. 15 Vgl. SCHÜPPERT, HELGA: Kirchenkritik in der lateinischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1972 (Medium Aevum 23), S. 43–57.

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Hutten 1520 die gegen Papst Gregor VII. gerichtete Streitschrift Liber de unitate ecclesiae conservanda herausgegeben und in seiner Anzöig wie allwegen sich die Römischen Bischöff oder Bäpst gegen den teütschen Kayßeren gehalten haben päpstliche Übergriffe auf die kaiserliche Herrschaft gewissenhaft dokumentiert.16 Daran anknüpfend stellen sich Fragen nach den Adaptationen und Transformationen dieser romfeindlichen Diskurse seit dem hohen Mittelalter. Das Ziel dieses Beitrags ist es, den Blick auf die Vorgeschichte der humanistischen und lutherischen Invektiven gegen päpstliche Tyrannis noch ein wenig zu erweitern. Ich möchte mich im Folgenden auf die Frage konzentrieren, ob und inwiefern die Kategorie bzw. Aspekte der Tyrannis auch in der hochmittelalterlichen Romkritik eine Rolle gespielt haben. Mir geht es dabei nicht um die politiktheoretische Reflexion päpstlicher Machtansprüche, sondern um den Topos der Tyrannis als Form invektiver Adressierung der päpstlichen Hierokratie. Wirklich angemessen ließe sich diese Frage nur in einer ausführlichen Korpusanalyse beantworten, die in diesem Rahmen nicht angezeigt ist. Ich beschränke mich zunächst auf einige Stichproben aus der Überlieferung zum Investiturstreit sowie zum sogenannten staufisch-welfischen Thronstreit.

2 Aspekte der Tyrannis in der Konfliktgeschichte von imperium und sacerdotium In der Tat lassen sich für den Gebrauch des Terminus ›Tyrannis‹ aus der Zeit des Investiturstreits einige Belege beibringen: Wie der Chronist Frutolf von Michelsberg berichtet, kursierte in Kreisen des deutschen Episkopats der Vorwurf, dass Gregor VII. nach Art eines Tyrannen (tyrannice) das Amt an sich gerissen (ursupasse) habe, weil er seine Inthronisation 1073 einer Art Inspirationswahl verdankte, die nicht den Regularien (die unter anderem die zumindest formale Bestätigung durch den deutschen König erforderten) entsprach.17 Die deutschen Bischöfe stießen sich an dem neuen

|| 16 Benutzte Ausgabe: Hern Ulrichs von Hutten Anzöig, wie allwegen sich die Römischen Bischöff oder Bäpst gegen den teütschen Kayßeren gehalten haben uff das kürtzst uß Chronicken und Historien gezogen, K. Maiestät fürzubringen, in: Ulrichs von Hutten Schriften, Bd. 5, hrsg. von EDUARD BÖCKING, Leipzig 1860, S. 365–84. 17 Der Bericht findet sich in der Weltchronik des Frutolf von Michelsberg. Benutzte Ausgabe: Frutolfs und Ekkehards Chroniken und die anonyme Kaiserchronik, hrsg. und übers. von FRANZ-JOSEF SCHMALE/ IRENE SCHMALE-OTT, Darmstadt 1972 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 15), S. 82/84: Qui cum absque regis consensu, solis tantum Romanis faventibus hunc apicem conscendisset, sunt qui illum non canonice constitutum, sed tyrannice papatum sibimet asseverent usurpasse (S. 83/85: »Da er ohne die Zustimmung des Königs, allein durch die Gunst der Römer diesen Thron bestiegen hatte, behaupteten manche, er sei nicht kanonisch zu seinem Amt gekommen, sondern habe das Papsttum mit Gewalt an sich gerissen«). Vgl. auch BENZINGER,

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Kommunikationsstil des Reformpapstes, der, wie es Erzbischof Liemar von Bremen formulierte, »was auch immer er will, seinen Bischöfen anbefehlen möchte, als wären sie seine [unfreien] Gutsverwalter [villici]«.18 Dementsprechend beschuldigten die deutschen Bischöfe den Papst in ihrem auf dem Wormser Hoftag 1076 formulierten Absageschreiben »grausamer Überheblichkeit und überheblicher Grausamkeit« (superba crudelitate et crudelique superbia) und betonten, dass er sich seine Macht unrechtmäßig angeeignet habe und damit die der gesamten Priesterschaft zustehenden Rechte zerstöre (potentiam tibi ursupando arrogas).19 König Heinrich IV. übernahm diese Zuschreibungen in seiner eigenen Absage an Gregor VII., wobei er in der ausführlicheren, im Reich zu propagandistischen Zwecken verbreiteten Fassung hervorhob, dass er selbst den Thron rechtmäßig innehabe (non ursupative), Hildebrand, der ›falsche Mönch‹ hingegen, der seine Mitbischöfe wie Knechte (sicut servos) behandle, sei nicht zur geistlichen Herrschaft (sacerdotium) berufen, weshalb Heinrich IV. den ›ewig Verdammten‹ bekanntlich aufforderte, von seinem Thron herabzusteigen.20 Trotz dieser aggressiven und im wahrsten Sinne des Wortes herabsetzenden Adressierung findet sich in diesen Schreiben keine direkte Anrede des Papstes als Tyrann, und natürlich wird auch nicht die Institution des Papsttums als Tyrannei bezeichnet. Meines Erachtens war die direkte Anwendung dieses Konzepts auf das Papsttum und den Papst vor allem aus begriffsgeschichtlichen Gründen blockiert: Der Tyrann ist seit Augustinus definiert als rex iniustus; der Begriff wurde also erstens auf Fehlformen innerweltlicher Herrschaft (dominium, imperium) bezogen und war nicht ohne Weiteres auf die päpstliche Hierokratie (sacerdotium) übertragbar, deren Selbstbeschreibung auf einer Dienstsemantik basiert (ministerium) und deren personale Spitze sich selbst mit dem Titel servus servorum dei bezeichnete.21 Zweitens fokussiert sich der hochmittelalterliche Diskurs über die Tyrannis vor allem auf das Verhalten und die Eignung von

|| JOSEF: Invectiva in Romam. Romkritik im Mittelalter vom 9. bis zum 12. Jahrhundert. München 1968, S. 66f., der diese Äußerung noch Ekkehard von Aura zuschreibt. 18 Zitiert nach BENZINGER (Am. 17), S. 66; vgl. auch WEINFURTER, STEFAN: Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2007, S. 111. 19 Benutzte Ausgabe: Das Wormser Absageschreiben an Gregor VII. 24. Januar 1076, in: Der Investiturstreit. Quellen und Materialien (Lateinisch/Deutsch), 2., völlig überarb. und stark erw. Aufl., hrsg. von JOHANNES LAUDAGE und MATTHIAS SCHRÖR, Köln [u. a.] 2006 (UTB 2769), S. 115–20 (Nr. 32), hier S. 116 und 118. 20 Heinrici IV. epistola Gregorio VII. missa (Brief Heinrich IV. an Gregor VII. vom 27. März 1076). Benutzte Ausgabe: Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV. Die Briefe Heinrichs IV. Das Lied vom Sachsenkrieg. Brunos Buch vom Sachsenkrieg, hrsg. und neu übers. von FRANZ-JOSEF SCHMALE, Das Leben Heinrichs IV., neu übers. von IRENE SCHMALE-OTT, Darmstadt 1963 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 12), S. 65–67. Vgl. auch LAUDAGE/SCHRÖR (Anm. 19), S. 122f. (Nr. 34). 21 Der Tyrann ist also das Gegenbild zum idealen rex iustus et pacificus. Für Isidor von Sevilla sind die tyranni sogar pessimi atque improbi reges (Etymologiae, IX,19f.). Benutzte Ausgabe: Isidorus Hispalensis: Etymologiarum sive originum libri XX, hrsg. von WALLACE MARTIN LINDSAY, 2 Bde., Oxford 1911;

302 | Albrecht Dröse Personen, die sich in Herrschaftspositionen befinden.22 Leitend für die Beschreibung sind historische Paradigmen schlechter, ungesetzlicher oder illegitimer Herrschaft, Figurationen der Gewaltherrschaft wie etwa Nero, Caligula oder Domitian, die sich nicht nur durch physische Grausamkeit, sondern auch durch ein charakteristisches Affektprofil auszeichnen; das mittelhochdeutsche Äquivalent zum Tyrannen lautet kaum zufällig wuoterich.23 All das war (trotz der Intransigenz Gregors VII.) nicht in gleicher Weise für den Papst und die Kurie zu plausibilisieren. Zumindest seiner Selbstbeschreibung nach ist das Papsttum trotz oder sogar wegen seiner spezifischen monarchischen Verfassung keine politische Entität unter anderen, sondern konstituiert sich ja gerade in Abgrenzung dazu.24 Die Selbstdarstellung, die Methoden und Kommunikationsformen geistlicher Herrschaft waren mit den gängigen Konzepten, Erzählungen und Bildern der Tyrannis nicht zur Deckung zu bringen.25 Der Diskurs über die Tyrannis arbeitete ohnehin eher der päpstlichen Argumentation zu: So ist es Papst Gregor VII., der König Heinrich IV. seinerseits als Tyrannen denunziert und dies mit einer invektiven Stilisierung seiner Persönlichkeit verknüpft.26 Aus Sicht der Kurie war es eben gerade der Papst, der sozusagen als ›leidender Gerechter‹ die Freiheit der Kirche (libertas ecclesiae) gegen die Übergriffe von Tyrannen verteidigte.27 Der Vorwurf der Tyrannis ist sogar von zentraler strategischer Bedeutung für die Argumentation der päpstlichen Partei: Dass Gregor VII. die deutschen Fürsten unerhörterweise von ihrem Treueeid gegenüber Heinrich IV. löste, wird unter anderem von Manegold von Lautenbach und Lampert von Hersfeld damit gerechtfertigt,

|| vgl. MANDT (Anm. 4), S. 661f., und MIETHKE, JÜRGEN: Der Tyrannenmord im späteren Mittelalter. Theorien über das Widerstandsrecht gegen ungerechte Herrschaft in der Scholastik, in: BEESTERMÖLLER, GERHARD [u. a.] (Hrsg.): Friedensethik im späten Mittelalter. Theologie im Ringen um die gottgegebene Ordnung, Stuttgart 1999 (Beiträge zur Friedensethik 30), S. 24–48. 22 Vgl. MANDT (Anm. 4), S. 662. 23 Siehe dazu auch den Beitrag von GESINE MIERKE in diesem Band. 24 Vgl. POLLACK, DETLEF: Die Genese der westlichen Moderne. Religiöse Bedingungen der Emergenz funktionaler Differenzierung im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 47 (2013), S. 273–305, hier S. 291–95. Nur am Rande sei auf das terminologische Problem hingewiesen, dass mit dem deutschen Rechtsbegriff ›Herrschaft‹ ganz unterschiedliche soziale Verhältnisse und Beziehungsformen (sacerdotium, regnum, principatum) unterschiedslos zusammengefasst werden. 25 Noch Erasmus und nach ihm Luther referieren daher auf den Kriegerpapst Julius II., den blut seuffer, um die päpstliche Tyrannis zu plausibilisieren. Vgl. Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 6, hrsg. von KARL KNAAKE, Weimar 1888, S. [381] 404–69; hier S. 405. 26 Vgl. dazu unter anderem MÜNSCH, OLIVER: Heuchlerischer Tyrann oder Opfer päpstlicher Willkür? Die Darstellung Heinrichs IV. in publizistischen Texten des Investiturstreits, in: STRUVE, TILMAN (Hrsg.): Die Salier, das Reich und der Niederrhein, Köln/Weimar 2008, S. 173–206, vor allem S. 183–87. Zuerst hatte Gregor VII. übrigens König Philipp I. von Frankreich im Visier, den er als »reißenden Wolf und ungerechten Tyrannen« qualifizierte; zitiert nach WEINFURTER (Anm. 18), S. 116. 27 Vgl. die letzten Worte des Papstes: »Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht gehasst. Deshalb sterbe ich in der Verbannung«; zitiert nach WEINFURTER (Anm. 18), S. 168.

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dass gegenüber einem Tyrannen kein Eid binde.28 Die kritische Referenz auf die Tyrannis markiert eine generelle Problemperspektive der Kurie auf die feudale Herrschaft, die sich in ihren gottfernen Ursprüngen dem »Hochmut, Raub, Hinterlist, Mord, kurzum Verbrechen aller Art«29 verdankte. Von daher plausibilisierte sich der päpstliche Anspruch auf Oberaufsicht auch über die weltlichen Herrscher: Im Kontext des staufisch-welfischen Thronstreits rechtfertigte Papst Innozenz III. in seiner Dekretale Venerabilem das von ihm beanspruchte ›Approbationsrecht‹ der deutschen Könige unter anderem damit, dass kein ›Tyrann‹ Kaiser werden dürfe.30 Entsprechend gehörte die Zuschreibung der Tyrannis zum rhetorischen Standardrepertoire der Kurie in der Auseinandersetzung mit weltlichen Herrschaftsträgern, insbesondere mit den deutschen Königen bzw. Kaisern: In seiner Korrespondenz titulierte Innozenz III. Kaiser Otto IV. nach dessen Exkommunikation nicht mehr als imperator, sondern ausdrücklich als tyrannus.31 Und so rief auch Papst Gregor IX. in seinem Rundschreiben Sancte matris ecclesie vom März 1240 dazu auf, »für die Freiheit der Kirche und gegen den Tyrannen«,32 also den Stauferkaiser Friedrich II., das Kreuz zu nehmen. In seinem Gefolge empörte sich auch Nikolaus von Calvi über Friedrich II., dass »dieser Tyrann [...] vielfach die Klöster der Mönche, die Häuser der Johanniter und Templer und anderer Ordensleute«33 bedrängt habe. || 28 Benutzte Ausgabe: Lampert von Hersfeld: Annales, in: Lamperti monachi Hersfeldensis Opera, hrsg. von OSWALD HOLDER-EGGER, Hannover 1894 (MGH SS rer. Germ. 38), S. 3–304, hier S. 270. 29 So Gregor VII. an Bischof Hermann von Metz: »Wer wüsste nicht, dass Könige und Herzöge ihren Ursprung bei denen genommen haben, die Gott nicht kannten und durch Hochmut, Raub, Hinterlist, Mord, kurz durch Verbrechen aller Art und angestiftet vom Fürsten dieser Welt, nämlich vom Teufel, über ihresgleichen, nämlich Menschen, zu herrschen suchten in blinder Gier und unerträglicher Anmaßung?« Benutzte Ausgabe: Brunos Sachsenkrieg, neu übers. von FRANZ-JOSEF SCHMALE, in: Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV. (Anm. 20), S. 191–405, Kap. 73, S. 303. Vgl. auch POLLACK (Anm. 24), S. 291f. 30 Dekretale Venerabilem (Liber Extra 1,6,34), in: FRIEDRICH KEMPF (Hrsg.): Regestum Innocentii III papae super negotio Romani imperii, Rom 1947 (Miscellanea Historiae Pontificiae XII/21), Nr. 62, S. 166–75, hier S. 169. Vgl. MIETHKE, JÜRGEN: Art. Tyrann, -enmord, in: LexMA, Bd. 8 (1997), Sp. 1135–38. 31 Benutzte Ausgabe: PL 216, 559 (Reg. XV, XX) und 566 (Reg. XV, 31). Eine Übersicht findet sich bei TILLMANN, HELENE: Datierungsfragen zur Geschichte des Kampfes zwischen Papst Innocenz III. und Kaiser Otto IV., in: Historisches Jahrbuch 84 (1964), S. 34–85, hier S. 38f. Vgl. auch LAUFS, MANFRED: Politik und Recht bei Innozenz III. Kaiserprivilegien, Thronstreitregister und Egerer Goldbulle in der Reichs- und Rekuperationspolitik Papst Innocenz’ III., Köln [u. a.] 1980 (Kölner Historische Abhandlungen, 26), S. 214. LAUFS weist auf die sorgfältige Auswahl der Titulaturen durch Innozenz III. hin. Bezeichnend ist, dass Philipp auch nach seiner Exkommunikation nicht mit diesen Zuschreibungen bedacht wird. 32 [...] pro fide et ecclesiastica libertate tuendis contra tyrannum hunc sumpto signo crucis se potenter accingant. Zitiert nach: WINKELMANN, EDUARD: Zur Geschichte Kaiser Friedrichs II. in den Jahren 1239 bis 1241, in: Forschungen zur Deutschen Geschichte 12 (1872), S. 261–94, hier S. 294; vgl. ÖHLINGER, CHRISTINE: Die Kreuzzugspredigt gegen die Staufer. Ein Beitrag zum politischen Kreuzzug des 13. Jahrhunderts, Diss. Wien 1975, S. 65f. 33 Benutzte Ausgabe: Nikolaus von Calvi: Vita Innocentii IV, hrsg. von FRANCESCO PAGNOTTI, in: Archivio della Società Romana di storia patria 21 (1898), S. 76–120, hier S. 102. Übersetzung nach VAN EICKELS,

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Diese Liste ließe sich unschwer verlängern. Anders sieht es hingegen mit der Propaganda der Gegenseite aus. Zwar sind die antipäpstlichen Invektiven zuweilen erstaunlich aggressiv, sie entrüsten sich über die Wölfe in Schafskleidern, geißeln Simonie und die sprichwörtliche römische Habgier oder erklären den Papst sogar zum Antichristen (so etwa Friedrich II.),34 explizite Bezugnahmen auf das Konzept der Tyrannis finden sich jedoch kaum.35 Am nächsten kommen dem Zuschreibungen päpstlicher Willkür, wie etwa in der Disputation zwischen dem Papst Innozenz und Roma, die Heinrich von Avranches anlässlich des 4. Laterankonzils 1215 verfasst hat.36 Die personifizierte Roma legt hier beim Papst Fürsprache für den gebannten Kaiser Otto ein. Der Papst verteidigt seinen neuen Kandidaten Friedrich, nicht zuletzt mit dem Argument, dass es sich bei Otto um einen Tyrannen handele.37 Die satirische Strategie des Textes besteht darin, dass der Papst seine Willkür selbst entlarvt, indem er nicht nur den Bann gegen Otto mit fadenscheinigen Gründen bekräftigt, sondern schließlich auch die auf Recht und Billigkeit insistierende Roma selbst mit dem Bann bedroht und beschließt: Sic volo, sic fiat, sit pro ratione voluntas (»So will ich es, so soll es geschehen, es stehe für die Begründung mein Wille«).38 Roma konstatiert daraufhin mit sarkastischem Wortwitz, dass es sich bei diesem Papst statt um einen Innozenz wohl um einen Nocentius (»Oberschädling«) handeln müsse, der sich nicht als apostolicus, sondern

|| KLAUS/BRÜSCH, TANIA: Friedrich II. Leben und Persönlichkeit in Quellen des Mittelalters, München 2000, S. 363f. Zum ›Kampf der Propaganda‹ zwischen Gregor IX. und Friedrich II. zusammenfassend und mit weiteren Literaturhinweisen STÜRNER, WOLFGANG: Friedrich II. 1194–1250, Darmstadt 2009, Bd. 2, S. 470–80. 34 Als Antichrist bezeichnet Friedrich II. den Papst in seiner Replik auf das Bannschreiben Gregors IX. von 1239; Gregor IX. hatte ihn aber bekanntlich zuerst mit der apokalyptischen Bestie, die aus dem Meer steigt, identifiziert. Vgl. GRAEFE, FRIEDRICH: Die Publizistik in der letzten Epoche Kaiser Friedrichs II. Ein Beitrag zur Geschichte der Jahre 1239–1250, Heidelberg 1909, S. 41–47. Zu erwägen ist also, inwieweit sich die imperiale Rhetorik durch das Verfahren der Retorsion konstituierte, bestimmte Muster und Topoi (wie z. B. auch die Tyrannis) auf die Kurie zurückzuwenden. 35 Eine Ausnahme bildet vielleicht das Mahnschreiben Friedrichs II. an den König von England vom 5.12.1227, das am Schluss dazu aufruft, »die unerhörte Tyrannei [der Kurie] zu vernichten«. Zitiert nach: Kaiser Friedrich II. in Briefen und Berichten seiner Zeit, hrsg. und übers. von KLAUS J. HEINISCH, Darmstadt 1968, S. 156–58, hier S. 158. Vgl. außerdem GRAEFE (Anm. 34), S. 47–50. 36 Benutzte Ausgabe: Heinrich von Avranches: Versus de allegationibus et responsionibus, habitis inter lnnocentium papam et Romanos pro imperio, unde Oto imperator et Frethericus ad invicem litigabant, in: G. W. LEIBNITIUS (LEIBNIZ): Scriptores rerum Brunsvicensia illustrantium 2, Hannover 1710 S. 525–32. Vgl. dazu BUND, KONRAD: Studien zu Magister Heinrich von Avranches II: Gedichte im diplomatischen Umfeld Kaiser Ottos IV. 1212–1215, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 56 (2000), S. 525–46, hier S. 537–45, und WORSTBROCK, FRANZ JOSEF: Politische Sangsprüche Walthers im Umfeld lateinischer Dichtung seiner Zeit, in: MÜLLER, JAN-DIRK/WORSTBROCK, FRANZ JOSEF (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck, Stuttgart 1989, S. 61–80, hier S. 75f. 37 Vgl. BUND (Anm. 36), S. 538. 38 Vgl. ebd., S. 540–42.

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als apostaticus erweise, und appelliert an das Konzil, den Papst abzusetzen. Die kurze Antwort des Konzils zeigt auf, dass selbst in dieser imperialen Wunschphantasie eine solche Absetzung nicht ohne Weiteres denkbar erschien: Das Konzil bestätigt zwar summarisch die Vorwürfe der Roma und restituiert Otto als Kaiser, erklärt aber auch, dass es nicht befugt sei, den Papst abzusetzen. Soweit ich sehe, erfolgte eine systematische Verknüpfung des Papsttums mit der Tyrannei erst im 14. Jahrhundert, anspielungsweise bei Marsilius von Padua im Defensor pacis und explizit bei Wilhelm von Ockham, beispielsweise in seinem Dialogus oder in seinem Breviloquium de principatu tyrannico super divina et humana (1340– 1347).39 Ockham bezeichnete nicht nur Papst Johannes XXII. persönlich als »blutdürstigen Tyrannen«,40 sondern scheute auch nicht davor zurück, bestimmte Deformationen der Institution Papsttum als Tyrannei zu kennzeichnen. Ockham gelangte zu diesen Schlussfolgerungen, weil er auch die kirchliche Verfassung in politischen Kategorien denkt (principatum) und angelehnt an aristotelische Konzeptionen Tyrannis als Verkehrung der an sich besten Verfassung der Monarchie versteht. Sachlicher Anlass war für Ockham die Diskussion und Zurückweisung des päpstlichen Anspruchs auf die plenitudo potestatis, also die päpstliche Machtfülle über die Christenheit, die auch die weltliche Macht übergreifen sollte. Den konkreten Hintergrund bildete jedoch auch hier ein binnenklerikaler Konflikt, der Armutsstreit mit den Franziskanern, in dessen Verlauf es Ockham »wie Schuppen von den Augen« gefallen sei, dass es sich bei Papst Johannes XXII. um einen »Ketzerpapst«41 handele. Auch wenn Ockhams Vorstellungen über die Eingrenzung der päpstlichen Gewalt sicherlich nicht den theologischen, geschweige denn den kanonistischen Mainstream repräsentierten, so verweisen sie doch auf eine umfassende politiktheoretische Problematisierung der Gewalt und Vollmacht des Papsttums (de potestate Papae), die zu den zentralen Diskurssträngen des späten Mittelalters bis hin zur konziliaren Bewegung gehört.42 In dieser groben Skizze deutet sich an, dass sich die Vorstellung einer ›päpstlichen Tyrannei‹ erst allmählich herausgebildet hat, wobei eine Übertragung des Konzepts auf die geistliche Herrschaft überhaupt erst plausibilisiert werden musste. Angesichts dieser Umstände erscheint es wenig aussichtsreich, die Untersuchung der Vorgeschichte dieses Konstrukts nun auch noch auf den Bereich der volkssprachigen Literatur des hohen Mittelalters auszudehnen. Es ist ja nicht einmal mit der Begrifflichkeit der Tyrannis zu rechnen, bleibt der Ausdruck doch bis ins späte Mittelalter

|| 39 Zum Folgenden vgl. grundlegend MIETHKE, JÜRGEN: De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 16). 40 Wilhelm von Ockham: Compendium Errorum, Kap. 4, Zeile 77. Zitiert nach MIETHKE (Anm. 21), S. 35. 41 So das plastische Referat bei MIETHKE (Anm. 39), S. 271. 42 Vgl. ebd., S. 55.

306 | Albrecht Dröse dem Diskurs einer gelehrten Elite vorbehalten:43 Erste Belege lassen sich zwar, wie JOHANNES KLAUS KIPF und MATHIAS HERWEG im vorliegenden Band zeigen, ins späte 13. Jahrhundert datieren, doch erscheinen sie einigermaßen zufällig und lassen kaum den Rückschluss auf eine breitere Verwendung zu.44 Doch gerade dieser Befund eröffnet die Möglichkeit, sich vom Wortlaut zu lösen und die Analyse von der semasiologischen auf die onomasiologische Ebene zu verlagern, also ausgehend von der ›Sache‹ nach den jeweiligen historischen Ausdrucksformen zu fragen. Als Feld der Untersuchung käme hier vor allem der Sangspruch als spezifisches Medium politischer Kommunikation in Frage. In die Betrachtung können damit auch Fälle einbezogen werden, wo der Diskurs über die päpstliche Tyrannis gewissermaßen noch nicht auf den Begriff gekommen ist. Die Auseinandersetzung mit der päpstlichen Politik gehört bekanntlich zu den zentralen Themen der Sangspruchdichtung.45 Stellt man in Rechnung, dass es sich bei der Tyrannis gerade nicht um einen präzise definierten Begriff, sondern um ein offenes Konzept handelt, in dem sich unterschiedliche Aspekte ungerechter und illegitimer Herrschaft wie Fremdbestimmung, Rechtlosigkeit, Zwang, Willkür, Gewalt und defizitäre Partizipation zu einem Cluster verdichten,46 lässt sich fragen, welche Aspekte dieses Clusters für die Problematisierung päpstlicher Hierokratie in Anschlag gebracht werden und wo sich gegebenenfalls Verbindungen zum politiktheoretischen Diskurs über die Tyrannis aufzeigen lassen. Ich konzentriere mich zunächst auf einige Strophen Walthers von der Vogelweide und schließe daran Anmerkungen zu Beispielen aus der nach-Walther’schen Spruchdichtung von Reinmar von Zweter, Meister Sigeher und Frauenlob an. || 43 Vgl. dazu KIPF, JOHANNES KLAUS: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses in die deutsche Sprache und Literatur (14.–17. Jahrhundert), in: KÄMPER, HEIDRUN [u. a.] (Hrsg.): Wort – Begriff – Diskurs. Deutscher Wortschatz und europäische Semantik, Bremen 2012, S. 31–48. 44 Vgl. die Beiträge von MATHIAS HERWEG und JOHANNES KLAUS KIPF im vorliegenden Band sowie KIPF (Anm. 43), S. 36. KIPF zufolge stammt der nächste sichere Beleg vom Spruchdichter Heinrich von Mügeln aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. 45 Vgl. etwa MÜLLER, ULRICH: Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters, 2 Bde., Göppingen 1974 (GAG 55/56); DERS.: Sirventes und Sangspruch: Interkulturelle und anti-päpstliche Polemik. Beobachtungen und Überlegungen zur Wirksamkeit politischer Lyrik (nicht nur im Mittelalter), in: KLEIN, DOROTHEA [u. a.] (Hrsg.): Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext. Internationales Symposium Würzburg, 15.–18. Februar 2006, Berlin/ New York 2007, S. 95–126; PADBERG, SUSANNE: Ahî wie kristenlîche nû der bâbest lachet. Walthers Kirchenkritik im Unmutston (Edition, Kommentar, Untersuchungen), Herne 1997; DRÖSE, ALBRECHT: Antikuriale Polemik in der nachwaltherschen Sangspruchdichtung: Reinmar von Zweter, der Marner, Frauenlob, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 21 (2016/2017), S. 31–46; zuletzt HERWEG, MATHIAS: Zeitkritik, in: HAUSTEIN, JENS [u. a.] (Hrsg.), Sangspruch/Spruchsang. Ein Handbuch, Berlin/ Boston 2019, S. 239–50, der die antirömische Polemik zu den »thematisch-diachronen Konstanten« (S. 243f.) der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts zählt. 46 Vgl. die Ausführungen zur Begriffsgeschichte bei MANDT (Anm. 4). Zur Gegenüberstellung von präzisen Begriffen und offenen Konzepten vgl. unter anderem BISCHOFF, CHRISTINE: Empirie und Theorie, in: DIES. [u. a.] (Hrsg.): Methoden der Kulturanthropologie, Bern 2014, S. 14–31, hier S. 26.

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3 Walthers ›Kirchenklage‹ Ich beginne in chronologischer Ordnung mit der sogenannten ›Kirchenklage‹ im Reichston (L 9,16) Walthers von der Vogelweide:47 Ich sach mit mînen ougen manne und wîbe tougen, dâ ich gehôrte und gesach, swaz ieman tet, swaz ieman sprach: ze Rôme hôrte ich liegen und zwêne künige triegen. dâ von huop sich der meiste strît, der ê wart oder iemer sît, dô sich begunden zweien pfaffen unde leien, dâ was ein nôt vor aller nôt, lîp und sêle lag dâ tôt. die pfaffen striten sêre, doch wart der leien mêre. diu swert legten si dâ nider, si griffen an die stôle wider, si bienen die si wolten und niht den si solten. dô stôrte man diu gotes hûs, dô hôrte ich verre in einer klûs vil michel ungebære. da weinde ein klôsenære, er klagete gote siniu leit: ›owê, der bâbest ist ze jung, hilf, hêrre, dîner kristenheit.‹ Ich sah mit meinen Augen der Männer und Frauen Geheimnisse, wobei ich in der Tat hörte und sah, was immer jemand tat, was immer jemand sprach: in Rom hörte ich lügen und zwei Könige betrügen. Dadurch erhob sich der größte Streit, der jemals war oder fernerhin sein wird, als sich zu entzweien begannen Pfaffen und Laien, da war eine Not über alle Not, Leib und Seele lagen da tot darnieder. Die Pfaffen stritten heftig, doch wurden es der Laien mehr. Die Schwerter legten sie daraufhin nieder, sie griffen wieder zu der Stola, sie bannten diejenigen, die sie wollten, und nicht denjenigen, den sie sollten. Darauf störten sie die Gotteshäuser, darauf hörte ich fern in einer Klause gar großes Wehklagen. Da weinte ein Klausner, er klagte Gott sein Leid: ›O weh, der Papst ist zu jung, hilf, Herr, deiner Christenheit.‹

|| 47 Benutzte Ausgabe: Walther von der Vogelweide: Werke, Bd. 1: Spruchlyrik. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg. und übers. von GÜNTHER SCHWEIKLE, Stuttgart 1994, S. 76f. Wenn nicht anders angegeben, entstammen die Übersetzungen aus dem Mittelhochdeutschen im Folgenden den angeführten Ausgaben.

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Auffällig ist der ›Ich-Gestus‹, der diese Strophe mit den anderen beiden Strophen im Reichston, der Reichsklage (L 8,4: Ich saz ûf eime steine) und der Weltklage (L 8,28: Ich hôrte diu wazzer diezen), verbindet: Mit den formelhaften Wendungen ich sach und ich horte führt sich der Sprecher hier in der Rolle des allwissenden Sängers ein, der das Verborgene (tougen) aufzudecken vermag.48 Es handelt sich hier um eine sozusagen tagespolitische Adaptation dieser Rolle: Auge und Ohr richten sich auf Rom, wo der Sänger Zeuge eines Betrugs an zwei Königen wird, der einen Krieg (strît) zwischen pfaffen und leien zur Folge hat. Die Identität der beiden Könige ist in der Forschung umstritten:49 Zwar herrscht Einigkeit darüber, dass Walther mit seiner ›Kirchenklage‹ die Rolle der römischen Kurie im staufisch-welfischen Thronstreit thematisiert. Der Annahme, es handele sich um die Antagonisten des Thronstreits Philipp von Schwaben und Otto von Poitou ist unter anderem von PETER KERN und ERIC MARZO-WILHELM mit dem Argument widersprochen worden, der ordokundige Walther hätte in einem prostaufischen Umfeld wohl kaum Otto als König benannt; bei den beiden Königen handele es sich daher um Philipp und seinen Neffen, den nachmaligen Kaiser Friedrich II.50 Ähnlich kontrovers ist || 48 Ein Überblick über die Forschungsdiskussion zum Verhältnis von ›Pose und Ich‹ bei Walther findet sich bei BURKERT, JENS: Walthers von der Vogelweide Reichston. Eine kritische Aufarbeitung der altgermanistischen und historischen Forschungsgeschichte, Frankfurt a. M. [u. a.] 2015 (Walther-Studien 8), S. 26–37, hier S. 31f. Vgl. zudem MOHR, WOLFGANG: Der Reichston Walthers von der Vogelweide, in: Der Deutschunterricht 5 (1953), Heft 6, S. 45–56, hier S. 53. Zur Konstruktion der Sprecherrolle vgl. außerdem RZEPKA, VINCENT: Sangspruch als cultural performance. Zur kulturellen Performativität der Sangspruchdichtung an Beispielen Walthers von der Vogelweide, Berlin 2011, vor allem S. 29–40; WORSTBROCK (Anm. 36), S. 65–67; WENZEL, HORST: Typus und Individualität. Zur literarischen Selbstdeutung Walthers von der Vogelweide, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 8 (1983), S. 1–34, hier S. 16: »Das dargestellte Ich ist das generalisierte Ich eines weltlichen oder geistlichen Ratgebers, des Boten, Lehrers, des Erziehers oder ähnlicher personae, die als Sprecherrollen immer schon öffentlich vorgegeben sind«. 49 Eine ausführliche Rekapitulation der Forschungsgeschichte zu L 9,16 unternimmt BURKERT (Anm. 48), S. 360–546. 50 Die Diskussion fasst BURKERT (Anm. 48) zusammen; vgl. des Weiteren KERN, PETER: Der Reichston – das erste politische Lied Walthers von der Vogelweide?, in: ZfdPh 111 (1992), S. 344–62; MARZO-WILHELM, ERIC: Walther von der Vogelweide. Zwischen Poesie und Propaganda. Untersuchungen zur Autoritätsproblematik und zu Legitimationsstrategien eines mittelalterlichen Sangspruchdichters, Frankfurt a. M. [u. a.] 1998 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. B 70). KERN, S. 357, verweist auf die Konsistorialrede Innozenz’ III. Deliberatio domini pape Innocentii super facto imperii de tribus electis von 1201, in der die Ansprüche der drei Könige abgewogen werden; demnach wären zwei von den dreien durch Rom betrogen worden. Allerdings gilt diese Ansprache mittlerweile als geheim, so dass sie Walther kaum bekannt gewesen sein dürfte. MARZO-WILHELM, S. 157–59, denkt daher an eine Abfolge: Erst sei der ursprünglich als König gewählte Friedrich, dann Philipp von Schwaben von Innozenz III. betrogen worden. Diese Annahme generiert freilich auch gewisse Folgeprobleme, da bei der von MARZO-WILHELM angenommenen Datierung auf 1201 ein aktueller Bezug auf Friedrich nicht plausibel wäre, worauf BURKERT, S. 520, hinweist. Zuletzt hat SERFAS, GÜNTHER: Bekêrâ dich, bekêre. Neue Überlegungen zu Walthers Reichston, in: ZfdPh 138 (2019), S. 83–106, wieder

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die Datierung beurteilt worden: Auch wenn sich V. 17 einigermaßen plausibel auf den vom Kardinallegaten Guido de Praeneste am 3. Juli 1201 ausgesprochenen Bann gegen die Gegner Ottos beziehen lässt, so bleibt doch Raum sowohl für eine Frühdatierung (1201) als auch für eine Spätdatierung (1204).51 Zusätzliches Gewicht erhalten diese Fragen im Hinblick auf eine mögliche Einheit der Sprüche im Reichston, die in irgendeiner Weise auf die jeweiligen historischen Konstellationen zu beziehen ist. Diese Debatten sind hier nicht zu entscheiden, BURKERT resümiert zurecht, dass fast keine der in der Forschung diskutierten Varianten prinzipiell auszuschließen ist.52 Einmal abgesehen davon, dass bei fahrenden Sängern ohnehin von einer prinzipiellen »Wiederverwertbarkeit«, 53 mithin Anschlussfähigkeit von Sprüchen in unterschiedlichen kommunikativen Zusammenhängen ausgegangen werden muss, ist es ja auch denkbar, dass sich der Sänger mit dieser dunklen, mehrdeutigen Redeweise einer vordergründigen Festlegung auf eine Partei zu entziehen versucht, was die prostaufische Tendenz keineswegs infragestellt, sondern diese unter Umständen noch wirksamer macht.54 Vielmehr geht es dem Sänger darum, eine zwar nicht neutrale, aber doch umfassendere Sichtweise auf den Konflikt – salopp gesprochen: seinen Durchblick – zu inszenieren. Wer auch immer die Könige sind, sie sind nicht Herren des Geschehens, sondern Opfer einer römischen Intrige.55 Das können Philipp und Friedrich sein, es ist aber nicht ausgeschlossen, dass diese Aussage auch auf Otto bezogen werden kann,56 ist doch eine ähnliche Konjunktion der staufischen und welfischen Kon-

|| für Philipp und Otto plädiert. Zum Thronstreit aus historischer Sicht vgl. unter anderem MAMSCH, STEFANIE: Kommunikation in der Krise. Könige und Fürsten im staufisch-welfischen Thronstreit (1198–1218), Münster 2012. 51 Zur Datierung vgl. die Übersicht bei BURKERT (Anm. 48), S. 543–46. 52 Vgl. BURKERT (Anm. 48), S. 547. Mir scheint zwar nicht das Prinzip der ›Aktualität‹, aber doch die strikte Voraussetzung einer eindeutigen historischen Referentialisierbarkeit der Sprüche problematisch zu sein. Aus dem Blick gerät dabei zuweilen nicht nur die Konstitution der Sprüche als ›Wiedergebrauchsrede‹, mit der sich im jeweiligen Aufführungszusammenhang unterschiedliche Referenzen und Adressierungen verbinden können, sondern auch ihr artifiziell mehrdeutiger, ›obskurer‹ Charakter. Bis heute spielen, wie meines Erachtens im monumentalen Überblick von BURKERT (Anm. 48) deutlich wird, Vorstellungen und Frageinteressen der Philologie des 19. Jahrhunderts in die Forschungsdebatte hinein. 53 Diese Wieder- und Mehrfachverwendbarkeit der Sprüche heben unter anderem BURKERT (Anm. 48), S. 544, und SERFAS (Anm. 50), S. 105, hervor. 54 Vgl. MOHR (Anm. 48), S. 54, sowie das ausführliche Referat bei BURKERT (Anm. 48), S. 493. 55 Der Hinweis auf die beiden betrogenen Könige könnte dabei eine Distanzierung zu Philipp erkennen lassen, so NOLTE, THEODOR: Papst Innozenz III. und Walther von der Vogelweide, in: FRENZ, THOMAS (Hrsg.): Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas. Interdisziplinäre Ringvorlesung an der Universität Passau, 5.11.1997–26.5.1998, Stuttgart 2000, S. 69–88, hier S. 72. 56 Vgl. NOLTE, THEODOR: Das Bild König Philipps von Schwaben in der Lyrik Walthers von der Vogelweide, in: RZIHACEK, ANDREA/SPREITZER, RENATE (Hrsg.): Philipp von Schwaben. Beiträge der internationalen Tagung anlässlich seines 800. Todestages, Wien 29.–30. Mai 2008, Wien 2010, S. 99–111, hier S. 106.

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trahenten auch in der ersten Opferstockstrophe L 34,4 zu beobachten, wo der Papst in satirischer Selbstentlarvung vor seinen walhen prahlt: ich hân zwêne Allamân under eine krône brâht (V. 4).57 Im Zusammenhang meiner Problemstellung ist ohnehin die wichtigere Frage, wer mit den pfaffen und den leien gemeint ist. Auf den ersten Blick scheint es, als ließe sich diese Frage verhältnismäßig leicht beantworten:58 Ausgehend von der allgemein anerkannten prostaufischen Tendenz der ›Kirchenklage‹ sind sie als metonymische Kennzeichnungen der Parteizugehörigkeit verstanden worden – die leien stehen für die Anhänger Philipps, die pfaffen bezeichnen die mit Rom assoziierte ottonische Partei, hatte sich doch Otto mit den Neusser Eiden am 8.6.1201 den Forderungen Innozenz’ III. öffentlich unterworfen.59 Nun ist offensichtlich, dass diese Identifikation der pfaffen mit der ottonischen Partei eine gewisse ›Vergröberung› impliziert, da ja zum einen auch Geistliche auf Seiten Philipps standen und zum anderen die ottonische Partei selbstverständlich nicht nur aus Pfaffen bestand.60 Zuletzt hat GÜNTHER SERFAS noch einmal darauf hingewiesen, dass der Ausdruck ›Pfaffen‹ auf der syntagmatischen Ebene zum einen mit Rom und zum anderen mit dem bâbest (V. 24) im Zusammenhang steht; der Ausdruck ›Pfaffen‹ markiert damit auch und vor allem eine römische bzw. päpstliche Partei. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass es Walther in L 9,16 in erster Linie nicht um eine vordergründige Stellungnahme für einen der beiden Thronprätendenten geht, sondern um eine Positionierung gegen Rom. Relevant scheint mir daher an der metonymischen Konstruktion der pfaffen nicht die übertragene, sondern die wörtliche Bedeutung zu sein, das heißt der Auftritt der pfaffen als Kriegspartei. Der wechselhafte Konflikt zwischen den Thronkandidaten wird von Walther auf einen verdeckten, gleichwohl systematischen Krieg der (römischen) Pfaffen gegen die Laien zurückgeführt. Die pfaffen sind nicht nur in Verkehrung ihres geistlichen Auftrags militärisch aktiv, entsprechend einer eingeführten Topik, die die Vertauschung der Stola (als Zeichen klerikaler Jurisdiktionsgewalt) mit dem Schwert beklagt,61 sondern sie verkehren das harmonische Fürsorgeverhältnis zwischen den Klerikern als den Vermittlern und den Laien als den Empfängern der Sakramente in einen gewaltsamen und asym-

|| 57 Benutzte Ausgabe: SCHWEIKLE (Anm. 47), S. 164. 58 Vgl. KERN (Anm. 50), S. 349, mit Verweis auf die Forschungsgeschichte seit BURDACH; BURKERT (Anm. 48), S. 424–29. 59 Vgl. dazu unter anderem DERDA, HANS-JÜRGEN: Päpstliche Autorität und weltliche Herrschaft: Der Machtanspruch von Papst Innocenz III. zur Zeit des deutschen Thronstreits, in: HUCKER, BERND ULRICH [u. a.] (Hrsg.): Otto IV.: Traum vom welfischen Kaisertum. Landesausstellung Otto IV. – Traum vom Welfischen Kaisertum, Braunschweigisches Landesmuseum – Dom St. Blasii – Burg Dankwarderode vom 8. August bis 8. November 2009, Petersberg 2009, S. 57–62, hier S. 60f. Dafür spricht auch, dass sich Otto selbst in seinen Briefen an Innozenz als Dei gratia et sua Romanorum rex bezeichnet. 60 Darauf verweist BURKERT (Anm. 48), S. 383 und 426. 61 Vgl. KERN (Anm. 50), S. 349.

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metrischen Konflikt. Von hier aus wird der Wechsel des Kriegsglücks im Thronstreit interpretierbar: Die Gegenüberstellung von Pfaffen und Laien impliziert eine rein numerische Unterlegenheit der Pfaffen, die plausibel macht, dass die Pfaffen in die geistliche Rolle zurückwechseln, ohne jedoch ihre aggressive Ambition aufzugeben. Sie führen den Krieg fort, indem sie mit geistlichen Waffen weiterkämpfen: diu swert legten sie dâ nider, / si griffen an die stôle wider (V. 15f.). In den Fokus rückt der willkürliche und damit unrechtmäßige Gebrauch des Kirchenbannes: Si bienen die sie wolten / und niht den si solten (V. 17f.). Die Exkommunikation erscheint als eine zentrale Strategie klerikaler (und das heißt römischer) Kriegsführung, dem die Laien qua Status ausgeliefert sind. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Störung der goteshûs einzuordnen (V. 19), was wohl auf das Interdikt zu beziehen ist, wonach nicht nur Gottesdienste, sondern auch die Austeilung der Sakramente untersagt war.62 Insofern die Laien auf die heilsnotwendige Spende der Sakramente angewiesen sind, stellt deren Verweigerung den ultimativen Akt der Kriegsführung dar. Die Folgen sind fatal, da die Laien nicht nur das Leben verlieren, sondern auch ihr Seelenheil gefährden, weshalb Walther diesen Konflikt zum »größten Krieg« (meiste strît) überhöht, der ê wart und iemer sît (V. 8f.). Die spirituelle Katastrophe wird durch einen Wechsel der Sprecherrolle hervorgehoben; der Sänger selbst enthält sich einer expliziten Bewertung dieser Vorgänge, als allwissender Ohrenzeuge kann er sie aber an die fictio personae des weinenden und verzweifelten Klausners delegieren.63 Der Klausner ist eine Figur, die sich nicht durch eine klerikale Weihe,64 sondern durch ihre asketische und weltabgewandte Lebensführung autorisiert und genau damit eine geistliche ›Gegenfigur‹ zu den römischen Pfaffen, insbesondere zu dem von ihm kritisierten bâbest, darstellt.65 Der Klausner bezeichnet die Jugend des Papstes als das Problem, was nicht nur auf das Alter des Aufsteigers Lothar von Segni verweist, der zu Beginn seines Pontifikats 37 Jahre alt war, sondern ein konstitutives Defizit an papaler gravitas und einen ambitionierten, machtorientierten Führungsstil andeutet, der die Zerstörung bzw. die Spaltung der Christenheit in Kauf nimmt.66 || 62 So SCHWEIKLE (Anm. 47), S. 342, der in seinem Kommentar die Interdikt-These als »historisch angemessen« bezeichnet. Auszuschließen ist allerdings nicht, dass durch das unpersönliche ›man‹ auch eine Zerstörung von Kirchen und Klöstern durch die Laien, etwa durch die Stauferpartei angezeigt sein könnte. Zur Diskussion vgl. BURKERT (Anm. 48), S. 450–52. 63 Zu dieser Figur grundlegend LUFF, ROBERT: Mîn alter klôsenære, von dem ich dô sanc. Zur Neukonzeption des Klausners bei Walther von der Vogelweide, in: ZfdA 128 (1999), S. 17–41; zur Funktion vgl. RZEPKA (Anm. 48), S. 37f., und BURKERT (Anm. 48), S. 536f. 64 Das bedeutet nicht, dass der Klausner zwingend ein Laie ist, es ist für die Konstruktion der Figur nur ohne Belang. 65 Vgl. HERWEG (Anm. 45), S. 244: »Papst und Klerus stehen gegen den Klausner als Vertreter frommer Weltabwendung.« Vgl. auch BURKERT (Anm. 48), S. 458. 66 Vgl. SERFAS (Anm. 50), S. 87, Anm. 20. SERFAS zitiert hier die Einschätzung von WALTHER, HELMUT G.: Das Reich in der politischen Theorie der Legistik und im Umkreis der päpstlichen Kurie, in: WERNER, MATTHIAS (Hrsg.): Heinrich Raspe – Landgraf von Thüringen und römischer König. Fürsten, König und

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Die Walther’sche Inszenierung der päpstlichen Politik weist damit eine ganze Reihe signifikanter Analogien zum Diskurs über die Tyrannis auf: Erstens führt die römische Verkehrung der spirituellen Leitungs- und Vermittlungsfunktion in eine selbstbezogene Politik nicht nur zu Betrug, Willkür und Gewalt, sondern sie mündet auch in einen Krieg der Pfaffen gegen das eigene Kirchenvolk, der die Leiber ebenso wie die Seelen tötet. Der römische Klerus agiert demnach als Feind der Laien, was sich aus Sicht der laikalen Adressaten dieses Spruchs in eine einfache Pronominalisierung übersetzen lässt: die gegen uns. Zweitens rückt Walther die päpstliche Willkür ins Zentrum, die sich in der politischen Zweckentfremdung des Bannes manifestiert: Si bienen die si wolten, aber nicht den, den si solten (V. 17f.). Der auffällige Wechsel vom Plural in den Singular legt eine Konkretisierung nahe, die möglicherweise auf Papst Innozenz III. selbst abzielt.67 Zumindest wird drittens der Papst als für das Amt ze jung, das heißt als untaugliche Person analog zum rex improbus disqualifiziert. Auch funktional entspricht eine solche Inszenierung der Zuschreibung der Tyrannis: Walther unternimmt eine zwar verklausulierte, aber nichtsdestotrotz radikale Denunziation der römischen Kurie. Vor dem Hintergrund der (im Einzelnen allerdings schwer abzuschätzenden) kommunikativen Zusammenhänge der ›Kirchenklage‹ dürfte ein wichtiger Funktionsaspekt die Delegitimierung des Kirchenbannes selbst sein, der zu einem bloßen römischen Willkürakt erklärt wird, den man getrost ignorieren kann.68 Darüber hinaus verbinden sich mit diesen massiven Zuschreibungen von Betrug, Willkür und Gewalt immer auch deontische Bedeutungen bzw. implizite »Handlungsanweisungen«,69 in diesem Falle den Betrug aufzudecken und die Willkür zu unterbinden. Zwar kann sich Walther hier nicht auf einschlägige Diskursroutinen beziehen, die aus der Etikettierung als Tyrannis zugleich ein formales Recht auf Widerstand ableiten, jedoch inszeniert er ja nichts Geringeres als einen universellen Notstand: dâ was ein nôt vor aller nôt, / lîp und sêle lag dâ tôt (V. 11f.). Stattdessen erfolgt der Schwenk auf den Klausner, der die gesamte Christenheit durch die destruktive römische Politik gefährdet sieht, aber diese Angelegenheit nach Lage der Dinge nur Gott überantworten kann: || Reich in spätstaufischer Zeit, Frankfurt a. M. 2003 (Jenaer Beiträge zur Geschichte 3), S. 29–52, Innozenz III. sei vielleicht »letztlich nur ein recht skrupelloser, vor allem auf die Sicherung der Machtpositionen [...] bedachter Bischof von Rom« gewesen. WALTHER fährt fort: »Es zeichnet die Politik Innocenz III. geradezu aus, seine politischen Ziele durch eine entsprechende Absicherung zu aus den unbestrittenen Maximen des Kirchenrechts abgeleiteten Entscheidungen stilisiert und mit Hilfe dieses Dekretalenrechts die päpstliche Position als Gesetzgeber und zur Rechtsfortbildung unbefangen und zielsicher genutzt zu haben« (beide Zitate S. 36f.). 67 Vgl. SERFAS (Anm. 50), S. 95 (mit Belegen). 68 Zu denken ist hier etwa an die ›Papstermahnung‹ im Ottenton (L 11,6) wo Walther ironisch den Bann auf seinen päpstlichen Urheber zurückwendet und übrigens dadurch mit der Vorstellung einer Verfluchung des Papstes selbst spielt. Vgl. dazu unter anderem NOLTE (Anm. 55), S. 73f. 69 HERMANNS, FRITZ: Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik, in: DERS.: Der Sitz der Sprache im Leben. Beiträge zu einer kulturanalytischen Linguistik. Berlin/Boston 2012, S. 5–36, hier S. 19f.

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hilf, herre, dîner kristenheit (V. 25). Das mag aus heutiger Sicht resignativ erscheinen, dennoch unterstreicht der flehentliche Appell des Klausners durchaus die Notwendigkeit zu intervenieren.70 Einen ähnlichen Appell hat Walther auch in der Gerbreht-Strophe im Unmutston (L 33,21) formuliert.71 Hier vergleicht er den amtierenden Papst, also Innozenz III., mit dem angeblichen Teufelsbündner Gerbert von Aurillac, dem nachmaligen Papst Silvester II., der sozusagen als Präzedenzfall einer diabolischen Verkehrung im höchsten Amt der Kirche herangezogen wird: Habe jener Gerbreht nur sich selbst, sô hât sich dirre ze valle und alle kristenheit gegeben (V. 4). Auch hier wird das Handeln des Papstes als ein Angriff auf die Christenheit inszeniert, wogegen der Sänger einen allgemeinen, an Gott gerichteten Weck- und Alarmruf evozieren möchte: Alle zungen suln ze gote schrîen wâfen und rüefen im, wie lange er welle slâfen. si widerwürkent sîniu werc und felschent sîniu wort. sîn kamerære stilt im sînen himelhort, sîn süener mordet hie und roubet dort. 72 sîn hirte ist ein wolf worden under sînen schâfen. (V. 5–10) Alle Zungen sollen zu Gott aufschreien: ›Hilfe!‹ und ihm zurufen, wie lange er schlafen wolle. Sie wirken seinen Werken entgegen und fälschen seine Worte. Sein Kämmerer stiehlt ihm seinen Himmelsschatz, sein Mittler mordet hier und raubt dort, sein Hirte ist ein Wolf geworden unter seinen Schafen.

Mit SCHWEIKLE beziehe ich das Pronomen si auf die Kurie, die den göttlichen Werken entgegenwirkt und göttliche Worte verfälscht.73 Die päpstliche Machtpolitik erhält also eine geradezu widergöttliche Dimension: Walther erzeugt mit dieser Pronominalisierung eine polemische Opposition, in der dem in Rom verorteten si ein in alle zungen impliziertes ›wir‹ entgegensteht, das die von den kurialen Machenschaften bedrohte Christenheit umfasst.74 Es greift daher zu kurz, diesen Ausruf nur auf seine expressive Bedeutung zu reduzieren als Ausbruch des Zorns und der Empörung, inszeniert wird vielmehr ein Weckruf der gesamten Christenheit an Gott, der sich in einer impliziten Mehrfachadressierung auch an die Christenheit bzw. an seine Schutzherren richtet.75 Walther scheint zwar darauf wieder in die Bahnen der Tradition zurückzulenken, wenn er die Strophe mit dem || 70 Ist es auszuschließen, dass in der konkreten Aufführung der deutsche König als designierter Schutzherr der Christenheit den Vokativ herre auf sich beziehen konnte? Mit einem solchen Aufruf an Philipp schließt bekanntlich auch die ›Weltklage‹ im Reichston L 8,28. 71 Zum Folgenden vgl. unter anderem PADBERG (Anm. 45), S. 165–72. 72 Benutzte Ausgabe: SCHWEIKLE (Anm. 47), S. 162. 73 Vgl. SCHWEIKLE (Anm. 47), S. 403. 74 Zum Verfahren der Pronominalisierung vgl. LOBENSTEIN-REICHMANN, ANJA: Sprachliche Ausgrenzung im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Berlin/Boston 2013, S. 108–14. 75 Der Terminus der Mehrfachadressierung folgt KÜHN, PETER: Mehrfachadressierung. Untersuchungen zur adressatenspezifischen Polyvalenz sprachlichen Handelns, Tübingen 1995.

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in der lateinischen Kirchenkritik verbreiteten Topos schließt, dass aus dem Hirten ein Wolf geworden sei.76 In der Tat federt dieser Topos (im Sinne eines anerkannten ›so sagt man eben‹) die Aggressivität die Strophe zunächst ab, im Gesamtzusammenhang der Strophe jedoch verstärkt sich die latente deontische Bedeutung, denn dem Wolf muss ja Einhalt geboten werden. Der Waffenruf (wâfen!) deutet dabei zumindest die Möglichkeit einer gewaltsamen Intervention an, die den prospektiven Willen des göttlichen Oberherrn vollzieht.

4 Das Thema der päpstlichen Willkür in der nach-Walther’schen Sangspruchdichtung Walther steht mit dieser Wahrnehmung der kurialen Politik bei weitem nicht allein, das Thema der päpstlichen Willkür bleibt auch in der nach-Walther’schen Sangspruchdichtung präsent. So führt etwa Reinmar von Zweter den unrechten Gebrauch des Bannes auf »fleischlichen Zorn« zurück: Swer bannen wil und bannen sol, der hüete daz sîn ban sî iht vleischlîches zornes vol: swâ vleischlich zorn in banne steckt, dazn ist niht rehter Gotes ban. Swes ban mit Gote ist unt in Gote, der wirbet wol nâch Gote als ein gesanter Gotes bote: swer des bannes niht envürhtet, der ist niht ein wîser man. Swer under stole vluochet, schiltet, bennet unt under helme roubet unde brennet, der wil mit beiden swerten strîten: mac daz geschehen in Gotes namen, so darf sich Sente Peter schamen, 77 daz er des niht enphlac bî sînen zîten. Wer auch immer den Bann verhängen will und soll, der sorge dafür, dass sein Bann nicht von niederen Zornaffekten bestimmt ist, denn wo auch immer der Bann durch einen solchen Affekt geleitet wird, handelt es sich nicht um den wahren Bann im Namen Gottes. Wer den Bann mit Gott und in Gott verhängt, der verhält sich nach göttlichem Willen wie ein von Gott gesandter Bote. Wer den Bann nicht ehrfurchtsvoll respektiert, der ist kein kluger Mann: Wer unter der Stola flucht, schilt und bannt und wer zugleich unter dem Helm raubt und sengt, der will mit zwei

|| 76 Vgl. PADBERG (Anm. 45), S. 172: »In der lat. kirchenkritischen Tradition sind der Wolf unter den Schafen und die falschen Hirten beliebte und stereotype Metaphern für die Geistlichkeit«. Vgl. dazu auch SCHÜPPERT (Anm. 15), S. 153f. 77 Benutzte Ausgabe: Die Gedichte Reinmars von Zweter, hrsg. von GUSTAV ROETHE, Leipzig 1887, Nachdruck Amsterdam 1966, Nr. 127, S. 475. Eigene Übersetzung; für Ergänzungen und Hinweise danke ich Kay Malcher. Vgl. zum Hintergrund MÜLLER (Anm. 45), S. 61.

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Schwertern kämpfen. Wenn so etwas im Namen Gottes geschehen darf, dann müsste sich der heilige Petrus dafür schämen, denn der verfuhr zu seiner Zeit anders.

Reinmar beleuchtet hier gewissermaßen die Affektdimension des Kirchenbannes: ›Fleischlicher‹ Zorn steht im impliziten Gegensatz zum heiligen und gerechten Zorn; er steht hier für den politischen Affekt der Feindsetzung ebenso wie für die Bindung an weltliche Interessen und kennzeichnet damit einen instrumentellen Banngebrauch, der den sakralen Akt des Kirchenausschlusses entwertet und letztlich delegitimiert (V. 3: niht rehter Gotes ban). Der Tadel in Vers 6 (swer des bannes niht envürhtet) bezieht sich dementsprechend nicht so sehr auf Delinquenten, die vom Bann betroffen sind und diesen ignorieren, sondern vor allem auf die strafende Instanz, die eine Exkommunikation aus anderen als religiösen Gründen verhängt. Evident wird die ›fleischliche‹, das heißt machtpolitische Funktionalisierung des Banns dadurch, dass die ›Gewaltsprache‹ der Bannkommunikation mit brutalem Gewalthandeln verknüpft ist:78 swer under stole fluochet, schiltet, bennet / under helme roubet unde brennet (V. 7f.). Ein exakter ereignisgeschichtlicher Bezug lässt sich auch für diese Verse nicht herstellen; als historischer Kontext sind jedoch die fortgesetzten Konflikte Friedrichs II. mit der Kurie anzunehmen, in deren Verlauf der Kaiser nicht nur mehrfach exkommuniziert wurde, sondern sich auch militärisch mit den ›Schlüsselsoldaten‹ des Papstes auseinanderzusetzen hatte.79 Wie Walther geht es auch Reinmar darum, die Doppelstrategie kurialer Politik zu skandalisieren, die rücksichtslos unter Einsatz von beiden swerten ihre Interessen durchzusetzen versucht. Diese Metaphorik des geistlichen und des weltlichen Schwerts, basierend auf Lk 22,38, soll die Gleichwertigkeit der beiden Gewalten in Erinnerung rufen, die aus imperialer Sicht gleichermaßen »unmittelbar von Gott stammen«.80 Angezeigt ist damit nicht nur der Vorwurf der Anmaßung von Kompetenzen, vielmehr hebt Reinmar das grundsätzliche Unrechtshandeln der Kurie her-

|| 78 Vgl. JASER, CHRISTIAN: Ecclesia maledicens. Rituelle und zeremonielle Exkommunikationsformen im Mittelalter, Tübingen 2013, vor allem S. 150–240. 79 Erwogen hat man als Anlass vor allem die Vorgeschichte des Kreuzzugs Friedrich II.: Papst Gregor IX. hatte Friedrich am 29.9.1227 gebannt, als dieser wegen einer Seuche den bereits mehrfach verschobenen Kreuzzug erneut abgebrochen hatte. Obwohl der Kaiser den Kreuzzug dennoch als Gebannter Ende Juni 1228 antrat, bekräftigte Gregor IX. mehrfach den Kirchenbann und begründete dies mit den päpstlichen Ansprüchen in Sizilien, die er durch seine clavisignati durchzusetzen versuchte. Vgl. unter anderem HIESTAND, RUDOLF: Friedrich II. und der Kreuzzug, in: ESCH, ARNOLD/KAMP, NORBERT (Hrsg.): Friedrich II. Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Rom im Gedenkjahr 1994, Tübingen 1996, S. 128–49; für einen allgemeinen Überblick vgl. STÜRNER (wie Anm. 33), Bd. 2, S. 130–66. Kritisch zu diesem Bezug BONJOUR, EDGAR: Reinmar von Zweter als politischer Dichter. Ein Beitrag zur Chronologie seiner politischen Sprüche, Bern 1922, S. 29. 80 WEINFURTER (Anm. 18), S. 170. Zum Hintergrund vgl. unter anderem LEVISON, WILHELM: Die mittelalterliche Lehre von den beiden Schwertern. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 9 (1952), S. 14–42, und MIKAT, PAUL: Art. Zweischwerterlehre, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5 (1998), Sp. 1848–59.

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vor, die, indem sie weltliche Machtstrategien nutzt, nicht mehr in Gote ist (V. 4), sondern gotes namen missbraucht (V. 10) und damit ihre Legitimation konterkariert. Reinmars Spruch markiert eine imperiale Rechtsposition, die die Kurie wieder auf ihre ursprüngliche Rolle in der harmonischen Komplementarität von regnum und sacerdotium zu verpflichten sucht. Allerdings hatte die Kurie ihre Rolle längst neu interpretiert. Die Zuschreibung päpstlicher Willkür ist dabei symptomatisch für die Krise traditionaler Vorstellungen des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher Gewalt angesichts des erweiterten Spielraums der päpstlichen Politik, eine Krise, die im Sangspruch des 13. Jahrhunderts mehrfach artikuliert wird. So präsentiert Meister Sigeher einen Papst, der mit den deutschen Fürsten wie mit Puppen hantiert:81 Des keisers wal diu stuont gar schône dô sîn künige pflâgen e. nu pflegen sîn welsche pfaffen, die vervendern segen unt den touf. dem von Stouf wirt diu krône, swiez umb den von Hollant gê, wil er ze Rôme schaffen: Jerusalem sîn erbe deist der kouf. uf den val læt der babest sich nâch landen dürsten. als der tocken spilt der Walch mit tiutschen fürsten: er setzt si ûf, er setzt si abe, nâch der habe wirft er si hin unt her als einen bal. Um die Wahl des Kaisers war es gut bestellt, als früher Könige sie noch vollzogen. Jetzt besorgen das italienische Geistliche, die Segen und Taufe verschachern. Dem von Staufen wird die Krone zuteil, ganz gleich, wie es dem von Holland ergeht, wenn er in Rom sein Erbe, Jerusalem, übergeben wird; das ist der Kaufpreis. Auf jeden Fall treibt den Papst der Durst nach weiteren Ländern. Wie mit Puppen spielt der Welsche mit den deutschen Fürsten: Er lässt sie auf- und abtreten; je nach ihren Geschenken wirft er sie hin und her wie einen Ball.

Den historischen Kontext dieser Strophe bilden die Thronwirren nach dem Tod Kaiser Friedrichs II., in denen sich sein Sohn Konrad IV. mit den Gegenkandidaten Heinrich Raspe und Wilhelm von Holland auseinandersetzen musste, die beide vom Papst unterstützt wurden.82 Anlass dürfte die Italienfahrt Konrads IV. im Oktober 1251 gewesen || 81 Benutzte Ausgabe: Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts, hrsg., übers. und kommentiert von THEODOR NOLTE und VOLKER SCHUPP, Stuttgart 2011, S. 70f.; Kommentar ebd., S. 389. 82 Vgl. dazu unter anderem KAUFHOLD, MARTIN: Die Könige des Interregnum. Konrad IV., Heinrich Raspe, Wilhelm, Alfons, Richard (1245–1273), in: SCHNEIDMÜLLER, BERND/WEINFURTER, STEFAN (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Porträts von Heinrich I. bis Maximilian I., München 2003, S. 315–39; DERS.: Konrad IV. – Königliches Handeln in einer Zeit des Wandels, in: RUESS, KARLHEINZ (Hrsg.): Konrad IV. (1228–1254). Deutschlands letzter Stauferkönig, Göppingen 2012 (Schriften

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sein (V. 7). Sigeher greift hier offenbar das Gerücht eines Tauschhandels (kouf) auf, wonach sich Konrad der Gunst des Papstes dadurch versichern wollte, dass er dafür seinen Titel als König von Jerusalem aufgäbe. Der Spruch richtet sich weniger gegen Konrad, sondern stellt heraus, dass der Papst den von ihm bislang protegierten Kandidaten Wilhelm von Holland fallenlassen könnte. Dass ein solcher Handel letztlich nicht zustande kam, im Gegenteil Wilhelm sogar eine Zeitlang als deutscher König regierte, ist hier nicht weiter von Belang, signifikant ist vielmehr die Krisenrhetorik, die die Verschiebungen der politischen Tektonik in die infantilisierende Figuration eines Papstes übersetzt, der mit den deutschen Fürsten wie mit Puppen und Bällen spielt. Der Topos päpstlicher Willkür verbindet sich hier mit dem Narrativ des Niedergangs der alten Ordnung und steigert sich zur Vorstellung des vollständigen Kontrollverlusts und der Fremdbestimmung durch einen übermächtigen externen Akteur (V. 11: den Walch), der die deutschen Fürsten nach Belieben manipuliert und dabei einen geradezu sinnlichen Appetit auf ihre habe entwickelt: Ihn dürstet nach deutschen Ländern (V. 9f.: uf den val / læt der babest sich nâch landen dürsten). Auch diese Beschreibung erscheint zunächst rein resignativ, doch ebenso wie das Narrativ des Niedergangs die Aufforderung impliziert, ihn abzuwenden, so zielt auch die rhetorische Degradierung der deutschen Fürsten von künege[n] (V. 2) zu hilflosen Puppen auf ihr Selbstverständnis als eigenständige politischen Akteure. Implizit vermittelt eine solche Inszenierung den Appell, die Selbstauslieferung an korrupte welsche pfaffen (V. 3) zu beenden und die rechtmäßige Ordnung wiederherzustellen. Explizit werden solche Appelle schließlich in zwei Strophen im WürgendrüsselTon formuliert, die Heinrich Frauenlob von Meißen zugeschrieben werden, aber möglicherweise erst in seinem ›Schüler‹-Kreis entstanden sind.83 Ihre Datierung ist daher unsicher, auch wenn ein Bezug auf die Konflikte zwischen Ludwig dem Bayern und der Kurie anzunehmen ist. Die erste Strophe (in der ›Göttinger Ausgabe‹ Str. IX,12) ist vollständig nur in der späten, um 1500 entstandenen Weimarer Liederhandschrift84

|| zur staufischen Geschichte und Kunst 32), S. 10–25; KAUFHOLD, MARTIN: Deutsches Interregnum und europäische Politik. Konfliktlösungen und Entscheidungsstrukturen 1230–1280, Hannover 2000 (MGH Schriften 49). Vgl. auch die Anmerkungen von MÜLLER (Anm. 45), S. 124. 83 Zur Überlieferung, Datierung und Autorschaft zuletzt eingehend WACHINGER, BURGHART: Vermutungen zu den papstkritischen Strophen in Frauenlobs ›Würgendrüssel‹, in: PBB 139 (2017), S. 91–97. Vgl. dazu auch MÜLLER (Anm. 45), S. 166−69, und LAUER, CLAUDIA: Sangspruchdichtung, in: DIES [u. a.] (Hrsg.): Handbuch Frauenlob, Heidelberg 2018, S. 47–76, vor allem S. 63–67. 84 Die letzten drei Verse finden sich allerdings auch im Breslauer Fragment b (Biblioteka Uniwersytecka Wrocƚaw, Fragment Akc 1955/193 aus der Handschrift I Q 365), das auf die ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert wird. Edition bei KLAPPER, JOSEPH: Frauenlobfragmente, in: STELLER, WALTHER (Hrsg.): FS Theodor Siebs, Breslau 1933 (Germanistische Abhandlungen 67), S. 69−85, hier S. 75. Vgl. dazu WACHINGER (Anm. 83), S. 91f.

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(Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Cod. Quart 564, Sigle: F) überliefert. Eröffnet wird sie mit einer aggressiven Apostrophe an die ›Pfaffen‹:85 Wie nu, wie nu, ir pfaffen, wie sint die recht geschaffen? künig Karl dem riche und auch dem stule hat gegeben die swert, ir beider kallen muz ich claffen. ist Peters allez daz da ist, Johannes, wa ist din swert? (V. 1–6) Wie nun, wie nun, ihr Pfaffen, wie sehen denn die Rechte aus? Dem Reich und auch dem Stuhl hat König Karl gegeben die Schwerter. Vom Streit der beiden muss ich schreien. Gehört denn Petrus alles, was es gibt, Johannes, wo ist dein Schwert?

Ausgangspunkt der Strophe ist die Metaphorik der beiden Schwerter (diu swert, diu beide), die hier in ein Diebstahlszenario überführt wird.86 Die Strophe inszeniert – ähnlich wie Walther in L 33,21 – einen Weck- und Alarmruf: Diesmal wird jedoch nicht Gott, sondern der Apostel Johannes als symbolischer Repräsentant des Reiches angerufen, endlich aufzuwachen und sich gegen Petrus’ Übergriffe zur Wehr zu setzen: Ich wene, du sist entnücket. din swert ist dir entzücket, die stole und ouch der ban ho ob dem swerte sweben. die blate schicket, daz schilt und sper dich drücket. Johannes, got erwecke dich, dins leides Peter gert. (V. 6–12) Ich glaube, du bist eingeschlafen. Dein Schwert ist dir entrissen, die Stola und der Bann erheben sich hoch über dein Schwert. Die Tonsur wird es noch schaffen, dass dich Schild und Speer bedrängen. Gott wecke dich auf, Johannes, Sankt Peter will dir Übles.

|| 85 Benutzte Ausgabe: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hrsg. und übers. von BURGHART WACHINGER, Frankfurt a. M. 2006 (Bibliothek Deutscher Klassiker 191/Bibliothek des Mittelalters 22), S. 412f., Kommentar, S. 888–92. Ergänzend sei hingewiesen auf die ›Göttinger Ausgabe‹ (GA): Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. 1. Teil: Einleitungen, Texte, 2. Teil: Apparate, Erläuterungen. Auf Grund der Vorarbeiten von HELMUTH THOMAS hrsg. von KARL STACKMANN und KARL BERTAU, Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Nr. 119), Bd. 1, S. 515−21; Lesarten und Anmerkungen in Bd. 2, S. 943−54. Zur Kritik dieser Ausgabe grundlegend die Rezension von PETER KERN, in: ZfdPh 103 (1984), S. 136–43. Irritierend ist der Bezug auf ›König Karl‹ in V. 3, der eigentlich nicht zur Zweischwerterlehre passt, da, wie KERN hervorhebt, die Schwerter nach mittelalterlicher Anschauung von Gott verliehen werden (vgl. ebd., S. 138). WACHINGER vermutet: »Es sollen hier wohl nur suggestiv alte Rechtsansprüche des Königs gegen das Papsttum aufgerufen werden« (Kommentar, S. 890). Die Frage kann hier offen gelassen werden. Vgl. dazu meine Überlegungen im Anschluss an KERN in DRÖSE (Anm. 45), S. 40–42. 86 Diese Verknüpfung ist originell. Vgl. LEVISON (Anm. 80), S. 36, der auf eine Glosse zum Sachsenspiegel hinweist, wonach das geistliche Schwert Petrus, das weltliche Schwert Johannes verliehen worden sei, sowie WACHINGER (Anm. 83), S. 93.

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Plausibilität gewinnt diese symbolische Gegenüberstellung durch das im Johannesevangelium mehrfach angedeutete Konkurrenzverhältnis zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger des Herrn.87 Anstelle einer komplementären Gleichrangigkeit beider Repräsentanten, wie sie in dieser Bildlichkeit vorgegeben ist, konstatiert die Strophe die Degradierung und Depotenzierung des Johannes durch Petrus, dessen Anmaßung sich wie bei Sigeher im willkürlichen Auf- und Absetzen manifestiert: Sin ist daz riche und der stab, der frevel und gewalt, er setzet uf, er setzet abe, solch wille ist siner macht gezalt. din fürstentum, din ritterschaft, die beide sint verschalt. (V. 13–18) Er hat jetzt Reich und Hirtenstab, übt Frechheit und Gewalt, er setzt ein und er setzt ab, seiner Macht ist solche Willkür eigen. Dein Fürstenrang, dein Rittertum sind beide unterdrückt.

Die Strophe spiegelt sowohl die Doktrin der päpstlichen plenitudo potestatis, wie sie etwa von Bonifaz VIII. in seiner Bulle Unam sanctam vorgetragen worden ist, als auch konkrete Interventionen in die Reichspolitik, wie sie bereits Meister Sigeher skandalisiert hatte.88 Imperium und sacerdotium (riche und der stab) seien gleichermaßen in den Besitz Peters übergegangen, das Reich ist seiner Willkür (wille) ausgeliefert, Herrschaft und Ansehen des Johannes würden unterdrückt (verschalt). Daraus leitet sich die Forderung ab, die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen: Johannes, hege din altez recht, als ez gestanden habe. nimst du din swert enzit nicht wider, man jaget dich mit dem Stabe. (V. 19–22) Johannes, schütz dein altes Recht, wie es einst gegolten hat. Nimmst du dein Schwert nicht beizeiten wieder, so jagt man dich mit dem Stabe.

Diese Wiederaneignung ursprünglicher Rechte mit dem Schwert in der Hand ist dabei kaum anders als gewaltsam zu denken. Diese deutet sich auch in der in den Handschriften folgenden Strophe (GA IX,13) an, die den Alarmruf an Johannes aufnimmt und seine Dringlichkeit noch einmal bekräftigt, da der gesamte ihm anvertraute Erdkreis unter der Unterdrückung durch die Kurie leide. Statt Petrus tritt nun der ›Wolf

|| 87 So etwa im Wettlauf zum leeren Grab am Ostermorgen, der zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger ausgetragen und von letzterem gewonnen wird (Joh 20,4–8); zum Verhältnis der beiden vgl. auch Joh 21,22f. 88 Vgl. MÜLLER (Anm. 45), S. 169f., der etwa auf die Absetzung Adolfs von Nassau 1298 und die 1324 erfolgte Exkommunikation Ludwigs des Bayern durch Johannes XXII. verweist.

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des Bannes‹ als Gegenspieler auf, den Johannes unter Einsatz seines Schwerts in die Schranken weisen soll: Zich nu daz swert, Johannes, und twing den wolf des bannes! 89 sol er des reiches schaff nun von der weyde jagen? (V. 7–9) Zieh nun das Schwert, Johannes, und bezwing den Wolf des Bannes! Soll er etwa die Schafe des Reiches von der Weide jagen?

Der wolf des bannes ist erneut eine Anspielung auf den kirchenkritischen Gemeinplatz des Hirten, der sich in einen Wolf verwandelt hat. Dabei wird das Bild gewissermaßen aufgespalten und der positive Rollenaspekt der imperialen Seite zugewiesen. Es ist nunmehr Johannes, der als fürsorglicher Hirte für des reiches schaff fungieren und gegen den ›Wolf des Bannes‹ vorgehen soll. Die Komplementarität von regnum und sacerdotium erscheint hier zu einer offenen Feindsetzung verkehrt. Mit der invektiven Adressierung päpstlicher Unrechtsherrschaft verbinden sich zugleich Ansätze einer neuen Selbstbeschreibung weltlicher Herrschaft, von der sich unterschiedliche historische Akteure angesprochen fühlen konnten.

5 Abschließende Überlegungen Ziel dieses Beitrags war nicht der Nachweis, dass der Topos der ›päpstlichen Tyrannis‹ auch schon im Mittelalter virulent gewesen ist; das Konzept der Tyrannis hatte hier zunächst nur eine heuristische Funktion, die Konstitution einer Problemperspektive auf die päpstliche Politik an einigen Beispielen aus der Sangspruchdichtung zu erhellen. Signifikant ist jedoch, dass die hier untersuchten Sprüche mit Zuschreibungen operieren, deren Fluchtpunkt in der Tyrannis liegt: Vorwürfe der Willkür, der Gewalt, der Anmaßung, der Manipulation, der Aggression. Diese Zuschreibungen an die päpstliche Politik werden über komplexe rhetorische Inszenierungen kunstvoll vermittelt: im Krieg der pfaffen gegen die Laien, in der Figuration des Papstes als Puppenspieler oder dem Konflikt zwischen den Personifikationen des Petrus und des Johannes. Auch diese Inszenierungen haben dabei eine dezidiert invektive, eine entlarvende und

|| 89 GA XIII (Anm. 85), S. 516f. Die gravierenden textkritischen Probleme der Überlieferung des ›Würgendrüssel‹ wurden in der Göttinger Ausgabe durch massive und meist nicht überzeugende Konjekturen aufgelöst; vgl. dazu ausführlich KERN (Anm. 84) sowie WACHINGER (Anm. 83). Ich zitiere den Textauszug im Abgleich mit der Hs. F: Weimarer Liederhandschrift (Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Q 564), fol. 16r, online unter: https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/867656093/43 (Abrufdatum: 07.02.2021) und dem Breslauer Fragment b (Biblioteka Uniwersytecka Wrocƚaw, Fragment Akc 1955/193 aus der Handschrift I Q 365), online unter: https://www.bibliotekacyfrowa.pl/dlibra/showcontent/publication/edition/6323?id=6323 (Abrufdatum: 23.04.2021).

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bloßstellende Funktion, insofern sie die machtpolitische Verkehrung einer spirituellen Institution anzeigen sollen. Als Invektiven zielen die Sprüche nicht etwa auf eine sachlich-kritische Verhandlung von Missständen, sondern auf die Emotionalisierung des Publikums im Rahmen von Empörungskommunikation. Eine gerade Linie von diesen Sangspruch-Invektiven zum eingangs skizzierten frühneuzeitlichen Diskurs über die päpstliche Tyrannei lässt sich indes nicht ziehen. Zentral ist hier nicht zuletzt die terminologische Differenz: Der Gebrauch des Lehnworts ›Tyrannei‹ in volkssprachigen Texten ist nicht nur ein Indikator, sondern fungierte historisch auch als Katalysator für diskursgeschichtliche Verschiebungen,90 da er beispielsweise neue Ressourcen für die Problembeschreibung und Skandalisierung der Kurie erschloss. Vor allem aber ist eine pragmatische und mediale Differenz zu konstatieren: Die Sangsprüche waren als performances zunächst an konkrete Aufführungszusammenhänge gebunden.91 Auch wenn sie in Handschriften aufgezeichnet und damit in gewisser Weise auch über den unmittelbaren Aufführungskontext hinaus in ihrer Relevanz anerkannt wurden (und auf ein fortlaufendes oder durch aktuelle Anlässe neu entfachtes Interesse verweisen),92 blieb ihre Wirkung auf bestimmte Zeiten, Orte und Milieus begrenzt. Dagegen bedienten sich Luther, aber auch schon Ulrich von Hutten und Erasmus von Rotterdam der Medienmaschine des Buchdrucks. Während die Sprüche nur eine schmale Elite im Umfeld der jeweiligen Herrscher adressieren, so gilt Luthers Appell, sich vor der päpstlichen Tyrannis zu hüten, jedem Christenmenschen. Es ist erst der massenmediale Gebrauch, der das verfestigte »Sprachgebrauchsmuster«93 der päpstlichen Tyrannis konstituiert.

|| 90 Vgl. TOEPFER, REGINA [u. a.]: Einleitung: Humanistische Antikenübersetzung und frühneuzeitliche Poetik in Deutschland (1450–1620), in: DIES. [u. a.] (Hrsg.): Humanistische Antikenübersetzung und frühneuzeitliche Poetik in Deutschland (1450–1620), Berlin/Boston 2017 (Frühe Neuzeit 211), S. 1–24, hier S. 22. 91 Vgl. HAUSTEIN, JENS [u. a.] (Hrsg.), Sangspruch/Spruchsang. Ein Handbuch, Berlin/Boston 2019, S. 43–118 (Kap. III: Pragmatische und mediale Kontexte), und z. B. RZEPKA (Anm. 63). 92 Vgl. etwa die Überlegungen WACHINGERs (Anm. 83) zur Abfolge der papstkritischen Strophen im ›Würgendrüssel‹ in der Vorlage der Weimarer Hs. F: »Das legt zumindest die Möglichkeit nahe, dass die Strophen-Sequenz der ›Weimarer Liederhandschrift‹ nicht von vornherein als Einheit geplant waren, sondern erst unter dem Eindruck einer neuen Zuspitzung des Papst-Kaiser-Konflikts zusammengestellt wurde, vielleicht erst nach der Verfluchung Ludwigs durch Papst Clemens VI. am Gründonnerstag 1346« (S. 92). 93 Vgl. BUBENHOFER (Anm. 1).

Oliver Landolt

Die Erfindung des Tyrannen? Das Tyrannenbild der Habsburger im eidgenössischen und schweizerischen Geschichtsbild [V]or alten langen ziten [...] hatten gross kriege die drye waltstette, switz, ure, underwalden, des ersten mit der herschaft von kyburg, darnach mit der herschaft von habsburg, am lesten mit der herschaft von österich. Und waz der kriegen Ursprung, als die von switz und von underwalden zugehören solten einer herschaft von habspurg, und ure an daz gotzhuss ze frowenmünster Zürch; nu hatten sich die von ure von alter har verbunden zu den andren zwein waltstetten. Nu waz sach des krieges, daz die herschaft, ir vögte und ir amptlüte so si in den lendren hatten, uber die rechten dienste suchten nüwe recht und nüw fünde, und uber die alten rechtungen, die si dem rich von dem si versetzt waren, getan hatten; ouch warent die amptlüte gar frevenlich gen fromen lüten, wiben, tochtern und jungfrowen, und wolten iren mutwillen mit gewalt triben, daz aber die erbern lüte die lenge nit vertragen mochten; und sassten sich also wider die amptlüte. Also hub sich gross vigentschaft zwüschent der herschaft und den lendren, und starkten sich die herschaft 1 wider die lender.

Dieser um 1420 durch den Berner Chronisten Konrad Justinger († 1438) verfasste Text stellt den frühesten historiographischen Beleg für den im Laufe des 15. Jahrhunderts sich ausbildenden sogenannten eidgenössischen Befreiungsmythos dar. Um 1470 war dieser aus Lokaltraditionen, fremden Erzählmotiven, aber wohl auch realen Begebenheiten konstruierte Mythos über die Gründung der Eidgenossenschaft in der Innerschweiz um 1300 abgeschlossen und schriftlich im sogenannten Weißen Buch von Sarnen fixiert,2 verfasst oder zumindest redaktionell überarbeitet durch den Obwaldner Landschreiber Hans Schriber († um 1478/79).3 Dieses Weiße Buch von Sarnen, be-

|| 1 Benutzte Ausgabe: Die Berner-Chronik des Conrad Justinger, hrsg. im Auftrag und mit Unterstützung der allgemeinen geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz von GOTTLIEB STUDER, Bern 1871, S. 45f. Zur Biographie Justingers und seinem Werk vgl. JOST, KATHRIN: Konrad Justinger (ca. 1365–1438): Chronist und Finanzmann in Berns Großer Zeit, Ostfildern 2011 (Vorträge und Forschungen, Sonderbd. 56). 2 Benutzte Ausgabe: Das Weiße Buch von Sarnen, bearb. von HANS GEORG WIRZ, Aarau 1947 (Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Abt. III: Chroniken, Bd. 1). Nicht überzeugend ist der Versuch von MEYER, BRUNO: Weißes Buch und Wilhelm Tell. 3., erw. Aufl., Weinfelden 1985, die Entstehung des erzählenden Teils des Weißen Buches von Sarnen ins frühe 15. Jahrhundert zu versetzen, der gleichzeitig mit den Schilderungen Justingers über die Befreiung der Waldstätte entstanden sein soll. 3 Die Bedeutung des Obwaldner Landschreibers Hans Schriber in der Gestaltung und Ausbildung der eidgenössischen Befreiungstradition wird in der Forschung kontrovers beurteilt. GAROVI, ANGELO: Art. Schriber, Hans, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 11, Basel 2012, S. 203f., beurteilt Schribers Arbeit und die Verbindung der verschiedenen Motive der Befreiungsgeschichte als »sprachlich virtuos« (S. 204). Der Germanist PETER VON MATT: »Jedes Land braucht Erinnerung«, in: NZZ am Sonnhttps://doi.org/10.1515/9783110752373-015

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nannt einerseits nach seinem Aufbewahrungsort in Sarnen im Staatsarchiv des heutigen schweizerischen Kantons Obwalden und andererseits wegen seines aus weißem Schweinsleder bestehenden Einbandes, ist zum größten Teil ein Kopialband, in welchem sich Abschriften wichtiger, zwischen 1309 und 1474 entstandenen Bündnisse und Beschlüsse befinden. In einem zweiten, kleineren Teil des Codex finden sich die erstmals zu einer einheitlichen Darstellung zusammengefassten Erzählungen von den Gewalttaten der im Dienste Habsburgs stehenden Vögte und Amtleute, sprich: der sexuellen Gewalt gegenüber dem einheimischen weiblichen Geschlecht, der Nötigung der Bevölkerung durch neu eingeführte Steuern und Abgaben sowie der Ersetzung alten Rechts durch neues Recht. Die Untaten der Vögte werden dabei mit individualisierten, beinahe novellenartigen Erzählungen ergänzt und häufig mit im Gebiet der heutigen Schweiz ansässigen, mit Habsburg verbundenen Familien wie den Gessler oder den Landenberger personalisiert.4 Hier findet sich auch erstmals die im Land Uri spielende Geschichte von Wilhelm Tell und dessen Weigerung, den Hut des Vogtes Gessler zu grüßen, dem erzwungenen Apfelschuss vom Kopf des Tellensohns, von Tells erfolgreich ausgeführtem Attentat auf Gessler in der Hohlen Gasse bei Küssnacht. Daneben werden weitere Geschichten erzählt, die in den Ländern Obwalden, Nidwalden und Schwyz spielen und die tyrannischen Taten der Vögte in exemplarischer Form aufzeigen. In der Folge soll es zum Burgenbruch und zur Befreiung der Länder von der Tyrannenherrschaft gekommen sein.5 Dieser eidgenössische Gründungs- und Befreiungsmythos fand seit der Zeit um 1500 über verschiedene literarische Erzeugnisse und Medien starke Verbreitung, wurde wiederholt rezipiert, modifiziert, mit Details angereichert und auch ikonographisch in vielfältigen Formen zum Ausdruck gebracht. Wirkmächtig waren besonders die 1507 gedruckte Chronik des Luzerners Petermann Etterlin (* um 1430/40, † um 1509) sowie die 1547/48 im Druck erschienene Chronik des aus dem badischen Bruchsal stammenden und später in Zürich beheimateten Johannes Stumpf (1500–1577/78); beide Chroniken mit dem Anspruch, die gesamteidgenössische Geschichte darzustellen, spielten eine wichtige Rolle in der || tag, 31.10.2010, online unter: https://www.nzz.ch/jedes_land_braucht_erinnerung-1.8205029 (Abrufdatum: 14.03.2019), stellt in einem Interview unter anderem über die Bedeutung von Hans Schriber und dessen Weißem Buch von Sarnen fest: »Kein Schweizer Autor hat je ein Werk von grösserer Wirkung verfasst.« Eher kritisch zur Bedeutung Schribers äußert sich MESSMER, KURT: Die Kunst des Möglichen. Zur Entstehung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert, Baden 2018, S. 30. Vgl. auch KOLLER, WALTER: Wilhelm Tell – ein humanistisches Märchen, in: KOLLER-WEISS, KATHARINA/SIEBER, CHRISTIAN (Hrsg.): Aegidius Tschudi und seine Zeit, Basel 2002, S. 237–68, hier S. 240: »Dass der Obwaldner Landschreiber Hans Schriber, der Schreiber des Weissen Buches, selbst der Autor dieser Chronik war, ist nicht wahrscheinlich. Der Verfasser ist somit ebenfalls unbekannt«. 4 KOLLER (Anm. 3) sieht die im Weißen Buch von Sarnen überlieferten Geschichten als humanistische Geschichtskonstruktionen, in denen der anonyme Verfasser die im Humanismus verstärkt aufkommenden Themen wie Tyrannenherrschaft, Tyrannenmord und die Freiheit kommunaler Gemeinwesen behandelt. 5 Vgl. Das Weiße Buch von Sarnen (Anm. 2), S. 7–22.

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Popularisierung dieses Mythos.6 Vor allem der aus Glarus stammende Chronist Aegidius Tschudi (1505–1572) hat dann in seinem Chronicon Helveticum eine Zusammenschau der urkundlichen, chronikalischen wie mündlichen Überlieferungen mit eigenen Zutaten und Interpretationen geschaffen und dies in eine abgerundete Darstellung über die eidgenössische Frühzeit zusammengefasst.7 Obwohl Tschudis Chronik erst zwischen 1734 und 1736 im Druck erschien und damit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde,8 gewann der Glarner Chronist vor allem über seine weit gespannte Korrespondententätigkeit mit anderen historisch interessierten Gelehrten Einfluss in der Ausbildung des eidgenössischen Geschichtsbildes, so beispielsweise im Falle der bereits erwähnten, 1547/48 im Druck erschienenen Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger Thaaten Beschreybung [...] von Johannes Stumpf.9 Der Schaffhauser Historiker Johannes von Müller (1752–1809) verbreitete dann im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts die Befreiungstradition in der Tschudi’schen Überlieferung wirkmächtig im deutschsprachigen Raum.10 Über das 1804 erschienene Drama Wilhelm Tell von Friedrich Schiller fand das Narrativ der eidgenössischen Befreiung Eingang in die Weltliteratur.11 Die moderne Geschichtswissenschaft hat die mythischen Anfänge der Eidgenossenschaft schon lange in das ›Reich der Märchen‹ verwiesen und aufzeigen können, dass diese Geschichten um die Entstehung der Eidgenossenschaft weitgehend reine Fiktionen sind, welche nahezu nichts oder nur sehr wenig mit den tatsächlichen Ereignissen in der Zentralschweiz um 1300 zu tun haben.12 Auch der lange Zeit als Realität angenommene sogenannte ›Burgenbruch‹, die Eroberung und Zerstörung habsburgischer Burgen im Raum der Zentralschweiz durch eidgenössische ›Freiheitskämp|| 6 Zur historiographischen Bedeutung der Chroniken von Etterlin und Stumpf vgl. FELLER, RICHARD/ BONJOUR, EDGAR: Geschichtsschreibung der Schweiz vom Spätmittelalter zur Neuzeit, Bd. I. 2., durchges. und erw. Aufl., Basel/Stuttgart 1979, S. 63–66 und 144–53. 7 Benutzte Ausgabe: Aegidius Tschudi: Chronicon Helveticum, bearb. von PETER STADLER (Tl. 1) und BERNHARD STETTLER (Tl. 1, ab Tl. 2 alleine), Tl. 1–13, 2 Ergänzungsbde., 4 Registerbde., 3 Tle. Hilfsmittel, Bern 1968–1980, Basel 1983–2001 (ab Tl. 4). 8 Vgl. Aegidii Tschudii / gewesenen Land-Ammanns zu Glarus / Chronicon Helveticum. / Oder / Gründliche Beschreibung / Der / So wohl in dem heil. Römischen Reich als besonders in Einer Lobl. Eydgenossenschaft und angränßenden Orten vorgeloffenen / Merkwürdigsten Begegnussen. [...] Nunmehro zum Ersten mahl aus dem Originali herausgegeben und mit einer Vorrede und nöthigen Anmerckungen / Wie auch einem Register versehen / Von / Johann Rudolf Iselin, 2 Tle., Basel 1734 und 1736. 9 Vgl. FELLER/BONJOUR (Anm. 6), S. 147. 10 Zu Müller und seiner historiographischen Bedeutung vgl. FELLER, RICHARD/BONJOUR, EDGAR: Geschichtsschreibung der Schweiz vom Spätmittelalter zur Neuzeit, Bd. II. 2., durchges. und erw. Aufl., Basel/Stuttgart 1979, S. 545–69. 11 Vgl. dazu PIATTI, BARBARA: Tells Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich Schillers Wilhelm Tell, Basel 2004. 12 Vgl. dazu KAISER, PETER: Art. Befreiungstradition, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 2, Basel 2003, S. 151–54, und SABLONIER, ROGER: Gründungszeit ohne Eidgenossen. Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300, Baden 2008.

326 | Oliver Landolt fer‹, konnte durch archäologische Forschungen weitgehend widerlegt werden.13 Dies waren vielmehr Produkte eines im Laufe des 15. Jahrhunderts allmählich an staatlichen Konturen gewinnenden eidgenössischen Staatenbundes, der sich im Rahmen einer invention of tradition eine eigene Geschichte gab.14 In der Geschichtsvorstellung der vormodernen Eidgenossenschaft vor 1798 wie auch im Geschichtsbewusstsein weiter Bevölkerungskreise im 1848 gegründeten modernen Bundesstaat Schweiz spielte allerdings der Gründungs- und Befreiungsmythos mit der tyrannischen Herrschaft der ›bösen Vögte‹ als Vertreter Habsburgs – mit unterschiedlichen Konjunkturen15 – eine wichtige Rolle. Neben den ›bösen Vögten‹ und vor allem auch dem ansässigen, häufig Habsburg verpflichteten Adel kam verschiedentlich auch das Hochadelsgeschlecht der Habsburger selber in Misskredit, das vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, ja sogar bis in die heutige Gegenwart hinein, manchmal sogar im populären Geschichtsverständnis, als Tyrannengeschlecht eingestuft wurde (bzw. hat man zumindest einzelne Vertreter der Adelsdynastie als Tyrannen gesehen).16 Schon im 19. Jahrhundert hat der Luzerner Josef Eutych Kopp (1793–1866)17 dieses Geschichtsbild aufgrund seiner sich hauptsächlich auf die urkundliche Überlieferung stützenden Forschungen zurechtgerückt; er rehabilitierte sogar die bislang weitgehend verfemten Habsburger, was ihm bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings Ablehnung und bisweilen sogar das Stigma eines ›Lan-

|| 13 Vgl. MEYER, WERNER [u. a.]: Die bösen Türnli. Archäologische Beiträge zur Burgenforschung in der Urschweiz, Olten/Freiburg i. Br. 1984 (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 11). 14 Allgemein zur allmählichen Ausbildung der Eidgenossenschaft im Laufe des 15. Jahrhunderts vgl. SABLONIER, ROGER: Schweizer Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Staatlichkeit, Politik und Selbstverständnis, in: WIGET, JOSEF (Hrsg.): Die Entstehung der Schweiz. Vom Bundesbrief 1291 zur nationalen Geschichtskultur des 20. Jahrhunderts, Schwyz 1999, S. 9–42; STETTLER, BERNHARD: Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, Zürich 2004; MESSMER (Anm. 3). Zur invention of tradition als wichtigem Prozess der Nationenbildung vgl. HOBSBAWM, ERIC/ RANGER, TERENCE (Hrsg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983; vgl. auch ANDERSON, BENEDICT: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M./New York 2005 (urspr. in Englisch 1983). 15 Für das 17. Jahrhundert sieht LAU, THOMAS: ›Stiefbrüder‹. Nation und Konfession in der Schweiz und Europa (1656–1712), Köln [u. a.] 2008, S. 57–60, unter dem Einfluss des konfessionellen Gegensatzes zwischen den reformierten und katholischen eidgenössischen Orten eine – so die Kapitelüberschrift – »Erosion der eidgenössischen Mythen«. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt GUGGISBERG, DANIEL: Das Bild der ›Alten Eidgenossen‹ in Flugschriften des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts (1531–1712). Tendenzen und Funktionen eines Geschichtsbilds, Bern [u. a.] 2000, der in akribischer Weise patriotische eidgenössische Flugschriften nach nationalen Mythen untersucht hat. 16 Zu diesem populären Geschichtsbild in der Schweizer Bevölkerung vgl. z. B. STADLER, PETER: Das schweizerische Geschichtsbild und Österreich, in: Schweizer Monatshefte 65 (1985), S. 839–54. 17 Zur Biografie vgl. BOSSARD-BORNER, HEIDI: Art. Kopp, Josef Eutych, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, Basel 2008, S. 402.

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desverräters‹ eintrug.18 Vor allem der an der Universität Zürich lehrende Karl Meyer (1885–1950) hat – nicht ohne Widerspruch verschiedener schweizerischer, aber auch ausländischer Historiker – unter manchmal abenteuerlichen Konstruktionen die chronikalische Überlieferung in die eidgenössische Frühzeit um 1300 zu reintegrieren versucht und konnte mit diesem Geschichtsbild in der sogenannten ›Geistigen Landesverteidigung‹ der 1930er- und 1940er-Jahre auch nachhaltige Erfolge erzielen.19 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die geschichtswissenschaftliche Forschung diese Ansichten aber grundlegend relativiert.20 Dennoch ist im populären Geschichtsverständnis vieler Schweizerinnen und Schweizer ein Bild der angeblichen ›habsburgischen Tyrannei‹ sogar noch in der heutigen Zeit weit verbreitet. Nicht zuletzt wurde ein solches Geschichtsbild durch den Geschichtsunterricht insbesondere auf Primar- und Sekundarstufe in den Schulen vermittelt und wirkt – trotz der mittlerweile im modernen Geschichtsunterricht präsenten Inhalte – nachhaltig fort.21 In || 18 Noch im Jahre 1934 griff der Aargauer FDP-Nationalrat und sich in seiner Freizeit als ›Hobbyhistoriker‹ betätigende Otto Hunziker (1879–1940) gegenüber dem »österreichisch gesinnte[n] Josef Eutych Kopp«, der sich »für seine geschichtlichen Arbeiten vom habsburgischen Kaiserhaus in Wien hat honorieren lassen«, landesverräterische Absichten vor; vgl. HUNZIKER, OTTO: Der eidgenössische Bundesbrief von 1291 und seine Vorgeschichte. Nach neuen Forschungsergebnissen. 2., erg. Aufl., Zürich 1934: »Seine Geschichtsschreibung über die Volksbewegung in den Waldstätten ist tendenziös und verfolgte neben dem historischen auch noch den Zweck, das Haus Habsburg vom Vorwurf der vogteilichen Bedrückung der Waldstätte in der deutschen Schweiz reinzuwaschen. In den Zeiten des Sonderbundkrieges, als sich die österreichische Politik in unsere Angelegenheiten einmischte, wurde damit der österreichischen Politik in der Schweiz und in den Waldstätten ein sehr wertvoller Dienst erwiesen« (alle Zitate S. 6f.). 19 Zur Biografie Meyers und seinem Einfluss vgl. SURCHAT, PIERRE: Art. Meyer, Karl, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 8, Basel 2009, S. 542, und STADLER, PETER: Zwischen Klassenkampf, Ständestaat und Genossenschaft. Politische Ideologien im schweizerischen Geschichtsbild der Zwischenkriegszeit, in: Historische Zeitschrift 219 (1974), S. 290–358, hier S. 332–40. Allgemein zur ›Geistigen Landesverteidigung‹ vgl. TANNER, JAKOB: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. 2. Aufl., München 2015, S. 234–39, und JORIO, MARCO: Art. Geistige Landesverteidigung, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 5, Basel 2006, S. 163–65. 20 Der an der Universität Zürich tätige MARCEL BECK (1908–1986) hinterfragte in kritischer Weise die eidgenössischen Mythen, welche mit den Forschungen des ebenfalls an der Universität Zürich lehrenden Karl Meyers (1885–1950) eine Renaissance erlebt und maßgeblich mit der sogenannten ›Geistigen Landesverteidigung‹ auch eine starke Verbreitung in der schweizerischen Bevölkerung gefunden hatten. BECK hat sich verschiedentlich mit der Thematik auseinandergesetzt; vgl. BECK, MARCEL: Habsburg und die Schweizer, in: DERS., Legende, Mythos und Geschichte. Die Schweiz und das europäische Mittelalter. Mit einem Vorwort von WALTER SCHAUFELBERGER, Frauenfeld/Stuttgart 1978, S. 178–213. In provokanter Weise publizierte OTTO MARCHI (1942–2004), ein Schüler BECKs, im Jahre 1971 die »Schweizer Geschichte für Ketzer«, welche die durch eine kritische Geschichtswissenschaft ermittelten Forschungsergebnisse in populärer Form darstellt; vgl. MARCHI, OTTO: Schweizer Geschichte für Ketzer oder Die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft. Neuausgabe, Bern 1981. 21 Vgl. FURRER, MARKUS: Die Nation im Schulbuch – zwischen Überhöhung und Verdrängung. Leitbilder der Schweizer Nationalgeschichte in Schweizer Geschichtslehrmitteln der Nachkriegszeit und Gegenwart, Hannover 2004 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung 115).

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der Schweiz wurde ›Habsburg‹ oder ›Habsburger‹ in verkürzter Form einfach mit ›Österreich‹ bzw. ›Österreicher‹ synonym gesetzt. Obwohl das Verhältnis zwischen den beiden Staaten in der heutigen Zeit sehr eng und freundschaftlich geprägt ist, brechen insbesondere bei Sportveranstaltungen wie den in beiden Nationen beliebten Skirennen, aber auch bei Fussball-Länderspielen gegeneinander manchmal auf Schweizer Seite alte Ressentiments auf. Alte Geschichtsbilder der angeblich ›tyrannischen‹ Habsburger werden dabei vereinzelt bemüht. Im politischen Alltag ist das Motiv der ›bösen Vögte‹ beliebt, wobei vor allem rechtspopulistische Kreise wiederholt die ›Vögte‹ der Befreiungstradition anführen, um ihre aktuellen politischen Anliegen in Abstimmungen und Wahlen bei der Bevölkerung durchzusetzen. Deutlich zeigt sich dies wiederholt im Zusammenhang mit der EU, wobei die fremden ›Vögte‹ aus Brüssel, häufig auch mit ›fremden Richtern‹ synonym gesetzt, als Schreckgespenste an die Wand gemalt werden, welche angeblich die Freiheit und Unabhängigkeit der nicht der EU angehörenden Schweiz drangsalieren wollen.22 An Reden in Degenried (Kanton Zürich) und Reinach (Kanton Aargau) zum 1. August 2012, dem Schweizer Nationalfeiertag, zog der ›Alt‹-Bundesrat und Chefideologe der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Christoph Blocher (*1940) den folgenden Vergleich: Fremde Mächte – damals Habsburg – wollten sich die Schweiz unterjochen, fremd bestimmen; sagen, was in diesen Gebieten zu tun sei! [...] Wie 1291 trachten auch heute Grossmächte danach, 23 die Eigenständigkeit der Schweiz einzuschränken.

Im Folgenden soll zunächst auf die Bedeutung Habsburgs im Gebiet der heutigen Schweiz eingegangen werden. Im 13. und auch noch im 14. Jahrhundert betrieb diese Adelsdynastie eine aktive Territorialpolitik in diesem Gebiet, die allerdings zunehmend in Konkurrenz zu den an ›staatlichen‹ Strukturen gewinnenden Kommunen in dieser Region geriet. Verschärft wurde dieser Konflikt dadurch, dass sich allmählich einzelne Kommunen in Bündnisstrukturen zusammenschlossen, wobei sich das im Laufe des Spätmittelalters als ›eidgenössisches Bündnis‹ entstehende Bundesgeflecht zu einem dauerhaften ›staatlichen‹ Konstrukt entwickeln sollte. Anschließend soll darauf eingegangen werden, inwiefern die im Laufe des Spätmittelalters entstehende ›eidgenössische Befreiungstradition‹ als eine Reaktion auf die antieidgenössische Propaganda Habsburgs nach der Schlacht bei Sempach 1386 verstanden werden kann. Ein wesentliches Element der eidgenössischen Befreiungstradition war bekanntlich die angebliche ›Tyrannei‹ der von Habsburg eingesetzten Amtleute. Schließlich soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit auch die Habsburger Herrscher selber als ›Tyrannen‹ wahrgenommen wurden bzw. inwiefern dieses Bild vermittelt

|| 22 Neuerdings auch KREIS, GEORG: Fremde Richter. Karriere eines politischen Begriffs, Baden 2018. 23 Online unter: https://www.blocher.ch/2012/08/01/1-august-gedanken-2012/ (Abrufdatum: 11.02.2019); auch zitiert bei MAISSEN, THOMAS: Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt, Baden 2015, S. 73.

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wurde. Die politische Instrumentalisierung des Tyrannenvorwurfs gegenüber Habsburgs Herrschern bzw. den von ihnen eingesetzten Amtleuten wird des Weiteren einer näheren Untersuchung unterzogen.

1 Zur Bedeutung der Habsburgerdynastie im Gebiet der heutigen Schweiz Die geographische Herkunft des Adelsgeschlechts der Habsburger wird im Elsass oder im schweizerischen Aargau vermutet. Die um 1030 entstandene und dem Geschlecht den Namen gebende Stammburg, die ›Habichtsburg‹ oder ›Habsburg‹, deren Ruinen noch heute erhalten sind, steht im schweizerischen Kanton Aargau. Der Aufbau einer Territorialherrschaft der Habsburger lässt sich seit dem Ende des 11. Jahrhunderts feststellen, wobei Besitzschwerpunkte im heutigen schweizerischen Mittelland und im deutschen Südwesten lagen.24 Auch in der heutigen Innerschweiz konnten die Habsburger Herrschaftspositionen ausbauen oder es wurden zumindest Herrschaftsansprüche in diesem Raum erhoben. Dabei muss man sich dessen bewusst sein, dass die ›Habsburger‹ keineswegs eine einheitliche Dynastie waren, sondern sich im Laufe des Mittelalters immer wieder in einzelne Familienzweige aufteilten, die bisweilen auch immer wieder in Konkurrenz zueinander traten. Für die Frühzeit bedeutsam war die um 1232/34 entstandene Aufspaltung in eine Linie Habsburg-Österreich und eine Linie Habsburg-Laufenburg, wobei allerdings letztere nie den politischen Einfluss der ersteren erlangte und schließlich 1408 mit dem Tod des letzten männlichen Vertreters endete.25 Bis zum Ende des Mittelalters und sogar darüber hinaus prägten innerfamiliäre Aufspaltungen in verschiedene Linien des Geschlechts der Habsburger wiederholt die Geschichte der Dynastie; eine einheitliche politische Haltung wurde hierdurch – gerade auch im Hinblick gegenüber der entstehenden Eidgenossenschaft – behindert. Erst unter Maximilian I. wurden die Linien wieder zusammengeführt, wobei aber auch || 24 Über die Adelsdynastie Habsburg sind unzählige Arbeiten erschienen. Ich beschränke mich im Folgenden auf KRIEGER, KARL FRIEDRICH: Die Habsburger im Mittelalter. Von Rudolf I. bis Friedrich III., Stuttgart [u. a.] 1994; HÄLG-STEFFEN, FRANZISKA/HERRSCHE, PETER: Art. Habsburg, von: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 6, Basel 2007, S. 11–17; MEIER, BRUNO: Ein Königshaus aus der Schweiz. Die Habsburger, der Aargau und die Eidgenossenschaft im Mittelalter, Baden 2008; vgl. auch BRAUN, BETTINA: Die Habsburger und die Eidgenossen im späten Mittelalter, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hrsg.): Vorderösterreich nur die Schwanzfeder des Kaiseradlers? Die Habsburger im deutschen Südwesten. 2. Aufl., Stuttgart 1999, S. 128–45. Jüngst auch STERCKEN, MARTINA: Herrschaft gestalten. Die Anfänge der Habsburger, in: SCHNEIDMÜLLER, BERND (Hrsg.): König Rudolf I. und der Aufstieg des Hauses Habsburg im Mittelalter, Darmstadt 2019, S. 57–82. 25 Vgl. GUTMANN, ANDRE: Habsburg-Laufenburg, in: PARAVICINI, WERNER (Hrsg.): Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Grafen und Herren, bearb. von JAN HIRSCHBIEGEL [u. a.], 2 Teilbde., Ostfildern 2012 (Residenzenforschung 15.IV), S. 541–50.

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später mit dem Aufstieg Habsburgs zur Weltmacht die Aufspaltung der Familie in verschiedene Linien eine Konstante der Familiengeschichte blieb.26 Mit der 1273 erfolgten Wahl des Grafen Rudolf von Habsburg (1218–1291) zum König des Heiligen Römischen Reiches stieg das Hochadelsgeschlecht der Habsburger in den ›erlauchten‹ Kreis der königsfähigen Familien auf. Schon vor seiner Wahl zum König betrieb Graf Rudolf von Habsburg eine energische Erwerbspolitik zur Steigerung der eigenen Hausmacht. Diese wurde auch nach seiner Wahl zum König fortgesetzt, wobei er Reichsgeschäfte und eigene Hausmachtinteressen miteinander vermischte. Der Erwerb der österreichischen Länder nach dem Sieg in der Schlacht von Dürnkrut 1278 über König Ottokar II. von Böhmen führte zu einer Verlagerung des geographischen Schwerpunktes der Habsburger-Dynastie nach Osten; gleichzeitig wurde Österreich namengebend für die Familie Habsburg. Mit dem Tode König Rudolfs im Jahre 1291, der nach chronikalischer Überlieferung leutselig war,27 trotzdem aber auch zielstrebig seine Interessen, vor allem dynastischer und herrschaftspolitischer Natur, durchsetzen konnte,28 formierte sich sowohl in den österreichischen Ländern wie auch in den westlichen Stammlanden und den daran angrenzenden, durch Habsburg bedrohten Gebieten eine wachsende Schar von Habsburgergegnern.29 Der Sohn Rudolfs, Herzog Albrecht von Habsburg (1255–1308), potenzieller Anwärter auf den Thron seines Vaters, wehrte sich in den Jahren 1291/92 militärisch erfolgreich gegen diese Gegner; allerdings verlor der durch die für die Königswahl verantwortlichen Kurfürsten für allzu mächtig angesehene Albrecht die Königswahl gegen Adolf von Nassau. 1298 wurde Albrecht von Habsburg, nach seinem Schlachtensieg über König Adolf von Nassau, doch noch König. Für das Gebiet der heutigen Schweiz war die Regierungszeit König Albrechts weniger wegen seiner persönlichen Präsenz wichtig als vielmehr durch seine Verwaltungsmaßnahmen in dieser Region. Auf Betreiben König Albrechts I. wurde zwischen 1303 und 1307 das sogenannte Habsburgische Urbar verfertigt, ein nach geographischen Kriterien geordnetes Inventar der Einkünfte aus Ei|| 26 Zu den Hausteilungen und den innerdynastischen Auseinandersetzungen im Geschlecht der Habsburger im Spätmittelalter vgl. KRIEGER (Anm. 24), S. 137–247; vgl. auch NIEDERSTÄTTER, ALOIS: Die Herrschaft Österreich. Fürst und Land im Spätmittelalter, Wien 2001 (Österreichische Geschichte 1278–1411), S. 178–81, der durchaus auch positive Aspekte der familiären Herrschaftsteilung aufgrund der im Spätmittelalter weitgehend fehlenden Kommunikationsmittel und damit eine größere herrschaftliche Durchdringung der einzelnen habsburgischen Herrschaften sieht. Zur habsburgischen Hausteilung in eine spanische und eine deutsche Linie und ihrer Bedeutung für die frühneuzeitliche Eidgenossenschaft vgl. HÄLG-STEFFEN/HERRSCHE (Anm. 24), S. 16. 27 Zur ›Leutseligkeit‹ König Rudolfs vgl. neuerdings mit Verweisen auf die ältere Forschungsliteratur SCHNEIDMÜLLER, BERND: Rudolf von Habsburg. Geschichten vom Regieren im Reich und vom Sterben in Speyer, in: DERS. (Hrsg.): König Rudolf I. und der Aufstieg des Hauses Habsburg im Mittelalter, Darmstadt 2019, S. 9–42. 28 Vgl. KRIEGER (Anm. 24), S. 68–74. 29 Vgl. ebd., S. 77–82; NIEDERSTÄTTER (Anm. 26), S. 99–102; MEIER, BRUNO: 1291 – Geschichte eines Jahres, Baden 2018.

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gengütern, gerichtsherrlichen Rechten, Kirchenpatronaten und Steuerrechten in den habsburgischen Landen, sprich: in Schwaben, im Elsass und im Gebiet der nachmaligen Schweiz. Ebenso wurden in diesem Urbar die Ansprüche auf entfremdete oder verpfändete Rechte der Habsburger zusammengestellt. Ermittelt wurden die Informationen durch eidliche Aussagen der Abgabepflichtigen vor Ort wie auch durch die Auskünfte der einzelnen in habsburgischen Diensten stehenden Vögte bzw. Amtspersonen.30 Eine Katastrophe für das Haus Habsburg bedeutete die Ermordung König Albrechts I. bei Windisch 1308 in seinen aargauischen Stammlanden durch seinen Neffen Johann (Parricida) (1290–1313) und dessen Komplizenschaft, womit die Königswürde im Heiligen Römischen Reich für weit über hundert Jahre nicht mehr in die Hände der Habsburgerdynastie gelangte. Prägend für das 14. Jahrhundert wie auch für die folgende Zeit war die allmähliche Entwicklung des eidgenössischen Bündnisgeflechts aus ländlichen wie städtischen Kommunen, die immer wieder in Konflikt mit den territorialen Interessen Habsburgs im heutigen schweizerischen Raum gerieten. Wiederholt kam es zu kriegerischen Konflikten, wobei die habsburgischen Niederlagen in den Schlachten bei Morgarten 1315, bei Sempach 1386 sowie bei Näfels 1388 Höhepunkte in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen Habsburg und den einzelnen, im Laufe des 14. Jahrhunderts sich zusammenfindenden eidgenössischen Länder- und Städteorten waren.31 Speziell die Niederlage Habsburgs in der Schlacht bei Sempach 1386 gegen die Eidgenossen stellte für beide Gegner einen nachhaltigen ›Erinnerungsort‹ dar, sowohl für Habsburg und den in seinen Diensten stehenden Adel wie auch für die siegreichen eidgenössischen Orte.32 Als Herrschaftsträger und Schutzmacht blieb Habsburg aber im Gebiet der heutigen Schweiz und in den angrenzenden Territorien bis über die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts hinaus ein wichtiger politischer Faktor. Verschiedene zeitlich begrenzte Friedensverträge, eigentlich eher Waffenstillstände, regelten bis ins 15. Jahrhundert das Zusammenle-

|| 30 Vgl. HÄLG-STEFFEN, FRANZISKA: Art. Habsburgisches Urbar, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 6, Basel 2007, S. 21. 31 Zur Schlacht bei Morgarten vgl. MICHEL, ANNINA: Die Schlacht am Morgarten. Geschichte und Mythos, Egg/ZH 2014 (SJW 2469); vgl. auch Neue Sicht(en) auf Morgarten 1315? Beiträge der wissenschaftlichen Fachtagung des Historischen Vereins Zentralschweiz vom 24. Januar 2015, in: Der Geschichtsfreund 168 (2015), S. 7–210 (Beiträge von OLIVER LANDOLT, REGULA SCHMID, ALOIS NIEDERSTÄTTER, RUDOLF GAMPER, JAKOB OBRECHT, MARKUS EGLI/MAX MAISCH, HANS RUDOLF FUHRER, PETER NIEDERHÄUSER und BEATRICE SUTTER). 32 Zur Bedeutung der Schlacht bei Sempach auf habsburgischer Seite vgl. KOLLER, HEINRICH: Die Schlacht bei Sempach im Bewusstsein Österreichs, in: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Luzern 4 (1986), S. 48–60. Zum ›Erinnerungsort‹ der Schlacht bei Sempach auf eidgenössischer Seite vgl. Das Sempacher Schlachtjahrzeit in Geschichte und Gegenwart, in: Der Geschichtsfreund 165 (2012), S. 109–221 (Beiträge von OLIVER LANDOLT, GEORG KREIS, RAINER HUGENER, ANDRÉ HEINZER und JÜRG SCHMUTZ).

332 | Oliver Landolt ben zwischen Habsburg und den eidgenössischen Orten.33 Dabei waren die Parteiungen von feindlich oder freundlich gegenüber Habsburg eingestellten Individuen und Gruppen keineswegs so eindeutig, wie eine spätere nationalgeschichtlich-schweizerisch orientierte Geschichtsschreibung bisweilen suggeriert hat. Je nach politischer Konstellation konnte es zu Verbindungen zwischen den einzelnen Herrschaftsträgern in der Region kommen.34 Auch innerhalb der einzelnen Kommunen gab es bis weit ins 15. Jahrhundert und darüber hinaus habsburgische Parteigänger, die wiederholt auch in österreichische Dienste traten35 oder mit dem seit dem späten 15. Jahrhundert aufkommenden Pensionenwesen Geld aus Habsburgs Kassen erhielten.36 Doch um auf die Zeit um 1400 zurückzukommen: Auch die nachfolgende Zeit bedeutete für die habsburgische Seite weitgehend eine Reihe von militärischen Niederlagen. In den sogenannten Appenzellerkriegen zu Beginn des 15. Jahrhunderts musste Habsburg teilweise schwere militärische Schlappen einstecken, welche die Grenzen der weitgehend ritterlich organisierten Schlagkraft Habsburgs gegenüber infanteristisch, aus einem Hinterhalt agierenden Kräften aufzeigte.37 Diese kriegerischen Auseinandersetzungen führten in der Großregion des Bodenseegebiets zu einer Neuorganisation der herrschaftlichen Verhältnisse und zu einem allmählichen ›Auseinanderleben‹ zwischen ›Schwaben‹ und den im Laufe des 15. Jahrhunderts sich nach und nach zur Eidgenossenschaft zusammenfindenden Orten städtischer wie ländlicher Provenienz.38 Eine Katastrophe für Habsburg bedeutete das Jahr 1415, als Herzog Friedrich IV.

|| 33 Wichtig waren vor allem – neben anderen – der 20-jährige Friede von 1394 und der 50-jährige Friede von 1412; vgl. STETTLER, BERNHARD: Art. Bundesbriefe, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 3, Basel 2004, S. 4–6, hier S. 5f. 34 Vgl. DERS.: Habsburg und die Eidgenossenschaft um die Mitte des 14. Jahrhunderts, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 23 (1973), S. 750–64. 35 Verschiedentlich waren dies im Gebiet der heutigen Schweiz verbliebene Adelsfamilien, die zumindest zeitweise in den Dienst Habsburgs traten und diesem in unterschiedlicher Weise verpflichtet waren; vgl. NIEDERHÄUSER, PETER: Adel und Habsburg – habsburgischer Adel? Karrieremöglichkeiten und Abhängigkeiten im späten Mittelalter, in: DERS. (Hrsg.): Die Habsburger zwischen Aare und Bodensee, Zürich 2010 (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 77), S. 151–77. 36 Vgl. zu den aus verschiedenen eidgenössischen Orten stammenden Pensionsgeldbeziehern zu Ende der 1480er-Jahre HEGI, FRIEDRICH: Die schweizerischen Provisionäre des Erzherzogs Sigmund von Oesterreich im Jahre 1488, in: Anzeiger für schweizerische Geschichte NF 10 (1906–1909), S. 278–82. Allgemein zur Bedeutung des Pensionenwesens in der Eidgenossenschaft um 1500 vgl. GROEBNER, VALENTIN: Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 4). 37 Zu den Appenzellerkriegen vgl. NIEDERHÄUSER, PETER/NIEDERSTÄTTER, ALOIS: Die Appenzellerkriege – eine Krisenzeit am Bodensee?, Konstanz 2006 (Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs NF 7). 38 Vgl. MAURER, HELMUT: Schweizer und Schwaben. Ihre Begegnung und ihr Auseinanderleben am Bodensee im Spätmittelalter. 2., erw. Aufl., Konstanz 1991.

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von Habsburg die aargauischen Stammlande an die Eidgenossen verlor.39 Politische und insbesondere während des sogenannten Alten Zürichkriegs (1436–1450) auch militärische Anstrengungen, das Verlorene wiederzugewinnen, verliefen – trotz zeitweiliger Erfolge – weitgehend im Sande.40 Dieser mit propagandistischen Mitteln und häufig in kleinkriegerischen Formen (Plünderungen, Brandschatzungen, Ernteverwüstungen etc.) geführte Krieg verschlechterte das Verhältnis zwischen Habsburg und den eidgenössischen Orten.41 Insbesondere kam es auch zu hartnäckig ausgetragenen Kämpfen zwischen adligen und bürgerlich-bäuerlichen Ständen, die selbst vor Leichenschändungen an besiegten Gegnern nicht zurückschreckten.42 Der Friedensschluss zwischen Zürich und den eidgenössischen Orten 1450 bedeutete keine Entschärfung des Verhältnisses zwischen Habsburg und den Eidgenossen. Diese gegenseitige Beziehung wurde tatsächlich eher problematischer, auch wenn größere militärische Konfrontationen in dieser Zeit fehlten. Zum einen hing diese Verhärtung des Verhältnisses mit einer zunehmenden Verfestigung des eidgenössischen Bündnissystems zusammen, zum anderen spielten auch propagandistisch-ideologische Sticheleien auf beiden Seiten eine nicht zu unterschätzende Rolle. Der seit der Zeit des Alten Zürichkriegs gegenüber den als puren angesehenen Eidgenossen aufkommende Vorwurf als vertilger [...] aller erberkeit und alles rechten ouch des gantzen adels43 fand nicht zuletzt häufig in mit Habsburg verbundenen Adelskreisen unterschiedlicher sozial-rechtlicher Qualität,44 die nicht selten mit ökonomischen Problemen zu kämpfen hatten, eine

|| 39 Vgl. HESSE, CHRISTIAN [u. a.] (Hrsg.): Eroberung und Inbesitznahme. Die Eroberung des Aargaus 1415 im europäischen Vergleich, Ostfildern 2017, und NIEDERHÄUSER, PETER (Hrsg.): Krise, Krieg und Koexistenz. 1415 und die Folgen für Habsburg und die Eidgenossenschaft, Baden 2018. 40 Vgl. NIEDERSTÄTTER, ALOIS: Der Alte Zürichkrieg. Studien zum österreichisch-eidgenössischen Konflikt sowie zur Politik König Friedrichs III. in den Jahren 1440 bis 1446, Wien 1995 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 14). 41 Vgl. NIEDERHÄUSER PETER/SIEBER, CHRISTIAN (Hrsg.): Ein ›Bruderkrieg‹ macht Geschichte. Neue Zugänge zum Alten Zürichkrieg, Zürich 2006 (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 73). Zu den Kriegsgreueln im Alten Zürichkrieg vgl. LANDOLT, OLIVER: Zwischen geübtem Brauch, Tolerierung und Kriminalisierung: Greueltaten in der Kriegsführung der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft, in: NEITZEL, SÖNKE/HOHRATH, DANIEL (Hrsg.): Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn [u. a.] 2008 (Krieg in der Geschichte 40), S. 119–36, hier S. 125f. 42 Vgl. VON LIEBENAU, THEODOR: Scenen aus dem alten Zürichkrieg, in: Anzeiger für Schweizerische Geschichte NF 1, 1870–1873, S. 235–40. 43 Benutzte Ausgabe: STETTLER, BERNHARD: Die Rechtfertigungsschreiben des Alten Zürichkriegs und ihre Bedeutung für das Selbstverständnis der eidgenössischen Orte, in: Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, 11. Tl., bearb. von BERNHARD STETTLER, Basel 1996 (Quellen zur Schweizer Geschichte NF, Abt. I: Chroniken, Bd. VII/11), S. 435–41, hier S. 436. 44 Zur sehr differenzierten sozialen Abstufung des Adels von königsfähigen Hochadelsdynastien bis hin zu niederadligen Ministerialadelsfamilien im Spätmittelalter vgl. HECHBERGER, WERNER: Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems, Ostfildern 2005 (Mittelal-

334 | Oliver Landolt zunehmende Resonanz.45 Durch Habsburg wurden die Eidgenossen als politisch wie räumlich verfasste Gemeinschaft zunehmend als ›Erbfeinde‹ des Hauses Habsburg bezeichnet.46 Auch auf eidgenössischer Seite wurde seit dieser Zeit im Gegenzug Habsburg vereinzelt als ›Erbfeind‹ benannt.47 1460 mussten die Habsburger auch noch den Verlust des Thurgaus und weiterer Gebiete hinnehmen; zu neuerlichen kriegerischen Auseinandersetzungen kam es 1468 im sogenannten Waldshuterkrieg.48 1474 kam es mit dem Abschluss der sogenannten Ewigen Richtung zu einer ersten Annäherung zwischen Habsburg und den eidgenössischen Orten, in welcher der Regent in Vorderösterreich und Tirol, Herzog Sigismund von Habsburg – gegen den Willen seines Cousins Kaiser Friedrichs III. – ausdrücklich auf alle an die eidgenössischen Orte gefallenen habsburgischen Territorien verzichtete.49 Zu Ende des 15. Jahrhunderts waren nur noch kleinere Territorien im Nordwesten der Schweiz wie auch im Gebiet des heutigen Kantons Graubünden im Besitz Habsburgs. Obwohl beide Kontrahenten 1499 im sogenannten Schweizer- bzw. Schwabenkrieg nochmals gegen-

|| ter-Forschungen 17), und DERS.: Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter, München 2004 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 72). 45 Zur ökonomischen Situation adliger Familien im Gebiet der heutigen Schweiz vgl. SABLONIER, ROGER: Adel im Wandel. Eine Untersuchung zur sozialen Situation des ostschweizerischen Adels um 1300. 2. Aufl., Zürich 2000; vgl. auch DERS.: Zur wirtschaftlichen Situation des Adels im Spätmittelalter, in: Adelige Sachkultur des Spätmittelalters. Internationaler Kongress Krems an der Donau 22.–25. September 1980, Wien 1982 (Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 5), S. 9–34. 46 Einer der wohl frühesten Nennungen der Eidgenossen als Erbfeinde findet sich in einer vertragsmäßigen Übereinkunft zwischen Erzherzog Albrecht VI. und Herzog Sigmund vom 30. März 1461 zur gegenseitigen militärischen Unterstützung im Kampf gegen die Eidgenossen: Vnd nachdem zu menigermalen krieg vnd auffrur auferstannden sein, zwischen dem löblichen hawss Österreich vnd den aydtgenossen als vnnsern erbueynden vnd sich solhs fürbazzer villeicht begeben wirdt; zitiert nach CHMEL, JOSEPH: Regesta chronologico-diplomatica Fridericii III. Romanorum imperatoris (Regis IV.). Auszug aus den im k. k. geheimen Haus-, Hof- und Staats-Archive zu Wien sich befindenden Reichsregistraturbüchern vom Jahre 1440–1493. Nebst Auszügen aus Original-Urkunden, Manuskripten und Büchern, Zweite Abteilung: Vom Jahre 1452 (März) bis 1493, Wien 1840, Nr. 106, S. CXXVII. 47 Ein früher Beleg für die Bezeichnung der österreichischen ›Erbfeinde‹ durch die Eidgenossen findet sich in einer Missive aus dem Frühjahr 1476. Damals, in der Zeit der Burgunderkriege, erwähnt der Berner Rat in einem Schreiben an die bernischen Truppen im Felde die Herrschafft Österrich [...], mitt der wir doch Jn erplicher vindtschafft gestannden sind; zitiert nach BELL, FRIEDRICH/SCHNELLER, JOSEPH: Zur Geschichte der Burgunderkriege, in: Der Geschichtsfreund 23 (1868), S. 54–106, hier Beilage Nr. 11, S. 80. Der Artikel ›Erbfind‹ im ansonsten seriösen Schweizerischen Idiotikon ist enttäuschend und es fehlen Belegstellen; vgl. Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, Bd. 1, bearb. von FRIEDRICH STAUB und LUDWIG TOBLER, Frauenfeld 1881, Sp. 846. Eine Aufarbeitung dieses Forschungsdesiderats ist dringend erforderlich. 48 Vgl. zu den kriegerischen Ereignissen in knapper Form SCHAUFELBERGER, WALTER: Art. Spätmittelalter, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 1, Zürich 1972, S. 239–388, hier S. 310–15. 49 Vgl. SIEBER-LEHMANN, CLAUDIUS: Art. Ewige Richtung, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Basel 2005, S. 353f.

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einander kämpften,50 wurde schließlich in der 1511 geschlossenen ›Erbeinung‹ die gegenseitige territoriale Hoheit anerkannt und gegenseitige Hilfeleistungen versprochen.51 Dennoch blieben politische Differenzen zwischen den Kontrahenten bestehen, vor allem nachdem die Reformation innerhalb der abendländischen Christenheit nicht nur religiöse Differenzen auslöste, sondern diese Glaubensgegensätze insbesondere auch politisch instrumentalisiert wurden. Vor allem im 16. Jahrhundert, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Einführung der Reformation in verschiedenen Orten der Eidgenossenschaft, wurde das Verhältnis zwischen den beiden Mächten trotz der ›Ewigen Richtung‹ von 1474 und der ›Erbeinung‹ von 1511 hauptsächlich reformierter Orte immer wieder problematisiert. Die beim katholischen Glauben verbleibende Adelsdynastie Habsburg, welche durch die Stellung des kaiserlichen Reichsoberhaupts in starkem Maße die Politik im Heiligen Römischen Reich bestimmte oder zumindest beeinflusste, wurde schon in den Anfängen der reformatorischen Bewegungen in weiten Teilen des Reiches zu einem Feindbild, so auch im Gebiet der eidgenössischen Orte.

2 Entstehung des eidgenössischen Befreiungsmythos im 15. Jahrhundert – Reaktion auf die anti-eidgenössische Propaganda Habsburgs nach der Schlacht bei Sempach 1386? Zentrales Element in den verschiedenen Geschichten und Erzählungen des im Laufe des 15. Jahrhunderts sich ausbildenden eidgenössischen Befreiungsmythos ist die tyrannische Herrschaft der durch Habsburg eingesetzten Amtsträger, die in pauschalisierter Form zumeist als ›Vögte‹ oder ›Landvögte‹ bezeichnet wurden. Die den tyrannischen Vögten vorgeworfenen Missetaten waren: Willkürherrschaft, sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen hübsche fröwen und hubsche töchter,52 Einführung neuer und

|| 50 Vgl. GUTMANN, ANDRE: Art. Schwabenkrieg, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 11, Basel 2012, S. 251–53. 51 Vgl. (mit der wesentlichen Literatur) SIEBER-LEHMANN, CLAUDIUS, ›Ewige Richtung‹, Erbeinung und die Legitimierung der eidgenössischen Eroberungen, in: HESSE, CHRISTIAN [u. a.] (Hrsg.): Eroberung und Inbesitznahme. Die Eroberung des Aargaus 1415 im europäischen Vergleich – Conquest and Occupation. The 1415 seizure of the Aargau in European perspective, Ostfildern 2017, S. 223–35. 52 Das Weiße Buch von Sarnen (Anm. 2), S. 7. Der Vorwurf sexueller Gewalt adliger Herren gegenüber sozial niedrig gestellten Frauen ist ein Stereotyp, das wiederholt im gesamteuropäischen Raum im Mittelalter erwähnt wird. Bekannt ist der Mythos des ›Rechts der ersten Nacht‹, dem ius primae noctis; vgl. dazu BOUREAU, ALAIN: Das Recht der Ersten Nacht. Zur Geschichte einer Fiktion, Düsseldorf/Zürich 2000, und WETTLAUFER, JÖRG: Das Herrenrecht der ersten Nacht. Hochzeit, Herrschaft und Heiratszins

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nicht gerechtfertigter Abgaben und Steuern, Bedrohung der reichsfreiheitlichen Stellung der Gemeinwesen sowie Unterdrückung der ursprünglich freien Landesbewohner in die Leibeigenschaft. Diese eidgenössische Befreiungstradition entstand allmählich in Reaktion auf die durch Habsburg betriebene antieidgenössische Propaganda, die kurz nach der Schlacht bei Sempach 1386 einsetzte.53 Diese Schlachtenniederlage und der dort gleichzeitig durch Herzog Leopold III. erlittene Schlachtentod stellten für das Haus Habsburg ein Desaster im Kampf gegen die aufstrebenden eidgenössischen Orte dar, wodurch die habsburgische Herrschaft im heutigen schweizerischen Mittelland erstmals in starkem Maße destabilisiert wurde.54 Insbesondere für den Adel des süddeutschen Raumes wie auch in Tirol bedeutete diese Schlachtenniederlage ebenfalls eine traumatische Erfahrung; viele Adlige dieser Regionen standen mit Habsburg als wichtigstem Herrschaftsträger in unterschiedlichen Dienstverhältnissen. Die militärische Niederlage bedeutete für den Adel der Region nicht nur einen empfindlichen Aderlass, sondern kratzte erheblich an den Ehrvorstellungen wie auch dem Selbstwertgefühl und evozierte Rachegelüste, um die erlittene Schande zu tilgen.55 Propagandistisch suchte Habsburg die militärische Schlappe bei Sempach zu seinen Gunsten

|| im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 1999 (Historische Studien 24). Zum Narrativ der sexuellen Übergriffe der ›bösen Vögte‹ in der eidgenössischen Befreiungstradition vgl. TEUSCHER, SIMON: Böse Vögte? Narrative, Normen und Praktiken der Herrschaftsdelegation im Spätmittelalter, in: RAUSCHERT, JEANNETTE [u. a.] (Hrsg.): Habsburger Herrschaft vor Ort – weltweit (1300– 1600), Ostfildern 2013, S. 89–108, hier S. 101–05. 53 Allgemein zum unmittelbaren Schlachtverlauf bei Sempach vgl. MARCHAL, GUY P.: Zum Verlauf der Schlacht bei Sempach. Ein quellenkritischer Nachtrag, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 37 (1987), S. 428–36; vgl. auch JÄGGI, STEFAN: Art. Sempacherkrieg, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 11, Basel 2012, S. 431f. 54 Zur Bedeutung der Schlacht bei Sempach für Habsburg vgl. KOLLER (Anm. 32). 55 Bezeichnend sind die in verschiedenen Quellen überlieferten Gefallenenlisten der auf der habsburgischen Seite stehenden Kräfte, wobei die getöteten Adligen im Vordergrund dieser Aufzeichnungen stehen (nur summarisch wird das getötete, aus niederer Herkunft stammende Fußvolk erwähnt); vgl. dazu die verschiedenen Belege bei VON LIEBENAU, THEODOR: Die Schlacht bei Sempach. Gedenkbuch zur fünften Säcularfeier, Luzern 1886, S. 102–04 (Nr. 3); S. 131–36 (Nr. 37); S. 141–44 (Nr. 48); S. 152f. (Nr. 54); S. 164–66 (Nr. 72); S. 173 (Nr. 84); S. 182–87 (Nr. 95); S. 187–89 (Nr. 97); S. 198–201 (Nr. 102); S. 203–05 (Nr. 106); S. 215f. (Nr. 118); S. 222–26 (Nr. 128); S. 229–31 (Nr. 129); S. 234–36 (Nr. 132); S. 238–41 (Nr. 134); S. 256–63 (Nr. 147); S. 266–68 (Nr. 152); S. 283–86 (Nr. 155); S. 292–95 (Nr. 163); S. 302 (Nr. 168); S. 310f. (Nr. 182); S. 315–18 (Nr. 184); S. 322 (Nr. 191); S. 323 (Nr. 192); S. 326f. (Nr. 201). Zur nachwirkenden Erinnerung an die Gefallenen bei den Habsburgern wie insbesondere im Adel vgl. KRIEB, STEFFEN: Vom Totengedenken zum politischen Argument: Die Schlacht bei Sempach (1386) im Gedächtnis des Hauses Habsburg und des südwestdeutschen Adels im 15. Jahrhundert, in: CARL, HORST [u. a.] (Hrsg.): Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 69–88; vgl. auch JENNY, BEAT R.: Herzog Leopolds III. von Österreich Königsfelder Memoria – Zur Geschichte der Bildtafeln und der zugehörigen Inschrift, in: KOLLER-WEISS, KATHARINA/SIEBER, CHRISTIAN (Hrsg.): Aegidius Tschudi und seine Zeit, Basel 2002, S. 287–313. Allgemein zu den Ehrvorstellungen im Spätmittelalter im Bereich der Eidgenossenschaft vgl. WECHSLER, ELISABETH: Ehre und Politik. Ein Beitrag zur Erfassung politischer

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zu instrumentalisieren. Schon kurz nach der Sempacher Schlachtenniederlage fand das Diktum, dass der österreichische Herzog Leopold III. in suo, pro suo, a suis (»auf dem Seinen, um das Seine, von den Seinen«) getötet worden sei, weite Verbreitung. Belegt ist dies nicht nur in literarischer Form, sondern beispielsweise auch aus zeitgenössischen Gerichtsfällen; das zeigt die Rezeption der antieidgenössischen Propaganda in breiteren Bevölkerungskreisen im österreichischen Herrschaftsbereich.56 Gleichzeitig wurden die eidgenössischen Bündnispartner als bäurischer, dem Adel nicht ebenbürtiger Stand erniedrigt, wie dies der Chronist Leopold von Wien in seiner weitverbreiteten Österreichischen Chronik der 95 Herrschaften in Anbetracht der habsburgischen Niederlage in der Schlacht bei Sempach 1386 formuliert hat: ein grobes pawrenvolkch, Sweinczer gehaissen, die als törisch pawren57 widerrechtlich gegen Herzog Leopold kämpften und diesen töteten. Mit dem Diktum der Tötung des Herrn durch seine eigenen Untertanen auf seinem eigenen Grund und Boden wurden die gleichzeitig als bäurisch diffamierten Eidgenossen zu ›Rebellen‹ gegen ihren um sein väterliches Erbe kämpfenden ›natürlichen‹ Herrn gebrandmarkt, die sich zudem gegen die von Gott gesetzte und als sakrosankt angesehene Drei-Stände-Ordnung stellten.58 Mit dem Vorwurf, sich gegen ihren ›natürlichen Herrn‹, ihren dominus naturalis gewendet zu haben, spielt die habsburgische Propaganda auf die Tatsache an, dass verschiedene im eidgenössischen Bündnis stehende Orte entweder tatsächlich unter österreichischer Herrschaftsgewalt standen oder die reichsunmittelbare Stellung einzelner Orte zumindest umstritten bzw. von Habsburg sogar bestritten wurden.59 Diese

|| Verhaltensweisen in der Eidgenossenschaft (1440–1500) unter historisch-anthropologischen Aspekten, Zürich 1991. 56 Vor dem Luzerner Rat klagten zu Anfang des Jahres 1387 ein Luzerner und ein Sempacher Stadtbewohner, dass sie kurz vor der Jahreswende durch sechs aus dem habsburgischen Machtbereich stammende Waldshuter überfallen, verwundet und beraubt worden wären. Dabei äußerten diese zu den beiden Luzernern: wir [gemeint sind die beiden Luzerner, O. L.] waerint die, die den fursten von Oesterrich ermurt hettint auff dem sinen vnd vmb daz synn; VON LIEBENAU, THEODOR: Sammlung von Actenstücken zur Geschichte des Sempacherkrieges, in: Archiv für schweizerische Geschichte 17 (1871), S. 3–258, hier S. 203 (Nr. 93). Allgemein zum habsburgischen propagandistischen Diktum in suo, pro suo, a suis vgl. MARCHAL, GUY P.: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel 2006, S. 312–17. 57 Benutzte Ausgabe: MGH, Bd. 6: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters, Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften, hrsg. von JOSEPH SEEMÜLLER, Hannover/Leipzig 1909, beide Zitate S. 214. 58 Zur als ›gottgegeben‹ angesehenen Dreiständelehre im Mittelalter vgl. GRAUS, FRANTIŠEK: Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. 2., durchges. Aufl., Göttingen 1988 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86), S. 98–100. 59 Über den tatsächlichen Besitz Habsburgs im Gebiet der heutigen Schweiz existieren in der Geschichtswissenschaft unterschiedliche Vorstellungen. Während im schweizerischen Mittelland der habsburgische Besitz sehr ausgeprägt war, war dieser im Raum der Innerschweiz umstritten. Dabei nahm die ältere Geschichtsforschung eine dominante Rolle Habsburgs an, während die jüngere Geschichtswissenschaft dies relativiert und zu einem Teil diesen durch Habsburg reklamierten Besitz

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antieidgenössische Propaganda fand während des gesamten 15. Jahrhunderts durch Habsburg und seine adligen Parteigänger ihre Fortsetzung. Dem Vorwurf des angeblichen Rebellentums begegneten die Eidgenossen mit dem Gegenargument, dass die im Dienste Habsburgs stehenden subalternen, zumeist dem Adel angehörenden Amtsleute ihr Amt missbraucht hätten und eine unrechtmäßige tyrannische Herrschaft wider die einheimische Bevölkerung der Innerschweizer Täler geführt hätten. Dagegen hätten sich die Talbewohner zu Recht miteinander verbunden und Widerstand geleistet. Erstmals formuliert wurde dies in der eingangs zitierten, um 1420 entstandenen Chronik des Konrad Justinger.60 Dass solche Vorstellungen über die tyrannischen habsburgischen Amtsleute in dieser Zeit auch Eingang in den politischen Alltag fanden, zeigt eine bemerkenswerte Rede des Berner Schultheißen Niklaus von Diesbach (1430–1475) als eidgenössischer Gesandter vor dem aus dem Hause Habsburg stammenden Kaiser Friedrich III. auf einem Tag zu Basel im Jahre 1473. Unter Bezugnahme auf Exempel aus dem eidgenössischen Befreiungsmythos referierte von Diesbach über die tyrannische Herrschaft der habsburgischen Amtsleute (per advocatos et balivos nobiles ilius patrie regebant non eo quo decebat modo, sed tyrannico), die in Pflichtvergessenheit gegenüber ihren vorgesetzten Herzögen von Österreich ihr Amt eigennützig missbrauchten. Unter Aufnahme des gegenüber den Eidgenossen vorgebrachten Sempacher Diktums, dass Herzog Leopold III. ›auf dem Seinen, um das Seine, von den Seinen‹ getötet worden sein solle, kehrte von Diesbach den Vorwurf um. Die Verantwortung für den Schlachtentod des Herzogs schob er den habsburgischen adligen Parteigängern in die Schuhe, welche diesen arglistig mit Lug und Trug beraten und ihn in der Schlacht im Stich gelassen hätten.61 Interessanterweise gibt es auch auf österreichisch-adliger Seite einen Überlieferungsstrang, welcher ebenfalls von der Herrschaft habsburgischer Vögte und der Entstehung der Rebellion in der Innerschweiz gegen ihre rechtmäßigen Herren berichtet. Im zwischen 1444 und 1451 auf Latein entstandenen De nobilitate et rusticitate dia|| einfach als Herrschaftsanspruch ansieht; vgl. SABLONIER (Anm. 12), S. 40–44. Speziell der im Laufe des Spätmittelalters sich ausbildende Länderort Schwyz beharrte auf seiner durch den Stauferkaiser Friedrich II. im Jahre 1240 verliehenen reichsunmittelbaren Stellung, wobei diese Reichsfreiheit durch Habsburg aber immer wieder vehement bestritten wurde; vgl. dazu LANDOLT, OLIVER: Das Land Schwyz und seine reichsfreiheitliche Stellung im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 110 (2018), S. 95–165. Als geographisch wichtiger, in Richtung Gotthardpass gelegener Ort stand seit 1291 die Stadt Luzern unter habsburgischer Herrschaft; vgl. dazu GLAUSER, FRITZ: 1291. Ein Herrschaftswechsel und seine Vorgeschichte seit dem 11. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Luzern 9 (1991), S. 2–40. Allgemein zur Bedeutung der Reichsfreiheit in den eidgenössischen Kommunen des Spätmittelalters vgl. MORAW, PETER: Reich, König und Eidgenossen im späten Mittelalter, in: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Luzern 4 (1986), S. 15–33. 60 Vgl. Berner-Chronik des Konrad Justinger (Anm. 1), S. 45f. 61 Vgl. Johannis Knebel capellani ecclesiae Basiliensis diarium. Hans Knebels, des Kaplans am Münster zu Basel, Tagebuch. Sept. 1473–Jun. 1476, in: Basler Chroniken, Bd. 2, hrsg. von WILHELM VISCHER/HEINRICH BOOS, Leipzig 1880, S. 5f. (Zitat auf S. 5).

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logus des Zürcher Chorherren Felix Hemmerli (1388/89–1458/61), einem in der Form eines Streitgesprächs zwischen einem Bauern und einem Adligen verfassten Werk über die Vorzüge des Adels, werden die rebellischen Anfänge der Eidgenossenschaft beschrieben.62 Hemmerli verlegt dabei die Ereignisse in eine Zeit, als ein gewisser Graf von Habsburg (quidam comes de Habspurg), ein Vorfahre der späteren Herzöge von Österreich, der natürliche Herr der Schwyzer war (eorundem Switensium dominus naturalis).63 Als seinen Stellvertreter setzte der Graf einen Burgvogt auf dem castro Lowurtz64 ein, der auch über die gesamte Talschaft gebot. Dieser wurde durch zwei Schwyzer Brüder getötet, nachdem er in Verdacht geraten war, mit deren Schwester ein Verhältnis zu haben. Für diese Tat wollte der Graf die beiden Brüder bestrafen, wobei es aber zuvor zu einer Verschwörung sämtlicher Talbewohner kam. Die ganze Angelegenheit mündete schließlich in einen Aufstand und die Zerstörung der Burg. In der Folge griffen die Unruhen auf andere Gegenden der Innerschweiz über, wobei die Unterwaldner die Burg Sarnen ihres Herrn von Landenberg65 zerstörten und sich mit den Schwyzern gegen ihn verbündeten. Die widerspenstigen Bewohner der Stadt Luzern, die der Abt des elsässischen Benediktinerklosters Murbach, ihr Stadtherr, an den mächtigeren Grafen von Habsburg übergeben hatte, erhielten als stellvertretenden Stadtherrn einen auf der Burg Rothenburg residierenden Baron von Grünenberg.66 Zum Aufstand kam es, als einem Diener des Barons durch einen Luzerner

|| 62 Der folgende Abschnitt beruht auf Hemmerlis De nobilitate et rusticitate dialogus. Benutzte Ausgabe (lateinische Auszüge mit deutscher Übers. aus Felix’ Hemmerli De nobilitate et rusticitate dialogus): HALTER-PERNET, COLETTE: Felix Hemmerli. Zürichs streitbarer Gelehrter im Spätmittelalter. Mit Übers. aus dem Lateinischen von HELENA M ÜLLER und ERIKA EGNER EID, Zürich 2017, S. 238–91, hier S. 264–69. Eine deutsche Teilübers. findet sich in SIEBER-LEHMANN, CLAUDIUS/WILHELMI, THOMAS (Hrsg.): In Helvetios – Wider die Kuhschweizer. Fremd- und Feindbilder von den Schweizern in antieidgenössischen Texten aus der Zeit von 1386 bis 1532, Bern [u. a.] 1998, S. 49–81 (Nr. 6), hier S. 56f. 63 HALTER-PERNET (Anm. 62), S. 266 (lat.) bzw. S. 267 (dt. Übersetzung). 64 Es handelt sich um die Burg auf der Insel Schwanau, mitten im Lauerzersee gelegen. Im Weißen Buch von Sarnen (Anm. 2), S. 19, wird diese Burg ebenfalls als ›Swandöw‹ erwähnt. Die Burgruine ist archäologisch gut erforscht; schriftliche Zeugnisse aus der Zeit der Existenz der intakten Burg fehlen allerdings; vgl. SCHNEIDER, HUGO: Die archäologische Untersuchung der Schwanau, in: MEYER, WERNER [u. a.]: Die bösen Türnli. Archäologische Beiträge zur Burgenforschung in der Urschweiz, Olten/Freiburg i. Br. 1984 (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 11), S. 129–41. 65 Die von Landenberg waren ein aus dem züricherischen Tösstal stammendes ritteradliges Geschlecht, welches im gesamten ostschweizerischen Raum zu Besitz gelangte und auch in habsburgischen Diensten stand; vgl. LEONHARD, MARTIN: Art. Landenberg, von, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, Basel 2008, S. 567–69. Der oberhalb des Dorfes Sarnen gelegene Burghügel heißt seit dem 17. Jahrhundert Landenberg; eine dort einst gelegene Burg wurde wohl auf Veranlassung der Grafen von Lenzburg zu Beginn des 11. Jahrhunderts errichtet, um 1210 aber aufgelassen; vgl. GAROVI, ANGELO: Art. Landenberg, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, Basel 2008, S. 569f. Ein Zusammenhang der Burg oberhalb von Sarnen mit den Ritteradligen von Landenberg kann nicht rekonstruiert werden. 66 Die von Grünenberg waren ein ursprünglich aus dem Oberaargau stammendes Freiherrengeschlecht; tatsächlich war Hemmann von Grünenberg ab 1368 im Pfandbesitz von Burg, Stadt und Zoll

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Metzger die Hand abgehackt worden war und dessen Herr die Missetat gewaltsam rächen wollte. Die Luzerner zerstörten hierauf sowohl das Stadthaus des von Grünenberg als auch dessen Burg Rothenburg und verbündeten sich mit den aufständischen Schwyzern. Nach Hemmerli verbündeten sich hierauf die Berner, die Zuger, die Urner und die Glarner sowie die Zürcher – diese allerdings unter Vorbehalt des Reichsrechts, dem sie als Reichsstadt unterworfen waren. Als Höhepunkt seiner Darstellung berichtet Hemmerli von der Tötung des Herzogs Leopold von Österreich durch die Schwyzer und ihre Verbündeten in der Schlacht bei Sempach, wobei diese ihren natürlichen und eigentlichen Herrn auf dessen eigenem Boden und dessen eigenem Besitz zusammen mit vielen vornehmen Grafen, Baronen, Adligen und anderen Lehensleuten getötet hätten: Leopoldum ducem Austrie, dominum suum naturalem et proprium, in terra sua propria et pro re sua propria cum multis generosis comitibus, baronibus, nobilibus et aliis vasallis suis [...] occiderunt. In Hemmerlis Darstellung sind die eigentlichen ›Opfer‹ entweder Vögte oder deren Untergebene, die durch die gewaltbereiten Einheimischen drangsaliert werden. Selbst die Geschichte um den Burgvogt von Lauerz, der von zwei Schwyzer Brüdern verdächtigt wurde, eine Beziehung zu ihrer Schwester zu haben und deswegen von diesen ermordet wurde, stellt den Burgvogt als Opfer dar.67

3 Habsburgische Tyrannen? In den vorangehenden Ausführungen wurde vor allem auf die im Dienste Habsburgs stehenden ›Vögte‹ eingegangen, denen eine tyrannische Gewaltherrschaft unterstellt wurde. Machtmissbrauch und tyrannische Herrschaft von Amtsleuten ist in der Zeit des Spätmittelalters auch im Gebiet der heutigen Schweiz, wie in den angrenzenden || Rothenburg, welches sein Sohn Hemmann Johann im Jahre 1395 an die Stadt Luzern verkaufte; vgl. SAUERLÄNDER, DOMINIK: Art. Grünenberg von, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 5, Basel 2006, S. 263f. Allerdings kann ein kausaler Zusammenhang zwischen dem in der Darstellung Hemmerlis erwähnten, wohl fiktiven Baron von Grünenberg und einem tatsächlich existierenden Angehörigen des Geschlechts der von Grünenberg nicht hergestellt werden. 67 Relativ unbestimmt heißt es über die Beziehung zwischen dem Burgvogt und der Schwester der Schwyzer Brüder bei Hemmerli, dass die beiden Brüder den Burgvogt töteten, weil er verdächtigt wurde, ein Verhältnis mit ihrer Schwester zu haben: quem duo Suitenses germani super eo quod cum sorore sua rem habuerit suspectum interfecerunt; zitiert nach HALTER-PERNET (Anm. 62), S. 266. Der prohabsburgisch und antieidgenössisch eingestellte Felix Fabri (* um 1438/39, † 1502), ein aus Zürich stammender und im Dominikanerkloster zu Ulm lebender Mönch, rezipierte in seiner im späten 15. Jahrhundert entstandenen Descriptio Sueviae die Aufzeichnungen Hemmerlis weitgehend wörtlich. Dabei hob er aber hervor, dass die beiden Brüder den Burgvogt der Vergewaltigung ihrer Schwester verdächtigten: quem duo Sviceri interemerunt pro eo, quod suspectum eum habebant, quod eorum sororem violasset; benutzte Ausgabe: Fratri Felicis Fabri Descriptio Sveviae, hrsg. von HERMANN ESCHER, in: Quellen zur Schweizer Geschichte, Bd. 6, Basel 1884, S. 107–229, hier S. 154.

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Gebieten, wiederholt belegt. In der Zeit der Entstehung des Weißen Buchs von Sarnen zu Beginn der 1470er-Jahre waren die ›tyrannischen‹ Taten des burgundischen Landvogts Peter von Hagenbach († 1474) in einer weiteren Öffentlichkeit präsent. Im Zusammenhang mit dem durch die habsburgische Herrschaft verlorenen Waldshuterkriegs 1468 verpflichtete sich Herzog Sigismund von Habsburg zur Zahlung von 10.000 Gulden an die Eidgenossen; ansonsten sollten die Stadt Waldshut und die österreichischen Gebiete im Schwarzwald an diese fallen. Um das Geld aufzubringen, verpfändete Herzog Sigismund 1469 vorderösterreichische Gebiete und Rechte im Elsass, im südlichen Schwarzwald und im Breisgau sowie die vier Waldstädte Waldshut, Rheinfelden, Laufenburg und Säckingen an den burgundischen Herzog Karl den Kühnen.68 Dieser selbst in zeitgenössischen Quellen verschiedentlich als ›Tyrann‹ bzw. mit dem zeitgenössisch als Entsprechung verwendeten Begriff des wüetrichs bezeichnete Burgunderherzog69 setzte den aus dem Sundgau stammenden niederadligen Ritter Peter von Hagenbach zwischen 1469 und 1474 als burgundischen Landvogt in den verpfändeten Gebieten am Oberrhein ein. Durch ein hartes Regiment suchte dieser die kommunale Verwaltung der Städte einzuschränken (ähnlich wie dies auch schon im burgundischen Herrschaftsbereich in den Städten Flanderns und Brabants geschehen war), und es wurden neue Gebühren und Steuern erhoben; ebenso wurden Hagenbach Rechtsbeugung mit willkürlichen Hinrichtungen wie auch sexuelle Übergriffe gegen Frauen vorgeworfen. Wegen seiner vielfachen Rechtsbrüche wurde er nach einem Aufstand in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet.70 Die Tyrannenherrschaft Hagenbachs wurde chronikalisch vielfach dargestellt.71 Ob und inwiefern überhaupt die Tyrannenherrschaft Hagenbachs in die Darstellung des Weißen Buches eingeflossen sein könnte, ist nicht geklärt – aufgrund der zeitlichen Nähe der Abfassung des Weißen Buches von Sarnen und der beinahe zeitgleichen historischen Ereignisse am Oberrhein kann über eine mögliche Beeinflussung zumindest spekuliert werden. Wahrscheinlich wurde auch der Berner Chronist Justinger in seiner weitgehend fiktiven Darstellung der Ereignisse in der Innerschweiz um 1300 zeitgenössisch von || 68 Vgl. SCHAUFELBERGER (Anm. 48), S. 314. 69 In den zeitgenössischen Quellen wird Karl der Kühne immer wieder als ›Tyrann‹ bezeichnet; vgl. SIEBER-LEHMANN, CLAUDIUS: Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 116), S. 262–79. Allgemein zur Person Karls des Kühnen vgl. PARAVICINI, WERNER: »Vernünftiger Wahnsinn«. Karl der Kühne, Herzog von Burgund (1433–1477), in: MARTI, SUSAN [u. a.] (Hrsg.): Karl der Kühne (1433–1477). Kunst, Krieg und Hofkultur, Zürich 2008, S. 39–49. 70 Vgl. SIEBER-LEHMANN, CLAUDIUS: Eine bislang unbekannte Beschreibung des Prozesses gegen Peter von Hagenbach, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 93 (1993), S. 141–54. 71 Vgl. vor allem PARAVICINI, WERNER: Hagenbachs Hochzeit. Ritterlich-höfische Kultur zwischen Burgund und dem Reich im 15. Jahrhundert, in: KRIMM, KONRAD/BRÜNING, RAINER (Hrsg.): Zwischen Habsburg und Burgund. Der Oberrhein als europäische Landschaft im 15. Jahrhundert, Ostfildern 2003 (Oberrheinische Studien 21), S. 13–60.

342 | Oliver Landolt den Appenzellerkriegen zu Beginn des 15. Jahrhunderts beeinflusst,72 als es zu Konflikten zwischen dem Kloster St. Gallen und den untertänigen Appenzellern wegen klösterlicher Abgabenforderungen kam. In der Folge griffen die Appenzeller zu gewaltsamen Mitteln, wobei auch Burgen gebrochen und militärische Auseinandersetzungen ausgetragen wurden. Neben Habsburg auf Seiten des Klosters wurde auch der in der Rittergesellschaft zum Sankt Jörgenschild sich organisierende schwäbische Adel des Bodenseeraums in den Konflikt hineingezogen, so dass es zu ständischen Konflikten mit den bäuerlich-kommunal organisierten Appenzellern kam.73 Auch im Gebiet der heutigen Zentralschweiz sind verschiedene Konflikte zwischen sich kommunal organisierenden Gemeinschaften und ihren zumeist adligen Herrschaftsträgern seit der Zeit um 1300 belegt. In den am Vierwaldstättersee gelegenen Dörfern Küssnacht, Haltikon und Immensee kam es zwischen den dorflten dieser Kommunen und dem Inhaber der Vogteirechte, dem Ritter Eppo von Küssnacht, wegen Steuern und Diensten sowie Rechten an der Allmende zu Konflikten, wobei diese sogar körperliche Gewalt gegen den Ritter ausübten.74 Bekannt sind auch die Drangsalierungen des in habsburgischen Diensten stehenden Peter von Thorberg († 1400), der in den 1370er- und 1380er-Jahren ein hartes Regiment gegen die Bevölkerung im an ihn von Habsburg verpfändeten Amt Wolhusen im Entlebuch (heute Kanton Luzern) führte.75 Tyrannische Herrschaftsausübung und Amtsmissbrauch subalterner Amtspersonen ist einerseits ein in der Geschichte wiederholt auftauchender ›literarischer‹ Topos, andererseits aber durchaus auch in der Realität existierender Tatbestand,76 wobei die || 72 Vgl. dazu STETTLER, BERNHARD: Geschichtsschreibung im Dialog. Bemerkungen zur Ausbildung der eidgenössischen Befreiungstradition, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 29 (1979), S. 556–74. 73 Vgl. NIEDERHÄUSER/NIEDERSTÄTTER (Anm. 37). 74 Vgl. Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Urkunden, Chroniken, Hofrechte, Rödel und Jahrzeitbücher bis zum Beginn des XV. Jahrhunderts, Abt. I: Urkunden, Bd. 1: Von den Anfängen bis Ende 1291, bearb. von TRAUGOTT SCHIESS, Aarau 1933, Nr. 1442, S. 661–63 (1284); Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Urkunden, Chroniken, Hofrechte, Rödel und Jahrzeitbücher bis zum Beginn des XV. Jahrhunderts, Abt. I: Urkunden, Bd. 2: Von Anfang 1292 bis Ende 1332, bearb. von TRAUGOTT SCHIESS, vollendet von BRUNO MEYER, Aarau 1937, Nr. 288, S. 135–39 (16. Mai 1302). 75 Vgl. Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, Abt. III: Die Rechtsquellen des Kantons Luzern, Zweiter Teil: Rechte der Landschaft, Bd. 3: Das Entlebuch I: 1358 bis 1600, bearb. von ANDREAS INEICHEN, Basel 2016, Nr. 5, S. 15–18; Nr. 6, S. 19–21; Nr. 8, S. 23–29. Zu Peter von Thorberg vgl. UTZ TREMP, KATHRIN: Art. Thorberg, Peter von, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 12, Basel 2013, S. 329f. 76 Vgl. z. B. FRITZ, GERHARD, Des Herzogs ungetreue Diener. Vögte und Amtleute in Altwürttemberg zwischen Legitimität, Korruption und Untertanenprotest, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 63 (2004), S. 119–67; BLATTER, MICHAEL/GROEBNER, VALENTIN: Wilhelm Tell. Import – Export. Ein Held unterwegs, Baden 2016, S. 33f.; vgl. auch schon VON BELOW, GEORG: Territorium und Stadt. Aufsätze zur deutschen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, München/Leipzig 1900 (Historische Bibliothek 11), S. 269: »Man hatte in den Territorien oft mehr über die Beamten des Landesherrn als über ihn selbst zu klagen. Jene herrschten vielfach wie Satrapen. Wenn sie unbeliebt

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übergeordneten Herrschergestalten für die Taten ihrer untergebenen Amtsträger allerdings häufig entschuldigt und nicht verantwortlich gemacht wurden. Wie war dies nun mit den Herrschergestalten aus dem Hause Habsburg? Wie wurden diese in der eidgenössischen bzw. schweizerischen Historiographie beurteilt? Allgemein muss festgehalten werden, dass lange nicht alle Angehörigen der Habsburgerdynastie durchweg negativ dargestellt und bewertet wurden. Eher positiv beschrieben wurde beispielsweise R u d o l f v o n H a b s b u r g (1218–1291), der 1273 zum König des Heiligen Römischen Reiches gewählt wurde, wobei Rudolf in verschiedenen Chroniken als volksnah und bescheiden dargestellt wird.77 Auch im Weißen Buch von Sarnen wird er positiv beschrieben; erst nach seinem Tode missbrauchten die für die Verwaltung der innerschweizerischen Gebiete eingesetzten Vögte ihre Macht.78 Auch der Chronist Aegidius Tschudi fand lobende Worte für die Person Rudolfs, obwohl er dessen eigene dynastische Hausmachtinteressen hervorhob.79 Als problematisch wird in der modernen Geschichtswissenschaft auch Rudolfs Machtpolitik erachtet, wobei speziell die Vermischung der Reichspolitik mit Eigeninteressen kritisch gesehen worden ist.80 Als absolute Negativgestalt wurde hingegen sein 1308 bei Windisch ermordeter Sohn A l b r e c h t I . angesehen, der ebenfalls im Reich zwischen 1298 und 1308 die Königswürde innehatte. Insbesondere der Glarner Chronist Aegidius Tschudi hat zu Albrecht ein sehr negatives Charakterbild mit den Zügen eines Tyrannen gezeichnet, das die eidgenössische und schweizerische Geschichtsschreibung bis tief ins 20. Jahr-

|| wurden, so lag das keineswegs bloß daran, daß sie etwa neue Forderungen des Landesherrn durchzuführen hatten. Sie bereicherten sich oft durch Plünderung der Amtseinsassen und übten auf die Rechtssprechung einen ungünstigen Einfluß aus«. Zu den habsburgischen Amtsträgern im Speziellen vgl. KÖHN, ROLF: Der Landvogt in den spätmittelalterlichen Vorlanden. Kreatur des Herzogs und Tyrann der Untertanen?, in: QUARTHAL, FRANZ/FAIX, GERHARD (Hrsg.): Die Habsburger im deutschen Südwesten. Neue Forschungen zur Geschichte Vorderösterreichs, Stuttgart 2000, S. 153–98, und TEUSCHER (Anm. 52). 77 Zur Beurteilung König Rudolfs in Dichtung und Geschichtsschreibung vgl. MARTIN, THOMAS: Das Bild Rudolfs von Habsburg als ›Bürgerkönig‹ in Chronistik, Dichtung und moderner Historiographie, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 112 (1976), S. 203–28; vgl. auch TREICHLER, WILLI: Mittelalterliche Erzählungen und Anekdoten um Rudolf von Habsburg, Bern/Frankfurt a. M. 1971 (Geist und Werk der Zeiten 26). 78 Vgl. Das Weiße Buch von Sarnen (Anm. 2), S. 3–7. 79 Hat vil mannlicher taten getan, ist in 14 veldstrijten gewesen da er alweg gesiget hat. Er hat vil herren und stett bezwungen, die vor nie keinem römischen künig woltend gehorsam sin. Aber wie gwaltig er joch was, so wolt er doch nie gen Rom die keiserlich krön ze empfachen, und hett es doch an gut und an macht wol vermögen. Er zoch das gut alles sinen kinden zu was er überkam, verliess ein grossen schatz [...]. Künig Růdolf ward zu Spir begraben, ist ein guter kriegsman gewesen und hat die kriegslüt lieb. Er bletzet in einem krieg sin gebrocchen wammist selbs, damit sine herren und kriegsvolck sechind, das sich ein kriegsman nützit schämen sol allerlei ze tûnde. Benutzte Ausgabe: Aegidius Tschudi: Chronicon Helveticum, 3. Teil, bearb. von BERNHARD STETTLER, Bern 1980 (Quellen zur Schweizer Geschichte NF, I. Abt.: Chroniken VII,3), S. 106. 80 Vgl. KRIEGER, KARL-FRIEDRICH: Rudolf von Habsburg, Darmstadt 2003, S. 168f.

344 | Oliver Landolt hundert nachhaltig beeinflusst hat81 – dies ungeachtet der Tatsache, dass Albrecht sowohl als Herzog als auch während seiner Regierungszeit als König in seinen westlichen Stammlanden nur relativ selten anwesend war.82 Durchaus präsent in der Region – und zwar wohl in negativer Hinsicht – war er allerdings im Hinblick auf die Entstehung des sogenannten Habsburgischen Urbars, das zwischen 1303 und 1307 auf seine Anordnung hin erstellt wurde. Wie bereits oben erwähnt, wurden die finanziell nutzbaren Rechte und Rechtsansprüche Habsburgs in einzelnen ländlichen und städtischen Ämtern der habsburgischen Vorlande schriftlich festgehalten.83 Lange Zeit ein eher negatives Bild in der eidgenössischen wie auch schweizerischen Geschichtsschreibung hatte auch die Tochter des ermordeten Königs Albrecht, A g n e s v o n U n g a r n († 1364), die angeblich mit unerbittlicher Schärfe die Mörder ihres Vaters verfolgen ließ und sogar im Blut der Erschlagenen gebadet haben soll. Auch hier ist wiederum der Chronist Tschudi der Gewährsmann, der unter Verwendung des durch den Zürcher Chronisten Brennwald geschaffenen Negativbilds die Charakterzüge der Agnes von Ungarn in besonderem Maße negativ schilderte: frow Agnes, künig Andres seligen von Ungern verlassne witwe, die wtet mer dann unmentschlich und anders dann einem wibsbild gebürt.84 Die künigin Agnes und ir brůder hertzog Lüpolt warend so rachgirig und wtig das si über schuldige und unschuldige [...] irn grimm gan liessend; da was kein barmhertzigkeit und weret dise strenge räch ein gůte zit. Es hat die künigin Agnes vilnach bi tusent mentschen richten und vertrijben las85 sen. Si was vil strenger und scherpfer dann ire brdern.

|| 81 König Albrecht ist dem rich ser abzügig gewesen, hat an sine kind gezogen was er gemögen, hat ein röwische gesicht und sin lust ze kriegen, fründ und nachpurn ze blagen und ze trengen, ist ein grober bürischer unverzagter hantlicher man gewesen, gijtig und rachgirig, bald erzürnt, der umb kleiner ursachen willen ansprachen sůcht herren, stett und lender ze beleidigen; Tschudi (Anm. 79), S. 150. 82 Zur geringen Präsenz Albrechts in den Vorderen Landen vgl. QUARTHAL, FRANZ: Residenz, Verwaltung und Territorialbildung in den westlichen Herrschaftsgebieten der Habsburger während des Spätmittelalters, in: RÜCK, PETER (Hrsg.): Die Eidgenossen und ihre Nachbarn im Deutschen Reich des Mittelalters, Marburg 1991, S. 61–85, hier S. 71f.; DERS.: Art. Vorderösterreich, in: SCHAAB, MEINRAD/SCHWARZMAIER, HANSMARTIN (Hrsg.): Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Bd. 1: Allgemeine Geschichte, Tl. 2: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches, Stuttgart 2000, S. 587–780, hier S. 614. 83 Vgl. Das Habsburgische Urbar, hrsg. von RUDOLF MAAG, Bde. I und II.1, Basel 1894–1899 (Quellen zur Schweizer Geschichte 14/15,1); SCHWEIZER, P./GLÄTTLI, W.: Das Habsburgische Urbar, Bd. II.2: Register, Glossar, Wertangaben, Beschreibung, Geschichte und Bedeutung des Urbars, Basel 1904 (Quellen zur Schweizer Geschichte 15,2). 84 Tschudi (Anm. 79), S. 245. 85 Ebd., S. 275f.; Vgl. auch Aegidius Tschudi: Chronicon Helveticum, 5. Teil, bearb. von BERNHARD STETTLER, Basel 1984 (Quellen zur Schweizer Geschichte NF, I. Abt.: Chroniken, Bd. VII,5), S. 234: Königin Agnes war blůtgirigklich und tyrannisch, welche den Mord an ihrem Vater König Albrecht nit allein an den tätern, sonders ouch an der selbigen unschuldigen blůtzfründen die der sach nützit mochtend, mit ertöden, vertrijben und berouben gerocchen hat.

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Im Besonderen charakterisiert Tschudi die künigin Agnes als ein geschwind listig wib.86 Allein, die zeitgenössischen Quellen wissen von solchen Geschichten gar nichts und verweisen stattdessen auf die politisch wichtige Rolle, die Agnes im 14. Jahrhundert als Schiedsgerichtsinstanz in den österreichischen Vorlanden und umsichtige Vermittlerin in verschiedenen Konflikten ausgeübt hat. Vor allem markierte sie politische Präsenz und die Wahrung habsburgischer Interessen in den Vorlanden, während die männlichen Vertreter des Geschlechts zumeist landesabwesend waren und sich um die Konsolidierung ihrer Herrschaft in Österreich und den angrenzenden Gebieten kümmerten. Erst seit dem 16. Jahrhundert sind Geschichten über die angebliche Grausamkeit der Habsburgerin Agnes bekannt; sie müssen wohl als reine Erfindungen eingestuft werden. Die in dieser Zeit entstandene eidgenössische Chronik des Zürchers Heinrich Brennwald (1478–1551) zeichnet ein besonders negatives Charakterbild von Agnes als Rächerin ihres Vaters und hat bei der Ausbildung dieses negativen Geschichtsbildes eine maßgebliche Rolle gespielt.87 Tschudi hat dieses Urteil weitgehend übernommen; seine Charakterisierung trägt deutlich misogyne Züge.88 L e o p o l d I . (1290–1326), ein Sohn König Albrechts I., nahm als junger Mann in der Verfolgung der Mörder seines Vaters – auf Anstiften seiner Mutter Elisabeth – eine führende Rolle ein; ebenso amtierte er als Regent in den Vorderen Landen. Nach dem Tode seiner Mutter im Jahre 1313 leitete er die dynastische Politik Habsburgs und unterstützte im Speziellen seinen älteren Bruder Friedrich den Schönen (1289–1330) bei der Wahl zum römisch-deutschen König. Auch in der Folge stand Leopold seinem Bruder im Kampf gegen den ebenfalls zum König gewählten Ludwig den Bayern († 1347) zur Seite. 1315 erlitt er gegen die Schwyzer in der Schlacht bei Morgarten eine vernichtende Niederlage. Der Chronist Tschudi bezeichnete Leopold als wtrich, der künig Ludvigs und der drijen waltstetten Uri Switz und Underwalden ergister viend gewesen sei und ward vil rûw nach sinem tod in disen landen.89 Eine negative Bewertung erfuhr auch Herzog Albrecht II. (1298–1358), auch ›der Weise‹ oder ›der Lahme‹ (wegen einer ab 1330 auftretenden teilweisen Lähmung) genannt, Sohn des ermordeten Königs Albrecht I. Während die Zeitgenossen wie auch die jüngere Geschichtsforschung Herzog Albrecht II. in einem günstigen Bild erschei-

|| 86 Vgl. Tschudi (Anm. 79), S. 266; Tschudi (Anm. 85), S. 234. 87 Vgl. Heinrich Brennwalds Schweizerchronik, Bd. 1, hrsg. von RUDOLF LUGINBÜHL, Basel 1908 (Quellen zur Schweizer Geschichte NF, I. Abt.: Chroniken, Bd. I), S. 103f., 151, 154f., 191, 243 und 349; vgl. dazu VON LIEBENAU, HERMANN: Lebens-Geschichte der Königin Agnes von Ungarn, der letzten Habsburgerin des erlauchten Stammhauses aus dem Aargaue, Regensburg 1868. 88 Vgl. dazu STETTLER, BERNHARD, Tschudi-Vademecum. Annäherungen an Aegidius Tschudi und sein Chronicon Helveticum, Basel 2001 (Quellen zur Schweizer Geschichte NF, Abt. I: Chroniken, Bd. VII, Hilfsmittel 3. Teil), S. 57f. 89 Benutzte Ausgabe: Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, 4. Teil, bearb. von BERNHARD STETTLER, Basel 1983 (Quellen zur Schweizer Geschichte NF, I. Abt.: Chroniken, Bd. VII,4), S. 102.

346 | Oliver Landolt nen lassen,90 zeichnet die im Raum der heutigen Schweiz entstandene Chronistik eher ein negatives Bild. Das dürfte wohl in seinen gegen die im Bund mit den eidgenössischen Waldstätten stehende Stadt Zürich geführten Kriegen (1351/52, 1354/55) gründen. Selbst die prohabsburgische sogenannte Klingenberger Chronik, vielleicht verfasst durch den Rapperswiler Stadtschreiber Eberhard Wüst, zeichnete ein eher ungünstiges Bild des Habsburgerherzogs: Unter Rückgriff auf chronikalische Überlieferungen aus der Stadt Zürich war Herzog Albrecht II. für den Verfasser der Klingenberger Chronik ain manlicher, hefftiger, unverzagter man, der uns und unsren aidgenossen vil ze laid geton hatt.91 Tschudi übernahm dieses Urteil weitgehend.92 Im Gegensatz hierzu bezeichnete er dessen Sohn R u d o l f I V . (1339–1365), der schon zu Lebzeiten seines Vaters Herzog Albrecht II. im Herbst 1357 die Verwaltung über die Vorderen Lande erhalten hatte und nach dessen Tode im Sommer 1358 die Herrschaft über die gesamten österreichischen Lande erbte, als ein[en] gotliebende[n] fromme[n] fürst[en] und als ein[n] rwige[n] fridliche[n] herr[n].93 Das günstige Bild des Glarner Chronisten Tschudi wird durch die moderne Geschichtswissenschaft relativiert: Der ehrgeizige und auch hochtrabende Herzog Rudolf IV. (mit dem Beinamen ›der Stifter‹) hatte wohl die ›Gnade eines frühen Todes‹ mit nur 26 Jahren und sorgte damit auch für eine günstige Beurteilung in der eidgenössischen Historiographie. Als Schwiegersohn des aus luxemburgischem Haus stammenden Kaiser Karl IV. hatte er Ambitionen auf den Königsthron des Heiligen Römischen Reiches und veranlasste mit dem sogenannten privilegium maius eine umfassende Urkundenfälschung zugunsten von Vorrechten der Habsburgerdynastie. Die außergewöhnliche und sehr hochtrabende Titulatur dieses Herzogs, die dieser als junger Mann verschiedentlich gebrauchte, mag ein gewisses Zeugnis von dessen Herrschaftsauffassung ablegen,94 auch wenn er in der folgenden Zeit im || 90 Vgl. KRIEGER (Anm. 24), S. 128–31. 91 Vgl. Die sog. Klingenberger Chronik des Eberhard Wst, Stadtschreiber von Rapperswil, bearb. von BERNHARD STETTLER, St. Gallen 2007 (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 53), S. 125. 92 Er [Albrecht II., O. L.] ist der eidtgnossen grosser viend gewesen, wie ouch sin vatter und brdern all. Er hat si ser geschädiget und inen vil leids geton und all sin vermögen offt verscht, ob er die eidtgnoschafft zertrennen und undertrucken möcht. Immerhin bezeichnete Tschudi den Herzog als alweg ein mannlicher unverzagter gehertzter tapfrer herr und ze kriegen gantz geneigt, wann er sich wol uff kriegen verstund, was ouch wijß sinnlich und vernünftig, deshalb er von etlichen hertzog Albrecht der wijse genannt wurde; Tschudi (Anm. 85), S. 190. 93 Ebd., S. 189 und 190. 94 In der Stiftungsurkunde vom 6. Dezember 1356 für die Kapelle in der herzoglichen Burg neben dem Widmer Thore in Wien wird die große Titulatur folgendermaßen angegeben: Wir Rudolf von gots gnaden hertzog ze Österreich, ze Steyr vnd ze Kernden, herre ze Chrain, vf der March vnd ze Portunaw, graf ze Habspurg vnd ze Kyburg, ze Phirt ze Veringen ze Lax ze Raprechtzwil ze Lenzburg vnd vf dem Swartzwalde ze Glarus ze Pilstain ze Ragtz ze Rechberg vnd ze Nuwenburg vf dem In, lantgraf in Elsazz, marchgraf ze Purgow ze Baden vnd ze Drossendorf, herre ze Friburg in Öchtland ze Lutzern ze Wolhusen ze Rotenburg, ze Switz Vnderwalden vnd ze Hinderlappen, ze Regensperg ze Tryberg ze Hohengundolfingen, ze Ortenberg ze Tatenriet ze Rosenuels ze Masmunster ze Achelant vnd vicari ze obern Payern; zitiert nach KÜRSCHNER, FRANZ: Die Urkunden Herzog Rudolfs IV. von Oesterreich (1358–1365). Ein Beitrag

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Urkundengebrauch diese Titulatur nicht mehr verwendete. Wenn Tschudi diese Urkunden bekannt gewesen wären, dürfte er die Rolle Herzog Rudolfs IV. wohl wesentlich anders eingeschätzt haben. Ein besonders negatives Image hatte auch der von 1440 bis 1493 als Reichsoberhaupt regierende König und spätere Kaiser F r i e d r i c h I I I . (1415–1493), der insbesondere in der Zeit des sogenannten Alten Zürichkriegs in den 1440er-Jahren aktiv seine Revindikationspolitik ehemaliger habsburgischer Territorien im Gebiet der Eidgenossenschaft – wenn auch weitgehend vergeblich – verfolgte.95 Das Urteil des Chronisten Tschudi war auch hier vernichtend: nit für sonders witzig und sinnrich [...] er was seer gijtig.96 Im Speziellen warf er ihm vor, dass er seine Pflichten als Reichsoberhaupt zugunsten des Machtgewinns der habsburgischen Familiendynastie missbraucht habe. Er meret das hus Österrich und mindert das rich und betrachtet des hus Österrichs nutz vil mer dann des richs.97 Auch die ältere Geschichtsforschung hatte von Friedrich III. keine besonders hohe Meinung; die neuere Forschung sieht die Rolle dieses Reichsoberhaupts aber sehr viel differenzierter.98 Im Gegensatz zu seinem Vater, Friedrich III., wurde König bzw. ab 1507 Kaiser M a x i m i l i a n I . (1459–1519) durch die Chronisten eher günstig geschildert, obwohl es unter ihm im Jahre 1499 nochmals zu einer blutigen militärischen Auseinandersetzung im sogenannten Schweizer- bzw. Schwabenkrieg gekommen war und er sogar zum Reichskrieg gegen die Eidgenossen, den bsen, groben und schnden gepurslten,99 aufgerufen hatte. Der Berner Chronist Valerius Anshelm gab in seiner Chronik bei der Beschreibung des Todes Maximilians im Jahre 1519 auch eine kurze Würdigung zur Person des Kaisers wieder:

|| zur speciellen Diplomatik, Wien 1873, S. 10. Diese Urkunde ist abgedruckt bei STEYERER, ANTONIUS: Comentarii pro Historia Alberti II., Ducis Austriæ, Lipsiae MDCCXXV, Sp. 258; dort auch weitere Beispiele mit Urkunden vom 13. Mai 1357 (ebd., Sp. 259) und 9. Februar 1358 (ebd., Sp. 264). Zur Biographie Herzog Rudolfs IV. vgl. NIEDERSTÄTTER, ALOIS: Die Herrschaft Österreich. Fürst und Land im Spätmittelalter, Wien 2001 (Österreichische Geschichte 1278–1411), S. 145–71; DERS.: Princeps Suevie et Alsacie. Herzog Rudolf IV. von Österreich und die habsburgischen Vorlande, in: NIEDERHÄUSER, PETER (Hrsg.), Die Habsburger zwischen Aare und Bodensee, Zürich 2010 (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 77), S. 125–35. 95 Vgl. NIEDERSTÄTTER, ALOIS: Der Alte Zürichkrieg. Studien zum österreichisch-eidgenössischen Konflikt sowie zur Politik König Friedrichs III. in den Jahren 1440 bis 1446, Wien 1995 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 14). 96 Benutzte Ausgabe: Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, 11. Teil, bearb. von BERNHARD STETTLER, Basel 1996 (Quellen zur Schweizer Geschichte NF, I. Abt.: Chroniken, Bd. VII,11), S. 51. 97 Ebd., S. 61. 98 Vgl. KRIEGER, (Anm. 24), S. 228–37, und KOLLER, HEINRICH: Kaiser Friedrich III., Darmstadt 2005. 99 Die zitierte Stelle stammt aus einer 1499 durch Maximilian veröffentlichten Propagandaschrift; Die Berner-Chronik des Valerius Anshelm, hrsg. vom Historischen Verein des Kantons Bern, Bd. 2, Bern 1886, S. 180. Ebenfalls abgedruckt in: SIEBER-LEHMANN/WILHELMI (Anm. 62), S. 88–91.

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Gewesen ein gotsfrchtiger, wiser, frsichtiger, und so vil an im ein fridsamer, gndiger und langmtiger frst, und ouch bi allen verstndigen semlichs ansehens, dass nach sinem abgang vil grosser endrungen und zweiungen entston und insitzen wurdid, welche durch sin wise frsich100 tikeit, wie von im vor angesagt und zeigt, verkommen oder gebesseret wrid worden.

Gemäß chronikalischer Überlieferung soll sich König Maximilian I. auf dem Konstanzer Reichstag von 1507 vor eidgenössischen Gesandten selbst als ein geborner, gůter Eidgnoss101 bezeichnet haben – dies wohl in Erinnerung an die Herkunft der Habsburgerdynastie von der im heutigen Kanton Aargau gelegenen Habsburg. Dennoch hielt Maximilian die Eidgenossen für böse und hinterhältige Schurken, wie aus einem Schreiben vom 18. August 1507 an seine Tochter Margarete (1480–1530), Statthalterin in den Niederlanden, hervorgeht: en sumarum il sount mechans, villains, prest pour traïre France ou Almaignes.102 Der knappe Überblick über einzelne Habsburger Dynasten – es könnten hier weitere Beispiele an- und ausgeführt werden – zeigt, dass chronikalische und historiographische Charakterisierungen von Persönlichkeiten selbst bis in die jüngste Gegenwart hinein äußerst schwierig sind und das Urteil in solchen Darstellungen höchst ambivalent ausfallen kann. Selbst der gegenüber der Habsburgerdynastie kritisch eingestellte Chronist Tschudi fällt kein eindeutiges Urteil, sondern verknüpft das Schicksal der Vertreibung der Habsburgerdynastie aus dem Raum der Schweiz mit den Taten der durch ihn besonders negativ dargestellten Königin Agnes von Ungarn, die blutige Rache an den Mördern ihres Vaters König Albrecht wie auch an deren weitgehend unschuldigen Angehörigen genommen habe: dardurch vilicht gott harnach die gegenrach über ir geschlecht verhenngt das si ouch uss der eidtgnoschafft vertriben sind, und si dagegen an anderen orten erhöcht das grosse künigkrich an si gefallen, dann si vil frommer milter gotzförchtiger tugentrichter fürsten ouch in irem geschlecht gehept, die umb gott söliche erhöchung erworben habend, der nützit unvergulten laβt. So ist ouch kein geschlecht ald stamme, das nit tugentlich und untugenlich, gůt und böβe menschen habe, diewil es doch ouch in der genelogia Christi befunden tirannische und ouch barmhertzige künig, denen ouch nach ir verdienung glück und unfal von gottes verhengknus begeg103 net und an die hand gestossen, den bösen straff, den gůten wolfart.

|| 100 Benutzte Ausgabe: Die Berner-Chronik des Valerius Anshelm, hrsg. vom Historischen Verein des Kantons Bern, Bd. 4, Bern 1893, S. 289. 101 Benutzte Ausgabe: Die Berner-Chronik des Valerius Anshelm, hrsg. vom Historischen Verein des Kantons Bern, Bd. 3, Bern 1888, S. 6. 102 Benutzte Ausgabe: Correspondance de l’empereur Maximilien Ier et de Marguerite d’Autriche, sa fille, gouvernante des Pays-Bas de 1507 à 1519, publiées d’après les manuscrits originaux par M. LE GLAY, Bd. 1, Paris 1839, S. 7 (Nr. 3). 103 Tschudi (Anm. 79), S. 234f. Vgl. dazu auch BECK, MARCEL: Zum Problem der Rechtfertigung der eidgenössischen Befreiungstradition bei Ägidius Tschudi, in: SCHWARZ, DIETRICH/SCHNYDER, WERNER (Hrsg.): Archivalia et historica. Arbeiten aus dem Gebiet der Geschichte und des Archivwesens, Zürich 1958, S. 235–43, hier S. 239f.

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Schon Heinrich Brennwald (1478–1551), Verfasser einer zwischen 1508 und 1516 entstandenen, zwar nicht gedruckten, aber breit rezipierten Schweizergeschichte, nimmt in einem eigens abgefassten Kapitel mit der Überschrift Us was ursach der adel in der Eidgnosschaft vertriben ist die Habsburgerdynastie in Schutz: Wie wol nun das ganz land H e l v e c i e n (diser zit Eidgnosschaft gemelt) alles in gewalt und regierung des adels und sonders der herschaft Österych lange jar gestanden, der regierung und obrikeit sie sich emtpfrmbdet und gewaltiglich entzogen hand, so han ich doch nie kein so ruch oder unwissend erkennt nch gehört, der die fürsten von Osterych stumpfier oder schelte, sonders für loblich, milt und fromm fürsten halte. [...] die streng, unmenschlich und unlidentlich regierung der landtvögt, anwälten und amptlüten der herschaft, so zů dem dickern mal über gesetzt, s[ch]andlich rennt und gällt si für und für exactionniert, beschwert und ufgesteigt, zů dem vil großes gewalts, unlidenlicher unmentschlichkeit mit ir wib und kind pflegen; über das alles deren, so sollichs in ungedult annamend, vil in blöcker geschlagen und from biderlút one alle schuld in den túrnen erfüllt: das und nit anders solliche widerspennigkeit, ungehorsami und abwerfen gepflanzet und warlichen vor allem geursachet hat, das jetlich ungezwifelt, so dise 104 chronick liset, gruntlich bericht wirt.

Im Gegensatz zu den rein fiktiven habsburgischen Amtsträgern des eidgenössischen Befreiungsmythos waren die Angehörigen der Habsburgerdynastie Menschen aus Fleisch und Blut, deren Persönlichkeiten komplexerer Natur waren und nicht in Schwarz-Weiß beschrieben werden können. Dennoch stellen solche realhistorischen Persönlichkeiten für Chronisten und Geschichtsschreiber Projektionsflächen dar, denen politisch motivierte positive oder negative Charakterzüge zugeschrieben werden können.

4 Der Tyrannenvorwurf – politisch instrumentalisiert Die Geschichten um die tyrannische Willkürherrschaft der ›bösen Vögte‹ Habsburgs waren seit dem 16. Jahrhundert im Geschichtsbewusstsein großer Bevölkerungskreise der einzelnen eidgenössischen Orte tief verwurzelt. Während die Zugänglichkeit der handschriftlich verfassten, seit Beginn des 16. Jahrhunderts auch gedruckten Chroniken weitgehend auf eine Elite beschränkt war, gewannen solche Geschichtsbilder vor allem über Lieder, vaterländische Dramen sowie politisch-historische Flugblätter und Flugschriften eine größere Verbreitung in der Bevölkerung.105 Auch die Sachkultur

|| 104 Benutzte Ausgabe: Heinrich Brennwalds Schweizerchronik, Bd. 1, hrsg. von RUDOLF LUGINBÜHL, Basel 1908 (Quellen zur Schweizer Geschichte NF, Abt. I: Chroniken, Bd. 1), S. 66. 105 Vgl. TSCHOPP, SILVIA SERAINA: Frühneuzeitliche Medienvielfalt. Wege der Popularisierung und Instrumentalisierung eines historisch-begründeten gesamteidgenössischen Bewusstseins im 16. und 17. Jahrhundert, in: HARMS, WOLFGANG/MESSERLI, ALFRED (Hrsg.), Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700), Basel 2002, S. 414–40.

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trug zur Verfestigung dieser Geschichtsvorstellungen bei, wie sich beispielsweise anhand der seit dem späten 15. Jahrhundert immer populärer werdenden gläsernen Wappenscheiben zeigen lässt, die vor allem in öffentlichen Gebäuden, in Wirts- und Privathäusern wie auch in Sakralgebäuden als Fensterschmuck Verbreitung fanden. In den Oberbildern noch erhaltener Glasmalereien finden sich häufig Darstellungen aus dem eidgenössischen Befreiungsmythos, wie etwa Tells Apfelschuss, der Totschlag des Landvogts Wolfenschiessen durch Konrad Baumgarten, die Ermordung des tyrannischen Landvogts Gessler durch Wilhelm Tell in der Hohlen Gasse bei Küssnacht etc.106 Ikonographisch finden sich solche Motive auch auf anderen Gegenständen (unter anderem Schweizerdolch, Darstellungen auf Kacheln von Kachelöfen etc.).107 Speziell bei innenpolitischen Auseinandersetzungen konnten diese Geschichten besondere Brisanz gewinnen und wurden für eigene politische Anliegen unter Umständen auch gegen die eigenen Obrigkeiten in den eidgenössischen Länder- und Städteorten instrumentalisiert. Im Besonderen eignete sich der Topos des Wilhelm Tell als widerständige Figur.108 Schon 1561 rotteten sich bei Unruhen in der Innerschweiz einige hundert Männer, die mit der Politik der Innerschweizer Obrigkeiten nicht einverstanden waren, unter einem redlingsfürer zusammen, den sie den jung oder nüw Wilhelm Thel nannten.109 Tell als Widerstandsfigur gegen die ›tyrannische Herrschaft‹ der eigenen Obrigkeiten ist für die Zeit des schweizerischen Bauernkriegs von 1653 bezeugt, in der es in einzelnen eidgenössischen Städten und ihren Territorien zu Unruhen und Aufständen in ihren ländlichen Untertanengebieten kam. Dabei wurden wiederholt Vorwürfe durch die ländlichen Untertanen geäußert, die die Drangsalierung der ländlichen Bevölkerung seitens der städtischen Obrigkeiten mit der einstigen tyrannischen Willkürherrschaft »Österreichs« zu »Wilhelm Tells Zeiten« verglich.110 Als Symbolgestalten der Aufständischen traten damals sogar drei Männer in historischen Tellkostümen bei verschiedenen Versammlungen auf. Der Höhepunkt war dabei ein durch diese ›drei

|| 106 Zur Bedeutung der gläsernen Wappenscheiben in der Eidgenossenschaft vgl. SCHMID, REGULA: Die schweizerische Eidgenossenschaft – Ein Sonderfall gelungener politischer Integration?, in: MALECZEK, WERNER (Hrsg.): Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa, Ostfildern 2005 (Vorträge und Forschungen 63), S. 413–48, hier S. 439–44. 107 Vgl. VON TAVEL, HANS CHRISTOPH: Nationale Bildthemen, Disentis 1992 (Ars Helvetica. Die visuelle Kultur der Schweiz X); vgl. z. B. auch mit speziellem Fokus auf die ikonographische Darstellung Wilhelm Tells DETTWILER, WALTER: Wilhelm Tell. Ansichten und Absichten, Zürich 1991 (Schweizerisches Landesmuseum, Bildbd. 3). 108 Vgl. BRÄNDLE, FABIAN: Wider die eigenen Tyrannen – Tell als Widerstandsfigur von unten, 16. bis 18. Jahrhundert, in: Historisches Neujahrsblatt NF 59 (2004), S. 61–77. 109 Vgl. TOBLER, G.: Ein Unterwaldner Wilhelm Tell. (Zugleich ein Beitrag zum sogen. Tschudikrieg), in: Anzeiger für schweizerische Geschichte 5 (1888/1889), S. 225–30; vgl. dazu auch DURRER, ROBERT: Landammann Heintzli. Ein Beitrag zur intimen Geschichte Unterwaldens im Zeitalter der Gegenreformation, in: Jahrbuch für schweizerische Geschichte 32 (1907), S. 205–93, hier S. 228. 110 SUTER, ANDREAS: Der Schweizerische Bauernkrieg von 1653. Politische Sozialgeschichte – Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses, Tübingen 1997 (Frühneuzeitforschungen 3), S. 431.

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Tellen‹ aus dem Hinterhalt begangenes Attentat auf Magistraten der Stadt Luzern in Nachahmung des ›Tyrannenmords‹ am habsburgischen Landvogt Gessler.111 Tell als ein Kämpfer gegen die habsburgische Tyrannenherrschaft war den politischen Obrigkeiten der eidgenössischen Orte eine durchaus suspekte Figur, was sich auch deutlich beim Chronisten Tschudi zeigt, der als Angehöriger der eidgenössischen Eliten Tell in seiner Chronik sehr kritisch darstellt.112 Wie das Beispiel der Zeit der Helvetik (1798–1803) zeigt, konnte der Tyrannenmörder Tell durch politisch gegnerische Parteien beiderseits als positive Symbolfigur instrumentalisiert und für die eigenen politischen Ziele eingesetzt werden.113 Dabei musste die Tyrannenherrschaft der habsburgischen Vögte über die Innerschweizer Bevölkerung nicht einmal explizit genannt werden: Tell oder weitere fiktive Figuren der Befreiungstradition genügten, um sofort auch Assoziationen zur angeblichen habsburgischen Tyrannenherrschaft aufzurufen. Die Symbolik des ›bösen Vogts‹ wurde bisweilen auch auf die eidgenössischen Landvögte übertragen: Seit 1415 und bis zum Ende des Spätmittelalters erwarben die eidgenössischen Städte- und Länderorte Territorien, die gemeinschaftlich beherrscht wurden. Dabei wechselten sich die Orte in der Verwaltung dieser Territorien durch die Einsetzung von aus den einzelnen eidgenössischen Ständen stammenden Landvögten ab. Ähnlich wie andere, vor allem städtische Kommunen innerhalb des Heiligen Römischen Reichs, erwarben Städte, aber auch einzelne ländliche Kommunen im Gebiet der heutigen Schweiz Territorien, die sie als Untertanengebiete beherrschten. Vor allem die städtischen Kommunen verwalteten diese ländlichen Untertanengebiete über Amtmänner, die häufig als Landvögte bezeichnet wurden.114 Die ländlichen Kommunen setzten in ihren Untertanengebieten gewöhnlich keine Vögte ein, sondern gestanden ihren Untertanengebieten zumeist eine weitgehende Selbstverwaltung zu. Wie das Beispiel des Landes Schwyz allerdings zeigt, wurde mit der Drohung, einen ›Vogt‹ zu ernennen, der Gehorsam in den Untertanengebieten durchgesetzt. Schon im späten 15. Jahrhundert wurden in einzelnen schwyzerischen Untertanengebieten Vögte verschiedentlich als Vorgesetzte eingesetzt, allerdings immer zeitlich be|| 111 Vgl. BLATTER/GROEBNER (Anm. 76), S. 76–82. Allgemein zur Figur der ›Drei Tellen‹ vgl. EGLOFF, GREGOR: Art. Drei Tellen, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 3, Basel 2004, S. 798. 112 Vgl. STETTLER (Anm. 88), S. 61, und BLATTER/GROEBNER (Anm. 76), S. 71f. 113 Vgl. GODEL, ERIC: Die Zentralschweiz in der Helvetik (1798–1803). Kriegserfahrungen und Religion im Spannungsfeld von Nation und Religion, Münster 2009, S. 232–52. 114 So etwa im Falle der Stadt Zürich; vgl. dazu DÜTSCH, HANS-RUDOLF: Die Zürcher Landvögte von 1402–1798. Ein Versuch zur Bestimmung ihrer sozialen Herkunft und zur Würdigung ihres Amtes im Rahmen des zürcherischen Stadtstaates, Zürich 1994. Allgemein zum ›Landvogt‹ vgl. HÖRSCH, WALTRAUD: Art. Landvogt, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, Basel 2008, S. 618f.; vgl. auch HOLENSTEIN, ANDRÉ: Die Herrschaft der Eidgenossen. Aspekte eidgenössischer Regierung und Verwaltung in den Landvogteien und Gemeinen Herrschaften, in: GSCHWEND, LUKAS/SUTTER, PASCALE (Hrsg.): Zwischen Konflikt und Integration: Herrschaftsverhältnisse in Landvogteien und Gemeinen Herrschaften (15.–18. Jh.)/Entre conflit et intégration: les rapport de pouvoir dans les bailliages et les bailliages communs (XVe–XVIIIe siècles), Basel 2012 (Itinera 33), S. 9–30.

352 | Oliver Landolt schränkt.115 An einem solchen politischen Verständnis hielt das Land Schwyz auch in der folgenden Zeit fest, wie beispielsweise in einem Landratsprotokoll aus dem Jahre 1647 bezeugt ist: Damals bestimmte der Schwyzer Rat, dass man den Untertanengebieten zuo welcher zeit und stundt man solches endern und ihnen ein vogt geben wolle, daβ man solches zethun wolbefuegt und guot macht habe.116 Im helvetischen Zentralstaat von 1798 wurden die Landvogteien und damit auch das Amt des Landvogts abgeschafft; die Amtsbezeichnung ›Landvogt‹ war am Ende des Ancien Régime so diskreditiert, dass man sie seit 1803 auf der Ebene der kantonalen Bezirke nicht mehr verwendete.117 Als Negativfiguren fand und findet die Vorstellung der tyrannischen bzw. ›bösen Vögte‹ auch Eingang in die politischen Auseinandersetzungen des modernen, föderal verfassten Bundesstaates Schweiz von 1848. Die Negativgestalt des ›tyrannischen Vogts‹ wurde und wird immer dann politisch instrumentalisiert, wenn man Gesetzesvorlagen bekämpfen will, in denen Anliegen unterschiedlichster Art zentral geregelt werden sollen. Damit wird das ›Schreckgespenst eines zentralen Einheitsstaates‹ an die Wand gemalt.118 Auch wenn die ›bösen Vögte‹ nicht immer explizit dargestellt oder genannt werden, wurde und wird mit Rückgriffen auf Figuren und Ereignisse des alteidgenössischen Befreiungsmythos das gesamte semantische Bedeutungsfeld bei jeder Schweizerin und jedem Schweizer, je nach Bildungsgrad unterschiedlich, in Erinnerung gerufen, wozu eben auch die ›bösen Vögte‹ und die angebliche habsburgische Tyrannenherrschaft gehören.

5 Schluss Ein zentrales Motiv innerhalb der eidgenössischen Befreiungstradition ist die habsburgische Tyrannenherrschaft. Als Geschichtsnarrativ bestimmt dieses Thema die eidgenössische wie schweizerische Geschichtsschreibung vom Spätmittelalter bis in die heutige Zeit. Das Motiv wurde allmählich in Reaktion auf die unmittelbar nach der

|| 115 Vgl. LANDOLT, OLIVER: Autonomiebestrebungen angehöriger Landschaften im Länderort Schwyz im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: KÜMIN, BEAT (Hrsg.): Politische Freiheit und republikanische Kultur im alten Europa. Historische Essays zum Gedenkjahr ›Gersau 2014‹, Vitznau 2015, S. 9–15, hier S. 12f. 116 Staatsarchiv Schwyz, HA.III.25, S. 258. 117 Vgl. HÖRSCH (Anm. 114), S. 619. So auch im Kanton Bern; vgl. Sammlung schweizerischer Rechtsquellen, Abt. II: Die Rechtsquellen des Kantons Bern. Zweiter Teil: Rechte der Landschaft, Bd. 10/I: Das Recht im Oberaargau. Landvogteien Wangen, Aarwangen und Landshut, Landvogtei Bipp, bearb. von ANNE-MARIE DUBLER, Basel 2001, S. CI–CIII. 118 Besonders aufschlussreich für die Verwendung des Motivs ›Vogt‹ im politischen Kampf sind überlieferte Plakate im Abstimmungskampf; vgl. dazu HEUSER, MECHTHILD/WIRTZ, IRMGARD M.: Tell im Visier. Graphische Sammlung, Schweizerische Nationalbibliothek, Zürich 2007, Abb. 86, 89, 110–17.

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Schlacht bei Sempach 1386 einsetzende antieidgenössische Propaganda durch Habsburg entwickelt. Der dort gegenüber den Eidgenossen geäußerte Vorwurf des Rebellentums und Widerstands gegen den ›natürlichen Herrn‹ wurde gekontert mit dem Vorwurf der ungerechten Herrschaftsausübung der durch Habsburg eingesetzten ›Vögte‹, sprich: der Tyrannenherrschaft der habsburgischen Amtsträger. Das Tyrannenbild in Bezug auf die einzelnen Angehörigen der Habsburgerdynastie fällt durchaus disparat aus; vor allem der die eidgenössische und schweizerische Geschichtsschreibung nachhaltig beeinflussende Chronist Aegidius Tschudi hat das Bild der Habsburgerdynastie eher negativ geprägt. Die eingängigen, auch ikonographisch vermittelten Geschichten aus dem eidgenössischen Befreiungsmythos mit seinem zentralen Motiv der Tyrannenherrschaft der habsburgischen Vögte wirkten mit besonderer Nachhaltigkeit im Geschichtsbewusstsein der vormodernen Eidgenossenschaft wie auch der modernen Schweiz – und hier insbesondere im politischen Alltag.

Markus Debertol

Türkischer Kaiser – Turcorum Tyrannus Zur Wahrnehmung des osmanischen Sultans am Kaiser- und Papsthof um 1500 Auf dem Augsburger Reichstag von 1518, wenige Monate vor seinem Tod, versuchte Kaiser Maximilian I. noch einmal für ein Anliegen zu werben, das in den gut 25 Jahren seiner Alleinherrschaft als römischer König bzw. erwählter Kaiser zu einem Leitmotiv seines politischen Handelns geworden war: den großen Kriegszug gegen die Osmanen zur Verteidigung der Christenheit und Rückeroberung Konstantinopels.1 Das Engagement für diesen Türkenkreuzzug, ein letztlich nie realisiertes Projekt, war eine der wenigen dauerhaften politischen Gemeinsamkeiten Maximilians mit den Päpsten seiner Zeit. Damit einher gingen relativ konstante Feindbilder, die zwar nicht immer unmittelbar präsent blieben, aber bei Bedarf problemlos aktiviert werden konnten. Im Fall Maximilians passierte das etwa immer dann, wenn die Ankündigung eines Kreuzzugs gegen die Türken die Stände des Heiligen Römischen Reichs dazu bringen sollte, ihm Geldmittel zu gewähren. Dazu malten Maximilian und sein Umfeld einerseits die von den osmanischen Truppen bereits verübten und noch zu erwartenden Gräueltaten in den schillerndsten Farben aus, während man andererseits den Zusammenhalt und das Wohlergehen von Christenheit, Heiligem Römischem Reich und Deutscher Nation beschwor. Ähnliches lässt sich im Umfeld der päpstlichen Kurie beobachten. Nation und Reich fallen hier weg, die osmanische Bedrohung bildete aber immer wieder den Hintergrund, vor dem ein Frieden zwischen den christlichen Monarchen eingefordert wurde, damit man sich mit vereinten Kräften dem Sultan entgegenstellen könne. Wir haben es also an beiden Höfen, deren Monarchen ihrem Selbstverständnis nach an der Spitze der Christenheit standen, mit ähnlichen Diskursen zur Bedrohung durch die Türken zu tun.2 Es gibt aber einen auffälligen Unterschied in der Art, wie über den osmanischen Herrscher gesprochen und geschrieben wurde. Nördlich der Alpen war die Bezeichnung ›türkischer Kaiser‹ vorherrschend,3 während er in Italien und vor allem in Rom

|| 1 Zum Verlauf des Reichstags vgl. WIESFLECKER, HERMANN: Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, Bd. 4: Gründung des habsburgischen Weltreiches, Lebensabend und Tod 1508–1519, Wien 1981, S. 385–92. 2 Als ›Türken‹ (im Plural) bezeichneten die Zeitgenossen nicht eine bestimmte Ethnie, sondern in der Regel die Gesamtheit der muslimischen Untertanen des Sultans, vor allem nördlich der Alpen wurde die Bezeichnung hin und wieder auch pauschal für alle Muslime genutzt. 3 Auf die Verwendung des Kaisertitels für den Sultan in Maximilians privater Korrespondenz hingewiesen hat zuletzt NOFLATSCHER, HEINZ: Stereotype und Fremdbilder im politischen Verhalten Maximihttps://doi.org/10.1515/9783110752373-016

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entweder einfach als Turcus, als Magnus Turcus oder am häufigsten als Turcorum Tyrannus bezeichnet wurde. Selten kommt auch der Titel Soldanus vor.4 Den Sultan analog zum deutschen Sprachgebrauch Turcorum Imperator zu nennen, scheint hier beinahe undenkbar gewesen zu sein; auch Rex kommt nur vereinzelt vor, noch seltener Princeps.5 Der Titel Imperator wurde dem Sultan an der Kurie bis auf absolute Ausnahmen6 erst später zugestanden, dann aber auch rückwirkend. Im Vatikanischen Archiv gibt es etwa eine Liste der osmanischen Herrscher, die wohl aus dem späten 17. Jahrhundert stammt. Bei Bayezid II. (Regierungszeit: 1481–1512) ist auf Italienisch der Hinweis angefügt, ab hier seien sie Imperatori.7 Im nordalpinen Reich hingegen war der Kaisertitel der Sultane in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts längst zum Normalfall geworden. Johannes Cuspinian, ehemals Berater und Diplomat im Dienst Maximilians, stellte die türkischen Imperatores bzw. Caesares in seinem 1540 erstmals gedruckten Geschichtswerk Caesares ganz selbstverständlich in die Reihe der römischen Kaiser der Antike, der römisch-deutschen und der byzantinischen Kaiser.8 Murad II. (Regierungszeit: 1421–1444 und 1446–1451) ist dabei der erste, der explizit als Imperator9 bezeichnet wird. Nur selten wird in den Quellen der Name des jeweiligen Sultans genannt; die Person trat hinter das Amt zurück, der Tyrannus war ebenso wie der ›Kaiser‹ in erster Linie ein Typus. Das Bild, das man sich von ihm machte, änderte sich bei einem Wechsel auf dem Thron nur in Nuancen, nicht in der Substanz. Es ist wichtig, hier anzumerken, dass weder der Gebrauch von Turcorum Tyrannus noch der von ›türkischer Kaiser‹ auf den päpstlichen bzw. kaiserlichen Hof beschränkt war oder seinen Ur|| lians I., in: HELMRATH, JOHANNES [u. a.] (Hrsg.): Maximilians Welt. Kaiser Maximilian I. im Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition, Göttingen 2018 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 22), S. 159–89, hier S. 168. 4 Der Zeremonienmeister Johannes Burckard erwähnt in seinem Diarium einen orator Magni Soldani; Johannis Burckardi Liber Notarum, ab Anno MCCCCLXXXIII usque ad Annum MDVI, hrsg. von ENRICO CELANI, Bd. 1, Città di Castello 1906, S. 458. 5 Einer dieser seltenen Fälle ist das Konsistorium am 18. März 1517. Die Akten vermerken an diesem Datum, der päpstliche Sekretär Jacopo Sadoleto habe einen Brief des Königs von Ungarn verlesen, in dem dieser von Forderungen des Princeps Turcharum an ihn berichtete; es ist allerdings wahrscheinlich, dass hier einfach der im Brief verwendete Begriff wiedergegeben wurde; Vatikanstadt, Archivio Apostolico Vaticano (im Folgenden AAV), Arch. Concist., Acta Vicecanc, Tom. 2, fol. 23r. 6 Der einzige mir bekannte Fall ist eine Instruktion Alexanders VI. an Gesandte in Frankreich, in der diese angewiesen werden, Ludwig XII. an die Notwendigkeit eines Feldzugs contra Turcarum Imperatorem zu erinnern (AAV, Misc., Arm. II, Tom. 30, fol. 139r–41r, hier fol. 139v). 7 AAV, Misc. Arm. VI, Tom. 39, fol. 126r. 8 Ioannis Cuspiniani viri clarissimi, poetae et medici, ac Divi Maximiliani Avgvsti oratoris, de Caesaribus atque imperatoribus Romanis opus insigne, [Straßburg] 1540 (VD16 C 6477). In deutscher Übersetzung erschien das Werk ein Jahr darauf: Ein außerleßne Chronicka von C. Julio Cesare dem ersten, biß auff Carolum quintum diser zeit Rhömischen Keyser, auch von allen Orientischen oder Griechischen und Türckischen Keysern, Straßburg 1541 (VD16 C 6480). 9 Cuspinian, De Caesaribus (Anm. 8), S. DCLX.

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sprung dort hatte; der Vorwurf der Tyrannei gegen den Sultan war vor allem in Italien weit verbreitet, während sich nördlich der Alpen bereits Anfang des 15. Jahrhunderts Belege dafür finden lassen, dass ihm der Kaisertitel zugestanden wurde.10 Trotzdem legt die auffällige Häufung der beiden Begriffe im Umfeld der Kurie und des habsburgischen Königs- bzw. Kaiserhofs die Frage nahe, ob und wie sprachliche Konventionen, die sich in ihrer impliziten Wertung derart stark unterscheiden, auch mit unterschiedlichen Wahrnehmungen des Sultans einhergingen und worin diese etwaigen Unterschiede lagen. Betrachtet wird dazu im Folgenden ein Zeitraum von Anfang der 1490erbis zum Beginn der 1520er-Jahre. Den Endpunkt bilden die osmanischen Eroberungen von Belgrad 1521 und Rhodos 1522, die das Bewusstsein einer existenziellen Bedrohung der europäischen Christenheit durch die muslimische Großmacht nochmals verstärkten. Zentrale Ereignisse für die Wahrnehmung sowohl der Türken insgesamt als auch des Sultans im Umfeld Maximilians waren die beiden Besuche eines osmanischen Gesandten am Hof 1496 und 1497. Der erste dieser Besuche fand während Maximilians letztlich gescheitertem Romzug im lombardischen Vigevano statt, der zweite im Jahr darauf bei Kloster Stams in Tirol. Den Namen des Gesandten kennen wir aus den Berichten des päpstlichen Legaten Leonello Chieregati; er hieß Andreas Pontcaracce und wurde Andreas Grecus genannt.11 In einem Schreiben an die in Worms versammelten Stände berichtete Maximilian 1497, der Gesandte habe bereits in Vigevano betont, sein Auftraggeber sei ein erlicher berümbter keiser und her.12 Diesen Titel ließ der römische König unkommentiert stehen und billigte ihn so implizit. Wie Maximilian weiter berichtet, ließ er dem Sultan einen verabredeten Entscheidungskampf zwischen den beiden Monarchen anbieten, der den Konflikt ein für alle Mal klären sollte.13 Es ist nicht ganz klar, was damit konkret gemeint war – ein Kampf zwischen ausgewählten Kriegern oder sogar ein ritterlicher Zweikampf zwischen den Herrschern. Die Idee scheint Maximilian jedenfalls aus Burgund mitgebracht zu haben, wo bereits 1454 Philipp der Gute die Absicht geäußert hatte, Mehmed II. zu einem solchen Kampf herauszufordern.14 Man kann jedenfalls mit MANFRED HOLLEGGER davon ausgehen, dass || 10 FRANZ BABINGER erwähnt einige Beispiele für die lateinische Form imperator Turcorum im Ungarn Sigismunds I.; vgl. BABINGER, FRANZ: ›Bajezid Osman‹ (Calixtus Ottomanus). Ein Vorläufer und Gegenspieler Dschem-Sultans, in: La Nouvelle Clio 3 (1951), S. 349–88, hier S. 350. 11 Leonello Chieregati an Alexander VI., Füssen, 16. Juli 1497. Venezia, Biblioteca Nazionale Marciana (BNM), Lat. XI 99 (4278), fol. 45–47, hier fol. 45r. RI XIV,2, Nr. 5080. Leonello Chieregati an Alexander VI., Telfs, 25. Juli 1497. BNM, Lat. XIV 99 (4278), fol. 50–52, hier fol. 51r. RI XIV,2, Nr. 5109. 12 Frankfurts Reichscorrespondenz nebst anderen verwandten Aktenstücken von 1376–1519, hrsg. von JOHANNES JANSSEN, Bd. 2: Aus der Zeit Friedrichs III. bis zum Tode Kaiser Maximilians I. (1440– 1519), Freiburg i. Br. 1872, Nr. 774. 13 Vgl. GRÖBLACHER, JOHANN: König Maximilians I. erste Gesandtschaft zum Sultan Baijezid II., in: NOVOTNY, ALEXANDER/PICKL, OTHMAR (Hrsg.): FS Hermann Wiesflecker, Graz 1973, S. 73–90, hier S. 75f. 14 Vgl. HOLLEGGER, MANFRED: »Großmächtiger und gewaltiger Gubernator des ganzen Orients«. Osmanen, Safawiden und Mamluken in der Wahrnehmung und politischen Konzeption Maximilians I.,

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dieses Angebot Maximilian dazu diente, nach der militärischen und politischen Niederlage in Italien »als Oberhaupt der Christenheit das Gesicht zu wahren«.15 Dazu kommt aber ein weiterer Aspekt: Ein solches Angebot setzt voraus, dass man sein Gegenüber als Gegner auf Augenhöhe anerkennt. Obwohl die königliche Kanzlei nie damit aufhörte, die bekannten Topoi von den Türken als Feinden der Christenheit und grausamen Barbaren zu reproduzieren, ist hier also doch eine implizite Anerkennung von Gleichrangigkeit des zukünftigen römischen Kaisers Maximilian mit Sultan Bayezid, dem ›türkischen Kaiser‹, zu erkennen. Die Abwesenheit des Tyrannenbegriffs in Bezug auf den Sultan im maximilianischen Umfeld kann nicht ausschließlich mit dem unterschiedlichen Vokabular des Deutschen auf der einen und des Lateinischen bzw. Italienischen auf der anderen Seite erklärt werden. Tatsächlich war die Wortfamilie ›Tyrann‹, ›Tyrannei‹, ›tyrannisch‹ usw. im Deutschen ja seit Jahrhunderten etabliert, wie auch die Beiträge im vorliegenden Band ausführlich zeigen. Außerdem war die Titulierung des Sultans als Kaiser im Umfeld Maximilians nicht auf die deutsche Sprache beschränkt. Maximilian selbst schrieb seiner Tochter Margarete, mit der er auf Französisch korrespondierte, vom Turc-emperor.16 Ähnlich äußerte sich auch Riccardo Bartolini in seiner bekannten Türkenrede auf dem Augsburger Reichstag von 1518. Bartolini, ursprünglich aus Perugia, war Kaplan und Sekretär von Maximilians Kardinalminister Matthäus Lang und gehörte damit zum erweiterten Gefolge des Kaisers. Er argumentierte im Großen und Ganzen so für einen Türkenkreuzzug, wie es von einem Italiener zu erwarten war; beispielsweise taucht in seiner Rede mehrmals der Topos von der Bedrohung der Küsten Italiens durch die Muslime auf. In einem Punkt aber ist der Text sehr unitalienisch: Sultan Selim ist der Turcarum Imperator.17 Ähnlich wie in Italien wurde der Sultan auch in Maximilians Umfeld immer wieder einfach ›der Türke‹ genannt. Kardinal Raimund Peraudi, als päpstlicher Legat zuständig für den Jubiläumsablass zum Heiligen Jahr 1500, der als Bischof von Gurk und ehemaliger Rat Friedrichs III. aber auch zum erweiterten Hof des römischen Königs

|| in: HAIDER-WILSON, BARBARA/GRAF, MAXIMILIAN (Hrsg.): Orient & Okzident. Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten, [Wien] 22017 (Forschungen zu Orient und Okzident 4), S. 143–85, hier S. 173f. 15 HOLLEGGER, MANFRED: »Damit das Kriegsgeschrei den Türken und anderen bösen Christen in den Ohren widerhalle.« Maximilians I. Rom- und Kreuzzugspläne zwischen propagierter Bedrohung und unterschätzter Gefahr, in: HELMRATH, JOHANNES [u. a.] (Hrsg.): Maximilians Welt. Kaiser Maximilian I. im Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition, Göttingen 2018 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 22), S. 191–208, hier S. 199. 16 Maximilian an Margarete von Österreich, o. O., 23. März 1511. LE GLAY, ANDRE JOSEPH GHISLAIN: Correspondence de l’Empereur Maximilien Ier et de Marguerite d’Autriche, sa fille, gouvernante des PaysBas, de 1507 à 1519, Paris 1839, Bd. 2, Appendice Nr. 2. 17 Richardi Bartolini Perusini Oratio ad. Imp. Caes. Maximilianum Aug. ac potentis. Germaniarum Principes de expeditione contra Turcas suscipienda, Augustae Vindelicorum 1518, o. S. (VD16 B 570).

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gehörte, spricht etwa in einer gedruckten Ablasspredigt durchgehend vom Thurcus.18 Der Mailänder Exilant Galeazzo Maria Sforza di Melzo beklagte sich 1505 über den Verrat eines Begleiters während einer Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel, ad Turchum.19 Maximilian selbst warnte in einem Schreiben anlässlich des Reichstags in Augsburg 1518 vor der wachsenden Macht des Sultans: [D]er Türckh regiert und besitzet auff disen tag alles Asia, [...] und ein grossen teyl in Europa.20 Etwas häufiger begegnet der explizite Tyrannis-Vorwurf am Hof Maximilians erst mit der Regierungsübernahme Selims I. In einer Instruktion an die kaiserlichen Gesandten bei den Eidgenossen von 1513 etwa ist die Rede davon, dass man sich nach dem Tod des alten Tuerckischen Kaysers, also Bayezids II., nun besonders um ein gemeinsames Vorgehen der Christenheit gegen die Türken bemühen müsse, denn Bayezid habe einen muetwilligen Tyrannischen Sun hinterlassen, von dem eine große Bedrohung ausgehe.21 Ebenso kommt in einem Schreiben von 1515, mit dem Maximilian bzw. sein Sekretär Jacopo de Banissis das Bündnis mit dem Papst gegen die Osmanen ankündigte, mehrmals das Wort Tyrannus in verschiedenen Schreibweisen vor.22 In diesem Fall ist das aber eher dadurch zu erklären, dass sich die kaiserliche Kanzlei an den Sprachgebrauch der Kurie anpasste. Außerdem bezeichnet Banissis den Sultan auch zweimal ganz neutral und nicht weiter wertend als Rex.23 Eine Kuriosität bildet der ›türkische Kaiser‹, der real am Hof Friedrichs III. und in dessen ersten Regierungsjahren auch noch an jenem Maximilians anwesend war. Es handelt sich um einen osmanischen Thronanwärter, der Mitte der 1450er-Jahre zunächst an der Kurie in Rom nachgewiesen ist. 1456 berichtete der Mailänder Gesandte Calcaterra von einem achtjährigen kleinen Türken (turchetto), der am päpstlichen Hof lebe. Dieser Knabe, angeblich ein Halbbruder Mehmeds II., sei auf abenteuerlichen Wegen nach Rom gelangt. Dort wurde er von Calixt III. aufgenommen und getauft. Dem Papst zu Ehren nahm er dessen Namen an und wurde als Calixtus Ottomanus bekannt, nannte sich aber auch Bajesit Osman.24 Später tauchte er abwechselnd am Hof Friedrichs III. und des Matthias Corvinus auf. Selbstbewusst bezeichnete er sich auf seinem || 18 Raimund Peraudi: Ad reverendissimos et Illustrissimos Sacri Romani Imperii Senatores Nurenberge commorantes oratio, o. O. [1501] (VD16 P 1334). 19 Galeazzo Maria Sforza an Maximilian, Straßburg, 6. Mai 1505. Wien, Haus-, Hof und Staatsarchiv (im Folgenden HHStA), Max. 15, Konv. 2, fol. 33. Zu dieser Gesandtschaft, die Konstantinopel höchstwahrscheinlich nie erreichte, vgl. NASCHENWENG, HANNES P.: Beiträge zur Geschichte der Diplomatie und des Gesandtschaftswesens unter Maximilian I. 1500–1508, Diss. Graz 1978, Bd. 2, S. 97. 20 Maximilian an den Rat von Frankfurt, Augsburg, 9. August 1518. JANSSEN (Anm. 12), Nr. 1185. 21 Instruktion Maximilians an Hans von Königseck, Ulrich von Habsperg und Wilhelm von Reichenpach, Speyer, 18. Juni 1513. HHStA, Max. 29, Konv. 2, fol. 158–65, hier fol. 158v. 22 Mandat Maximilians I., Innsbruck, 1. März 1515. AAV, Misc. Arm. VI, Tom. 39, fol. 159r–69r, hier fol. 160r, 162r, 164r, und 166v. 23 Ebd., fol. 160r und 165r. 24 Vgl. BABINGER (Anm. 10), S. 356–61. Dort findet sich auch eine vollständige Edition des Gesandtenberichts.

360 | Markus Debertol Siegel als Bajsit Ottman Turcorum Imperator.25 Bei Friedrich III. kam ihm im Rahmen des Zusammentreffens mit Karl dem Kühnen von Burgund in Trier 1473 eine besondere zeremonielle Rolle zu. Während des Festmahls reichte er Friedrich das Wasser und setzte sich dann an einem nachgeordneten Platz an die Tafel.26 Damit machte sich der türkische Kaiser symbolisch zum Diener des römischen, und Friedrich brachte dem real mächtigeren Burgunderherzog gegenüber seine universale Stellung als höchster Fürst nicht nur der Christenheit, sondern sogar darüber hinaus zum Ausdruck. Am 13. April 1491 befahl Maximilian der Innsbrucker Kammer, Calixtus Ottomanus 60 fl. Rh. für Reisekosten auszuzahlen, denn: Wir haben dem Turgkischen Kayser geschriben sich gen Lynntz zufuegen.27 Die Kanzlei verwendete den Kaisertitel hier also ganz selbstverständlich für eine Person, die zu diesem Zeitpunkt in der Realität nichts anderes war als ein kleiner Grundherr in Niederösterreich. Im Gegensatz zur zweifelhaften Herkunft des Calixtus Ottomanus steht die königliche Abstammung des Prätendenten Dschem Sultan außer Frage. Er war nach dem Tod seines Vaters Mehmed II. seinem Bruder Bayezid im Kampf um den Thron unterlegen und floh in den Westen. Ab 1489 lebte er in Rom und wurde erst von Innozenz VIII., dann von Alexander VI. als Geisel und Faustpfand gegen Bayezid benutzt, der eine jährliche Abgabe an den Papst zahlte, damit sein Bruder in Italien festgehalten wurde.28 Wie Calixtus Ottomanus am Kaiserhof wurde Dschem am Papsthof ins Zeremoniell eingebunden. In seinem Diarium nennt ihn Johannes Burckard üblicherweise den frater des Turcus bzw. des magnus Turcus29 – mit einer Ausnahme: Bei einem Ausritt am 4. März 1493 ritten dem Papst sein Sohn Juan Borgia und Dschem voran, der bei dieser Gelegenheit Magnus Turcus genannt wird.30 Ähnlich wie Friedrich III. in Trier ließ hier also auch Alexander VI. einen zum Sultan erklärten Prätendenten eine zwar ehrenhafte, aber untergeordnete Rolle in seinem Hofstaat einnehmen, um so das eigene Prestige zu steigern. Wie anders aber der Sprachgebrauch in Rom war, zeigt sich im direkten Vergleich der Quellen zur erwähnten Gesandtschaft des Andreas Grecus. Viele Details zu diesem Ereignis sind uns nur aus den Berichten Leonello Chieregatis, des päpstlichen Legaten am Hof Maximilians, bekannt. Während Schriftstücke aus dem Umfeld des römischen Königs den Kaisertitel für den Sultan aber wie oben gezeigt ganz selbstverständlich

|| 25 Vgl. BABINGER (Anm. 10), S. 378. 26 Vgl. ebd., S. 372. 27 Instruktion Maximilians an die Innsbrucker Kammer, Nürnberg, 13. April 1491. HHStA, Max. 1, Konv. 7, fol. 25. 28 Zu Dschems Aufenthalt in Rom vgl. VON PASTOR, LUDWIG: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 3: Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance von der Wahl Innozenz’ VIII. bis zum Tode Julius’ II., Erste Abteilung: Innozenz VIII. und Alexander VI., Freiburg i. Br./Rom 1955, S. 264–76 und 418f. 29 BURCKARD (Anm. 4), Bd. 1, S. 252, 254, 264 und 418. 30 Ebd., Bd. 1, S. 404f.

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akzeptierten, bleibt der Grieche Andreas in Chieregatis Briefen nach Rom immer der orator Turcorum Tyranni.31 Die zum Topos geronnene Stigmatisierung des Sultans als Tyrann verstärkte die weiteren negativen Stereotypen der Türken als ein extrem gewaltbereites, den Christen feindlich gesinntes und ständig nach militärischer Expansion trachtendes Kollektiv, an dessen Spitze der Großtürke als Gewaltherrscher stand. Diese für die Zeitgenossen unmittelbar einsichtigen Assoziationen wurden häufig in der politischen Kommunikation nach außen genutzt. Das zeigt sich etwa in diplomatischen Verträgen, in denen der ›türkische Tyrann‹ immer wieder dann auftaucht, wenn die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen den Bündnispartnern zum Wohl der Christenheit betont werden soll. Das formelle Bündnis Leos X. mit Maximilian von 1515 etwa richtete sich laut dem Vertragstext gegen den Turcarum Regem, seu Tyrannum.32 In eine ähnliche Stoßrichtung zielten Instruktionen an päpstliche Legaten, die christliche Herrscher und andere Autoritäten davon überzeugen sollten, eine gemeinsame Anstrengung zum Kampf gegen die Osmanen zu unternehmen. Als Kardinal Raimund Peraudi Ende 1500 als Ablasslegat im Reich Gelder für den Türkenkreuzzug sammeln sollte, wurde der Feind, gegen den er zu predigen hatte, in der Instruktion eindeutig charakterisiert: Turcarum Tyrannus immanissimus et Christiani sanguinis sitibundus (»der grausame und nach christlichem Blut dürstende Tyrann der Türken«).33 Das Adjektiv immanis mit seinem relativ breiten Bedeutungsrahmen – es kann neben ›grausam‹ auch ›gewaltig‹, ›furchtbar‹ und Ähnliches bedeuten – gehört ebenso wie die Bezeichnung tyrannus zum Standardvokabular, das im Zusammenhang mit dem Sultan immer wieder auftaucht. Insgesamt ergibt sich das Bild einer übermächtigen Bedrohung durch die meist nicht weiter differenzierte Masse der ›Türken‹, unter der Führung des ›Tyrannen‹. Dieses wurde durch die zahlreichen Hilferufe christlicher Staaten verfestigt, die in der päpstlichen Kanzlei eintrafen. Dabei stechen vor allem die Briefe der Großmeister des Johanniter-Ritterordens auf Rhodos hervor. In einem Schreiben vom 17. Juni 1522, knapp ein halbes Jahr vor der türkischen Eroberung der Insel, warnte der Großmeister Philippe de Villiers zum wiederholten Mal, dass der Orden einem Angriff des || 31 Z. B. in Leonello Chieregati an Alexander VI., Telfs, 25. Juli 1497. BNM, Lat. XIV 99 (4278), fol. 50–52, hier fol. 50r. RI XIV,2, Nr. 5109. 32 AAV, Misc., Arm. II., Tom. 23, fol. 70r. Eine weitere Abschrift des Textes liegt in HHStA, Max. 40, Konv. 3, fol. 355–58. 33 Instruktion an Raimund Peraudi, Rom [wahrsch. November 1500]. AAV, Misc. Arm. II, Tom. 30, fol. 151r–56v, hier fol. 151v. Eine weitere Abschrift findet sich in Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana (BAV), Urb. lat. 864, fol. 203r–11v; im selben Band überliefert ist auch eine inhaltlich weitgehend übereinstimmende Instruktion an Pietro Isvalies, der als Ablasslegat nach Ungarn und Polen geschickt wurde (fol. 186v–203r). Allgemein zu Peraudis Legation zuletzt KÜHNE, HARTMUT: Raimund Peraudi und der Türkenkreuzzugsablass in Deutschland. Zwei unbekannte Drucke, in: BÜNZ, ENNO/ KÜHNE, HARTMUT (Hrsg.): Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung »Umsonst ist der Tod« (Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 50), Leipzig 2015, S. 429–70.

362 | Markus Debertol Turcorum Tyranni nicht werde standhalten können.34 Die Bedrohung und schließlich der Verlust von Rhodos scheinen wesentlich dazu beigetragen zu haben, dass sich im zweiten und dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts die Furcht vor den Osmanen in Rom noch verstärkte. Der ›türkische Tyrann‹ war in diesem Zeitraum immer häufiger Thema im Konsistorium. Am 16. März 1523 brachten einige Kardinäle die Meinung zum Ausdruck, dass man Geldmittel nicht nur für die Verteidigung, sondern auch für einen offensiven Feldzug contra Tyrannum ipsum Turcharum beschaffen müsse.35 Man fürchtete nämlich allgemein, dass der Tyrannus Turcarum nun auch eine Invasion Italiens in Angriff nehmen könnte, nachdem er Belgrad und Rhodos eingenommen hatte.36 Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen; tatsächlich gab es in den Jahren um 1520 kaum ein Konsistorium, in dem das Türkenthema nicht zumindest angeschnitten wurde.37 Die Wahrnehmung des Sultans als Tyrann war also nicht ausschließlich nach außen gerichtetes Propaganda-Instrument, sondern taucht in erstaunlich hoher Frequenz auch in den vertraulichen Besprechungen des innersten Machtzirkels auf. Es ist auch keine irgendwie geartete bewusste Instrumentalisierung der damit verbundenen Konnotationen erkennbar, vielmehr scheint der Tyrannen-Begriff mit großer Selbstverständlichkeit und relativ unreflektiert gebraucht worden zu sein. Das wirft die Frage auf, ob die Beobachtung, dass er in der Häufigkeit verwendet wurde, die man anhand der hier angeführten Beispiele sehen kann, überhaupt weitergehende Schlüsse zulässt. Um diese Frage beantworten zu können, ist ein kleiner Exkurs notwendig: In welchen Kontexten abseits der osmanischen Bedrohung ist der Vorwurf der Tyrannei am päpstlichen Hof noch zu finden? Dieser war nämlich bei weitem nicht dem osmanischen Sultan vorbehalten. Vereinzelt taucht er in römischen Quellen auch für andere muslimische Herrscher und Kollektive auf. So stellte etwa der Humanist Paolo Pompilio seinem Versepos De Triumpho Granatensi von 1490, in dem er die Eroberung der Stadt Baza durch Ferdinand von Aragon im Jahr zuvor panegyrisch überhöhte, eine Widmung voran, in der die Sarazenen mit Tyrannei assoziiert werden.38 1511 beglückwünschte Julius II. Ferdinand von Aragon dafür, dass er die nordafrikanischen Städte Oran, Bugia (heute Bejaia in Algerien) und Tripolis a Mahometana tyrannide (»von der mohammedanischen Tyrannei«) befreit habe.39

|| 34 Philippe de Villiers an Hadrian VI., Rhodos, 17. Juni 1522. AAV, Segr. Stato Principi 1, fol. 3. 35 AAV, Arch. Concist., Acta Vicecanc. 2, fol. 225v. 36 Ebd., fol. 226r. 37 Vgl. dazu die Konsistorialakten im Vatikanischen Apostolischen Archiv, vor allem AAV, Arch. Concist., AM; Tom. 3; AAV, Misc. Arm. XII, Tom. 223; AAV; Arch. Concist., Acta Vicecanc, Tom. 2; AAV, Arch. Concist., Acta Miscell., Tom. 31. 38 BAV, Vat. lat. 2222, fol. 29v. Das Gedicht ist dem späteren Kardinal Bernardino de Carvajal, damals Gesandter der Spanischen Könige in Rom, gewidmet und wurde wohl noch 1490 bei Eucharius Silber in Rom gedruckt (GW M34840). 39 Breve Julius’ II. an Ferdinand von Aragon, Ostia, 24. November 1511. AAV, A.A., Arm. Inf. I-XVIII, 2050.

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Der Tyrannei-Vorwurf gegen muslimische Herrscher abseits des Osmanen-Sultans ist aber eher die Ausnahme. Besonders anschaulich wird das in einer Reihe von Briefen in der Folge der Schlacht bei Tschaldiran 1514, in der Sultan Selim I. den persischen Safawidenherrscher Ismail I. entscheidend schlug. Viele Zeitgenossen hatten in Ismail nach dessen Aufstieg zur Macht einen potenziellen Verbündeten gegen die osmanische Bedrohung gesehen. Dazu hatte die offene Feindschaft beigetragen, die der Safawide, der seine Herrschaft im schiitischen Islam begründete, den sunnitischen Osmanen gegenüber erkennen ließ.40 Die Nachricht von seiner Niederlage wurde in Rom entsprechend mit großer Sorge und Enttäuschung aufgenommen, bedeutete sie doch nicht nur einen weiteren Ausbau der Machtbasis der Türken, sondern auch die Sicherung von deren Ostflanke, weshalb sie wieder Eroberungen im Westen ins Auge fassen konnten. Die Notwendigkeit, innerhalb der Christenheit Frieden zu schaffen, wurde dadurch in den Augen der Kurie noch akuter. In einem an Kardinal Matthäus Schiner adressierten Breve ist von Magni Turcarum tiranni victoria contra Ismaelem, nuncupatum Sophi (»dem Sieg des Großen Tyrannen der Türken gegen Ismail, der Sophi genannt wird«) die Rede.41 An Ennio Filonardi, den päpstlichen Legaten in der Schweiz, erging ein Schreiben, in dem Leo X. diesen über Berichte vom novo successu et prosperitate tyranni Turcarum (»neuen Erfolg und Glück des Tyrannen der Türken«) informieren ließ.42 Es fällt in diesen und ähnlichen Briefen auf, dass Ismail in offensichtlichem Kontrast zu Selim eben nicht Tyrannus ist, sondern mit der zeittypischen verballhornten Form von Safawi, dem Namen seiner Dynastie, bezeichnet wird. Auch der bereits erwähnte Bündnisvertrag zwischen Leo X. und Maximilian unterscheidet den Sophy klar vom Tyrannus.43 Aber auch gegen Christen konnte sich der Vorwurf der Tyrannei richten. Im Geschichtswerk des päpstlichen Sekretärs Sigismondo dei Conti da Foligno taucht der Tyrannus Turcorum44 ebenso auf wie einheimische, italienische Tyrannen. Letztere sind in diesem Fall, typisch für einen Parteigänger Julius’ II., die Signori der Städte in

|| 40 Zur Wahrnehmung Ismails in Europa vgl. MESERVE, MARGARET: The Sophy. News of Shah Ismail Safavi in Renaissance Europe, in: Journal of Early Modern History 18 (2014), S. 579–608. 41 Die Kombination der Bezeichnungen Magnus Turcus und Tyrannus Turcarum ist ein Einzelfall, der sonst kaum vorkommt. Leo X. an Matthäus Schiner, Rom, 4. November 1514. AAV, Arm. XLIV, Tom. 5, fol. 204v; vgl. Korrespondenzen und Akten zur Geschichte des Kardinals Matth. Schiner, hrsg. von ALBERT BÜCHI, Bd. 1, Basel 1920, Nr. 415. BÜCHI schreibt tirranni statt tiranni. Sein dem Quellentext vorangestelltes Kurzregest gibt den Inhalt des Breves fälschlicherweise als Bericht von einer türkischen Niederlage wieder. 42 Leo X. an Ennio Filonardi, Rom, 3. November 1514; Acten über die diplomatischen Beziehungen der römischen Curie zu der Schweiz 1515–1522, hrsg. von CASPAR WIRZ, Basel 1895 (Quellen zur Schweizer Geschichte 16), Nr. 15. 43 AAV, Misc. Arm. II, Tom. 23, fol. 70r–86r, hier fol. 70r–70v. 44 Sigismondo dei Conti da Foligno: Le Storie de’ suoi tempi. Dal 1475 al 1510. Ora la prima volta pubblicate nel testo latino con versione italiana a fronte, Bd. 2, Roma 1883, S. 92.

364 | Markus Debertol der Romagna, die ihre Abhängigkeit vom Kirchenstaat lockern wollen.45 Ein ähnliches Bild liefert ein Schreiben vom 1. Juli 1509, in dem Julius den Dogen von Venedig davor warnt, seiner Forderung nach Rückgabe der Städte in der Romagna, die die Republik seit dem Zusammenbruch der Macht Cesare Borgias besetzt hielt, nicht nachzukommen. Als warnendes Beispiel dient der ehemalige Herr von Bologna, Giovanni Bentivoglio, von dessen tyrannica oppressione Julius die Stadt befreit habe.46 Ausführender Sekretär des Schriftstücks war wiederum Sigismondo dei Conti. Die Befreiung Bolognas von der angeblich tyrannischen Bentivoglio-Herrschaft ist ein Leitmotiv in Julius’ Propaganda, findet sich aber auch mehrmals im Tagebuch seines Zeremonienmeisters Paride de’ Grassi, also einem Text, der zwar für den internen Gebrauch an der Kurie bestimmt war, nicht aber für eine breitere Veröffentlichung. Grassi nennt Bentivoglio einen hostem Papae et tyrannum Bononiae (»Feind des Papstes und Tyrannen Bolognas«).47 Der Autor selbst stammte aus einer aufstrebenden Bologneser Familie, er und seine beiden Brüder Agamemnon und Achille ergriffen im Konflikt zwischen Julius und Bentivoglio für den Papst Partei. Die Abneigung, die Paride in seinem Tagebuch gegen die Bentivoglio immer wieder erkennen lässt, lässt sich zum Teil mit dieser Parteinahme erklären.48 Grassi berichtet auch von den Triumphbögen, die bei Julius’ Rückkehr von seinem erfolgreichen Feldzug nach Bologna in Rom errichtet wurden. Eine von deren Inschriften war etwa dem Papst als Tyrannorum Expulsori (»Vertreiber der Tyrannen«) gewidmet, eine andere feierte, dass Bononia a tyrannide liberata (»Bologna von der Tyrannei befreit«) worden sei.49 Wenn es politisch opportun erschien, warf Julius II. auch den republikanisch verfassten Venezianern Tyrannei vor, so in einem Breve an König Sigismund von Polen. Darin wird als ein Grund für die Verzögerung des Kreuzzugs gegen die Türken die Weigerung der Serenissima genannt, Städte in der Romagna, die sie tirranice besetzt halte, an den Kirchenstaat zurückzugeben.50 Ähnliches tat auch Maximilian während des großen Venezianerkriegs ab 1508. Mit drei Flugblättern in Briefform, die an das Volk von Venedig adressiert und wohl von kaiserlichen Agenten in der Lagunenstadt verbreitet wurden, versuchte er, im feindlichen Lager Zwietracht zu säen. Inhaltlich wenden sich diese Schreiben an den Teil des venezianischen Adels, der angeblich illegitimer Weise von der Macht ausgeschlossen war. Ihm verspricht Maximilian Be-

|| 45 Vgl. Conti da Foligno (Anm. 44), S. 227. 46 Monitorium Julius’ II. an die Venezianer, Rom, 1. Juli 1509. AAV, A.A., Arm. Inf. I-XVIII, 834, S. 17–20, hier S. 17. 47 Paride de’ Grassi: Le due spedizioni militari di Giulio II, hrsg. von LUIGI FRATI, Bologna 1886, S. 70. 48 Zum Aufstieg der de’ Grassi unter Julius II. vgl. DESILVA, JENNIFER MARA: Official and Unofficial Diplomacy between Rome and Bologna. The de’ Grassi Family under Pope Julius II, 1503–1513, in: Journal of Early Modern History 14 (2010), S. 535–57. 49 Grassi (Anm. 47) S. 87. 50 Breve Julius’ II. an Sigismund I. von Polen, Rom, 28. Juli 1509. AAV, Arm. XXXII, Tom. 21, fol. 211v– 12v, hier fol. 212r.

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teiligung an der Herrschaft, nachdem sich die Markusrepublik dem Reich unterworfen habe; er selbst sei nämlich ein gemäßigter Herrscher, der jedem lasse, was ihm zustehe, ne sia oppresso dala Tirannyde deli signorizzanti (»damit er nicht von der Tyrannei derer, die sich anmaßen, Herren zu sein, unterdrückt werde«).51 Allen diesen Beispielen für den Gebrauch des Tyrannis-Begriffs ist eines gemeinsam: Diejenigen, die sich des Begriffs bedienten, wollten damit Herrschaft als illegitim stigmatisieren und ihr so die Grundlage entziehen. Willkür und übertriebene Gewalt, also zwei Attribute, die tyrannischer Herrschaft üblicherweise zugeschrieben werden, spielten dabei nur eine untergeordnete Rolle. Sie sind zwar häufige, aber nicht unbedingt notwendige Merkmale. Dadurch erklärt sich auch, dass die Kurie vor allem den osmanischen Sultan und in geringerem Maße die Mauren-Herrscher auf der iberischen Halbinsel und in Nordafrika als Tyrannen wahrnahm, während andere muslimische Monarchen von dieser Zuschreibung weitgehend verschont blieben. Sowohl die Osmanen als auch die spanischen Mauren standen in direktem Konflikt mit christlichen Mächten und bedrohten damit in der Wahrnehmung der Zeitgenossen die Christenheit. Außerdem beherrschten sie Gebiete oder hatten Gebiete beherrscht, die die Kurie als Teil der Christenheit sah; Herrschaft von ›Ungläubigen‹ über Christen war per se illegitim und damit tyrannisch. Im Fall der Osmanen kam noch dazu, dass Mehmed II. den Titel eines römischen Kaisers geführt hatte.52 Zwar übernahm sein Sohn Bayezid II. diese Praxis nicht; das Stereotyp des Türken als Usurpator scheint aber bereits ausreichend verfestigt gewesen zu sein, um auch ohne dieses Skandalon weitertradiert zu werden. Tyrannisch war also immer die Gruppe, mit der man im Konflikt stand, sei es inner- oder außerhalb der großen Eigengruppe der Res publica christiana. Der Tyrann war in der Regel derjenige, der Kirche und Christenheit in ihren Rechten bedrohte – das hatten Osmanen, Mauren und italienische Stadtherren gemeinsam. Welche Schlüsse lassen sich aus den gezeigten Unterschieden im Sprachgebrauch ziehen? Das grundsätzliche Bild der Osmanen und damit auch der Sultane war an beiden behandelten Höfen ein zutiefst negatives, es unterschied sich aber in Nuancen: In Rom wurde der religiöse Feind tendenziell stärker dämonisiert, der allgegenwärtige Tyrannis-Vorwurf passt in dieses Schema. Es stellt sich nun aber die Frage, warum das Umfeld Maximilians I. keine Scheu davor hatte, den Sultan Kaiser zu nen-

|| 51 Maximilian an das Volk von Venedig, Augsburg [1510]. Relazioni degli Ambasciatori Veneti al Senato durante il Secolo Decimosesto, hrsg. von EUGENIO ALBÈRI Serie 1, Bd. 6, Florenz 1862, S. 61–65, hier S. 62. Zu den drei Flugblättern und vor allem dem intendierten Rezipientenkreis vgl. LUTTER, CHRISTINA: »An das Volk von Venedig!«. Propaganda Maximilians I. in Venedig, in: HRUZA, KAREL (Hrsg.): Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), Wien 2002 (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 6), S. 235–53. 52 Vgl. SOYKUT, MUSTAFA: Mutual Perceptions of Europe and the Ottoman Empire, in: HELMRATH, JOHANNES [u. a.] (Hrsg.): Maximilians Welt. Kaiser Maximilian I. im Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition, Göttingen 2018 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 22), S. 139–58, hier S. 140.

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nen. Am Hof Maximilians scheint zumindest ansatzweise die Bereitschaft vorhanden gewesen zu sein, den Sultan als einen Gegner auf Augenhöhe anstatt nur als wilden Barbaren zu sehen. In burgundisch-ritterlicher Tradition ließ er Bayezid II. einen Entscheidungskampf zwischen den beiden Kaisern bzw. ausgewählten Kämpfern anbieten. Ob ernst gemeint oder nicht, ein ähnliches Angebot eines Papstes ist kaum vorstellbar – und das liegt nicht daran, dass die Kurie grundsätzlich unkriegerisch gewesen wäre, man denke nur an Julius II. Einem Papst stand im Gegensatz zum Kaiser die Möglichkeit nicht offen, in eigener Person zu einem wie auch immer gearteten Zweikampf anzutreten, der grundsätzliche Unwille, die Osmanen als gleichrangige Gegner zu sehen, machte aber selbst den Gedanken an ein nicht persönlich, sondern zwischen Stellvertretern ausgefochtenes Duell unmöglich. Die Osmanen blieben in der römischen Wahrnehmung immer Eindringlinge und Usurpatoren, auch wenn es regelmäßig diplomatische Kontakte gab und der reale Umgang mit dem Osmanischen Reich trotz aller Feindbilder ein pragmatischer war. Am Hof Maximilians verhielt es sich grundsätzlich ähnlich; allerdings war der Aspekt der Delegitimation viel weniger stark ausgeprägt. Es bleibt die Frage, inwieweit die Unterschiede in der Benennung des Sultans damit zu tun hatten. Es wäre wohl zu weit gegriffen, eine simple Kausalität anzunehmen: Weder war der unterschiedliche Sprachgebrauch für die leicht divergierende Wahrnehmung des Sultans verantwortlich, noch lässt sich umgekehrt der divergierende Sprachgebrauch mit der unterschiedlichen Wahrnehmung erklären. Es ist von einer Wechselwirkung auszugehen. Wenn Maximilian, sein höfisches Umfeld und offenbar auch die Reichsfürsten bis zu einem gewissen Grad dazu bereit waren, den Sultan als gleichwertigen Feind zu sehen, dann wurde das sicherlich dadurch begünstigt, dass es sich seit einem knappen Jahrhundert eingebürgert hatte, ihn als einen Kaiser zu akzeptieren. Weil dieser Kaiser ein Heide war, bedrohte er auch nicht den Status des römischen Kaisers als des höchsten Monarchen der Christenheit; in dieser Hinsicht waren die imperialen Ambitionen der französischen Valois tatsächlich gefährlicher. Dazu kommt die Selbstwahrnehmung nach den Leitlinien ritterlicher Ideale, wie sie nicht nur für Maximilian selbst, sondern auch für sein Umfeld typisch ist; für das damit einhergehende Verständnis von Ehre war ein gleichrangiger Feind erstrebenswert. Auch in Italien und vor allem in Rom scheinen sich Sprache und Wahrnehmung gegenseitig bedingt zu haben. Ausgehend vom Stereotyp der übermächtigen, grausamen Türken, die für Italien zunächst eine wesentlich direktere Bedrohung darstellten als für das Reich nördlich der Alpen, wurde ›Tyrann‹ zur Standard-Bezeichnung für deren Herrscher, dem damit auch ganz grundsätzlich die Legitimität abgesprochen wurde. In beiden Fällen haben wir es also mit einem Feindbild zu tun, das sich aber in seiner konkreten Ausformung unterscheidet.

Alexander Jendorff

Der Tyrannei-Begriff als Argument in der Rechtspraxis des 16. Jahrhunderts Politisch-soziale Stigmatisierung und juristische Figurierung anhand der Causa Wintzingerode 1575 Der Tyrannei-Begriff bzw. der Tyrannei-Vorwurf hat seinen festen Platz im politischmoralischen Vokabular des 15. bis 17. Jahrhunderts. Abgesehen von den humanistischen Publikationen gilt dies insbesondere für seine Verwendung während der Reformation und des niederländischen Unabhängigkeitskrieges, in deren Kontexten umfangreiche Unterdrückungsanalysen und Befreiungsnarrative entstanden, die den Antagonismus zwischen der katholisch-spanischen Dunkelheit und den hell-strahlenden Freiheitswelten der protestantischen Wahrheiten profilierten. Unzählige propagandistische Pamphlete, politisch-ethische Abhandlungen, historiographische Darstellungen und juristische Traktate entstanden hierzu mit je spezifischen Zielsetzungen. Bei solcher Verwendung für die große politische Bühne blieb es allerdings nicht. Vielmehr sickerte die argumentative Verwendung des Tyrannen-Motivs in andere Bereiche des Politischen und mit ihm in die juristisch-judizielle Praxis ein. Die Kontrahenten der konfessionspolitischen Konflikte im Heiligen Römischen Reich, zumal wenn sie von Adel waren, kamen beispielsweise selten ohne die Bemühung solcher Bilder oder wenigstens deren unterschwellige Andeutung aus. Daher soll im Folgenden anhand eines reichlich provinziellen Fallbeispiels, das allerdings äußerst prominente Akteure kannte, die Tiefe, Intensität und Qualität des begrifflichen und inhaltlichen Infiltrationsprozesses aufgezeigt werden. Um es analytisch vorwegzunehmen: Der Tyrannen-Vorwurf stellte kein selbstständiges Argument oder gar einen Straftatbestand dar, sondern lediglich ein – wenn auch wirkmächtiges – Stimulans, das zur Verstärkung der juristischen Argumentation und Rechtfertigung politisch-herrschaftlicher Handlungen diente. Weil es sich um ein selbstverständliches Instrument der Rechtspraxis handelte, muss es das Ziel sein, die konkrete terminologische Verwendung und Bedeutung in der juristischen Praxis wie auch in der Theorie – also in der Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik – aufzuzeigen.

|| Dieser Beitrag, zu dem ich von meinem geschätzten Kollegen Stefan Tebruck ermuntert wurde, stellt eine auf die Tagungskonzeption fokussierte Version mancher bereits erschienener Studien zur Causa Wintzingerode dar. – Folgende Siglen werden verwendet: Landesarchiv Sachsen-Anhalt: LASA; Österreichisches Staatsarchiv Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Reichshofrat, Alte Prager Akten: ÖStA HHStA, RHR, APA; Bayerisches Staatsarchiv Würzburg: StAWü. https://doi.org/10.1515/9783110752373-017

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1 Tyrannen-Dämmerung und die Kreation eines Narrativs Nachdem am Tag der Apostelfürsten 1574 der Bodenstein – die Stammburg des eichsfeldischen Adeligen Barthold von Wintzingerode (1505–1575) – gestürmt worden war, wusste der Provinzial der rheinischen Jesuitenprovinz, Pater Hermann Thyraeus, wenige Wochen später in einem emotionalen Schreiben einem Ordensbruder in Rom über die Vorgänge ausführlich Folgendes zu berichten: Fuit patria haec quoque liberata magno tyranno per Rmum archiepiscopum nostrum. Nam postquam mulierem illam subditam huius tyranni liberasset christus salvator per patrem Lodovicem in die Sancti Petri et Pauli, Rmus media nocte armata manu per suos ministros (domi enim solus remanens princeps Domino commendabat, et nos monebat quo rem, quam occulto et nocturno tempore tentarat, etiam precibus nostris domino commendaremus, etiam ut sine sanguinis effusione suum sortiretur effectum) arcem quandam invasit, atque nobilem potentem multorum facinorum perpetratione celebrem, et imperatori, principibus nobilibus, et maxime subditis ingratissimum virum una cum omnibus ministris coepit, quem postea cathenis ferreis ligatum misit ad arcem, quam in Steiorem habet, patria universa triumphum cantante. Nam adeo infensi illi omnes erant, ut in minutissimas partes eum viri nobiles et ignobiles distraxissent manibus suis, nisi militum equitumque armatorum potestas furorem eorum repressisset, quae res magnam Rmo archiepiscopo et benevolentiam apud omnes conciliavit, et impiis malisque terrorem incussit, quia iam conati fuerant, et alii domini eundem capere, sed non potuerant, nec erat qui posset eum compescere. Nunc enim dicebat, se Saxoniae ducibus subici, nunc Moguntino, nunc aliis, atque ita impune quasi sine magistratu vivens cunctis nocebat. Nomen eius fuit Beltoldus Von Wintzingerodt. Habuit plurimos equites captivos. Dimiserunt, quos in eius arce detinebat, qui postea in curru propter compedes carceris flexis genibus publice venerunt Heiligenstadium, et inspectante laetanteque omni populo gratias pro liberatione Rmo principi egerunt. Adeo haec 1 me misericordiae opera commoverunt, ut lachrymis me cohibere non possem. Auch ist dieses Land durch unseren ehrenwerten Erzbischof von einem bedeutenden Tyrannen befreit worden. Denn nachdem Christus der Retter durch Pater Ludwig jene unterdrückte Frau von diesem Tyrannen am Tage der Heiligen Petrus und Paulus befreit hatte, hat unser Gnädigster Herr bei Mitternacht mit bewaffneter Schar durch seine Diener die Burg angreifen lassen (er selbst nämlich blieb zuhause [in Heiligenstadt, A. J.] und vertraute auf den Herrn und ermahnte uns, die Sache, welche er insgeheim und nächtens in Angriff nahm, auch mit unseren Gebeten dem Herrn anzuvertrauen, auch damit seine Absicht ohne Blutvergießen vollzogen werde. Und so hat er den mächtigen, angesichts vieler verübter Verbrechen allseits bekannten Adeligen, einen sogar dem Kaiser, den Fürsten, den Adeligen und besonders den Untertanen äußerst lästigen Mann zusammen mit all seinen Dienern gefangengenommen und unter dem Triumphgesang des

|| 1 Die Nuntiatur-Korrespondenz Kaspar Groppers nebst verwandten Aktenstücken (1573–1576), hrsg. von WILHELM SCHWARZ, Paderborn 1898 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte 5), Nr. 145: Schreiben des P. Thyraeus an einen Ordensbruder in Rom vom 16. August 1574. Eigene Übersetzung. Zu den Abläufen und Hintergründen vgl. detailliert, sofern nicht anders angegeben, JENDORFF, ALEXANDER: Der Tod des Tyrannen. Geschichte und Rezeption der Causa Wintzingerode, München 2012 (Bibliothek Altes Reich 9).

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ganzen Landes später in eiserne Ketten gelegt auf eine Burg, welche er bei Steinheim [am Main, A. J.] besitzt, geschickt. Denn jenem gegenüber waren alle so feindselig eingestellt, dass ihn adelige wie nicht-adelige Männer mit ihren eigenen Händen in kleinste Teile gerissen hätten, wenn nicht die Macht der bewaffneten Soldaten und Reiter deren Toben Einhalt geboten hätte. Diese großartige Sache verband den ehrenwerten Erzbischof in Zuneigung mit allen und jagte den Gottlosen und Böswilligen Schrecken ein, weil auch andere Herren bereits versucht hatten, gerade diesen [Wintzingerode, A. J.] gefangen zu nehmen; aber sie hatten es nicht vermocht, und es gab niemanden, der diesen hatte bändigen können. Mal nämlich behauptete er, er sei den Fürsten von Sachsen unterworfen, mal dem Mainzer, mal anderen, und auf diese Weise schadete er, straflos ohne Obrigkeit lebend, allen. Dessen Name war Barthold von Wintzingerode. Er hatte sehr viele Reiter als Gefangene. Diejenigen, die er in seiner Burg festhielt, hat man entlassen, und sie sind später wegen der durch die Fußfesseln gekrümmten Knie öffentlich auf einem Karren nach Heiligenstadt gekommen; und während das ganze Volk zuschaute und sich freute, dankten sie dem verehrten Fürsten für ihre Befreiung. Diese Werke des Mitleidens bewegten mich so sehr, dass ich die Tränen nicht zurückhalten konnte.

Mit Christi Hilfe hatte demnach der Mainzer Kurerzbischof Daniel Brendel von Homburg (reg. 1555–1582) mit starker Heeresmacht unter Führung seiner Amtleute den Tyrannen gefangengenommen, hatte den wegen seiner Untaten bekannten, bei allen Mitmenschen gleich welchen Standes verhassten Adeligen zusammen mit seinen Schergen in Ketten nach Heiligenstadt – der kurfürstlichen Hauptstadt des Eichsfelds – geführt und vor der wütenden Menge schützen müssen, zumal sich Wintzingerode mit Verweis auf seine verschiedenen Lehensbindungen einem Prozess habe entziehen wollen. Mit seiner Befreiungsaktion habe der Kurfürst jedoch großes Mitleid mit dem hochemotionalisierten Volk gezeigt. Der Bericht des Provinzials wäre zweifellos noch verzückter ausgefallen, hätte er schon im Spätsommer 1574 gewusst, dass der Gefangene im Jahr darauf auf dem Mainzer Tiermarkt öffentlich hingerichtet und auf dem Friedhof des Agnes-Klosters verscharrt werden würde. Allen protestantischen Theoretikern einer jesuitischen Weltverschwörung zum Trotz – vor allem jenen aus dem Lager der adeligen Querdenker des Eichsfelds – ahnte Thyraeus allenfalls, was jenem Barthold von Wintzingerode bevorstehen sollte. Gleichwohl stellt sein Schreiben ein bemerkenswertes Dokument jesuitischer Propaganda in dieser Zeit dar, die sich nicht scheute, Wahres mit Halbwahrem oder gar Falschem zu vermischen und daraus einen brisanten Fake-newsCocktail zu machen. Abgesehen davon, dass solche Zeugnisse vor dem Hintergrund der Selbstrechtfertigungszwänge der oberrheinischen Patres gelesen werden müssen – ihre Rekatholisierungsbemühungen in Mainz wie auch auf dem Eichsfeld waren erst angelaufen und gestalteten sich zäh –,2 erscheinen viele Aussagen bemerkenswert: Das Lob auf den Kurerzbischof stellte eine völlige Umkehr jener jesuitischen Beurteilung dar, die ihn bis dahin eher als taktierenden princeps politicus, nicht als wagemutig|| 2 Vgl. JENDORFF, ALEXANDER: Reformatio Catholica. Gesellschaftliche Handlungsspielräume kirchlichen Wandels im Erzstift Mainz 1514–1630, Münster 2000 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 142), S. 103–07.

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zelotischen Bonifatius beschrieben und wegen der Protestanten in der kurfürstlichen Verwaltung, im Domkapitel und bei Hofe massiv kritisiert hatte;3 die Aussage, Wintzingerode hätte keinerlei Unterstützer gehabt und sei der gesamten Bevölkerung verhasst gewesen, ging an der Realität vorbei; und von den auf Burg Bodenstein eingekerkerten Rittern sowie dem Triumphzug in Heiligenstadt fehlt uns jede weitere gesicherte Nachricht. Das Narrativ aber stand im Raum: Der Mainzer Kurfürst hatte einen kühnen Befreiungsschlag durchgeführt, dem ein Enthauptungsschlag folgen sollte; ein schrecklicher Tyrann war beseitigt, das Land befriedet und dem wahren Glauben geöffnet, die kurfürstliche Autorität eindrucksvoll unter Beweis gestellt worden. Das jesuitische Narrativ sollte wirken, schon weil interessanterweise allerorten die fürstlich-protestantische Nachbarschaft des Reiches, die protestantische (Adels-)Opposition in jenem peripheren Stiftsgebiet der Mainzer und sogar die direkte Verwandtschaft des erbenlosen Barthold – also seine erbberechtigten Vettern Hans und Bertram – dazu schwiegen. Alle wussten, warum: Jeder war froh, dass der mittlerweile aus der Zeit gefallene Haudegen, der keinem Streit aus dem Wege gegangen war, der selbst als Siebzigjähriger Gewalt als übliches Mittel des Konfliktaustrags begriffen hatte und der auch eine politische Last darstellte, beseitigt war. Sein Justiztod mochte sich vielleicht sogar als Segen erweisen, wenn man ihn zum Konfessionsmärtyrer und Helden adeliger Freiheit gegen katholische Fürstenwillkür stilisierte. Doch das geschah bezeichnenderweise erst dreihundert Jahre später im zweiten Konfessionellen Zeitalter, als sich protestantische Wintzingerode-Sprösslinge und katholische Kleriker im Kulturkampf um die angemessene Interpretation und damit um die Frage der Deutungshoheit über die eichsfeldische Landesgeschichte bekriegten.4 Gleichwohl musste jenen Vertretern bei aller verschwiegenen Vorteilhaftigkeit die justizielle Entsorgung des Alten ein durchaus ambivalentes Ereignis sein: Würde der Mainzer Kurfürst bei seinen mittlerweile offenkundigen Rekatholisierungsbemühungen die Beseitigung dieses Störenfrieds als landespolitisches Signal verstanden wissen wollen? Würde er den Bodenstein – ein Mainzer Afterlehen aus der Konkursmasse der zum biologischen Untergang verdammten Hohnsteiner Grafen – den Wintzingeroder Vettern überlassen oder einziehen? Zumindest sie standen in den nächsten Jahren unter scharfer Beobachtung und

|| 3 Vgl. JENDORFF (Anm. 2), S. 61f., und DERS.: Der Mainzer Hofmeister Hartmut (XIII.) von Kronberg (1517–1591). Kurfürstlicher Favorit oder Kreatur des erzstiftischen Politiksystems?, in: KAISER, MICHAEL/ PEČAR, ANDREAS (Hrsg.): Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit, Berlin 2003 (ZHF, Beihefte 32), S. 39–57. 4 Vgl. KNIEB, PHILIPP: Geschichte der Reformation und Gegenreformation auf dem Eichsfelde, Heiligenstadt 21909, S. 135 mit Anm. 6; DERS.: Besprechung von WILHELM CLOTHAR FREIHERR VON WINTZINGERODE, Barthold von Wintzingerode. Ein Kultur- und Lebensbild aus dem Reformationsjahrhundert, Gotha 1907, in: Unser Eichsfeld 5 (1910), S. 166–74; VON WINTZINGERODE, WILHELM CLOTHAR: Barthold von Wintzingerode. Ein Kultur- und Lebensbild aus dem Reformationsjahrhundert, Gotha 1907, S. 202; JENDORFF (Anm. 1), S. 205–09.

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mussten sich bei manchem Grenzstreit vom kurfürstlichen Oberamtmann Lippold von Stralendorff (1545–1626) und von ihren adeligen Widersachern, also sowohl von einem jung-dynamischen Karriere-Konvertiten als auch von protestantischen Standesgenossen, nachsagen lassen, sie agierten keinesfalls besser als ihr renitenter Verwandter; mehr noch wusste Stralendorff, der 1574 die Anklage gegen Barthold akribisch vorbereitet hatte, fünf Jahre später so genervt wie genüsslich zu berichten, jeder habe sich mittlerweile schon über die Neuherren des Bodenstein so woll [wie schon über, A. J.] fast Bartolden seligen Irem vettern (bei dessen Lebens aber selbst geunpilliget) gleichfolglich beschwert,5 und nach Ansicht der Nachbarschaft hätten sich die Wintzingerode-Vettern nun Ipso facto des begangenen spolij theilhafftig gemacht vnd in Bartholß von Wintzingerodas fueß stapffen getretten sein.6 Dieser Satz stellte eine gefährliche Unterstellung dar, denn in diese soziale und zugleich juristische Ecke gestellt zu werden, war mehr als bedrohlich, zumal aus den Reihen der konfessionsverwandten Standesgenossen keine Unterstützung kam, so sehr man auch diesen Oberamtmann ob seiner juristischen Fähigkeiten und seiner Konfliktwilligkeit zu hassen lernte. So stand das Tyrannen-Narrativ weiterhin im Raum, auch wenn es im weiteren politischen Diskurs ungenutzt blieb. Selbst als die Konflikte zwischen Adel und Oberamtmann in den 1590er-Jahren völlig eskalierten, bediente sich niemand der BartholdGeschichte und der Tyrannen-Stilfigur, obwohl man Stralendorff als Friedensstörer brandmarkte und er gleiches seinen adeligen Widersachern vorwarf.7 Die Causa Wintzingerode ging jedoch nicht verloren. Sie fand ihren Eingang in die jesuitisch-katholische Stiftshistoriographie, wenn auch weniger dramatisiert und unter Verzicht auf eine Dämonisierung. Der an der Universität Mainz lehrende Jesuitenpater Nicolaus Serarius (1555–1609) war eher bemüht, gegen die eigenen katholischen Kritiker das Bild Daniel Brendels als eines gerechten Hirten zu entwerfen, und ordnete die Causa Wintzingerode als eine Nebengeschichte des vom Kurfürsten eingeleiteten Ordnungsund Rekatholisierungsprozesses ein. So hatten denn die entsprechenden Bemerkungen eher einen ironischen Unterton, wenn sie seine nobilitas mit seiner crudelitas in eins setzten und auf diese Weise die kurfürstliche Argumentationsstrategie während des Gerichtsverfahrens aufgriffen und dieses überhaupt erwähnten: Non deerat è nobilitate Bartholomaeus Wencierodus Lutheranus, cuius in quàmplurimos nobilitata erat caedibus, latrociniis, variisque sceleribus crudelitas. Multae illinc & graues assiduè afferebantur querelae. Tolli malum vix posse videbatur, nisi magno cum comitatu, bonisque viribus ipse adesset Archiepiscopus. Vt ouium igitur suarum, quà Ecclesiasticus, quà Politicus Princeps incolumitatem & salutem procuraret, illinc se maximo sumptu, in viam dedit. Sed ne

|| 5 LASA A 37a, Nr. 1235, fol. 4–6, Zitate fol. 4: Schreiben Stralendorffs an den Mainzer Kurfürsten vom 08.04.1579. 6 Ebd., fol. 8’. 7 Vgl. LASA Rep. Bodenstein Nr. 3552, fol. 3–7: Erwiderung der Landstände gegenüber dem Oberamtmann anlässlich des Landtags vom 5./15.05.1591.

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ferreo magis gladio & bombardâ, quam spiritu & lenitate armaretur, [...] Illum verò vt genere, sic & facinoribus multis nobilem Wencierodum cepit, Moguntiamque abduci curauit. Vbi tandem, post ferias & vehementes multas accusationes, & infirmas defensiones, capite in foro publicè 8 plexus. Aus dem Adel fehlte nicht der Lutheraner Barthold Wintzingerode, dessen Grausamkeit durch Morde, Raubzüge und mannigfaltige [andere, A. J.] Verbrechen gegenüber sehr vielen [Menschen, A. J.] geadelt worden war. Viele und schwerwiegende Klagen wurden seitdem unablässig berichtet. Das Übel schien kaum beseitigt werden zu können, wenn nicht mit großem Gefolge und guten Kräften der Erzbischof selbst anwesend gewesen wäre. Um also für die Sicherheit und das Heil seiner Schafe als kirchlicher wie auch weltlicher Fürst zu sorgen, machte er sich dorthin mit großem Aufwand auf den Weg. Aber nicht mehr mit eisernem Schwert und Artillerie als vielmehr mit Mut und Sanftmut war er bewaffnet. [...] Jenen Wintzingerode aber – so sehr durch [familiäre, A. J.] Abstammung wie durch [seine, A. J.] Untaten geadelt – hat er gefangengenommen und nach Mainz führen lassen. Dort endlich ist er nach vielen Gerichtstagen und harten Anklagen sowie schwachen Verteidigungsreden auf dem Marktplatz öffentlich enthauptet worden.

Demnach sorgte der Kurerzbischof in der Wahrnehmung seiner geistlichen und weltlichen Pflichten für Sicherheit und Heil seiner ihm anvertrauten Untertanen, indem er mit militärischer Macht, Weisheit und Milde wirkte. Den nur durch seine Gewalttätigkeit und Grausamkeit geadelten Lutheraner Wintzingerode jedoch habe Daniel Brendel in Mainz vor Gericht gestellt und nach schwacher juristischer Verteidigung öffentlich enthaupten lassen. Die Ausführungen des Jesuiten Serarius greifen sämtliche Schlüsselbegriffe des Gerichtsprozesses auf: Was macht nobilitas aus? Lag crudelitas überhaupt vor oder war über Notwehr bzw. rechtmäßige Fehde zu verhandeln? Wie definiert sich salus und wie weit reicht die Sicherheitspflicht eines weltlichen Fürsten gegenüber seinen Untertanen? Des Serarius Bemerkungen leiten damit zum eigentlichen Gegenstand über, nämlich zu der Frage, mit welchen argumentativen Instrumenten jener Barthold von Wintzingerode, der bis 1574 relativ unbehelligt seine gewalttätige Adeligkeit hatte ausleben können, aufs Schafott gebracht wurde und welche Rolle hierfür der Tyrannen-Vorwurf spielte. Bei letzterem handelt es sich jedenfalls nicht um eine jesuitische Erfindung, weder im Sinne der antijesuitischen Mythologie noch der jesuitischen Selbstbespiegelung. Vielmehr wurde das Tyrannenargument bereits 1573/74 öffentlich vorgebracht, nachdem Barthold von Wintzingerode vor dem Hintergrund eines jahrelangen, erbittert geführten Streits mit seinen Vettern deren Förster Arnold Geilhausen im Februar 1573 kaltblütig, wiewohl in Zorneshitze, ermordet hatte. Der Mord blieb damals ungesühnt und wäre eventuell sogar nicht weiterverfolgt worden, wenn ihn nicht der findige Oberamtmann Stralendorff ein Jahr später bei der Suche nach validen Anklage-

|| 8 NICOLAUS SERARIUS: Moguntiacarum rerum ab initio usque ad reverendissimum et illustrissimum hodiernum Archiepiscopum, ac Electorem, Dominum D. Ioannem Schwichardum, Mainz: Balthasar Lipp 1604, S. 938. Eigene Übersetzung. Zu Biographie und Œuvre des Serarius vgl. KOCH, LUDWIG: Jesuiten-Lexikon. Die Gesellschaft Jesu einst und jetzt, Paderborn 1934, Sp. 1642f.

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punkten entdeckt hätte. Gleich nach der Tat nämlich waren die Brüder des Getöteten vor das zuständige gräflich-hohnsteinische Gericht gezogen und hatten den Grafen Volkmar Wolf, der 1562–1580 regierte, aufgefordert, Euer Gnaden wollen Inhalt obangezogener Reichsordenunge undt zu Handthabung des rechten undt Landfriedten, den unchristlichen thirannischen Mörder, Bartoldt von Wintzingerode [...] 9 als ein Übelteter behaften, einziehen undt dermassen verwaren lassen.

Sie blieben jedoch erfolglos, sowohl weil der Beschuldigte das gräfliche Gericht einfach ignorierte, als auch weil der Graf, der 1568 mit einer kläglich durchgeführten Militäraktion gegen den Bodensteiner Herrn gescheitert war, offenkundig keine Durchsetzungsmöglichkeit sah. Immerhin war mit der Eingabe der Geilhausen-Verwandten eine juristische Marke gesetzt worden, die sich in den nächsten Monaten entfalten sollte. Sie war aus Sicht der Kurfürstlichen nach der Inhaftierung dieses Adeligen umso wertvoller, weil es zudem kurz zuvor in Speyer am Reichskammergericht wegen des peinlich gescheiterten Sturms der Gräflichen auf den Bodenstein 1568 zu einem denkwürdigen Wortgefecht zwischen den Prokuratoren des Grafen und Wintzingerodes gekommen war, in dessen Verlauf sich die Kontrahenten gegenseitig Felonie und Landfriedensbruch vorgeworfen und dies mit gegenseitigen Tyrannei-Vorwürfen garniert hatten. Genau dabei war auch der Geilhausen-Mord erwähnt worden.

2 Pläne und Fährnisse eines öffentlichen Mordprozesses Nach seiner Gefangennahme wurde Barthold von Wintzingerode nach Steinheim am Main und damit in sicheres kurfürstliches Gewahrsam verbracht. Schon dieser Umstand gab einen Hinweis auf die Ernsthaftigkeit seiner Lage angesichts der demonstrativen Durchsetzungswilligkeit der Kurfürstlichen, aber auch auf die Unsicherheit derselben, weil man um die guten Kontakte des Bodensteiners zu protestantischen Fürsten und adeligen Freunden, die mit ihm zusammen als Söldnerführer gedient hatten, wusste. Ein Prozess in Heiligenstadt vor dem eigentlich zuständigen Oberlandgericht unter Beteiligung adeliger Standesgenossen und im Zugriff einer unberechenbaren Öffentlichkeit verbot sich insofern. Man setzte ganz auf einen Hofgerichtsprozess, der zudem präzise mit den Instrumenten des Reichsrechts und mit eigens ausgewähltem Personal durchgeführt werden konnte. Die Verlegung nach Steinheim und der Mainzer Prozess waren überhaupt erst möglich geworden, weil das Gericht Bodenstein seit dem hohnsteinisch-kurmainzischen Abschied von Bleicherode vom || 9 LASA Rep. H Bodenstein Nr. 263, fol. 3: Schreiben der aus Lippe stammenden Brüder Johann und Hermann Geilhausen vom 10.03.1573 (Kopie) an den Grafen von Hohnstein.

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November 1573 bzw. Juni 1574 zum Obereigentum des Mainzer Kurfürsten geworden war. Aus dem stets angefeindeten, öffentlich verspotteten Widersacher Bartholds war damit sein Lehnsherr geworden. Das war umso unangenehmer, weil seit Jahren zwischen den Vettern Wintzingerode enthemmte Gewalt herrschte. Der Herr des Bodenstein scheute sich nicht, zielgerichtet die Untertanen seiner Kontrahenten zu drangsalieren und gar zu töten, während gleichzeitig vor dem Reichskammergericht gegeneinander Prozesse geführt wurden. Barthold versuchte geschickt, Hohnstein und Kurmainz gegeneinander auszuspielen, und involvierte hierzu sogar den Kaiser und den Reichshofrat.10 So scheint Wintzingerode im Herbst 1574 davon ausgegangen zu sein, seine adeligen Kapitalien seien weiterhin so gut sortiert, dass er mit den Kurfürstlichen zu einem ehrenwerten deal gelangen könne. Unwahrscheinlich wäre das wenige Monate zuvor nicht gewesen. Die Mainzer beabsichtigten nämlich, die mitten in das Eichsfeld hineinragende Herrschaft Bodenstein vor dem Zugriff des Herzogtums BraunschweigGrubenhagen zu sichern, das ohnehin Ansprüche auf Teile des Untereichsfelds erhob. Ein Ausgleich mit Wintzingerode wäre also willkommen gewesen; doch das war vor jenem Bleicheröder Abschied, der alles verändert hatte. Umso erstaunter war der bis dahin völlig unvorbereitete, geradezu sorglose Wintzingerode, als ihm der Hofrichter Heinrich von Selbold am 5. November im Gefängnis eröffnete, dass gegen ihn tatsächlich ein Mordprozess eröffnet werde. Über die Umstände der Tat war man sich schnell einig, zumal der Beschuldigte alles freimütig und mit großer Selbstverständlichkeit, ja geradezu stolz einräumte: Selbstverständlich hatte er Geilhausen – diesen gemeinen Dieb und ehrlosen Handlanger seiner Vettern! – am 3. Februar 1573 verfolgt, gestellt, aus dessen Haus gezerrt – schließlich wollte man die schwangere Frau ja nicht verschrecken! –, vom Pferd herab an die Wand gedrückt und den Unbewaffneten mit der eigenen Büchse erschossen. Die Kugel habe ein Loch von vier Fingern Größe gerissen; er selbst, Barthold, sei daraufhin wieder nach Burg Bodenstein geritten und habe zwei Stunden später die Nachricht vom Tode Geilhausens erhalten. Wintzingerode bestätigte mehrmals diese Version, rühmte sich gar mit dem Kaliber und der doch beeindruckenden Durchschlagskraft der Mordwaffe und unterstrich seine geringe Anteilnahme an der tödlichen Verletzung Geilhausens bzw. an dessen schmerzvollem Tod. Aus kurfürstlicher Sicht war dieses erste Verhör bestens verlaufen. Der voll geständige Beschuldigte war überrumpelt, realisierte erst jetzt seine Lage und mobilisierte nun erst seine Verteidigung, obwohl der Prozess schon kurze Zeit später anlief. Der Prozess begann am 14. Dezember unter großen Sicherheitsvorkehrungen vor dem Mainzer Stadtgericht. So eindeutig der Tatvorwurf und der ungeleugnete Tathergang waren, so strittig war von Anfang an die kontextuelle Interpretation: Handelte es sich um Mord aus niederen Beweggründen oder um Totschlag im Kontext einer Fehde? Der mit weiterem Personal bestens ausgestattete kurfürstliche Fiskal Peter Löher war || 10 Vgl. ÖStA HHStA, RHR, APA, K 208.

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angewiesen worden, keine Prozessverzögerung zu dulden und mit keinen unbescheidenen worten vom gegentheil sich bewegen, noch irren laßen, aber dem titul (Edel und ernvest) ime [Barthold von Wintzingerode, A. J.] an keinen orth mit reden auch schreiben geben.11 Löher sollte den adeligen Angeklagten also gezielt an seiner Standesehre angreifen, die man ihm auf diese Weise absprach. Dieser Teil der Prozessstrategie weist auf die Absicht der kurfürstlichen Seite hin, jeden Versuch der Verteidigung im Keim zu ersticken, den Angeklagten als tugendhaften Edelmann positionieren zu können, der zwecks Verteidigung seiner Ehre getötet hatte. Das hätte nämlich unabsehbare Konsequenzen für den Prozessverlauf gehabt – aber genau das geschah! Am ersten Prozesstag hatte das Gericht erkannt, dass in Mainz ein Mord- und kein Fehdeprozess geführt werde und damit nur die Tat an sich, nicht die Gesamtheit ihrer Umstände aufgearbeitet werden würde. Entsprechend wurden alle dilatierenden Anträge der Verteidigung abgelehnt. Doch am zweiten Prozesstag vom 21. Februar 1575 wusste Bartholds Verteidiger die Zitation mehrerer auswärtiger adeliger Zeugen zwecks Unschuldsbeweises im Rahmen einer Fehde und in Notwehr zwecks Verteidigung adeliger Ehre durchzusetzen. Für die Strategie des Fiskals war diese Wendung desaströs, weil damit der ganze Prozess zu einem langwierigen, unabsehbaren Verfahren zu werden drohte. Die Verteidigung setzte prozesstaktisch ganz auf die im ius commune verankerte Rechtsfigur der praesumptio pro viro nobili, wonach für einen Adeligen die Vorannahme seines tugendhaften Lebenswandels, seiner Unbescholtenheit und damit seiner Unschuld galt. Ungewöhnlich war das nicht, sondern neuester Stand der damaligen Jurisprudenz,12 der durch das herausragende Werk des Italieners Giacomo Menochio (1532–1607) repräsentiert wurde.13 Die aus der Natur des positiv gewerteten Menschen abgeleitete Bonitätsvermutung besaß für den Adel zusätzliches Gewicht, weil seine Glaubwürdigkeit aufgrund seiner Abstammung und seiner natürlichen Tugendhaftigkeit als größer galt und er deshalb privilegiert behandelt werden müsse. Die praesumptio pro viro nobili stellte also einen ganzen Argumentationskomplex dar, der die gegnerische Partei || 11 LASA Rep. A 37a Nr. 76, fol. 36–37’: Schreiben der Hofräte an den Fiskal vom 25.11.1574. 12 Vgl. COING, HELMUT: Europäisches Privatrecht, Bd. 1: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), München 1985, S. 134–36; STUCKENBERG, CARL-FRIEDRICH: Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, Berlin 1998, S. 11–45; SCHRÖDER, JAN (Hrsg.): Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Stuttgart 1998 (Contubernium 46); DERS.: Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie von 1500 bis 1850, in: SCHÖNERT, JÖRG/VOLLHARDT, FRIEDRICH (Hrsg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, Berlin/New York 2005 (Historia Hermeneutica. Series Studia 1), S. 203–20; SCHOLZ, OLIVER ROBERT: Die Vorstruktur des Verstehens. Ein Beitrag zur Klärung des Verhältnisses zwischen traditioneller Hermeneutik und ›philosophischer Hermeneutik‹, in: SCHÖNERT, JÖRG/VOLLHARDT, FRIEDRICH (Hrsg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, Berlin/New York 2005 (Historia Hermeneutica. Series Studia 1), S. 443–61, hier S. 454–60. 13 Vgl. Menochius, Jacobus: De praesumptionibus, coniecturis, signis & indiciis, Venedig 1587 (weitere Ausgaben unter anderem Köln 1597 und 1606), hier zitiert nach der Ausgabe Genf 1670; STUCKENBERG (Anm. 12), S. 13–17.

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dazu zwang, geeignete Argumente zur Widerlegung der Vorannahme vorzulegen, bevor sie die eigene Rechtsposition überhaupt zur Geltung bringen konnte. Die Verteidigung besaß demnach eine für den Fiskal gefährliche Waffe. Sie musste jedoch begründet werden, denn das Streben nach standesgemäßem Lebenswandel mochte angeboren sein, das angemessene Verhalten war allerdings entsprechenden Tugenden verpflichtet und auszuweisen;14 auch dies war eine Präsumtion.15 Also ließ sich der Fiskal notgedrungen und unter empörter Kritik seitens der düpierten kurfürstlichen Hofräte an ihm, an den Richtern und an allen übrigen Akteuren auf die Strategie der Verteidigung ein. Er wartete ab, wie das Gericht auch, denn die Zeugen der Verteidigung kamen nicht bei. Nebenbei wurde die Anklage – nach massiven Auseinandersetzungen unter den kurfürstlichen Juristen – personell und strategisch reorganisiert, das heißt personell ergänzt und neu ausgerichtet. Sie adaptierte nun die Prozessstrategie der Verteidigung, die nicht mehr zu bieten hatte, als langwierig Zeugen zu vernehmen, die Wintzingerodes Adeligkeit, Ehrenhaftigkeit, Tapferkeit, Mut und seine militärischen Verdienste für Kaiser und Reich bezeugten. Bartholds Notwehrargument entlarvte sich immer mehr als Scheinargument, während das Adeligkeitsargument die juristische Ausweglosigkeit der Verteidigung immer offensichtlicher machte. So war die Anklage letztlich nach sechs Prozessterminen innerhalb von neun Monaten erfolgreich. Der Urteilsspruch erfolgte am 22. September 1575 unter großem Getöse der versammelten niederadeligen Unterstützer – seine sogenannte Freundschaft –, die Hinrichtung des Verurteilten noch am selben Tag.

3 Tyrannei oder Unfall? Juristische und politischsoziale Parallelschauplätze Nachdem die ursprünglich auf Tempo und Durchschlagskraft aufgebaute Prozessstrategie gescheitert war, die Kurfürstlichen dennoch aufgrund der erfolgreichen Etablierung des Vorwurfs ›Mord‹ aus einer bequemen Warteposition agieren konnten, hatten der kurfürstliche Fiskal und seine Mannschaft geduldig das Verfahren betrieben. Die Anklage hatte dabei auf verbale bzw. argumentative Polemik verzichtet. Das hieß auch, sie hatte darauf verzichtet, den Angeklagten als Tyrannen zu profilieren. Das war auf dieser Bühne gar nicht notwendig. Der Mord-Vorwurf genügte. Den Tyrannei-Vorwurf sparten sich die Kurfürstlichen für die andere, nämlich für die (standes-)politische Bühne auf, die in absehbarer Weise parallel zum Prozessgeschehen und öffentlich von

|| 14 Vgl. Menochius (Anm. 13), Liber VI, Praes. LX (Nobilitatem non praesumi). 15 Vgl. ebd., Liber IV, Praes. LXXVIII (Filii naturales, quando ex praesumpta mento [sic!] testatoris deficere faciant conditionem atque substitutum excludant, vel non, diligenti studio enucleantur), Nr. 27, sowie Liber V, Praes. IV (vitio hominem carere praesumi, dilucide etsi paucis, declaratur), Nr. 2.

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der Freundschaft des Angeklagten bespielt wurde. Der Tyrannei-Vorwurf sollte seine argumentative Wucht durch die Verbindung von Reichsrecht, Reichspolitik und Standesethik entfalten und in dieser Kombination für die Freundschaft Wintzingerodes zu einem beispiellosen Desaster werden. Um die dahinterliegende politisch-juristische Argumentationsgeschicklichkeit der Mainzer zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, was einige Monate zuvor am Speyerer Reichskammergericht im Streit zwischen Wintzingerode und dem Grafen Volkmar Wolf abgelaufen war. Wintzingerode hatte lange nach dem Angriff auf den Bodenstein, nämlich erst im Jahre 1572, den Grafen nebst dessen adeligen Verbündeten inklusive der Vettern Hans und Bertram wegen Landfriedensbruchs verklagt.16 Sein Prozessbevollmächtigter Dr. Johann Augsburger zeichnete in seiner Klageschrift das Bild eines erfolgreich abgewehrten meuchlerisch-barbarischen Anschlags,17 durchgeführt von einem tyrannischen, weil pflichtvergessenen, bösartigen Lehnsherrn und dessen Bande.18 Der Prokurator kam zu dem Schluss, der Graf habe als offenkundiger Landfriedensbrecher zu seiner gebür und antheill an dem Hauße Bodenstein, und dessen Zubehörunge gehatt, durch solche tödtliche handlunge verwirckt unnd sie sich dessen verlustig gemacht.19 Sein Mandant müsse demnach als lehensfrei angesehen werden und dürfe sich infolge seinen Lehensherrn zukünftig selbst aussuchen.20 Diese juristisch steile These entsprach eher Wintzingerodes Wunschvorstellungen und Selbstverständnis als der Realität, sie besaß jedoch deshalb nicht weniger Brisanz. Der gräflich-hohnsteinische Anwalt Dr. Malachias Ramminger replizierte geschickt, indem er

|| 16 Vgl. LASA Rep. H Bodenstein Nr. 217, fol. 87–102, 103–18 (Klageschrift vom 10.12.1572). Parallelüberlieferung in: LASA Rep. A 53 W Nr. 104. 17 Vgl. LASA Rep. A 53 W Nr. 104, fol. 15–28, hier fol. 19–21: Libellus Articulatus des Johann Augsburger, Speyer 10.12.1572, in causa fractae pacis. 18 Augsburger konnte sich hierbei auf die in protestantischen Kreisen bekannten Theologen Johannes Bugenhagen (1485–1558), Justus Menius (1499–1558) und auf den Juristen Basilius Monner (1500–1566) beziehen. Gerade Monner akzentuierte die Gehorsamspflicht des Untertans gegenüber dem Landesherrn – des Vasallen gegenüber dem Lehnsherrn – parallel zu dessen Schutzpflicht gegenüber seinen Schutzbefohlenen, die ansonsten von ihrer Gehorsamspflicht entbunden seien. Dieser Gedankenfigur stellte er das Recht jedes Menschen auf Notwehr gegen Räuber und Mörder an die Seite; vgl. SCHORN-SCHÜTTE, LUISE: Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit: Obrigkeitskritik im Alten Reich, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 273–311, hier S. 302f.; DIES., Kommunikation über Politik im Europa der Frühen Neuzeit. Ein Forschungskonzept, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2007, S. 3–36, hier S. 14–17; SCATTOLA, MERIO: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ius naturae im 16. Jahrhundert, Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 52), S. 59–61. Zum Unterschied zwischen Gegen- und Notwehr vgl. HAUG-MORITZ, GABRIELE: Widerstand als ›Gegenwehr‹. Die schmalkaldische Konzeption der ›Gegenwehr‹ und der ›gewehrliche‹ Krieg des Jahres 1542, in: VON FRIEDEBURG, ROBERT (Hrsg.): Widerstandsrecht in der Frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, Berlin 2001 (ZHF, Beiheft 26), S. 141–61. 19 LASA Rep. A 53 W Nr. 104, fol. 24–24’. 20 Vgl. ebd., fol. 25’–26.

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die Angelegenheit als causa feudalis und als Vorgang der Domestizierung eines Vasallen durch seinen Lehensherrn darstellte, für die das Reichskammergericht gar nicht zuständig sei.21 Im Kontext seiner Argumentation, der Kläger selbst sei der eigentliche Landfriedensbrecher, formulierte Ramminger ein später rufprägendes Diktum: Was solle – bitteschön – ein Lehensherr davon halten, das ein solcher Lehenmann, underthan, unnd diffamante, der durch solche Clagen, wie der von Wintzingeroda gethan, da er doch per multos motos, und teglich, durch sein Wueterische Tyranney, und zenckische mutwillige, vielfelttige, Partheische Hendel, die fast Inn ganz Teutschland erschallen, sein Hern und Oberkeit zu ernsten einsehen hette bewegen mögen, seinen hern noch vor der gantzen weldt ausschreiet, aller und iglicher habenden Lehen und gerechtickeitt sich 22 unwirdigk und verlustigk gemacht.

Und Ramminger legte nach: Weil dan des von Wintzingeroda berurtte, mehr dan milde, unerfindtliche, vormeintte famos, criminal, undt Capital Klagen, ohne einige erhebliche erfordernde notturfft, besondern auß lautterm, mehr dan vorgeßenen barbarisch trotz, frefel und mutwillen, darmit ehr, der vermeintte Cleger, wie er es biß anhero getrieben, auch hinfuro mitt seiner gewaltsamen, grausamen, mörderischen unmenschlichen handelung, wider Gott, Recht und Obrickeitt under dem schein der rechthenigen sachen, alles sein blutdurstiges gefallen volbringen, toben, unnd wueten, muege 23 ganz nichtig und vorgeßenlich erheben.

All dies beweise sich an der jüngsten Mordtat an dem Förster Geilhausen.24 Ramminger war ein ausgewiesener Spezialist seines Faches, der – wie auch sein Kollege Augsburger – die hohe Kunst der gerichtlichen Argumentationsprosa und der Prozessdramatik beherrschte. Daher ist seine Generallinie – der Sturm des Bodenstein 1568 war eine gräfliche Befriedungsaktion zwecks Landfriedenswahrung – weniger interessant als die hierfür herangezogenen Argumente. Ramminger formte nämlich das Bild eines treulosen Vasallen, der sich durch fortgesetzten Ungehorsam, durch widerrechtliche, unverhältnismäßige und unnötige Gewalt sowie durch üble Nachrede zum Tyrannen aufgeschwungen hatte. Das war in Zeiten notorisch unruhigen Adels und im Nachgang der Grumbach’schen Fehde schon problematisch genug; doch der Vorwurf der Wueterische[n] Tyranney, den er wohl aus der Klage der GeilhausenBrüder übernommen hatte, gab der Argumentation eine ganz neue Dimension: Wintzingerodes Schadensabsicht war eine allgemeine und egoistische und musste zwangsweise vom Grafen als pflichtbewusstem Fürsten bekämpft werden. Weil Wintzingerode

|| 21 Vgl. LASA Rep. H Bodenstein Nr. 217, fol. 2–7, hier fol. 3’: Replik der hohnsteinischen Verteidigung vom 22.06.1573 (bzw. 09.10.1573, fol. 77–82) auf die Anklageschrift (Parallelüberlieferung in: LASA Rep. A 53 W Nr. 104, fol. 29–34 vom 09.10.1574). 22 Ebd., fol. 4. 23 Ebd., fol. 4’–5. 24 Vgl. ebd., fol. 5.

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jenseits allen Rechts und jeglicher Normen außerhalb der Gemeinschaft agierte – also tyrannisch handelte – war er zu bekämpfen, zumal er das allen gemeinsame Recht missbrauche und grausam mit eigener Hand töte. Jeder humanistisch gebildete Leser der Anklageschrift sah den klassisch-aristotelisch anmutenden Tyrannen gleichsam physisch vor sich stehen. Doch weniger die Diktion Rammingers war bemerkenswert als vielmehr die dahinterstehende Logik. Vordergründig wurde Wintzingerode vom gräflichen Prokurator als Schrecken verbreitender Krimineller – wir dürfen sagen: als ›Terrorist‹ – profiliert. Der Tyrannei-Begriff jedoch transportierte darüber hinaus das Verständnis eines widerrechtlichen, unchristlichen, asozialen Handelns, das sowohl die gottgewollte Ordnung als auch fundamentale Normen – pax, iustitia und amicitia – attackierte oder gar negierte. Im Bilde Rammingers kündigte Wintzingerode mit seinen Attentaten soziale Verträge in prinzipieller Weise auf. Die Argumentation des gräflichen Advokaten kehrte gewissermaßen die gängige herrschaftsphilosophisch begründete Tyrannen-Interpretation jener Zeit um, die im Widerstandsrecht und in der Widerstandspflicht von Individuen und Ständen gegen ungerechte Herrscher eine beinahe ausschließlich obrigkeitskritische Stoßrichtung besaß.25 Ramminger dagegen führte sie zu ihrem argumentativen Ausgangspunkt zurück, wonach der Fürst als gottgesetzte Obrigkeit – in der zeitgenössischen Diktion als pater patriae, gubernator rei publicae, conservator libertatis communis, protector salutis publicae – die Pflicht besaß, in Ausübung seiner Schutzfunktion für die ihm Anvertrauten gegen jeden Tyrannen zu agieren, der die gottgewollte Ordnung störte sowie seinen Herrn, die Standesangehörigen und die Untertanen terrorisierte.26 Die Formulierung jener Gedanken- und argumentativen Stilfiguren durch Ramminger nahm die Mainzer Regierung wenige Monate später im Kontext ihrer Kommunikation mit der Freundschaft Bartholds – also auf jener zweiten Bühne des Prozesses – auf. Sie wurde seit der Gefangennahme Wintzingerodes konstant und intensiv von dessen Freundschaft bespielt, gleichsam als Spiegel der juristischen Verteidigung. Folglich profilierte sie zwei Prioritätenkonkurrrenzen – Justiz und Adeligkeit sowie Gnade und Recht – als Hauptargumente, die auf die Frage nach der Adeligkeit des Gefangenen und der Sinnhaftigkeit kurfürstlicher Gnade abgestellt waren. Eisern hielt die Freundschaft Wintzingerodes bis zu seinem Tode daran fest. Noch am 20. September 1575

|| 25 Vgl. DREITZEL, HORST: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, 2 Bde., Köln [u. a.] 1991, S. 82–84, 139–60, 510–12 und 529–46; NITSCHKE, PETER: Einführung in die politische Theorie der Prämoderne 1500–1800, Darmstadt 2000; SCHORN-SCHÜTTE, LUISE: Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit. Studienhandbuch 1500–1789, Paderborn [u. a.] 2009, S. 164–66, 175–79, 214–16 und 298–303; SCHMIDT, ALEXANDER: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648), Leiden/Boston 2007 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 126), S. 52–65 und 78–95. 26 Vgl. WEBER, WOLFGANG: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992 (Studia Augustana 4), S. 188–95 und 303–06.

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intervenierten einflussreiche Freunde – nicht wenige von ihnen Räte anderer Fürsten der Region – beim Mainzer Domkapitel, daß der peinlich proceß vnd die vßstehende publication deß vrtheilß moge eingestelt odder yr zum wenigsten dermassen in sachen verfaren, daß beclagter sich viel mehr der gnaden, alß der scherpff 27 des Kurfürsten unterwerfen könne. Wie schon anlässlich des sechsten Prozesstages im August, als die Freundschaft zusammen mit dem Bischof von Lübeck und Administrator von Verden interveniert hatte, der Kurfürst möge nicht nach der scherffe der rechte inn diesem vnwiderbrengklichen fahll verfahren [, weil] daraus vielmehr nutzen vnnd wohlfartt Irenn Churfl. L: vnnd derselben Ertzstifft vnnd Euch allenn wirdt begegnen,28 verwiesen die Petenten auf den adeligen Stand Wintzingerodes und seine Ehrenhaftigkeit. Ein kurfürstlicher Gnadenerweis stelle ein Zeichen der Stärke, nicht der Kapitulation oder Relativierung der Justiz dar. So ging es ein Jahr lang, unmittelbar seit der Gefangennahme Wintzingerodes.29 Schon am 10. Juli 1574 baten Freunde Wintzingerodes bereits zum zweiten Mal um Hafterleichterung bzw. gar die Freilassung Wintzingerodes, denn der Kurfürst müsse doch als ein liebhaber des Adelß30 einem durch seine Mißgönner31 belasteten, dabei unschuldigen Standesgenossen gewogen sein. Drei Tage später appellierte man an Daniel Brendel abermals als ein milter loblicher Churfurst vnd Adelsfreunde.32 Mit dieser Argumentationsgruppe – Adeligkeit Bartholds, die Adelsfreundlichkeit und Milde des Kurfürsten und die Missgunst böswilliger Dritter – versuchten die Bittsteller, die Rechtmäßigkeit des kurfürstlichen Prozesses in Frage zu stellen, indem sie die Sphäre der Adeligkeit profilierten, für die die Logik des juristischen Strafrechtsdenkens nur eingeschränkt gelten sollte. Geschickt packte man den Mainzer Kurfürsten, der sich tatsächlich als Anwalt des Adels begriff, an einer zentralen Stelle seiner Selbstdefinition und blendete völlig aus, dass sich der Reichserzkanzler für den Adel seinesgleichen einsetzte, also für die Reichsritterschaft, während adelige Untertanen eben nur Untertanen waren. Allein dieser Umstand verleitete die Kurfürstlichen zur juristischen Kompromisslosigkeit. Wintzingerodes Freundschaft wusste darüber hinaus sehr schnell mit denselben Argumenten andere Reichsstände zu involvieren,33 indem man darauf verwies,

|| 27 StAWü Mz.Domkap.Prot. 16, fol. 231: Sitzung vom 20.09.1575. 28 LASA Rep. A 37a Nr. 77, fol. 214–16 und fol. 225f., hier fol. 225’: Schreiben der Freundschaft vom 24.08.1575 sowie des Bischofs von Lübeck vom 24.08.1575. 29 Vgl. LASA Rep. A 37a Nr. 77, fol. 10–12: Schreiben an den Kurfürsten vom 01.07.1574. 30 Ebd., fol. 5–7, hier fol. 5’: Schreiben an den Kurfürsten vom 10.07.1574. 31 Ebd. 32 Ebd., fol. 23–25, hier fol. 23’: Schreiben der Freundschaft an den Kurfürsten vom 13.07.1574. 33 Vgl. LASA Rep. A 37a Nr. 77, fol. 36–39, hier fol. 36: Schreiben der Freundschaft an den RheinPfalzgrafen Friedrich III. vom 29.07.1574.

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das es Ime rumblich nach zwsagen, auch die Erfarnheitt hatt, das ehr jegen denn Erbfeindt der Christenheitt, vnd Jegn andre des Heiligen Reichs widerwertige Ihn vorfallenden nothen nutz34 lich vnd voll zwgebrauchen.

Diese Bemühungen waren erstaunlich erfolgreich. Seit Juli 1574 gingen in der kurfürstlichen Hofkanzlei unzählige Supplikationen von Reichsfürsten aller Konfessionen ein. Alle waren erstaunt über die Inhaftierung dieses ehrenhaften Edelmanns, alle baten den Kurerzbischof um Milde,35 einige forderten den Abbruch des Prozesses zwecks Aussöhnung der Parteien36 oder – wie Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel – Gnade, denn es sei dieselbe der Scherffe des rechtens vor[zu]setzen.37 Dieses Argument übertrafen die Herzöge von Braunschweig im Februar 1575 sogar noch, als Herzog Wilhelm d. J. von Lüneburg den Mainzer Rechtsstandpunkt akzeptierte, aber darauf verwies, die vielleicht (!) nicht ganz adeligen Taten Wintzingerodes, für die dieser sich bereits entschuldigt habe (was gar nicht stimmte), seien der Effekt der Provokation durch den ehrlosen Getöteten.38 Sein Cousin, Herzog Erich II. von Calenberg-Göttingen, bezeichnete das Vorkommnis gar – wohl in einem Anflug juristischer Sachkenntnis – als einen vnfall,39 den man doch in Relation zu Wintzingerodes Verdiensten in den Türkenkriegen setzen müsse – und zwar zu den vergangenen wie den zukünftigen des agilen Siebzigjährigen! Es ist nicht überliefert, ob im Hofrat des Mainzer Kurfürsten über derartige Schreiben Sprachlosigkeit, Fassungslosigkeit, Gelächter oder Tränen der Rührung vorherrschten. Es ist anzunehmen, dass nichts von alledem der Fall war, eher schon nervöse Konzentration, denn die Kurfürstlichen mussten eine kritische Phase überstehen, weil die Freundschaft das ständisch-sozial problematische Angebot machte, die unterschiedlichen Sorten adeligen und fürstlichen Kapitals miteinander in Beziehung zu setzen und gegeneinander aufzurechnen. Zu solcher Mathematik der Kapitalsorten waren die Kurfürstlichen in keiner Weise geneigt, wohl schon in der Erkenntnis, dass sich unter den niederadeligen Supplikanten keine Eichsfelder befanden. Unbeugsam hielten Fiskal und Hofrat an ihrer Linie fest und behandelten die Causa formal wie die jedes anderen kriminellen Untertans des Kurfürsten, denn nur dies ermöglichte ihnen, zum Gegenangriff überzugehen: Argumentierte die Freundschaft in der ständisch-sozialen Sphäre und führte aus, ein adeliger Ehrenmann wie Barthold von Wint|| 34 Vgl. LASA Rep. A 37a Nr. 77, fol. 93–96, hier fol. 94: Schreiben der Freundschaft an Herzog Wilhelm d. J. von Braunschweig-Lüneburg vom 22.01.1575. 35 Dabei handelte es sich auch um Kurfürst Johann Georg von Brandenburg, Herzogin Sophia von Braunschweig-Lüneburg, Rhein-Pfalzgraf Friedrich III., Herzog Otto von Braunschweig-Lüneburg, Eberhard Bischof von Lübeck, Heinrich Erzbischof zu Bremen, Herzog Adolf von Schleswig-Holstein, Herzog Ulrich von Mecklenburg; vgl. ebd., fol. 25–68: Schreiben im August und September 1574. 36 Vgl. ebd., fol. 73–74: Schreiben des Herzogs an den Kurfürsten vom 29.11.1574. 37 Ebd., fol. 80–81: Schreiben des Landgrafen an den Kurfürsten vom 08.12.1574. 38 Vgl. ebd., fol. 90–92: Schreiben des Herzogs Wilhelm an den Kurfürsten vom 06.02.1575. 39 Ebd., fol. 115–117, hier fol. 116: Schreiben des Herzogs Erich an den Kurfürsten vom 13.02.1575.

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zingerode könne doch gar kein Mörder sein, setzte die kurfürstliche Regierung dem das juristische Umkehrargument entgegen, in der Tat könne ein Mörder wie jener Herr des Bodenstein kein Ehrenmann sein. Mehr noch, war Kurerzbischof Daniel Brendel nach entsprechenden Supplikationen argumentativ einmal so richtig in Fahrt, stellte er seinen Mitreichsständen die rhetorische Frage, ob sie allen Ernstes von ihm, dem Reichserzkanzler, wirklich erwarteten, dass er die Reichrechtsordnung in Frage stellen würde.40 Und dann holte er regelmäßig zum ultimativen Gegenschlag aus, wenn er anmerkte, er habe bei seiner Ankunft auf dem Eichsfeld ein solches vberheufft iemmerlichs clagen vnser vnderthanen vnd Landsassen dort, so wol vom Adel, stett alß dem andern ins gemein anhören müssen.41 Deshalb müsse Zu trost hilff vnnd errettung der armen vnderthanen auch administrirung d[er] heilsamen Justitien42 dem Rechtsverfahren freier Lauf gelassen werden. Man möge daher die niederadeligen Supplikanten nach richtigkeit eingezogener ursachen d[er] gebur abweisen, wie E:L. in solchem fall selbst and[er]st nitt gedulden möchten.43 Indem er sich als Garant der Reichsordnung und der ›heilsamen Justiz‹ präsentierte, um die gerade gegen den Niederadel so zäh gekämpft worden war, folgerte Daniel Brendel konzise und unangreifbar, daß wir auß dem weg Rechtens nit schreitten lassen können.44 Darüber hinaus – und dies sei wohl seinen Mitfürsten unbekannt – handele es sich beim Geilhausen-Mord keineswegs um einen untypischen und bedauerlichen Einzelfall, sondern um beharrlichen und fortdauernden Ungehorsam gegenüber der rechtmäßigen Obrigkeit und gegen die menschliche Gemeinschaft. Wintzingerode habe Menschen ubler alß daß ohnvernünfftige thier45 behandelt, was einen zusätzlichen Hieb gegen die stete Forderung nach Haftverschonung darstellte. Der Angeklagte habe Furcht und Schrecken im ganzen Land verbreitet – hierin steckte der Vorwurf der Tyrannei. Indem er in der Konkurrenz zwischen der Priorität der Adeligkeit und der Priorität des Rechts letztere unterstrich, warf der Mainzer die intervenierenden Reichsstände geschickt auf ihre Eigeninteressen zurück. Wollte ein Fürst wirklich auf seine wertvollste Kompetenz – das Recht – verzichten? Wollte er auch nur in den Geruch kommen, Beihilfe zum Unrecht oder gar zur Tyrannei zu leisten, wenn er nachsichtig gegenüber Landfriedensbruch sei? Das waren schon sehr deutliche und daher wenig gewohnte Worte eines sichtlich enervierten, dabei weiterhin überaus verbindlichen Reichserzkanzlers, den die Zeitgenossen sonst eher als Mann des Ausgleichs und der Mäßigung kannten. In dieser Causa schien jedoch die Grenze des Erträglichen erreicht zu sein. || 40 Vgl. LASA Rep. A 37a Nr. 77, fol. 79, 81 und 88: Kurfürstliche Antwortschreiben vom 11.12.1574, vom 14.12.1574 und vom 15.12.1574. 41 Ebd., fol. 163–165’, hier fol. 164: Schreiben des Kurfürsten vom 18.04.1575. 42 Ebd. 43 Ebd., fol. 165. 44 Ebd. 45 Ebd., fol. 164’.

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Ebenso geschickt problematisierte der Mainzer darüber hinaus die Begriffsfelder Adeligkeit, Recht und Gerechtigkeit als überkonfessionelle Themen mit eigener, von formaljuristischem Denken abgelöster Logik im Sinne des sich entwickelnden Souveränitätsdenkens der fürstlichen Landesherren. Bei seinen fürstlichen Kommunikationspartnern handelte es sich nämlich zumeist um Protestanten, denen man gut vermitteln konnte, dass Mord nicht unbedingt zu den adeligen Primärtugenden zählte. Wintzingerodes Verhalten entsprach jedenfalls nicht jenem Bild vom vorbildhaften Tugendadel, das lutherische Theologen dem Geburtsadel gegenüber ostentativ betonten, zumal wenn sie iustitia, temperantia und patientia ins Zentrum stellten.46 Indem er so argumentierte, griff Daniel Brendel letztlich auf die Argumentation und Sprache des gräflich-hohnsteinschen Anwalts Ramminger anlässlich des Prozesses vor dem Reichskammergericht 1573/74 zurück und kehrte die Stoßrichtung des zeitgenössischen Tyrannen-Diskurses um, wenn er gerade auf die Justiz als Ausformung der iustitia verwies. Wenn nämlich die Staatsrechtsphilosophie des 16. Jahrhunderts in der amicitia und der iustitia unverzichtbare Grundnormen fürstlicher Herrschaft und die Tyrannis als Herrschaftsform ohne jene Grundorientierung definierte, dann musste jeder Fürst gegen Terroristen wie Wintzingerode zum Schutze des Allgemeinwohls vorgehen. Als Landesherr und pater patriae oblag ihm der Schutz des Landes und der Untertanen. Andernfalls hätte sein Handeln als Pflichtvergessenheit und Gefährdung des sozialen Zusammenhalts der patria gewertet werden können. Fürstlicher Patriotismus umfasste demnach den Kampf gegen Tyrannen jeder Art, was selbst jene obrigkeitskritischen Regentenlehren – wie das vielgelesene und weitverbreitete Regentenbuch des Mansfelder Kanzlers Georg Lauterbeck (1510–1578) aus dem Jahr 1556/72 – erkannten, die eine Widerstandspflicht der fürstlichen Amtsträger gegen Tyrannen-Fürsten postulierten.47 Sie bezeichneten es als fürstliche Pflicht, die patria gegen Tyrannen zu verteidigen, gleichgültig ob es sich um einen äußeren Gegner oder inneren Feind der sozialen Gemeinschaft handelte.48 Priesen die Supplikanten den Mainzer Kurfürsten als löblichen Landesherrn und Patron des Adels, dann bestätigten sie ihn in seiner Auffassung, wenn er genau so handelte, denn er sorgte für Frieden, Gerechtigkeit und Schutz, indem er jenen Tyrannen, der das allen gemeinsame Band zerschnitt und Schrecken verbreitete, vor Gericht stellte und Gerechtigkeit walten ließ; er agierte als Protektor des Adels, indem er den eichsfeldischen Herrenstand von einem derart entgleisten Standesgenossen befreite. Aus dieser Perspektive handelte der Reichserzkanzler seinem Amt gemäß vorbildlich als patriotischer Landesherr, der der fides und der amor patriae genügte. Der dieser Argumentation inhärente Fallstrick, nämlich die || 46 Vgl. SCHORN-SCHÜTTE 2006 (Anm. 18), S. 292f.; DIES. 2007 (Anm. 18), S. 21f.; KERN, MARGIT: Tugend versus Gnade. Protestantische Bildprogramme in Nürnberg, Pirna, Regensburg und Ulm, Berlin 2002 (Berliner Schriften zur Kunst 16), S. 261–63 und 348–50. 47 Vgl. SCHMIDT (Anm. 25), S. 52–65 und 78–95; SCHORN-SCHÜTTE 2006 (Anm. 18), S. 295–304; DIES. 2007 (Anm. 18), S. 11–17. 48 Vgl. SCHMIDT (Anm. 25), S. 36, 64 und 69–78.

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Frage, wo die clementia bleibe, konnte hierbei unter den Tisch fallen, weil es sich um das prioritäre bonum commune, nicht das bonum specificum handelte.

4 Adelige Tyrannei und frühneuzeitliche Rechtsdogmatik: iustitia im Spannungsfeld zwischen virtus publica, auctoritas publica und utilitas publica Mit dem Verweis auf Recht, Gerechtigkeit und Justiz hatte Kurfürst Daniel Brendel explizit auf drei zentrale Begriffe zurückgegriffen, die im Rahmen der zeitgenössischen Rechts- sowie der Regentenlehre problematisiert wurden.49 Als Bausteine der iustitia waren sie in einem funktionierenden Gemeinwesen als Ausweis guter Herrschaft zu pflegen, zumal Gerechtigkeit als Tugend und als Sinn für die Angemessenheit von Rechtshandlungen inklusive entsprechender Rechtsverfahren galt. Vieldiskutiert war die Frage nach dem Wesen der iustitia. Sie betraf nicht allein die Straftat, sondern insbesondere auch, von wem, wie, unter welchen Umständen und in welchem Ausmaß die Tat geahndet werden müsse. Standesfragen stellten sich demnach schnell hinsichtlich der Form der Strafverfolgung und ihres Ausmaßes. Das allgemeine fürstliche Bestreben nach der Schaffung einheitlicher Untertanenverbände in der Sphäre des Rechts kollidierte insofern mit dem adeligen Anspruch als privilegiertem Stand. Für die Fürsten galt es dabei sensibel vorzugehen, wollten sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen, tyrannische Herrscher zu sein. Der zeitgenössische iustitia-Begriff barg demnach ein erhebliches Sprengpotential, weil er einen politischen Kampfbegriff darstellte. Als relevante Grundlagen für den Wintzingerode-Prozess sind die Constitutio Criminalis Carolina und die zeitgenössische Strafrechtslehre zu benennen. Die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 war von grundlegender Bedeutung für die Rechtspraxis im gesamten Reich.50 Ihre Publikation stellte den Höhepunkt der Rezeption des Römischen Rechts im Reich dar, auch wenn dessen Einbindung in die Rechtsprechung der Gerichte bzw. die prozessuale Rechtsargumentation langsam und zunächst noch unter Berücksichtigung traditioneller Rechtsvorstellungen in den Territorien erfolgte.51 || 49 Vgl. neben WEBER (Anm. 26) RUDOLPH, HARRIET/SCHNABEL-SCHÜLE, HELGA (Hrsg.): Justiz = Justice = Justicia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa, Trier 2003 (Trierer Historische Forschungen 48). 50 Vgl. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl V. von 1532 (Carolina), hrsg. und erl. von GUSTAV RADBRUCH, 6. Aufl. hrsg. von ARTHUR KAUFMANN, Stuttgart 1991; Die Carolina: die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, hrsg. von FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER, Darmstadt 1986 (WdF 626). 51 Vgl. SCHNABEL-SCHÜLE, HELGA: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln [u. a.] 1997 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 16); POHL, SUSANNE: Ehrlicher Totschlag – Rache – Notwehr. Zwischen männlichem Ehrcode und dem Primat des Stadtfriedens (Zürich 1376–1600),

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Gleichwohl bedeutete die Einführung der Carolina eine wirkliche Änderung der juristischen Rahmenbedingungen, mochte das Römische Recht auch ein »offener Code«52 mit Inkonsistenzen gewesen sein, die interpretativ unter Einschluss von moralischchristlichen Diskursen genutzt werden konnten. Die zweite relevante Rechtsbasis stellte die zeitgenössische Rechtswissenschaft dar. Sie befand sich gerade im 16. Jahrhundert in einem dynamischen, von Südeuropa aus betriebenen Wandlungsprozess.53 Theologen und Juristen formten hierbei in Interpretation des römischen Rechts und des Naturrechts sowie in Reflexion der sozialen und politischen Realitäten die zeitgenössischen Rechtsauffassungen.54 Aus diesem Fundus gelehrter Rechtsmeinungen – basierend auf theoretischen Überlegungen und praktischen Anwendungen – kann anhand eines repräsentativen Ausschnitts55 aufgezeigt werden, in welchem Spannungsfeld der Tyrannen-Vorwurf im Rahmen der Causa Wintzingerode instrumentalisiert wurde. || in: JUSSEN, BERNHARD/KOSLOFSKY, CRAIG (Hrsg.): Kulturelle Reformation: Sinnformationen im Umbruch 1400–1600, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 145), S. 239–83; LÜCK, HEINER: Sühne und Strafgerichtsbarkeit im Kursachsen des 15. und 16. Jahrhunderts, in: SCHLOSSER, HANS/WILLOWEIT, DIETMAR (Hrsg.): Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung, Köln [u. a.] 1999 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 2), S. 83–99; KRAUSE, THOMAS: Die Strafrechtspflege im Kurfürstentum und Königtum Hannover vom Ende des 17. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, Aalen 1991 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 28). 52 POHL, SUSANNE: Schuldmindernde Umstände im römischen Recht. Die Verhandlungen des Totschlags im Herzogtum Württemberg im 16. Jahrhundert, in: RUDOLPH, HARRIET/SCHNABEL-SCHÜLE, HELGA (Hrsg.): Justiz = Justice = Justicia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa, Trier 2003 (Trierer Historische Forschungen 48), S. 235–56, hier S. 244 und 254. 53 Vgl. DAHM, GEORG: Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter. Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis im Strafrecht des Spätmittelalters, namentlich im XIV. Jahrhundert, Leipzig 1931, Nachdruck Goldbach 1995 (Beiträge zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3); ENGELMANN, WOLDEMAR: Die Schuldlehre der Postglossatoren und ihre Fortentwicklung. Eine historisch-dogmatische Darstellung der kriminellen Schuldlehre der italienischen Juristen des Mittelalters seit Accursius, Leipzig 1895 (Nachdruck Aalen 1965). 54 Vgl. DECKERS, DANIEL: Gerechtigkeit und Recht. Eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeit des Francisco de Vitoria (1483–1546), Freiburg i. Ü 1991 (Studien zur theologischen Ethik 35); QUIN, ECKEHARD: Personenrechte und Widerstandsrecht in der katholischen Widerstandslehre Frankreichs und Spaniens um 1600, Berlin 1999 (Beiträge zur politischen Wissenschaft 109); MAIHOLD, HARALD: Strafe für fremde Schuld? Die Systematisierung des Strafbegriffs in der spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre, Köln [u. a.] 2005 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 9); G RUNERT, FRANK: Theologien der Strafe. Zur Straftheorie von Thomas von Aquin und ihrer Rezeption in der spanischen Spätscholastik: das Beispiel Francisco de Vitoria, in: SCHLOSSER, HANS/WILLOWEIT, DIETMAR (Hrsg.): Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung, Köln [u. a.] 1999 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 2), S. 313–32; SCHNYDER, SYBILLE: Tötung und Diebstahl. Delikt und Strafe in der gelehrten Strafrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts, Köln [u. a.] 2010 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Fallstudien 9). 55 Im Einzelnen greife ich zurück auf: Albertus Gandinus: Tractatus de maleficiis, in: KANTOROWICZ, HERMANN (Hrsg.): Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, 2 Bde., Berlin 1907–1926; Angelus

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Auf drei Aspekte stellte die Wintzingerode-Fraktion ihre Strategie ab: auf die unmittelbar gegebene Notwehrsituation, die langjährige Feindschaft zwischen dem Angeklagten und seinen Vettern sowie die Adeligkeit Bartholds. Gemäß dem allgemeinen Fehdeverbot von 1495 war der gewaltsame Konfliktaustrag prinzipiell untersagt.56 Der Landfrieden kannte mit Artikel 137 immerhin den Totschlag als Ausnahme, wobei Affekte schuldmindernde Wirkung bei der Strafzumessung besitzen konnten. Die der Carolina folgende territoriale Rechtsprechung suchte eher nach schuldmindernden Faktoren zugunsten des Angeklagten, indem beispielsweise sein tugendhaft-christliches Vorleben berücksichtigt wurde. Angesichts der scharfen Bestimmungen der Reichsprozessordnung versuchten die Rechtspraktiker schuldmindernde Faktoren geltend zu machen, also sogenannte Unfälle – wie durch Zorn, Trunkenheit, Minderjährigkeit oder Geistesverwirrung bedingt – oder eben Notwehr zu erfassen. Letzteres war umso || Aretinus: Tractatus de maleficiis, Venetiis 1584; Pedro de Aragon: In secundam secundae divi Thomae Doctoris Angelici Commentaria De Iustitia et Iure, Lugduni 1597; Bonifacius de Vitalinis: Super maleficiis, Mediolani 1514; Aegidius Bossius: Tractatus varii, qui omnem ferè criminalem materiam excellenti doctrina complectuntur, in quibus plurima ad Fiscum, & ad Principis autoritatem, ac potestatem, necnon ad vectigalium conductiones, remissionesque pensionum pertinentia diligentissimè explicantur: opus vtilissimum, & iusdicentibus, ac causarum patronis maximè necessarium, Lugduni 1566 (Lugduni 1570); Diego de la Cantera: Quaestiones Criminiales tangentes judicem, accusatorem, reum probationem, punitionemque delictorum, Salamanticae 1589; Iulius Clarus: Opera omnia: quae quidem hactenus per auctorem in lucem edita sunt: nunc denuo recens et multo quam antehac unquam, collatis omnibus diuersarum editionum exemplaribus, recusa, Frankfurt 1582 (Venetiis 1588) (Liber quintus receptarum sententiarum integer, in quo omnium criminum materia sub sententijs copiosissimè tractatur); Diego Covarrubias de Leyva: Opera omnia, Frankfurt am Main 1608 (1583); Jodocus Damhouder: Practica rerum criminalium, Lugduni 1558 (hier verwendete deutsche Ausgabe: Praxis Rerum Criminalium. Gründtliche und rechte Underweysung welcher massen in Rechtfertigung Peinlicher Sachen / nach gemeynen beschriebenen Rechten / vor und in Gerichten ordentlich zu handeln. Allen Hohen vnd Nidern Stands Oberkeyten / Richtern / Gerichtsverwandten / vnd sonst iedermänniglichen / nützlich vnd nothwendig zugebrauchen, Frankfurt am Mayn 1591); Prosper Farinacius: Praxis, et theoricae criminalis amplissimae Libri Duo, in quinque titulos distributi, Francofurti 1597; Prosper Farinacius: Praxis, et theoricae criminalis amplissimae Pars tertia, Francofurto 1605; Antonio Gomez: Commentarium, variarumque resolutionum IV iuris civilis, communis et regii, Tomi tres, Francoforti ad Moenum 1584; Leonardus Lessius: De iustitia et iure caeterisque virtutibus cardinalibus, Libri IV, ad. 2.2. D. Thomae, a quest. 47 usque ad quest. 171, Antwerpen 1612 (Paris 1610); Juan de Lugo: Disputationum de iustitia et iure, Lugduni 1670 (Lugduni 1646); Luis de Molina: De iustitia et jure, Moguntiae 1659 (Moguntiae 1614); Domingo de Soto: De Iustitia et Iure, Lugduni 1569 (Salamanticae 1556; Nachdruck Madrid 1968); Andreas Tiraquellus: De Poenis legum ac consuetudinum, statutorumque temperandis, aut etiam remittendis: & id quibus, quotq; ex causis, Tomus septimus et ultimus, Francoforti 1574 (Venetiis 1565); Fernando Vàzquez de Menchaca: Controversiarum illustris aliarumque usu frequentium, Liber Primus (Nachdruck Valladolid 1931). 56 Vgl. WADLE, ELMAR: Der Ewige Landfriede von 1495 und das Ende der mittelalterlichen Friedensbewegung, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz (Hrsg.): 1495 – Kaiser, Reich, Reformen. Der Reichstag zu Worms, Koblenz 1995, S. 71–80; FISCHER, MATTIAS G.: Reichsreform und Ewiger Landfrieden. Über die Entwicklung des Fehderechts im 15. Jahrhundert bis zum absoluten Fehdeverbot von 1495, Aalen 2007 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 34).

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wertvoller, weil in Artikel 140 der Carolina ein Notwehrrecht und deshalb das Recht auf Gegenwehr formuliert wurde.57 Dieses juristische Zugeständnis stellte ein probates Argument dar, um ehedem als Fehdeaktionen bezeichnete Handlungen zu legitimieren. Die Carolina erlaubte solche legitime Gegenwehr jedoch nur, wenn Leib, Leben, Ehre und guter Leumund gefährdet wurden.58 Dabei handelte es sich um eine Interpretations- und Auslegungsfrage, weil ›Leumund‹ bzw. ›Ehre‹ nicht eindeutig spezifiziert waren. So konnten Rechtsprinzipien und Ehrkonzeptionen als ausdrückliche Gegensätze kollidieren.59 Die Beweislast lag vollumfänglich beim Beschuldigten, der zudem mangelnde Handlungsalternativen, Handlungsmaß, Emotionsfreiheit und Unmittelbarkeit seiner Handlung nachweisen musste.60 Immerhin leiteten italienische und französischen Kommentatoren des römischen Strafrechts aus der Notwehr-Kategorie auch den Notwehrexzess ab, der darin bestehen sollte, dass der vom späteren Opfer angegriffene Angeklagte im Zorn über das notwendige Maß hinaus gehandelt habe. Dies galt als schuldmindernd und wurde auch von der Carolina berücksichtigt.61 Zudem war im 16. Jahrhundert ein Nebeneinander von Diskursen – hier: des christlich-moralischen und des römisch-rechtlichen – üblich und insofern durchaus unberechenbar. Gleiches galt für das rechtsdogmatische Feld. Die Interpretationen der zeitgenössischen Strafrechtslehre des 15. und 16. Jahrhunderts erkannten in der Tötung ein crimen oder delictum, also eine verfolgungs- und strafwürdige Handlung, weil sie mit dolus und malus animus begangen werde. Auf Thomas von Aquin (1225–1274) zurückgreifend, sah man in der Tötung einen actus inordinatus, eine Störung der göttlichen und menschlichen Ordnung, bei der geschützte Güter, nämlich bonum animae, bonum corporis, bona rerum exteriorum, angegriffen würden, worunter auch und noch vor dem materiellen Vermögen Ruf und Ehre gezählt wurden. Dogmatiker wie Jodocus Damhouder (1507–1581), Antonio Gomez (ca. 1500–1572) und Diego de la Cantera (1520–1591) werteten auf naturrechtlicher Basis die Tötung eines Menschen als Verletzung der res publica, denn das Tötungsdelikt betreffe nicht nur den Primärbetroffenen an sich, sondern diesen auch als Teil und Repräsentant der Gemeinschaft. Der freie Mensch sei jedoch das wichtigste Gut jeder Gemeinschaft, die sich deshalb ent-

|| 57 Vgl. ROTH, ANDREAS: Art. Notwehr, in: LexMA, Bd. 6 (2002), Sp. 1296; REINLE, CHRISTINE: Fehden und Fehdebekämpfung am Ende des Mittelalters. Überlegungen zum Auseinandertreten von ›Frieden‹ und ›Recht‹ in der politischen Praxis zu Beginn des 16. Jahrhunderts am Beispiel der Absberg-Fehde, in: Zeitschrift für Historische Forschung 30 (2003), S. 355–88, vor allem S. 382–86. 58 So schon die Carolina (Anm. 50), Art. 139 und 150. 59 Vgl. KESPER-BIERMANN, SYLVIA [u. a.] (Hrsg.): Ehre und Recht. Ehrkonzepte, Ehrverletzungen und Ehrverteidigungen vom späten Mittelalter bis zur Moderne, Magdeburg 2011 (Editionen + Dokumentationen 5). 60 Vgl. Carolina (Anm. 50), Art. 140 und 141; DAHM (Anm. 53), S. 126. 61 Vgl. ENGELMANN (Anm. 53), S. 120; POHL (Anm. 52), S. 240f.; Carolina (Anm. 50), Art. 142 und 143; KRÖNER, OTTO: Die vorsätzlichen Tötungsdelikte in ihrer Entwicklung von der Carolina bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Diss. Göttingen 1958, S. 4 und 8.

388 | Alexander Jendorff sprechend wehren dürfe.62 Aufgewertet wurde diese Argumentation durch die seit dem Ausgang des Spätmittelalters ausgeprägte dolus-Präsumtion bei Tötungsdelikten, bei denen von Arg- und Hinterlist eines rational handelnden Täters ausgegangen wurde.63 Der Beklagte war – im Gegensatz zum üblichen Verfahrensmodus – gezwungen, das Gegenteil zu beweisen, konnte hierzu jedoch immerhin auf eine Vielzahl von Ausnahmetatbeständen zurückgreifen. So schränkte der Mailänder Legist Aegidius Bossius (1487–1546) die Heimtückevermutung für den Fall ein, dass der Tötung eine Feindschaft vorausgegangen sei.64 Umgekehrt bewertete die Rechtswissenschaft die durch bestimmte Umstände (Kaltblütigkeit, Planung, minutiöse Durchführung, Beauftragung) qualifizierte Tötung – das homicidium qualificatum65 – als besonders strafwürdige Handlung, insbesondere wenn vorausgehende Feindschaft oder Affekte wie Zorn, Wut und Rachegefühle fehlten.66 Aus Sicht der Wintzingerode-Verteidigung waren solche Auffassungen durchaus günstig. So bot der antizipierte Diebstahl Geilhausens einen Ansatzpunkt, eventuell sogar für dessen Tötung, wie Domingo de Soto (1494–1560)67 mit Verweis auf ausbleibende Rechtshilfe ausführte. Allerdings war trotz aller vorausgegangener Feindschaft der Vettern kein gezieltes Attentat gegen Barthold erkennbar. Einzig die praesumptio de viro nobili stellte ein herausragendes Verteidigungsargument dar, an dem sich die Anklage abarbeiten musste, zumal sie zusammen mit dem Rekurs auf Wintzingerodes Adeligkeit das Notwehr-Argument funktional neu qualifizierte, denn der Hinweis, Geilhausen habe seine Ehre beleidigt, allein, weil er von standesniederer Herkunft sei, rechtfertigte nach Auffassung der zeitgenössischen Strafrechtslehre die defensio necessaria selbst unter Einschluss der Tötung. Hierunter verstand die Rechtsdogmatik den Angriff auf geschützte Güter, zu denen man neben Leben und Körper auch den Schutz vor iniuria personalis und damit von honor und nomen zählte.68 Aus Gründen des Ehrerhalts bzw. der Ehrkränkung waren Adelige im Gegensatz zu Nicht-Adeligen oder Klerikern nicht dazu verpflichtet, sich einem Angriff durch Flucht zu ent|| 62 Vgl. SCHNYDER (Anm. 54), S. 37–39. 63 Vgl. ebd., S. 43–45 und 61. 64 Vgl. Bossius (Anm. 55), De homicidio, Randziffer 36, 38–45, 59 und vor allem 60. 65 Vgl. SCHNYDER (Anm. 54), S. 65–70. 66 So lehrten es jedenfalls neben dem Kanonisten Gomez auch der Legist Julius Clarus (1525–1575), Andreas Tiraquellus (1488–1558) oder Luis de Molina (1535/36–1600); vgl. Gomez (Anm. 55), III, De homicidio, cap. III, Randziffer 10; Tiraquellus (Anm. 55), De poenis, causa 1, Randziffer 1, 7, 9, 10 sowie die causae 2–8; Clarus (Anm. 55), V, § Homicidium, Randziffer 7–17, 22; de Molina (Anm. 55), tractatus III, disputatio 23, Randziffer 2 und 3. 67 Vgl. de Soto (Anm. 55), V, quaestio I, articulus VIII. 68 Zu diesem bereits auf Thomas von Aquin (Summa Theologiae II,II, quaestio 73, articulus 3, sowie quaestio 104, articulus 3) zurückgehenden Ansatz vgl. Bossius (Anm. 55), De homicidio, Randziffer 81–91; Damhouder (Anm. 55), cap. LXXVI, Randziffer 1, 22 (zentraler noch cap. LXXIX); de Molina (Anm. 55), tractatus III, disputatio 16, Randziffer 1, Summarium zu disputatio 17 Nr. 2, tractatus IV, disputatio I, Randziffer 4; de Lugo (Anm. 55), disputatio XIV, sectio I.

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ziehen.69 Julius Clarus stellte die Verteidigung der persönlichen Ehre sogar der Verteidigung des eigenen Lebens gleich.70 Allerdings gab es auch Gegenpositionen dazu, sieht man von den entsprechenden Mäßigungsgeboten ab.71 Der Bezug auf Geilhausens niedere Standesqualität besaß demnach eine solide juristische Basis und war geeignet, die Adeligkeit des Angeklagten als herausragendes Argument zu profilieren, um wenigstens im Falle einer Verurteilung eine Strafmilderung zu erwirken. Beinahe einträchtig sahen die Rechtsdogmatiker des 16. Jahrhunderts nämlich in der Adeligkeit eines Angeklagten entschiedene Gründe für eine mildere Behandlung bei der Strafzumessung. Doch hierin erwiesen sich der Fallstrick und die Wucht des Tyrannen-Vorwurfs, denn ob juristisch oder kommunikativ-sozial ausgehandelt: Am Ende bedurfte es der kurfürstlichen clementia, die wegen der Adeligkeit und Ehrenhaftigkeit des Angeklagten erbeten wurde – und genau dieses Moment verkehrten die Kurfürstlichen unter Rekurs auf die guten juristischen Gründe, insbesondere auf die salus bzw. utilitas publica, ins Gegenteil. Strafminderung für Adelige war der Rechtswissenschaft bereits aus dem römischen Recht bekannt und widersprach keinesfalls dem zeitgenössischen Verständnis von Rechtsgleichheit, wie auch die Carolina es kannte.72 Die Kategorie der Nützlichkeit von Bestrafung bzw. des zu Bestrafenden für das Gemeinwesen (utilitas rei publicae) spielte hierbei eine Rolle, die sich aus dem Proportionalitätsprinzip ergab, also aus der Kategorie der Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit. Diego Covarrubias de Leyva (1512–1577) etwa vertrat die Ansicht, eine Strafe müsse den Interessen des Gemeinwesens und – wie alles andere in der res publica – dem Allgemeinwohl (bonum commune) entsprechen.73 Wie schon der Aquinate schlossen Rechtswissenschaftler

|| 69 Neben anderen vertraten auch der spanische Augustiner Pedro de Aragon und der in Salamanca lehrende Jurist des weltlichen Rechts Fernando Vázquez de Menchaca (1512–1569) diese Auffassung; vgl. Bossius (Anm. 55), De homicidio, Randziffer 86 und 87); Gomez (Anm. 55) III, De homicidio, cap. III, Randziffer 22–23; de Lugo (Anm. 55), Disputatio XIV: De iniuriis in materia famae & honoris, sectio I, Randziffer 1–3; Vàzquez de Menchaca (Anm. 55) I, cap. 18, Randziffer 20; Damhouder (Anm. 55), cap. LXXVI, Randziffer 6; de Aragon (Anm. 55), Quaestiones 64, art. VII; de Soto (Anm. 55) V, quaestio I, articulus VIII; Lessius (Anm. 55) II, cap. 9, dubitatio XII, Randziffer 77–85. 70 Vgl. Clarus (Anm. 55) V, § Homicidium, Randziffer 26. 71 Vgl. de Molina (Anm. 55), tractatus III, disputatio 17, Randziffer 1–3; de Lugo (Anm. 55), disputatio XI, sect. II, Randziffer 56. Lessius (Anm. 55) II, cap. 9, dubitatio XII; Covarruvias de Leyva (Anm. 55) I: Clement. si furiosus. De Homicid. & Irregulitate, sowie Pars III: De homicidio ad defensionem commisso, Randziffer 1–4. 72 Vgl. KASER, MAX: Römische Rechtsgeschichte, Göttingen 21993 (Jurisprudenz in Einzeldarstellungen 2), S. 128; GWINNER, HEINRICH: Der Einfluss des Standes im gemeinen Strafrecht, Breslau-Neukirch 1934, Nachdruck Frankfurt a. M./Tokyo 1977 (Strafrechtliche Abhandlungen 345), S. 12–14; Carolina (Anm. 50), Art. 137. 73 Vgl. SCHNYDER (Anm. 54), S. 112–13, 154–56; Covarrubias de Leyva (Anm. 55) II, Variarum resolutionum Liber II, cap. IX, Randziffer 2.

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des 16. Jahrhunderts auf die Kongruenz zwischen Delikt und Strafe sowie deren Bemessung nach der Qualität des Delikts, des Täters und des Opfers.74 Die Todesstrafe kam daher für Adelige nur in Frage, wenn die Tat einen Gleich- oder Höherrangigen betraf, nicht wenn ein Standesniederer getötet worden war. Vielzählig waren die Strafminderungsgründe für adelige Beschuldigte, zumal ihre natürliche industria zum Wohle des Gemeinwesens benötigt wurde. Allerdings verwiesen zeitgenössische Rechtswissenschaftler auch auf die gängige fürstliche Strafpraxis, aus Gründen der allgemeinen Wohlfahrt unter Umständen Adelige hinzurichten.75 Angesichts solcher Relativierungswirkung des Nützlichkeitsprinzips gegenüber dem Postulat gesetzlicher Gleichheit vertraten Pedro de Soto und Francisco de Vitoria (1483/93–1546) die Ansicht, nur in Ausnahmefällen, nämlich wenn die utilitas rei publicae den Vergeltungsanspruch des Geschädigten überwiege, könne auf den Vollzug der Todesstrafe verzichtet werden.76 Der römische Legist Prosper Farinacius (1544–1618) ging noch einen Schritt weiter: Er beurteilte kriminelles Vergehen von Klerikern und Würdenträgern gravierender als das anderer Personen, denn aufgrund ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen Position und ihrer Vorbildfunktion schadeten sie einem Gemeinwesen umso mehr. Nicht die Bestrafung solcher Personen, sondern ihr Verhalten beeinträchtigten das bonum commune.77 Bei alldem wird deutlich: Adeligkeit und Allgemeinwohlbezug standen in ambivalentem, stets fallweise zu spezifizierendem Spannungsfeld des gemeinen Nutzens und seines Sozialprestiges, die ihrerseits immer stärker in den Kontext der Verknüpfung von auctoritas publica mit der summa potestas principis gerieten. Hier setzte die Argumentation des Mainzer Kurfürsten gegenüber all jenen Fürsprechern Wintzingerodes an, die die kurfürstliche clementia und den Abbruch des Verfahrens anmahnten. Brendels Antwort war gewissermaßen monoton, wenn er ausführte, er schütze sowohl den Adel gegen Terroristen wie Wintzingerode als auch die Allgemeinheit vor einem Tyrannen; er verteidige damit die adeligen Werte. Damit setzte der Kurfürst jene staats- und tugendtheoretischen Argumente ein, die Eingang in die zeitgenössischen Strafrechtsinterpretationen gefunden hatten. Brendels Argument, ein Mörder könne prinzipiell und niemals adelig sein und sich auf adelige Werte berufen, entsprach der

|| 74 Vgl. SCHNYDER (Anm. 54), S. 154–57. 75 Vgl. Bossius (Anm. 55) De homicidio, Randziffer 107–08; Clarus (Anm. 55) V, § Homicidium, Randziffer 19; Gomez (Anm. 55) III, De homicidio, cap. III, Randziffer 2; Covarrubias de Leyva (Anm. 55) II, Variarum resolutionum Liber II, cap. IX, Randziffer 3–4; de la Cantera (Anm. 55), cap. VI, De homicidio, Randziffer 22; de Molina, De iustitia (Anm. 55), tractatus III, disputatio 21, Randziffer 2–3; Farinacius (Anm. 55), Liber III, De poenis temperandis, quaestio XCVIII, causa XVIII, Randziffer 97–133. 76 Vgl. de Soto (Anm. 55) V, quaestio IV, articulus IIII; de Lugo (Anm. 55), disputatio XXXVII, sectio VIII, Randziffer 92; Clarus (Anm. 55) V, § Fin., Randziffer 25 und 27; de Molina (Anm. 55), tractatus III, disputatio 40, Randziffer 17; Farinacius (Anm. 55), Liber III, De poenis temperandis, quaestio XCVIIII, causa XV, Randziffer 134–142; SCHNYDER (Anm. 54), S. 136. 77 Vgl. Farinacius (Anm. 55), Liber I, titulus III: De delictis, & poenis, quaestio XVIII, Randziffer 82.

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Auffassung Damhouders, der in seinem 1554 erschienen Standardwerk des europäischen Strafrechts Practica Rerum Criminalium die Auffassung vertrat, mit der Tötungshandlung verliere ein Adeliger seine Ehre und könne also auch hingerichtet werden.78 Gleichermaßen erwies sich das Utilitätsfigur als argumentativer Bumerang für die Verteidigung: Was konnte schon nützlicher sein als die Beseitigung eines Tyrannen im Sinne des Allgemeinwohls? Wintzingerode hatte aus dieser Perspektive die härteste mögliche Strafe verdient, weil er mit seinem gesetzeswidrigen Verhalten der Gesellschaft – gerade seinen Standesgenossen – ein schlechtes Beispiel für sozial angemessenes Verhalten gegeben, Gesetze und Hierarchien missachtet und den Frieden angegriffen hatte. Es musste ein Gebot der Stunde und des utilitas-Prinzips sein, die Ordnung durch den Lauf des Rechts wiederherzustellen und außergerichtliche Kompromisse abzulehnen. Einhergehend mit dieser Interpretation des Nützlichkeitsprinzips wusste die kurfürstliche Regierung zugleich die Strafverfolgung an sich bereits als Ausdruck der Pflichtwahrnehmung eines dem bonum commune verpflichteten Fürsten zu profilieren. Darüber hinaus vermochte der Mainzer Kurfürst fest auf dem Boden der Rechtsdogmatik gegen einen solchen Tyrannen geltend zu machen, dass die unnachgiebige prozessuale Strafverfolgung eine herausragende virtus publica bzw. virtus rei publicae darstellte. Vergeltung für eine Tat zu suchen, besaß für die Rechtswissenschaftler des 16./17. Jahrhunderts einen privaten und einen öffentlichen Charakter.79 Demnach hatte der für die iustitia in der res publica zuständige Fürst im Sinne des bonum commune für die Strafverfolgung – also für die juristische Aufarbeitung eines Vergehens, gegebenfalls für die Bestrafung und die Wiedergutmachung – unabhängig von privaten Interessen zu sorgen. Dies bedeutete auch, dass jenseits der Ansprüche der Familie Geilhausen die Pflicht des Kurfürsten bestand, unnachgiebig für eine entsprechende Strafverfolgung zu sorgen, eben weil der Getötete ein Mitglied der Gemeinschaft war und damit diese an sich verletzt worden sei.80

|| 78 Vgl. Damhouder (Anm. 55), cap. LXVII Randziffer 17: Weil der Totschläger Gott, die Natur und seine Mitmenschen beleidige, könne nur Gleiches mit Gleichem vergolten werden. Derhalben soll auch einem Todtschläger / ob er gleich vom Adel / von Rechtswegen / vnnd auß vielen oberzehlten vrsachen / sein leben genommen werden: Dann Schuld will alle Ehr vnd Wirde halben außgeschlossen. Farinacius (Anm. 55), Liber III, De poenis temperandis, quaestio XCVIIII, causa XV, Randziffer 94, und quaestio XCVIIII causa XXXI, hielt sogar aufgrund der Vorbildfunktion des Standes höhere oder schwerere Strafen für möglich. Unterstützt wurde diese Ansicht durch Bossius (Anm. 55), De vi publica & priuata, Randziffer 1–4, der ein Einschreiten des Fürsten gegen Allgemeinwohl schädliche Tyrannen ebenso verlangte wie DE SOTO (Anm. 55), V, quaestio I, articulus III. 79 Vgl. SCHNYDER (Anm. 54), S. 111–13. 80 Vgl. Bossius (Anm. 55), De pace, Randziffer 9.

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5 Fazit Der Tyrannei-Begriff erweist sich als ein argumentatives Instrument der Rechtspraxis der beginnenden Frühen Neuzeit, das mit Konnotationen belegt wurde und nur so funktionierte. Entsprechend war seine Wirkungskraft von der Geschicklichkeit seiner Verwendung abhängig. Glaubwürdigkeit, Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit im Sinne einer gemeinsamen inhaltlichen Kommunikationsbasis zwischen Sender und Empfänger waren notwendig. Die Polyvalenz des Tyrannei-Begriffs lässt sich bereits daran ablesen, dass jeder Interessierte sich an ihm bedienen konnte, um seine Absichten rhetorisch wirkungsvoll zu profilieren und als ›natürlich‹ gerechtfertigt zu untermauern. Mit dem Tyrannei-Vorwurf vollzog sich eine Stigmatisierung, Marginalisierung und Diskriminierung – und zwar in dieser Reihenfolge! – des Kontrahenten als Vergewaltiger und/oder Zerstörer der rechtmäßigen menschlichen Ordnung. Der Beschuldigte wurde verbal aus der Rechtsgemeinschaft – aus der res publica – separiert, wobei er sich genaugenommen gemäß des jeweiligen Anklagenarrativs als ›Terrorist‹ und ›Perverser‹ der Rechtsnormen selbst separierte. Mit dem Tyrannei-Begriff wurden insofern ausgesprochen starke Bilder evoziert und abschreckende Begriffe verwendet; aber genau darum ging es: zwecks Erklärung außergewöhnlich empörender, ja grausamer Handlungen abstoßende Szenen zu generieren von dem Gegenbild zur gottgewollten, daher positiven menschlichen Gemeinschaft, deren einzelne Mitglieder der Tyrann attackierte, deren kollektive Freiheiten er beschnitt und deren Normen er aus Egoismus negierte. So besaß der Tyrannei-Vorwurf neben seinen desintegrativen Effekten auch integrative Stoßrichtung: ›Wir‹ gegen ›den‹, Gruppe versus Einzelperson, was nicht nur der praktischen Strafrechtslogik, sondern auch den Legitimationsinteressen des princeps und pater patriae entsprach.

DS Mayfield

tyrannous / To vse it like a Giant: Polyvalent Perspectives on Tyranny in Shakespeare’s Measure for Measure With Remarks on Further Instances in His corpus, as well as on Machiavelli First staged in 1604 (not long after James’ accession to the throne), Measure for Measure is likely Shakespeare’s most explicitly theoretico-political play – and not only in its opening with this significative verse: Of government the properties to unfold (MM [Ard 2nd], p. 3, I.i.3). Saturated with express and contextualized references to the demigod, Authority (p. 14–15, I.ii.112) – to absolute power (p. 19, I.iii.13), tyranny (p. 17, I.ii.152; p. 21, I.iii.36), to what constitutes a tyrant (p. 61, II.iv.114; p. 64, II.iv.168; p. 90, III.ii.189) – the text at hand may be read as rendering problematic the concomitant and latent quaestiones infinitae also. Being of dramatic make – ever characterized by a decided diversity of perspectives and a polyvalence of intratextually functionalized value judgments – Measure for Measure’s metapolitical kaleidoscope of viewpoints may be seen as conducing to a historicized, as well as a more general description of civic issues relating specifically to tyranny. Like a ›preserved specimen‹, the play tenders a variety of positions held by its protagonists in said regard. During a crucial encounter between the (soon to be) corrupt deputy Angelo (standing in for the absent sovereign) and the (apparently) virtuous novice Isabella (speaking on behalf of her convicted brother’s life), the latter memorably formulates the following sententia – central in and to the action, while articulating a more universal claim, as well: O, it is excellent / To have a giant’s strength, but it is tyrannous / To use it like a giant (MM [Ard. 2nd], p. 45, II.ii.108–10). Yet not only human beings are charged with being, or behaving like, a tyrant (cf. e.g. p. 17, I.ii.152–53; p. 90, III.ii.187–89). Measure for Measure also interrogates the more abstract absolutisms of a given morality, the law, and mercy – with salient theologico-political implications (not least in frequent, partly oblique references to Pauline and Augustinian positions). This is particularly patent in the rigor of Angelo’s Puritanism, which conduces to effects as may tend to be associated with tyranny. Arguably, Shakespeare’s lucidly foresightful play also presents an incisive analysis of how consolidated discursive tendencies might affect public life when empowered. Proceeding inductively, the present essay takes its cues from the text itself, tracing and describing the variegated and poly-perspectival approaches to the question of tyranny on the part of its protagonists – an interplay and tensity of functional or nuhttps://doi.org/10.1515/9783110752373-018

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anced allegations, and figuratively heuristic or tentative depictions. The corresponding reading develops the implications of the various (historical) views sedimented in the drama’s diverse discursive layers and respective affinities (theological, legalistic, power political) by a sustained recourse to the particular way, in which these are represented – and rendered problematic – in Shakespeare’s drama. The present article offers the revised version of a talk given on Sept. 26, 2018 at Schloss Rauischholzhausen, during the conference »Polyvalenz der Tyrannis. Figurationen eines Herrschaftskonzepts in Mittelalter und Früher Neuzeit«, convened by Julia Gold, Christoph Schanze, and Stefan Tebruck. The author is most grateful to the organizers and editors for the opportunity of participating in the scholarly discussions, and the possibility of tendering the essay at hand. The latter’s content is able to tie in with several of the contributions: Marion Darilek’s presentation pointed in a similar direction. Julia Gold mentioned the utilization of the term ›tyrant‹ qua weapon. Matthias Standke suggested a link between ›tyranny‹ and ›invective‹; Gesine Mierke, Oliver Landolt and Markus Debertol indicated a similar nexus; this will also be focal in what follows. Christian Buhr, Thomas Poser, Daria Jansen, and Oliver Landolt referred to the role of vicegerents, vicarii, and comparable surrogates – and Matthias Standke explicitly mentioned the ›tyranny of the stand-in‹. Accentuating superbia qua distinctive characteristic of the resp. agents, Elke Ukena-Best cited the phrase ›swelling with haughtiness‹ – a comparable formulation will be found in Shakespeare. The talks of Christian Stadelmaier and Gesine Mierke remarked on the import of libido and cupiditas. Hans-Joachim Schmidt contributed the concept of terror iuris to the debate, and Measure for Measure will be seen to tie in with this tópos de re; he also mentioned a ›productive interaction with Scripture‹ – an express focus in the present article. During the discussions, Mathias Herweg referred to someone’s being ›a tyrant due to frailty‹, an example whereof might be found in Shakespeare’s drama. Thomas Poser spoke of ›divine arbitrariness‹ – similarly herein. Michael Schwarzbach-Dobson emphasized a narrative wherein a ruler, accused of being a ›tyrant‹, replies that ›were he such, his interlocutor would not be able to make said claim without a physically detrimental reaction‹. A considerable thematic affinity will be visible with respect to Daria Jansen’s talk, spec. as regards the female protagonist (Judith); the same might be said for Gesine Mierke’s discussion of the Faustinian episode in the Middle High German Kaiserchronik. The author is also grateful to Joachim Küpper for his discreet comments on the ms. of the essay at hand. – Currently (2021), the author’s work is funded by the Fritz Thyssen Stiftung.

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1 Rhetoric in the Face of Tyranny: Pluralistic Parrhesíai as Opposed to Despotic ›Monolingualism‹ πείσας λαβέ, μὴ βιασάμενος. 1 Bias (as per D. Laertius, p. 90, I.88) car c’est toujours une aigreur tyrannique, de ne pouvoir souffrir une forme diverse à la sienne[.] 2 Montaigne (Essais III, p. 212, III.viii)

In the second century CE, Aelius Aristides defends rhetoric against Plato’s wellknown invectives.3 About two-thirds into his diatribe, he contrasts orators with tyrants

|| 1 »Gain your point by persuasion, not by force« (p. 91, I.88). D. Laertius: Lives of Eminent Philosophers I, ed. and trans. by R. D. HICKS, Cambridge, MA 22006. 2 Cf. Je hais toute sorte de tyrannie, et la parlière, et l’effectuelle (Essais III, p. 216, III.viii). Montaigne, Michel Eyquem de: Essais I–III, eds EMMANUEL NAYA [et al.], Paris 2009/2012; The Complete Essays of Montaigne, ed. and trans. by DONALD M. FRAME, Stanford 21989. 3 As sedimented in dialogic texts, placed into the mouths of various personae. Cf. MAYFIELD (»Ventriloquism«, p. 10–14; 18; 30n.; 77n.; 98n.; 142n.; 143, 143n.–44n.; 148n.; 149; 166n.; 168n.; 174–80, with n.; 181n.; 191–93, 192n.; 195–96). BLUMENBERG accentuates »de[n] Alternativcharakter der Rhetorik zum Terror« (»Annäherung«, p. 414). MAYFIELD, DS: Variants of Rhetorical Ventriloquism [...], booklength online supplement to: KÜPPER, JOACHIM [et al.] (eds): History and Drama [...], Berlin/Boston 2019 (https://library.oapen.org/handle/20.500.12657/25153); Artful Immorality – Variants of Cynicism. Machiavelli, Gracián, Diderot, Nietzsche, Berlin/Boston 2015; Rhetoric and Contingency. Aristotle, Machiavelli, Shakespeare, Blumenberg, Berlin/Boston 2020; Interplay with Variation [...], and Proceedings, in: MAYFIELD, DS (ed.): Rhetoric and Drama, Berlin/Boston 2017, p. 3–52, and p. 203–29; Variants of hypólepsis [...], in: KÜPPER, JOACHIM [et al.] (eds): Poetics and Politics [...], Berlin/Boston 2018, p. 233–74. The following lists the philosopher’s works as cited herein. BLUMENBERG, HANS: ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen (1957); Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (1971), in: HAVERKAMP, ANSELM (ed.): Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a. M. 2001, p. 9–46, and p. 406–431; Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 62006; Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt a. M. 1987; Die Genesis der kopernikanischen Welt [GKW I–III], III vols, Frankfurt a. M. 31996; Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 21989; Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. 1996; Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 21999; Die Verführbarkeit des Philosophen, ed. by MANFRED SOMMER, Frankfurt a. M. 2005; Beschreibung des Menschen, ed. by MANFRED SOMMER, Frankfurt a. M. 2006; Zu den Sachen und zurück, ed. by MANFRED SOMMER, Frankfurt a. M. 22007; Geistesgeschichte der Technik, eds ALEXANDER SCHMITZ and BERND STIEGLER, Frankfurt a. M. 2009; Rigorismus der Wahrheit [...], ed. AHLRICH MEYER, Berlin 2015. Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart 1997; Wirklichkeiten, in denen wir leben [...], Stuttgart 22012; Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: FUHRMANN, MANFRED (ed.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 21983, p. 11–66. His ensuing articles are cited: Kant und die Frage nach dem ›gnädigen Gott‹, in: Studium Generale 7.9 (Nov: 1954), p. 554–70; Der kopernikanische Umsturz und die Weltstellung des Menschen [...], in: Studium Generale 8.10 (Nov: 1955), p. 637–48; Kosmos und System. Aus der Genesis der kopernikanischen Welt, in:

396 | DS Mayfield (p. 540–49, §306–14).4 The core statements from that section will be worth citing in any age: who does not know that oratory [›ῥητορικὴ‹] and tyranny [›τυραννὶς‹] are as far removed from each other as persuasion [›τὸ πείθειν‹] is from force [›τοῦ βιάζεσθαι‹]? [...] if tyranny is something evil [›κακὸν‹], then on the same grounds oratory is something good [›χρηστὸν‹, sc. expedient, as well]: the former seeks to use force in every situation, the latter privileges persuasion. (p. 542–43, 5 §307–08)

|| Studium Generale 10.2 (1957), p. 61–80. Art. Hylemorphismus, in: GALLING, KURT (ed.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart, vol. III (H–Kon), Tübingen 31959, p. 499–500; Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie, in: Schweizer Monatshefte 48.2 (May: 1968), p. 121–46; Review of HEIMO DOLCH: Kausalität im Verständnis der Theologen und der Begründer neuzeitlicher Physik [...], in: Philosophische Rundschau 3.3/4 (1955), p. 198–208; Die Vorbereitung der Neuzeit. Reviews of five books by ANNELIESE MAIER, in: Philosophische Rundschau 9.2/3 (1961), p. 81–133; Sollte der Teufel erlöst werden? Kapitel einer Dämonologie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 299 (Wed., Dec 27, 1989), p. N3–N4. 4 See VICKERS, to whose efforts said oration is central (p. 170–78) – while probably also providing the starting point and title for his eponymous book (passim; spec. ch. 3, »Philosophy Versus Rhetoric«, p. 148–213). On the whole, said critic’s value judgmentalism frequently gainsays a scholarly approach (cf. e.g. p. 171; 173; spec. 177–78), and will likely have to be taken with more than a grain of salt. Aristides, Aelius: Oration 2. A Reply to Plato: In Defense of Oratory, ed. and trans. by MICHAEL TRAPP, in: Orations 1–2, Cambridge, MA 2017, p. 325–659. VICKERS, BRIAN: In Defence of Rhetoric, Oxford 21999. 5 Cf. VICKERS’ analysis, also as to the quote ensuing above (p. 173–74); »force and persuasion« are »mutually exclusive opposites« (p. 173). The critic appears to buy Aristides’ version of this well-known tópos wholesale. See spec. Cicero (de inv., p. 4–9, I.ii.1–3); BLUMENBERG (»Annäherung«, p. 412; 414); NIEHUES-PRÖBSTING (»Einsicht«, p. 10–11; 94–95; »Glauben«, p. 24–28; 33; 37; passim); PRAZ: »the superiority of the mind over brutal force« (p. 105n.). SKINNER observes: »the force of rhetoric is always partly coercive« (»Forensic«, p. 279; cf. BLUMENBERG, in another context: »Lachen«, p. 45). The point being that the power of persuasion does not ›feel‹ tyrannous: ever is the view or will of the recipients the measure. See the Nominalist take on the part of Hobbes: There be other names of Government, in the Histories, and books of Policy; as Tyranny, and Oligarchy: But they are not the names of other Formes of Government, but of the same Formes misliked. For they that are discontented under Monarchy, call it Tyranny; and they that are displeased with Aristocracy, called it Oligarchy: So also, they which find themselves grieved under a Democracy, call it Anarchy (p. 129–30, XIX; cf. p. 226, XXIX; p. 470–71, XLVI); the name of Tyranny, signifieth nothing more, nor lesse, than the name of Soveraignty, be it in one, or many men, saving that they that use the former word, are understood to be angry with them they call Tyrants; I think the toleration of a professed hatred of Tyranny, is a Toleration of hatred to Common-wealth in generall, and another evill seed, not differing much from the former (p. 486, ›Review, Conclusion‹). Cf. STRAUSS: »Hobbes [...] cannot consistently maintain the distinction between the tyrant and the king« (»City«, p. 89; with »Tyr.«, p. 106n.); MCGRAIL (p. 13). Hobbesian parrhesía charms with severity: From the reading [...] of [...] books, men have undertaken to kill their Kings, because the Greek and Latine writers, in their books, and discourses on Policy, make it lawfull, and laudable, for any man so to do; provided before he do it, he call him Tyrant (p. 226, XXIX; with p. 225; cf. La Boétie p. 151; with Montaigne, incidentally: Essais I, p. 366–367, I.xxviii; p. 646n.). Shakespeare’s Caliban curses Prospero (qua usurper): A plague upon the tyrant that I serve! (Tem, p. 216, II.ii.159). I am subject to a tyrant, / A sorcerer, that by his cunning hath / Cheated me of the island (Tem, p. 227, III.ii.40–42). For what it is worth, one of Prospero’s dogs – hunting down Caliban later – is called

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According to Aristides, they cannot be present, or reign, in a given public sphere simultaneously: where oratory is securely established there can be no tyrant [...] where a tyrant holds sway oratory cannot survive. The orator [›ὅ [...] ῥήτωρ‹] does all he can to ensure that no tyrant emerges [...]; the tyrant [›ὅι [...] τύραννοι‹] keeps watch in fear of nothing so much as the emergence of 6 someone with the power to speak and persuade [›λέγειν καὶ πείθειν δυνατός‹]. (p. 546–47, §312)

|| Tyrant (Tem, p. 261, IV.i.257, with the ensuing stage direction). See DE TOCQUEVILLE: beaucoup d’entre eux ne haïssent la tyrannie que parce qu’ils sont en butte à ses rigueurs (De la démocr., p. 203, I.i.viii; cf. »Democr.«, p. 121). Cicero, Marcus Tullius: De Inventione, ed. and trans. by H. M. HUBBELL, in: On Invention. Best Kind of Orator. Topics, Cambridge, MA 1949, p. 1–346; De Officiis, ed. and trans. by WALTER MILLER, Cambridge, MA 1913. Hobbes, Thomas: Leviathan, ed. RICHARD TUCK, Cambridge 11 2008. La Boétie, Étienne de: Discours de la Servitude Volontaire, ed. SIMONE GOYARD-FABRE, Paris 1983. MCGRAIL, MARY ANN: Tyranny in Shakespeare, Lanham [et al.] 22002. NIEHUES-PRÖBSTING, HEINRICH: Überredung zum Glauben, in: Jahrbuch Rhetorik 34 (Nov: 2015), p. 13–44; Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1987. PRAZ, MARIO: The Flaming Heart [...], New York 21973. SKINNER, QUENTIN: Forensic Shakespeare, Oxford 2014; Liberty Before Liberalism, Cambridge 1998. TOCQUEVILLE, ALEXIS DE: De la démocratie en Amérique I, ed. ANDRÉ JARDIN, Paris 21986; Democracy in America, ed. and trans. by HARVEY C. MANSFIELD and DELBA WINTHROP, Chicago, London 22000. 6 In the Greek, ›the rhétor‹ is referred to in the singular (signifying orators generally), while tyrants are explicitly given in the plural (so implying their never attaining to the monopolistic status they by definition seek). On »the prohibition of [...] education« and scholarship as characteristic of tyrannies, see Aristotle (»Politics«, p. 459, 1313b, V.ix.2; cf. p. 461, V.ix.3, as to the curbing of free speech; and p. 462–65, 1314a, V.ix.7). Generally, see PEARSON’s nexus of parrhesía and rhetoric: »Politicians in Greek cities, except when under tyrannical rule, seem to have been quite uninhibited in their abusive remarks about one another, if the speeches of the Attic orators are a trustworthy guide« (p. 40). OESTERREICH logs the »rhetoriktheoretische[n] Topos der Zusammengehörigkeit von Demokratie und Rhetorik« (p. 89). Cf. STRAUSS (»City«, p. 133); RHODES (p. 620–21); MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 428n.; 432n.; 454; ). Linking lawful restraint (visible as personal temperance) and parrhesía, Shakespeare’s Henry V declares (auto-ethopoetically): We are no tyrant but a Christian king, / Unto whose grace our passion is as subject / As are our wretches fettered in our prisons: / Therefore with frank and with uncurbed plainness / Tell us the Dauphin’s mind (H5, p. 147, I.ii.242–46; cf. his delegating punishment to the laws at p. 179, II.ii.177–78, plus context). A comparable nexus is brought out in an exchange between Paulina and Leontes, wherein the former apophatically declares: I’ll not call you tyrant; / But this most cruel usage [...] something savours / Of tyranny, and will ignoble make you, / Yea, scandalous to the world (WT, p. 214, II.iii.114–15 and 117–19; she will later, at p. 231, III.ii.172; p. 232, III.ii.176; p. 233, III.ii.204). He retorts: Were I a tyrant, / Where were her life? She durst not call me so / If she did know me one (WT, p. 214, II.iii.120–22; cf. p. 229, III.ii.131 with 137; see MCGRAIL, p. 92). Said reply appears to be a variation on a notable dictum: Denique cum eidem descendenti per sacram uiam desperatus quidam diceret: O tiranne; Si essem, inquit, non diceres (John of Salisbury Policrat. I [1909], p. 227, 509c, III.xiv; with p. 227n.). Its traditional ascription to Augustus may seem plausible, in that the next sentence in John is a modified quote from Suetonius concerning the notorious princeps inter pares: Observatum etiam est, ne quotiens introiret urbem, supplicium de quoquam sumeretur (p. 238, II.lvii.2). With thanks to Michael Schwarzbach-Dobson, for bringing the former locus to the conference’s attention. OESTERREICH, PETER L.: Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in

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The formulation in the Greek will be reminiscent of the Ancient arch-rhétor, who notoriously proclaimed that »Speech is a great potentate [›λόγος δυνάστης μέγας ἐστίν‹]« (Gorgias, p. 758–59, 49[F10]8; KRANZ, p. 290, 82B11.8).7 Tyrants are such as would have ›none beside them‹ (see Ex 20:3; Isa 45:5).8 If the Aristidean stance seems plausible, one reason may very well be that this is another of those Goethean cases: Nemo contra deum nisi deus ipse (p. 205, IV).9 Autocracy and rhetoric: a tyrant against another; the difference will be that the one is monolithic and -lateral – including discursively, in its language regime; while the other tends to be pluralistic (and polytropic) in its potential parrhesía.10 Proceeding rhetorico-inductively, the ensuing will feature close readings of scenes central to the particular and more general issue of ›tyranny‹ as treated intra-

|| der Öffentlichkeit, Hamburg 1990. PEARSON, LIONEL: The Greek Historians of the West. Timaeus and His Predecessors, Atlanta 1987. RHODES, NEIL: The Controversial Plot: Declamation and the Concept of the ›Problem Play‹, in: The Modern Language Review 95.3 (July: 2000), p. 609–22. John of Salisbury: Ioannis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici sive De Nugis Curialium Et Vestigiis Philosophorum Libri VIII, ed. CLEMENS C. J. WEBB, 2 vols., Oxford 1909; Policraticus. Of the Frivolities of Courtiers and the Footprints of Philosophers, ed. and trans. by CARY J. NEDERMAN, Cambridge 22004. Suetonius: Lives of the Caesars. I–IV, trans. J. C. ROLFE, ed. K. R. BRADLEY, Cambridge, MA 32001. 7 MCNEELY asserts: »when either power or powerlessness is absolute [...], rhetoric is futile« (p. 193) – the question being, might it ever be thus; for with respect to human beings and dealings, there will be no ›absolutes‹. GORGIAS: Encomium of Helen, ed. and trans. by DANIEL W. GRAHAM, in: The Texts of Early Greek Philosophy. The Complete Fragments and Selected Testimonies of the Major Presocratics, vol. II, Cambridge 2010, p. 754–63. KRANZ, WALTHER (ed.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Zweiter Band, trans. HERMANN DIELS, vol. II (59–90), Zürich/Hildesheim 61985. MCNEELY, TREVOR: Proteus Unmasked. Sixteenth-Century Rhetoric and the Art of Shakespeare, Bethlehem, PA/London 2004. 8 See these loci in the Vulgate: Non habebis deos alienos coram me (Ex 20:3). Non habebis deos alienos in conspectu meo (Dt 5:7). Ego Dominus, et non est amplius; extra me non est deus (Isa 45:5). Cf. BLUMENBERG: »Der monotheistische Gott allein wäre dann jener [...] [d]er, anders als die vielen Götter [...], den Menschen beschäftigt oder gar intern tyrannisiert« (»Arbeit«, p. 35). 9 With BLUMENBERG (»Arbeit«, p. 488; 569; 575; 580; 582; generally p. 433–604, and spec. p. 567– 604). Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Dritter und Vierter Teil, ed. MOMME MOMMSEN, München 1962. 10 For a case against the monolingual, Romanticist despotism of the so-called ›national‹ literatures, see KÜPPER (»Cultural Net«, p. 212–91; spec. 236n., 243n., 268, 270, 274, 279n.; passim). KÜPPER, JOACHIM: The Cultural Net. Early Modern Drama as a Paradigm, Berlin/Boston 2018; Discursive Renovatio in Lope de Vega and Calderón [...], Berlin/Boston 2017; Klassische Episteme und Kontingenz; and: Mittelalterlich Kosmische Ordnung und rinascimentales Bewusstsein von Kontingenz [...], in: GRAEVENITZ, GERHART VON and MARQUARD, ODO (eds): Kontingenz, München 1998, p. 117–22, and p. 173–223.

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dramatically and poly-perspectivally in Shakespeare’s Measure for Measure.11 To facilitate comparison, the notes include references to further instances in the corpus.12 || 11 Shakespeare, William: Measure for Measure [MM Var.], ed. MARK ECCLES, New York 1980; Measure for Measure. An Old-Spelling and Old-Meaning Edition, ed. ERNST LEISI, Heidelberg 1964. References to the other works (using standard abbreviations) cite the Arden ed. from the 2nd Series: Measure for Measure [MM Ard. 2nd], ed. J. W. LEVER, London 2004; King Richard III [R3], ed. ANTHONY HAMMOND, London 2002; and: All’s Well That Ends Well [AW], ed. G. K. HUNTER, London 2013. From the 3rd Series: Measure for Measure [MM Ard. 3rd], ed. A. R. BRAUNMULLER and ROBERT N. WATSON, London 2020; Attributed Poems; and: The Rape of Lucrece [Luc], both in: Shakespeare’s Poems [...], eds KATHERINE DUNCAN-JONES and H. R. WOUDHUYSEN, London 2014, p. 231–383 and p. 429–69; Cymbeline [Cym], ed. VALERIE WAYNE, London 2017; Hamlet [Ham], eds ANN THOMPSON, and NEIL TAYLOR, London 22017; Julius Caesar [JC], ed. DAVID DANIELL, London 2006; King Henry IV, Part 2 [2H4], ed. JAMES C. BULMAN, London 2016; King Henry V [H5], ed. T. W. CRAIK, London 1995; King Henry VI, Part 2 [2H6], ed. RONALD KNOWLES, London 2001; King Lear [KL], ed. R. A. FOAKES, London 2013; King Richard II [R2], ed. CHARLES R. FORKER, London 2015; Macbeth [Mac], eds SANDRA CLARK and PAMELA MASON, London 2015; The Merchant of Venice [MV], ed. JOHN DRAKAKIS, London 2013; Othello [Oth], ed. E. A. J. HONIGMANN, London 2001; and: Shakespeare’s Sonnets [Son], ed. KATHERINE DUNCAN-JONES, London 2010; The Tempest [Tem], eds VIRGINIA MASON VAUGHAN and ALDEN T. VAUGHAN, London 2005; Titus Andronicus [Tit], ed. JONATHAN BATE, London 2014; The Winter’s Tale [WT], ed. JOHN PITCHER, London 2018. Shakespeare, William/Middleton, Thomas: Timon of Athens [Tim], eds ANTHONY DAWSON and GRETCHEN E. MINTON, London 2008. 12 As per SPEVACK’s heuristically invaluable tabulation (see »Harvard Concord.«, p. 1391; »Concord. VI.«, p. 3690; and cf. »Concord. I.«, p. 299, for the present play only), the ensuing variants of the term in question appear in the Shakespearean corpus (with the number of total occurrences in parentheses): tyrannical (2), tyrannically (1), tyrannize (4), tyrannous (14), tyranny (37), tyrant (57) – plus the singular (10) and plural (2) genitives thereof – as well as tyrants (10); being 137 uses overall. As in Son and JC, 7 are present in MM (5 thereof in the first two acts). The largest count by far pertains to Mac, which has 18 variants (all of which appear in the second half); cf. ARMSTRONG: »Fear and tyrant [...] are the two nouns most frequently used in the last two acts of the play [sc. Mac], and often occur in intimate connection« (»Conception«, p. 176). For comparison, WT and R3 have 10 mentions each. Cf. JAFFA: »Richard the Third and Macbeth [...] are the two Shakespearean plays concerned above all with the phenomenon of tyranny« (»Unity«, p. 38); »Richard the Third is a conscienceless Macbeth« – he »enjoys both becoming and being a tyrant« (»Unity«, p. 39). GREENBLATT speaks of »the quintessential tyrants Richard III and Macbeth« (p. 3). Generally, see MCGRAIL: »Shakespeare addressed the problem [›of tyranny‹] from many different angles: political, psychological, historical, aesthetic« (p. 1; cf. 7); he »used the term with great frequency, and [...] both with great variety and with great precision« (p. 13). The critic offers the ensuing »definitions«: »the tyrant as illegitimate ruler, as scourge [...], as a being opposed to divine will (simply evil), and as a self-serving ruler who ruled without popular consent« (p. 7). MCGRAIL’s is one of two books dealing with tyranny in Shakespeare that sideline MM (p. 42n.; 43n.; 45n.; 84); she explicitly »omit[s] from consideration the petty tyrants of the comedies«, deeming »Tyranny [...] the preserve of the few« (p. 2). The other is GREENBLATT (p. 3). It might not do justice to said critic’s feuilleton-style efforts were they measured by scholarly standards – being characteristically essentialist (cf. e.g. p. 3), partly (if deliberately) anachronistic (see p. 6; 11; 37; 53–54; 57; 62), didacticist (»It would have been better«, p. 29; cf. 41, 43; 59; 65) and moralizing (p. 48; 59); hardly abstentious of speculation, including as to authorial intent (cf. p. 5–6; 9; 14–15; 17; 21; 53; 61–62; 65; passim); replete with what appear to be psychologistic and ideological value judgments or ressentiments (e.g. at p. 13–14; 17; 20; 22; 24; 28–30; 34–35; 40–41; 43–45; 47–48; 53–54; 57–58; 60; 62;

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Being somewhat more thetical and tentative – general or universal – the conclusion suggests that said question is also applicable to the discursive plane.13

2 ›Tyranny‹ in Shakespeare’s Measure for Measure (1604/1623): A Panorama of Voices and Viewpoints »Tyranny is a danger coeval with political life. The analysis of tyranny is therefore as old as political science itself.« 14 STRAUSS (»Tyr.«, p. 22)

|| passim), while apparently uninclined to hide a special affinity for conspiracy theories throughout. ARMSTRONG, W. A: The Elizabethan Conception of the Tyrant; and: The Influence of Seneca and Machiavelli on the Elizabethan Tyrant, both in: Review of English Studies 22.87 and 24.93 (July: 1946, Jan: 1948), p. 161–81, and p. 19–35. GREENBLATT, STEPHEN: Tyrant. Shakespeare on Politics, New York/London 2018. JAFFA, HARRY V.: The Unity of Tragedy, Comedy, and History: An Interpretation of the Shakespearean Universe; and: Chastity as a Political Principle: An Interpretation of Shakespeare’s Measure for Measure, in: ALVIS, JOHN E. and WEST, THOMAS G. (eds): Shakespeare as Political Thinker, Wilmington 22000, p. 29–58, and p. 203–40. SPEVACK, MARVIN: The Harvard Concordance to Shakespeare, Hildesheim 1973; A Complete and Systematic Concordance to the Works of Shakespeare. Volume I. Drama and Character Concordances to the Folio Comedies, Hildesheim 1968; Volume VI. A Concordance to the Complete Works. Severity–Zwagger’d and Appendices, Hildesheim 1970. 13 For a qualitative analysis of tyranny at the general and (conceivably) particular levels, see Shakespeare (Mac, p. 253–62, IV.iii.1–139, spec. as of v.31; with p. 253n.). Malcolm, playing (the role of) potential tyrant in dialog with Macduff, describes Macbeth by recourse to these adjectives: bloody, / Luxurious, avaricious, false, deceitful, / Sudden, malicious, smacking of every sin / That has a name (Mac, p. 257, IV.iii.57–60); to himself, he (putatively) ascribes ›bottomless‹ voluptuousness and lust, with nothing standing in the way of his desire (Mac, p. 257, IV.iii.63) and will (Mac, p. 258, IV.iii.65; see the density of said term: willing, vultures, will, 73–75). Contrast the list of virtues (graces) – all of which are given ex negativo, as far as Malcolm’s (tempting) auto-ethopoiía is concerned (Mac, p. 259, IV.iii.91–95). Generally, ARMSTRONG notes: »Elizabethan moralists often summarize the tyrant as an epitome of deadly sins« (»Influence«, p. 19; here also: p. 22; and »Conception«, p. 172; 180). »He is pre-eminently proud, wrathful, lecherous, and avaricious« (»Conception«, p. 168–69). DRAPER has: »Macbeth acts the usurping tyrant true to form« (p. 77; cf. 78–80). See MCGRAIL, with respect to the passage in question: »the scene [...] presents a definition of what the tyrant is – one who rules oppressively, solely in his own self-interest, and for the satisfaction and excitement of his own desires. [...] along with this definition it offers a glimpse of a standard of good rule« (p. 20). »This curiously placed, nondramatic scene [...] offers an analysis of the component vices of tyranny and its effects« (p. 22); the latter »is not simply a political or historical aberration but a particular human condition« (p. 24). 14 The following lists the works by the philosopher cited herein. STRAUSS, LEO: The City and Man, Chicago/London 21978; Thoughts on Machiavelli, Chicago/London 21978; What is Political Philosophy? [...], Chicago/London 21988; On Tyranny. Corrected and Expanded Edition. Including the Strauss-

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»tyranny[:] [...] the greatest possible deterioration of political life[.]« 15 EDEN (»Friends«, p. 81)

The general method of the ensuing is epagogic – taking the play’s (circumstantial) givens as starting points; moving to the kathólou level subsequently; and then returning to the case at hand.16 In so doing, the present approach aims at tracing the intradramatically discernible variants of dealing with the tópos of ›tyranny‹ – which belongs to, or forms part of, the playwright’s process of (rhetorical) inventio for Measure for Measure.17 A brief précis of the overall plot will likely seem expedient at this point. The ensuing, highly condensed synopsis cannot include the subplot or supplementary characters, nor the play’s countless twists and turns (taking place at several levels). Seemingly with a view to taking a temporary leave, the Duke of Vienna delegates his authority to Angelo at the onset of Act I. The latter immediately and strictly enforces hitherto latent laws, especially one concerning extramarital affairs. Claudio is (among) the first to be arrested for fornication. On behalf of her brother, the novice Isabella pleads for mercy before the Duke’s Deputy in Act II. The otherwise Puritanical Angelo falls in love (or rather, lust) with the sister, precisely due to her generally rigoristic ethos, which (he feels) resembles his. When she refuses him, the potentate’s stand-in tries to use Claudio as a means to extort her consent. In Act III, the apparently absconded Duke, disguised as a Friar, is shown and seen to be scheming against his own surrogate: he coopts Isabella, tells her to seemingly

|| Kojève Correspondence, eds VICTOR GOUREVITCH and MICHAEL S. ROTH, Chicago/London 32013; The Rebirth of Classical Political Rationalism. An Introduction to the Thought of Leo Strauss [...], ed. THOMAS L. PANGLE, Chicago/London 1989. 15 EDEN, KATHY: Friends Hold All Things in Common. Tradition, Intellectual Property, and the Adages of Erasmus, New Haven/London 2001; Hermeneutics and the Rhetorical Tradition. Chapters in the Ancient Legacy and Its Humanist Reception, New Haven/London 1997; Poetic and Legal Fiction in the Aristotelian Tradition, Princeton 22014. 16 As per KNIGHTS, »thought in Shakespeare is generated [...] by [...] a pattern of [...] different attitudes towards« a (general) theme: such as »liberty and restraint« (»Explor. [3]«, p. 118–19), or »the relation of law and natural impulse« (»Explor. [1]«, p. 107n.), as well as »›justice‹« (»Explor. [2]«, p. 57), in MM. Rhetorically speaking, said critic is giving several of the potential quaestiones infinitae (or théseis) as are implied – and polyvalently, multi-perspectivally responded to (while not finally resolved) – by the (finite) particulars in the play’s field of tension. As to tyranny, one might provisionally propose the ensuing queries (hence aspects of, and approaches to, the phenomenon): what may be its causatives, basic dynamics, sustained sources; which effects – in terms of general and distinctive (spec. verbal) conduct – does it tend to manifest or elicit (including ascriptions from various viewpoints, resp. to be differentiated). KNIGHTS, L. C.: Explorations, 3 vols., London, 21951/1965/1976. 17 Generally thereto, cf. RHODES (p. 613). Citing from ECCLES’ »Variorum« ed. – giving the 1623 First Folio version of this 1604 play (p. xi) – the present reading stays close to Shakespeare’s text in its extant form.

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accept the corrupt judge’s terms, and set up a nocturnal rendezvous – which appointment will then be kept vicariously by Angelo’s former (and still loving) fiancée Mariana, whom he had rejected for lack of a dowry. Act IV opens with Isabella’s confirming of the Deputy’s having taken the bait; but (as the conspirators soon learn) he has not signed a pardon in return for physical favors granted, having rather expedited Claudio’s shipment to Hades – while the capital severance is to be sent to Angelo himself at once. Instantly, the disguised Duke adapts to this (change in) situation, and arranges for a surrogate head’s being delivered to the vicegerent instead. Even so, he leaves Isabella in the dark as to said switch. In Act V, the ruler ›returns‹ to Vienna openly; Claudio’s sister, believing her brother decapitated, publicly accuses the (former) Deputy, calling out for justice.18 After a considerable sequence of further substitutions (including Claudio’s ›revival‹), Angelo is ›sentenced‹ to marry Mariana; the Duke himself demands Isabella’s hand.19

|| 18 In the course of Isabella’s rhetorico-forensic speech in Act V, she offers something like an intradramatic précis of the overall play (see MM [Ard. 2nd], p. 130, V.i.95–106). For a close reading thereof – spec. with a view to MM’s structurally decisive variants of contradiction – cf. MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 423–426; 456n.; 471–472). 19 While probably not being an exactly ›happy‹ ending (for certain of the involved, and some audiences), the drama does conclude on an ostensively ›comic‹ note (generically speaking): »Measure for Measure is formally a comedy, whatever its ›problems‹« (WHITE, p. 174; cf. 158, 182, 184). KÜPPER accentuates the »question of genre« – spec. the »undeniable [...] fact [...] that MM is a comedy (and ends accordingly)« (comment on the ms. of the essay at hand; May 6, 2019; trans. dsm). While the present topic, focus, and corresponding approach prioritizes the play’s ›problematic‹ – rather than its plainly ›comic‹ – aspects, the latter may well seem to cultivate (conduce to, even exacerbate) the former (given an audience or readership so disposed). As always in matters rhetorical, one will incline to ask ›cui bono‹ (in generically adapted words: ›who laughs last‹). MM is cut in a multifaceted manner; and may yield variegated effects, depending on the angle of incidence. Herein, the play’s entirety cannot be treated within the given space, wherefore the focus will be on Acts I and II, mainly. In subch. 2.1, attention is paid to the opening and the (immediately associated) third scene: featuring, first, the Duke, his deputy to-be (Angelo), and the alderman Escalus (I.i); and then the (now ›undercover‹) ruler in conversation with a Friar (I.iii). Subch. 2.2 discusses the verbal exchanges between the flippant Lucio and the convicted Claudio – taking place while the latter is being carried off to prison for having committed fornication (I.ii). Lastly, subch. 2.3 tenders the two central interactions between Angelo and Claudio’s sister (II.ii, II.iv), in which the Deputy’s speeches reveal his (also discursively) autocratic, and (increasingly) corrupt(ed), character; and wherein the unyielding novice Isabella addresses the matter of tyranny at the (rhetorically) ›universal‹ and particular levels – the latter in terms of her brother’s fate. ECCLES, MARK: Preface. Plan of the Work, in: ECCLES, MARK (ed.): Measure for Measure, New York 1980, p. ix–xxvii. WHITE, R. S.: Natural Law in English Renaissance literature, Cambridge 1997.

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2.1 Political Theory Enacted: The Duke’s Point of (Over)View God Almighty […] shall still be King in what manner soever we rebell[.] 20 Hobbes (p. 179, XXV; cf. p. 225–26, XXIX) »vergessen wir nicht, wie die letzte Bitte des Vater unser lautet [...]: et ne nos inducas in tentationem.« 21 KABLITZ (p. 74; cf. 72)

The drama opens with a scene of delegation.22 Most significantly, its first (full) verse insinuates the play’s overall status as meta-political: Of Gouernment, the properties to vnfold (MM [Var.], p. 8, TLN6, I.i).23 This is formulated as a praeteritio, since the Duke || 20 Cf. Rousseau: Le Christianisme ne prêche que servitude et dépendance. Son esprit est trop favorable à la tirannie pour qu’elle n’en profite pas toujours. Les vrais Chrétiens sont faits pour être esclaves (p. 289, IV.viii; typography accommodated; plus context, p. 287–89; and 499n. for the nexus with Machiavelli; cf. »Discourses«, p. 131, II.2.2; and STRAUSS »Tyr.«, p. 183–184; also PRAZ, p. 95n.; and MCNEELY, p. 199). See de Tocqueville: La toute-puissance me semble en soi une chose mauvaise et dangereuse (De la démocr., p. 377, I.ii.vii; cf. »Democr.«, p. 241). He elaborates: Lors donc que je vois accorder le droit et la faculté de tout faire à une puissance quelconque [...] je dis: là est le germe de la tyrannie, et je cherche à aller vivre sous d’autres lois (De la démocr., p. 377, I.ii.vii). Machiavelli, Niccolò: Discourses on Livy, ed. and trans. by HARVEY C. MANSFIELD and NATHAN TARCOV, Chicago/London 1998; Il Principe, ed. GIORGIO INGLESE, Torino 1995; Mandragola, ed. GUIDO DAVICO BONINO, Torino 1980. Rousseau, Jean-Jacques: Du Contrat social [...], ed. ROBERT DERATHÉ, Paris 1964. 21 KABLITZ, ANDREAS: Von den Trobadors zu Wagners Tannhäuser. Der provenzalische Minnesang und die europäische Lyrik, in: KABLITZ, ANDREAS (ed.): Europas Sprachenvielfalt und die Einheit seiner Literatur, Freiburg i. Br. [et al.] 2016, p. 51–96. 22 Generally, La Boétie discerns: Il y a trois sortes de tyrans: les uns ont le royaume par élection du peuple, les autres par la force des armes, les autres par succession de leur race (p. 143). Those who come to their position via superior acts of commissioning might be added de re. If – as JAFFA suggests with respect to the play’s title – »[t]he thesis of Matthew 7, ›Judge not, that ye be not judged‹, becomes an argument against [...] all government« (»Chastity«, p. 220; cf. 224–25, 229–30, 233–34), the expedient measure will be delegation: to make someone (or -thing, such as the Law personified) pass the sentence in one’s place (as Paul of Tarsus knew only too well). 23 See this corresponding or complementary opening (hardly an incidental parallel): »Stand and unfold yourself« (Ham, p. 177, I.i.2). Cf. spec. CONDREN’s article, taking its title and theme from the above line (passim). Goldberg logs: »The dominant trope of Measure for Measure is the unfolding of government, the revelation of the politicization of the body« (p. 239; cf. 233–36). See HOLLAND (p. 16; 20; spec. »the sense of government as drama«, p. 19). PLANINC notes: »The play has Shakespeare’s most explicitly political beginning [...] and it continues to study government« (p. 146). In general, cf. TOVEY (»Wisdom«, p. 61–62; »Golden«, p. 265). Contrast DRAPER (passim; spec. p. 67, 80–85, 89); REESE (p. 164; 164n.). CONDREN, CONAL: Unfolding ›the properties of government‹: the case of Measure for Measure and the history of political thought, in: ARMITAGE, DAVID [et al.] (eds): Shakespeare and Early Modern Political Thought, Cambridge 2009, p. 157–75. DRAPER, JOHN W.: Political Themes in Shakespeare’s Later Plays, in: Journal of English and Germanic Philology 35.1 (1936), p. 61–93. GOLDBERG, JONATHAN: James I and the Politics of Literature [...], Stanford 21989. HOLLAND, NORMAN N.: Measure for Measure: The Duke And The Prince, in: Comparative Literature 11.1 (Winter: 1959), p. 16–20. PLANINC, ZDRAVKO: Shake-

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(who utters these lines) immediately adds that his present interlocutor – the politically experienced alderman Escalus – has no need of such an ›explication‹. The general audience will (likely) be another matter; and most of what follows does indeed demonstrate the mechanisms and maneuvers of ›governing‹. In other words: the play going by the name of Measure for Measure is a performative (dramatically enacted) ›unfolding‹ of its opening line or meta-verse. Adapting KÜPPER’s formulation, one might speak of a mise en scène ou abyme du discours – the latter in specifically political (and largely Machiavellian) terms.24 Angelo’s commissioning qua surrogate ruler expressly includes the executive and jurisdictional powers – as the Duke explains in Escalus’ presence (and that of the audience): we haue with speciall soule Lent him our terror, drest him with our loue, And giuen his Deputation all the Organs Of our owne powre. (MM [Var.], p. 11–12, TLN20–24, I.i)

This general sense is repeated when speaking to the vicegerent himself: In our remoue, be thou at full, our selfe: Mortallitie and Mercie in Vienna Liue in thy tongue, and heart. (MM [Var.], p. 15, TLN49–51, I.i)

Lest the point be lost (including on the recipients), the ruler restates it once again – when (ostensibly) taking his leave: your scope is as mine owne, So to inforce, or qualifie the Lawes 25 As to your soule seemes good. (MM [Var.], p. 17–18, TLN73–75, I.i)

|| speare’s Critique of Machiavellian Force, Fraud, and Spectacle in Measure for Measure, in: Humanitas XXIII.1–2 (2010), p. 144–68. REESE, M. M.: The Cease of Majesty. A Study of Shakespeare’s History Plays, London 21968. TOVEY, BARBARA: The Golden Casket: An Interpretation of The Merchant of Venice, in: ALVIS, JOHN E. and WEST, THOMAS G. (eds): Shakespeare as Political Thinker, Wilmington 22000, p. 261–87; Wisdom and the Law: Thoughts on the Political Philosophy of Measure for Measure, in: ALULIS, JOSEPH and SULLIVAN, VICKIE B. (eds): Shakespeare’s Political Pageant [...], Lanham/London 1996, p. 61–76. 24 Here mutatis mutandis; see KÜPPER on the device of »a mise en abyme du discours« (»Discursive Renovatio«, p. 333; cf. 362; 364; 373; for applications: MAYFIELD »Ventriloquism«, p. 3n.; 11n.; 12, 12n.; 17; 41; 117; 171, 171n.; 173n.; 185n.; 193; 198; »Rhetoric and Contingency«, p. 242; 271; 442; 732; 772). 25 Cf. REESE (p. 129). See Lucio’s version, when speaking to Isabella: vpon his place, / (And with full line of his authority) / Gouernes Lord Angelo (MM [Var.], p. 53, TLN407–09, I.iv). Moreover, the (apparently absconded) ruler implies his ›soul-searching‹ – weighing, or probing, what seems good (cf. MM [Var.], p. 11, TLN20–21, I.i; with p. 48, TLN345–46, I.iv). The Duke’s remark is (deliberately) polyvalent, in that he uses the term ›soul‹, which (power politically) cannot but mean ›will‹, while leaving

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While preparing to go and work undercover, the Duke takes up – and (for the audience’s benefit) ties in with – said outline of the commission and deputization (speaking to an accessory Friar): I haue deliuered to Lord Angelo (A man of stricture and firme abstinence) My absolute power, and place here in Vienna. (MM [Var.], p. 42–43, TLN301–03, I.iii)

That one is indeed dealing with a metapoetical setup in this highly theoretico-political play may be plain from the text itself. Like a Platonic Socrates, the Duke is putting words into the mouth of his interlocutor: Now (pious Sir) / You will demand of me, why I do this (MM [Var.], p. 43, TLN306–07, I.iii) – the audience is being addressed, as well.26 To the Friar’s Gladly, my Lord (MM [Var.], p. 43, TLN308, I.iii), the ruler replies: We haue strict Statutes, and most biting Laws, [...] / Which [...] we haue let slip (MM [Var.], p. 43–44, TLN309 and 311, I.iii).27 By (not altogether implicit) recourse to Scripture (He that spareth his rod, hateth his son: but he that loveth him chasteneth him betime; Prov 13:24; GNV), the Duke elaborates: Now, as fond Fathers, Hauing bound vp the threatning twigs of birch, Onely to sticke it in their childrens sight, For terror, not to vse: in time the rod More mock’d, then fear’d: so our Decrees, Dead to infliction, to themselues are dead, And libertie, plucks Iustice by the nose;

|| open the theological limitations; besides, a pun on ›sole‹ cannot be excluded. JAFFA observes: »The commission that the Duke gives Angelo in the opening scene is not nominally one to establish or institute the puritanical and tyrannical regime that in fact follows. [...] the soul of the judge, rather than the soul of the laws, will be revealed by the manner in which the law is enforced« (»Chastity«, p. 222). Even so, the audience does not know (and never learns) the precise content – or conceivable further stipulations – of the »Commission«, since Escalus and Angelo discuss its particulars offstage (MM [Var.], p. 16, TLN53, and p. 17, TLN68, with p. 19, TLN86–94, I.i). »We know that we will never know his ends, that the Duke’s motives, unrepresented, can never be known« (GOLDBERG, p. 237). Cf. and contrast PLANINC (p. 150–51; passim). 26 On sermocinatio in this respect, see MAYFIELD (»Ventriloquism«, p. 193, 193n.). 27 It is not at all certain that said ›slipping‹ may be qualified by »inadvertently« (as WHITE seems to believe, p. 173). Conjecturally (hence de re only), a potential function of the Duke’s former ›laxity‹ might (mutatis mutandis) be found by heuristic recourse to La Boétie’s narrative of Cyrus the Great, concerning devices for subduing a people (expressly a generalizable mode, cette ruse de tyrans d’abêtir leurs sujets; p. 154): il s’avisa d’un grand expédient pour s’en assurer: il y établit des bordeaux, des tavernes et jeux publics, et fit publier une ordonnance que les habitants eussent à en faire état (p. 155). Les théâtres, les jeux, les farces, les spectacles, les gladiateurs, [...] et autres telles drogueries, c’étaient aux peuples anciens les appâts de la servitude, le prix de leur liberté, les outils de la tyrannie (p. 155–56).

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The Baby beates the Nurse, and quite athwart 28 Goes all decorum. (MM [Var.], p. 45, TLN313–21, I.iii; cf. p. 258, TLN2699–702, V.i)

The ruler identifies with his legislative acts (our Decrees). To some extent, he is their ›father‹ and surrogate mother (Nurse) – parents who have been acting ›foolishly‹, by being excessively anti-authoritarian without regard to, or for, the ›children‹ (including the hypoleptically implied ›son‹, and the expressly mentioned Baby).29 When, with a view to the audience, Shakespeare has Angelo take up the general sense expressed in the above at the opening of Act II, the Deputy employs another image, where the focus is on Law personified – sans mention of the Duke as its giver; and without the familial or human connections retained in the latter’s figurative usages: We must not make a scar-crow of the Law, Setting it vp to feare the Birds of prey, And let it keepe one shape, till custome make it 30 Their pearch, and not their terror. (MM [Var.], p. 57, TLN451–54, II.i)

|| 28 Qui parcit virgae odit filium suum; qui autem diligit illum instanter erudit (Prov 13:24; Vulgate). Contrast DRAPER (p. 83; the context being highly problematic); DOLLIMORE (p. 77). Cf. RIESE (p. 51). SYPHER might seem to be insinuating an overall tyranny of the locale as such: »Vienna is a city of excesses; excess balanced by excess; [...] city without moderation, without measure« (p. 276). JAFFA observes: »decorum is too decorous a word for what goes athwart. LECHERY and fornication are rampant« (»Chastity«, p. 203). Conversely, one might adduce Lear’s ›pardoning‹ of adultery for ulterior reasons: Let copulation thrive / [...] / To’t, luxury, pell-mell, for I lack soldiers (KL, p. 335, IV.vi.108–15, here: v.110, 112, 115). DOLLIMORE, JOHNATHAN: Transgression and surveillance in Measure for Measure, in: DOLLIMORE, JOHNATHAN and SINFIELD, ALAN (eds): Political Shakespeare [...], Manchester 21994, p. 72–87. RIESE, UTZ: ›The Law a Tyrant. Zum Chaotischen der ethischen Ordnung in Measure for Measure, in: Shakespeare-Jahrbuch 128 (1992), p. 49–61. SYPHER, WYLIE: Shakespeare as Casuist: Measure for Measure, in: The Sewanee Review 58.2 (April–June: 1950), p. 262–80. 29 At the general level, an (infinite) sententia in the mouth of Escalus takes up part of the Duke’s notion: Mercy is not it selfe, that oft lookes so, / Pardon is still the nurse of second woe (MM [Var.], p. 76–77, TLN727–28, II.i). Comparably Isabella (to Claudio): Thy sinn’s not accidentall, but a Trade; / Mercy to thee would proue it selfe a Bawd, / ’Tis best that thou diest quickly (MM [Var.], p. 148, TLN1371–73, III.i). 30 On prosopopoiía in this regard, cf. MAYFIELD (»Ventriloquism«, p. 193n.). See Shakespeare’s references to the overbearing force of (public) habit(s): The tyrant custom (Oth, p. 149, I.iii.230; with SMITH, p. 34, §50). That monster Custom (Ham, p. 379, III.iv.159). Cf. Publilius Syrus (p. 44, §236); La Boétie (p. 145–147; 150); Montaigne (Essais I, p. 258, I.xxiii; with BLUMENBERG »Höhlen«, p. 282–83); Mill (p. 8–9, §1; p. 67, §3); with respect to Milton, also WHITE (p. 219). Speaking in utramque partem (so to say), see de Tocqueville: »usage and mores had established boundaries for tyranny and had founded a sort of right in the midst of force« (»Democr.«, p. 8, Intro.; cf. p. 299, I.2.9; De la démocr., p. 44; with 460–61). »Laws are always unstable as long as they do not lean on mores; mores form the sole resistant and lasting power in a people« (»Democr.«, p. 261, I.2.8; cf. De la démocr., p. 261). Even so, he acknowledges »the tyranny of the laws and the intolerance of mores« in a given context (»Democr.«, p. 336,

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In the Duke’s aforesaid case, the reference to public license – resulting from an unchecked liberum arbitrium in the subjects – leads directly to the problem of the ruler’s variant thereof, (if and as) qualified by indifferentiae.31 The Friar’s statement acts as a setup once again: It rested in your Grace To vnloose this tyde-vp Iustice, when you pleas’d: And it in you more dreadfull would haue seem’d Then in Lord Angelo. (MM [Var.], p. 46, TLN322–24, I.iii)

The Duke responds hypoleptically, and then at length: I doe feare: too dreadfull: Sith ’twas my fault, to giue the people scope, ’T would be my tirrany to strike and gall them, For what I bid them doe: For, we bid this be done When euill deedes haue their permissiue passe, And not the punishment: therefore indeede (my father) I haue on Angelo impos’d the office, Who may in th’ambush of my name, strike home, And yet, my nature neuer in the fight 32 To do in slander. (MM [Var.], p. 46–47, TLN326–35, I.iii)

|| I.2.10; cf. De la démocr., p. 513). Referring to the history [...] of Greece, Rome, and England, Mill comparably gives liberty qua protection against the tyranny of the political rulers (p. 5, §1): limitation [sc. of ›the ruler‹] was what they meant by liberty – being guaranteed more or less efficaciously against his tyranny (p. 6, §1). Mill, John Stuart: On Liberty. 1859, in: COLLINI, STEFAN (ed.): On Liberty and other writings [...], Cambridge 21991, p. 1–115. Publilius Syrus: Sententiae, in: DUFF, ARNOLD M. and DUFF, J. WIGHT (eds): Minor Latin Poets, Cambridge, MA/London 21961, p. 1–111. SMITH, CHARLES G.: Shakespeare’s Proverb Lore. His Use of the Sententiae of Leonard Culman and Publilius Syrus, Cambridge, MA 1963. 31 Cf. WHITE, referring to KL and MM: »justice is no more nor less than the will of the person wielding power [...] authority gives the holder free licence unconstrained by moral consideration or any notion beyond [...] [one’s] own will[...] Quis custodiet ipsos custodes?« (p. 196). See Schopenhauer’s discussion of the »liberum arbitrium indifferentiae« (p. 367, I.1; p. 394, 398, 404, III; p. 442–43, IV; p. 451, 453, V; cf. p. 372, II) – which his determinism discards as (a priori) impossible. Blumenberg speaks of »dem Zynismus eines liberum arbitrium indifferentiae« (»Annäherung«, p. 424; negated in said context); cf. »Der bloße, bestimmungslose Wille, das ›liberum arbitrium indifferentiae‹, die blanke Willkür« (»Kant«, p. 557; with 566–67). Schopenhauer, Arthur: Die beiden Grundprobleme der Ethik, in: LÜTKEHAUS, LUDGER (ed.): Kleinere Schriften, Zürich 1988, p. 323–632. 32 BRAUNMULLER/WATSON gloss ›tyranny‹ qua »unlawful act of authority« at this point (MM [Ard. 3rd], p. 182n.). See JAFFA: »For he who had been too permissive to be thus severe would have seemed tyrannical« (»Chastity«, p. 211). Cf. CONDREN: »the Duke refuses to compensate for his previous laxity by becoming a tyrant through strict application of the laws« (p. 166). Also WHITE (p. 179), and PLANINC (p. 150), both cum grano salis. MCNEELY’s logifications appear to be innocent of political discernment (p. 205–06; cf. »naive«, p. 212). RIESE has: »Tyrannisch wäre es demgemäß, wenn der Herzog mal mild,

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|| mal streng ist, oder wenn Angelo das Gesetz für sich nach Wunsch auslegt« (p. 52). Said critic also stresses that a question is being begged: »Ist es denn nicht genauso ›tyrannisch‹, wenn Angelo aus dem ›Hinterhalt‹ des geborgten Namens mit herzoglicher Autorität handelt?« (p. 51). Moreover: »Angelos und des Herzogs Beweggründe treffen sich [...] darin, daß sie beide das Wort ›tyrannisch‹ für bestimmte Zusammenhänge als scheinbar schlagendes Argument gebrauchen. Bei genauerem Hinsehen darf man Zweifel daran hegen, [...] ob sie nicht beide zwischenzeitlich einer ziemlichen Tyrannei der Verhältnisse vorgearbeitet haben« (p. 50; cf. 53, 61). A resp. preceding status and context (ever) being the measure, ›tyranny‹ is a concept based on contrast: Liberi iam hinc populi Romani [...] imperiaque legum potentiora quam hominum peragam. Quae libertas ut laetior esset proxumi regis superbia fecerat (Livy, p. 218, II.i.1–2; cf. SKINNER Liberty, p. 45, 45n., with context: p. 44–46; also 55, 75; LAKE, p. 450; 468). For the complementary or reverse perspective, see Machiavelli on »the sons of Brutus« (»Discourses«, p. 45, I.16.4; with p. 210, III.1.3; p. 214, III.3.1). Cf. LAKE: »In Cassius’ view [...], Rome is already a tyranny and freedom has already been lost« (p. 443; also 444–56) – the benchmarks being, what form of government a given speaker is coming from, and which self-interest(s) may happen to prevail at the time. See CANTOR: »Later in the play, characters view Macbeth as a bloody, cruel, violent tyrant, but at the beginning he is praised for the same savage qualities – as long as they are directed against Scotland’s enemies. [...] how he is evaluated depends on the context of his violence, whether it is perceived as in the service of his own community or opposed to it« (p. 326). Cf. This tyrant, whose sole name blisters our tongues, / Was once thought honest (Mac, p. 254, IV.iii.12–13). As to the above segment on the Duke’s part, see Machiavelli’s tellingly entitled ch. »Nonobservance of a Law That Has Been Made, and Especially by Its Author, Is a Thing That Sets a Bad Example; and to Freshen New Injuries Every Day in a City Is Most Harmful to Whoever Governs It« (»Discourses«, p. 93, I.45); spec. »it is harmful to a republic or to a prince to hold the spirits of subjects in suspense and fearful with continual penalties and offenses. [...] men who begin to suspect they have to suffer evil secure themselves by every mode in their dangers and become more audacious and less hesitant to try new things. Thus it is necessary either not to offend anyone ever or to do the offenses at a stroke, and then to reassure men and give them cause to quiet and steady their spirits« (»Discourses«, p. 94, I.45.3). Cf. le iniurie si debbono fare tutte insieme, acciò che, assaporandosi meno, offendino meno; e’ benifizi si debbono fare a poco a poco, acciò si assaporino meglio (Principe, p. 62, VIII.29; with context). Machiavelli may be replying to Seneca (in the negative): »this is still cruelty’s [crudelitas] greatest curse – that one must persist in it [›perseverandum est‹]« (De Clem., p. 396–97, I.xiii.2; cf. Montaigne Essais II, p. 532, II.xxvii). See Jonson, who takes up both aspects mentioned in said ch. of the Discorsi (plus the parallel in Il Principe): The wise Lycurgus gave no Law, but what himselfe kept. Sylla, and Lysander, did not so: the one, living extreamely dissolute himselfe, inforced frugality by the Lawes: the other permitted those Licenses to others, which himselfe abstained from. But the Princes Prudence is his chiefe Art, and safety (p. 594, l.1006–11). Hee that is cruell to halfes, (saith the said St. Nicolas) looseth no lesse the opportunity of his cruelty, then of his benefits: For then to use his cruelty, is too late; and to use his favours will be interpreted feare and necessity; and so hee looseth the thankes. Still the counsell is cruelty (p. 599–600, l.1178–82; with Machiavelli Principe, p. 61–62, VIII.28–30). Cf. PRAZ: »Jonson had a direct acquaintance with Machiavelli’s writings« (p. 126). CANTOR, PAUL A.: Macbeth and the Gospelling of Scotland, in: ALVIS, JOHN E. and WEST, THOMAS G. (eds): Shakespeare as Political Thinker, Wilmington 2 2000, p. 315–51. Jonson, Ben: Volume VIII. The Poems. The Prose Works, ed. C. H. HERFORD [et al.], Oxford 21970. LAKE, PETER: How Shakespeare Put Politics on the Stage [...], New Haven/London 2016. Livy: Ab Urbe Condita. Books I–II, ed. and trans. by B. O. FOSTER, Cambridge, MA/London 21988. Seneca, L. Annaeus: Ad Neronem Caesarem De Clementia, ed. and trans. by JOHN W. BASORE, in: Moral Essays, vol. I, Cambridge, MA 1928, p. 356–449; Hercules, ed. and trans. by JOHN G. FITCH, in: Trage-

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Being a ›virtuoso‹ prince (to speak Machiavellian), the Duke takes the perspective of his subjects into account: the device of delegation facilitates his attaining to the end, without seeming to be wielding the means (from the public’s viewpoint – being the relevant one, politically).33 At once, he is in a position to behold Angelo’s sway (MM [Var.], p. 47, TLN335, I.iii) – to see / If power change purpose: what our Seemers be (MM [Var.], p. 48, TLN345–46, I.iii.).34

|| dies I [...], Cambridge, MA 2002, p. 35–159; as well as: Epistles 66–92, and 93–124, ed. and trans. by RICHARD M. GUMMERE, Cambridge, MA 1920/22006. 33 Cf. JAFFA: »The tyrannical reputation the Duke has determined to avoid will be avoided, but his actual means are not for that reason less outside the bounds of morality. Because of his indirect and invisible government, [...] they seem to be moral« (»Chastity«, p. 215). ROSSITER stresses: »The Puritan has been specifically appointed Deputy to clean up a very dirty city« (p. 158). RHODES logs: »Isabella and the Duke [...] find substitutes to do their dirty work for them« (p. 618). See Cesare Borgia’s spectacularly brutal utilization of Remirro de Orco (also Rimirro, or Ramiro de Lorqua), as per Machiavelli (Principe, p. 45–47, VII.24–28; with p. 119, XVIII.17–18; cf. MAYFIELD »Artful«, p. 122n.; 193n.). In ARMSTRONG’s words: »the politic use of subordinates in situations requiring severity« (»Influence«, p. 27; with 28; cf. 29, as to Richard III). The all but patent parallels between said episode and the plot of Shakespeare’s MM have been noted – by scholarship and criticism alike – to such an extent that one may speak of a consensus (with differences in nuance). See e.g. HOLLAND (passim; spec. p. 17, 19); BLOOM (p. 62); JAFFA (»Chastity«, p. 211–12; »He is indeed doing the Duke’s dirty work, like Remirro de Orco«, p. 228); LITTLE (p. 128n.); HADFIELD (p. 196–97); PLANINC (p. 147; 149–50; 152; passim; with more than a grain of salt, the article being problematically speculative, and given to conspiracy theories). CONDREN speaks of »the Duke’s cunning plan to make Angelo a tyrant in his stead« (p. 164). Cf. SCOTT, de re (p. 164; 169–70). In his Machiavellian reading of R3 (primarily), STRONG accentuates the vicariously indirect (hence virtually delegative) »use« of »the energy« others »create«, thereby »to further« one’s »own ends« (p. 205; cf. 203, 208–10). Generally (and, perchance, also particularly), see Jonson: A Prince should exercise his cruelty, not by himselfe, but by his Ministers: so hee may save himselfe, and his dignity with his people, by sacrificing those, when he list, saith the great Doctor of State, Macchiavell. But I say, he puts off man, and goes into a beast, that is cruell (p. 599, l.1158–62). Of course, Jonson is here saying in his own name what Machiavelli states in his (cf. Principe, p. 115–16, XVIII.2–7; with p. 46, VII.27; p. 57, VIII.11; p. 60–61, VIII.23–26; p. 112–13, XVII.15–18; also p. 147–48, XXI.5; see MAYFIELD »Artful«, p. 90; 107n.; 121; 123, 123n.; 136n.; 138n.; 147–48; 149n.; 172n.; 175n.; 191n.; 193n.). In the next paragraph, Jonson – abysmally – refers to the Florentine as »St. Nicolas« (p. 599, l.1178). Generally, the perfect crime is – another’s. BLOOM, ALLAN: Shakespeare on Love and Friendship, Chicago/London 1993; (with JAFFA, HARRY V.): Shakespeare’s Politics, Chicago/London 21981. HADFIELD, ANDREW: Shakespeare and Renaissance Politics, London 2004. LITTLE, JR., ARTHUR L.: Absolute Bodies, Absolute Laws: Staging Punishment in Measure for Measure, in: KENDALL, GILLIAN MURRAY (ed.): Shakespearean Power and Punishment [...], Madison/London 1998, p. 113–29. ROSSITER, A. P.: Angel with Horns [...], ed. GRAHAM STOREY, London 21962. SCOTT, MARGARET: Machiavelli and the Machiavel, in: Renaissance Drama 15 (1984), p. 147–74. STRONG, TRACY B.: Shakespeare: Elizabethan Statecraft and Machiavellianism, in: BARBER, BENJAMIN R. and MCGRATH, MICHAEL J. GARGAS (eds): The Artist and Political Vision, New Brunswick/London 1982, p. 193–220. 34 Contrast BLOOM/JAFFA, who – after referring to his ›pretense‹, »delegating authority«, and »test[ing]« – feel that »the good Duke Vincentio in Measure for Measure« is not »a truly political man«, and not »a success as a ruler« (p. 142n.). REESE notes: »the opening scene of Measure for Measure [...] leaves no

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As often (and not only in Shakespeare), the drama’s audience is in on the deal – and free to apply the general (kathólou) insights gained by way of the theatrical experience to their respective time and circumstances: this and such being the reason for Aristotle’s considering ›poietic‹ works ›more philosophical‹ than history (Poetics, p. 58–59, 1451b, IX).35

2.2 The Convicted: Claudio’s Perspective Under Sentence »honours [...] he should bestow in person, but inflict his punishments by the agency of other magistrates [›ἑτέρων ἀρχόντων‹] and law-courts [›δικαστηρίων‹].« Aristotle (»Politics«, p. 470–71, 1315a, V.ix.16) »When an absolute prince has the ability to have crimes judged by his delegates, the fate of the accused is [...] fixed in advance.« 36 de Tocqueville (»Democr.«, p. 260n., I.2.8; cf. De la démocr., p. 405n.)

During the second scene, the fornicator (hence felon) Claudio is being led to prison by the Provost – in a manner as amounts to being staged, or publicly paraded.37 The former complains of said severe and unusual circumstances – in what will likely be yet another meta-line in this highly self-referential play.38 For the verse may be re|| doubt that the Duke expects power to have a destructive effect on the character of the virtuous and disciplined Angelo« (p. 139). 35 Aristotle: Politics, ed. and trans. by H. RACKHAM, Cambridge, MA 21944; Metaphysics, vol. 1: Books 1–9, ed. and trans. by HUGH TREDENNICK, Cambridge, MA 1933; Nicomachean Ethics, ed. and trans. by H. RACKHAM, Cambridge, MA 21934; Poetics, ed. and trans. by STEPHEN HALLIWELL, in: FYFE, W. H. [et al.] (eds): Aristotle. Poetics. Longinus [...]. Demetrius [...], Cambridge, MA 1995, p. 27–141. As to the above, cf. MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 7; 391, 391n.; 417; 492, 492n.). 36 Cf. »Force is never anything but a transient element in success: immediately after it comes the idea of right. [...] The genuine sanction of political laws is therefore found in the penal laws, and if the sanction is lacking, the law sooner or later loses its force. Therefore, the man who judges the criminal is really the master of society« (»Democr.«, p. 206, I.2.8; with De la démocr., p. 404–05). 37 In the Folio version, this counts as »Scena Tertia« (MM [Var.], p. 31, TLN205). 38 In a comment on the ms. at hand (April 28, 2021), Julia Gold suggested that the »aspect of selfreferentiality« might pertain »as much to the staging of [a] tyrannis as to the tyranny of the word (on the part of rhetoricians)« (trans. dsm). This issue would seem to be part of the play’s texture indeed, especially considering the Duke’s verbal sway, which downright dominates the drama’s discourse from the first to the last words uttered; and even when he is not speaking himself, but (delegatively) through others, putting – or forcing – words into their mouths. In addition to the present essay’s conclusion (subch. 3), cf. affine insinuations in MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 423–26, 471– 72). When taking into consideration the Shakespearean corpus as a whole, Gold’s aforecited prompt is most likely to find confirmation in Prospero’s ›epilogue‹, where the verbally effectual virtuoso – after finishing his performance, breaking the charms – requests that the audience release and ›relieve‹ him from their quasi delegation to delight them (my project [...] was to please): Now I want [sc. ›lack‹] /

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ceived as an intra-dramatico-macrocosmic mise en abyme: Fellow, why do’st thou show me thus to th’ world?; to which the commissioned official replies: I do it not in euill disposition, / But from Lord Angelo by speciall charge (MM [Var.], p. 32, TLN207, 209–10, I.ii).39 This neither was, nor will have been, the last of ›exceptional measures‹ taken by the ›precise‹ (legalistic, Puritanical) Deputy; partes pro toto, such instances already serve as indicators for his increasingly authoritarian rule, while also conducing to the ›image‹ an audience will form of Angelo (ethopoetically speaking).40 Claudio’s reply to the Provost is poly-hypoleptic, and of considerable significance for the play (as well as the present focus): Thus can the demy-god (Authority) Make vs pay downe, for our offence, by waight

|| Spirits to enforce, art to enchant; / And my ending is despair, / Unless I be relieved by prayer, / Which pierces so that it assaults / Mercy itself, and frees all faults. / As you from crimes would pardoned be, / Let your indulgence set me free (Tem, p. 285–86, Ep.1, 6, 9, 12–20; 286n.). The very terms used not only point to the heart and core of the New Testament (Mt 6:14–15, 18:15, 18:35; Mk 11:25–26; Lk 17:3–4, 23:34; cf. also Tem, p. 286n.), but – literally, virtually – mark an ›outperformance‹ of the (discursively, structurally) complementary arrangement in MM. A detailed comparative reading to said effect must be delegated at this point. It would likely take its cue from the ensuing – positively notorious – factor: handing over (and in) the power of his performative words (having been akin to the force of a ›fiat lux‹), the Tempest’s (self-)reinstated duke has acted as the oratorical orchestrator of a highly metadramatic play (see Tem, p. 253–54, IV.i.148–158: spec. Our revels now are ended. These our actors [...] were all spirits / And are melted into air, into thin air; [...] the great globe itself [...] shall dissolve [...] We are such stuff / As dreams are made on, and our little life / Is rounded with a sleep). 39 As to the (severally layered) dramatic mise en abyme in V.i of MM, cf. PLANINC (p. 160); for R3, STRONG (p. 220n., with 205). On (Early Modern) meta-drama, see MAYFIELD (»Ventriloquism«, p. 70–73, with n.; p. 122–23, plus n.). The above keyword and phrase »show [...] to th’world« will (all but inevitably) be taken as pointing beyond the immediate, intradramatic setting – hence implicate the recipients. The playwright’s part is thus associated with ›special‹ measures. 40 Referring to »[h]is hard, prim, precise ruling by the book«, ROSSITER states: »Angelo (the name is patently ironical: he puns on it himself) is law or legalism, rather than justice« (p. 121). As to MV’s and MM’s »›absolutist‹ spirit« in terms of ›turning‹ on »the principle of ›the letter of the law‹«, cf. MCNEELY (p. 192; with 194, 198, 203–04, 206). As to scriptum vs. voluntas in general, see TRIMPI (Muses, p. 275–84, spec. 280, 280n.–81n.; 352–55); Eden (Fiction, p. 44–46; 136–38; Rhet. Trad., p. 8–19; 56–63; 69–73; 86–89; 93–95; passim). On a tyranny of law, cf. WHITE (p. 19; 34); also as to (Angelo’s) legalism (p. 158; 165; 176; 180; 233). SYPHER notes: »The tension is drawn between the letter of the law and the whimsy of the Duke« (p. 276). See Xenophon: »government of unwilling subjects and not controlled by laws [›μὴ κατὰ νόμους‹] but imposed by the will of the ruler« is τυραννίδα (»Memorabilia«, p. 360–61, IV.6.12). With STRAUSS: »the decisive point being whether the rulers are limited by law or not« (»Rebirth«, p. 144). MOOS: »[in] der Rechtsunabhängigkeit des Fürsten [›sieht‹] [...] Johann [of Salisbury] den Inbegriff der Tyrannei« (p. 326n.; see also p. 468, 468n.). Generally, cf. WHITE (p. 219–20). MOOS, PETER VON: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum [...], Hildesheim [et al.] 1988. Xenophon: Memorabilia, trans. E. C. MARCHANT, in: HENDERSON, JEFFREY (ed.): Memorabilia. Oeconomicus. Symposium. Apology, Cambridge, MA/London 22013, p. 1–377; Hiero, ed. and trans. by E. C. MARCHANT and G. W. BOWERSOCK, in: Scripta Minora, Cambridge, MA/London 21971, p. 1–57.

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The words of heauen; on whom it will, it will, 41 On whom it will not (soe) yet still ’tis iust. (MM [Var.], p. 32–33, TLN211–14, I.ii)

|| 41 Cf. ROSSITER (p. 163); MCNEELY sees »a Job-like situation«, here (p. 204; cf. »This is the God of the Old Testament exercising his absolute power«, p. 208). In Shakespeare, both (virtually) immovable matters (cf. JC, p. 236–37, III.i.58–73; with p. 238, III.i.78, plus p. 256, III.ii.70; see VELZ, p. 110) and (apparently) irresistible forces are characterized by recourse to the term at issue. Consequently, anything persistent to the point of severity seems to merit the word – be it natural: the tyrannous breathing of the north (Cym, p. 163, I.iii.36); [t]he tyranny of the open night’s too rough / For nature to endure (KL, p. 271, III.iv.2–3; cf. and contrast WHITE, p. 200); or manmade: the yoke of tyranny (R3, p. 306, V.iii.2); hence also the force of nurture: Even at thy teat thou hadst thy tyranny (Tit, p. 177, II.ii.145; R3, p. 277–78, IV.iv.47–58, spec. v.51, and context). Cf. the n. on ›custom‹ and mores in subch. 2.1, above. As to the tyranny of contingency (and vice versa), arbitrary (being lawless) Chance is particularly suitable for receiving said qualification (here associated with the suddenness characteristically inflicted by birds of prey due to an exalted vantage point): So let high-sighted tyranny range on / Till each man drop by lottery (JC, p. 205, II.i.117–18; cf. p. 205n.). Likewise: the stern tyrant War (2H4, p. 162, Induc.14); in general, STRAUSS notes »the particularly close connection between tyranny and war« (»Tyr.«, p. 90; cf. 126n.). Pertinently, the contingency of emotions is related to variants of the word: e.g. tyrannous passion (WT, p. 207, II.iii.27); and, perchance especially, grief: the tyranny of her sorrows (AW, p. 6, I.i.46); to tyrannize upon my breast (Tit, p. 206, III.ii.8; also p. 206n.). Accordingly, the Sonnets stress time’s tyranny (Son, p. 341, §115.9; cf. oppression of aged tyranny, KL, p. 182, I.ii.50; see MCGRAIL, p. 94). Likewise: this bloody tyrant, time (Son, p. 143, §16.2). Poetry is brought to bear upon the latter, thought to prevail: And thou in this shalt find thy monument, / When tyrants’ crests and tombs of brass are spent (Son, p. 325, §107.13–14; cf. walls of beaten brass, JC, p. 191, I.iii.93; contrast p. 191n.). The latter may be a reference to an infamous tale of cultivated cruelty – and thus provide a variant of art prevailing against the same; as to the tyrant Phalaris and the actively cynical artisan Perillus (or Perilaus, ille aenei tauri inventor), see e.g. Valerius Maximus (p. 318–21, IX.2.ext.9; here p. 318; with 320n.). Ovid gives the story as an instance of justice: Et Phalaris tauro violenti membra Perilli / Torruit: infelix inbuit auctor opus. / Iustus uterque fuit: neque enim lex aequior ulla est, / Quam necis artifices arte perire sua (p. 56, I.653–56; cf. Phalaris [...] bellowed in a brazen bull, Marlowe, p. 65, Pro.24–25, with 65n.–66n.). Comparably Dante (Div. Com. [I.1], p. 282, XXVII.7–15, where the bue cicilian, v.7, is made di rame, v.11; cf. Div. Com. [I.2], p. 472n.–73n). Aristotle’s mention in the context of the θηριώδεις is wary: τὸ περὶ Φάλαριν λεγόμενον (»Nic. Ethics«, p. 402, 1148b, VII.v.2–3; cf. p. 404, 1149a, VII.v.7, with p. 404n.). See Seneca on saevitia (De Clem., p. 422–25, I.xxv.2; here p. 422; and spec. crudelitas versa est in voluptatem, p. 424; for Phalaris, p. 436–37, II.iv.3). Cf. also the n. on excess and outperformance in subch. 2.3, herein. Generally, see STRAUSS: »There are artists in all walks of life. It does make a difference what kind of a ›job‹ is the source of [...] pleasure« (»Tyr.«, p. 190–91). As to tyranny in art (cf. Ham, p. 298, II.ii.398; p. 498, App.1.2.5), its capacity for deactivating the resp. agent (hence her or his bestial, malevolent deeds) seems notable: So as a painted tyrant Pyrrhus stood / Like a neutral to his will and matter (Ham, p. 299, II.ii.418–19). Dante Alighieri: The Divine Comedy. Inferno. 1: Text; and 2: Commentary, ed. and trans. by CHARLES S. SINGLETON, vol. I.1–2, Princeton 71989. Ovid: The Art of Love, trans. J. H. MOZLEY and G. P. GOOLD, in: GOOLD, G. P. (ed.): The Art of Love and Other Poems, Cambridge, MA 21999, p. 11–175. Valerius Maximus: Memorable Doings and Sayings. Volume II. Books 6–9, ed. and trans. by D. R. SHACKLETON BAILEY, Cambridge, MA 2000. Marlowe, Christopher: The Jew of Malta, ed. N. W. BAWCUTT, Manchester 1979. VELZ, JOHN W.: Clemency, Will, and Just Cause in ›Julius Caesar‹, in: MUIR, KENNETH (ed.): Aspects of Shakespearian Comedy, Cambridge 21971 (Shakespeare Survey 22), p. 109–18.

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Into the mouth of the character who, synecdochically, stands for concupiscentia in the play’s microcosm, Shakespeare’s sermocinatio has placed a significative (and rather patent) insinuation of Paul’s letter to the Romans. For he saith to Moses, I will have mercy on him, to whom I will show mercy: and will have compassion on him, on who I will have compassion. [...] he hath mercy on whom he will, and whom 42 he will he hardeneth. (Rom 9:15 and 9:18; GNV)

In reference thereto, one commentator believes that »St. Paul is quoting God« (MM [Var.], p. 33n.). In more discursive terms, the effective founder of the official version of Christ’s Church is himself expressly tying in with Exodus: I will show mercy to whom I will show mercy, and will have compassion on whom I will have compassion (33:19; GNV).43 In all likelihood, the most condensed articulation of this monotheistic ground swell was tendered by Augustine’s affine formula: quia vult (respectively voluit).44

|| 42 Moysi enim dicit: Miserebor cujus misereor: et misericordiam praestabo cujus miserebor [...]. Ergo cujus vult miseretur, et quem vult indurat (Rom 9:15, 18; Vulgate). The above is from the 1599 Geneva Bible, as also indicated by ECCLES (MM [Var.], p. 32n.–33n.). Metapoetically speaking, Claudio may be considered a prosopopoiía of concupiscentia, (somewhat) reminiscent of Medieval Moralities; see these significative lines, put into his mouth: Our Natures doe pursue / Like Rats that rauyn downe their proper Bane, / A thirsty euill, and when we drinke, we die (MM [Var.], p. 33, TLN219–21, I.ii). Cf. WHITE: »in the fallen world [...] nobody is exempt from desire« (p. 178; cf. 177, 181–82). SHUGER has: »precisely the universality of desire [...] means that in cases of sexual transgression those passing judgment are no different from those on whom judgment is passed, except that the former hold office« (p. 66; cf. 68). Generally, see ALVIS: »The tyrant desires that which the plain man desires, only more« (»Spectacle«, p. 109). Comparably John of Salisbury: »one is either never or rarely altogether immune from tyranny. It is said that the tyrant is he who oppresses the people by violent domination; yet each one can exercise his tyranny not only over the people but also over those of lesser importance. For even though one does not dominate over the people, still each one dominates to the extent that he can« (»Policrat. [2004]«, p. 163, VII.17; with p. 190, and spec. 191: »not only kings practise tyranny; many private men are tyrants«, VIII.17; also p. 202, VIII.18; and p. 222, VIII.23; cf. Policrat. II [1909], p. 161–62, 675d, VII.xvii; with p. 345, 777d; p. 346, 778b, VIII.xvii; p. 359, 786b, VIII.xviii; p. 408, 813a, VIII.xxiii). Thereto, see MOOS (p. 204; 366n.). By recourse to Quevedo, FORCIONE logs: »tyranny is nearly universal« (p. 248n.). Contrast MCGRAIL (p. 2). ALVIS, JOHN E: Spectacle Supplanting Ceremony: Shakespeare’s Henry Monmouth; and: Shakespeare’s Hamlet and Machiavelli: How Not To Kill a Despot, in: ALVIS, JOHN E. and WEST, THOMAS G. (eds): Shakespeare as Political Thinker, Wilmington 22000, p. 107–41, and p. 289–313. FORCIONE, ALBAN K.: Majesty and Humanity. Kings and Their Doubles in the Political Drama of the Spanish Golden Age, New Haven/London 2009. SHUGER, DEBORA KULLER: Political Theologies in Shakespeare’s England. The Sacred and the State in Measure for Measure, Basingstoke 2001. 43 Cf. e.g. sicut scriptum est (Rom 9:13 and 33; also 9:17; Vulgate). 44 See BLUMENBERG: »Seitdem [...] Augustin auf die Frage, warum Gott die Welt geschaffen habe, mit dem ›Quia voluit‹ geantwortet hatte (De Gen. c. Man. I, 2, 4), beruhte die Welt auf einem unbefragbaren Hoheitsakt« (»Hylemorph.«, p. 1794; cf. »GKW I«, p. 213; »Legitim.«, p. 166; as to Ockham, p. 170; 181; with reference to Duns Scotus, p. 194n.; 200, 200n.; »Nachahmung«, p. 39; »Verführbarkeit«, p. 114–15; »Arbeit«, p. 288; »Geistesgesch.«, p. 109; 121; 127n.; »Wirklichkeiten«, p. 86; »Kosmos«, p. 68). See

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With respect to KÜPPER’s meta-conception of ›(virtual) cultural networks‹ (wherein material is ›floating‹ freely until ›withdrawn‹), the corresponding poetics – a process of hypólepsis (qua uptake with variation) – may here be described as Paul’s tying in with the Old Testament in what became part of the New; and as Shakespeare’s selectively adapting both, in the segment under consideration.45 Concerning the passage’s discourse historical significance, said tendency may seem to confirm KÜPPER’s finding with respect to all variants of one sole Deity – each of whom is a personification or »allegory of that which is called contingency in philosophical terms« (»Episteme«, p. 117; trans. dsm): »Monotheism signifies stylizing contingency into a figure of God« (»Episteme«, p. 118; trans. dsm) – »[a]n Almighty God owes nothing to the [sc. what He has] created« (»Ordnung«, p. 175; trans. dsm).46 In this regard, the context of Paul’s aforesaid chapter – especially I have loved Jacob, and have hated Esau (Rom 9:13; GNV) – hardly leaves much room for arguing in favor of the Deity’s velleity toward human(e) aequitas.47 So the turncoat Pharisee does not even try: Quid ergo dicemus? numquid iniquitas apud Deum? Absit (Rom 9:14; Vulgate). In the distinctively telltale translation of the (later, 1611) King James Version

|| KÜPPER: »Blumenberg isoliert die Präsenz der Vorstellung einer kontingenten Welt in dem ›quia voluit‹, das in De Genesi contra Manicheum auf die Frage nach dem Warum der Schöpfung ergeht (I, 2, 4 [...])« (»Ordnung«, p. 215n.; also on Ockham’s variants of the formula, p. 175n.; with MAYFIELD »Artful«, p. 100n.; 102–03; 105; 168; »Rhetoric and Contingency«, p. 32; 188n.–191n.; 189; 193; 196; 197n.; 225n.; 494). 45 On the concept »of culture as a (virtual) network«, see KÜPPER (»Cultural Net« passim; with MAYFIELD »Proceedings«, p. 220–22; »Interplay«, p. 3–5; 28; 36; for applications, »hypólepsis« passim; spec. p. 243, 255; »Ventriloquism«, p. 11–12; 23–24; 130; 135; 163; 165; 170; 174; 176n.; 180–81; »Rhetoric and Contingency«, p. 40; 63n.; 71; 74; 86; 97; 111; 264; 329, 329n.; 343n.; 376; 377n.; 381; 384–86; 418n.; 517; 535; 558; 567n.; 571; 591n.; 596n.; 758). 46 Cf. STRAUSS: »the Roman religion served the purpose of mastering chance« (»Thoughts«, p. 152). As per KÜPPER (with LÜBBE), such is the function of any (here concerning monotheisms): »diese Systeme [sind] ›Kulturen der Kontingenzbewältigung‹« (»Episteme«, p. 117). As to ›facing (up to), dealing with, handling contingency‹, see MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 4; 32–33; 79n.; 109n.; 146n.; 174n.; 200; 204; spec. 212, 212n.; 214; 220; 228; 232; 315n.; 326n.; 370n.; 473n.; 502; and passim). In a Machiavellian context, REESE speaks of »the capricious tyranny of Fortune« (p. 95). 47 As KÜPPER signals with respect to »the [...] Augustinian quia vult«, one might »already compare Gen 4,4f.« (»Episteme«, p. 117, 117n.; trans. dsm): And Abel also himself brought of the first fruits of his sheep, and of the fat of them, and the Lord had respect unto Abel, and to his offering, / But unto Cain and to his offering he had no regard: wherefore Cain was exceedingly wroth and his countenance fell down (Gen 4:4–5; GNV). Paul’s above contexts for legitimizing his absolutist stance also include a (hardly tacit) reference to Job: O homo, tu quis es, qui respondeas Deo? numquid dicit figmentum ei qui se finxit: Quid me fecisti sic? (Rom 9:20; Vulgate; cf. e.g. Job 38:4, 21; 40:8; 42:2; generally, chs. 38–42; KJV). RHODES’ construal of a »Christian equity« in MM (p. 619) amounts to a contradictio in adiecto. Despite referencing Aristotle (see »Nic. Ethics«, p. 312–17, 1137a–38a, V.x.1–8), WHITE seems to confound mercy (or clemency) with equity throughout (cf. e.g. p. 164; 166; 178; 182; on the Stagirite: p. 25).

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(begun in 1604, incidentally the year of Measure for Measure’s first recorded staging): What shall we say then? Is there unrighteousness with God? God forbid.48

2.3 Excursus: Machiavelli on Tyranny Idem tamen christus Domini dictus est, et tirannidem exercens regium non amisit honorem. 49 John of Salisbury (Policrat. II [1909], p. 358–59, 785c, VIII.xviii)

|| 48 Said rendering is an example of the possibility (grounded in the supra-personal linguistic code) that trans. may incidentally bring out an added value; or might, at times, even be more to the point than a source. 49 »Yet the same man [sc. Saul] was called the anointed of the Lord and, exercising tyranny, he did not lose the honour of kingship« (»Policrat. [2004]«, p. 202, VIII.18). Cf. La Boétie’s abysmal statement (hinting at David’s precursor, thereby implicating the latter, as well): ceux d’Israël, qui, sans contrainte ni aucun besoin, se firent un tyran (p. 144); the reference will be to 1Sm 8, spec. v.5–6, 9, 18–19. Preceding the above dictum, John states: »the people [...] perhaps had deserved that such priests should preside over them« (»Policrat. [2004]«, p. 201, VIII.18; with Policrat. II [1909], p. 358, 785b, VIII.xviii). Cf. also: »the king is sometimes called by the name of tyrant and conversely the tyrant is sometimes called by the name of prince [...] among the priesthood many may be found who are driven by [...] ambition [...] so that they can be tyrants under the pretext of exercising their duties« (»Policrat. [2004]«, p. 193, VIII.17; with Policrat. II [1909], p. 348, 779b–c, VIII.xvii). See La Boétie: un tyran seul [...] n’a puissance que celle qu’ils lui donnent; [...] n’a pouvoir de leur nuire, sinon qu’ils ont pouvoir de l’endurer (p. 132). Ce sont donc les peuples mêmes qui se laissent ou plutôt se font gourmander [...]; c’est le peuple qui s’asservit (p. 136; cf. cette opiniâtre volonté de servir, p. 139). See STRAUSS: »Caesarism cannot be divorced from the society which deserves Caesarism« (»Tyr.«, p. 180; with 179). Shakespeare’s Cassius observes: And why should Caesar be a tyrant then? / Poor man, I know he would not be a wolf / But that he sees the Romans are but sheep (JC, p. 192, I.iii.103–05). Cf. Ah, Rome! Well, well, I made thee miserable / What time I threw the people’s suffrages / On him that thus doth tyrannize o’er me (Tit, p. 231, IV.iii.18–20). See also DE MAISTRE: »c’est un axiome capital aussi sûr qu’un axiome de mathématique, que toute nation a le gouvernement qu’elle mérite« (p. 196, XLIV; from April 18/30, 1816). As to the Nominalist take, cf. There’s nothing differs but the outward fame (R3, p. 175, I.iv.83). VELZ notes: »the tension in the first three acts of Julius Caesar [is] between tyranny and kingship. Caesar is consistently regarded by the conspirators as a tyrant« (p. 110) – also, if not exclusively, for purposes of legitimizing their action(s); cf. Hobbes (p. 226, XXIX; with p. 225). Generally in this respect, see JORDAN: »Thinkers justifying violent resistance to tyranny often argued from assumptions that mimicked those of absolutists« (p. 209). As to the aforesaid distinction generally, see Aristotle: »The perversion of Kingship is Tyranny. Both are monarchies, but there is a very wide difference between them: a tyrant studies his own advantage, a king that of his subjects. [...] the tyrant pursues his own good. [...] Tyranny is the bad form of monarchy, so that a bad king becomes a tyrant« (»Nic. Ethics«, p. 489–91, 1160b, VIII.x.2–3); »tyranny is monarchy ruling in the interest of the monarch, oligarchy government in the interest of the rich, democracy government in the interest of the poor, and none of these forms governs with regard to the profit of the community« (»Politics«, p. 207, 1279b, III.v.4); »tyranny [...] is monarchy exerting despotic power over the political community« (»Politics«, p. 209, 1279b, III.v.5). Cf. MCGRAIL (p. 7; 10). With reference to Aristotle’s counsel (see »Politics«, p. 466–67, 1314a–1314b, V.ix.10–11), STRAUSS notes: »the tyrant ought to play the king« (»Tyr.«, p. 117n.). Hence: »One can be

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El poder abſoluto es tirania. Quien le procura, procura ſu ruina. 50 Saavedra Fajardo (p. 256, Q7v, §41)

One might say that this all but inevitably calls for bringing in what may well be the most irreverent writer ever to have put ink to paper.51 At any rate, Paul’s disingenuousness (and assuredly what Augustine made of it) provides a plausible transition to a brief foray into Machiavelli’s concept of ›tyranny‹ – which (in due time) will lead right back to Shakespeare.52 || a tyrant irrespective of one’s title« (MCGRAIL, p. 26). On usurping tyranny, see Shakespeare (Mac, p. 232, III.vi.25; p. 256, IV.iii.36; spec. p. 260, IV.iii.104: an untitled tyrant bloody-sceptred). Aristotle has: »if a man has made himself ruler by deception [›ἀπάτης‹] or force [›βίας‹], then this is thought to be a tyranny [›τυραννίς‹]« (»Politics«, p. 456, 1313a, V.viii.22). As to the nexus from a »renaissance« perspective, VELZ states: »A man who sought a throne which did not come to him by inheritance was the worst sort of tyrant; no matter how benevolent or just his rule, he was tyrannical by definition« (p. 111). Cf. Rousseau: Tyrannie [...] ce [...] mot est équivoque et demande explication. Dans le sens vulgaire un Tyran est un Roi qui gouverne avec violence et sans égard à la justice et aux lois. Dans le sens précis un Tyran est un particulier qui s’arroge l’autorité royale sans y avoir droit. C’est ainsi que les Grecs entendoient ce mot de Tyran: Ils le donnoient indifféremment aux bons et aux mauvais Princes dont l’autorité n’étoit pas légitime. Ainsi Tyran et usurpateur sont deux mots parfaitement synonimes. [...] j’appelle Tyran l’usurpateur de l’autorité royale, et Despote l’usurpateur de l’autorité Souverain. Le Tyran est celui qui s’ingere contre les loix à gouverner selon les lois; le Despote est celui qui se met au dessus des loix-mêmes. Ainsi le Tyran peut n’être pas Despote, mais le Despote est toujours Tyran (p. 245, III.x; typography accommodated; cf. p. 276, IV.v; with Hobbes p. 470, XLVI). Heuristically applied to MM, one might say: Angelo wishes (or initially tries) to govern according to the Law, then breaks it; the Duke places himself above or beyond the Law (in laxity and mercy alike). JORDAN, CONSTANCE: Law and Political Reference in Montaigne’s ›Apologie de Raimond Sebond‹, in: KAHN, VICTORIA and HUTSON, LORNA (eds): Rhetoric and Law in Early Modern Europe, New Haven/London 2001, p. 199–219. DE MAISTRE, JOSEPH: Correspondance Diplomatique. 1811–1817, ed. ALBERT BLANC, vol. II, Paris 1860. 50 Cf. FORCIONE (p. 103). Saavedra Fajardo’s sententia is given sub emblemate ›ne quid nimis‹ (cf. p. 253, Q6r). Machiavelli might comment: (power) politically needful excesses are to be delegated to others (at their expense), while (and whereby) the appearance of princely tyranny is being concealed by any means and all. As to tyrannicide, see spec. If you do sweat to put a tyrant down, / You sleep in peace, the tyrant being slain (R3, p. 322, V.iii.256–57). Liberty! Freedom! Tyranny is dead! (JC, p. 238, III.i.78; cf. Machiavelli »Discourses«, p. 220, III.6.2). For martial action against it – with frequent use of the term as an insult intended to have a quasi descriptive value, as well – see the scenes leading up to Macbeth’s death (Mac, p. 290–96, V.vii–viii; spec. p. 291, V.vi.7; abhorred tyrant, p. 292, V.vii.10; Tyrant, show thy face, p. 292, V.vii.15; p. 293, V.vii.26); particularly: We’ll have thee, as our rarer monsters are, / Painted upon a pole, and underwrit, / ›Here may you see the tyrant‹ (Mac, p. 296, V.viii.25–27). Cf. I shall tread upon the tyrant’s head, / Or wear it on my sword (Mac, p. 256, IV.iii.45–46). Great tyranny, lay thou thy basis sure, / For goodness dare not check thee. Wear thou thy wrongs; / The title is affeered [or: ›affear’d‹] (Mac, p. 255–56, IV.iii.32–34; cf. 256n.). Saavedra Fajardo, Diego de: Idea de vn Principe Politico Christiano representada en Cien Empressas, Madrid 1666. 51 Perhaps not only if one is to trust his claim to be writing sanza alcuno respetto (Principe, p. 149, XXV.11); see below. 52 See JOUGHIN’s generally expedient remark: »In writing his plays Shakespeare had ready access to a vast archive of politically significant texts and treatises [...]. He [...] possessed an evident familiarity

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Everyone knows that the Florentine does not use the word in question even once in his notorious treatise that almost deals with nothing else.53 The state of affairs is not much different in the Discorsi, where the reference to »absolute power, [...] called tyranny«, is not only put into the mouths of (hence delegated to) unidentified »authors« (»Discourses«, p. 61, I.25); but where this express mention is also relocated to the chapter immediately preceding the one concerned with said topic: the Florentine consigliere »retains the shadow of the old name of tyranny, but not for long. [...] the new prince [...] is not called tyrant by Machiavelli« (MANSFIELD »Modes«, p. 99).54 Yet that is not the end of the Tuscan’s characteristic lack of respect.55 The first example in the corresponding chapter (I.26) is none other than the Biblical David,

|| with European contemporaries and political thinkers such as Montaigne and Machiavelli, as well as a working knowledge of Church law and scriptural religion« (p. 2). STRONG observes: »Shakespeare’s reaction to the question of Machiavellianism is not one of moral horror« (p. 214; cf. 195–96). Pace PRAZ: »What Machiavellism is displayed in Shakespeare’s dramas seems either to be already present in the historical sources [...], or to be derived from the current popular legend« (p. 161). Contrast also SHUGER, who (as to MM) believes »the work’s political argument« to be »the anti-Machiavellian topos [...] that a good ruler must be a good man« (p. 38; cf. 71) – unless, one takes the reiterated adjective to render the Florentine’s variety of ›virtú‹. JOUGHIN, JOHN J.: Shakespeare and politics: an introduction, in: ALEXANDER, CATHERINE M. S. (ed.): Shakespeare and Politics, Cambridge [et al.] 2004, p. 1–21. 53 STRAUSS takes it a step further: »Machiavelli’s Prince (as distinguished from his Discourses on Livy) is characterized by the deliberate indifference to the distinction between king and tyrant; the Prince presupposes the tacit rejection of that traditional distinction« (»Tyr.«, p. 24; cf. »Politic. Phil.«, p. 289); »the terms ›tyrant‹ or ›tyranny‹ are avoided in the Prince« (»Thoughts«, p. 48–49); »the twenty-sixth [...] is the only chapter of the Discourses which is devoted, according to its heading, to the ›new prince‹, i.e., the chief theme of the Prince«; it »deals with what the authors call tyranny, as Machiavelli says at the end of the preceding chapter; but the term ›tyranny‹ (or ›tyrant‹) is avoided in« I.26 (»Thoughts«, p. 48). »Xenophon’s counsel [...] avoids consistently the very term ›king‹«; his »procedure may have been the model for the apparently opposite but fundamentally identical device of Machiavelli, who in his Prince avoids the term ›tiranno‹: individuals who are called ›tiranni‹ in the Discourses and elsewhere are called ›principi‹ in the Prince« (»Tyr.«, p. 64; cf. 118n.). »Machiavelli’s reinterpretation of virtue cannot be understood except in the light of his reinterpretation of tyranny« (»Politic. Phil.«, p. 289). See MANSFIELD (»Modes«, p. 99–100). »Tyranny is never mentioned in The Prince« (MCGRAIL, p. 12): »Machiavelli’s calculated forgetfulness« (p. 14). Cf. MAYFIELD (»Artful«, p. 79n.; 118, 118n.; 128n.–29n.; 138n.; 181n.). MANSFIELD, HARVEY C.: Machiavelli’s New Modes and Orders. A Study of the Discourses on Livy, Chicago/London 22001; The Cuckold in Machiavelli’s Mandragola, in: SULLIVAN, VICKIE B. (ed.): The Comedy & Tragedy of Machiavelli. Essays on the Literary Works, New Haven/London 2000, p. 1–29. 54 See MANSFIELD: »the one ›who wishes to make an absolute power, such as the authors have called tyranny‹ Machiavelli calls here king, though his means are ›very cruel‹ and his way is bad« (»Modes«, p. 100). Also MCGRAIL, p. 12–13. 55 Cf. non istima persona (Mandragola, p. 7, Prologo); sanza alcuno respetto (Principe, p. 149, XXI.11); »without any respect« (»Discourses«, p. 5, I.Preface; with STRAUSS »Thoughts«, p. 40; MANSFIELD »Cuckold«, p. 1; MAYFIELD »Artful«, p. 109; 197, 197n.). In general, REESE’s hedging adverb will not seem needful: »Machiavelli was almost scornfully honest« (p. 93; cf. »Machiavelli’s [...] lucidity, the almost voluptuous cynicism«, p. 101). Neither STRAUSS nor MANSFIELD seem ready to state outright (or

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whose actions are qualified by recourse to words from the New Testament – where Luke puts them into Mary’s mouth in deference to the Deity, said to have »filled the hungry with good things and sent the rich away empty« (»Discourses«, p. 61, I.26).56 MANSFIELD glosses: The purpose of making everything anew [...] is not to humble men and exalt God but to exalt a human king [...]. Quoting the Bible once, and in that quotation rendering God’s motive as the motive of a human king, is Machiavelli’s striking way of saying that the new prince must imitate 57 God rather than obey Him. (»Modes«, p. 99)

The Florentine specifies that the aforesaid modus operandi of (literally) ›radical‹ renovation (while artfully retaining the ›leafwork‹) means »not to leave anything untouched« – and to act like Philip of Macedon, who »transferred men from province to province as herdsmen transfer their herds« (»Discourses«, p. 61, I.26).58 To put it politically: (King) David treats human beings like (his) sheep – albeit without the pathetics of Psalm 23.59 Machiavelli’s diction relishes its parrhesía: »These modes are very cruel, and enemies to every way of life, not only Christian but human« (»Discourses«, p. 61, I.26) – with a remarkable distinction between those two adjectives, as MANSFIELD notes (cf.

|| in their name) that Machiavelli’s assault on the Christian Deity (»an enormous blasphemy«, »Thoughts«, p. 49) will be considerably more profound than calling God a tyrant via David. STRAUSS does speak of »the tacit New Testament quotation« in »I 26« (»Thoughts«, p. 326n.) – there being another. MANSFIELD asks: »But what is ›making everything anew?‹« – while noting that »›New‹ appears seven times in I 26« (»Modes«, p. 99, with 99n.). The end of I.25, the title of I.26, and the first sentence of the latter all emphasize a radical renovatio: »renew everything« (»Discourses«, p. 61, I.25). »A New Prince Should Make Everything New in a City or Province Taken by Him«, »to make everything in that state anew« – the latter specified as »to make in cities new governments with new names, new authorities, new men« (»Discourses«, p. 61, I.26). Anyone familiar with Scripture may (or might) note that this is not simply an allusion, but a downright citation of Apoc. 21:5, Ecce nova facio omnia (Vulgate). See the context (spec. Rev 21:1), as well as Rev 2:17; Isa 42:9, 43:18–19, 65:17; 2Cor 5:1, 17; Eph 2:15, 4:24; Heb 8:13. 56 Esurientes implevit bonis: et divites dimisit inanes (Lk 1:53; Vulgate); »the only quotation from the New Testament which he ever uses in either the Prince or the Discourses« (Strauss »Thoughts«, p. 49); »the only quotation from the Bible that appears in the Discourses« (MANSFIELD »Modes«, p. 99). 57 Cf. Gracián: Imítese, pues, el proceder divino (p. 102, §3; see BLUMENBERG »Lesbarkeit«, p. 118–19; MAYFIELD »Artful«, p. 250, 250n.–51n.; 263). Gracián, Baltasar: Oráculo manual y arte de prudencia, ed. EMILIO BLANCO, Madrid 92011. 58 With reference to David: »to build new cities, to take down those built, to exchange the inhabitants from one place to another« (Machiavelli »Discourses«, p. 21, I.26); the latter ties in with the above, referring to Philip at a structural level. Withal, the mention of shepherding inevitably links the two exempla; everyone knows David’s erstwhile occupation (due to the slingshot, at the very least). 59 In MANSFIELD’s abysmal formulations: »Thus the second example restates the first in all significant detail, including the unnamed author, with exceeding naughtiness«; »King David was very bad and took the bad way« (»Modes«, p. 100). Cf. STRAUSS in another, while affine context (»Tyr.«, p. 117n.).

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»Modes«, p. 100).60 While it is not needful to adopt any value judgments (let alone his essentialism), the arch-hermeneutician’s ensuing inference seems reasonable to such an extent that the burden of proof will likely lie with such as would (intuitively) not have it so; »[t]hat is to say« – STRAUSS remarks – that »he« (meaning Machiavelli) applies to the tyrant David an expression which the New Testament, or Mary, applies to God. Since he characterizes as tyrannical, a way of acting that the New Testament ascribes to God[,] 61 he leads us to the conclusion, nay, says in effect, that God is a tyrant. (»Thoughts«, p. 49; cf. p. 157)

By employing The words of heauen (which Scripture uses or reserves for its Potentate) in describing the (particular) Deputy’s despotism or arbitrariness, Shakespeare’s Claudio is not only saying that Angelo is specifically acting like the Almighty will generally (Authority being a demy-god; MM [Var.], p. 32, TLN211 and 213, I.ii); but also that the Deity characteristically acts like said surrogate (to say nothing of the ostensively absconded Duke).62

|| 60 »The interesting distinction between a Christian and a human life is not developed but left to make its mark on whom it will« (MANSFIELD »Modes«, p. 100). For similar techniques of subtle écriture, cf. e.g. MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 339; 360n.; 692, 692n.–693n.). 61 He continues: »It is for the sake of making this extraordinary and shocking suggestion that he uses the only quotation from the New Testament which he ever uses in either the Prince or the Discourses« (»Thoughts«, p. 49; cf. 157). See STRAUSS’ context: »The first of the two examples which Machiavelli uses in that chapter [I.26] is King David, according to the Gospels, the ancestor of Jesus. The measures that men like King David must employ at the beginning of their reign [...] are described by Machiavelli as ›most cruel and inimical[‹]« (»Thoughts«, p. 49). Cf. MANSFIELD (»Modes«, p. 99–100). Prior, STRAUSS had put it thus: »Machiavelli indicates that ›tyranny‹ is a traditional term [...]. In a chapter which is explicitly devoted to what ›the writers call tyranny‹, he treats the godly King David as an example of a tyrant« (»Thoughts«, p. 44; cf. »Rebirth«, p. 251). 62 See the conclusion (subch. 3), herein. MIOLA avers as much, in another sense or respect: »Isabella’s certainty that sexual intercourse with Angelo will damn her to hell, despite the circumstances, makes God another Angelo, intent only on harshly punishing sexual activity, insistent only on the letter, not the spirit, of the law« (p. 159). MCNEELY notes the Duke’s »capacity to manipulate outcomes with the sublime arbitrariness of divinity« (p. 205; cf. »godlike«, p. 205, also at p. 207–12, 219; the context is problematic). As to contingency’s tyranny, see JAFFA (»Chastity«, p. 225–27), stating: »the beginning of the reform of the city will necessarily appear tyrannical. Indeed, there will be no external or visible difference between a tyrannical and a non-tyrannical beginning of reform. The first falling of the ›blow of justice‹ will appear to be, and indeed will be, arbitrary. It will be arbitrary, because there is no reason why that first blow should fall on one rather than another of those ›many‹ that have committed this offense. [...] arbitrariness must [...] take the lead. Arbitrariness therefore underlies non-arbitrariness« (»Chastity«, p. 226). Even so, it cannot be excluded that said initial strike was not entirely contingent. For variations on said structure, cf. MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 18; 21; 44; 53; 66; 68, 68n.; 737–38, 738n.–39n.; passim). Generally, see de Tocqueville on »legal despotism« and »the arbitrariness of the magistrate« (»Democr.«, p. 243, I.2.7; with De la démocr., p. 380). Cf. his expedient nuance: »One must distinguish well arbitrariness from tyranny. Tyranny can be exercised by means of law itself, and then it is not arbitrariness; arbitrariness can be exercised in the interest of the governed, and then it is not tyrannical. Tyranny ordinarily makes use of arbitrariness, but

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Yet such rhetorico-theological insinuations are not the only nexus with Machiavelli. For in the same scene (I.ii), Claudio also muses on the politico-pragmatic, downto-earth rationale involved in the autocratic measures he happens to be incurring: And the new Deputie, now for the Duke, Whether it be the fault and glimpse of newnes, Or whether that the body politique, be A horse whereon the Gouernor doth ride, Who newly in the Seate, that it may know He can command; lets it strait feele the spur: Whether the Tirranny be in his place, Or in his Eminence that fills it vp I stagger in: But this new Gouernor Awakes me all the inrolled penalties [...]; and for a name Now puts the drowsie and neglected Act 63 Freshly on me: ’tis surely for a name. (MM [Var.], p. 37–38, TLN250–59 and 262–64, I.ii)

The convicted – emphasizing novelty (newnes, the new Deputie, newly, this new Gouernor, with now, glimpse, strait, freshly), and thus a certain exceptional situation (if not a state thereof) – also implies that the (ultimately Platonizing) notion of the body politique being ›ridden‹ by a Gouernor (and the concomitant spur, Seate) is the general status (of play or affairs); hence that the differences will be in degree and style (of ›horsemanship‹): especially, since the respective ›riders‹ (being corporeal) will necessarily change, as a downright matter of course.64

|| in case of need it knows how to do without it« (»Democr.«, p. 242, I.2.7; with p. 253, I.2.8; De la démocr., p. 379, I.ii.vii; p. 395, I.ii.viii). Applied to Angelo, it would seem that he employs the law arbitrarily; see below. MIOLA, ROBERT S.: Shakespeare’s Reading, Oxford 2000. 63 Cf. WHITE (p. 180). RIESE asserts: »Wenn der Anschein des Tyrannischen aufkommt, so eben bei der Verurteilung des Claudio« (p. 53) – if taken in terms of a temporal and particularized contingency; for the resp. law might have struck at another time, and someone else. In this sense, ROSSITER’s categorical dismissal must be modified: »Critics who say Angelo’s [›official‹] actions were tyranny depart utterly from the text« (p. 161n., with 161). See Lucio’s version, when speaking to Isabella: He (to giue feare to vse, and libertie, / [...] hath pickt out an act, / Vnder whose heauy sence, your brothers life / Fals into forfeit: he arrests him on it, / And followes close the rigor of the Statute / To make him an example (MM [Var.], p. 54, TLN414–20, I.iv). Central statements are repeated with variation (for the audience’s benefit), and (in so doing treated) from diverse perspectives. In terms of the play’s notoriously polysemous (and -valent) title, one might note here that the Deputy’s ›exemplary‹ punishment devised for Claudio is visited upon himself with a difference in Act V. 64 To this »equestrian image«, LEISI (p. 30; cf. 19, 35; and MM [Leisi], p. 65n.) links the Duke’s line in the next scene: ’T would be my tirrany to strike and gall them (MM [Var.], p. 46, TLN328, I.iii); and said ruler’s reference to most biting Laws as needfull bits and curbes (MM [Var.], p. 43, TLN309–10, I.iii). Generally, cf. Plato (»Phaedrus«, p. 470–79, 246A–248E, §25–28; p. 494–99, 253C–254E, §34–35; p. 500–01, 255E–256A, §36). LEISI, ERNST: Introduction, in: LEISI, ERNST (ed.): Measure for Measure [...], Heidelberg 1964, p. 11–37. Plato: Republic. Books 1–5; Republic. Books 6–10, ed. and trans. by CHRIS EMLYN-JONES

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In other words, the inconvenience of there having always been tyrants in human history is simultaneously the grounds for confiding in the fact that – irrespective of whom it should be at a given point – she or he will not be so for long (let alone good).65 A Tyranne, how great and mighty soever hee may seeme [...] is but [...] one Animal (Jonson, p. 598, l.1125–26).66 In the central section of the above quote, Claudio questions whether the cause for said severity (or Tirranny) is to be found in the office generally; or rather in the particular protuberance or pride of the one who happens to be playing the part at the moment.67

|| and WILLIAM PREDDY, Cambridge, MA 2013; as well as: Phaedrus, trans. HAROLD NORTH FOWLER, in: FOWLER, HAROLD NORTH (ed): Euthyphro. Apology. Crito. Phaedo. Phaedrus, Cambridge, MA 1914, p.405–579. 65 »To the question what was the strangest thing he had ever seen«, Thales is thought to have replied: »›An aged tyrant [›γέροντα τύραννον‹]‹« (D. LAERTIUS p. 37–39, I.36). 66 See the n. on patientia in subch. 2.4; as well as Mathias Herweg’s article in the present volume. 67 Cf. also BRAUNMULLER/WATSON (MM [Ard. 3rd], p. 176n.). Quoting said passage, MCGRAIL asks »Is it the illegitimacy of the office or the abuse of it which makes for tyranny?« (p. 43n.) – having already answered herself: »The tyrant, for Shakespeare, is no mere usurper« (p. 26). Even so, Claudio will hardly be referring to Angelo’s legitimacy – since the Duke’s official act of delegation, deputization, is never in question. This has implications for the relation of kingship and tyranny; cf. CHARRON: il faut distinguer. Le prince est tyran et meschant, ou à l’entrée, ou en exercice (p. 623, with context, III.xvi; also ARMSTRONG »Conception«, p. 166; 177); see the discussion of ›use‹ in subch. 2.3, below. On tyranny and legitimacy, cf. STRAUSS (»Tyr.«, p. 75; 99; 121n.; 179–80; 185; with »Rebirth«, p. 143). LAKE believes ›tyranny‹ to be ›anatomized‹ in R2 – a play that does not employ a single variant of said term (contrast the somewhat misleading hints at p. 622n.–23n.; spec. »widely acknowledged to be a tyrant«, p. 623n.). The critic asserts: »What drains Richard’s reign of legitimacy is his own conduct, which, by the time the action of the play starts, is degenerating into something like open tyranny. [...] The play is very careful to demonstrate with almost forensic clarity just how and why Richard is guilty of tyranny« (p. 238; LAKE later modifies it to read »incipient [...] and increasingly open tyranny«, p. 245; »serial and insurgent tyranny«, p. 622n.). In particular, he logs »Richard’s tyrannous substitution of his own will for the laws and customs of the realm, an arbitrary interruption of what should have been the natural course of justice; an intervention prompted by Richard’s pursuit of personal, political and factional advantage. Here, in short, is the quintessence of tyranny« (p. 239). Apart from the set of problems tailing LAKE’s use of »natural«, tyrannical conduct does not tend to (consistently) save appearances – which (if thinly) is still the case in said reign: not how a ruler colors it (via delegation, say), but that he or she (even, or as yet) cares to, will be societally decisive (see La Boétie’s reference to ceux qui ne font guère mal aucun [...] qu’ils ne passent devant quelque joli propos du bien public et soulagement commun, p. 157–58). LAKE admits: »he has [...] been careful to cover his back« (p. 242; cf. 244–45, 251); »Richard has been scrupulous to observe the outward legal forms. [...] He may have been behind Gloucester’s death, but the deed was clearly done by third parties and Richard has been able to distance himself from it« (p. 243). It may seem questionable, whether a veiled despotism, revealed by efforts on the part of a certain reception (»to render Richard’s tyranny patent«), is aptly so called: »royal misrule«, continued profligacy, imprudence (p. 241; cf. 242, 441), »serial misgovernment« (p. 245), »complete political incompetence, [...] incapacity« (p. 252), are something else still. Said king is (taken to be) bending or circumventing the laws. Yet his measures are not strictly il- or extra-legal. LAKE’s prodigal use of the term (spec. »tyrannical and oppressive«, p. 240; cf. 244, »tyrannical policies«; »the regime’s corruption and tyranny«, p. 269; also 285, 600) seems to be guided

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He settles on the latter – and the audience will witness in Act II that this had been a plausible assessment.68 || by value judgments that the play may evidently elicit: a construal they remain. The point where the critic wishes to establish a »wider tyranny« (p. 247), or ›tyranny outed‹, is »the seizure of Hereford’s inheritance«, said to »move Richard’s actions definitively outside the realm of the legally justifiable. There is no more hiding tyrannical action behind the plausible deniability conferred by the actions of third parties or the punctilious observance of legal or customary forms or arguments. This is a clearly arbitrary act, undertaken entirely outside, indeed against, the law« (p. 244; cf. 247). Richard’s ›confiscating‹ of Gaunt’s estate after the latter’s death (see R2, p. 258–63, II.i.159–210; spec. we do seize, p. 259, II.i.160; Seek you to seize, p. 261, II.i.189; wrongfully seize, p. 262, II.i.201; we seize into our hands, p. 263, II.i.209; cf. p. 259n., 262n.) is utterly imprudent, politically speaking. He commits the gravest error in Machiavelli’s book: Ma soprattutto astenersi da la roba di altri, perché li uomini sdimenticano piú presto la morte del padre che la perdita del patrimonio (Principe, p. 111–12, XVII.14; cf. PRAZ, p. 93). York’s reaction articulates the fears on the part of the (landed) nobility (present): that they will be next (R2, p. 259–63, II.i.163–208 and 211–14; cf. p. 259n., 262n.–63n.) – thereby »virtually forc[ing] Hereford and others into open resistance« (LAKE, p. 251; cf. 252). Yet not only is said heir banished (R2, p. 261, II.i.190; cf. p. 259, II.i.165); Shakespeare’s Richard is also making use of what is precisely a legal technicality: deny[ing] his offered homage (R2, p. 263, II.i.204; see the expedient gloss at p. 262n.–63n.). Not in breaking, but in bending the law that king went too far. From the viewpoint of those directly implicated to their (material) detriment, it will surely seem a breach; and such meant his vtter undooing (R2, p. 262n., citing from Holinshed). To this extent, LAKE’s construal, giving »Richard« as »the clearly tyrannical figure of the first two acts« (p. 246), will hardly seem plausible – especially not, if his modifying adverb is taken at face value. Rather, said ruler performs in a (more or less) conveniently politic manner (»his capacity to manipulate the forms of monarchical legitimacy and power«) – until he enacts the ›original sin‹ as per the Machiavellian ›gospel‹: this being »his fatal mistake« indeed (LAKE, p. 251). In general, to be instrumentalizing the Law (exclusively) with a view to private interests could count as tyrannous, of course: MM might seem to be making an example thereof (in more than one sense). On »the Elizabethan use of the word politic« (p. 103) – its »link [...] with Machiavelli« being »customary« – see PRAZ (p. 106; cf. 99–100, 103–09). CHARRON, PIERRE: De la Sagesse, Trois Livres, Paris 21836. 68 In a diabolizing soliloquy, the Deputy accentuates his superbia: my Grauitie / Wherein (let no man heare me) I take pride (MM [Var.], p. 103–04, TLN1011–12, II.iv). By slightly adapting JAFFA’s formulation, one might say: »Angelo has fallen [...], because [of] his pride in his own virtue« (»Chastity«, p. 236). Generally, cf. MOOS (p. 571); and ARMSTRONG: »Renaissance moralists [...] denigrate the [...] tyrant as a human counterpart to Satan himself« (»Conception«, p. 169). See also Elke Ukena-Best’s contribution to the present volume. In Shakespeare, the word at issue is dependably associated with superbia and affine terms (e.g. narcissistic arrogance, swelling hauteur): Insulting tyranny begins to jut [sc. ›overhang‹] (R3, p. 208, II.iv.51, with p. 208n.); lofty, proud, encroaching tyranny (2H6, p. 291, IV.i.96); the tyrant’s rage / [...] his proud will (KL, p. 331, IV.vi.63–64) – ira paired with hýbris. Likewise, the (putatively) tyrannous behavior of the mistress is associated with being proudly [...] cruel (Son, p. 377, §131.1–2; cf. p. 376n.) – a bearing that is implied to rub off on, or bleed into, her alter (see Son, p. 415, §149.1–4; with p. 414n.). Tyranny appears to be (all but) incapable of reciprocity; it is either given, or it takes: »only the tyrant can pursue his own good without any regard whatever for others« (STRAUSS »City«, p. 76). In a moment of perspective taking, a speaker implies love’s tyranny, the cruelty thereof: For if you were by my unkindness shaken, / As I by yours, you’ve passed a hell of time, / And I, a tyrant, have no leisure taken / To weigh how once I suffered in your crime (Son, p. 351, §120.5–8). Cf. the reference to skillfully afflicting with kindness: O dissembling courtesy! How fine this tyrant / Can tickle where

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2.4 The (Involved) Vicarii: Various Stances on the Part of Angelo and Isabella Iuriſprudentia ex matrona faƈta eſt meretrix, ex regina tyranna, ex matre nouerca. 69 Scaliger (p. 82, III.i) »Die christliche Verurteilung der luxuria kann das Begehren nicht aus der Welt schaffen[.]« 70 KABLITZ (p. 58)

|| she wounds! (Cym, p. 151, I.i.85–86); man’s face can fold / In pleasing smiles such murderous tyranny (Tit, p. 184, II.ii.266–67). Hide not thy poison with such sugared words; / [...] / Upon thy eyeballs murderous tyranny / Sits in grim majesty to fright the world (2H6, p. 259, III.ii.45 and v.49–50). For said tópos, see Horace: vultus instantis tyranni (p. 146, III.3.3; with Montaigne »Essays«, p. 64, I.20; »Essais I «, p. 234, I.xx; p. 614n.). As to the nexus of superbia and tyranny in English literature, Milton’s treatment of Nimrod in the last book of Paradise Lost is noteworthy (see spec. p. 285–87, XII.24–96): till one shall rise / Of proud ambitious heart who [...] / Will arrogate dominion undeserved / [...] Hunting (and men not beasts shall be his game) / With war and hostile snare such as refuse / Subjection to his empire tyrannous. / ›A mighty hunter‹ [...] in despite of Heav’n / Or from Heav’n claiming second sovereignty, / And from rebellion shall derive his name / Though of rebellion others he accuse. / He with a crew whom like ambition joins / With him or under him to tyrannize (p. 285, XII.24–25, 27 and 30–39). The ethopoetically significative terms (applicable to tyranny generally) will likely be the ensuing: the cruelty implied in Hunting [...] men; the superbia indicated by proud ambitious, ambition; and acts of usurpation in arrogate dominion undeserved, rise, in despite, claiming [...] sovereignty, rebellion; cf. later: to himself assuming / Authority usurped from God not giv’n (p. 286, XII.65–66); this usurper his encroachment proud (p. 286, XII.72). Milton’s passage concludes that, given the fallen state of Nature, Tyranny must be, / Though to the tyrant thereby no excuse (p. 287, XII.95–96). On this segment of the work, see RADZINOWICZ (p. 227–29); FORCIONE (p. 247n.). For »Nimrod« qua »tyrant«, cf. also John of Salisbury (»Policrat. [2004]«, p. 206, VIII.20; with Policrat. II [1909], p. 373, 793c–d, VIII.xx). See spec. H.-J. Schmidt’s contribution in the present volume. Horace: Odes, ed. and trans. by NIALL RUDD, in: Odes and Epodes, Cambridge, MA 2004, p. 21–267. Milton, John: Paradise Lost, in: TESKEY, GORDON (ed.): Paradise Lost [...], New York 2005, p. 1–303. RADZINOWICZ, MARY ANN: The Politics of Paradise Lost, in: SHARPE, KEVIN and ZWICKER, STEVEN N. (eds): Politics of Discourse [...], Berkeley [et al.] 1987, p. 204–29, p. 338n.–41n. 69 Scaliger, Julius Caesar: Poetices Libri Septem [...], ed. AUGUST BUCK, Stuttgart/Bad Cannstatt 21987. 70 Cf. The brain may devise laws for the blood, but a hot temper leaps o’er a cold decree (MV, p. 190, I.ii.17–18; see WHITE, p. 167–68; with 159). As to MM, RHODES notes: »The incompatibility of nature (phusis) and law or convention (nomos)« is »a crucial aspect [...] in that quintessential ›problem play‹« (p. 610). For the discursive implications, see KABLITZ (p. 59); the scholar accentuates »daß die christliche Moral keinen Raum für die Entwicklung eines legitimen erotischen Affekts ließ« – the »Unvermeidlichkeit sinnlichen Vergnügens« notwithstanding (p. 57; cf. 59–60, 68, 76n.). Applied to MM, this state of affairs (or lack of play) encapsulates Angelo’s predicament between law and lust – having him fall from one rigor(ism) into another, sans measure or degree. It takes the Duke to (out)maneuver his excess(es), onto the middle course of marriage – a coerced intermediacy, to which the Deputy would decidedly (and characteristically) prefer the ›absolutism‹ of death (see MM [Var.], p. 271, TLN2873–74, V.i; generally, cf. Be absolute for death, p. 124, TLN1208, III.i).

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As indicated, the play has a considerably voluntaristic (not to say Augustinian) slant (a lo humano, of course). This might be confirmed by a passage from II.ii – which simultaneously ties in with the preceding segment of the present essay and suggestions set forth therein. Recipients are now witnessing a forensico-rhetorical debate between Claudio’s sister and the Duke’s Deputy. Both are patroni (in a sense), seeing that the one argues on behalf of her brother; while the other is (supposed to be) speaking for the Law and its giver – vicariously enacting the former as the latter’s surrogate.71 Isabella requests a pardon, asks for mercy (MM [Var.], p. 82, TLN797–98, II.ii). Angelo replies as follows (in a passage Schopenhauer, for evident reasons, would quote with approval): Ang. I will not doe’t. Isab. But can you if you would? 72 Ang. Looke what I will not, that I cannot doe. (MM [Var.], p. 82, LN799–801, II.ii)

As Shakespeare is said to have writ: The will is all (»Attributed Poems«, p. 437, AT2) – and (one might add), ›there is (a) tyranny in it‹.73 Angelo, of course, identifies with (or || 71 Cf. ROSSITER: »The two scenes with Isabella are unlike anything else in Shakespeare« (p. 159). In II.iv, the (mainly) vicarious status of both Angelo and Isabella is altered, in that their own (and very) bodies – with conflicting inclinations – play or form a (far greater) part in the altercation (than before). 72 See Schopenhauer, in his treatise on (and against) the freedom of the will (p. 444, IV). Cf. SKINNER (»Forensic«, p. 134). 73 The tyran is in the habit of faisant son état de compter sa volonté pour raison (La Boétie, p. 169). For the Hispanic context, see FORCIONE, who quotes Quevedo’s citing the (Juvenalian) »escandalosa sententia, que [...] haze formidables a los Tiranos: Sic volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas« (p. 233n; cf. 44; 71–72; 120; 172). Juvenal has hoc volo: »this is my will and my command: let my will be the voucher for the deed« (p. 100, VI.223). From Euphimia and Acharisto on the part of Cinthio – an author Shakespeare used for the plots of MM and Oth (cf. HONIGMANN, p. 345; 368) – PRAZ cites this significative line: »Il mio Dio è il mio volere, et ove questo / Mi guida, i’voglio andare« (p. 112; cf. 113n.). In one of Shakespeare’s (foremost) sources for MM, the resp. ruler censures his corrupt deputy (Promos) thus: many waies thou hast my subjectes wrongd: / For how canst thou with Justice use thy swaie / When thou thy selfe dost make thy will a lawe? / Thy tyranny [...] wronges by power [...] wrought, etc. (Whetstone, p. 499, 2.III.iii). Andrugio (the equivalent of Claudio in MM) refers to having been rescued from Tyrants wrath (p. 501, 2.IV.ii). Cf. La Primaudaye: generalement nous pouuons appeller Tyrannie, quand le Prince tient toute ſienne volonté pour iuſte Loy, ſans ſe ſoucier ny de pieté, ny de iuſtice, ny de foy: ains faiſant tout pour ſon profit particulier, vengeance, ou plaiſir (p. 306v, Qij.v, XV, §58; with ARMSTRONG »Conception«, p. 168); [il] conuient [...] au Tyran de regner en volonté abſolue,ſans eſgard aux Loix,ny aux preceptes de Iuſtice (p. 302v, Pvj.v, XV, §58; cf. p. 306r, Qij.r). Generally, see STRAUSS: »tyranny is such rule as is exercised over unwilling subjects and accords, not with laws, but with the will of the ruler« (»Tyr.«, p. 68; cf. 118n.); »rule without laws, i.e. [...] tyranny« (»Tyr.«, p. 72): which, »in any form[,] seems to be irreconcilable with the requirement of justice« (»Tyr.«, p. 73); »is in any case rule without laws« (»Tyr.«, p. 104), »is absolute monarchic rule« (»Tyr.«, p. 74), is »monarchic rule without laws« (»Tyr.«, p. 69). »According to the Hiero, the tyrant is necessarily ›lawless‹ not

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hides behind) a prosopopoiía: It is the Law, not I, condemne your brother (MM [Var.], p. 85, TLN833, II.ii).74 In line with her strategy up to this point, acting as her brother’s vicarius before the authorities – which happens to be a single, and increasingly autocratic, one – Isabella continues to plead for a pardon: Yet shew some pittie (MM [Var.], p. 87, TLN855, II.ii). Hypoleptically, Angelo takes up some of her words, turning them into his consistently rigorous (literalist, legalistic) sense – which he reveals to have an executive (not to say politic) purpose (also, if not exclusively): I shew it most of all, when I show Iustice; For then I pittie those I doe not know, Which a dismis’d offence, would after gaule And doe him right, that answering one foule wrong Liues not to act another. Be satisfied; Your Brother dies to morrow; be content. (MM [Var.], p. 87–88, TLN856–61, II.ii)

A rhetorically versed Isabella immediately takes the meaning; spells it out for those present (including herself, as well as the extra-dramatic audience); and then expands on the implied general sense (in what may well be this play’s most noted passage).75 Moreover, said elaboration at the kathólou level (meaning, of the quaestio infinita or thésis, specifically ›quale sit‹) also brings to light the pivotal dictum on tyranny – which the sideshow Lucio will qualify with a That’s well said: So you must be ye [sc. Þe] first that giues this sentence, And hee, that suffers: Oh, it is excellent

|| merely because of the manner in which he acquired his position, but above all because of the manner in which he rules: he follows his own will, which may be good or bad, and not any law« (»Tyr.«, p. 119n.). On the resp. agent’s characteristic ›willfulness‹, see also LAKE (p. 455); and VELZ (p. 111–12), who remarks: »Seneca’s tyrant acts in voluptatem, feeding the pleasure of his own will, without regard for just cause« (p. 111). Juvenal: The Satires [...], ed. and trans. by G. G. RAMSAY, in: Juvenal and Persius, London/New York 1918, p. 1–307. HONIGMANN, E. A. J.: Appendix, in: HONIGMANN, E. A. J. (ed.): Othello, London 32001, p. 344–91. La Primaudaye, Pierre de: Academie Françoise [...], Paris 31581. WHETSTONE, GEORGE: Promos and Cassandra (1578), in: BULLOUGH, GEOFFREY (ed.): Narrative and Dramatic Sources of Shakespeare, vol. II: The Comedies, 1597–1603, London/New York 1958, p. 442–513. 74 Cf. WHITE (p. 164); RHODES (p. 617). ROSSITER notes: »law or justice itself becomes a mask« (p. 158). Later, the Deputy similarly refers to himself as now the voyce of recorded Law (MM [Var.], p. 110, TLN1067, II.iv; cf. previously, p. 57, TLN451, II.i, as cited above). See JAFFA: »Angelo [...] presents himself, over and over again, as the representative of the law« (»Chastity«, p. 237). Said surrogate characteristically personifies it in the singular – ›the Law‹ being his mono-theós (as with Paul, spec. in Rom 7); contrast Shakespeare’s Henry V (H5, p. 179, II.ii.177). The Duke speaks of Vienna’s Lawes (MM [Var.], p. 18, TLN74, I.i), Statutes, and [...] Laws (MM [Var.], p. 43, TLN309, I.iii; Decrees, p. 45, TLN317). 75 SKINNER observes »the preternaturally eloquent figure of Isabella« (»Forensic«, p. 61; cf. 93). For a comparable case, see Daria Jansen’s article on Judith in the present volume.

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To haue a Giants strength: but it is tyrannous To vse it like a Giant. [...] Could great men thunder As Ioue himselfe do’s, Ioue would neuer be quiet, For euery pelting petty Officer Would vse his heauen for thunder; Nothing but thunder: [...] man, proud man, Drest in a little briefe authoritie, [...] like an angry Ape Plaies such phantastique tricks before high heauen, As makes the Angels weepe: who with our spleenes, 76 Would all themselues laugh mortall. (MM [Var.], p. 88–91, TLN862–71, 874–75, and 877–80, II.ii)

The lines initially quoted appear to be a variation on the noted dictum by Publilius Syrus: Nocere posse et nolle laus amplissima est (p. 72, v. 442).77 In an affine context, || 76 Cf. LEVER, adding the line »›Plus posse et nolle, nobile‹« (MM [Ard. 2nd], p. 45n.); see below. Some lines (spec. the simile at TLN871–74, II.ii) are here omitted to condense the passage with a view to the present purpose (for the context: MM [Var.], p. 88–91, notably 89). For a reading of the above passage in terms of rhetorical contradiction, cf. MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 471–72). As a potential intertext, see Virgil: »Salmoneus [...] paid a cruel penalty while aping Jove’s fire and the thunders of Olympus [›flammas Iovis et sonitus imitatur Olympi‹]« (p. 572–73, VI.585–86; cf. VI.585–94, spec. v. 591–92). This passage is also cited by La Boétie (pour vouloir imiter / Les tonnerres du ciel, p. 159; with 160). In Seneca, the tyrant Lycus arrogates to himself Quod Iovi hoc regi licet (Hercules, p. 88, II.489; cf. PRAZ, p. 110). ARMSTRONG notes: »The Stoic condemnation of tyranny embodied in Seneca [...] was naturally congenial to the Elizabethans [...]. Machiavellian ideas [...] had the peculiar fascination of the heretical« (»Influence«, p. 25; cf. »Conception«, p. 162). As regards the (Elizabethan) stage ›Machiavel‹, PRAZ asserts: »This [...] villain, appearing [...] on the Elizabethan stage, is [...] Seneca’s perfidious tyrant brought up to date by an infusion of Machiavellian cynicism« (p. 14; see 109–45, spec. 112, 116, 118, 126, 130; also 146; and contrast: p. 161). Virgil: Aeneid I–VI, trans. H. R. FAIRCLOUGH and G. P. GOOLD, in: GOOLD, G. P. (ed.): Eclogues. Georgics. Aeneid I–VI, Cambridge, MA 32006, p. 261–597. 77 Cf. quod prudentis opus? cum possis, nolle nocere: / quid stulti proprium? non posse et velle nocere (attributed to Bias of Priene in: ps.-Ausonius, p. 272, I.i.6–7; cf. DENT, p. 130). For the English context, see spec. SIDNEY: »but the more power he hath to hurte, the more admirable is his praiſe, that he wil not hurt« (p. 169, 2.15.7). The proverb usually reads: »To be able to do HARM and not to do it is noble« (TILLEY, p. 291, H170; cf. DENT, p. 130, H170; SMITH, p. 69, §147; with p. 29, §34; BRAUNMULLER/WATSON MM [Ard. 3rd], p. 224n.). As tentatively discussed in part 3 herein, the Duke’s conduct gives an affine line from another play an abysmal quality (de re): The power that I have on you is to spare you, / The malice towards you to forgive you (Cym, p. 373, V.v.417–18; with Nobly doomed, V.v.419; see SMITH, p. 70, §147; TILLEY, p. 291, H170). Applied to MM, the literal sense (a nexus of omnipotence with malevolent mercy) will seem pertinent – from a certain perspective. Angelo would prefer not to be pardoned: to him, clemency is another form of torture, a sentence ›drawing out death to lingering sufferance‹. In a way, the Duke does indeed what his Deputy threatened, but did not do. Cf. (in Tim): For pity is the virtue of the law / And none but tyrants use it cruelly (Shakespeare/Middleton, p. 247, III.vi.8–9). While the glosses refer it to law (p. 247n.), this is hardly the only reading; »tyrants« are typically characterized by assorted forms of ›cruel use‹ – counting pity and virtue. Cynically in its refinement, the Senecan Lycus lays claim to tyranny with a difference: Qui morte cunctos luere supplicium iubet / nescit tyrannus esse. diversa irroga: / miserum veta perire, felicem iube (Hercules, p. 90, II.511–13; cf. PRAZ, p. 110).

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DUNCAN-JONES/WOUDHUYSEN adduce Salisbury’s Early Modern motto »Posse et nolle, nobile« (p. 100; cf. p. 101).78 The former critic comments that »Shakespeare made half a dozen adaptations« thereof (Son, p. 298n.).79 One variant launches Sonnet 94, ostensively lauding those that have power to hurt, and will do none (Son, p. 299, §94.1).80 An – in many ways parallel – play features the following lines: || AUSONIUS: Appendix Ausoniana, ed. and trans. by HUGH G. EVELYN-WHITE, in: Ausonius II [...], Cambridge, MA 1921, p. 271–91. DENT, R. W.: Shakespeare’s Proverbial Language. An Index, Berkeley [et al.] 1981. SIDNEY, SIR PHILIP: The Countess of Pembroke’s Arcadia [...], ed. H. OSKAR SOMMER, London 1891. TILLEY, MORRIS PALMER: A Dictionary of the Proverbs in England in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Ann Arbor 1950. 78 For an incisively secular reading of the above formula, see JAN MOSCH’s study »›He shall not choose but fall‹: Moral Agency and Heteronomy in Shakespearean Tragedy« (forthcoming with de Gruyter). Cf. DUNCAN-JONES/WOUDHUYSEN: »A longer version of this aphorism, ›Nocere posse et nolle laus amplissima est‹ [...], was included in the collection [...] known as Pueriles [...]. In about 1595 [John] Salusbury appears to have adopted ›Posse et nolle, nobile‹ as his personal motto. [...] Shakespeare was to make half a dozen adaptations of the saying, the most extended and conspicuous being Sonnet 94« (p. 100; »Salusbury’s coat of arms and motto« is printed on p. 101). See also Seneca on the magnanimous and merciful, who tends to proceed from the passive or defensive viewpoint (due to his Stoicizing discourse generally): »What I now urge is that, although he has been clearly injured, he should keep his feelings under control, and, if he can in safety, should remit the punishment; if not, that he should modify it, and be far more willing to forgive wrongs done to himself than to others. [...] it is magnanimous to brook injuries even where authority is supreme [›magni animi esse iniurias in summa potentia pati‹], and [...] there is nothing more glorious than a prince who, though wronged, remains unavenged« (»De Clem.«, p. 414–15, I.xx.3). DUNCAN-JONES, KATHERINE, and WOUDHUYSEN, H. R.: Introduction, in: DUNCAN-JONES, KATHERINE and WOUDHUYSEN, H. R. (eds): Shakespeare’s Poems, London 2014, p. 1–124. 79 Cf. Seneca’s several (and extended) variations on the general notion: »No glory redounds to a ruler from cruel punishment – for who doubts his ability to give it [›quis enim dubitat posse‹]? – but [...] the greatest glory is his if he holds his power in check [›si vim suam continet‹], if he rescues many from the wrath of others, if he sacrifices none to his own« (»De Clem.«, p. 406–07, I.xvii.3; cf. p. 428–29, I.xxvi.5; p. 434–35, II.iii.1–2; also p. 448–49, frag.); »since [...] the mind of man has so much more power to do harm [›quanto vehementius nocet‹, compared with bees], it ought to show the greater selfcontrol« (»De Clem.«, p. 410–11, I.xix.4); »how much more just [›aequius‹, than ›the gods‹] is it for a man, set over men, to exercise his power in gentle spirit« (»De Clem.«, p. 376–77, I.vii.2). »As the lightning’s stroke is dangerous for the few, though feared by all, so the punishment born of great power causes wider terror than harm [›magnarum potestatum terrent latius quam nocent‹], and not without reason; for when the doer is omnipotent, men consider not how much he has done, but how much he is likely to do. [...] kings by clemency [›mansuetudine‹] gain a security more assured, because repeated punishment, while it crushes the hatred of a few, stirs the hatred of all« (»De Clem.«, p. 378–81, I.viii.5–6); »of all men none is better graced by mercy [›clementia‹] than a king or a prince. For great power confers grace and glory only when it is potent for benefit [›si salutaris potentia est‹]; it is surely a baneful might that is strong only for harm [›valere ad nocendum‹]« (»De Clem.«, p. 364–65, I.iii.3). 80 With context: They that have power to hurt, and will do none, / That do not do the thing they most do show, / Who, moving others, are themselves as stone, / Unmoved, cold, and to temptation slow: / They rightly do inherit heaven’s graces (Son, p. 299, §94.1–5) – as often in Shakespeare, a discursive mélange; here, mingling Aristotelianizing notions of the divine with Stoicizing sagacity. On said sonnet’s relation to MM, see KNIGHTS (»Explor. [1]«, p. 53–55, spec. 54). DUNCAN-JONES’ gloss cites TILLEY,

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Love all, trust a few, Do wrong to none. Be able for thine enemy 81 Rather in power than use (AW, p. 7, I.i.60–63).

From a context of affine temptations (de re), one might adduce TRIMPI’s emphasis (referring to Andreas Capellanus): »He can, in fact, having acquired the art [sc. of love, here], gain more credit for not using it« (»Muses«, p. 385).82 To the self-possessed or prudent, a more durable effect (such as gloria, in whichever realm) may stand in for any immediate indulgence within one’s capacity – and yield a (potentially) lifelong pleasure.83 In Measure for Measure (at this point, and from Isabella’s perspective), the adjective tyrannous appears to indicate a probable description of the respective noun as involving the degree to – and the manner in – which a given potentia (haue, strength) is enacted (vse) with respect to others (or sans).84 At once, the parallelism with excellent

|| and said »Latin« sententia, whereof »Shakespeare made half a dozen adaptations« (Son, p. 298n.; cf. DUNCAN-JONES/WOUDHUYSEN, p. 100–02). The critic makes no mention of MM in this context, although Sonnet 94 is indubitably connected thereto both in the terms used, and de re. Cf. spec. moving others, [...] themselves as stone, / Unmoved, cold, and to temptation slow (Son, p. 299, §94.3–4); stewards (Son, p. 299, §94.8). The overall poem may thus be linked to the vicarius Angelo – who only seems, and is not so; and to a remark on the Duke’s part, in reference to his Deputy (MM [Var.], p. 12–14, TLN35–41, I.i). 81 Generally, see de Tocqueville: »There was a time in Europe when law, as well as the consent of the people, vested kings with an almost boundless power. But it almost never happened that they made use of it« (»Democr.«, p. 299, I.2.9; cf. De la démocr., p. 460). Likely for reasons of prudent selfinterest: »the only secure power is one which imposes limits on its own strength« (John of Salisbury »Policrat. [2004]«, p. 206, VIII.20; cf. Policrat. II [1909], p. 373, 793c, VIII.xx). See STRAUSS: »The unwise are very unlikely to force the wise to rule over them« (»Tyr.«, p. 193); »it is obvious that absolute rule of the unwise is less desirable than their limited rule« (»Tyr.«, p. 194). 82 See Aristotle: »all arts [›τέχναι‹], i.e. the productive sciences [›ποιητικαὶ ἐπιστῆμαι‹], are potencies [›δύναμεις‹]; because they are principles of change in another thing, or in the artist himself qua other« (»Meta. 1–9«, p. 432–433, 1046b, IX.ii.1); spec. »a good actuality is both better and more estimable than a good potentiality [...]. In the case of evils the end or actuality must be worse than the potentiality« (»Meta. 1–9«, p. 465, 1051a, IX.ix.1 and §3; with MAYFIELD »Rhetoric and Contingency«, p. 102; 120; 122; 127n.–128n.; 143n.; 176n.). Cf. Rojas: en los bienes mejor es el acto que la potencia, y en los males mejor la potencia que el acto. [...] es mejor tener la potentia en el mal que el acto (p. 119, I; with p. 119n.). Rojas, Fernando de: La Celestina, ed. DOROTHY S. SEVERIN, Madrid 132002. TRIMPI, WESLEY: Ben Jonson’s Poems. A Study of the Plain Style, Stanford 21969; Muses of One Mind. The Literary Analysis of Experience and Its Continuity, Eugene 22009. 83 STRONG notes: »The strength of the Machiavellian is [...] never simply the use of power« (p. 205). Even so, he asserts: »Shakespeare’s only attempt at dealing with the problem of power seems to me to occur in plays such as The Tempest« (p. 216). One may well elide the limiting adjective, while adding – if not prioritizing – MM. 84 Cf. WHITE (p. 180). In a 1792 speech of (arguably) affine content generally, BURKE states: »it is not, perhaps, so much by the assumption of unlawful powers as by the unwise or unwarrantable use of those which are most legal, that governments oppose their true end and object: for there is such a

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signals the adjective’s status as a value judgment, hence its being conditional upon a certain point of view; and while the qualities of Giants are (said) not (to be) tyrannous in themselves, being one is – since their definiens is precisely such vse (MM [Var.], p. 88, TLN863–65, II.ii).85 Generally speaking, tyrants – in line with their characteristic excess – tend (or have) to be overemphatic of their factual potency qua force.86 By contrast, a politic auto-etho-poíesis credibly displaying an effortless capacity for not actually needing

|| thing as tyranny, as well as usurpation« (p. 42; with STRAUSS »Tyr.«, p. 120n.). The latter observes: »a possession is a good only conditionally, i.e., only if the possessor knows how to use it or to use it well« (»Tyr.«, p. 84–85). See de Tocqueville: »It is not the use of power or the habit of obedience that depraves men, but the use of power that they consider illegitimate, and obedience to a power they regard as usurped and oppressive« (»Democr.«, p. 8, Intro.; with p. 248, I.2.7; cf. De la démocr., p. 44–45; with p. 387–88). BURKE, EDMUND: The Works [...], vol. VII, Boston 41871. 85 This twofold, anaphoric (»it is«, »it is«) sententia is strictly parallel(istic): excellent, tyrannous; haue, vse; Giants strength, like a Giant (MM [Var.], p. 88, TLN863–65, II.ii) – in effect, the latter may well state that a Giant is always a ›tyrant‹, with vse qua definiens. In Floyd, a vitious tyrant is seen as uſing deteſtable enormities (p. 48–49, C12.v–D.r, §9; cf. DRAPER, p. 79). SKINNER quotes »Francis Osborne« as stating »that all princes are ›monsters in power‹, and [...] even Queen Elizabeth was a tyrant« (»Liberty«, p. 55–56). As to the archaic war of giants against gods (comparable to that involving the related Titans) – and including a description of their distinctive conduct (characterized by ira, luxuria, superbia, above all) – see Apollodorus (p. 42–47, I.vi.1–2). In MM, the term reappears further down – put into Isabella’s mouth, when (apparently) consoling her brother: The sence of death is most in apprehension, / And the poore Beetle that we treade vpon / In corporall sufferance, finds a pang as great, / As when a Giant dies (MM [Var.], p. 136, TLN1291–94, III.i). The emphasis here is (supposed to be) on the virtual painlessness of death itself – or rather: of being dead, the end of anguish (generally, cf. SMITH, p. 35, §53). Even so, said agony as such is not deemed illusory. Apollodorus: The Library. Books 1–3.9, ed. and trans. by JAMES GEORGE FRAZER, Cambridge, MA 1921. Floyd, Thomas: The Piƈture of a perfit Common wealth [...], London 1600. 86 Cf. the structure of outperformance in play, matching the excessiveness typical of tyrants: hours [...] / Will play the tyrants to the very same / And that unfair (Son, p. 121, §5.1 and v.3–4). This formulation links to a theatrico-structural mise en abyme (o’erdoing, out-Herods) turning on the names Termagant, Herod (Ham, p. 327, III.ii.13–14; cf. p. 327n.; for a nexus with drama, also 2H6, p. 240, III.i.147–53, spec. 149). Likewise: Tyrants themselves wept when it was reported (R3, p. 161, I.iii.185, with 183–84; cf. The tyrannous and bloody act is done, p. 271, IV.iii.1; A bloody tyrant and a homicide, p. 321, V.iii.247). Comparably, Young Clifford vows to outvie precedents: York not our old men spares; / No more will I their babes; tears virginal / Shall be to me even as the dew to fire, / And beauty, that the tyrant oft reclaims, / Shall to my flaming wrath be oil and flax. / Henceforth I will not have to do with pity. / [...] / In cruelty will I seek out my fame (2H6, p. 359, V.ii.51–56 and v.60). In testing Macduff, Malcolm’s ethopoetic description of himself as a (conceivable) tyrant is similarly informed by such outstripping of previous or present cases – here Macbeth’s (Mac, p. 257–58, IV.iii.50–66; cf. the references to excess: confineless, v.54, no bottom, v.60, o’erbear, v.64, at p. 257; Boundless, v.66, stanchless, v.78, at p. 258). Generally, DRAPER notes: »a reign of terror spreads [...]. Macbeth [...] loses all restraint« (p. 79).

430 | DS Mayfield to insist on one’s potentia will likely be more effectual.87 In said sense, it is not so much the range of power, as the extent to which the one in it happens to be coerced into executing it in fact. The aforequoted and further remarks at the general level increasingly irritate the Scripturally versed Deputy – who reacts exasperatedly: Why doe you put these sayings vpon me? (MM [Var.], p. 92, TLN891, II.ii). With diagnostic and (conceivably) curative intent, an eloquent Isabella replies by referring to a faculty for obfuscating or suppressing evidence on the part of those in power: Because Authoritie, though it erre like others, Hath yet a kinde of medicine in it selfe 88 That skins the vice o’th top (MM [Var.], p. 92, TLN892–94, II.ii).

While the term in question is (noticeably) avoided, the word Authoritie – which both sister and brother had used before, in comparable contexts (MM [Var.], p. 32, TLN211, I.ii; with p. 89, TLN875, II.ii) – here signals another aspect potentially conducive to a polyvalent portrait of what some (those in the know) might perceive as ›tyranny‹ (with a particularly Machiavellian inflection): a relishing readiness and cunning capacity

|| 87 See BLUMENBERG: »Macht heißt potentia – und sie muß es bleiben: Möglichkeit ist ihre Wirklichkeit. Es ist [...] die falsche Leitvorstellung, Möglichkeiten ›drängten‹ auf Realisierung, die Wahrheit darauf, erkannt zu werden, das Werkzeug zum Gebrauch, die Rüstung zur Schlacht« (»Staatstheorie«, p. 137; with MAYFIELD »Interplay«, p. 5, 5n.). 88 Cf. STRAUSS: »the tyrant [i]s injustice incarnate« (»Tyr.«, p. 57); »tyranny, i.e. [...] complete injustice« (»City«, p. 109; cf. 111, 133; »Rebirth«, p. 126; 166). With reference to Plato (see e.g. »Rep. 1–5«, p. 72–73, 344a–c, I; »Rep. 6–10«, p. 208–09, 544c, VIII; p. 274–341, 562a–580b, VIII; p. 374–75, 588a, IX; p. 468–69, 615c–e, X), JAFFA notes: »the successful tyrant« is »the perfectly unjust man« (»Unity«, p. 39). ARMSTRONG summarizes: »the tyrant’s behaviour is distinguished [...] by his injustice, his cruelty, his sensuality, and his hatred of good counsel« (»Conception«, p. 168).

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to conceal any crimes committed.89 In the course of the play, Angelo will indeed try to do so repeatedly.90 Within a soliloquy opening II.iv, the Deputy expresses his having become corrupted by concupiscentia – and that he will dissimulate this state of affairs (for the moment): Blood, thou art blood, / Let’s write good Angell on the Deuills horne (MM [Var.], p. 104–05, TLN1017–18, II.iv).91 In line therewith, he adopts the means of a legal fiction, which (mutatis mutandis) might as well be used as a suasoria’s théma – here set up for Isabella:

|| 89 As per WHITE, the Deputy’s »policy [...] blends hypocrisy and tyranny« (p. 180; cf. 196; also MCNEELY, p. 126). To the Provost’s It is a bitter Deputie, the (witting) Duke replies (disingenuously): Not so, not so: his life is paralel’d / Euen with the stroke and line of his great Iustice: / He doth with holie abstinence subdue / That in himselfe, which he spurres on his powre / To qualifie in others: were he meal’d with that / Which he corrects, then were he tirrannous, / But this being so, he’s iust (MM [Var.], p. 199–200, TLN1938–45, IV.ii). Cf. RIESE (p. 51); SHUGER: »A ruler becomes tyrannous [...] because [...] he exempts himself from the laws [...] he imposes« (p. 65). In said sense, (conscious) hypocrisy – if and where conducive to factual injustice – is perceived as tyranny. Even so, the resp. attribution will have greater difficulties to prevail in public (or gain general consent), since the fooled and gulled must remain the majority (see Machiavelli Principe, p. 117, XVIII.11; p. 119, XVIII.17–18). Cf. de Tocqueville: on peut rester populaire et ennemi des droits du peuple; serviteur caché de la tyrannie et amant avoué de la liberté (De la démocr., p. 163, I.i.v; see »Democr.«, p. 92). Generally speaking, such as are capable of seeing through the resp. maneuvers might then discern and indict tyrannous conduct; since they will typically be few, only repeated, and ultimately unconcealed (or -able) offenses (to common goods, affecting the majority, even the populace as a whole) tend to effect the notorious label on a public, general – including histori(ographi)cal – scale. Cf. EDEN: »the tyrant [...] uses all of the commonwealth as his own private property« (»Friends«, p. 106; with 81, 96, 111). See also the n. on Shakespeare’s R2 in subch. 2.2, herein. 90 As to R3, LAKE posits a distinction between prudent policy and tyranny outright: »Almost from the moment he achieves the throne, Richard [III] undergoes a fundamental change. No longer the plotting Machiavel, always under and in control, forever explaining to himself and to us just how his plans will go and are going, Richard becomes much more the irrational tyrant; a man always close to running out of control; threatened by his own fears and passions, unable even to control himself, let alone others and still less events« (p. 161). »His tyranny now patent, the dissimulating skills of the Machiavel by which he has ascended to power are now useless to him« (p. 162). »No longer an aspiring Machiavel, working in the shadows on the vulnerabilities and blind spots of others, Richard now confronts the world as a tyrant, his rule based on sheer force and fear« (p. 163). In other words: a lack of fraud. 91 ROSSITER spells out the ostensible tautology: »›blood‹ is ›blood‹: that is, lust is lust« (p. 120–21). Earlier, the Duke had given this characterization: Lord Angelo [...] scarce confesses / That his blood flowes (MM [Var.], p. 48, TLN342–44, I.iii). Shortly after, Lucio speaks of Lord Angelo as A man, whose blood / is very snow-broth (MM [Var.], p. 53, TLN409–10, I.iv); and later asserts that his Vrine is congeal’d ice (MM [Var.], p. 168, TLN1598–99, III.ii) – perchance (yet) a(nother) pun on his name, here with Italian ›gelo‹ (or Latin ›gelu‹). In Cicero, ›tyrants‹ are figuratively described as »members« to be »amputated, [...] being bloodless and virtually lifeless [›et ipsa sanguine et tamquam spiritu carere‹]« (»De Officiis«, p. 298–99, III.vi.32; cf. Montaigne Essais II, p. 97, II.viii). With thanks to Marion Darilek, who brought said Ciceronian passage to the conference’s attention.

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I shall poze you quickly. Which had you rather, that the most iust Law Now tooke your brothers life, and [sc. or] to redeeme him Giue vp your body to such sweet vncleannesse 92 As she that he hath staind? (MM [Var.], p. 109–10, TLN1055–59, II.iv)

He restates this hypothetical case shortly after: Admit [...] that there were No earthly meane to saue him, but that either You must lay downe the treasures of your body, [...] or else to let him suffer: What would you doe? (MM [Var.], p. 113–14, TLN1096 and 1102–06, II.iv)

Isabella rejects the possibility, taking her brother’s death as the cheaper way: Better it were a brother dide [sc. ›died‹] at once, Then that a sister, by redeeming him Should die for euer. (MM [Var.], p. 115, TLN1114–17, II.iv)

In terms of his weighted or slanted line of argument, Angelo now has Isabella where he wants her: Were not you then as cruell as the Sentence, / That you have slander’d so? (MM [Var.], p. 115, TLN1118–19, II.iv). Whereto the sister replies: Ignomie in ransome, and free pardon Are of two houses: lawfull mercie, Is nothing kin to fowle redemption. (MM [Var.], p. 115–16, TLN1120–21, II.iv)

At this point, the Deputy sees the chance to try and turn the tables:

|| 92 Cf. JAFFA: »The dialogue between Isabella and Angelo has about it many elements of a Quaestio Disputata in the medieval academic tradition. But there is nothing academic about the drama« (»Chastity«, p. 216) – though certainly much of the forensic. See SKINNER: in Shakespeare’s »early Jacobean plays, we find that for a brief period he became intensely absorbed by the possibilities of using the principles of judicial rhetoric as a dramaturgical technique« (»Forensic«, p. 60); »they are all intensely forensic plays« (»Forensic«, p. 62; cf. 60–63). As to MM in a declamatory respect (with reference to Seneca the Elder), cf. MCNEELY (p. 197–201; 212–14; 219–20; 267; 333n.). Generally, see EDEN (»Fiction« passim; spec. p. 176–83); WHITE (p. 77–87; 174); RHODES (passim; spec. p. 609, 611, 617, 620; as to the present play, cf. p. 610, 616–20). Thematically, one might note that Petronius – satirizing (Roman Imperial) declamatory practice – associates the mandating of decapitation under cruel and unusual circumstances with tyranny: tyrannos edicta scribentes, quibus imperent filiis ut patrum suorum capita praecidant (p. 2, §1; cf. RHODES, p. 612n.). Petronius: Satyricon, Fragments, Poems, trans. MICHAEL HESELTINE and E. H. WARMINGTON, in: WARMINGTON, E. H. (ed.): Petronius. Seneca, Apocolocyntosis, Cambridge, MA/London 21975, p. vii–430.

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You seem’d of late to make the Law a tirant, And rather prou’d the sliding of your brother 93 A merriment, then a vice. (MM [Var.], p. 116, TLN1123–25, II.iv)

As the play’s 2nd Arden editor observes, the Deputy’s tying in with the sister’s previous use of the word tyrannous (MM [Var.], p. 88, TLN864, II.ii) is a »construction«, here (LEVER, in: MM [Ard. 2nd], p. 61n.). The surrogate Judge supreme (defending the very basis of his position) is adopting Isabella’s (if not tendentious, then) hardly disinterested use of the term. She does concede her prejudice – that the respective value judgments were used as (rhetorical) colores: Oh pardon me my Lord, it oft fals out To haue, what we would haue, We speake not what vve meane; I something do excuse the thing I hate, 94 For his aduantage that I dearely loue. (MM [Var.], p. 116, TLN1126–30, II.iv)

Even so, this (forensically needful) return to the particular or partial plane will not invalidate the insights into the concept and quale sit of ›tyranny‹ gained at the general (kathólou) level. In what follows, Angelo makes plain that the juridico-hypothetical fiction employed actually ›expresses‹ his precise purpose (MM [Var.], p. 120, TLN1161, II.iv) – to which Isabella reacts with outrage, threatening to blackmail him (in turn); but the Deputy just mocks the naïveté of her presuming that she would be believed (MM [Var.], p. 120, TLN1164–72, II.iv).

|| 93 Aptly calling this »Angelo’s construction of [Isabella’s] ›tyrannous‹«, LEVER (MM [Ard. 2nd], p. 61n.) also links it to the ensuing: I haue a brother is condemn’d to die, / I doe beseech you let it be his fault, / And not my brother (MM [Var.], p. 80–81, TLN779–81, II.ii). See JAFFA (»Chastity«, p. 238); ROSSITER (p. 281); RIESE (p. 53–54; 61); SKINNER (»Forensic«, p. 132–33). BRAUNMULLER/WATSON apparently forego LEVER’S pertinent nexus, here (see MM [Ard. 3rd], p. 248n.). Angelo rejects said sophistic(ated) approach (cf. MM [Var.], p. 81, TLN783–87, II.ii). Discursively and mutatis mutandis, Isabella’s move seems reminiscent of certain maneuvers in Rom 6–7 (spec. 7:8), whose (ultimately forensic) ploys she adapts to her present needs. JAFFA sees the female heroine »as a representative of Pauline Christianity« (»Chastity«, p. 205; cf. 218); »a view of human nature as fallen [...] runs throughout the play« (»Chastity«, p. 217). »Isabella’s speech is one of the most notable invocations of Pauline theology in the literature of the West. This is [...] born-again Christianity with a vengeance« (»Chastity«, p. 224–25; referring to: MM [Var.], p. 84, TLN825–31, II.ii). »Isabella is a kind of Augustinian. [...] Angelo [...] accepts her theological premises« (»Chastity«, p. 233; cf. 234). ROSSITER asserts: »In both, [...] Pauline Christianity [...] is taken too high« (p. 159). Perchance (or -force), they have simply grasped – or ›understood‹ (see BLUMENBERG, in an affine context: »Teufel«, p. N3) – its abysmal quality aright. 94 Cf. TOVEY (»Wisdom«, p. 70). ROSSITER has: »The official half of Angelo is just such a hard man on lechery as she would admire, support, and aid« (p. 161). »She is still intellectually a Puritan« (p. 162). MCNEELY notes: »the personalities they are given are similar; both not only hold principles absolute, they actually hold most of the same principles« (p. 213).

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Since he has already let go of lawful and ethical conduct to such an extent, Angelo willfully crosses the Rubicon: I haue begun, And now I giue my sensuall race, the reine, Fit thy consent to my sharpe appetite, [...] Redeeme thy brother, By yeelding vp thy bodie to my will, Or else he must not onelie die the death, But thy vnkindnesse shall his death draw out To lingring sufferance: Answer me to morrow, Or by the affection that now guides me most, Ile proue a Tirant to him. As for you, 95 Say what you can; my false, ore-weighs your true. (MM [Var.], p. 121–22, TLN1173–75 and 1177–84, II.iv)

Angelo has fallen from an extreme legalism into a lust qualified by the same excess.96 He appears to be finding pleasure in willingly and -fully addressing himself as that

|| 95 A focus on the »appetite« (or lust) ties in with the Platonizing references to horsemanship, in subch. 2.2, above. The mode of ›threat and dread‹ Angelo holds out is precisely tyrannical: acting in excess of what the law stipulates – ›deferring death by torture‹. SKINNER notes: »As so often, Shakespeare leaves us to ponder the symmetry he has contrived. The scene opens with Isabella pleading in a foul case, and closes with Angelo asking himself in soliloquy: ›Dost thou desire her fowly?‹« (»Forensic«, p. 135; see MM [Var.], p. 97, TLN937, II.ii). Later, »[t]he duke’s response is to contrive a plot that strangely echoes his decision to appoint Angelo as his deputy« (»Forensic«, p. 89). The aforecited line is preceded by the ensuing: hauing waste ground enough, / Shall we desire to raze the Sanctuary / And pitch our euils there? (MM [Var.], p. 96, TLN933–35, II.ii). It may be linked to another passage, which elucidates the tyranny of desire (for maximally contrastive excesses): Why should the worm intrude the maiden bud? / Or hateful cuckoos hatch in sparrows’ nests? / Or toads infect fair founts with venom mud? / Or tyrant folly lurk in gentle breasts? (Luc, p. 308, v. 848–52; for a reading of this epic poem, cf. MAYFIELD »Rhetoric and Contingency«, p. 392–403, here spec. 399n., 402n.; with 382–83, 384n.). Regarding »Angelo«, JAFFA states: »The evil he does not want is what he does – or at least attempts. In this he appears almost to impersonate St. Paul, in Romans 7:19« (»Chastity«, p. 221). 96 Cf. MCNEELY: »Any ›temperance‹ [...] is exactly what Angelo lacks« (p. 212; with 216). See Terence: »›ius summum saepe summast malitia‹« (p. 266, v. 796). »›Summum ius summa iniuria‹« (Cicero De Officiis, p. 34, I.x.33; with TRIMPI »Muses«, p. 280). Cf. what (in an affine context) de Tocqueville pertinently refers to as cet esprit légal, qui semble indifférent au fond des choses, pour ne faire attention qu’à lettre, et qui sortirait plutôt de la raison et de l’humanité que la loi (De la démocr., p. 398, I.ii.viii; with »Democr.«, p. 256). As to MM, see CONDREN: »Shakespeare’s focus is upon the tyrannous abuse of law in a double sense«; »tyranny could be the [...] destructive rapacity of untrammelled will«, or »relentless legalism [...] ›legal tyranny‹« (p. 166). Excessiveness is symptomatically linked to the term in question: Boundless intemperance / In nature is a tyranny (Mac, p. 258, IV.iii.66–67; cf. ARMSTRONG »Conception«, p. 173; CONDREN, p. 166; MCGRAIL, p. 24). In its context, such immoderation typifies both luxuria and avaritia, with gula implied (Mac, p. 257–59, IV.iii.60–89, spec. v.60–61, v.63–65; and, above all, v.81–82: my more-having would be as a sauce / To make me hunger more). Generally, La Boétie characterizes the tyrants Tiberius and Nero by recourse to the terms avarice, luxure, cruauté (p. 156). Cf. rien ne rend les hommes sujets à sa [sc. the tyrant’s] cruauté que les biens; [...] il n’y a aucun

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which he has become.97 By expressing a readiness to actually – and to the utmost – employ (proue) the power given him in potentia, thereby to extort a compliance with

|| crime envers lui digne de mort que le dequoi (p. 165–66). On the aforesaid, see CANTOR: the dramatist »establishes a connection between Macbeth’s desire for the infinite and his tyrannical nature. [...] As Shakespeare presents the tyrannical character, his infinite desire makes him fight against any limits set to his will« (p. 340). »Macbeth’s tyrannical soul cannot stand the way nature sets limits to all activity and especially to human desire. He would rather see the world in chaos than accept natural constraints on his will. Ultimately he rejects the idea that there can be any kind of order subsisting in nature, independent of human will« (p. 341; with 343–44). As to a nexus of excess and violation, cf. Th’unsatiate greediness of his desire, / And his enforcement of the city wives; / His tyranny for trifles (R3, p. 246, III.vii.7–9). DRAPER avers: »Shakespeare accounted lasciviousness a characteristic of a tyrant« (p. 86). MCGRAIL: »Luxuriousness is a tyrannical passion« (p. 42n.). Concerning a text with considerable affinities to MM, ALVIS notes: »Lucrece suffers the ugliest crime Shakespeare attributes to any tyrant: violation by sexual humiliation of her right to her own body« (»Despot«, p. 291); »no person is secure in his rights if his very body is vulnerable to the tyrant’s plunder. [...] Lucrece [...] perceives that [...] the offense perpetrated upon her is the political crime of tyranny« (»Despot«, p. 292). Cf. SHUGER (p. 37–38); MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 399n.; 402n.; with context). Generally, see Xenophon: »It seems [...] as if the satisfaction of the sexual appetites [›ἀφροδισίων‹] were the only [›μόνον‹] motive that produces [...] the craving for [tyranny, ›τοῦ τυραννεῖν‹]« (»Hiero«, p. 10–13, I.26). Cf. STRAUSS (»Tyr.«, p. 50–51; 112n.–113n.; 125n.–126n.); spec. »›Sex‹ is the only motive of which Simonides ever explicitly says that it could be the only motive for desiring tyrannical power« (»Tyr.«, p. 113n.). Generally, »there is a tension between [...] eros and justice: [...] Eros obeys its own laws« (»City«, p. 111; cf. 133): »the tyrant, injustice incarnate, is [...] eros incarnate« (»Rebirth«, p. 126; cf. 166). John of Salisbury states: »the will of the tyrant is a slave to desires [›tiranni uoluntas concupiscentiae seruit‹]« (»Policrat. [2004]«, p. 214, VIII.22; Policrat. II [1909], p. 397, 807c, VIII.xxii). FORCIONE deems »the archetypal act of the tyrant, the violent appropriation for his own capricious purpose of the body of another human being« (p. 172). Observing »the obsession with tyranny in early modern political theory and dramatic representations of political situations«, said scholar further notes that »the tyrant« is typically depicted »as lustful«: his »act is a violation of [...] boundaries, laws, and rights« (p. 64), »›hold[ing] no other law than his own wish‹« (FORCIONE, citing Ribadeneira, p. 44; cf. 233n.); »in the most influential chronicle of Spanish history of the period, Juan de Mariana’s Historia de España (Latin [...] 1592; Spanish [...], 1601) [...], Pedro el Cruel was the prototype of the tyrant in his barbarity, irrationality, bestiality (fiereza), reprehensible violence, spectacular cruelty, vengefulness, inhumanity, and madness« (p. 103; cf. 120). Tyranny may (seem to) be (virtually) impervious to reason. Terence: The Self-Tormentor, ed. and trans. by JOHN BARSBY, in: The Woman of Andros [...], Cambridge, MA 2001, p. 172–303. 97 See JAFFA: »he thinks that it is indeed ›excellent to have a giant’s strength‹. But he also thinks that it is excellent to use it like a giant. It may be tyrannous to do so, but it is foolish not to do so! [...] in the second book of the Republic, [...] Glaucon’s thesis is not merely that justice is conventional, but that it is the good of the weaker. The stronger – the giants – are entitled by nature to the objects of their desire« (»Chastity«, p. 233; with »Rep. 1–5«, p. 122–55, 358d–367e, II). Cf. Seneca: »What difference is there between a tyrant and a king (for they are alike in the mere outward show of fortune and extent of power [›licentia‹]), except that tyrants are cruel to serve their pleasure [›tyranni in voluptatem saeviunt‹], kings only for a reason and by necessity [...]. Tyrants take delight in cruelty [›tyrannis saevitia cordi est‹]. [...] the difference between a tyrant and a king is one of deeds, not of name [›factis distat, non nomine‹]; [...] it is mercy [›clementia‹] that makes the distinction between a king and a tyrant as

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his desires (Fit thy consent to my sharpe appetite, yeeld[...] vp thy bodie to my will, Or else), the Deputy fulfills the description of ›tyranny‹ given by Isabella (in II.ii), which hinges on a differentiation between scope and enactment (vse).98 Angelo’s threats of ›cruel and unusual punishment‹ (his death draw out, lingring sufferance) – in excess of Claudio’s sentence as stipulated by the law – add a further nuance, in that the surrogate Judge’s own (implied) definition of Tirant involves setting one(and here him)self above the established legal code.99 || great as it is« (»De Clem.«, p. 390–93, I.xi.4–xii.1, and §3; with Jonson, p. 584, v. 663–65; cf. VELZ, p. 109). Generally thereto, see Christian Stadelmaier’s contribution in the present volume. 98 Cf. PLANINC (p. 157). SHELL states: »In the middle« of MM, »Angelo [...] becomes an incontinent tyrant« (p. 88). See CONDREN: »Later, Angelo acts in more conventionally tyrannical mode by breaking his promise to let Claudio live« (p. 169; see MM [Var.], p. 203, TLN1985–92, IV.ii). MIOLA asserts that such »is, after all, rape and extortion by other names« (p. 159; cf. 176n.). Linking the above passage to a description of despotic conduct in Luc, HADFIELD states: »By the end of the scene it has become clear to the audience that the reverse process of the establishment of the Roman republic has taken place and Tarquin is, in fact, restored« (p. 197). Cf. This said, he sets his foot upon the light, / For light and lust are deadly enemies: / Shame folded up in blind concealing night, / When most unseen, then most doth tyrannize (Luc, p. 294, v. 672–76). As regards the affinities of the Ancient and Viennese heroine, see MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 394n.); also SKINNER (»Forensic«, p. 63; 130). CONDREN nuances the above: »the puritan Angelo [...] is not such an unmitigated Tarquinian tyrant that our critical attention should wilt into an easy condemnation« (p. 171; cf. 169n.). Considering said plots side by side, one might surmise that the Duke is prudently preventing the potential emergence of a Lucius Junius Brutus – by adopting the role himself (mutatis mutandis). Cf. Machiavelli’s characteristically parrhesiastic articulation: »Thus he [sc. ›Tarquin the Proud‹] was expelled not because his son Sextus had raped Lucretia, but because he had broken the laws of the kingdom and governed it tyrannically, as he had taken away all authority from the Senate and adapted it for himself. [...] If the accident of Lucretia had not come, as soon as another had arisen it would have brought the same effect« (»Discourses«, p. 217, III.5.1; with p. 216; see ALVIS »Despot«, p. 293). SHELL, MARC: The End of Kinship. ›Measure for Measure‹, Incest, and the Ideal of Universal Siblinghood, Stanford 1988. 99 A Tyrant [...] ruleth as he liſteth [...] perſiſteth in extreames (Floyd, p. 46, C11.v, §9; cf. p. 52, D2.v). See ARMSTRONG: »The word ›tyrant‹ [...] for Elizabethans [...] could still be used in its [...] classical sense of ›absolute ruler‹; but it was most frequently employed with the hostile connotation of usurpation, or cruel and unjust rule; [...] by extension it came to be applied to the perpetrator of any remarkable wickedness or excess« (»Conception«, p. 163). Ex negativo, the Shakespearean Leontes accentuates the implications of the term in question: Let us be cleared / Of being tyrannous, since we so openly / Proceed in justice, which shall have due course (WT, p. 221, III.ii.4–6; with MCGRAIL, p. 87). While the perspective of power thus opposes lawful procedures to tyranny, Hermione gives the potential for agency on the part of those subject to it: innocence shall make [...] tyranny / Tremble at patience (WT, p. 223, III.ii.29–31). Cf. I do oppose / My patience to his fury, and am armed / To suffer with a quietness of spirit, / The very tyranny and rage of his – whereby Antonio associates Shylock with ira, and (in the same speech), with invidia (MV, p. 332, IV.i.9–12; his envy’s reach, v.9; cf. TOVEY »Golden«, p. 275). On »patientia« as the remedy of choice, see also John of Salisbury’s abysmal passage on David (Policrat. II [1909], p. 378, 796c–d, VIII.xx; with »Policrat. [2004]«, p. 209, VIII.20; and MOOS, p. 469n.; for the Elizabethan context: ARMSTRONG »Conception«, p. 164). Cf. Montaigne on Socrates (Essais III, p. 365, III.xii) – also as to »constancy« in facing the »cruelty« of a »Tyrant« (including stark examples, »Essays«, p. 250, II.2; with Essais II, p. 32–33, II.ii). Cf. JORDAN: »La Boétie insists that the defeat of

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Finally, the abovementioned capacity for covering up corruption (specifically by means of status: my false, ore-weighs your true) additionally signals the general point inferred from the Aristidean antagonism between autocracy and rhetoric (in part 1, herein): where tyrants hold sway, they also dominate public discourse to such an extent that other voices and views are suppressed, silenced, or ignored.100

|| tyranny is primarily a matter of insight and will. [...] liberty is an intellectual capacity, not a physical condition« (p. 203). Contrast SKINNER’s claim as to the abovecited Shakespearean passage: »The only effect of her [sc. ›Hermione’s‹] intense but vague magniloquence is to illustrate its incapacity to overcome the tyranny to which she is exposed« (»Forensic«, p. 64–65). Paulina spells out the unusual means faced by, and enabling, the aforesaid endurance: What studied torments, tyrant, hast for me? / What wheels, racks, fires? What flaying, boiling / In leads or oils? What old or newer torture / Must I receive, whose every word deserves / To taste of thy most worst? Thy tyranny, / Together working with thy jealousies, etc. (WT, p. 231–32, III.ii.172–77). Cf. York to Gloucester: you did devise / Strange tortures for offenders, never heard of, / That England was defamed by tyranny (2H6, p. 238, III.i.121–23). Linguistically, one might note the frequent (including paronomastic) association of words evincing a density of ‹t› and ‹r› with »tyranny« (and affine terms) – such as Tremble, torments, torture, in the above; otherwise also monster (Mac, p. 296, V.viii.25, with 27), as well as terror (in the context of thy tyranny, pride, R3, p. 318, V.iii.169, v.171 and v.177; cf. ARMSTRONG »Conception«, p. 176; generally: »the tyrant rules by terror«, KOJÈVE, p. 142; with 144); and the like (see Tit, p. 136, I.i.135–142), e.g. Fury, Fury! There, Tyrant, there! Hark, hark! (Tem, p. 261, IV.i.257: Prospero is delegating two of his dogs). Ultimately, only death makes one be past the tyrant’s stroke (Cym, p. 303, IV.ii.264). Comparably Cassius, in a significative utterance (cf. LAKE, p. 462, 495, 497, 506, 511, 518): I know where I will wear this dagger then: / Cassius from bondage will deliver Cassius. / Therein, ye gods, ye make the weak most strong; / Therein, ye gods, you tyrants do defeat. / Nor stony tower, nor walls of beaten brass, / Nor airless dungeon, nor strong links of iron, / Can be retentive to the strength of spirit: / But life being weary of these worldly bars / Never lacks power to dismiss itself. / If I know this, know all the world besides, / That part of tyranny that I do bear / I can shake off at pleasure (JC, p. 191–92, I.iii.89–100; with p. 314, V.iii.5, for another way out) – sheer volition against willfulness. Cf. Seneca: qui scit mori, nil posse fortunam (Ep. 66–92, p. 58, LXX.7); and spec. Cogi qui potest nescit mori (Hercules, p. 80, II.426) – thus Megara to the tyrant Lycus of Thebes; see her characterizing him as ›tumid‹, haughty, hubristic (»Hercules«, p. 78, II.384–385). On the Senecan sententia, cf. BLUMENBERG (»Verführbarkeit«, p. 143; »Ein mögl. Selbstverst.«, p. 18); MARQUARD (»Entlastung«, p. XXIII); MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 513–14, 513n.; 555n.; 564n.; 566–67; 580–88). As to MM, the Duke denies both Angelo and Lucio said way out (cf. MM [Var.], p. 271, TLN2873–74; p. 274–75, TLN2921–22, V.i) – his is a tyrannous mercy. Generally, the same adjectival qualification might apply to any authority or discourse denying human beings their right to freely depart ad votum. KOJÈVE, ALEXANDRE: Tyranny and Wisdom, ed. and trans. by VICTOR GOUREVITCH and MICHAEL S. ROTH, in: On Tyranny [...], Chicago/London 2013, p. 135–176. MARQUARD, ODO: Entlastung vom Absoluten. In Memoriam Hans Blumenberg, in: GRAEVENITZ, GERHART VON, and MARQUARD, ODO (eds): Kontingenz, München 1998, p. xvii–xxv; Laudatio auf Hans Blumenberg, in: Jahrbuch Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1980/2 (Spring: 1981), p. 53–56. 100 Cf. SKINNER (»Forensic«, p. 91–92). Angelo later states: For my Authority beares of a credent bulke, / That no particular scandall once can touch / But it confounds the breather (MM [Var.], p. 228–29, TLN2297– 99, IV.iv). RIESE speaks of »autoritätsberauschter Verantwortungslosigkeit« (p. 57). Generally, see PEARSON, on a (hypothetical and) comparable Ancient case (p. 180).

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3 Discursive Tyranny: The Menace of a ›Mono-Lógos‹ where the Prince is good, Euripides saith: God is a Guest in a humane body. 101 Jonson (p. 600, l.1211–12) »die ungezügelte Macht des Eros [...] bleibt ein konstanter Störfaktor harmonischen Zusammenlebens [...] Vernunft taugt weit eher zur ingeniösen Einfädelung der Befriedigung des Sexualtriebs[.] 102 KABLITZ (p. 90)

It is not only humans, who are charged with behaving like, or being, ›tyrants‹.103 As indicated in subchapter 2.1 above, the prosopopoiía of Law is also labeled so by Angelo (ostensively in its defense). || 101 In HEILMAN’s felicitously abysmal formulation: »Happily the Duke whom Angelo is temporarily replacing is a full-time dux ex machina masterminding defensive actions« (p. 390) – if that they are. Referring also to »the apocalyptic ending of the play« (»Chastity«, p. 218), JAFFA states: »Measure for Measure appears to begin with a Machiavellian scheme to bring good government to a bad city, by employing bad means that will be justified by their good results. [...] [It] is one of Shakespeare’s ›dark‹ or ›problem‹ comedies, perhaps the darkest and most problematic of them all. The central conflict, between Isabella and Angelo, seems to offer no possibility of a non-tragic solution. The ›happy‹ ending [...] seems to be superimposed [...]. The disguised Duke moves like an invisible providence« (»Chastity«, p. 212). »The plot, we know, is from the outset arranged by the Duke. [...] The diabolic cunning is the Duke’s ›ancient skill‹ in judging human character. The Devil turns out [...] to be the Duke playing God« (»Chastity«, p. 236; referring to MM [Var.], p. 97, TLN943, II.ii; with p. 205, TLN2021–22, IV.ii). Cf. PLANINC (p. 163), cum grano salis; GOLDBERG (p. 232; 236); RIESE: »Der Herzog wollte also Angelo durch die Übergabe der Macht in Versuchung führen? Dergleichen ist eigentlich mehr die traditionelle Rolle des Teufels« (p. 53). Contrast WHITE, who denies »that the Duke is a divine figure within the plot« – albeit precisely due to his being »just as vulnerable as Angelo to charges of tyranny and duplicity« (p. 181; cf. 183). Generally, see de Tocqueville: »irresistible power is a continuous fact, and its good use is only an accident« (»Democr.«, p. 245, I.2.7; De la démocr., p. 384). Cf. TOVEY: »Prospero and Duke Vincentio [...] may be said to play the role of a nearly omnipotent and omniscient God« (»Wisdom«, p. 62). With regard to King James I, CONDREN remarks: »His being above the law made him in theory a voluntaristic god on earth« (p. 167). HEILMAN, ROBERT B.: Shakespearean Comedy and Tragedy: Implicit Political Analogies, in: ALVIS, JOHN E. and WEST, THOMAS G. (eds): Shakespeare as Political Thinker, Wilmington 22000, p. 381–95. 102 Applied to MM (spec. its ostensively ›comic‹ conclusion), it may well seem as though the Duke’s conduct be another of those »Mutationen des Verhältnisses von Eros und Ethik« – discerned by KABLITZ regarding the resp. discursive negotiations (with diachronic variations) in the (Christian) culture of the West (p. 90). 103 On a figurative use of the ›transition‹ of »kingship into [...] tyranny [›et fit tyrannus‹]«, see Seneca’s Stoicizing reflection: Rex noster est animus; when losing its restraint, ›ceding to voluptuousness‹ (cessit voluptati, inpotens, cupidus, delicatus est, illum excipiunt adfectus inpotentes), it might be usurped; hence animus noster modo rex est, modo tyrannus (Ep. 93–124, p. 316–17, CXIV.23–24; cf. Imperare sibi maximum imperium, p. 298, CXIII.31). In a poem performing its contradiction (A Fit of Rime against

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The present (more putative, hence very condensed) third part of this essay provisionally suggests that it is not only (legal, historical, dramatic) personae as might (appear to) be autocratic; but that discourses – specifically such as lay claim to, and demand their being enforced in terms of, an unconditional validity – could be called ›tyrannous‹ (not to say Platonic).104 Employing a Blumenbergian emphasis mutatis mutandis, one might also mention the abstract ›absolutisms‹ of tribal morality, Paul’s Pharisaic Law, the gratuity of Divine Grace in Luther’s (and Calvin’s) versions of Augustinianism.105

|| Rime), a rhyming Jonson writes against the »Tyran Rime« – having but its own (willful, rather than rational) law, and said to ›abuse vulgar languages‹ as are scant / Of true measure (p. 184, XXIX.43–46 and v.53; cf. with a measure, / But false weight, p. 183, v.5–6; see TRIMPI »Plain Style«, p. 123). 104 Anyone (unfortunate enough to be all too) familiar with a (current) climate of allegedly ›academic‹ debates on heated and entitlement-ridden issues such as ›identity‹, ›dignity‹, ›subjectivity‹, ›belonging‹, etc. will know or understand, which abysses are implied. 105 See KÜPPER, accentuating »daß der christliche Monotheismus mit der gratuitas ein Prinzip in den Mittelpunkt stellt, das von der Frivolität mundaner Beliebigkeit und damit den Eigenschaften der pagan-antiken Fortuna nur dadurch getrennt ist, daß einem deus omnipotens menschliche Kategorien dieser Art inkommensurabel sind« (»Episteme«, p. 117). Said salvific qualification will seem immediately evident to believers (only); accordingly: »Monotheismus heißt, Kontingenz zur Gottesfigur zu stilisieren« (»Episteme«, p. 118). Cf. MAYFIELD thereto (»Rhetoric and Contingency«, p. 79n.; 189–90, 189n.–90n.; 200; 315, 315n.). On Paul and legalism, cf. BLUMENBERG (»Arbeit«, p. 35). For the latter’s use of the term ›absolutism‹, see spec. »Erst wenn die Rücksichtslosigkeit der Gottheit gegenüber dem Menschen zu Ende gedacht war, fand die immanente theologische Logik Befriedigung« (»Legitim.«, p. 193); plus these instances: »Der theologische Absolutismus« (»Legitim.«, p. 164; cf. 167, 196, 198–99, 202–03, 202n., 208–09, 223–25, 233; »Höhlen.«, p. 354; »Arbeit«, p. 16; »Vorbereit. der Neuzeit«, p. 108), »des verborgenen Gottes« (»Legitim.«, p. 229), »der Gnade, den Markion in seiner Heilsgeschichte walten läßt« (»Arbeit«, p. 88; cf. »Kausalität«, p. 202). »Der Absolutismus des ›Seins‹ ist wahrhaftig nur Fortsetzung des mittelalterlichen Resultats mit anderen Mitteln« (»Legitim.«, p. 220) – with infinite contempt being located in the word »wahrhaftig«; »transzendente[r] Absolutismus« (»Legitim.«, p. 224; cf. »Arbeit«, p. 158). »Die radikale Materialisierung der Natur bestätigt sich als das systematische Korrelat des theologischen Absolutismus« (»Legitim.«, p. 196). »Absolutismus der Wahrheit« (»Wirkungspotential«, p. 27; »Rigorismus«, p. 11), »der Welt« (»Legitim.«, p. 14), »der Wirklichkeit« (»Höhlen.«, p. 71; Arbeit, p. 9–10; 13–15; 18–21; 27–28; generally: p. 9–39, passim; 125; 295; 329), »der Vernunft« (»Sachen«, p. 37; cf. 200–01), »des Geistes« (»Geistesgesch.«, p. 53), »des selbstgewissen Ich« (»Beschreib.«, p. 199), »der jederzeit verfügbaren Entscheidungsgewalt« (»Geistesgesch.«, p. 80), »der Freiheit im Wirklichkeitsbegriff Kants« (»GKW III«, p. 709), »des moralischen Gesetzes« (»Kant«, p. 568), »der Normen« (»Rigorismus«, p. 15). »Der ästhetische Absolutismus« (»Beschreib.«, p. 609), »der Wünsche und Bilder« (»Arbeit«, p. 14), »der Metaphern« (»Lachen«, p. 121). With reference to Hobbes (»Beschreib.«, p. 506; also: »Staatstheorie«, p. 122; 142). See MARQUARD: »Blumenberg[s] [...] Philosophie ist [...] – principiis obsta! – philosophischer Antiabsolutismus. Die Menschen [...] sind distanzierungsbedürftige Lebewesen: sie brauchen Entlastung vom Absoluten und also Entlastung nacheinander von drei großen Absolutismen«: »[von dem] [›]der Wirklichkeit‹«, »[›]der Transzendenz‹«, »der theoretischen Distanz« (»Laudatio«, p. 54–55; cf. »Entlastung«, p. XIX–XXI; and passim). For applications and further references, cf. MAYFIELD (»Rhetoric and Contingency«, p. 18, 18n.; 35; 47;

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With respect to Measure for Measure, there are two discursive tendencies (both associated with the aforesaid) that could register as having affinities with tyranny. In the drama’s second half, and most visibly in its conclusion, the allegedly absconded Duke’s maneuvers and machinations appear (increasingly) absolutistic.106 Especially his supra- or (even) extra-legal use of ›mercy‹ might seem (more or less) gratuitous.107 BLUMENBERG accentuates said incompatibility: || 89n.; 129; 201, 201n.; 224–25, 224n.; 239; 243n.; 248; 249n.; 255; 284n.; 318`, 318n.–19n.; 325; 370, 370n.; 410n.; 498, 498n.–99n.; spec. 510, 510n.; 571; 611, 611n.; 613n.; 624n.; 650; 656). 106 GOLDBERG stresses: »All are subject to the Duke and his endless scheming and mysterious plotting« (p. 239). »Angelo may well be called the Duke’s ›motion generative‹ [...], his puppet« (p. 234; with MM [Var.], p. 168, TLN1599–1600, III.ii). RIESE notes: »Der Herzog muß [...] die von ihm selbst initiierte Tyrannei durch versteckte Manöver aus der Welt schaffen« (p. 53; cf. 61). As to Isabella’s agency in the Duke’s plot, JAFFA observes: »In awakening Angelo’s lust, she overcomes his attachment to the law. But her victory is also a defeat. She must retreat to the law at the moment Angelo deserts it. Both together have prepared the way for the Duke’s refounding of the city« (»Chastity«, p. 239). With respect to the kairós for such acts, see Rousseau: Le choix du moment de l’institution est un des caracteres les plus surs par lesquels on peut distinguer l’œuvre du Législateur d’avec celle du Tiran (p. 212, II.x; typography accommodated; cf. p. 276, IV.v). In general, the Duke is not like »the majority«, which – when »preoccupied with the idea of founding the new establishment« – tends to »forg[et] the one that already existed« (de Tocqueville »Democr.«, p. 239, I.2.7; cf. De la démocr., p. 375). See the latter’s significative remark: Si la force est moins grande [...] l’emploi en est plus commode et l’abus plus facile (De la démocr., p. 180, I.i.vii; precisely in the context of la tyrannie législative; cf. p. 389, I.ii.vii; p. 563, I.ii.x; »Democr.«, p. 104, with the felicitous trans. of a pertinent qualification: »so much the greater as it seems less dreadful«; cf. p. 249, I.2.7; p. 372, I.2.10). Regarding JC, LAKE speaks of the »quintessentially monarchical, and quite arbitrary, right of pardon« (p. 454). As to Tit, said critic logs »the patent absence of justice from a world ruled by a persecuting tyrant like Saturninus« – spec. »an entirely summary punishment imposed on Titus’ two sons, with no recourse to anything resembling due process. These were proceedings that any Elizabethan audience would have recognised as [...] altogether tyrannical« (p. 174). 107 WHITE claims: »Whenever mercy seasons justice [...], the attribute of God is in operation« (p. 167) – except that the first verb will have to read ›supersedes‹. Rhetorically, BLUMENBERG asks: »liegt in der Ankündigung von Gnade nicht eine Bedrohung der menschlichen Moralität, indem das Vertrauen auf diese Möglichkeit die Strenge der Nötigung des Sittengesetzes unterminiert?« (»Kant«, p. 558). He accentuates: »eine Gnade, die nicht Gerechtigkeit zu ihrer notwendigen Voraussetzung hätte, wäre nichts als blanke Willkür« (»Kant«, p. 567). While SYPHER’s ensuing remark may well sound like an overstatement initially, it might not be all that wide of the mark: »the Duke[’s] [...] mercy is a sanction of license, a withdrawal of all law whatever[,] except his own good will [...]; it is simply the hypertrophy of mercy at the expense of justice« (p. 270). In its qualified use (as applied to the Deputy), the play also signals that the above term may be just as value judgmental (or ›ideological‹) as ›tyrannous‹: There is a diuellish mercie in the Iudge (MM [Var.], p. 134, TLN1275, III.i). Escalus refers to mercy’s potential tyranny (or rather, its turning tyrannous) – albeit in a hedged variant: Double, and trebble admonition, and still for- / feite in the same kinde? This would make mercy sweare / and play the Tirant (MM [Var.], p. 173–74, TLN1680–82, III.iii; cf. RIESE, p. 52). It seems to be personified (as in Medieval Moralities); and ›tyranny‹ deemed a (quasi-dramatic) part played (cf. Son, p. 121, §5.3). In Machiavellian terms (concerning acts of founding), one must do all cruelties at once (Principe, p. 62, VIII.29) – including mercy. The Duke has maneuvered himself into a(n ostensively defensive) position, where

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Grace [›Gnade‹, also: ›Mercy‹], the elemental concept of Christian theology, and Justice [›Gerechtigkeit‹], the indelible claim of the human heart, are [...] in [...] irreconcilable conflict [with each 108 other] (»Kant«, p. 555; trans. dsm).

Besides (with Seneca): nam tam omnibus ignoscere crudelitas quam nulli (»for it is as much a cruelty to pardon all as to pardon none«; »De Clem.«, p. 364–65, I.ii.2).109 Likewise, BLUMENBERG remarks (in an affine context) »daß es des Guten allemal auch

|| he might pardon as many as possible – while punishing simultaneously. Cf. Seneca: »in the case of those whose names will be upon the lips of the community [›in ore civitatis‹], whether they are spared or punished [›servati punitique‹], the opportunity for a notable clemency should be made use of [›occasione notae clementiae utendum est‹]« (»De Clem.«, p. 418–19, I.xxi.4). »Mercy has freedom in decision [›Clementia liberum arbitrium habet‹]; [...] it may acquit and it may assess the damages at any value it pleases [›quanti vult‹]« (»De Clem.«, p. 444–45, II.vii.3). Will being the sole measure, clemency is as contingent – the product of a ›quia vult‹ or ›voluit‹ (hence tyrannical) – as is arbitrary (exemplary or summary) punishment. 108 See the context: »Die Krise der Neuzeit hängt aufs engste zusammen mit dem Problem, mit dem die Epoche begann und mit dem sie nicht fertig wurde, der Frage nach dem ›gnädigen Gott‹. Gnade, der Elementarbegriff der christlichen Theologie, und Gerechtigkeit, der untilgbare Anspruch des menschlichen Herzens, stehen noch auf dem Scheitelpunkt des Zeitalters in ebenso unversöhntem Widerstreit wie an seinem Beginn. Denn eben dies war die Problematik, an der das Mittelalter zerbrach und die es der Neuzeit zur Lösung oder Überwindung zurückließ. Das Erbe des spätmittelalterlichen Nominalismus war ein Gottesbild, an dem die Züge der absoluten Souveränität und herrscherlichen Willkür aufs äußerste herausgetrieben worden waren. In Gott war unbedingte Selbstverfügung, gesetzlose Selbstsetzung; er war der ›mutabilissimus Deus‹, die ›ipsissima libertas‹. Solche absolute Freiheit, mit Allmacht gepaart, beraubt den Menschen jeder Möglichkeit, über seine Stellung zur Gottheit wie über das Wesen der von ihr geschaffenen Welt irgend eine Gewißheit zu gewinnen« (»Kant«, p. 555; cf. »Kausalität«, p. 202). BLUMENBERG explicitly links divine arbitrariness and tyranny, speaking of »einer göttlichen Willkür, die den Menschengeist von dem Einblick in die Wahrheit ihres Willens und Werkes tyrannisch aussperrt« (»Kant«, p. 558; cf. 555, 566; as to divine »Willkür«, cf. also »Umsturz« p. 641; »Kosmos«, p. 73). His parrhesía is relentless: »Der biblische Gott hat ein Verfahren, immer das eine Unrecht durch das nächste und größere zurechtzurücken. Als wolle er demonstrieren, daß es nicht Sache eines Gottes sei, vor dem Tribunal der ›Theodizee‹ zu bestehen. Dieser Gott hat niemals recht gehabt; dafür hatte er Gnade hinter dem Rücken« (»Teufel«, p. N4). See KABLITZ: »Wie steht es um eine Welt, die den einen allmächtigen [...] allzuständigen Gott [...] kennt, der dennoch den Menschen für sein Tun verantwortlich machen will?« (p. 76). Withal, a factual almightiness could hardly have any reason to do harm – apart from deriving pleasure therefrom. 109 La Primaudaye notes: le Tyran [...] venge cruellement ſes iniures, & pardonne celles d’autruy (p. 306v, Qij.v, XV, §58; cf. ARMSTRONG »Conception«, p. 168). This will hardly be all that far from the Duke’s bearing: »in flat defiance of justice and in shocking contrast to Lucio’s harsh tit-for-tat treatment, Barna[r]dine is let off scot-free [...] He is sent off to learn to live – from a Friar. Ridiculous« (ROSSITER, p. 167; cf. But for those earthly faults, I quit them all, MM [Var.], p. 271, TLN2882; with p. 272, TLN2884– 85, V.i; as to Lucio’s punishment, a coerced conjugation with a professional, see p. 274–75, TLN2906– 22; concerning the Bohemian’s certain culpability, cf. p. 204, TLN2001–05, IV.ii). MCNEELY notes: »after first mercilessly ›killing‹ the helpless offender spiritually by sentencing him to death, he then arbitrarily pardons him« (p. 208). In an expressly Machiavellian context, Jonson states: No vertue is a Princes owne; or becomes him more, then his Clemency: And no glory is greater, then to be able to save with his

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zuviel werden und dieses Übermaß sich mit der Bedrohlichkeit des Bösen durchaus messen kann – wenn nicht sogar diese Bedrohlichkeit selber ist« (»Teufel«, p. N4).110 The respective and associated set of questions would require (and surely merit) a separate essay. Withal, one might apply to Shakespeare what KABLITZ accentuates for Petrarch – that he »brings to light [...] the abysses« pertaining to a »Christian interpretation of the world« (p. 75; trans. dsm).111 Herein, the focus has been on the first two Acts, where it is particularly the rigor of the surrogate’s patent Puritanism that conduces to effects as may tend to be associated with what is called ›tyranny‹.112 In line therewith, it could be intimated that Shakespeare’s play also presents an incisive analysis of how consolidated discursive tendencies might affect public life when empowered (and extratextual history would hardly prove him wrong).113 As STRAUSS memorably puts it: »Society will always try to tyrannize thought« (»Tyr.«, p. 27).114 || power. Many punishments sometimes, and in some cases, as much discredit a Prince, as many Funerals a Physician. The state of things is secur’d by Clemency; Severity represseth a few, but irritates more. [...] It is then, most gracious in a Prince to pardon, when many about him would make him cruell; to thinke then, how much he can save, when others tell him, how much he can destroy: not to consider, what the impotence of others hath demolish’d; but what his owne greatnesse can sustaine (p. 599, l.1162–75; see Seneca »De Clem.«, p. 380–81, I.viii.6–7; p. 406–07, I.xvii.3–xviii.1; p. 422–23, I.xxiv.1; with VELZ, p. 115). 110 »there may certainly also come to be too much of a good thing [literally: ›of the Good‹] and this excess [literally: ›this (state of being) beyond measure‹] may indeed measure up to the threatfulness of evil – if [it] is not even this threatfulness itself« (»Teufel«, p. N4; trans. dsm). »Des Guten zuviel« (»Teufel«, p. N4) – emphatically (and qua subtitle, as well). 111 »Was Petrarca [...] zum Vorschein bringt, das sind die Abgründe und Paradoxien christlicher Weltdeutung. Seine Dichtung erkundet nachgerade systematisch die Widersprüche, die dieser Wirklichkeitsinterpretation inhärent sind« (KABLITZ, p. 75). 112 Cf. BERNS: »Angelo [...] illustrates what is problematic in [...] immoderate Puritanism« (p. 403; with the context being highly questionable, spec. the construal of a »purified« or »moderate Puritanism«). BERNS, LAURENCE: Transcendence and Equivocation: Some Political, Theological, and Philosophical Themes in Shakespeare, in: ALVIS, JOHN E. and WEST, THOMAS G. (eds): Shakespeare as Political Thinker, Wilmington 22000, p. 397–406. 113 Concerning the Shakespearean corpus in general, WORDEN notes: »Rich and powerful Catholic churchmen are undesirable or even despicable, Puritans – or characters with Puritan characteristics – no less so: the texts invite not an ounce of sympathy for the beliefs or behaviour of Cardinal Beaufort, or for those of Angelo or Malvolio. There is a horror of the demos – of the lynch mob in Julius Caesar – and there is a tendency to represent the lower orders as figures of fear or fun or else of unmodulated fidelity. [...] Some modern critics are indignant to discover that Shakespeare’s plays do not seem to be the work of a democrat. Alternatively they uncover democratic aspirations hidden by the allegedly repressive conditions of censorship« (p. 28). Generally thereto, see DRAPER (p. 73–74; 90; 93). With respect to WORDEN, JOUGHIN observes: »Shakespeare’s drama presents us with an almost constant interrogation of historical transition, regime change, usurpation and tyranny« (p. 3). WORDEN, BLAIR: Shakespeare and politics, in: ALEXANDER, CATHERINE M. S. (ed.): Shakespeare and Politics, Cambridge [et al.] 2004, p. 22–43. 114 Cf. Aristotle (»Politics«, p. 452, 1312b, V.viii.18, with p. 454, V.viii.21; and p. 462, 1313b, V.ix.6). On the »tyranny« or »omnipotence of the majority«, see de Tocqueville (»Democr.«, p. 183, I.2.4; with

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When the Duke installs this specific Deputy, he not only changes the physical substratum standing in for, or representing, his public persona. He also establishes said human being’s notional héxis, (corresponding) prohairéseis – his habitual choices, mindset, or discursive ›baggage‹ (as it were); and not just incidentally, it being part of the ruler’s scheme to employ or exploit this specific surrogate’s ›set of beliefs‹ to his end(s). For else he might have used Escalus – with more reason and a certain sense of measure, hence to greater aequitas: »to see the good in some men [›ἀγαθοὺς ἄνδρας‹], and yet perforce to employ [›χρῆσθαι‹] others« (Xenophon »Hiero«, p. 30–31, V.2).115 Angelo’s manifest rigorism – his being a strictly legalistic ›precisian‹ incarnate, the embodiment of a Puritan idiom and mentality – might provide the grounds for arguing that a particular discourse (dominating every thought of streamlined minds, and then ›cross-pollinating‹ entire communities) could be seen as, or turn, ›tyrannical‹. Enunciating the general tendency of his belief system, the absolutism of the Deputy’s dogmatic discourse seems to conduce to, if not pave the way for, his factual despotism. Tying in with Isabella’s aforesaid description, language regimes (or téchnai) would not be ›tyrannous‹ for their notional potential, theoretical scope, or conceivable ca-

|| p. 186; and spec. p. 238–64, I.2.7–8; De la démocr., p. 291; 296; 369–410). Cf. Mill: in political speculations ›the tyranny of the majority‹ is now generally included among the evils against which society requires to be on its guard. [...] when society is itself the tyrant – society collectively, over the separate individuals who compose it – its means of tyrannising are not restricted to the acts which it may do by the hands of its political functionaries. [...] it practises a social tyranny more formidable than many kinds of oppression, since [...] it leaves fewer means of escape, penetrating much more deeply into the details of life, and enslaving the soul itself. Protection, therefore, against the tyranny of the magistrate is not enough: there needs protection also against the tyranny of the prevailing opinion and feeling; against the tendency of society to impose [...] its own ideas and practices as rules of conduct on those who dissent from them (p. 8, §1; cf. the tyranny of opinion, p. 67, §3; with p. 92, §4). 115 See La Primaudaye: le regne des Tyrans eſtant ſans meſure ny raiſon, conduit par la ſeule violẽce (p. 307r, Qiij.r, XV, §58; cf. ARMSTRONG »Conception«, p. 175; with 177). John of Salisbury links »tyranny and contempt for equity« (»Policrat. [2004]«, p. 163, VII.17; cf. Policrat. II [1909], p. 161, 675d, VII.xvii; with p. 162, 676a). Not without reason is the play’s first word said name: Escalus (MM [Var.], p. 8, TLN5, I.i). Cf. BULLOUGH (p. 415); PLANINC (p. 150). ROSSITER speaks of »the tolerant, worldly-wise Escalus« (p. 158). KNIGHTS notes: »Escalus, unlike Angelo – and this helps to define the Deputy – has a side of himself open to the rather foolish Elbow: Angelo talks about abstract justice; Escalus patiently sifts the evidence in an apparently unimportant case« (»Explor. [2]«, p. 20n.). Contrast SYPHER (p. 279); DOLLIMORE (p. 77–78); BERNS (p. 406n., with 403); as well as TENNENHOUSE, whose conflations will appear particularly misguided (if the text be the measure): »Lacking these administrative qualities, the usurpers and deputies who take over the state seem to produce a situation where the traditional differences between truth and falsehood, virtue and vice, justice and tyranny are threatened with collapse. Such arbitrariness characterizes Angelo’s and Escalus’s style of authority« (p. 157; cf. 158). BULLOUGH, GEOFFREY: Measure for Measure. Introduction, in: BULLOUGH, GEOFFREY (ed.): Narrative and Dramatic Sources of Shakespeare, vol. II [...], London/New York 1958, p. 399–417. TENNENHOUSE, LEONARD: Power on Display. The politics of Shakespeare’s genres, New York/London 1986.

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pacity (and be it subversive on paper); but for the use actually made of them by particular human agents – or the herd at large, led by its (ostensibly vicarious) hierophants (respectively their secular equivalents in terms of function).116 ›Thinking‹ – as Gracián says, not only ought to be, but inevitably – ›is free‹: El sentir es libre, no se puede ni debe violentar (p. 127, §43).117 Under cultural conditions, acting – which includes choosing not to – will or must be another matter.118

|| 116 Cf. MAYFIELD (»Ventriloquism«, p. 143, 143n., with additional references). 117 See La Boétie: la liberté leur est toute ôtée, sous le tyran, de faire, de parler et quasi de penser (p. 152, with 151). Hobbes: There is another Errour [...] to extend the power of the Law, which is the Rule of Actions onely, to the very Thoughts, and Consciences of men, by Examination, and Inquisition (p. 471, XLVI). De Tocqueville: La pensée est un pouvoir invisible et presque insaisissable qui se joue de toutes les tyrannies (De la démocr., p. 380–81, I.ii.vii; see p. 385; »Democr.«, p. 243; with 247). Conversely, »what does it matter that no one can rob them of their independence if they themselves voluntarily make the sacrifice of it« (»Democr.«, p. 259n., I.2.8; infinitized; see p. 186, I.i.4; p. 246, I.2.7; De la démocr., p. 404n.; with 296; 385). 118 Cf. and contrast RICHMOND (p. 105, where the qualification as »consequent« does not follow necessarily). The separation of thoughts (resp. words) and actions is the very foundation of (human) culture. »Knowledge is intrinsically good, whereas action is not« (STRAUSS »Tyr.«, p. 123n.). Cf. »the problem of most interest to the author was that of freedom of intellectual criticism under a tyrannical government. We are living in an age of tyranny; and therefore, what the ancients had to say on the subject is of importance; but [...] of even more importance is how they managed to say it so frequently without getting killed in the process« (VOEGELIN, p. 241). RICHMOND, HUGH M.: Shakespeare’s Political Plays, New York 1967. VOEGELIN, ERIC: On Tyranny. [Review of] Leo Strauss: On Tyranny. An Interpretation of Xenophon’s Hiero, in: The Review of Politics 11.2 (April: 1949), p. 241–44.

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Tyrann oder Märtyrer? Die Polyvalenz der Tyrannis in Gryphius’ Leo Armenius Ein literaturhistorischer Blick auf die frühneuzeitliche Souveränitätsdebatte

1 Kategorisierungsprobleme bei der Tyrannis-Frage Die Debatte um die Figur des Tyrannen, der entarteten Variante des Alleinherrschers, etabliert sich im christlichen Mittelalter als eine, die sich zwischen dem juristischen und dem theologischen Bereich abspielt. Abgesehen von der progressiven, auch in der Vormoderne feststellbaren Verselbstständigung des politischen Diskurses von den Positionen der römischen Kirche,1 bleibt die Frage nach dem Umgang mit einem unrechtmäßig regierenden Herrscher, der jedoch – von einem religiösen Gesichtspunkt aus – zum göttlichen Plan gehört, für Theologen und christliche Staatstheoretiker problematisch: Bei Johannes von Salisbury und Thomas von Aquin, deren Abhandlungen zur Tyrannenherrschaft einflussreich waren, koexistiert beispielsweise eine entschiedene Ablehnung des fürstlichen Machtmissbrauchs mit einer teilweise ambivalenten Haltung zur Legitimität des Tyrannenmords.2 In der Frühen Neuzeit entwickelte sich diese Debatte weiter, wobei ihr die veränderten historisch-politischen Umstände neue Akzente verliehen. Frühneuzeitliche Juristen und Staatstheoretiker neigten tendenziell dazu, die Einflusssphäre der Kirche und jene der Staatspolitik auseinanderzuhalten. Das erste berühmte (oder berüchtigte) Beispiel eines solchen Versuchs ist Niccolò Machiavellis Il principe, dessen kategorische Trennung

|| 1 Zur progressiven Säkularisierung des politischen Diskurses über die Tyrannis und den Tyrannenmord im Mittelalter vgl. die Gegenüberstellung von Johannes’ von Salisbury und Thomas’ von Aquin Theorien bei SIMONETTA, STEFANO: Verso un punto di vista laico sulla questione del tirannicidio fra XII e XIII secolo, in: Doctor virtualis 9 (2009), S. 67–84. 2 Im Policraticus befasst sich Johannes von Salisbury mit dem Thema des fürstlichen Machtmissbrauchs und unterscheidet zudem zwischen dem Usurpator und dem rechtmäßig eingesetzten Souverän, der sich zum Tyrannen entwickelt. Der Autor des Traktats erklärt den Tyrannenmord für legitim; er solle aber nicht von Untertanen begangen werden, die dem Fürsten Treue geschworen haben, und es sei auf jeden Fall empfehlenswert, sich auf das göttliche Eingreifen zu verlassen. Zu Johannes’ von Salisbury Ambivalenz gegenüber der Frage nach dem Tyrannenmord vgl. z. B. LANGDON FORHAN, KATE: Salisburian Stakes. The Uses of ›Tyranny‹ in John of Salisburyʼs Policraticus, in: History of Political Thought 11 (1990), S. 397–407. Thomas von Aquin postuliert in De regno, eine Revolte gegen einen Kaiser könne einem Reich größeren Schaden als eine tyrannische Regierung zufügen, deshalb solle man eine ›milde‹ Tyrannei lieber erdulden; vgl. dazu SIMONETTA (Anm. 1). https://doi.org/10.1515/9783110752373-019

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von Politik und Moral einen klaren Unterschied zu den bis dahin aufgestellten Staatstheorien markiert und auch in den nachfolgenden Jahrhunderten vieldiskutiert bleibt; eine weitere einflussreiche Stimme bei dieser Diskussion ist jene Jean Bodins, der sich vorgenommen hatte, einen überkonfessionellen Weg zur Regelung des Verhältnisses zwischen Fürst und Staat zu finden, und nicht unerwähnt bleiben sollen außerdem jene Theoretiker wie etwa Hugo Grotius, Thomas Hobbes und – später – Samuel von Pufendorf, die versuchten, die Rechte und Pflichten des Staatsoberhaupts aus den Normen des ius naturalis abzuleiten. Der Aspekt der Konfessionszugehörigkeit bleibt dagegen im Argumentieren anderer Denker deutlich spürbar und bestimmt deren Positionierung zu umstrittenen Fragen wie jener nach dem Widerstandsrecht. Das ist z. B. bei calvinistischen Rechtsgelehrten wie Johannes Althusius und den sogenannten Monarchomachen der Fall sowie bei orthodoxen Katholiken wie den spanischen Jesuiten Juan de Mariana und Francisco Suárez. In all diesen Fällen wird der Widerstand gegen einen tyrannischen Herrscher, der sich uneingeschränkte Macht über seine Untertanen angemaßt habe, theologisch begründet.3 Abgesehen von ihrer religiösen und politisch-philosophischen Orientierung sind alle Staatstheoretiker, die sich mit dem Thema der Alleinherrschaft befassen, mit Problemen konfrontiert, die mit der Rolle des Souveräns zu tun haben, der einerseits die wichtigste weltliche Autorität repräsentiert, die der Staat als Politikum verkörpert, und andererseits für die Heiligkeit einer gottgewollten Institution bürgt. Die hybride Natur des Souveräns, teils ›kreatürlich‹, teils sakral, wirft zahlreiche ethisch-politische Fragen auf, die das komplexe Verhältnis zwischen Herrscher und Staat bzw. zwischen Herrscher und Bürgern aufzeigen: Wie kann das Gleichgewicht zwischen staatlichem Interesse und fürstlichem Willen aufrechterhalten werden? Darf man einem Kaiser, der widerrechtlich regiert, Widerstand leisten? Ist der Tyrannenmord legitim? Solche Reflexionen finden auch im Rahmen der Literatur Platz und erlangen vor allem bei Autoren wie Andreas Gryphius, der auch Jurist war, besondere Prägnanz. Im Vergleich zu anderen Fürstendramen der Zeit wird in Gryphius’ Leo Armenius oder Fürsten-Mord (1646) die Komplexität der Figur des Tyrannen – und folglich auch die Komplexität der politischen Diskussion um diese Figur – auf besondere Weise problematisiert, denn der Protagonist übernimmt am Ende die Züge des Tyrannen und jene des Märtyrers zugleich, während sich sein Antagonist, der Königsmörder Michael Balbus, vom Volksbefreier und Opfer zum neuen Usurpator wandelt. Die Figur des Tyrannen und jene des Märtyrers – die WALTER BENJAMIN in den deutschen Barocktrauerspielen als komplementär und entgegengesetzt betrachtete4 – gehen in diesem

|| 3 Für eine ausführlichere und spezifischere Analyse der erwähnten Theorien vgl. OTTMANN, HENNING: Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit, Bd. III/1: Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen, Stuttgart 2006. 4 Er bezeichnet sie nämlich als »die Janushäupter des Gekrönten«, »die notwendig extremen Ausprägungen des fürstlichen Wesens«; BENJAMIN, WALTER: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: DERS.:

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spezifischen Theaterstück ineinander über und schaffen somit ein dramatisch wirksames Widerspiel, das auch im Rahmen der Souveränitätsdebatte bedeutungsvoll erscheint. Die multiperspektivische Darstellung des Kaisers wird zum wesentlichen Charakteristikum von Gryphius’ Drama. Dies zeigt nicht nur die Polyvalenz der Tyrannenfigur auf, wie sie im Drama in Szene gesetzt wird, sondern es wirkt sich auch auf die Diskussion zur Gattungszugehörigkeit des Werks aus, das in der Forschung als »Tyrannendrama«,5 »Märtyrerdrama«,6 »Schicksalsdrama«7 und »sakramentale Repräsentation«8 bezeichnet wurde. Diesbezüglich beschreibt NICOLA KAMINSKI Leo Armenius besonders treffend als »ein hermeneutisches Chamäleon, das, je nach Blickwinkel, zwischen Interpretationen unterschiedlichster Couleurs changiert«.9 BENJAMIN machte als erster darauf aufmerksam, dass die Grenze zwischen Märtyrer- und Tyrannendrama im Fall von Gryphius’ Leo Armenius fließend ist.10 Auch die Gattungsbezeichnung des Schicksalsdramas, die von Literaturwissenschaftlern wie ERIK LUNDING verwendet wurde,11 erscheint zutreffend, wenn Leo als eine Allegorie des Menschen selbst interpretiert wird, der wie ein Spielball den Launen des Schicksals ausgeliefert ist. Die Zentralität des Schicksals wird in der Tat dadurch bezeugt, dass Leos Lebenskurve das Rad der Fortuna widerzuspiegeln scheint, das wiederum die Unbeständigkeit des Schicksals versinnbildlicht:12 So wie Leo vom General und Staatsdiener zum Usurpator des byzantinischen Throns und zum Tyrannen aufsteigt, wird er einige Jahre später von seinem Freund und Diener Michael Balbus entmachtet und ermordet werden, der ihn bei seiner Machtergreifung unterstützt hatte und nun zum neuen Usurpator aufsteigt. In seiner Studie über das Tragische beschreibt PETER SZONDI || Gesammelte Schriften, hrsg. von ROLF TIEDEMANN/HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Bd. 1.1, Frankfurt a. M. 1974, S. 203–430, hier S. 249. 5 BARNER, WILFRIED: Gryphius und die Macht der Rede. Zum ersten Reyen des Trauerspiels Leo Armenius, in: DVjs 42 (1968), S. 325–58, hier S. 330. 6 FLEMMING, WILLI: Andreas Gryphius. Eine Monographie, Stuttgart 1965 (Sprache und Literatur 26), S. 84. 7 LUNDING, ERIK: Das schlesische Kunstdrama. Eine Darstellung und Deutung, Kopenhagen 1940, S. 78. 8 WEIDNER, DANIEL: »Schau in dem Tempel an den ganz zerstückten Leib, der auf dem Kreuze lieget«. Sakramentale Repräsentation in Gryphiusʼ Leo Armenius, in: Daphnis 39 (2010), S. 287–312, hier S. 288. 9 KAMINSKI, NICOLA: Martyrogenese als theatrales Ereignis. Des Leo Armenius theaterhermeneutischer Kommentar zu Gryphiusʼ Märtyrerdramen, in: Daphnis 28 (1999), S. 613–30, hier S. 614. Zur Unmöglichkeit, Gryphiusʼ Leo Armenius durch eine genaue Gattungsbezeichnung zu kategorisieren, vgl. auch BURGER, PETER: Baroque. Figures of Excess in Seventeenth-Century European Art and German Literature, Paderborn 2019, S. 161f. 10 Vgl. BENJAMIN (Anm. 4), S. 252. 11 Vgl. LUNDING (Anm. 7). 12 Vgl. PETERS, JEANNY: Rollenspiele im Welttheater des Andreas Gryphius am Beispiel des Leo Armenius / Oder Fürsten-Mord, Kassel 2015, S. 127.

448 | Giulia Frare dieses Drama sogar als »die erste Tragödie der deutschen Literatur«13 und verweist dabei auf das tragische Schicksal des Helden, das nicht einmal das christliche Heilsversprechen zu mildern vermag. Nachdem Leo als Akt der Gnade den Zeitpunkt der Hinrichtung seines künftigen Mörders vertagt, wird dieser genau am Tag der Geburt Christi, den er ohne Blutvergießen ehren wollte, ermordet.

2 Leo V.: Ein historiographisch kontroverser Kaiser Es ist bemerkenswert, dass Gryphius keine neutrale historische Gestalt als Protagonisten gewählt hat: Der byzantinische Kaiser Leo V. war nämlich der Chronistik zufolge eine kontroverse Persönlichkeit – ein geschickter Staatsmann und zugleich ein unbarmherziger Mensch –,14 und zu Gryphius’ Zeit war er durch Joseph Simons Drama Leo Armenius Seu Impietas Punita als eine vorwiegend negative Figur bekannt. Dass der Autor in diese literaturhistorische Tradition eingreift und eine neue Interpretation eines schon als Tyrannen bezeichneten Kaisers bietet, ist kein bloßer künstlerischer Akt, sondern zugleich eine politische Stellungnahme. Gryphius’ alternative Darstellung von Leo Armenius in einer Epoche, in der die Rolle des Alleinherrschers zur Debatte gestellt wird, betont nochmals die Schwierigkeit – oder gar die Unmöglichkeit –, ein objektives Kriterium für die Bezeichnung als ›Tyrann‹ festzulegen. Leo Armeniusʼ Ruhm als skrupelloser Stratege geht auf die ereignisreiche Geschichte seiner Regierung zurück.15 Leo V., ›der Armenier‹ genannt, wurde 813 zum byzantinischen Kaiser gekrönt, nachdem sich Michael I. nach der Niederlage gegen den bulgarischen Herrscher zurückgezogen hatte. Leo hatte an jenem Krieg auch als General einer Abteilung des besiegten Heeres teilgenommen. Wie bereits erwähnt, wird Leos Thronbesteigung als Akt der Usurpation betrachtet: Michael I. sei gezwungen gewesen abzudanken, seine drei Söhne seien auf Befehl des neuen Kaisers entmannt und die ganze Familie in einem Kloster gefangen genommen und dort zurückgelassen worden. Unter seiner Herrschaft von 813 bis 820 vergrößerte Leo zwar die militärische Macht des byzantinischen Reiches (das Voranschreiten der bulgarischen Truppen wurde hinausgezögert, die Araber wurden aus Sizilien und Anatolien ver-

|| 13 SZONDI, PETER: Versuch über das Tragische, Leo Armenius, in: DERS.: Schriften, hrsg. von JEAN BOLLACK [u. a.], Bd. 1, Berlin 1978, S. 229–34, hier S. 229. 14 Vgl. Ioseph Genesiosʼ Kaisergeschichte Byzanz am Vorabend neuer Größe (Anm. 16) sowie Georgios Kedrenosʼ Compendium historiarum (Kedrenos, Giorgios: Compendium historiarum, Venedig 1729, S. 383–91) und Johannes Zonarasʼ Historia imperatorum Romanorum (Zonaras, Johannes: Historia imperatorum Romanorum, Frankfurt 1578, S. 143f.). 15 Zur byzantinischen Reichsgeschichte und zu Leo Armeniusʼ Herrschaft vgl. z. B. DUCELLIER, ARMAND: Byzance et le monde orthodoxe, Paris 1986, und LILIE, RALPH-JOHANNES: Byzanz. Das zweite Rom, Berlin 2003.

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trieben); dennoch wird der Kaiser in den Chroniken als ein grausamer und listiger Mensch beschrieben,16 der zunächst den bulgarischen Khan und dann den Patriarchen Nikephoros I. in der Auseinandersetzung um die Wiedereinführung des Ikonoklasmus betrogen habe. Eben jener Patriarch Nikephoros, der vom Kaiser ins Exil getrieben worden war, soll die positiven Eigenschaften seines Gegners eingestanden haben, indem er nach dessen Tod behauptet haben soll: »Der Staat der Romäer hat einen zwar nicht rechtgläubigen, aber doch großen Fürsorger verloren«.17 Gryphiusʼ Stück beginnt am Tag vor Leos Ermordung, als der Verschwörungsplan des Michael Balbus entdeckt und dieser folglich verhaftet wird, und endet vor Sonnenaufgang des Weihnachtstags, als der Kaiser den tödlichen Schlägen seiner Mörder erliegt. Die Ereignisse, die dazwischen treten und Leos tragisches Ende entscheiden, spielen sich am Heiligabend ab: Der Kaiser berät zunächst mit einigen Richtern (II,2) und seiner Frau Theodosia (II,5) über das Schicksal des Verräters und lässt sich am Ende von der Kaiserin überzeugen, Michael Balbus nicht am Weihnachtstag hinzurichten. In der Nacht träumt Leo vom Patriarchen Tarasios, der ihm seinen bevorstehenden Tod voraussagt (III,2). Er begibt sich – tief erschüttert und voller Zweifel an dem gefällten Urteil über Michael Balbus – ins Gefängnis, wo er seinen Gegner ruhig schlafend findet. Michael Balbus gelingt es kurz danach, eine Wache zu bestechen und seinem Sohn eine Botschaft bringen zu lassen (III,5), in der er seine Mittäter zur Vorbereitung des Attentats auffordert. Von der Vorgeschichte, die von Leos Usurpation bis zum Ikonoklasmus-Streit reicht, erfährt der Rezipient durch die Gespräche der Verschwörer, die ihre Tat in Leos grausamem und ungerechtem Verhalten gerechtfertigt sehen. Die Widerrechtlichkeit der Machtergreifung Leos wird schon in der ersten Szene von einem Verschwörer angedeutet, als dieser die Vertreibung von Kaiser Michael in Erinnerung ruft: [...] das redliche Gemüte / Der mehr denn fromme Fürst / das Bild der linden güte / Der trawte Michael / must als der Löw entbrant / Vnd ihn mit grimmer list und toller macht anrant /

|| 16 Ioseph Genesios schreibt in seiner Chronik der byzantinischen Kaisergeschichte: »Kaiser Leon nun war, nachdem er sich gegen die Bulgaren und Agarener tapfer geschlagen hatte, von unbesiegbarem Eigendünkel ergriffen worden; immer anmaßender erschien er allen, auch zu wachsender Grausamkeit neigte er infolgedessen. Er war nämlich furchteinflößend in seinem ganzen Wesen und Tun, da er in keiner Weise die ihm innewohnende Härte, seine mißgünstige Gesinnung und herausfordernde Art milderte. Ja er ging so weit, daß er von vielen, auch wenn sie nur geringfügiger Vergehen überführt worden waren, die Hände, die Füße oder andere wichtige Gliedmaßen in den belebten Straßen der Hauptstadt aufhängen ließ. So kam es, daß er von allen Untertanen verhaßt wurde.« Benutzte Ausgabe: Ioseph Genesios: Byzanz am Vorabend neuer Größe. Überwindung des Bilderstreites und der innenpolitischen Schwäche (813–886). Die vier Bücher der Kaisergeschichte des Ioseph Genesios, übers., eingel. und erklärt von ANNI LESMÜLLER-WERNER, Wien 1989, S. 39. 17 Ebd., S. 40.

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Ablegen Stab und Cron. Er liß den Purpur fahren / Vnd kiest ein härin Kleid / in meinung bey Altaren 18 Den Rest der kurtzen zeit zu liffern seinem Gott! (I,1, S. 8f., V. 51–57)

In dieser Gegenüberstellung von ehemaligem und künftigem Kaiser werden die positiven und die negativen Eigenschaften jeweils auf einen der beiden Gegner bezogen. Leo wird als ein listiger und unbarmherziger Rebell präsentiert, der den Thron usurpiert und einen gerechten und frommen Fürsten beseitigt. In derselben Szene verweist auch Michael Balbus auf Leos Grausamkeit, um seinen Akt des Widerstands zu rechtfertigen: Des Fürsten grimmer Sinn / die zwytracht in dem Stat / Die zancksucht in der Kirch’ / und vntrew’ in dem Rath / Die Vnruh’ auff der Burg [...] Jhr Helden / wacht doch auff! kan eure Faust gestehen; Daß Reich und Land und Statt / so wil zu Grunde gehen / Weil Leo sich im blut der Vnterthanen wäscht Vnd seinen geldtdurst stets mit unsern gütern lescht? (I,1, S. 7, V. 5–22)

Der unvoreingenommene Rezipient wird also von Anfang an mit einem negativen Bild des Kaisers konfrontiert, das der Beschreibung Leos in Gryphiusʼ historischen Quellen – Georgios Kedrenosʼ Compendium historiarum und Johannes Zonarasʼ Historia imperatorum Romanorum –19 sowie Simons theatralischer Bearbeitung des Leo-Armenius-Stoffs entspricht. Das Urteil der Verschwörer wird aber schon in der nachfolgenden Szene relativiert, indem eine neue Perspektive, aus welcher der Kaiser betrachtet werden kann, aufgezeigt wird. Durch die Worte Leos und seiner Berater werden nämlich die Verpflichtungen, die Verantwortung und der Kummer sowie seine Heiligkeit bei der Ausübung des politischen Amtes offenbart. So sagt der kaiserliche Berater Exabolius: Der Himmel selber wach’t vor die gekrönten haare; Vnd steht dem Zepter bey. Die ringen nach der baare / Vnd nehmen unverhofft ein schnell-und schrecklich end Die das besteinte gold der schweren Krone blend. Bedenck’ auch was es sey / vor so vil tausend sorgen / Stets als gefangen gehen; [...] [...] Bald rufft das Heer nach Sold: Die Länder wegern Korn, den Städten mangelt gold. [...]

|| 18 Benutzte Ausgabe: Andreas Gryphius: Leo Armenius, oder Fürsten-Mord, in: ders.: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Bd. 5: Trauerspiele II, hrsg. von MARIAN SZYROCKI/HUGH POWELL, Tübingen 1965 (Neudrucke deutscher Literaturwerke NF 14), S. 1–96. 19 Sowohl Kedrenos als auch Zonaras werden von Gryphius in der Vorrede von Leo Armenius erwähnt (Vorrede, S. 3).

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Diß geht nicht jeden an / doch jeder hat zu leiden Vor sich sein eigen theil. Der Fürst kan nichts vermeiden. Er fühlt die gantze Last. [...] (I,4, S. 18f., V. 343–81)

Im dritten Akt äußert Leo seine Sorgen, die hinter dem Prestige seines Status zu verschwinden scheinen: Jst dises Zepter-gold wol solcher sorgen werth? [...] die uns zu dinste stehen Stehn offt nach unserm Leib. (III,1, S. 48, V. 10–17)

Bemerkenswert ist, dass die erste, negative Beschreibung des Kaisers nie widerlegt wird: Den kaiserlichen Beratern geht es nicht darum, ihren Herrn zu verteidigen, indem sie sich auf ihn als ›Menschen‹ berufen, sondern auf dessen Eigenschaft als ›Kaiser‹, der eine amtliche Rolle bekleide und nicht wie ein normaler Mensch zu beurteilen sei. Die Verschwörer hingegen scheinen die Rechtmäßigkeit des politischen Amtes von den persönlichen Eigenschaften des Kaisers abzuleiten. Im Rahmen einer rein materialistisch ausgerichteten Überlegung gehen sie so weit, die Sakralität des Kaisers infrage zu stellen: Was ist ein Printz? ein Mensch! und ich so gut als er! Was mehr noch! Wann nicht ich / wenn nicht mein degen wär; Wo bliebe seine Cron? Die lichten Diamanten / Das purpur güldne Kleidt / die Schaaren der Trabanten / Der zepter Tockenwerck / ist eine leere Pracht. (I,1, S. 8, V. 41–45)

Die Erörterungen der beiden Parteien entfalten sich auf zwei parallelen Ebenen, einer persönlichen und einer institutionellen, aber sie verwenden eine ähnliche Rhetorik, die sich auf – vermeintlich – moralische Argumente sowie auf vernünftige und überzeugende Schlussfolgerungen stützt, so dass der Rezipient nicht entscheiden kann, wer im Recht ist.20 Die beiden Kaiserbilder decken sich vollkommen: das eines skrupellosen und willkürlichen Menschen und das eines Staatsoberhauptes, das als solches die Verantwortung für das ganze Reich trägt, aber auch Gottes Segen hat. Das sind die zwei Gesichter des Tyrannen, die Gryphius in seiner Darstellung von Leo Armenius nicht zu versöhnen versucht: Einerseits ist sein Verhalten sowohl menschlich als auch politisch verwerflich, andererseits ist er aufgrund der Sakralität seines Amtes unantastbar.

|| 20 Vgl. BURGARD, PETER J.: König der Doppeldeutigkeit. Gryphius’ Leo Armenius, in: DERS. (Hrsg.): Barock. Neue Sichtweisen einer Epoche, Wien [u. a.] 2001, S. 121–41, hier S. 127f., der darauf aufmerksam macht, wie Gryphius im Vergleich zu seinen Quellen die Hauptfiguren des Stücks »neutralisiert« (S. 133), wodurch Michael Balbus in seinem Denken und Sprechen Leo zu gleichen scheint.

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3 Die Unentscheidbarkeit der Souveränitätsdebatte Indem Gryphius die beiden entgegengesetzten Argumente objektiv wiedergibt, wird er nicht nur der Komplexität der zeitgenössischen Debatte über das Widerstandsrecht und den Tyrannenmord gerecht, sondern legt auch eine Aporie offen, auf der die Tyrannis-Frage beruht. Die sakrale Natur des Souveräns macht es nämlich konstitutiv undenkbar, ihn nach den – weltlichen – Gesetzen seiner Gemeinschaft zu beurteilen. Abgesehen davon und vom Gottesgnadentum würde der Widerstand gegen den absoluten Souverän genau jene Autorität beeinträchtigen, die für die Stabilität der Staatsordnung bürgt. Einer der einflussreichsten Staatstheoretiker der Frühen Neuzeit, der diese Auffassung vertritt, ist der bereits erwähnte Jean Bodin, der die Souveränität mit dem Wesen des Staates identifiziert und seine Autorität über spezifisch konfessionelle Prinzipien und Interessen stellt: la Souveraineté est la puissance absolute et perpétuelle (S. 111),21 sie sei also unveräußerlich und unverletzlich. In Bodins Auffassung ist die absolutistische Monarchie die einzige Staatsform, die der Gemeinschaft Ordnung und Gerechtigkeit zu garantieren vermag. Der Herrscher wird als jene oberste juristische Instanz betrachtet, welche die absolute und unbegrenzte Staatsgewalt verkörpere, selbst wenn er die göttlichen Gebote und die Naturgesetze einzuhalten habe, die als Grundlage für jede gerechte, dem göttlichen Willen entsprechende Staatsordnung dienen.22 Die Verfechter des Widerstandsrechts bestehen hingegen darauf, dass sich ein legitimes Reich auf eine mutua obligatio unter Gott, Fürst und Volk stütze, die sich zur Einhaltung göttlicher, natürlicher und staatlicher Gesetze verpflichten. Wenn ein Herrscher widerrechtlich regiert und zum Tyrannen wird, habe er als erster den stillschweigenden Vertrag gebrochen, auf dem seine Macht beruhe, und dürfe folglich abgesetzt werden.23 An diese Theorie anschließend, bezeichnet John Locke einige Jahrzehnte später die Tyrannis als

|| 21 Benutzte Ausgabe: Jean Bodin: Les six livres de la République, Paris 1583. Eine ähnliche Ansicht vertritt Claudius Salmasius, mit dessen Theorien Gryphius an der Universität in Leiden in Kontakt gekommen ist; er schreibt: Reges tam bonos quam malos, tam justus quam tyrannos, à Deo esse constitutos, à Deo esse judicandos, legibus quas ipsi sanciunt solutos esse (Salmasius, Claudius: Defensio regia, pro Carolo I, Leiden 1649, S. 95: »Seien die Fürsten gut oder böse, gerecht oder tyrannisch, sollen sie Gott übergeben und von ihm beurteilt werden, und sie sind von den Gesetzen entbunden, die sie erlassen«). Eigene Übersetzung. 22 Vgl. OTTMANN (Anm. 3), S. 222. 23 So argumentieren beispielsweise einige als Monarchomachen bezeichnete politische Denker wie etwa Stefan Junus Brutus. Vgl. NESCHER, RAPHAEL BEN: Das Widerstandsrecht. Voraussetzungen und Anwendungskriterien für die legitime Anwendung des Rechts auf aktiven Widerstand gegen die Staatsgewalt, Hamburg 2013, S. 42.

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the exercise of Power beyond Right, which no Body can have a Right to. [...] When the Governour, however intituled, makes not the Law, but his Will, the Rule; and his Command and Actions are [...] the satisfaction of his own Ambition, Revenge, Covetousness, or any other irregular Passion 24 (S. 276).

Die legislative Kontroverse besteht im Grunde darin, ob der Souverän über dem Gesellschaftsvertrag stehe, der ihm seine politische Rolle zuweist, oder ob er als Partei eines solchen Abkommens zu erachten und folglich im Fall eines Vertragsbruchs seinerseits strafwürdig sei. Die Aporie, in die eine solche Debatte führt, hängt von den verschiedenen Blickwinkeln der konfessionell und politisch unterschiedlich orientierten Intellektuellen zu dieser Frage ab und verdeutlicht die Polyvalenz der Tyrannis: Wenn man einen Alleinherrscher als ›Tyrannen‹ bezeichnet, riskiert man, dies auf der Grundlage von subjektiven Einschätzungen zu tun; zudem ist der juristische Status des Alleinherrschers nicht eindeutig festgelegt und reglementiert, was wiederum theologische Diskussionen die Natur des Souveräns betreffend auslösen kann. Die Pro- und Kontra-Argumente dieser Debatte werden Anfang des 17. Jahrhunderts von Bartholomäus Keckermann in seinem Systema disciplinae politicae zusammengefasst und analytisch erwogen. Durch ein rigoroses Vorgehen, das OLIVER BACH in seiner umfangreichen Studie zu Gryphius’ politisch-theologischem Denken rekonstruiert hat,25 führt Keckermann theologische und naturrechtliche Begründungen für und gegen das Widerstandsrecht an und zeigt dabei, wie schwer es ist, über ein solches Thema überparteilich zu urteilen. Aus diesem Gedankengang geht hervor, dass der Widerstand gegen einen Tyrannen doch legitim sein könne, aber sowohl moralische als auch politische Nebenerscheinungen mit sich bringe (wie die Verantwortung für eine falsche Beurteilung des Herrschers, des Moments oder der Methode der Revolte, oder auch die Gefahr des Anarchismus nach der Absetzung des Tyrannen), die letztendlich unberechenbar seien. Gryphius – der am Danziger Gymnasium studierte, wo Keckermann das Amt des Konrektors bekleidet und durch seine wissenschaftliche Tätigkeit einen prägenden Eindruck hinterlassen hatte – scheint in Leo Armenius methodologisch ähnlich auf das Thema der Tyrannis und des Tyrannenmords einzugehen, indem er durch die Gespräche der handelnden Personen im Stück einige der am häufigsten vorgebrachten Argumente zur Ablehnung und zur Verteidigung des Widerstandsrechts wiedergibt und den Polyperspektivismus, der dieses Thema kennzeichnet, durch die Darstellung der unterschiedlichen Blickwinkel der Kontrahenten aufzeigt.

|| 24 Benutzte Ausgabe: Locke, John: Two Treatises of Government [...], hrsg. von ARTHUR BETTESWORTH [u. a.], Wiederabdruck der 4. Aufl., London 1728. 25 Vgl. BACH, OLIVER: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz. Politische Theologie in den Trauerspielen des Andreas Gryphius, Berlin/Boston 2014 (Frühe Neuzeit 188), S. 125–27.

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Einige weitere Aspekte von Gryphiusʼ mehrperspektivischer Darstellung sollen nun anhand eines Vergleichs mit dem Theaterstück Leo Armenius Seu Impietas Punita des englischen Jesuiten Joseph Simon kommentiert werden.

4 Leo Armenius und Michael Balbus in den Stücken Andreas Gryphius’ und Joseph Simons Das Stück Leo Armenus Seu Impietas Punita von 164526 gilt als Vorlage und Gegenbild für das Gryphius’sche Drama und zeigt eine andere (und gegensätzliche) mögliche Interpretation ein und derselben Tyrannen-Figur auf. Abgesehen von den strukturellen und handlungstechnischen Unterschieden der beiden Stücke sind für den hier interessierenden Zusammenhang die unterschiedlichen Betrachtungen des Tyrannen durch die beiden Autoren von Bedeutung, die schon durch die Titel der Stücke vorweggenommen werden: Auf der einen Seite wird der Tyrannenmord als »Fürsten-Mord« bezeichnet und damit als ein eindeutig illegitimer Akt; auf der anderen Seite wird die Ermordung als die gerechte Strafe für das verwerfliche Verhalten des Tyrannen präsentiert. In Simons Drama wird Leo von vorneherein als unbarmherziger, bilderstürmerischer Tyrann dargestellt, ein Verfolger der Christen, aber anders als in Gryphius’ Stück beruht diese Beschreibung nicht auf den parteiischen Reden der Gegner des Kaisers, sondern sie kommt direkt durch Leos Verhalten zum Vorschein: Zunächst führt er stolz eine Gruppe zum Tode verurteilter Christen vor, dann, nach einem Traum, in dem ihm der eigene Tod durch einen Mann namens Michael vorausgesagt wurde, befiehlt er die Hinrichtung aller Männer dieses Namens mit der Ausnahme seines Freundes Michael Balbus. Auch in den Darstellungen der ›Rebellen‹ weichen die beiden Werke voneinander ab. Im Fall von Simons Michael Balbus kann man nicht von einem regelrechten ›Rebellen‹ sprechen. Er wird nämlich von Anfang an positiv konnotiert: Sein Plan scheint durch die Notwendigkeit bedingt, das Reich von einem blutdürstigen Tyrannen zu befreien. Dabei setzt er sich mit dem Erzengel Michael gleich, dem Rächer Gottes und des christlichen Volkes, dessen Aufgabe ihm von Gott persönlich aufgetragen wurde: Ego ille Michaël, ille truculenti ducis Feraeque tortor; ille defensor soli, Coeli minister ille sum (S. 92). Ich bin jener Michael, jener Folterknecht des grausamen Kaisers und Tiers; ich bin jener Verteidiger der Erde, jener Diener des Himmels.

|| 26 Benutzte Ausgabe: HARRING, WILLI: Andreas Gryphius und das Drama der Jesuiten, Halle 1907 (Hermaea 5), S. 74–126. Im Folgenden eigene Übersetzung.

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Seine Frömmigkeit schwindet nie: Als der entscheidende Moment naht, betet er zu Gott, ihm bei der Durchführung seines Plans beizustehen. Die Gegenüberstellung von Leo Armenius und Michael Balbus erweist sich auch in Gryphius’ Drama als entscheidend, um die Figur des Kaisers zu konturieren. Im Unterschied zu Simon verzichtet Gryphius aber auf jene vereinfachende Trennung zwischen guten und bösen Figuren, welche die Komplexität (und die Polyvalenz) der Figur des Tyrannen herabsetzt. Es wurde schon erläutert, wie Leos Natur und seine Rolle in gewisser Weise aufeinanderprallen und dadurch die Fragen des Widerstandsrechts und des Tyrannenmords aufwerfen. Durch die Gegenüberstellung mit seinem Antagonisten, der auch sein Komplementär ist, wird dem Bild des Tyrannen zudem Vielschichtigkeit verliehen. Die Komplementarität27 und die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Figuren beruht auf einem komplexen Machtgleichgewicht, das in einem Gespräch zwischen Michael und dem kaiserlichen Berater Exabolius deutlich zum Vorschein kommt: EXAB. Man siht das grosse Reich in stillem Fride blühen. MICH. Weil ich / nicht Leo / muß gerüst zu felde zihen. EXAB. Der Vorrath köm’t ins Land mit Segelreichem wind’. MICH. Weil Jster und der Pont durch mich versichert sind. EXAB. Der Perse schenckt uns gold. MICH. Das ich ihm abgezwungen. EXAB. Der raue Scythe ruht. MICH. Er ist durch mich verdrungen. Was legt man andern zu / was ich zu wege bracht? Sein Leben / seine Cron steht unter meiner macht. [...] Jch hub ihn auff den Thron / als Michael geschlagen: Jch zwang ihn daß er sich must in den anschlag wagen. Vnd bin ich nicht mehr der / der Ich vor disem war? Mein leben ist sein Heil / mein dreuen seine bar. Sein Zepter / Kron und blutt beruht auff disem degen / Der määchtig seine Leich ins kalte grab zu legen / Der / nun er ein Tyrann / und schwartzen argwohns voll Jhm durch den grimmen brunn der adern dringen sol. (I,5, S. 21f., V. 447–70)

Aufgrund der Abhängigkeit des Tyrannen von seinem Diener erlangt dieser die Vorherrschaft über den ersteren, wodurch die tatsächliche Ohnmacht, die sich hinter der absoluten Macht des Kaisers verbirgt, ans Licht gebracht wird. Seine Rolle ermächtigt ihn zwar, über das Leben und den Tod seiner Untertanen zu entscheiden, aber letzten Endes ist es der Diener, der über den Tod des Tyrannen bestimmt. Die Ohnmacht des Kaisers ist auf seine überwältigenden Sorgen, Pflichten und Bedrohungen zurückzu-

|| 27 Vgl. dazu MEYER-KALKUS, REINHART: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von Agrippina, Göttingen 1986, S. 231. Zur spiegelbildlichen Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren des Stücks vgl. auch KOSCHORKE, ALBRECHT: Leo Armenius, in: KAMINSKI, NICOLA/SCHÜTZE, ROBERT (Hrsg.): Gryphius-Handbuch, Berlin/Boston 2016, S. 185–202, hier S. 190–93.

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führen, während der Diener durch den Tyrannenmord, der als Akt der Freiheit und der Befreiung angesehen werden kann, seine eigene Macht geltend macht. Im dialektischen Verhältnis zwischen Leo Armenius und Michael Balbus, wie es von Gryphius dargestellt wird, überschneiden sich die Freiheit des Dieners und die Ohnmacht des Tyrannen, sodass die Grenze zwischen Opfer und Täter, Tyrann und Märtyrer verschwimmt. Der Märtyrer ist in der Regel das Opfer des Tyrannen (in Dramen wie Catharina von Georgien oder Papinianus wird diese Gegenüberstellung deutlich). In diesem Fall ist diese Polarisierung jedoch nicht so eindeutig: Einerseits ist Michael Balbus Leos Opfer, andererseits ist aber ebenso Leo Opfer und Märtyrer des neuen Tyrannen.

5 Leo Armenius: Vom Tyrannen zum Märtyrer Während am Anfang des Dramas der Kaiser als Tyrann und Usurpator und Michael als Erlöser dargestellt werden, kippt die Situation im dritten Akt – nicht zufällig genau in der Mitte des Stücks, als Michael mit Hilfe der bestochenen Wache die Regie der Revolte vom Kerker aus führt – eben durch die Rebellion: Dadurch, dass Michael Leos Autorität angreift, wird der Tyrann zum Märtyrer, und der Erlöser, der zum Martyrium verurteilt worden war, wird zum neuen Usurpator. Dieser Umschlag ist sowohl in der Rhetorik als auch in der Symbolik zu erkennen, die, trotz der scheinbaren Überparteilichkeit Gryphius’ bei der Vorstellung der beiden entgegengesetzten Gruppen, auf dessen Stellungnahme zur Frage des Tyrannenmords hinweisen.28 Als Michael vor Gericht auftritt und zur Folter verurteilt wird, zeigt er sich bestimmt und mutig wie ein christlicher Märtyrer (II,2, S. 32, V. 200: Die Folter überwand kein unverzagt Gemüte), und als ihn Leo in der Nacht im Gefängnis besucht, schläft er den Schlaf der Gerechten, während der Kaiser keine Ruhe findet. Leo sagt: [...] Jhn wirfft die sanffte nacht / Auff ein geringes Stroh / biß Titan ist erwacht. Wir irren ohne Ruh. wenn wir den Leib ausstrecken / 29 Verkehrt das küssen sich in allzeit frische hecken. (III,1, S. 48, V. 17–20)

|| 28 Gryphius’ Anerkennung des Gottesgnadentums als Legitimationsquelle für den Herrscher und seine Ablehnung des Widerstandsrechts ist von der Forschung allgemein anerkannt. Sie wird mit biographischen Daten (wie dem lutherischen Glauben) in Beziehung gebracht und anhand von Gryphiusʼ literarischer Darstellung anderer historischer Tyrannenfiguren (wie Caracalla in Papinian und Karl I. von England in Carolus Stuardus) bestätigt; vgl. PETERS (Anm. 12), S. 33, und SCHÄFER, ARMIN: Papinianus, in: KAMINSKI, NICOLA/SCHÜTZE, ROBERT (Hrsg.): Gryphius-Handbuch, Berlin/Boston 2016, S. 272–88, hier S. 273. 29 Das Motiv des Schlafs verwendet auch Bodin, um den gerechten Souverän vom Tyrannen zu unterscheiden: l’un jouit d’un repos assuré et tranquillité haute, l’autre languit en perpetuelle crainte (Les six livres de la République, S. 214). Auch der kaiserliche Berater Exabolius deutet auf dieses Motiv hin,

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Von jenem Moment an, in dem Leo in einem Akt der Barmherzigkeit und der Gottesfurcht (oder vielleicht in einem Moment des Zögerns) den Bitten seiner Frau Theodosia nachkommt und Michaels Hinrichtung verschiebt, wird die Frevelhaftigkeit der Verschwörer deutlich. Im vierten Akt beschwören sie durch ein makabres Zauberritual Höllengeister und den Teufel herauf (was als Gegensatz zu Michaels Gebeten in Simons Stück betrachtet werden kann); sie wählen die Weihnachtsmesse, um ihren Plan durchzuführen, und entweihen die christliche Symbolik, indem sie sich als Mönche verkleiden und ihre Waffen in den Wachskerzen verstecken.30 Gleichzeitig scheint auch der Kaiser eine innere Wandlung zu erfahren, wie durch seine Reaktion auf den Angriff bezeugt wird: Es bleibt keine Spur des furchtsamen und unentschlossenen Mannes vom Dramenanfang; er kämpft tapfer und greift nicht nach dem Kreuz, um es als Waffe zu benutzen (wie in Simons Drama), sondern um sich auf die Autorität Christi zu berufen und damit die Verschwörer zur Bekehrung aufzufordern: Er schau’te sich umbringt / die Wachen fern verdrungen / Die freunde sonder Rath: doch stund er unverzagt Als ein erhitzter Lew / der / wenn die strenge jagt Jhm alle weg’ abstrickt / mit auffgespannten Rachen Jtzt Hund / itzt Jäger schreckt / und sich sucht frey zu machen. Umbsonst: weil man auff ihn / von allen seiten drang / Dem nun das warme blut aus glied und adern sprang / Er fühlte, daß die kräfft’ ihm allgemach entgangen; Als er das Holtz ergriff / an welchem der gehangen Der sterbend uns erlöst / den Baum an dem die Welt Von ihrer angst befrey’t / damit der tod gefällt / Für dem die Höll erschrickt: denckt / rufft er / an das Leben / Daß sich für euer Seel an dieser Last gegeben? Befleckt des Herren Blut / daß diesen Stamm gefärbt; Mit Sünder blut doch nicht! [...] (V,1, S. 81, V. 136–50)

Die Erzählung des Boten, der Theodosia von der Ermordung des Kaisers berichtet, lässt keinen Zweifel daran, dass Leo wie ein christlicher Märtyrer unter Gottes Gnaden gestorben ist:

|| um hervorzuheben, dass die Sorgen eines ›normalen‹ Menschen nicht mit jenen eines Kaisers zu vergleichen sind: alsbald der tag erblichen: | Komt die beschwärzte schaar / das Heer der angst geschlichen / | Vnd wacht in seinem bett. Er kan in Helffenbein | Jn Purpur und Scarlat niemal so ruhig seyn | Als die / so ihren Leib vertrau’n der harten Erden: | Mag ja der kurtze Schlaf ihm noch zu theile werden / | So fält ihn Morpheus an und mahl’t ihm in der Nacht | Durch schwere Phantasie /, was er bey lichte dacht. | Vnd schreckt ihn bald mit Blut: bald mit gestürtztem Throne: | Mit brand / mit ach und tod und hingeraubter Crone. | Wilst du mit diser bürd’ abwechseln deine ruh? (I,4, S. 19f., V. 387–97). 30 Diesbezüglich schreibt DE POL, ROBERTO: Imago principis. Ruoli e maschere teatrali del sovrano nel teatro barocco tedesco, Genova 1983, S. 90, die Religion sei Opfer einer politischen Instrumentalisierung von Seiten der Verschwörer.

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Der harte Crambonit / begont’ erst recht zu wütten: Er schrie; nun ists / Tyrann / nun ists nicht zeit zu bitten! Vnd schwung sein Mordschwerdt auff / das auff den Fürsten kam / Vnd ihm mit einem streich so Arm’ als Creutz abnam. Man stieß in dem er fiel / ihn zweymal durch die brüste: Jch hab es selbst gesehn / wie Er das Creutze küßte: Auff daß sein Cörper sanck / und mit dem kuß verschid / Wie man die Leich umbriß / wie man durch jedes glid Die stumpffen Dolchen zwang / wie JESUS letzte gaben / Sein theures fleisch und blut / so matte Seele laben / Die ein verschmachtend’ Hertz in letzter angst erfrischt: Mit Keyserlichem Blut / (O Greuel!) sind vermischt. (V,1, S. 82, V. 159–70)

Solch eine extreme und gegensätzliche Wandlung der beiden Hauptfiguren des Dramas, die laut BURGARD die »Untrennbarkeit von Klarem und Obskurem«31 thematisiert, scheint vielmehr einer vom Autor durchdachten Strategie zu folgen, welche die dramatische Spannung am Leben erhält: In dem Moment, als der sündhafte Tyrann und Usurpator zum makellosen Gottesknecht und Märtyrer wird, verschärfen sich die teuflischen Züge der Verschwörer auf antiproportionale Weise, so dass der Gegensatz der beiden, auf dem das Drama aufbaut, aufrechterhalten wird. Die Polarität von Gutem und Bösem, die durch diese Entwicklung bestätigt wird, deckt sich dafür mit einer scharfen Trennung zwischen positiv und negativ konnotierten Figuren;32 im Vergleich zu Simons Darstellung beinhaltet Gryphius’ Polarität jedoch einen neuen Aspekt: Sowohl Leo Armenius als auch Michael Balbus ändern sich hier nämlich im Laufe der Handlung und gehen von einem Pol zum entgegengesetzten über. Dieses Potential der Gryphius’schen Figuren, das die Polyvalenz der Tyrannis-Frage umso klarer erscheinen lässt, überträgt sich auf die emblematische Figur des Löwen, die im Text mehrfach erscheint und als metaphorische Darstellung Leo Armeniusʼ auftritt. In den Worten der Verschwörer, die Leo Armenius am Dramenanfang wie einen grausamen Tyrannen darstellen, wird der Löwe wie ein gefährliches Raubtier geschildert (IV,3, S. 68, V. 185f.: Da als der Lew auff blut / und mord / und würgen drang; | War kein behertzter Held der Ihm entgegen sprang), während dasselbe Tier im letzten Akt des Dramas, als der Bote Theodosia von der Ermordung ihres Mannes berichtet, wie eine von den Jägern umschlossene Beute auftritt, die um ihr Leben und ihre Freiheit kämpft: Als ein erhitzter Löw / der / wenn die strenge jagd Ihm alle wegʼ abstrickt / mit auffgespanten Rachen 33 Jtzt hund / jtzt Jäger schreckt / und sucht sich frey zu machen (V,1, S. 81, V. 138–40).

|| 31 BURGARD (Anm. 20), S. 122. 32 Vgl. dazu auch KOSCHORKE (Anm. 27), S. 190. 33 Das Bild des Löwen kehrt dann auch in Theodosias Gespräch mit den Königsmördern wieder, als die Frau die Legitimität der Beweggründe der Verschwörer anficht und darauf beharrt, dass diese Leo

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Diese Szene der Usurpation, in welcher der sterbende Kaiser als Opfer auf dem Gottesaltar vorgeführt wird, ist das negative Gegenstück zu derjenigen, die die Verschwörer am Dramenanfang skizziert haben, als sie Leos Rebellion gegen den anderen ›Michael‹, nämlich den damaligen legitimen Kaiser, in Erinnerung gerufen haben. Hier wie dort wird der Rebell, wie triftig seine Argumente auch klingen mögen, wie ein gottloser Verbrecher in Szene gesetzt, während der Kaiser, trotz seiner Regierungspolitik und seiner vorherigen Verhaltensweise, zum frommen Märtyrer umsemantisiert wird. Diese Entsprechung der beiden Usurpationsszenen kann als Positionierung Gryphiusʼ zum Widerstandsrecht und zum Tyrannenmord gelesen werden, die sich auch in anderen Dramen des Autors findet.34 Gryphius’ theokratischer Absolutismus schließt an Bodins Theorien an,35 mit denen sich der Autor jedoch kritisch auseinandergesetzt und die er mit der lutherischen Rechtfertigungslehre in Verbindung gebracht hat. Hinter Gryphiusʼ Neubearbeitung der Geschichte von Leo Armenius können nämlich zwei Leitsätze des Luthertums entdeckt werden: Der erste ist die Aufforderung zur Unterwerfung unter die weltliche Autorität, die mit politischen Entscheidungen sowie mit der Regelung der Gemeinschaft beauftragt wird; dass dieser Auftrag direkt von Gott erteilt wurde, garantiert die Legitimität der Staatsgewalt und schließt somit jeden Widerstandsanspruch aus. Der Tyrannenmord wird demzufolge nicht nur als schwerstes

|| aus Eigennutz als Tyrannen bezeichnet und dann ermordet hätten: Als er mit höchster pracht | Euch neben sich erhub und schier zu Göttern macht / | Wer war er? ein Tyrann? Ihr sungʼt mit andern zungen. | Jetzt / nun das Bubenstück / nun euch der mord gelungen / | Heißt er / Ich weiß nicht / wie? So lang ein Fürste gibt / | Und die / die es nicht werth / als wolverdiente liebt / | Und aller geitz mit Gold und Ehren sucht zu stillen / | Denn muss sein lob das Reich / sein Ruhm die welt erfüllen. | So bald er nicht mehr schenckt, ja nicht mehr schencken kan / | So bald er auffruhr strafft / steckt auch die untreu an. | So bald die Pest euch reitzt und Schelmen sich verbinden / | Die lust zu neuer macht und stadt-sucht leicht entzünden / | Denn heist er ein Tyrann. Man lästert den / der liegt. | So wird ein todter Löw offt von der Maus bekriegt (V,II, S. 85, V. 253–66). 34 In Großmütiger Rechtsgelehrter oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus (1659) äußert der römische Jurist seine Uneinigkeit mit dem Kaiser Bassian, indem er den Grundsätzen der Stoa gemäß den Forderungen seines Herrn passiv widersteht und letztendlich hingerichtet wird. Sein Martyrium ist ein Beispiel für die bedingungslose Treue dem Souverän gegenüber, auf der die theokratischen Staatstheorien beruhen. Das Drama Ermordete Maiestät oder Carolus Stuardus König von Gross Britanien (1663) scheint Leo Armenius hingegen ähnlicher zu sein, da jenes ebenso von Machtusurpation und Tyrannenmord handelt. Die multiperspektivische Darstellung und die Mehrdeutigkeit derselben Figur finden jedoch in Carolus Stuardus entscheidend weniger Raum: Die Stellungnahme des Autors und die Trennung zwischen guten und bösen Figuren ist von vornherein ersichtlich, denn der Rezipient wird sofort mit der negativen Beschreibung des Königsmörders Oliver Cromwell konfrontiert, die sich am Epitaph in der Drameneröffnung findet. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Cromwell und den beiden Usurpatoren (nämlich Leo Armenius selbst und später Michael Balbus) in Leo Armenius ist, dass der erste nicht zum neuen Kaiser wird, sondern stattdessen die Monarchie stürzt. 35 BACH (Anm. 25), S. 373, hat gezeigt, wie Gryphius z. B. im Gespräch zwischen dem kaiserlichen Berater Exabolius und Michael Balbus (I,4) auf Bodins Argumentation zur Autonomie der fürstlichen Jurisdiktion zurückgreift.

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Staatsverbrechen radikal abgelehnt, sondern auch als ein Verbrechen an Gott betrachtet, dem der Kaiser direkt untersteht. Der zweite Grundsatz des lutherischen Glaubens, der dem Drama eingeschrieben ist, ist jener der Erlösung sola gratia. Nach Luthers Deutung von Paulusʼ Epheserbrief hängt die Seelenrettung von Gottes Gnade allein ab, sie entzieht sich also der menschlichen Fähigkeit, über die Mitmenschen zu urteilen, und geht dieser Fähigkeit voraus.36 Diese religiöse Überzeugung bietet einen möglichen Lektüreschlüssel für das Ende von Gryphiusʼ Leo Armenius und spricht – wenn man von dieser Interpretation ausgeht – nochmals gegen die Forderung, einem ›ungerecht‹ handelnden Souverän Widerstand zu leisten. Durch diese Aspekte unterscheidet sich letztendlich Gryphiusʼ Bearbeitung des Leo-Armenius-Stoffs von derjenigen Simons: Letzterer beabsichtigte nämlich, Leos Christenverfolgung und seinen Ikonoklasmus zu verurteilen, indem er die Ermordung des Tyrannen als gerechte göttliche Strafe dafür präsentiert; Gryphius weist hingegen auf das Scheitern des menschlichen Urteilsvermögens beim Thema der Souveränität hin, indem er zeigt, dass der Tyrann, und zwar derjenige, der am weitesten vom göttlichen Willen und von der göttlichen Legitimation entfernt zu sein scheint, am Ende Gottes Gunst erfährt und trotz aller Vergehen, die ihm die Verschwörer zuschreiben, gerettet wird.37 Auf diese Weise vermittelt Gryphius durch den Kunstgriff des Austausches von ›guter‹ und ›böser‹ Figur eine theologisch-politische Reflexion, mittels derer er seine Antwort auf die Frage nach dem Tyrannenmord gibt.

|| 36 Vgl. NIEFANGER, DIRK: Gnade für Leo Armenius? Andreas Gryphius und Johann Conrad Dannhauer, in: BACH, OLIVER/DRÖSE, ASTRID (Hrsg.): Andreas Gryphius (1616–1664). Zwischen Tradition und Aufbruch, Berlin/Boston 2020, S. 120–31, hier S. 127. In seinem Beitrag greift NIEFANGER auf die hermeneutische Theorie des lutherischen Theologen Johann Conrad Dannhauer zurück, mit dem Gryphius in der Zeit der Entstehung von Leo Armenius einen intensiven Gedankenaustausch gehabt haben soll, um das Stück zu interpretieren. Der von NIEFANGER überzeugend etablierte Nexus zwischen dem Gryphiusʼschen Drama und Dannhauers in Catechismusmilch aufgestellten hermeneutischen Programm ermöglicht es ihm, der konfessionellen Interpretation von Leo Armenius soliden Grund zu verleihen. Andere Literaturwissenschaftler neigen dazu – vielleicht mangels expliziter Bezüge auf lutherische Argumente oder lutherischer Terminologie im Stück –, eine theologische Interpretation des Werks auszuschließen; dazu gehören z. B. KOSCHORKE (Anm. 27) sowie DRÜGH, HEINZ: Was mag wohl klärer seyn? – Zur Ambivalenz des Allegorischen in Andreas Gryphiusʼ Trauerspiel Leo Armenius, in: LAUFHÜTTE, HARTMUT (Hrsg.): Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2000 (Wolfenbüttel Arbeiten zur Barockforschung 35), S. 1019–31. 37 Vgl. PLARD, HENRI: Gryphius und noch kein Ende, in: Études Germaniques 28 (1973), S. 61–85, hier S. 72; STRASSER, GERHARD: Andreas Gryphius’ Leo Armenius: An Emblematic Interpretation, in: The Germanic Review 51 (1976), S. 5–12, hier S. 12; DE POL (Anm. 30), S. 81.

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6 Schlussfolgerungen Bezugnehmend auf verschiedene Positionierungen und Argumente im Rahmen der Souveränitätsdebatte wurde gezeigt, dass eines der Kernprobleme dieser Debatte die Polyvalenz der Figur des Souveräns ist, weil sie sich als Kreatur, als Vertreter der politischen Institution des Staates und zugleich als Verkörperung von dessen sakraler Substanz versteht. Durch die Figur des Tyrannen kommt der Aspekt des moralischen Handelns hinzu, der die Frage nach der Beurteilbarkeit und Legitimität des Souveräns aufwirft. Gryphius’ Drama Leo Armenius, Oder Fürsten-Mord bietet einen kritischen Blick auf die facettenreiche Figur des Tyrannen, da sich der Autor sowohl mit den frühneuzeitlichen Theorien zur Souveränität und zum Widerstandsrecht als auch mit seinen historischen und literarischen Quellen auseinandergesetzt und auf intertextueller Ebene ein komplexes Spiel zwischen entgegengesetzten Positionen geschaffen hat. Der Protagonist des Stücks besitzt viele Eigenschaften, aufgrund derer er als ›Tyrann‹ bezeichnet werden darf; sie zeigen sich in seinen Taten wie der Machtergreifung durch Usurpation und der Errichtung einer Schreckensherrschaft, in seiner Grausamkeit und der Unterdrückung seiner politischen oder religiösen Gegner. Aber das genügt nicht, um das Problem seiner Beurteilbarkeit zu lösen. Historiker wie Kedrenos und Zonaras, die in ihren Chroniken von Leos grausamen Taten berichtet hatten, sowie der Jesuit Joseph Simon, der durch sein Stück Leo Armenius’ ›gerechte Bestrafung‹ vorgeführt hatte, nehmen – auf je eigene Weise – zu dieser Frage Stellung, zu der sich Gryphius’ Deutung als Alternative anbietet. Solch eine Perspektivenverschiebung, für die sich der kontrovers beurteilte historische Kaiser Leo Armenius in besonderer Weise eignet, wird nicht nur von der politischen und religiösen Stellungnahme des Autors, der für sie verantwortlich ist, betont: Dadurch, dass Gryphius auf das Drama des Jesuiten Joseph Simon Bezug nimmt und zeigt, inwieweit zwei unterschiedliche Blickwinkel die Darstellung ein und derselben Figur beeinflussen können, unterstreicht er die Vielschichtigkeit der TyrannisFrage. Diese Vielschichtigkeit wird wiederum dadurch bekräftigt, dass die biographische Geschichte des Protagonisten bemerkenswerte Parallelen zwischen seiner Machtergreifung und seinem Ende zeigt, die der Autor geschickt nutzt, um ein komplexes Spiel von Widerspiegelungen und Gegenüberstellungen zu schaffen und die Figur des Tyrannen mit jener des Märtyrers in Beziehung zu setzen. Die Konfrontation der beiden Hauptfiguren des Dramas sowie die Austauschbarkeit von Tyrann und Märtyrer bestätigen nur nochmals die Annahme, dass der Ausdruck und das Konzept ›Tyrannis‹ vor diesem Hintergrund weder eindeutig noch endgültig definierbar ist.

Till Nitschmann

»The king can do as he likes!« – Tyrannenlust als Gegenwartsreflexion in Game of Thrones am Beispiel Joffrey Baratheons In der Home Box Office (HBO)-Fantasy-Serie Game of Thrones, die ab 2011 von David Benioff und D. B. Weiss in insgesamt acht Staffeln für das Fernsehen umgesetzt wurde und »auf der Buchreihe A Song of Ice and Fire des Autors George R. R. Martin basier[t]«,1 wimmelt es von Tyrannenfiguren, Herrschafts- und Gewalträumen der Tyrannis und in tyrannischer Weise ästhetisierten Gewalt- und Mordakten. Obwohl der Stoff in einem fiktionalisierten Fantasy-Setting situiert ist, sind die Reminiszenzen ans Mittelalter und an die Renaissance – und hierbei besonders an die im kulturellen Diskurs transportierten politisch-gesellschaftlichen Klischees und Stereotype – deutlich sichtbar. Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich jedoch dezidiert nicht um eine mediävistische oder frühneuzeitliche, sondern um eine kulturwissenschaftliche Analyse. Mittelalter und Renaissance sind in Game of Thrones ahistorisch verarbeitet. Zentral für die Serie ist, dass gerade die allgemeinen populärkulturellen Vorstellungen, Klischees und Stereotype das Fundament für die Fantasy-Welt von Game of Thrones bilden, die keiner historiographischen Überprüfung standhalten. Die Serie erzählt uns mehr über das populäre Mittelalter- und Renaissance b i l d unserer westlichen Gesellschaften als über die historische Zeit. Dabei kann Game of Thrones als eine Parabel auf die Gegenwart gesehen werden. Die undemokratische Welt von Game of Thrones stellt mit ihren Familienclans, ihren tyrannischen Gewaltakten und Intrigen sowohl einen ins Fiktionale verlagerten Gegendiskurs zu westlich-demokratischen Gesellschaftsformen als auch einen nüchtern-abgeklärten bis zynischen Systemkommentar für die HBO-Zielgruppe dar. Die Kulturkritik findet in einem fiktionalen und damit ästhetisch überformten Rahmen statt. Im fortschreitenden 21. Jahrhundert geraten die politisch-gesellschaftlichen Kategorisierungen von Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich im Zuge des globalen Aufstiegs rechtspopulistisch-nationalistischer Globalisierungsgegner2 unter Begünstigung von Abschottungsbestrebungen und zunehmender (System-)Gewalt ins Wanken. Ressourcen wie Definitionsmacht und Medieneinfluss (vgl. die andauernde Debatte um ›Fake || 1 KOCH, LARS: »Power resides where men believe it resides«. Die brüchige Welt von Game of Thrones, in: BESAND, ANJA (Hrsg.): Von Game of Thrones bis House of Cards. Politische Perspektiven in Fernsehserien, Wiesbaden 2018, S. 129–52, hier S. 129. 2 Im Folgenden wird aufgrund der flüssigeren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und diverse Geschlechtsidentitäten sind selbstverständlich inkludiert. https://doi.org/10.1515/9783110752373-020

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News‹) avancieren zu Instrumenten, um politische Gegner zu diffamieren. Sowohl politische Akteure als auch gesellschaftspolitische Prozesse werden von verschiedenen Seiten als tyrannisch bezeichnet, was die Vorstellung einer eindeutigen Wahrheit zunehmend erschwert und Gewalt(-androhung) als vermeintlich einfache Lösung komplexer Aushandlungsprozesse wieder attraktiver erscheinen lässt: Ein Rückfall ins ›finstere‹ Mittelalter, das selbst ein kulturelles Klischeekonstrukt ist,3 scheint gleichermaßen als verbreitete Angst und voyeuristische Untergangslust im Raum zu stehen. Diesen ›Zeitgeist‹ stellt Game of Thrones mit seinen tyrannischen Figuren und Herrschaftssystemen als Spiegel unserer Gegenwart zur Diskussion. Der polyvalente Tyrannendiskurs verdichtet sich – so die These der folgenden Ausführungen – exemplarisch in der Figur des jugendlichen Königs Joffrey Baratheon, der als willkürlich-tyrannischer Gewaltherrscher scheitert und damit in zugespitzter Form sowohl als fiktionale Reflexion der Herrschaftsform ›Tyrannis‹ als auch als Negativfolie für demokratische Aushandlungsprozesse in der faktualen Welt fungiert. Gleichzeitig wird Macht in Game of Thrones anhand von Joffrey als diskursiv und überindividuell charakterisiert, was der zunehmenden populistischen Personalisierung von Politik in der serienexternen Welt widerspricht. Ausgehend von diesen Annahmen ist im Folgenden zunächst die tyrannische Fantasy-Welt von Game of Thrones zu analysieren.

|| 3 Der Begriff des ›finsteren‹ Mittelalters lässt sich auf Francesco Petrarca zurückführen; in der Übersetzung des Renaissance-Humanisten bei THEODOR E. MOMMSEN zeigt sich bereits Petrarcas metaphorische Verwendung der Begriffe ›Licht‹ und ›Finsternis‹ im Kontext der klassischen Literatur: »[A]midst the errors there shone forth men of genius, and no less keen were their eyes, although they were surrounded by darkness and dense gloom; therefore they ought not so much to be hated for their erring but pitied for their ill fate«; Petrarca, Francesco: Apologia contra cuiusdam anonymi Galli calumnias, in: Opera omnia, Basel 1554, S. 1195, zitiert nach SIMONE, FRANCO: La Coscienza della Rinascita negli Umanisti, in: La Rinascita 3 (1940), S. 163–86, hier S. 182. Die englische Übersetzung ist zitiert nach MOMMSEN, THEODOR E.: Petrach’s Conception of the ›Dark Ages‹, in: Speculum 17 (1942), S. 226–42, hier S. 227. Vgl. zur Diskussion um den Begriff des ›finsteren‹ Mittelalters und seine (Nach-) wirkungen auch ARNOLD, KLAUS: Das ›finstere‹ Mittelalter. Zur Genese und Phänomenologie eines Fehlurteils, in: Saeculum 32 (1981), S. 287–300. ARNOLD erläutert auf S. 294: »Mit Francesco Petrarca, den Michael Seidlmayer zu Recht als ›das Urbild des Humanisten‹ charakterisiert hat, sind wir am Endpunkt unserer Suche nach den Ursprüngen des Begriffs vom finsteren Mittelalter angelangt. In seiner Einschätzung und Abgrenzung der Antike und der zwischen ihr und seiner Zeit liegenden ›dunklen Jahrhunderte‹ war Petrarca richtungweisend auch für Literaturästhetik und Geschichtsauffassung des Humanismus. Die antithetische Methapher [sic!] von Dunkel und Licht, bisher nahezu ausschließlich auf religiöse Verhältnisse bezogen, wurde nach Petrarca zum Topos des gemein-humanistischen Empfindens einer strahlenden Wiedergeburt von Literatur und Kunst nach einem Jahrtausend des kulturellen Niedergangs.«

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1 Die tyrannische Fantasy-Welt von Game of Thrones – artifizielle Paraphrasierung von Mittelalter und Renaissance als Gegenwartsparabel Game of Thrones (GoT) ist in einem historisch unscharfen Hybridsetting situiert, das mit den Vorstellungen von Mittelalter und Renaissance im allgemeineren populärkulturellen Gedächtnis spielerisch hantiert und in seiner künstlerischen Fantasy-Freiheit die Ketten der akademischen Historiographie ebenso augenzwinkernd wie unbekümmert sprengt. Es geht dabei nicht um geschichtliche Authentizität, sondern um etwas anderes: populäre Vorstellungen, die sich in Klischees und Stereotypen verdichten, die jedoch gleichzeitig parabelhaft von unserer Gegenwart bzw. den gefürchteten und tatsächlichen Abgründen unserer Gegenwart erzählen. Das Tyrannische ist polyvalent-struktureller Bestandteil dieser Zeitdiagnose. Zunächst ist festzustellen, dass »GoT es darauf anlegt, mit dem durch unzählige Filme des Fantasy-Genres organisierten, infantil-naiven Erwartungshorizont des Publikums zu brechen.«4 Die moralische Abgründigkeit zahlreicher komplex gestalteter Figuren verbindet sich mit expliziten Sex- und Gewaltszenen zu einem provokativen Format für die erwachsene HBO- bzw. Streamingdienstzielgruppe, das marktstrategisch dem faden und häufig mit platten Moralismen frömmelnden konventionellen Fernsehen entgegengesetzt wird: Die in der US-amerikanischen Fernsehkritik ab und an zur Beschreibung von GoT verwendete Formel eines Gritty Realism meint genau dies: Eine konstitutive Düsternis der Serie, die sich in der Gewalttätigkeit und moralischen Ambivalenz nahezu aller Charaktere genauso dokumentiert, [sic] wie in einer auf Drastik und Deutlichkeit der Gewalt- und Sexszenen zielenden Kameraarbeit, die sich in haptischen Bildern darum bemüht, die Körperlichkeit der gezeigten Handlungen, den Dreck und die entsprechende Olfaktorik als Ressourcen einer auf Realitätseffekte abzielenden Dramaturgie zu nutzen. GoT, dies ist sicher Teil der Erfolgsstory, schafft es so, sich von einem reinen Adoleszenz-Produkt in ein distinktionsfähiges Erwachsenenformat zu transformieren, das vor allem die einkommensstarken kulturellen Eliten der HBO-Zielgruppe anzusprechen ver5 mag.

Dass sich Fantasy-Welten wie J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings unhistorisch aus Versatzstücken des Mittelalters konstituieren, ist ein bekannter Gemeinplatz, der auf das Textuniversum Tolkiens ebenso zutrifft wie auf das von Martin.6 Die populären Vorstellungen und sicher auch die romantisierten Sehnsüchte einer hochtechnisierten || 4 KOCH (Anm. 1), S. 131. 5 Ebd, S. 131f. 6 Vgl. dazu UCKELMAN, SARA L. [u. a.]: What’s in a Name? History and Fantasy in Game of Thrones, in: PAVLAC, BRIAN A. (Hrsg.): Game of Thrones versus History. Written in Blood, New York 2017, S. 241–50, hier S. 242.

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Welt nach einem solchen Kunstmittelalter bilden den Rahmen, in dem nun weitere Aspekte wie Märchen, Magie, Zauberei, Drachen etc. anschlussfähig sind, wobei die Grundhaltung von Game of Thrones dystopisch bleibt: Ganz entscheidend für die anhaltend hohe Bindungskraft der Serie ist aber wohl auch, dass die von ihr entworfene Erzählwelt auf faszinierende Weise das Wohlbekannte mit dem Exotischen vermischt und zudem mit einem emotionalen Regime verbindet, das in seiner pessimistischen Grundfärbung direkt an die Gefühlskultur der westlichen Gegenwartsgesellschaft anschließen kann. Auch wenn die Handlung von GoT in einer hybriden, mittelalterlich anmutenden Welt spielt, adressiert die Serie zugleich doch vor allem das kollektive Imaginäre der Gegenwart und die dort 7 zusammenfließenden Ängste, Hoffnungen und Überzeugungen.

Westeros mit der Hauptstadt King’s Landing ist dabei wie die außerfiktionale ›westliche Welt‹ »vor allem von einem euro-transatlantisch codierten Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie bestimmt«.8 Der gefürchtete und reale Druck auf dieses Zentrum nimmt im Verlauf der Serie zu und verbindet sich mit einer anschwellenden politischen décadence zu einer gesamtgesellschaftlichen Fin de Siècle-Stimmung.9 Trotz dieser vor allem die emotionale Ebene der Zuschauer ansprechenden Reminiszenzen an die reale Welt erhebt Game of Thrones niemals den Anspruch, in irgendeiner Weise eine verbindliche außerfiktionale Referenz zu besitzen, sondern die Serie genügt sich ganz im Freiraum der Fiktion mit ihren eigenen Bestandteilen. Für die Fantasy-Welt von Game of Thrones gilt also: »It’s not the Middle Ages, but it is definitely characteristically medieval.«10 Anstelle einer bemühten Authentizitätskonstruktion des Mittelalters (wie z. B. im Ritterfilm) formuliert die Welt von Game of Thrones »the feeling of a medieval world.«11 In Martins Konzeption bleibt es jedoch nicht dabei, denn auch Vorstellungen, Stereotype und Aspekte der Renaissance werden in ebenso freimütiger Weise zu einem hybriden Zeitcocktail gemischt und erweitern somit die Möglichkeiten der Fantasy-Welt: »Martin is not afraid to use medieval and Renaissance interchangeably.«12 Dieser hybriden Überlagerungs- und Referenztechnik folgend, wird die artifizielle Mischung aus Mittelalter und Renaissance mit Anklängen an die englische Geschichte überblendet, wohlgemerkt auch hier niemals in Form eines konkreten Bezugs oder gar als Zitat, sondern stets populärkulturell assoziativ.13 Auch Re-

|| 7 KOCH (Anm. 1), S. 129. 8 Ebd., S. 130. 9 Vgl. ebd., S. 130. 10 POLACK, GILLIAN: Setting up Westeros. The Medievalesque World of Game of Thrones, in: PAVLAC, BRIAN A. (Hrsg.): Game of Thrones versus History. Written in Blood, New York 2017, S. 251–60, hier S. 253. 11 Ebd., S. 253. 12 Ebd., S. 254. 13 Zur geographischen Gestaltung der Welt von Game of Thrones vgl. zusammenfassend GOTTSCHLICH, PIERRE: Die Große Mauer in Game of Thrones, in: LUTZ-AURAS, LUDMILA/DERS. (Hrsg.): Menschen, Macht und Mauern. Fallbeispiele und Perspektiven, Wiesbaden 2016, S. 243–52, hier S. 244: »Die Geschichte

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ferenzen zu den intrigenreichen Dramen William Shakespeares sind in diesem komplexen Setting als Folie erkennbar, wenn auch hier ebenfalls keine eindeutig markierten Bezüge vorgenommen werden: Während ein ausdifferenzierter Entwurf einer mittelalterliche Züge tragenden ›secondary world‹ mit unterschiedlichen Kulturen, Nationen, Ethnien und Sprachen einschließlich einer ›quasihistorischen Tiefenschicht‹, die durch Mythen und Erzählungen tradiert wird, zum StandardRepertoire der Fantasy gehört, weisen Themen und Motive wie der Kampf verschiedener Dynastien um die Vorherrschaft eines ›vereinigten Königreichs‹ eher auf die englische Geschichte im 14 Zeitalter der Rosenkriege, die schon Shakespeare in seinen Historien verarbeitet hat [...].

Game of Thrones bietet in seiner postmodernen Konstruiertheit eine zeitgemäße Zuspitzung der Shakespeare’schen Figurenwelten dar; die Figuren der Serie erscheinen noch abgründiger als die meisten Figuren des Shakespeare’schen Dramenensembles: Das Spektrum von Martins Charakteren ist dabei unserer eigenen Zeit näher und vor allem offener für schräge und kaputte Charaktere, als dasjenige Shakespeares es ist – es reicht vom Sadismus über extremen Geltungsdrang, von übersteigertem Narzissmus bis zu zwanghafter Kaltblütigkeit, vom Zynismus bis zum Pragmatismus; wodurch ein größeres Gewicht auf die Psychopathologie 15 der Macht gelegt wird, als dies bei Shakespeare der Fall ist.

Dabei fungiert A Song of Ice and Fire bzw. Game of Thrones – und hierin besteht ein gewichtiger Teil der Faszinationskraft dieser Fantasy-Welt – als Gegenwartsparabel, in der verschiedene Krisendiskurse unserer Zeit wiederzufinden sind: Manchmal überkommt den Leser der unheimliche Anflug, der Autor habe krisenhafte Wendungen unserer Zeit (den Arabischen Frühling etwa, diverse zugunsten von Populisten ausgegangene Wahlen, die Klimaveränderung oder die Flüchtlingskrise) in ihren Konsequenzen vorausgesehen und in seinen Büchern schon auf einen parabelhaften Punkt gebracht, bevor sie sich über16 haupt anbahnten.

|| von Game of Thrones spielt in einer mittelalterlich anmutenden Phantasiewelt auf den beiden Kontinenten Westeros und Essos. Westeros hat hierbei geographisch entfernte Ähnlichkeit mit Großbritannien, ist aber erheblich größer. Wie Großbritannien wird auch Westeros an einer seiner schmalsten Stellen durch eine riesige Mauer getrennt. Südlich dieser Grenze liegen die Sieben Königslande, die als gemeinsames Reich vom berühmten Eisernen Thron in der Hauptstadt Königsmund aus regiert werden. Nördlich der Mauer erstreckt sich die nur zum Teil bekannte Region der Wildnis.« 14 MAY, MARKUS [u. a.]: Vorwort, in: DERS. [u. a.] (Hrsg): Die Welt von Game of Thrones. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf George R. R. Martins A Song of Ice and Fire, Bielefeld 2016 (Edition Kulturwissenschaft 121), S. 11–25, hier S. 12. 15 SÖFFNER, JAN: Nachdenken über Game of Thrones. George R. R. Martins A Song of Ice and Fire. Mit einem Nachwort von KLAUS MARTIN SCHULTE, Paderborn 2017, S. 54. 16 Ebd., S. 45.

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Als beständig wachsendes Gefühl einer (noch) diffus erscheinenden Bedrohung erscheint in Game of Thrones der sich anbahnende Winter.17 Kämpfe, Intrigen und Konkurrenz zwischen den einflussreichen Akteuren werden mit der allgemeinen Bedrohung des sich verändernden Klimas aufgeladen.18 Der nahende Winter entspricht in Game of Thrones dabei nicht direkt als eine Art verkehrtes Spiegelbild dem Klimawandel in der faktualen Welt, sehr wohl finden sich aber Bezüge auf der viel direkteren emotionalen Ebene, wenn es um sich abzeichnende Veränderungen der Landschaft, Flucht und sich aufheizende Konflikte geht, die sich in diffusen und politisch ausbeutbaren Ängsten vor der Zukunft verdichten.19 Die große Mauer im Norden von Westeros – auch hier nimmt Martin gewissermaßen das postfaktisch-nationalistische Abschottungsbedürfnis des 45. US-Präsidenten vorweg – als Symbol der vermeintlichen Abgrenzungsfähigkeit gegen den Winter und seine unheilvollen Folgen ist im Verlauf der Serie immer schwerer zu verteidigen und schließlich nicht mehr zu halten.20 Die drohende Klimaveränderung liegt als willkürlich erscheinende Naturgewalt und damit als tyrannischer Schatten am Horizont,21 deren Konsequenzen auch keine Mauer – wie hoch sie auch sei – aufzuhalten vermag. Angesichts dieser Zukunftsängste verhandelt Game of Thrones in zentraler Weise das Phänomen der Macht, das insgesamt in seiner überpersonalen Diskursivität erscheint, auch wenn verschiedene Herrschaftsformen in äußerst personalisierter Weise durchexerziert werden: Als Camouflage der Gegenwärtigkeit der Serie, die ihr Figurenpersonal mit unterschiedlichen Facetten neoliberaler, postindustrieller Subjektivität ausstattet, dient ein hybrides Bilder- und Geschichtengeflecht, das Pathosformeln, Genremotive und historische Fakten aus unterschiedlichen historischen Zeiten in einem in sich geschlossenen Fiktionsraum zusammenbringt. Das Spiel der Throne erweist sich so als eine Oberflächennarration, die in einer geopolitischen

|| 17 Zu der klimatischen Fiktion in der Serie heißt es bei GOTTSCHLICH (Anm. 13), S. 248: »In der Welt von Game of Thrones dauern die Jahreszeiten bisweilen viele Jahre, weshalb einem drei oder fünf Jahre andauernden Sommer ein ebenso langer oder längerer Winter folgen kann.« 18 KOCH (Anm. 1) erläutert zu dieser düsteren Melange aus klimatischer Bedrohung und moralischer Abgründigkeit in der Serie: »Dieser ethische Pessimismus aller Konflikte der sieben Königreiche, der heldenhafte Ehre und Verlässlichkeit als Wettbewerbsnachteile im Konkurrenzkampf unterschiedlicher Machtinteressen vorführt, findet seine Entsprechung in dem sich ankündigenden Winter, der alle Institutionen und menschlichen Einrichtungen mit dem drohenden Schatten der Vernichtung belegt« (S. 134). 19 Vgl. ebd. 20 Zur Thematik der Mauer in Game of Thrones vgl. GOTTSCHLICH (Anm. 13), S. 243–52. 21 Im Deutschen Wörterbuch von JACOB und WILHELM GRIMM bilden ›Naturerscheinungen‹ eine semantische Facette des Begriffs ›Tyrann‹: Naturgewalten können als tyrannische Bedrohung erscheinen – dies ist nicht nur in Game of Thrones der Fall, sondern etymologisch auch durch das Deutsche Wörterbuch verbürgt. Als ein Beispiel wird hier der Winter als anthropomorphisierter Tyrann angeführt, der sich in der Serie gewissermaßen im Anführer der White Walker, dem Night King, widerspiegelt. Vgl. Art. Tyrann, in: DWb, Bd. XI,1,2 (1952), Sp. 1967–74, hier Sp. 1972.

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Rahmung mit unterschiedlichen Konzeptionen politischer Macht experimentiert, etwa dem Feudalismus der aristokratischen Häuser von Westeros, dem Tribalismus der Dothraki, der Protodemokratie der Freien Völker oder auch dem religiösen Fundamentalismus der Spatzen. Untergründig erzählt die Serie aber ganz postmodern vor allem davon, dass Vorstellungen autonomer Handlungsmacht bloße Fiktion sind. So sehr die unterschiedlichen Machthaber der Serie allesamt das hohe Lied der Souveränität singen, wird doch permanent vorgeführt, dass politische Entscheidungsfindungen eingebunden sind in ein diffuses Geflecht unterschiedlichster, durchaus 22 auch sehr anonymer Einflussfaktoren [...].

Die meisten Figuren unterliegen jedoch der Vorstellung, dass sie tatsächlich Macht und Herrschaft dauerhaft in sich persönlich vereinen könnten.23 Doch die Legitimität der Macht ist lediglich eine Inszenierung. Moralisch agierende oder prinzipientreue Figuren sterben in der Welt von Game of Thrones darüber hinaus in der Regel schnell eines unnatürlichen Todes. Herrschaft wird inszeniert, sie erscheint als Narration, die in Konkurrenz mit anderen Narrationen jenseits einer Vorstellung von objektiver Wahrheit um Dominanz ringt: [...] so spülen seine [Martins, T. N.] Bücher vor allem Charaktere nach oben, die im Stil heutiger Populisten und Autokraten ihre Politik als Antwort auf die Handlungsunfähigkeit der anderen inszenieren und damit diejenigen Ausnahme- und Kriegszustände heraufbeschwören, die sie 24 umgekehrt überhaupt erst als Handelnde agieren lässt.

Ein Stabilitätsanker und gleichzeitig eine Bedrohung der eigenen Stellung bildet in Game of Thrones – soweit noch nicht ermordet oder geflüchtet – die jeweilige Familie der Lokaleliten: [I]n Martin’s world the politics at the heart of the story is family politics. Game of Thrones has at its core the dysfunctional, violent, sprawling, and complex families that dominate history during 25 a state of unrest or uncontrollable war.

Mächtige Familienclans wie die Baratheons, Lannisters oder Starks konkurrieren miteinander, aber auch intern um Macht und Einfluss. Sie bilden damit – weitgehend abgeschirmt von der beherrschten Bevölkerung – ein Gegenmodell zur parlamentarischen Repräsentationsdemokratie, die man in Game of Thrones vergeblich sucht: Macht wird, wie es für das Genre der Fantasy typisch ist, dynastisch organisiert und vererbt.26

|| 22 KOCH (Anm. 1), S. 132. 23 Vgl. auch STUTTERHEIM, KERSTIN: Game of Thrones sehen. Dramaturgie einer TV-Serie, Paderborn 2017, S. 41. Vgl. zu den Figuren auch LANGLEY, TRAVIS (Hrsg.): Game of Thrones Psychology. The Mind is Dark and Full of Terrors, New York 2016. 24 SÖFFNER (Anm. 15), S. 50. 25 POLACK (Anm. 10), S. 258. 26 Vgl. BAUMANN, MICHAEL: The king is dead – long lives the Throne? Zur Herrschaftsstruktur in ASOIAF, in: MAY, MARKUS [u. a.] (Hrsg): Die Welt von Game of Thrones. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf George R. R. Martins A Song of Ice and Fire, Bielefeld 2016 (Edition Kulturwissenschaft 121), S. 213–26, hier S. 217.

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Außerfiktional gewendet kann hierin auch eine Kritik an manchen Facetten insbesondere des US-amerikanischen Politikbetriebs gesehen werden.27 Das materielle Zentrum der Macht bildet in Game of Thrones der Iron Throne, der, bestehend aus zahlreichen Schwertern, bereits auf die für Game of Thrones essentielle tyrannische Verbindung von Gewalt, Herrschaft und Macht verweist.28 Cersei Lannister bringt gegenüber Eddard Stark, dem sie seinen Verzicht auf den Thron vorhält, vor seinem endgültigen Machtverlust und Tod die Herrschaftskonzeption der Welt von Game of Thrones zugespitzt auf den Punkt: »When you play the game of thrones, you win or you die. There is no middle ground.«29

2 Zum Tyrannischen im staatstheoretischen und kulturellen Diskurs (Aristoteles, Machiavelli, Arendt) ›Tyrann‹ ist im heutigen Sprachgebrauch ein normativer Ausdruck, der sich von seiner durchaus neutralen Verwendung im 7. Jahrhundert v. Chr. bei Archilochus, vermutlich in Bezug auf Gyges, zu einer negativ wertenden Bezeichnung im 6. Jahrhundert bei Solon gewendet hat30 und in der Gegenwart eine diffamierende Fremdbezeichnung darstellt. Die Geschichte des Begriffs ›Tyrann‹ zeigt seine polyvalente Verwendung in verschiedenen staatstheoretischen und kulturellen Kontexten. Zentrale Analysen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung – als Standardwerk sei auf die beiden Bände von HELMUT BERVE über die griechische Tyrannis31 und die Arbeiten von HELLA MANDT verwiesen32 – nehmen beispielsweise eine Fixierung der griechischen Tyrannis auf einen bestimmten Zeitraum, nämlich ab dem 7. Jahrhundert bis zum 3. Jahrhundert

|| 27 KOCH (Anm. 1) etwa vertritt die Ansicht: »Indem GoT den fortwährenden und in die Katastrophe führenden Kampf einiger weniger Eliten um die Macht zeigt, bedient die Serie zudem ein Anti-Establishment-Ressentiment, das angesichts der Dominanz bestimmter Familienclans in der US-amerikanischen Politik sofort auf intuitive Zustimmung stößt« (S. 133). 28 Vgl. auch STUTTERHEIM (Anm. 23), S. 45. 29 BENIOFF, DAVID/WEISS, D. B.: Game of Thrones, USA: Home Box Office (HBO) [u. a.] 2011–2019. Fassung: DVD. Staffel 1, Folge 7, TC: 00:08:59–00:09:07. Im Folgenden zitiert mit der Sigle GoT sowie Staffel, Nummer der Folge und Time Code (TC). 30 Vgl. MANDT, HELLA: Art. Tyrannis, Despotie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6. (1990), S. 651–706, hier S. 653. 31 Vgl. BERVE, HELMUT: Die Tyrannis bei den Griechen, 2 Bde., München 1967. BERVEs hochproblematische NS-Vergangenheit ist bekannt. 32 Vgl. MANDT (Anm. 30) sowie DIES.: Tyrannislehre und Widerstandsrecht. Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts, Darmstadt/Neuwied 1974 (Politica 36).

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v. Chr., vor und sehen eine Zweiteilung in eine ältere und eine jüngere Tyrannis.33 Die vorliegende kulturwissenschaftliche Betrachtung ist jedoch um keine erneute historiographische Fixierung bemüht, vielmehr ist hier gerade die vielschichtige Semantik des Begriffs in verschiedenen Zeiten von besonderem Interesse. Für die Analyse von Game of Thrones ist der Sprachgebrauch und die Begriffssemantik des Wortes ›Tyrann‹ in den Blick zu nehmen, da die Geschichte der Begriffsverwendung ältere Bedeutungsebenen speichert und mit gegenwärtigeren Facetten verbindet, ähnlich, wie die Serie konzeptionell verfährt. Das Deutsche Wörterbuch von JACOB und WILHELM GRIMM liefert einerseits klare Definitionen des Begriffs für den deutschen Sprachraum, wahrt andererseits aber seinen kulturellen Facettenreichtum. Das Wort ›Tyrann‹, das sich im ausdifferenzierten Sprachgebrauch gerade nicht nur auf antike Herrscher in einer bestimmten Phase der griechischen Geschichte bezieht, reicht im Deutschen Wörterbuch vom ›(Allein-)Herrscher‹ über den ›Gewaltherrscher‹, die ›despotische Stiefmutter‹ und das ›launische Kind‹ bis hin zu einer weitergefassten metaphorischen Verwendung des Begriffs, die z. B. auch Naturgewalten inkludiert.34 Diese semantische Bedeutungsvielfalt offenbart die Möglichkeit, das Konzept des Tyrannischen in Game of Thrones als ein Makrokonzept zu betrachten. Die unten vorgenommene Analyse der Figur Joffrey Baratheon bildet dabei nur ein, wenn auch zentrales Beispiel, in dem sich der polyvalente Tyrannisdiskurs verdichtet. Um diese Analyse auf ein weiteres staatstheoretisches und kulturelles Fundament zu stellen, werden im Folgenden zentrale Theoreme von Aristoteles, Niccolò Machiavelli und Hannah Arendt diskutiert. In seiner einflussreichen Einteilung der Verfassungsformen bestimmt Aristoteles35 insbesondere das Streben nach dem »eigenen Vorteil« normativ als negative Eigenschaft der Herrschenden, wobei die Einteilung in ›richtige‹ und ›falsche‹ Verfassungsmodelle mit klaren und eindeutigen Wertungen verbunden ist: So sieht man denn, daß alle diejenigen Verfassungen, die auf den gemeinen Nutzen abzielen, richtige sind nach dem Maßstabe des Rechtes schlechthin, und daß dagegen diejenigen, die nur auf den eigenen Vorteil der Regierenden abzielen, sämtlich fehlerhafte Verfassungen und Entartungen 36 der richtigen sind; sie sind despotischer Art, der Staat ist aber eine Gemeinschaft freier Leute.

Die von Aristoteles genannten sechs möglichen Staatsformen bilden die drei Komplementärpaare Königtum – Tyrannis, Aristokratie – Oligarchie sowie Politie – Demokratie, || 33 Vgl. BERVE, HELMUT: Wesenszüge der griechischen Tyrannis, in: KINZL, KONRAD H. (Hrsg.): Die ältere Tyrannis bis zu den Perserkriegen. Beiträge zur griechischen Tyrannis, Darmstadt 1979 (WdF 510), S. 161–83, hier S. 164. 34 Vgl. Art. Tyrann, in: DWb, Bd. XI,1,2 (1952), Sp. 1967–74. 35 Vgl. zu Bezügen von Game of Thrones zu Aristoteles, Platon, Descartes und Machiavelli auch JACOBY, HENRY: Die Philosophie bei Game of Thrones. Das Lied von Eis und Feuer: Macht, Moral, Intrigen. Aus dem Englischen von URSULA BISCHOFF, Weinheim 2014, in Bezug auf Machiavelli vor allem S. 29–43. 36 Benutzte Ausgabe: Aristoteles: Politik. Übers. von EUGEN ROLFES, in: Aristoteles: Philosophische Schriften in 6 Bdn., Bd. 4, Darmstadt 1995, S. 90. Sperrsatz des Originals getilgt.

472 | Till Nitschmann wobei Aristoteles die jeweils zweite Form negativ als ›Ausartung‹ aburteilt,37 »[d]enn« – so Aristoteles – »Tyrannis ist eine Monarchie (Alleinherrschaft) zum Nutzen des Monarchen, die Oligarchie verfolgt den Vorteil der Reichen und die Demokratie den Vorteil der Armen, aber dem Wohle der Gemeinschaft dient keine von ihnen.«38 Die »schlimmste« Verfassungsform und damit das normativ negative Ende der Herrschaftsmodellskala ist nun nach Aristoteles die Tyrannis, da sie als »Ausartung« des ›göttlichen‹ Königtums zu verstehen sei: Die schlimmste muß die Ausartung der ersten und göttlichsten Verfassung sein. Das Königtum aber beruht [...] auf den überragenden Eigenschaften der königlichen Person, und so muß die Tyrannis als die schlechteste Staatsform sich am weitesten von dem Begriffe der Verfassung ent39 fernen [...].

Als besondere charakterliche Mängel dieser Herrscherfigur sieht Aristoteles die Eigenschaften von narzisstisch motiviertem Neid und Missgunst gegenüber »würdevollen und freisinnigen« Männern der eigenen Polis an: Es ist des Tyrannen Art, keinen würdevollen und freisinnigen Mann ausstehen zu können. Er allein will als solcher gelten; wer demnach mit Würde und Freimut ihm entgegentritt, beraubt die Tyrannis ihres Ansehens und ihrer Macht, und deshalb trifft ihn als einen Zerstörer seiner 40 Herrschaft des Tyrannen Haß.

Um 1513 verfasst Machiavelli seinen bekanntesten Text, Il Principe, der nicht die tyrannische Willkür als Selbstzweck darstellt, sondern für den imaginierten planmäßigen Aufstieg eines rücksichtlosen Machtpolitikers und für die rationale Sicherung seiner Herrschaft jenseits ›einschränkender‹ ethisch-moralischer Gesichtspunkte als Anleitung dient. Die »Eroberungslust« wird von Machiavelli in seinem Fürstenspiegel zunächst naturalisiert und als Konstante verstanden: »Die Eroberungslust ist in der Tat eine sehr natürliche und gewöhnliche Sache, und die Menschen, die das ausführen, was sie können, werden stets gelobt und nicht getadelt«.41 An moralischen Kriterien ausgerichtetes Handeln wird von Machiavelli – wie weitestgehend auch in Game of Thrones – als politischer Wettbewerbsnachteil verstanden und zugunsten der Machtsicherung zurückgestellt. Die Notwendigkeit hierfür liegt in einem Menschenbild begründet, das von einer Mehrheit der Menschen ausgeht, die laut Machiavelli »nicht viel taugen und ihr Wort gegen dich brechen«,42 denn, so Machiavelli,

|| 37 Vgl. Aristoteles (Anm. 36), S. 125f. 38 Aristoteles (Anm. 36), S. 91. Sperrsatz des Originals getilgt. 39 Ebd., S. 125f. 40 Ebd., S. 206. 41 Benutzte Ausgabe: Machiavelli, Niccolò: Der Fürst, aus dem Italienischen von FRIEDRICH VON OPPELNBRONIKOWSKI, mit einem Nachwort von HORST GÜNTHER, Berlin 102014, S. 28. 42 Ebd., S. 87. HARVEY C. MANSFIELD, JR. übersetzt hier den Kontext präziser: »And if all men were good, this teaching would not be good; but because they are wicked and do not observe faith with

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ein Mensch, der in allen Dingen nur das Gute tun will, muß unter so vielen, die das Schlechte tun, notwendig zugrunde gehen. Daher muß ein Fürst, der sich behaupten will, imstande sein, 43 schlecht zu handeln, wenn die Notwendigkeit es erfordert.

Dabei bleibt die »Grausamkeit« bei Machiavelli für den Fürsten ein legitimes Mittel, um für »Treue und Einigkeit« der Untertanen zu sorgen; einige Exempel zu statuieren könne dabei besonders wirkungsvoll sein: Ein Fürst darf daher die Nachrede der Grausamkeit nicht scheuen, um seine Untertanen in Treue und Einigkeit zu erhalten; denn mit einigen Strafgerichten, die du verhängst, bist du menschlicher, als wenn du durch übertriebene Nachsicht Unordnungen einreißen läßt, die zu Mord und 44 Raub führen.

Die Fähigkeit, einen falschen Anschein zu erwecken und ›moralisch flexibel‹ zu handeln, wird normativ positiv gesetzt und ›böses‹, das heißt gewalttätiges Handeln im Dienste des Machterhalts ausdrücklich entschuldigt: Ein Fürst braucht also nicht alle oben genannten Tugenden zu besitzen, muß aber im Rufe davon stehen. Ja, ich wage zu sagen, daß es sehr schädlich ist, sie zu besitzen und sie stets zu beachten; aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und ehrlich zu scheinen ist nützlich. Man muß nur sein Gemüt so gebildet haben, daß man, wenn es nötig ist, auch das Gegenteil vermag. Und dies ist so zu verstehen, daß ein Fürst, insbesondere ein neuer Fürst, nicht all das beachten kann, was bei anderen Menschen für gut gilt; denn oft muß er, um seine Stellung zu behaupten, gegen Treu und Glauben, gegen Barmherzigkeit, Menschlichkeit und Religion verstoßen. Daher muß er ein Gemüt besitzen, das sich nach den Winden und nach dem wechselnden Glück zu drehen vermag, und, wie gesagt, zwar nicht vom Guten lassen, wo dies möglich ist, aber auch das Böse 45 tun, wenn es sein muß.

Machiavelli liefert damit die herrschaftspolitische Grundhaltung für die Fantasy-Welt von Game of Thrones. Auf die Gegenwart bezogen deutet sie auf die keineswegs verschwundene Härte hinter den von ihrem Selbstverständnis her humanitär ausgerichteten westlichen Demokratien hin, die in letzter Zeit in vielfältigen gesellschaftlichen Konflikten und Verteilungskämpfen wieder deutlicher sichtbar wird. JAN SÖFFNER betont für Game of Thrones die besondere Rolle Machiavellis, den »für Martin vermutlich wichtigsten politischen Theoretiker [...], den er vermutlich am genauesten gelesen hat.«46 Darüber hinaus stellt JACOPO DELLA QUERCIA fest, dass sich das ästhetische Konstruktionsprinzip von Game of Thrones gewissermaßen bereits bei Machiavelli vorgebildet zeigt, der für seine Ausführungen neben geschichtlichen Quel|| you, you also do not have to observe it with them.« Machiavelli, Niccolò: The Prince. A New Translation with an Introduction, by HARVEY C. MANSFIELD, JR., Chicago/London 1985, S. 69. 43 Machiavelli (Anm. 41), S. 78. 44 Ebd., S. 82f. 45 Ebd., S. 88. 46 SÖFFNER (Anm. 15), S. 51.

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len auch fiktionale Herrscherfiguren bemüht und somit bereits eine Kunstwelt der Macht inszeniert: Machiavelli supported his theories with examples from the lives and times of numerous historical figures, among them Alexander the Great (356–323 BC), Julius Caesar (100–44 BC), and Pope Alexander VI (r. 1492–1503), as well as biblical, literary, and mythological figures such as Moses, Achilles, and Chiron the Centaur. Machiavelli made few distinctions between the fictional and historical figures featured in The Prince, because his theories focused on fundamental human 47 behaviors consistent throughout history and evident in humanity’s most enduring heroes of lore.

Die Ratschläge Machiavellis könnten dabei, so DELLA QUERCIA, geradezu als Blaupause auf die Welt von Game of Thrones übertragen werden: »Watch how his [Machiavellis, T. N.] political advice for the princes of the Renaissance is reflected in the rulers of Westeros and Essos.«48 In dieser Sicht verbindet sich die künstlerische Mittelalterdarstellung in besonderer Weise vor der Folie Machiavellis mit dem Italien der Renaissance zur Kunstwelt von Game of Thrones: »Such was Renaissance Italy: a dangerous, disrupted, hopelessly divided tangle of city‐states surrounded by deadly enemies.«49 Bezogen auf die neuen Ängste in der globalisierten Welt scheint einigen Teilen der Gesellschaft diese normative Sicht der italienischen Renaissance wieder näher zu sein, und vielleicht liegt hierin auch ein Erfolg der Serie begründet: Der gebannte Blick in die parabelhaft verkünstlichte und für überwunden gehaltene Vergangenheit entpuppt sich als angstvoller Blick in unsere eigene unsicher-chaotische Zukunft. Die Positionen von Aristoteles und Machiavelli zeigen die Vielschichtigkeit und Virulenz des polyvalenten Tyrannisbegriffs. Für die sich anschließende Analyse der Figur Joffrey Baratheon sind an dieser Stelle noch zentrale Ausführungen von Arendt zu Macht und Gewalt aus ihrer gleichnamigen Schrift von 1970 mit aufzunehmen, um Joffreys tyrannische Herrschaft anschließend in diesem Spannungsfeld zu reflektieren: Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist [...]. Gewalt kann Macht vernichten; sie ist gänz50 lich außerstande, Macht zu erzeugen.

Macht ist nach Arendt allen soziologischen Konstellationen generell in irgendeiner Form inhärent: »Macht gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen, Gewalt jedoch nicht.«51 Diese Annahme eines theoretisch gewaltfreien Machtraums behält bei Arendt jedoch einen utopischen || 47 DELLA QUERCIA, JACOPO: A Machiavellian Discourse on Game of Thrones, in: PAVLAC, BRIAN A. (Hrsg.): Game of Thrones versus History. Written in Blood, New York 2017, S. 33–45, hier S. 33. 48 Ebd., S. 36 49 Ebd. 50 Benutzte Ausgabe: Arendt, Hannah: Macht und Gewalt [1970], aus dem Englischen von GISELA UELLENBERG, mit einem Interview von ALBERT REIF, München/Zürich 172006, S. 57. 51 Ebd., S. 52.

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Anstrich, wenn sie bemerkt: »Obwohl Macht und Gewalt ganz verschiedenartige Phänomene sind, treten sie zumeist zusammen auf.«52 Mit ansteigendem Machtverlust steigert sich Arendt zufolge die Gewalt; Gewalt könne Macht nicht wiederherstellen, sondern sie würde sie ersetzen: Nackte Gewalt tritt auf, wo Macht verloren ist. [...] Man kann Macht durch Gewalt ersetzen, und dies kann zum Siege führen, aber der Preis solcher Siege ist sehr hoch; denn hier zahlen nicht nur die Besiegten, der Sieger zahlt mit dem Verlust der eigenen Macht. [...] Man hat oft gesagt, daß Ohnmacht Gewalt provoziere, daß die, welche keine Macht haben, besonders geneigt sind, zur Gewalt zu greifen, und psychologisch ist dies durchaus richtig. Politisch ist ausschlaggebend, daß Macht v e r l u s t sehr viel eher als Ohnmacht zur Gewalt verführt, als könne diese die 53 verlorene Macht ersetzen [...].

Das Phänomen der Macht54 sieht Arendt nicht bei einem Einzelnen konzentriert, dieser sei alleine immer ohnmächtig und von anderen anhängig. Ohne den (jederzeit entziehbaren) Rückhalt bei zentralen gesellschaftlichen Interessensgruppen sei personalisierte Macht ein ›zahnloser Tiger‹: Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er ›habe die Macht‹, heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem 55 Namen zu handeln.

An der Figur des fiktiven Tyrannen Joffrey Baratheon lassen sich Arendts Annahmen geradezu prototypisch nachzeichnen. Selbst von seiner Familie eingesetzt, spürt er seine reale Machtlosigkeit, die er mit zunehmender tyrannischer Gewalt zu überspielen versucht. An keiner anderen Figur in der Welt von Game of Thrones wird das ambivalente Verhältnis von Macht und Gewalt so nachdrücklich vorgeführt wie an Joffrey. Während die normative Position von Aristoteles, die außerfiktional grundlegende staatstheoretische Aspekte zur Geschichte des Tyrannenbegriffs absteckt, in Bezug auf Game of Thrones eher anachronistisch und ›wirklichkeitsfremd‹ erscheint, können die politischen Theorien von Machiavelli und Arendt als Reflexionsrahmen der Serie dienen. Moralisch affine Charaktere oder Figuren mit klaren Wertvorstellungen sind in der Welt von Game of Thrones in der Regel nicht lange überlebensfähig, wie unter anderem an dem prinzipientreuen Eddard Stark, einem ›Modernisierungsverlierer‹ in der postmoralischen Welt der Fantasy-Serie, zu bemerken ist. Die Machiavelli’sche ›moralische Flexibilität‹ – jenseits der ›Drachenmutter‹ Daenerys Targaryen und der religiös-fundamentalistischen ›Spatzen‹-Sekte – erscheint in Game of Thrones als kultur|| 52 Arendt (Anm. 50), S. 53. 53 Ebd., S. 55 (Hervorhebung im Original). 54 Vgl. ebd., S. 45. 55 Ebd.

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kritischer Kommentar zur außerfiktionalen politischen Wirklichkeit am Beginn des 21. Jahrhunderts: Um im Spiel der Throne zumindest mittelfristig erfolgreich zu sein, braucht es eine Fähigkeit zur Realpolitik, die sich an Stelle von moralischer Eindeutigkeit an der Einsicht in die Ambiguität 56 des politischen Geschäfts und seiner Akteure orientiert.

Auffallend ist, dass demokratische Prozesse in der Serie (mit partiellen Ausnahmen bei den ›Wildlingen‹) praktisch keine Rolle spielen. Bevölkerung erscheint allgemein als ›Pöbel‹, Verhandlungsmasse oder in Form einer organisierten Militarisierung als strategisches Kriegswerkzeug. Alle zentralen Entscheidungen werden von den Eliten, meist den wenigen einflussreichen Familienclans oder – mit Max Weber gesprochen – charismatischen Führungsfiguren57 getroffen und höchstens durch einzelne ›herausragende‹ Figuren aus der Bevölkerung oder meist männliche Berater beeinflusst. Selbst die Sklavenbefreiungsaktionen von Daenerys Targaryen sind im Prinzip strategisch-ideologische top down-Entscheidungen, die letztlich ihre Herrschaft mittels der Armee befreiter Sklaven erst hervorbringt. Bemerkenswert ist in der Welt von Game of Thrones jedoch, dass die jeweils agierenden Herrscherfiguren keineswegs völlig souverän erscheinen. Das überpersönliche Phänomen der Macht ist letztlich unkontrollierbar und entgleitet auch dem ›skrupellosesten Machiavellisten‹. Die dauerhafte Kontrolle von Macht wird damit als Fiktion entlarvt.

|| 56 KOCH (Anm. 1), S. 133. Der Begriff ›Ambiguität‹ bezieht sich hier auf die Mehrdeutigkeit der Politik und die ›Doppelbödigkeit‹ zahlreicher Figuren; letztere sind vielschichtig und unberechenbar. In der mediävistischen Forschung wird der Begriff ›Ambiguität‹ differenziert diskutiert: »Obschon also die Forschung Ambiguität und Ambiguitätstoleranz als bedeutsame Analysekategorien für das Verständnis von Struktur und Funktion historischer Gesellschaften registriert hat, ist ihr Stellenwert im Mittelalter gegenwärtig noch weitestgehend unklar. Auf der einen Seite ist von einer ›vermeintliche(n) ›Ambiguitätsferne‹ der mittelalterlichen Kultur und Literatur‹ [AUGE, OLIVER/WITTHÖFT, CHRISTIANE: Zur Einführung. Ambiguität in der mittelalterlichen Kultur und Literatur, in: DIES. (Hrsg.): Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Reflexion, Berlin/Boston 2016 (TMP 30), S. 1–19, hier S. 2] die Rede, die es gelte, ›auf den Prüfstand zu stellen.‹ [ebd.] Auf der anderen Seite hat man die Auffassung vertreten, es sei im Übergang von der Vormoderne zur Moderne zu einem umfassenden Verlust kultureller Ambiguität und Ambiguitätstoleranz gekommen, die die vormodernen und nicht-westlichen Kulturen geprägt habe.« SCHELLER, BENJAMIN/HOFFARTH, CHRISTIAN: Ambiguität und die Ordnung des Sozialen im Mittelalter: Zur Einführung, in: DIES. (Hrsg.): Ambiguität und die Ordnung des Sozialen im Mittelalter, Berlin 2018 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 10), S. 1–10, hier S. 2. Festgehalten werden kann, dass für die sich hybrid aus Mittelalter und Renaissance konstituierende Kunstwelt von Game of Thrones Ambiguität, wie für unsere Gegenwart, zentral ist. 57 Vgl. zum ›charismatischen Führer‹ Weber, Max: Politik als Beruf, Nachwort von RALF DAHRENDORF, Stuttgart 1992, besonders S. 8–10. Bereits MICHAEL BAUMANN bringt Max Webers Herrschaftskonzeption und seine Vorstellung vom ›charismatischen Führer‹ mit A Song of Ice and Fire in Verbindung; vgl. BAUMANN (Anm. 26), S. 213–26.

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Wie eine tyrannische Laufbahn im Zusammenspiel von aristotelischen und besonders Machiavelli’schen Theoremen im von Arendt beschriebenen Spannungsfeld von Macht und Gewalt scheitern kann, lässt sich in Game of Thrones exemplarisch anhand der stereotypisch-klischeehaften Zeichnung des Tyrannen Joffrey Baratheon verfolgen.

3 Der Tyrann Joffrey Baratheon: ein scheiterndes Stereotyp Der von Jack Gleeson verkörperte jugendliche Herrscher Joffrey Baratheon, geboren in der Game of Thrones-Fantasiezeit 282 AC58 und ermordet 301 AC, folgt auf König Robert I. Baratheon und wird nach seiner ebenso kurzen wie erfolglosen Schreckensherrschaft von seinem noch jüngeren Bruder Tommen I. Baratheon beerbt.59 Grundsätzlich infrage gestellt wird die ohnehin fragile Herrschaft Joffreys durch den für die Lannisters und insbesondere Cersei Lannister stets zu verbergenden Umstand, dass er gar nicht der Sohn Roberts und damit legitimer Thronfolger, sondern, wie es in der Welt von Game of Thrones immer wieder abwertend für uneheliche Kinder heißt, ein illegitimer ›Bastard‹ ist. Joffrey ging, um das Skandalon bezüglich seiner Thronanwartschaft in King’s Landing noch auf die Spitze zu treiben, aus der Inzestliebe zwischen seiner machtbewussten Mutter Cersei Lannister und ihrem Zwillingsbruder, dem ›Kingslayer‹ Jaime Lannister, der in der Vorgeschichte den ›Mad King‹ Aerys II. Targaryen ermordete, hervor. Während sich Jaimes unmittelbare Interessen nicht auf den Thron richten, plant Cersei als Ehefrau Roberts ihre Schritte in Machiavelli’scher Weise durch, um dem Iron Throne sukzessive näher zu kommen. Ihr Sohn Joffrey ist hierzu ihr zweckdienlichstes Instrument.60 Cersei bestärkt bewusst die extremen Züge in Joffreys Charakter, seine Erziehung gestaltet sie in einer unheilvollen Mischung aus Verzärtelung zum Größenwahn und nach außen gerichteter gewaltaffiner Willkür, wohl wissend, dass sie im Hintergrund eines exzentrisch-narzisstischen Tyrannen – der stets in Abhängigkeit von seiner Mutter bleibt – ihren Machteinfluss umso stärker konsolidieren kann.61

|| 58 »The dating system is based on the Targaryen Conquest. Thus all dates are ›BC‹ for ›Before Conquest‹ or ›AC‹ for ›After Conquest‹«; http://gameofthrones.wikia.com/wiki/Timeline (Abrufdatum: 27.05.2020). 59 Vgl. GoT, Staffel 1–4. Vgl. auch http://de.gameofthrones.wikia.com/wiki/Joffrey_Baratheon (Abrufdatum: 27.05.2020). 60 Vgl. zu der intrigenreichen Vorgeschichte auch KLEIN, VANESSA: Drachenmacht und Frauenbild – Medienrezeptionsstudie bei Fans der Fantasy Fiction Game of Thrones zu Wahrnehmung, Einfluss und Leitbildfunktion ihrer Protagonistinnen, Masterarbeit, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg 2017. 61 Vgl. auch ebd., S. 31.

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Cersei, die mindestens ebenso machtstrategisch wie ihr Vater Tywin Lannister agiert, kann sich mittels Joffrey sehr geschickt dem Machtzentrum annähern und sich indirekt des Iron Thrones bedienen, ohne selbst unmittelbar in die Schusslinie der Intrigen zu geraten. Zudem braucht sie Joffrey, um nicht direkt gegen die Machtinteressen ihres Vaters – dem alteingesessenen tyrannischen Mastermind der Familie – zu handeln, gegenüber dem sie sich nicht durchzusetzen vermag: [D]ie Lannister-Familie an sich ist keine gute Familie, hier herrscht Tyrannei und Zwang. Der Vater Tywin Lannister ist von Macht besessen und schwört seine erwachsenen Kinder auf sein 62 Streben ein. Sie haben zu gehorchen und diesem Machtstreben zu dienen.

Joffreys spätere Regentschaft steht damit von Beginn der Serie an unter vielerlei ungünstigen Vorzeichen. Game of Thrones konstruiert einen Tyrannen, der nach innen durch seine Abstammung und nach außen durch seine willkürliche Gewaltherrschaft zunehmend als illegitim erscheint. Denn Joffrey ist ein Gewaltherrscher, »der sich zwar einredet, ungestraft tun und lassen zu können, was ihm beliebt, doch dafür Hass und Verachtung erntet, wie jeder Tyrann.«63 Die Serie kann das tyrannische Potenzial der Herrscherfigur voll entfalten und sich klischeehaft-stereotyp in diesem Material ergehen, das als Unterhaltungswert das voyeuristische Schauinteresse des Publikums stimuliert. Joffrey bleibt insgesamt im Gegensatz zu zahlreichen äußerst komplex gestalteten Figuren in Game of Thrones eher oberflächlich. Hinter seiner programm- und ziellosen Tyrannis ereignet sich das tatsächliche Austarieren der Macht – dies ist allen einflussreichen Figuren in King’s Landing vollkommen klar. Die Willkürherrschaft Joffreys erscheint nach außen hierdurch jedoch keineswegs weniger grausam. Wie sehr Cersei ihren Sohn durch Ratschläge wie »fear is better than love«64 in strategischer Absicht zum Tyrannen (v)erzieht und seine Herrschaft als Experiment und Vorbereitung ihrer eigenen direkten Herrschaftsambitionen betrachtet, wird zunehmend deutlich. Joffrey ist jugendlich-schön und von androgyner Körperlichkeit. Seine kurzen blonden Haare und die grünen bzw. blauen Augen seiner Mutter verbinden sich mit wohlproportionierten weichen Gesichtszügen, die mit einem markanten Kinn kontrastiert werden, so dass seine insgesamt eher feminine Erscheinung bei Anspannung rasch in ein aggressiv-herrschsüchtiges Antlitz umschlägt. Die Anlehnung der Figur an popu-

|| 62 STUTTERHEIM (Anm. 23), S. 93. 63 HAAS, DANIEL: Warum sollte Joffrey moralischen Prinzipien folgen, wenn er das Spiel der Throne bereits gewonnen hat? in: JACOBY, HENRY: Die Philosophie bei Game of Thrones. Das Lied von Eis und Feuer: Macht, Moral, Intrigen. Aus dem Englischen von URSULA BISCHOFF, Weinheim 2014, S. 144–57, hier S. 147. 64 MARTIN, GEORGE R. R.: A Song of Ice and Fire. Book Two: A Clash of Kings, New York 2011, S. 489. Zitiert nach: DELLA QUERCIA (Anm. 47), S. 37.

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lärkulturelle Klischees römischer Imperatoren wie Commodus (161–192) und insbesondere Caligula (12–41) wurden bereits kontrovers im Fandom diskutiert.65 Joffrey kann zudem auch als eine Reminiszenz an die englische Geschichte, vor allem an Edward V. (1470–1483?), gelesen werden. Die unheilvollen ›Prinzen im Tower‹ Edward V. und Richard of Shrewsbury (1473–1483?), die hilflos unter den Machtintrigen um die Krone im Zuge der ›Rosenkriege‹ zugrunde gingen (vermutlich wurden sie ermordet), haben in der Kunstfigur Joffrey ein gewissermaßen tyrannisch-rächendes Echo erfahren.66 Mit Joffrey wird die zentrale prototypische Tyrannenfigur der ersten vier Staffeln von Game of Thrones gestaltet.67 Joffrey vereint eine Mischung aus jugendlicher Androgynität und Unsicherheit. Wie unten gezeigt wird, verbinden sich in ihm darüber hinaus tyrannischer Größenwahn und sadistische Sexuallust mit einem höchstens mittelmäßigen Intellekt, der ihn nicht erkennen lässt, dass er durch die Lannister-Familie und andere Figuren instrumentalisiert wird. DAVE VERHAAGENs pathologisierender Analyse zufolge ist Joffrey ein Psychopath: »Joffrey has all the features of a psychopath, including emotional callousness, lack of remorse, manipulation, and rage, and all this is compounded by his sadism.«68 Bezeichnend in Bezug auf Joffreys Arbeit an seinem fragilen Herrscherselbstbild ist eine Szene mit seinem Schneider bei einer Anprobe, während der Joffrey wutentbrannt in Bezug auf das Stoffmuster fordert: »No flowers. I said no flowers.«69 Von Anfang an erscheint er als ein Tyrann auf Abruf, von dem keine der Figuren ernsthaft zu glauben scheint, dass er seine Herrschaft langfristig behaupten kann: Eigentlich noch ein Junge, versucht Joffrey seinen Mangel an Autorität und Führungsstärke durch einen grausamen Herrschaftsstil zu kompensieren. Wie zuvor schon Aerys II. Targaryen, der im Volksmund den Beinamen ›der irre König‹ trug und in einer gewaltsamen Revolution von

|| 65 Vgl. https://www.imdb.com/title/tt0944947/trivia?item=tr2071032 (Abrufdatum: 27.05.2020) und https://scifi.stackexchange.com/questions/87637/was-joffrey-modelled-after-caligula (Abrufdatum: 27.05.2020). Zur Darstellung und historischen Diffamierung Caligulas vgl. auch WILKINSON, SAM: Caligula, London/New York 2005. 66 Vgl. ADAIR, JAMIE: Princes in the Tower, Evil Princelings & Joffrey, online unter: http://historybehind-game-of-thrones.com/warofroses/princelings-in-the-tower (Abrufdatum: 27.05.2020). Vgl. zu Edward V. HICKS, MICHAEL: Edward V. The Prince in the Tower, Stroud 2003. Zu den intrigenreichen Rosenkriegen vgl. auch CARPENTER, CHRISTINE: The Wars of the Roses. Politics and the constitution in England, c. 1437–1509, Cambridge 1997. 67 Auf Augenhöhe mit Joffrey befindet sich dabei der ebenfalls äußerst sadistisch-tyrannische Ramsay Snow bzw. Bolton, der allerdings keine vergleichbare gesellschaftliche Position einnimmt. In den Staffeln 5 und 6 wird das Tyrannische in besonderer Weise durch den High Sparrow verkörpert. 68 VERHAAGEN, DAVE: The Problem of Young Psychopaths, in: LANGLEY, TRAVIS (Hrsg.): Game of Thrones Psychology. The Mind is Dark and Full of Terrors, New York 2016, S. 19–29, hier S. 20. 69 GoT, Staffel 3, Folge 2, TC: 00:10:35–00:10:40.

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seinem eigenen Leibwächter Jaime Lannister ermordet wurde, gelingt es auch Joffrey nicht, sei70 nen Machtanspruch dauerhaft durch Angst und Schrecken zu konsolidieren.

Die Serie spart vor diesem Hintergrund nun keineswegs damit, tyrannische Inszenierungen meist klischeehaft und teils unerwartet ins Bild zu setzen und sich damit in eine Narration von Tyrannis einzuschreiben, die sowohl die Publikumserwartungen bedient als auch ambivalent zur Reflexion des Tyrannischen als angstbesetztes Phantasma und Faszinosum im außerfiktionalen Raum beiträgt. Bereits als Lady Olenna Tyrell, die später maßgeblich das Mordkomplott gegen Joffrey schmiedet, Sansa Stark, die bis zu ihrer Ersetzung durch Margaery Tyrell als zukünftige Braut Joffreys galt, in Bezug auf Joffrey fragt: »Has he a good heart, a gentle hand?«,71 antwortet Sansa: »He’s a monster.«72 Vorausgegangen war dieser Offenbarung Sansas die Episode mit dem Schlachterjungen, der mit Arya Stark spielerisch ficht und von Joffrey dabei gedemütigt wird. In Folge eines drohenden Gesichtsverlusts des sich anschließend als ängstlich und feige entpuppenden Joffreys wird der Junge im Nachgang von der Lannister-Familie ebenso wie der Direwolf Sansas willkürlich und brutal abgeschlachtet.73 Kaum hat Joffrey nach dem Tod Roberts den Iron Throne bestiegen und unter Anleitung seiner Mutter Cersei Eddard Stark festgesetzt,74 folgen im Zuge dieser nach außen legitimierten persönlichen Macht weitere willkürlich-tyrannische Gewaltakte. Eine ›klassische‹ Tyranneninszenierung findet sich in der finalen Folge der ersten Staffel, als Joffrey einen Barden, nachdem dieser im Thronsaal vor dem versammelten Hofstaat ein Lied vorgetragen hat, vor die Wahl stellt, ob er lieber seine Hände oder seine Zunge behalten wolle. In dem Lied, das zuvor in den Tavernen von King’s Landing gesungen wurde, wird der Tod Roberts nach seinem indirekt von Cersei herbeigeführten tödlichen Jagdunfall in derb-satirischer Weise verarbeitet. Als höchst pikantes Detail taucht jedoch im selben Atemzug mit dem Keiler, der Robert seine tödliche Verletzung beifügte, der Löwe auf, der nicht zufällig das Wappentier der Lannisters ist und damit auf Cerseis Täterschaft verweist. Diese musikalische Entlarvung und ungeheure Provokation können weder Cersei noch Joffrey dulden; mit Arendt gesprochen, folgt auf die Furcht vor dem Machtverlust ein Gewaltakt, wobei das statuierte ›Exempel‹ nicht im Sinne Machiavellis herrschaftssichernd wirkt. Der angsterfüllte Sänger entscheidet sich dafür, seine Zunge zu opfern – er wird das heikle Lied nie wieder singen können. Der grausame Willkürakt wird von den Schergen des tyrannischen Herrschers auch sofort vollzogen, während Joffrey in betont gleichgültiger Haltung die Szenerie verlässt.75

|| 70 KOCH (Anm. 1), S. 135f. 71 GoT, Staffel 3, Folge 2, TC: 00:17:18–00:17:20. 72 GoT, Staffel 3, Folge 2, TC: 00:18:40–00:18:42. 73 Vgl. GoT, Staffel 1, Folge 2, TC: 00:42:16–00:51:59. 74 Vgl. GoT, Staffel 1, Folge 7, TC: 00:51:10–00:54:23. 75 Vgl. GoT, Staffel 1, Folge 10, TC: 00:07:19–00:09:57.

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Ebenfalls in tyrannischer Willkür, die hier jedoch mit sadistischer Lust eine Liaison einzugehen scheint, zwingt Joffrey im Anschluss an diese Episode Sansa – die zu diesem Zeitpunkt noch als seine zukünftige Braut und Königin gilt – den aufgespießten und bereits verwesenden Kopf ihres Vaters Eddard zu betrachten, der zuvor auf Befehl Joffeys unter dem Vorwand des Verrats hingerichtet worden war. Sansas Racheimpuls, Joffrey eine hölzerne Brücke hinunterzustürzen, wird jedoch von Sandor Clegane (›The Hound‹) vereitelt.76 Joffreys sexuell konnotierte Tyrannenlust am Leid Sansas wird in einer späteren Szene im Thronsaal noch expliziter gemacht, wenn er mit dem phallischen Pfeil seiner Armbrust auf sie zielt und damit eine Mischung aus Vergewaltigung und Mord andeutet. Tyrion gegenüber, der die Szene sprengt und Sansa vor weiterer Gewalt bewahrt, äußert Joffrey, seine tyrannische Autorität einfordernd: »The king can do as he likes!«77 Der Satz ist eine weitere gewaltsame Demütigung Sansas und offenbart zugleich Joffreys Herrschaftsverständnis: ›König-Sein‹ und vollkommen persönlichwillkürliches Handeln schließen sich nach Aristoteles aus. Mit Aristoteles gesprochen müsste Joffrey daher eigentlich die Phrase wie folgt abändern: ›The tyrant can do as he likes!‹ Dass es für Joffrey nicht bei der Androhung von sexueller Gewalt – die selbst bereits sexuelle Gewalt ist – bleibt, zeigt eine weitere Szene in der vierten Folge der zweiten Staffel, in der sich Joffrey mit zwei Prostituierten – die ihm Tyrion zur ›Abreaktion‹ geschickt hatte – in seinen Gemächern aufhält. Er selbst, vollständig bekleidet, gefällt sich in der Rolle des orchestrierenden Voyeurs, wobei sich Gewalt in seine Anweisungen mischt. Aus anfänglich leichten Schlägen erwächst bei Joffrey bald die Forderung, dass eine der Prostituierten die andere mit Gegenständen heftig schlagen und ernsthaft verletzen solle; die Szene wird nach dem wiederholten Ausruf »harder«78 des tyrannischen Herrschers geschnitten.79 Dass die sadistische Sexualität Joffreys auch tatsächlich im ›Lustmord‹ gipfelt, enthüllt erst eine wesentlich spätere Szene in der dritten Staffel: Eine Prostituierte wird angebunden an Joffreys Bett gefunden, erschossen mit seiner Armbrust, wie er es zuvor Sansa angedroht hatte.80 Margaery Tyrell ersetzt die in Ungnade gefallene Sansa Stark als neue Verlobte und zukünftige Königin an der Seite Joffreys. Die ebenso berechnende wie machtbewusste Figur ist Joffrey an Erfahrung, Intriganz und Intellekt deutlich überlegen und versteht sich darin, ihm hinter der Fassade einer naiven Unschuld auch erotisch zu begegnen, indem sie, mit Kenntnis seiner ›Vorlieben‹, vorgibt, sich in gewaltaffiner

|| 76 Vgl. GoT, Staffel 1, Folge 10, TC: 00:09:58–00:12:31. 77 GoT, Staffel 2, Folge 4, TC: 00:09:11–00:09:13. Der im Fandom ikonisch gewordene Ausruf Joffreys findet sich auf zahlreichen Merchandiseprodukten wie T-Shirts und Kaffeebechern wieder. 78 GoT, Staffel 2, Folge 4, TC: 00:12:29–00:12:30. 79 Vgl. GoT, Staffel 2, Folge 4, TC: 00:11:02–00:14:08. 80 Vgl. GoT, Staffel 3, Folge 6, TC: 00:46:41–00:46:58.

482 | Till Nitschmann Weise und sexuell konnotiert für seine Armbrust zu interessieren.81 Dass Joffrey nicht in der Lage ist, diese offenkundige Manipulation in seinem allernächsten Umfeld auch nur im Ansatz zu erkennen, unterstreicht die Selbstbezüglichkeit und Beschränktheit seines Charakters. Joffreys tyrannisches Wesen wird zunehmend zur Belastung für die Lannister-Familie im Hintergrund. Dies zeigt sich nach Joffreys gefährlicher Überreaktion, nachdem der hungrige und wütende ›Pöbel‹ ihm während eines Gangs durch die Stadt tumultartig gegenübergetreten ist und ihn mit einem Kuhfladen beworfen hat.82 Die Spannungen zwischen ihm und seinem intellektuellen Onkel Tyrion Lannister nehmen immer mehr zu, da dieser nicht bereit ist, sich Joffreys Tyrannei unterzuordnen. Während letzterer einfordert »You’re talking to a king!«,83 entgegnet Tyrion nur, nachdem er Joffrey durch einen Schlag ins Gesicht in seine Schranken gewiesen hat: »And now I’ve struck a king.«84 Als Joffrey auch noch den Kopf des inzwischen ermordeten Robb Stark dessen Schwester Sansa zur Hochzeit schenken will, gerät er mit seinen tyrannisch-exzentrischen Launen mehr und mehr in Konflikt mit dem Rat, der ihn in Person seines Großvaters und Patriarchen Tywin wie ein unmündiges Kind erneut in seine Schranken weist: »The king is tired. See him to his chambers.«85 Auch die Provokation und Demütigung seines versehrt aus der Gefangenschaft zurückgekehrten biologischen Vaters, dem einhändigen Ser Jaime Lannister, durch dessen Konfrontation mit den Heldentaten der unversehrten Ritter aus der Königsgardenchronik The Book of Brothers sichert nicht gerade seine Stellung.86 Dass Joffreys tyrannische Haltung und seine zunehmend schwierige Steuerung durch die LannisterFamilie seine baldige Beseitigung wahrscheinlich machen, wird bereits im Verlauf der dritten Staffel mehr und mehr deutlich. Die langzeitstrategisch agierenden Strippenzieher Lord Varys und Petyr Baelish alias ›Littlefinger‹ sehen dies schon lange kommen und bemerken in abgeklärter Weise in ihrem intrigenreichen Gespräch vor dem Iron Throne: »Chaos is a ladder.«87 Joffreys Ableben folgt dem historisch und literarisch gängigen Motiv des Tyrannenmords und reiht sich gleichzeitig in den insgesamt in Bezug auf Game of Thrones zu stellenden Befund ein, dass persönlich gebundene Macht niemals von Dauer ist, beziehungsweise, mit Arendt gesprochen, vom Umfeld aus funktionalen Gründen ebenso verliehen wie entzogen werden kann, gemäß dem »in der Serie gebräuchliche[n] va-

|| 81 Vgl. GoT, Staffel 3, Folge 2, TC: 00:37:52–00:42:34. 82 Vgl. GoT, Staffel 2, Folge 6, TC: 00:24:12–00:26:43. 83 GoT, Staffel 2, Folge 6, TC: 00:26:44–00:26:46. 84 GoT, Staffel 2, Folge 6, TC: 00:26:46–00:26:49. 85 GoT, Staffel 3, Folge 10, TC: 00:07:37–00:07:40. 86 Vgl. GoT, Staffel 4, Folge 1, TC: 00:36:49–00:38:48. 87 GoT, Staffel 3, Folge 6, TC: 00:46:39–00:46:40.

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lyrische[n] Ausspruch Valar Morghulis, der so viel bedeutet wie ›alle Männer müssen sterben‹, [...] eine[r] [...] Abwandlung des mittelalterlichen Memento Mori.«88 Der Tyrannenmord vollzieht sich während der Hochzeitsfeierlichkeiten zu Ehren Joffreys und Margaerys, und zwar äußerst ›unheroisch‹ mittels eines hinterhältigen Giftanschlags. Dem abrupten Ende der Feierlichkeiten und dem Abschied vom fiktionalen und faktualen Publikum gehen eine Reihe von Demütigungen der anwesenden Gäste, insbesondere Tyrions, durch Joffrey voraus, in denen die Figur wie in einem Brennglas noch einmal stereotyp ihren tyrannischen Habitus offenlegt. Tyrion schenkt Joffrey das seltene Buch The Lives of Four Kings,89 das dieser jedoch nach einem heuchlerischen Moment mit seinem neuen ›Valyrian steel‹-Schwert, einem Geschenk von Tywin, zerhackt,90 wodurch er seine Abneigung gegen die Intellektualität Tyrions in einem performativen Gewaltakt zum Ausdruck bringt. Hierauf folgt zur weiteren Demütigung Tyrions, Sansas und aller königlichen Gegenspieler Joffreys eine von ihm arrangierte theatrale Farce mit dem Titel The War of the Five Kings, in der alle Darsteller – wie der von ihm verhasste Tyrion – kleinwüchsig sind. Dieses Spiel im Spiel offenbart jedoch nicht wie in der berühmten Schauspielszene in Shakespeares Hamlet eine tieferliegende Wahrheit, sondern illustriert lediglich plakativ Joffreys selbstsüchtige Weltsicht und tyrannische Hybris.91 Theatralität und Tyrannis verdichten sich in wechselseitiger Darstellung. Bezeichnenderweise bemerkt Joffrey auch zunächst nicht, während er sich noch in narzisstischer Weise ›totlacht‹,92 dass der Mordanschlag auf ihn in vollem Gange ist. Der Konflikt zwischen Joffrey und Tyrion eskaliert im Laufe der Feier weiter, Joffrey gießt schließlich Tyrion vor den Augen aller Gäste Wein über den Kopf und fordert: »Kneel before your king.«93 Die für Tyrion brenzlige Situation kann nur durch Margaerys demonstrativen Verweis auf die Hochzeitstorte vorläufig entschärft werden, die Joffrey jedoch nicht mit ihr gemeinsam anschneidet, sondern ebenfalls mit seinem Schwert zerhackt. Von der Überraschung – den weißen Tauben, die dabei aus der Torte hinausfliegen und vor denen sich Joffrey erschreckt – bleiben als Vorausdeutung auf seinen nahenden Tod auch erschlagene Tauben blutig in der Torte zurück.94 Joffrey stirbt kläglich an vergiftetem Wein – den Becher musste Tyrion ihm zuvor reichen, ohne selbst um das Gift zu wissen, das dem Wein beigemischt war – in den Armen seiner Mutter Cersei, die mit ihrem jüngsten Sohn Tommen bereits den nächsten Thronfolger aufbieten kann.

|| 88 KOCH (Anm. 1), S. 135. 89 Vgl. GoT, Staffel 4, Folge 2, TC: 00:14:53–00:14:54. 90 Vgl. GoT, Staffel 4, Folge 2, TC: 00:15:56–00:16:05. 91 Vgl. GoT, Staffel 4, Folge 2, TC: 00:39:05–00:41:55. 92 Vgl. GoT, Staffel 4, Folge 2, TC: 00:41:25–00:41:42. 93 GoT, Staffel 4, Folge 2, TC: 00:45:06–00:45:08. 94 Vgl. GoT, Staffel 4, Folge 2, TC: 00:45:27–00:46:04.

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Für den sterbenden Joffrey kommt als sein Mörder nur Tyrion in Frage, auf ihn deutet er vor seinem Tod95 und dieser wird im weiteren Verlauf auch angeklagt. Für seine wahren Mörder, die unsentimental aus planvoll-machstrategischem Kalkül im Hintergrund gehandelt haben, ist Joffrey mit seinem tyrannisch-mittelmäßigen Intellekt blind.96

4 Resümee Joffrey wird in Game of Thrones als ein scheiternder Tyrann inszeniert. Geradezu lustvoll lässt ihn die Serie an seiner Hybris und tyrannischen Willkür sukzessive zu Grunde gehen; seine Macht wird als Fassade demaskiert. Doch auch die Lannisterfamilie im Hintergrund hat die Fäden nicht in der Hand. Der Großvater Joffreys, Tywin Lannister, wird wenig später höchst demütigend von seinem Sohn Tyrion vor dessen Flucht mit Joffreys Armbrust auf dem Abort erschossen – sein dynastischer Machtplan erweist sich als einstürzendes Kartenhaus.97 Was für Joffrey gilt, gilt in Game of Thrones für alle Figuren: Macht und Herrschaft sind niemals dauerhaft persönlich zu kontrollieren. Sie sind überindividuell, systembedingt, diskursiv und mehr vom Zufall abhängig als von persönlichem Geschick und schon gar nicht durch Tyrannei abzusichern. Die Figuren in der Welt von Game of Thrones scheinen sich allerdings nicht über die Anatomie der Macht belehren lassen zu wollen. Umso deutlicher geht den Zuschauern das Licht auf, dass die Herrscher kommen und ermordet werden, Familien aufsteigen und in der Bedeutungslosigkeit versinken, Dynastien blühen und vergehen: Die strukturellen Anklänge an Shakespeare sind unverkennbar. Neben allem Zynismus und aller Abgeklärtheit der Serie zeigt sich damit im Umkehrschluss eine überraschend andere Seite der HBO-Produktion: Die Demokratie, die als Herrschaftsform in Game of Thrones nahezu undenkbar scheint, bietet eine Alternative zu der schier endlosen Liste von Königsnamen in den Chroniken und Platzhaltern auf dem Iron Throne. Game of Thrones macht über diesen Umweg ex negativo gewissermaßen Werbung für die keinesfalls selbstverständliche, sondern immer auch bedrohte und fragile Herrschaftsform der Demokratie und ist somit, zugespitzt formuliert, geradezu politisches Aufklärungs- und Bildungsfernsehen. Trotz allem Unter-

|| 95 Vgl. GoT, Staffel 4, Folge 2, TC: 00:46:49–00:49:06. 96 Im Fandom heißt es: »Littlefinger reveals that he orchestrated the plot with Olenna Tyrell. Due to the color of the amethysts in the unknowing Sansa’s hairnet [in der Serie ist es die Halskette, T. N.] used to poison Joffrey’s wine, and the actual color of the wine, the wedding has since been referred to by fans as the Purple Wedding«; A Wiki of Ice and Fire. Westeros. Joffrey Baratheon, online unter: https://awoiaf.westeros.org/index.php/Joffrey_Baratheon (Abrufdatum: 27.05.2020). 97 Vgl. GoT, Staffel 4, Folge 10, TC: 00:54:48–00:57:27.

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haltungsanspruch und voyeuristischem Schauinteresse des Publikums: Faszinierend ist die Welt von Game of Thrones nur als Fiktion, wer wollte ernsthaft seine demokratischen Rechte mit dem Gewaltraum dieser Fantasy-Welt vertauschen? Die Serie zeigt in voller Wucht anhand einer parabelhaften Fantasy-Welt die vielfältigen Schreckensszenarien, die sich jenseits von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auftun können. Damit tritt Game of Thrones nicht offen didaktisch auf, sondern ›belehrt‹ uns in viel eindringlicher Weise indirekt; die Tyrannenlust führt in den Abgrund. Für ihre erst auf den zweiten Blick erkennbare Aufklärungsarbeit muss die Serie alles an Antidemokratischem auffahren, was sich nur denken lässt. Die polyvalente Inszenierung des Tyrannischen in Game of Thrones, die hier exemplarisch anhand von Joffrey Baratheon betrachtet wurde, steht dabei als Gegenpol demokratischer Aushandlungsprozesse im Zentrum.

| III Begriffsgeschichtliche Ansätze in der Frühen Neuzeit

Karl Gerhard Hempel

tirann und grosßer gewaltiger Herr: Der Begriff des ›Tyrannen‹ in Übersetzungen aus der Humanistenzeit 1 Einleitung: ›Tyrannen‹, ›Wüteriche‹ und des Übersetzers ›falsche Freunde‹ Dass Fremd- bzw. Lehnwörter oftmals keineswegs als Übersetzung des Wortes dienen können, von dem sie ursprünglich abgeleitet sind, ist bei Übersetzern und in der Übersetzungsforschung eine Binsenweisheit, wobei einander ähnelnde Wörter mit abweichender Bedeutung in verschiedenen Sprachen seit geraumer Zeit allgemein unter der Bezeichnung ›falsche Freunde‹ kategorisiert und zum Teil systematisch gesammelt werden.1 Auch das deutsche Wort ›Tyrann‹ wird, was dessen Verhältnis zu seinen griechischen bzw. lateinischen Vorformen angeht, wohl als Kandidat für einen ›falschen Freund‹ gelten können. So bemerkte bereits Johann Gottlieb Adelung, der ›Tyrann‹ sei: 1. Dem Ursprunge nach, ein jeder Landesherr, Landesfürst, besonders unabhängiger First oder Herr, in welcher Bedeutung es aber im Deutschen nicht üblich ist, obgleich ungeschickte Übersetzer es oft da beyzubehalten pflegen, wo das Lateinische Tyrannus und Griechische Θυραννος [sic!] in dieser Bedeutung vorkommen. 2. Ein Landesherr oder Fürst, welcher sich auf widerrechtliche Art der Herrschaft bemächtiget, sich zum Nachtheil des rechtmäßigen Herren zum Regenten aufgeworfen hat; eine im Deutschen um der Mißdeutung willen, gleichfalls seltene Bedeutung. Weil dergleichen Regenten gemeiniglich grausam und gewaltthätig zu regieren pflegen, so ist 3. im figürlichen Verstande der Tyrann, ein Regent, welcher seine Gewalt zur Grausamkeit und Gewaltthätigkeit mißbraucht; dergleichen Tyrannen die alte und neue Geschichte häufig genug aufzuweisen hat. Nach einer noch weitern Figur ist Tyrann, 4. ein jeder, welcher grausam gegen andere verfähret, oder im hohen Grade hart und fühllos gegen das Übel anderer ist, ein 2 Wütherich.

|| 1 Der Ausdruck faux amis geht zurück auf KOESSLER, MAXIME/DEROCQUIGNY, JULES: Les faux amis ou les trahisons du vocabulaire anglais, Paris 1928. Ausführliche Behandlungen und Klassifikationen finden sich bei KROSCHEWSKI, ANNETTE: False friends und true friends. Ein Beitrag zur Klassifizierung des Phänomens der intersprachlich-heterogenen Referenz und zu deren fremdsprachendidaktischen Implikationen, Frankfurt a. M. [u. a.] 2000 (Europäische Hochschulschriften 372); CHAMIZO DOMÍNGUEZ, PEDRO JOSÉ: Semantics and Pragmatics of False Friends, New York/London 2008 (Routledge Studies in Linguistics 7). 2 ADELUNG, JOHANN GOTTLIEB: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, 4. Teil, Leipzig 1780, Sp. 1108f. https://doi.org/10.1515/9783110752373-021

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Gegenübergestellt werden hier also eine im engeren Sinne technisch-politische Bedeutung als ›(unrechtmäßig an die Macht gekommener) Landesherr‹, welche der der Ausgangs- bzw. Vermittlersprache entspreche und im Deutschen unüblich sei (weshalb auch die gelegentliche Verwendung seitens der Übersetzer in diesem Sinne nicht adäquat erscheine), und eine eher moralische als ›Gewaltherrscher‹ bzw. ›gewalttätiger Mensch‹, die im Deutschen bei Weitem überwiege und für die als Synonym ›Wüterich‹ angegeben wird. Eine ähnliche semantische Unterteilung findet sich auch in späteren Wörterbuchartikeln, so etwa in denen des Grimm’schen Wörterbuchs, wo die »neutrale bedeutung« von tyrann explizit auf den Gebrauch »als ausdruck der antike in historischer darstellung«3 eingeschränkt wird; wüt(e)rich bzw. dessen alt- und mittelhochdeutsche Formen dienten dagegen »in der frühzeit der bezeugung überwiegend zur wiedergabe des griech.-lat. tyrannus«, und diesem komme »seit den anfängen der bezeugung stark pejorativer nebensinn«4 zu. Die Vorstellung, dass bei tyrann/tyrannus im Laufe der Zeit eine Bedeutungsverschiebung hin zu einer stark negativen Konnotation eingetreten sei, lässt sich in der Lexikographie bereits seit dem 16. Jahrhundert nachweisen. So bemerkt etwa Simon Roth in seinem berühmten Dictionarius von 1571: Tyrann. War vor zeyten ein ehrlicher nam [sic!] / heyst ein K=nig / FFrst / Regent zu unsern zeyten wirdt ein wFtterich / unbillicher unnd beschwerlicher herscher damit verstanden / Ein unbarm5 hertziger / wilder / rocher / mensch.

Damit dürfte Roth sich in eine bereits etablierte Tradition einordnen, denn ähnlich äußern sich schon Petrus Dasypodius in seinem Dictionarium Latinogermanicum von 1536 (Tyrannus, olim idem quod rex, Ein Künig. Postea violenter, et per insolentiam imperans, Ein wüterich/tyrann)6 oder Erasmus Sarcerius im Jahre 1553 (Also hieß für zeiten Tyrannus ein ehrlicher / redlicher vnd grosser Herr. Jtzundes heist Tyrannus ein bluthund vnd wüterich).7 Diese Zusammenhänge werden deutlicher, wenn man die Geschichte der Entlehnung der Wortfamilie ›Tyrann-‹ ins Deutsche und die Entwicklung des Tyrannenbegriffs im Deutschen betrachtet, mit der sich zuletzt JOHANNES KLAUS KIPF in einer Untersuchung befasst hat, die auf dem in der bisherigen Forschung zusammengetragenen Belegmaterial basiert und deren Ergebnisse im Folgenden kurz zusammengefasst seien:8 || 3 Beide Zitate Art. Tyrann, in: DWb, Bd. XI,1,2 (1952), Sp. 1967–74, hier Sp. 1967. 4 Beide Zitate Art. Wüterich, in: DWb, Bd. XIV,2 (1960), Sp. 2522–33, hier Sp. 2522. 5 Simon Roth: Ein Teutscher Dictionarius [...], [Augsburg: Manger 1571] (VD16 R 3265), fol. 124v. 6 Petrus Dasypodius: Dictionarivm Voces Propemodvm Vniversas in autoribus latinæ linguæ probatis, ac uulgò receptis occurrentes Germanicè explicans [...], [Straßburg: Rihel d. Ä.] 1535 (VD16 D 243), fol. 221v. 7 Erasmus Sarcerius: Hausbuch Für die Einfeltigen Haus veter [...], [Leipzig: Berwald 1553] (VD16 S 1708), fol. 110r. 8 Vgl. KIPF, JOHANNES KLAUS: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses in die deutsche Sprache und Literatur (14.–17. Jahrhundert), in: KÄMPER, HEIDRUN/KILIAN, JÖRG (Hrsg.): Wort – Begriff – Diskurs.

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1. Die ersten Belege für ›Tyrann‹ bzw. ›Tyrannei‹ finden sich seit dem 14., möglicherweise bereits seit dem 13. Jahrhundert, später begegnen auch weitere, von diesen abgeleitete Bildungen. 2. Ab der Zeit um 1400 sind mehr Belege nachweisbar und die Wortfamilie bürgert sich in der deutschen Sprache nach und nach ein. 3. Ein sprunghafter Anstieg der Benutzung zeigt sich in der Reformationszeit, wobei insbesondere Autoren wie Luther oder Ulrich von Hutten ›Tyrann‹ bzw. ›Tyrannei‹ regelmäßig als Stigmawörter benutzen. Damit tragen sie entscheidend zur Etablierung eines ›Tyrannen‹-Diskurses im deutschsprachigen Raum bei, der in der gleichzeitigen und späteren Literatur aufgenommen und weitergeführt wird (vgl. etwa Hans Sachs) und später – im Zeitalter der Aufklärung – Ansatzpunkte für eine erneute Politisierung in anderen Zusammenhängen ermöglicht. 4. In engem Zusammenhang mit dem Begriff des ›Tyrannen‹ steht der des ›Wüterichs‹: Bereits im Alt- und Mittelhochdeutschen verwendet man wuoterich bzw. wüeterich und ähnliche Wortformen üblicherweise als Übersetzung für tyrannus; vor allem in der religiösen Literatur des Mittelalters werden unchristliche Herrscher (oder auch der Teufel selbst) so bezeichnet. Die Ausdrücke ›Tyrann‹ und ›Wüterich‹ koexistieren über längere Zeit, insbesondere im 15. und 16. Jahrhundert, bis letzterer seit dem 19. Jahrhundert in diesem Sinne aufgegeben wird und sich seine Bedeutung seither auf den privaten Bereich beschränkt. Insgesamt sehen wir uns also einer Entwicklung gegenüber, bei der ein Wort germanischen Ursprungs im Laufe der Zeit von einem Fremd- bzw. Lehnwort verdrängt wird, wobei letzteres dessen negative Konnotation übernimmt und wohl auch ausbaut und differenziert. Eine ›Schlüsselrolle‹ im Entlehnungsprozess kommt nach KIPF dabei dem 15. Jahrhundert und hier vor allem der humanistischen Übersetzungsliteratur zu,9 dies auch deshalb, weil ›Tyrann‹ bzw. ›Tyrannis‹ dort häufig in verständnisstützenden Paarformeln wie etwa tyrannen und wutrich auftreten, durch die deren Einführung ins Deutsche begünstigt werde. An dieser Stelle möchten die hier vorgestellten Untersuchungen ansetzen, welche die translatorische Behandlung von τύρανν-/tyrann- bzw. das Auftreten der Wortfamilie ›Tyrann-‹ in deutschen Übersetzungen aus klassischen Sprachen in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts zum Gegenstand haben. Ziel der Betrachtungen soll es dabei sein, aus den Übersetzungen Hinweise darauf zu gewinnen, wie der Tyrannenbegriff aufgefasst bzw. im jeweiligen kulturellen Zusammenhang und unter Berücksichtigung der jeweiligen Zielsetzung von den Übersetzern ausgelegt wurde. Korrigiert werden muss in diesem Zusammenhang allerdings zunächst die in der zitierten Lexikographie teilweise zumindest suggerierte Vorstellung, in der Antike sei

|| Deutscher Wortschatz und europäische Semantik, Bremen 2012 (Sprache – Politik – Gesellschaft 7), S. 31–48, hier vor allem S. 36–43. 9 Vgl. ebd. S. 43 (»Schlüsselepoche des Entlehnungsprozesses«).

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der Tyrannenbegriff grundsätzlich neutral gewesen. Zwar stimmt es, dass beim Übergang ins Deutsche (wie in die anderen europäischen Sprachen) eine Bedeutungsveränderung stattgefunden hat, die moderne Forschung hat jedoch zeigen können, dass eine negative Konnotation in Wirklichkeit bereits in der Polyvalenz des Terminus in der Antike angelegt ist. So wird τύραννος etwa schon in der griechischen Archaik als politischer Kampfbegriff benutzt, und in klassischen Staatstheorien gilt die τυραννίς als negative Form der Alleinherrschaft.10 Die pejorative Bedeutung tritt in römischer Zeit noch sehr viel akzentuierter hervor, als der Begriff regelmäßig rhetorisch eingesetzt wird und republikanisch orientierte Schriftsteller tyrannus bzw. tyrannis stark wertend benutzen, insbesondere im Hinblick auf einzelnen Kaisergestalten.11 Auch die im Spätmittelalter auflebende Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Tyrannenmords geht in ihren Ursprüngen auf die Antike zurück.12 Damit wäre das Verhältnis von ›Tyrann‹ und ›Tyrannei‹ zu den ursprünglichen griechischen und lateinischen Formen dann das eines lediglich partiell konnotativen ›falschen Freundes‹, denn es ist nicht auszuschließen, dass die deutschen Lehnwörter in vielen Fällen, vor allem dann, wenn der Sinnzusammenhang eine pejorative Interpretation nahelegt, durchaus als Übersetzungen für τύραννος/τυραννίς bzw. tyrannus/ tyrannis fungieren können. In anderen Fällen kommen dagegen andere, neutralere bzw. positiv besetzte Termini in Frage. Für die Übersetzung ins (Frühneuhoch-)Deutsche bedeutet dies, dass vom Übersetzer eine Desambiguierung vorzunehmen ist, da ein ausgangssprachlicher Terminus, der neutral oder auch pejorativ eingesetzt sein kann, in zielsprachliche Ausdrücke überführt werden muss, die eine geringere Bandbreite an konnotativen Polyvalenzen aufweisen. Konkret muss der Übersetzer also zwischen einer Reihe von in der Zielsprache zur Verfügung stehenden Synonymen wählen und sich damit einer negativen, positiven oder neutralen Begrifflichkeit bedienen, so dass eventuelle Mehrdeutigkeiten des Ausgangstextes im Zieltext unter Umständen gemindert werden. Derartige Übersetzungsentscheidungen erfolgen jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern sie können vom Adressaten und von der Zielsetzung abhängen, die der Übersetzer mit seiner Arbeit verfolgt. Beeinflusst werden || 10 Vgl. LENSCHAU, THOMAS: Art. Tyrannis, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. VII A, 2 (1948), Sp. 1821–42; VOLKMANN, HANS: Art. Tyrannis, in: Der kleine Pauly, Bd. 5 (1975), Sp. 1024–26; COBET, JUSTUS: König, Anführer, Herr, Monarch, Tyrann, in: WELSKOPF, ELISABETH CHARLOTTE (Hrsg.): Untersuchungen ausgewählter altgriechischer sozialer Typenbegriffe, Berlin 1981 (Soziale Typenbegriffe im alten Griechenland und ihr Fortleben in den Sprachen der Welt 3), S. 11–66. 11 Vgl. DUNKLE, J. ROGER: The Rhetorical Tyrant in Roman Historiography: Sallust, Livy and Tacitus, in: The Classical World 65 (1971), S. 12–20; THOME, GABRIELE: Vorstellungen vom Bösen in der lateinischen Literatur: Begriffe, Motive, Gestalten, Stuttgart 1993, S. 304–23; ICKS, MARTIJN: Creating Tyrants in Ancient Rome: Character Assassination and Imperial Investiture, in: DERS./SHIRAEV, ERIC (Hrsg.): Character Assassination throughout the Ages, New York 2014, S. 83–100. 12 Vgl. MIETHKE, JÜRGEN: Art. Widerstand/Widerstandsrecht I. Alte Kirche und Mittelalter, in: TRE, Bd. 35 (2003), S. 739–50; STROHM, CHRISTOPH: Art. Widerstand/Widerstandsrecht II. Reformation und Neuzeit, in: TRE, Bd. 35 (2003), S. 750–67.

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sie aber auch von den Machtverhältnissen, unter denen die Übersetzungstätigkeit abläuft. Untersucht werden soll daher im Folgenden zunächst, von welchen übersetzerischen Möglichkeiten in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts für die hier untersuchte Wortfamilie überhaupt Gebrauch gemacht wurde und welche Tendenzen sich daran ablesen lassen. Anschließend soll anhand einer Fallstudie zu einer Übersetzung mit hoher Belegdichte an Wörtern aus der Wortfamilie τύρανν-/tyrann- im Ausgangstext dargestellt werden, welche Faktoren lexikalische Übersetzungsentscheidungen beeinflussen und zu zielgerichteten kulturellen bzw. adressatenorientierten Anpassungen und Interpretationen führen können.

2 ›Tyrannen‹ in der Übersetzungsliteratur Die Forschung zur sogenannten Übersetzungsliteratur (teils auch als Rezeptionsliteratur bezeichnet) im Deutschland des Zeitalters des Humanismus und der Reformation hat in den letzten Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung genommen.13 Eingehende Analysen haben dabei unter anderem zeigen können, wie ein gestiegenes Bewusstsein von interlingualen Differenzen und einzelsprachlichen Eigenheiten, das sich auch in interessanten zeitgenössischen Reflexionen zeigt,14 trotz einer Pluralität von teilweise seit dem Mittelalter gebräuchlichen Strategien auch bei Übersetzun-

|| 13 Vgl. allgemein VERMEER, HANS J.: Das Übersetzen in Renaissance und Humanismus (15. und 16. Jahrhundert), Bd. 2: Der deutschsprachige Raum. Literatur und Indices, Heidelberg 2000 (mit Hinweisen auf frühere Literatur). Zur Übersetzung antiker Texte ins Deutsche vgl. TOEPFER, REGINA [u. a.] (Hrsg.): Humanistische Antikenübersetzung und frühneuzeitliche Poetik in Deutschland (1450–1620), Berlin/ Boston 2017 (Frühe Neuzeit 211), dort mit weiterführenden Literaturhinweisen; SASSE, BARBARA: Zwischen gemeine teutsch und eloquentia romana. Formen der Diglossie im literarischen Diskurs des deutschen Humanismus, Bari 2012 (Rinascimento e Barocco NF 9). Für Repertorien entsprechender Texte vgl. WORSTBROCK, FRANZ JOSEF: Zur Einbürgerung der Übersetzung antiker Autoren im deutschen Humanismus, in: ZfdA 99 (1970), S. 45–81; DERS.: Deutsche Antikerezeption 1450–1550, Bd. 1: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren. Mit einer Bibliographie der Übersetzer, Boppard 1976 (Veröffentlichungen zur Humanismusforschung 1); Marburger Repertorium zur Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus, online unter: www.mrfh.de (Abrufdatum: 13.08.2020). 14 Vgl. bereits SCHWARZ, WERNER: Translation into German in the fifteenth century, in: The Modern Language Review 39 (1944), S. 368–73; DERS.: The Theory of Translation in Sixteenth-Century Germany, in: The Modern Language Review 40 (1945), S. 289–99; ausführlich LIMBECK, SVEN: Theorie und Praxis des Übersetzens im deutschen Humanismus. Albrecht von Eybs Übersetzung der Philogeni des Ugolini Pisani, Diss. masch. Freiburg 1999, S. 10–45, online unter: https://freidok.uni-freiburg.de/data/2147 (Abrufdatum: 15.11.2020); ALBRECHT, JOERN: Übersetzungspraxis und Übersetzungskonzeptionen in frühneuhochdeutscher Zeit, in: LOBENSTEIN-REICHMANN, ANJA/REICHMANN, OSKAR (Hrsg.): Frühneuhochdeutsch – Aufgaben und Probleme seiner linguistischen Beschreibung, Hildesheim [u. a.] 2011 (Germanistische Linguistik 213–215), S. 35–96, hier S. 68–80; SASSE (Anm. 13), S. 61–72.

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gen zu einer gezielten Sprachverwendung führt, die sich an einem Ideal von »Klarheit, Verständlichkeit und Anschaulichkeit«15 orientiert. Für die Frage nach der ›Tyrannen‹-Lexik und deren Einsatz bedeutet dies, dass bei den Übertragungen, die häufig auf eine ›Belehrung‹ des zudem nicht immer historischphilologisch geschulten Publikums abzielen, von vorneherein mit einer möglichst eindeutigen Bestimmung der vom Übersetzer intendierten Textaussage zu rechnen ist, also mit Desambiguierungen. Bei einem kurzen, keineswegs Vollständigkeit beanspruchenden Überblick zur Behandlung von tyrannus und dessen Wortfamilie in der Übersetzungsliteratur, die das Tyrannenthema vor allem im Zusammenhang mit einer (moral-)philosophischen, auf Ratschläge für das Leben abzielenden Programmatik aufnimmt, ergibt sich zunächst der Befund, dass die am ehesten zu erwartenden Übersetzungen tatsächlich besonders häufig vorkommen. So liegen etwa von Boethius’ De Consolatione Philosophiae, in der an einigen Stellen vornehmlich die Grausamkeit von Tyrannen thematisiert wird, mehrere annähernd gleichzeitig entstandene Übertragungen vor, wobei tyrannus in der einen (von Konrad Humery, ca. 1462) durchgängig mit tyranne wiedergegeben wird, in der anderen (anonym, vor 1473) abwechselnd durch wütrich und tyrann.16 Auch Heinrich Steinhöwel wählt tyrann in seiner Übersetzung der äsopischen Fabel De leonis fallaci conversatione (III,20) von 1477/78, in welcher der Löwe als unterdrückerischer Herrscher der Tiere auftritt, während im Register mit Bezug auf dieselbe Fabel vom tyrannen oder wieterich die Rede ist.17 Die Paarformel wůtrich und tyrann benutzt Albrecht von Eyb mehrfach in seinem Ehebüchlein (1472), wenn er im Original als tyranni bezeichnete Herrscher aus der griechischen Antike in den Text einführt, der an den betreffenden Stellen auf Auszügen aus Valerius Maximus beruht.18 Von Tyrannen und wütrichen (und was diese vom fürsten unterscheidet) schreibt Albrecht dann auch noch einige Seiten im Spiegel der Sitten (1474), bei dem es sich, wenngleich er auf früheren lateinischen Quellen beruht, allerdings nicht eigentlich um einen Übersetzungstext handelt.19 Gelegentlich verwendet wird tyrann so|| 15 TOEPFER, REGINA [u. a.]: Einleitung, in: TOEPFER, REGINA [u. a.] (Hrsg.): Humanistische Antikenübersetzung und frühneuzeitliche Poetik in Deutschland (1450–1620), Berlin/Boston 2017 (Frühe Neuzeit 211), S. 1–24, hier S. 21. 16 Die Textstellen sind im Einzelnen I,P4; II,P6; III,P5; IV,M1; IV,M2; benutzte Ausgabe: Boethius: Theological Tractates. The Consolation of Philosophy, übers. von H. F. STEWART und E. K. RAND, S. J. TESTER, Cambridge, MA 1973 (Loeb Classical Library 74). Für die Übersetzung von Konrad Humerey vgl. WORSTBROCK, Antikerezeption (Anm. 13), S. 26f.; Lesarten nach Berlin, Staatsbibliothek, ms. theol. lat., fol. 490. Für die anonyme Übersetzung von vor 1473 vgl. ebd., S. 27f.; Lesarten nach Boethius: De consolatione philosophiae, lat. und deutsch [Nürnberg: Anton Koberger] 1473 (GW 4573). 17 Benutzte Ausgabe: Steinhöwels Äsop, hrsg. von H ERRMAN Ö STERLEY, Stuttgart 1873 (BLV 117), S. 169–71; Register S. 372. 18 Benutzte Ausgabe: Deutsche Schriften des Albrecht von Eyb, Bd. 1: Das Ehebüchlein, hrsg. von MAX HERRMANN, Berlin 1890 (Schriften zur germanischen Philologie 4), S. 14 und 27. 19 Benutzte Ausgabe: Albrecht von Eyb: Spiegel der Sitten, hrsg. von GERHARD KLECHA, Berlin 1989 (Texte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit 34), S. 359–61.

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wohl in einer Übertragung als auch in einem Widmungstext von Johann Gottfried, der Anfang der 1490er-Jahre eine Reihe moralphilosophischer Werke ins Deutsche übersetzte.20 In seiner berühmten deutschen Version der ersten olynthischen Rede des Demosthenes – einer der ersten deutschen Übertragungen aus dem Griechischen, die er 1495 für Graf Eberhard I. von Württemberg anfertigte – verwendet Johannes Reuchlin thiranney für ἡ τυραννίς (I,5), obwohl er die Verwendung von Fremdwörtern bei der Übersetzung ansonsten meidet. Der Begriff hebt hier auf Philipp von Mazedonien ab, der von Reuchlin als Exempel für die aktuelle politische Situation genutzt wird.21 Betrachtet man die genannten Textstellen insgesamt, so zeigt sich, dass bei den Übertragungen in der Regel tyrann(ei) als Übersetzung für tyrannus bzw. tyrannis verwendet wird (gelegentlich auch wüterich für tyrannus), was gleichzeitig aber auch zum Kontext passt, der in der Regel eine pejorative Bedeutung nahelegt. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass Wörter aus der Wortfamilie ›Tyrann-‹ gelegentlich auch dort eingesetzt werden, wo im Ausgangstext weder explizit von tyrannus noch von tyrannis die Rede ist. Dabei kann es sich um synonymische Verwendungen handeln, welche die bisher gemachten Beobachtungen zur Semantik bestätigen. So schreibt etwa Niklas von Wyle in seiner 17. Translatze (1478), der deutschen Version einer Rede Poggio Bracciolinis an Papst Nikolaus V., Cicero habe Cäsar, also kaiser julium nit allain nit gelobet / sunder sine werck geschulten vnd jnn nit gütig / sunder ainen tyrannen genennet, wobei im Originaltext stand: non solum non laudavit Caesarem / sed illius acta detestatus est: non clementiae / sed crudelitatis nomine insectatus (»Er hat Cäsar nicht nur nicht gelobt, sondern seine Taten auch verurteilt: ihn nicht seiner Sanftmut, sondern seiner Grausamkeit wegen angegriffen«).22 In ähnlichem Sinne wird das Adjektiv tyrannisch von Johannes Reuchlin in der anderen seiner erhaltenen deutschen Übersetzungen eingesetzt (ebenfalls von 1495). Es handelt

|| 20 Vgl. DRÜCKE, SIMONE: Humanistische Laienbildung um 1500. Das Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried, Göttingen 2001 (Palaestra 312), S. 398: in den kercker des tyrannen für in carcerem tyranni in der Übersetzung von Leonardo Brunis Isagogicon moralis disciplinae; S. 352f.: Want was / haben geholffen Thesiphonem ader auch Dionysium / den tyrannen, die vill jare und lange zijt sie in schantlichen / lastern gelebet und zubracht haben? im Widmungsbrief zur Übersetzung von Pseudo-Isokrates’ Praecepta ad Demonicum. 21 Benutzte Ausgabe: Reuchlins Verdeutschung der ersten olynthischen Rede des Demosthenes, hrsg. von FRANZ POLAND, Berlin 1899 (Bibliothek älterer deutscher Übersetzungen 6). Vgl. dazu ausführlich ENGELS, JOHANNES: Johannes Reuchlins Übersetzung der Ersten Olynthischen Rede des Demosthenes (1495) – Theorie und Praxis der Übersetzung im deutschen Frühhumanismus, in: KOFLER, WOLFGANG [u. a.] (Hrsg.): Pontes V. Übersetzung als Vermittlerin antiker Literatur, Innsbruck [u. a.] 2009 (Comparanda. Literaturwissenschaftliche Studien zu Antike und Moderne 11), S. 99–110; DÜREN, ALEXANDER: Die Rezeption des Demosthenes von den Anfängen bis ins 17. Jh., Bonn 2014 (Antiquitas. Abhandlungen zur alten Geschichte 63), Bd. 1, S. 793–810. 22 Benutzte Ausgaben: Translationen von Niclas von Wyle, hrsg. von ADELBERT VON KELLER, Stuttgart 1861 (BLV 57), S. 341; Gianfrancesco Poggio Bracciolini: Poggii Florentini Oratoris Clarissimi [...], [Straßburg: Johann Knobloch] 1513 (VD16 ZV 12623).

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sich um seine Version des 12. lukianischen Totengesprächs mit dem berühmten Wettstreit zwischen Feldherren, das sich in der italienischen Renaissance bekanntlich besonderer Beliebtheit erfreute, die sich dann auch nördlich der Alpen niederschlug. In Reuchlins Text charakterisiert Alexander der Große seinen Konkurrenten Hannibal als boslistigen und tyrannischen man,23 wo im Griechischen πανουργότατον καὶ ὠμότατον (»durchtrieben und grausam«) stand.24 In Beispielen wie diesen wird im Diskurs wieder einmal die typische Verbindung von ›Tyrann‹ und ›Grausamkeit‹ hergestellt, gleichzeitig aber auch die politische Bedeutung des Fehlverhaltens der Alleinherrscher unterstrichen. Dass tyrannisches und grausames Verhalten als synonymisch angesehen werden können, zeigt sich auch an einer weiteren Textstelle des bereits erwähnten Johann Gottfried. In seiner Übersetzung von Brunis Isagogicon moralis philosophiae schreibt er: Wir sehen etliche begirlichen / anhangen der wuttende grymigkeit, etlich raub, betrogk vnd / belestigunge der menschen flißiglichen betrachten, wobei der Ausgangstext lautet: Videmus alios tyrannidi inhiantes, alii rapinas fraudesque meditantur (»Wir sehen, dass die einen Tyrannen nachstreben, die anderen Raubzüge und Betrügereien planen«).25 In anderen Fällen, in denen tyrann oder Ähnliches auftritt, ohne dass verwandte Wörter im Ausgangstext vorkommen, handelt es sich dagegen um regelrechte Zusätze, die dazu dienen, dem Publikum sofort eine eindeutige Lesart zu vermitteln. Dies ist etwa an einer Stelle in der schon erwähnten anonymen Boethius-Übersetzung der Fall (Boethius, Consolatio Philosophiae, III,P5), wo Nero, der Seneca in den Tod trieb, ausdrücklich als tyrannisch keiser apostrophiert wird (kurze Zeit später erfolgt zudem eine Wiederaufnahme durch wütrich), während im Original einfach von Nero die Rede war.26 Für derartige Zusätze sei noch ein weiteres besonders augenfälliges Beispiel angeführt, das allerdings außerhalb unseres Betrachtungszeitraums liegt: In Jakob Vielfelds Übersetzung der suetonischen Kaiserviten von 1536, die jüngst Gegenstand einer ausführlichen Studie gewesen ist,27 werden in den deutschen Text etwa fünfzig Mal Ausdrücke aus der Wortfamilie tyrann- eingesetzt, obwohl Entsprechendes in den Ausgangstexten gar nicht vorkommt.28 Dies dient offenbar der Charakterisierung bestimmter || 23 Benutzte Ausgabe: DISTEL, THEODOR: Die erste Verdeutschung des 12. Lukianischen Totengesprächs – nach einer urtextlichen Handschrift – von Johann Reuchlin (1495) und Verwandtes aus der Folgezeit, in: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte NF 8 (1895), S. 408–17, hier S. 416. 24 Benutzte Ausgabe: Lucian with an English translation by M. D. MACLEOD, Bd. VI, London/Cambridge, MA 1963. 25 DRÜCKE (Anm. 20), S. 423. 26 Siehe oben, Anm. 16. 27 Vgl. BRIX, KERSTIN: Sueton in Straßburg. Die Übersetzung der Kaiserviten durch Jakob Vielfeld (1536), Hildesheim 2017 (Spolia Berolinensia 36). 28 Benutzte Ausgabe: Die deutsche Suetonübersetzung Jakob Vielfelds (1536). Transkript nach dem Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München (Res/2 A.lat.b. 705; VD16 S 10107) erstellt von KERSTIN BRIX, online unter: https://opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de/opus4-wuerzburg/frontdoor/ deliver/index/docId/15283/file/Brix_Kerstin_Jakob_Vielfelds_Suetonuebersetzung.pdf (Abrufdatum: 5.08.2020).

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Kaiser (die meisten Okkurenzen finden sich bei Tiberius, Caligula und Nero) und entspricht außerdem der deutlich ›republikanischen‹ Tendenz der gesamten Übersetzung. Gegenüber den zahlreichen hier angeführten Beispielen für die Verwendung von Wörtern aus der Familie tyrann- in meist deutlich pejorativem, auch moralisch abwertendem Sinne scheint eine ›neutrale‹ Verwendung des Begriffs oder gar eine Ersetzung durch andere, eher positive Ausdrücke in den Übersetzungen eher die Ausnahme zu sein. Eine differenzierte Verwendung von Tyrannen-Lexik lässt sich aber etwa bei Matthias Ringmann beobachten, dem deutschen Erstübersetzer von Cäsars Bellum gallicum (1507), dem er auch eine deutsche Version des Bellum civile und von Plutarchs Vita Cäsars beigegeben hat.29 In den beiden zuletzt genannten Texten gibt es insgesamt fünf Belegstellen für Übersetzungen von Ausdrücken aus der Wortfamilie, wobei Ringmann in der Plutarchvita zwei Mal für τυραννίς die neutrale Übersetzung herrschung wählt, wenn von Cäsars Plänen berichtet wird, sich als Monarch zu etablieren: das er darnach die herrschung über die stat an stellen wolt (Plutarch: Caesar, VI,3: τυραννίδα πολιτεύεσθαι Καίσαρα; »dass Cäsar eine Tyrannis verwalte«);30 machten sie in zu eym ewigen Dictator / das dann ein offenbare und bekante herrschung war (Plutarch: Caeasar, LVI,1: δικτάτορα μὲν αὐτόν ἀπέδειξαν διὰ βίου τοῦτο δ᾽ ἦν ὁμολογουμένη τυραννίς; »Sie ernannten ihn zum Diktator auf Lebenszeit, aber das kam einer Tyrannis gleich«). An zwei anderen Plutarchstellen (XXX,1 und LXIV,3) ist auch von Cäsar die Rede, und es wird in der Übersetzung jeweils tyrann benutzt; dabei handelt es sich aber nicht um auktoriale Berichte, sondern es werden indirekt Aussagen von Zeitgenossen referiert, so dass die negative Bewertung nicht von Ringmann zu verantworten ist. Eine anscheinend ›neutrale‹ Verwendung von tirann findet sich in der Übersetzung des Bellum civile: Dort (III,31) wird von dem Pompejus-Verbündeten Metellus Scipio berichtet, der sich angesichts angeblicher Siege am Mons Amanus zum imperator ernennt und dann Steuern verlangt: nant sich eyn gebieter / dar durch er den stetten und tirannen gelt hiesch, wobei stetten und tirannen31 die Übersetzung für civitatibus tyrannisque darstellt. Gemeint ist hier offenbar die Unterscheidung zwischen Alleinherrschaft und Polisverwaltung in der politischen Organisation vor Ort, so dass es sich um eine politisch-technische Bedeutung handelt, die meines Erachtens auch im deutschen Text erhalten bleibt. Ringmanns Tendenz, den ›Tyrannen‹-Begriff an Stellen, an denen Cäsars Wirken beschrieben wird, zu vermeiden und ansonsten im Sinne einer Wiedergabe von historischen Aussagen bzw. Situationen zu verwenden, passt zur Gesamtausrichtung seines Kaiser Maximilian I. gewidmeten Übersetzungswerks, das als Exempel für den zeitgenössischen Monarchen dienen soll. Ringmann, der Caesar

|| 29 Benutzte Ausgabe: Matthias Ringmann: Julius der erst Römisch Keiser von seinen kriegen [...], [Straßburg: Grüninger] 1507 (VD16 C 54). 30 Benutzte Ausgabe: Plutarch. Plutarch’s Lives, with an English Translation by BERNADOTTE PERRIN, Cambridge, MA/London 1919. 31 Ringmann (Anm. 29), S. 100.

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fast immer mit Keiser wiedergibt, unterstreicht insbesondere in den Paratexten zur Übersetzung dessen Rolle als Begründer der römischen Monarchie und damit des Kaisertums als solchem, außerdem aber auch dessen herrscherliche Tugenden, die damit gleichzeitig auch für Maximilian verbindlich werden.32 Einige Belege für neutrale Ausdrücke in den Übertragungen finden sich auch bei Johann Sieder, der Apuleius’ Metamorphosen (1500, Druck 1538) und einige Kaiserviten des Plutarch, diese allerdings über lateinische Zwischenübersetzungen, ins Deutsche übertrug. In den Metamorphosen (VII,16) schreibt Sieder etwa Der selbmechtig fürste war also kargk des futers das er den hunger seiner fressigen pferde mit menschen leiben settiget,33 wobei der selbmechtig fürste die Übersetzung von ille praepotens tyrannus ist.34 Auch in Sieders Version der plutarchischen Vita des Quintus Sertorius von 1501 spricht er (V,5) von den Sklaven, die Marius unterstützen, als den wertern und handhabern seins gewalts, wo im lateinischen Text Leonardo Brunis von satellites ac ministros tirannidis35 die Rede ist. Unklar bleibt, ob Sieder, der als Vertreter einer möglichst wörtlichen Übersetzungsstrategie gilt, bei der auch die lateinische Syntax imitiert wird, eher linguistische bzw. übersetzungstechnische Gründe für seine Übersetzungsentscheidungen hat (etwa im Sinne einer Aktualisierung), oder ob er bestimmte interpretatorische Ziele verfolgt. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass tyrann(ei) grundsätzlich als Standardübersetzung für tyrannus und tyrannis gelten kann, wobei in aller Regel eine (meist bereits im Ausgangstext angelegte) negative Konnotation mitschwingt, die sich auch dort zeigt, wo Wörter aus der Wortfamilie ›Tyrann-‹ unabhängig vom Wortlaut des Originals, also nicht übersetzungsinduziert eingesetzt werden. Gelegentlich wird anstelle von tyrann auch wüterich verwendet, während ›neutralere‹ oder gar positiv besetzte Ausdrücke eher als Ausnahme anzusehen sind und besonderen Intentionen des Übersetzers folgen können. Dies kann als Bestätigung dafür gewertet werden, dass

|| 32 Zur ›promonarchischen‹ Ausrichtung der Übersetzungen Ringmanns vgl. BRIX (Anm. 27), S. 465–69; JOHNSON, CHRISTINE R.: Creating a Usable Past: Vernacular Roman Histories in Renaissance Germany, in: Sixteenth Century Journal 40,4 (2009), S. 1069–90. 33 Benutzte Ausgabe: Johannes Sieder: Ain schön lieblich auch kurtzweylig gedichte Lucij Apuleij [...], [Augsburg: Alexander Weißenhorn 1538] (VD16 A 3179), fol. 44r. Zu dieser Übersetzung vgl. PLANK, BIRGIT: Johann Sieders Übersetzung des Goldenen Esels und die frühe deutschsprachige Metamorphosen-Rezeption. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Apuleius’ Roman, Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 92), hier vor allem S. 114–36; bei der Benutzung hinzuzuziehen sind die Rezensionen von KIPF, J. KLAUS: Apuleius’ Metamorphosen im frühneuzeitlichen Deutschland, in: IASLonline (01.05.2005), online unter: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1150 (Abrufdatum: 16.08.2020), sowie HOLZBERG, NIKLAS, in: ZfdA 133 (2004), S. 543–45. 34 Benutzte Ausgabe: Apulei Metamorphoseon libri XI, hrsg. von M. ZIMMERMAN, Oxford 2012. 35 Benutzte Texte: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2856, hier fol. 141r (Sieder); Leonardo Bruni: Campanus Francisco Piccolominio cardinali Senensi meo salutem [...], [Rom: Udalricus Gallus 1470]. An einer anderen Stelle (I,31) wurde die Bezeichnung τυραννίδος bereits von Bruni durch magistratibus ersetzt. Sieder schreibt hier wiederum gewalt (fol. 143v).

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tyrann und dessen Ableitungen in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts als im Deutschen etablierte Fremdwörter anzusehen sind, deren pejorative Bedeutung sich verfestigt hat. Im Folgenden sollen diese Ergebnisse anhand einer materialreichen Fallstudie überprüft und erweitert werden.

3 Xenophon, Leonardo Bruni, Adam Werner von Themar und der Pfalzgraf by Ryn Vom lebenn Der Grossenn herren / wie lüstig vnd wonsamme / vnd ob eß besser dann eyns schlechten gemeÿns mannes leben sye / Der on gewalt on oberkeÿt vnd on vnderthan für sich / vnd jm selbst lebt Eÿn schöner Dyalogus / Frag vnd Antwort Deß Alten Philosophi Xenophontis Zü Erenn vnd Gefallen Dem Durchlüchtigsten Hochgebornen Fürsten vnd / Herren / Herren philipssen pfaltzgraüen by Ryn / hertzogenn jn Beÿern Deß heilgen Römischen Rychs Ertztrüchesßen [sic!] vnd Chürfürstenn mÿnen Gnedigsten herrn etc. Dürch mich Adam Wernher von themar 36 licentiaten gedeützscht etc. (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 298, fol. 80r)

Diese Worte stellt der Heidelberger Humanist Adam Werner von Themar im Jahre 1502 seiner Übersetzung einer kleinen, aber äußerst interessanten Schrift des attischen Schriftstellers Xenophon voran,37 des fiktiven ›sokratischen‹ Dialogs Hieron zwischen dem Dichter Simonides von Keos und dem Tyrannen Hieron I. von Syrakus. Im zitierten Einleitungstext zur Übersetzung finden wir 1. die Angabe des Themas, nämlich ob das Leben der Alleinherrscher besser sei als das der einfachen Leute, 2. die Angabe der Textsorte (Dyalogus), die zusätzlich durch eine bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts übliche Paarformel erläutert ist,38 und 3. den Namen des Autors. Danach folgen 4. die Widmung der Übersetzung an Philipp den Aufrichtigen (1448–1508), Pfalzgraf bei Rhein, der hier mit seinen wichtigsten Titeln genannt wird, und schließlich die Affirmation 5., Adam Werner von Themar, mit akademischem Titel, sei der Übersetzer.

|| 36 Digitalisat online unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg298 (Abrufdatum: 23.05.2020). 37 Zum Folgenden vgl. auch die Vorarbeiten bei HEMPEL, KARL GERHARD: Strategie traduttive di un umanista: Adam Werner von Themar (1462–1537) e le prime versioni in tedesco da Senofonte, Orazio e Virgilio, in: CUSATO, DOMENICO ANTONIO [u. a.] (Hrsg.): Atti del IV Convegno Internazionale Interdisciplinare su Testo, Metodo, Elaborazione elettronica. Messina – Catania, 14–16 aprile 2005, Neapel 2005 (Accademia Peloritana dei Pericolanti. Classe di Lettere, Filosofia e Belle Arti 81), S. 187–202; DERS.: Vom lebenn der grossen Herrn ... La traduzione dello Ierone di Senofonte ad opera da Adam Werner von Themar (1502), in: GOTTSCHALL, DAGMAR (Hrsg.): Il ruolo delle lingue e delle letterature germaniche nella formazione dell’Europa medievale, Lecce 2018, S. 133–54. 38 Vgl. EMMELIUS, CAROLINE: Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung. Zur Wortgeschichte von ›Gespräch‹ im 15. Jahrhundert, in: DICKE, GERD [u. a.] (Hrsg.): Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin/New York 2006 (TMP 10), S. 107–35, hier S. 123.

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Die besondere Bedeutung dieser Hieron-Übersetzung für unsere Fragestellung liegt zunächst in der behandelten Thematik sowie in der Lexik. Es handelt sich um den einzigen frühneuhochdeutschen Übersetzungstext, in dem die Diskussion über Tyrannis einen zentralen Platz einnimmt, und gleichzeitig um denjenigen, in dem die Wortfamilie ›Tyrann-‹ mit großem Abstand am häufigsten nachweisbar ist. Des Weiteren ist der Originaltext jenes antike Werk, in dem der polyvalente Charakter des Tyranniskonzepts im Negativen wie im Positiven wohl am Weitesten ausgereizt wird: Die Verzweiflung des seinen Feinden wie seinen Freunden misstrauenden Alleinherrschers, der in ständiger Angst lebt, weil er um seine Herrschaft und sein Leben fürchten muss, wird hier den Vorzügen einer wohltätigen, auf das Allgemeinwohl ausgerichteten Monarchie gegenübergestellt. Für die Übersetzung ist daher mit einer relativ großen begrifflichen Bandbreite zu rechnen, die zugleich Auskunft über die interpretative Auffassung des Übersetzers erwarten lässt. Das Werk beginnt mit einer Reihe von Fragen, die Simonides an Hieron richtet, von dem ihm bekannt ist, dass er früher kein Herrscher, sondern ein einfacher Bürger war. Dabei suggeriert Simonides, indem er die verschiedenen Sinneswahrnehmungen Revue passieren lässt, dass das Leben des Herrschers angenehmer sei als das eines einfachen Mannes. Hieron entkräftet jeweils die vorgebrachten Argumente und bringt Belege dafür bei, dass der Herrscher dem Bürger gegenüber einen schlechteren Stand hat, er vielmehr unter Schmeichelei, Missgunst und verhohlener Feindschaft seitens der Untertanen in seiner Stadt leidet, die er einerseits liebt, andererseits aber bekämpfen muss. Behandelt werden so verschiedene Themen wie etwa die Freuden des Sehens und Hörens, des Essens und Trinkens, der Liebe und Freundschaft, des materiellen Besitzes, bis Hieron schließlich das Leben des Tyrannen (also sein eigenes) darstellt, der – einsam und unglücklich – zum Opfer seiner Ängste wird, insbesondere der vor Verschwörungen und Anschlägen. An diesem Punkt wird im Dialog eine entscheidende Wende eingeleitet: Simonides fordert Hieron auf, die Tyrannis einfach aufzugeben, aber Hieron lehnt dies ab, denn er könne den Opfern seiner Herrschaft keine ausreichende Entschädigung anbieten, so dass ihm eigentlich nur der Selbstmord bleibe. Nach diesem Ausdruck extremer Verzweiflung Hierons zeigt Simonides ihm ausführlich eine Reihe von Wegen auf, durch die er sein Verhältnis zu den Untertanen verbessern kann, etwa durch Förderung guter Leistungen der Bürger und den persönlichen Einsatz für das Gemeinwohl, der ihm allgemeine Anerkennung und damit eine glückliche Herrschaft sichert. Vorgestellt wird hier also ein Tyrann, der sich einerseits der Verhaltensweisen bewusst ist, zu denen er seiner Macht wegen gezwungen ist, andererseits aber zu einer positiven Sicht auf seine Macht geführt wird, die dabei aber immer noch ›tyrannisch‹ bleibt. Dieses Tyranniskonzept hebt sich, wie unter anderem LUCIANO CANFORA bemerkt hat, sowohl von der politischen Theorie der griechischen Klassik mit ihrer simplizistischen Kategorisierung in positive und negative Arten der Herrschaft (etwa Monarchie vs. Tyrannis) ab, als auch von der späteren, machiavellistischen Vorstellung eines einzigen Principe, der sich durch seinen Status als Alleinherrscher zu jegli-

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cher Tat berechtigt fühlt.39 Dieser ambivalente Herrschaftsbegriff, bei dem die Tyrannis nicht statisch erscheint, sondern ein Entwicklungspotential enthält, dürfte auch der Grund dafür sein, warum eine eindeutige Interpretation des Textes – im Sinne einer Stellungnahme für oder wider die Tyrannis – zunächst nicht leicht ist. Hinzu kommt, dass der Autor selbst, der seinem Hieron offenbar stilisierte Züge Dionysios’ I. von Syrakus verliehen hat,40 auch wegen der Dialogform im Text in den Hintergrund tritt, so dass seine eigene Haltung nicht expliziert wird und damit eher im Dunkeln bleibt. Gerade die Polyvalenz hat Xenophons Text aber bis heute einen Platz in der politologischen bzw. philosophischen Diskussion über die Frage der Alleinherrschaft gesichert. So gründet der deutsch-amerikanische Philosoph LEO STRAUSS in neuerer Zeit seine Tyrannistheorie, aus der eine vielbeachtete Debatte mit dem ›Hegelianer‹ ALEXANDRE KOJÈVE erwachsen ist,41 eben deshalb auf das xenophontische Tyranniskonzept, weil dieses im Gegensatz zu dem der auf ›objektive‹ Kriterien ausgerichteten modernen Politologie ein Werturteil über den Alleinherrscher erlaubt. Aufgrund seiner brisanten Thematik konnte Xenophons Hieron zu dem Zeitpunkt, als er von Adam Werner von Themar übersetzt wurde, bereits auf eine interessante Rezeptionsgeschichte in der italienischen Renaissance zurückblicken. Er gehört zu den ersten Texten, die zu Beginn des Quattrocento von dem Florentier Humanisten Leonardo Bruni aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen wurden. Dies war die Standardübersetzung, bis Erasmus von Rotterdam 1530 in Basel seine Version publizierte, und ihre Verbreitung ist durch ca. 200 erhaltene Manuskripte42 sowie durch vierzehn ab etwa 1470 erschienene Drucke belegt.43 Die Forschung hat in den letzten Jahren zeigen können, dass der Text Leonardo Brunis unter anderem Poggio Bracciolini, Maffeo Vegio, Antonio Da Pescia, Giovanni Pontano und eben Niccolò Machiavelli bekannt war, wobei einige von diesen ihn auch für ihre eigenen Werke

|| 39 Vgl. CANFORA, LUCIANO: Il principe, in: Senofonte: La tirannide, hrsg. von GENNARO TEDESCHI, Palermo 1986 (La memoria 137), S. 11–15, hier S. 14. 40 Vgl. SCHORN, STEFAN: Politische Theorie, ›Fürstenspiegel‹ und Propaganda. Philistos von Syrakus, Xenophons Hieron und Dionysios I. von Syrakus, in: ENGELS, DAVID [u. a.] (Hrsg.): Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Herrschaft auf Sizilien von der Antike bis zum Spätmittelalter, Stuttgart 2010, S. 37–61. 41 Vgl. STRAUSS, LEO: On Tyranny. An Interpretation of Xenophon’s Hiero, New York 1948; KOJÈVE, ALEXANDRE: L’action politique des philosophes, in: Critique 41–42 (1950), S. 46–55 und 138–55. Eine italienische Übersetzung dieser Texte und weiterer Materialien findet sich bei KOJÈVE, ALEXANDRE/ STRAUSS, LEO: Sulla tirannide, hrsg. von VICTOR GOUREVITCH/MICHAEL S. ROTH, italienische Ausg. hrsg. von GIAN FRANCO FRIGO, Übers. von DAVIDE DE PRETTO, Mailand 2010 (Biblioteca Filosofica 27). 42 Vgl. MARSH, DAVID: Xenophon, in: BROWN, VIRGINA [u. a.] (Hrsg.): Catalogus Translationum et Commentariorum. Medieval and Renaissance Latin Translations and Commentaries, Bd. VII, Washington, D. C. 1992, S. 75–196. 43 Vgl. CORTESI, MARIAROSA/FIASCHI, SILVIA: Repertorio delle traduzioni umanistiche a stampa: secoli XV–XVI, Florenz 2008, Bd. II, S. 1706–08, und VITI, PAOLO: San Basilio e Bruni: Le prime edizioni dell’Oratio ad adolescentes, in: CORTESI, MARIAROSA (Hrsg.): I Padri sotto il torchio. Le edizioni dell’antichità cristiana nei secoli XV–XVI, Florenz 2002 (Millennio Medievale 35), S. 115–26, hier S. 119–24.

502 | Karl Gerhard Hempel benutzt haben.44 Problematisch bleibt aber bisher noch die genaue Einordnung der Übersetzung Leonardo Brunis in sein Werk, wobei insbesondere nicht klar ist, welche Position gegenüber der Tyrannis intendiert ist. Die Einleitung mit Widmung an Niccolò Niccoli enthält keine eindeutigen Hinweise, aber wahrscheinlich kann die Übertragung als Ausdruck einer im Wesentlichen kritischen, gleichzeitig aber auch differenzierten Haltung gegenüber der Alleinherrschaft verstanden werden. In jedem Fall handelt es sich um einen Beitrag zur Diskussion über Fragen von Moral und Politik, an der sich auch Brunis Lehrer Coluccio Salutati beteiligt hat, der kurz zuvor sein De Tyranno verfasst hatte – ein Werk, dessen Titel Bruni in seiner Übersetzung aufzunehmen scheint.45 Adam Werners Version ist insofern Bestandteil dieser Tradition, als sie – wie die Forschung schon seit einiger Zeit gesehen hat46 – den Text Leonardo Brunis zugrunde legt und nicht das griechische Original. Es handelt sich also um eine ›indirekte‹ oder ›Umwegübersetzung‹, wie sie in einer Zeit, in der Griechischkenntnisse noch nicht sehr verbreitet sind,47 auch sonst oft vorkommt.48 Auf Brunis Version beruht auch die unter anderem in einem illustrierten Manuskript erhaltene französische Übersetzung, die Charles Soillot zwischen 1460 und 1467 für Karl den Kühnen anfertigte – übrigens überhaupt die erste französische Version eines Werkes der griechischen Antike.49 Adam Werner erwähnt Leonardo Bruni in seinem Einleitungstext nicht und lässt

|| 44 Vgl. BANDINI, MICHELE: Il Tyrannus di Leonardo Bruni: note su tradizione e fortuna, in: CORTESI, MARIAROSA (Hrsg.): Tradurre dal greco in età umanistica. Metodi e strumenti (Il Ritorno dei Classici nell’Umanesimo, III. Traduzioni, 3), Florenz 2007, S. 35–44; BANDINI, MICHELE: Lo Ierone di Senofonte nel Quattrocento. Leonardo Bruni e Antonio da Pescia, in: Res publica litterarum 28 (2005), S. 108–23; DE NICHILO, MAURO: Fortuna e tradizione della versione bruniana dello Ierone di Senofonte, in: Cahiers de Recherches Médiévales e Humanistes 25 (2013), S. 327–40. 45 Vgl. HANKINS, JAMES: Coluccio Salutati e Leonardo Bruni, in : CILIBERTO, MICHELE (Hrsg.): Il contributo italiano alla storia del pensiero. Filosofia, Rom 2012, S. 85–94, und MAXSON, BRIAN JEFFREY: Kings and tyrants: Leonardo Bruni’s translation of Xenophon’s Hiero, in: Renaissance Studies 24/2 (2010), S. 188–206. 46 Vgl. WORSTBROCK, FRANZ JOSEF: Art. Wernher (Werner, Wernherus), Adam, von Themar, in: VL Deutscher Humanismus 1480–1520, Bd. 2 (2013), Sp. 1277–89, hier Sp. 1286; DERS.: Art. Wernher, Adam, von Themar, in: 2VL, Bd. 10 (1999), Sp. 915–20, hier Sp. 917. An eine direkte Übersetzung aus dem Griechischen denkt offenbar HARTFELDER, KARL: Deutsche Übersetzungen klassischer Schriftsteller aus dem Heidelberger Humanistenkreis, Beilage zum Jahresbericht des Heidelberger Gymnasiums für das Schuljahr 1883/84, Programm 552, S. 9. 47 Vgl. HARLFINGER, DIETER (Hrsg.): Graecogermania. Griechischstudien deutscher Humanisten. Die Editionstätigkeit der Griechen in der italienischen Renaissance, Ausstellungskatalog Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Weinheim 1989. 48 Vgl. ALBRECHT (Anm. 13), S. 44–46. 49 Brüssel, Bibliothèque royale de Belgique, Ms. IV 1264. Vgl. dazu SCHOYSMAN, ANNE ANGELE: Hiéron ou de la Tyrannie traduit par Charles Soillot pour Charles le Téméraire, in: DELSAUX, OLIVIER/HEMELRYK, TANIA (Hrsg.): Quand les auteurs étaient des nains. Stratégies auctoriales chez les traducteurs français de la fin du Moyen Âge (Bibliothèque de Transmédie 7), Turnhout 2019, S. 223–48.

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auch dessen der lateinischen Übersetzung vorangestelltes Vorwort zu Xenophons Text weg, obgleich es sonst durchaus üblich ist, eine eventuell benutzte Zwischenübersetzung anzugeben. Dies tun etwa Niklas von Wyle im Widmungsschreiben für seine 13. Translatze,50 Johann Gottfried bei seinen Übersetzungen von Ausschnitten aus Werken von Aristoteles, Lukian und Isokrates,51 und schließlich auch Dietrich von Pleningen, der 1516 seinem Lehrer Rudolf Agricola eine Lukian-Übersetzung widmete, der den entsprechenden Text aus dem Griechischen übertragen hatte.52 Schwer zu sagen ist daher, warum die Übersetzung an dieser Stelle nicht als indirekt gekennzeichnet ist, so dass auch unklar bleibt, ob etwa eine mögliche Kenntnis des Griechischen herausgestellt oder eine eindeutige Bezugnahme auf Leonardo Bruni aus politischen Gründen vermieden werden sollte. Die Hieron-Übersetzung durch Adam Werner von Themar,53 der sicherlich nicht zum Kreis der bekanntesten Humanisten Deutschlands gehörte, aber der deutsche Erstübersetzer einiger Werke wichtiger antiker Autoren (neben Xenophon auch Horaz und Vergil) war, lässt sich – wie bereits die Widmung zeigt – mit seiner Tätigkeit am Heidelberger Fürstenhof in Verbindung bringen. 1467 oder 1468 (und nicht 1462, wie früher angenommen)54 im thüringischen Themar geboren, hatte er sich 1482 an der Universität Leipzig und dann 1484 in Heidelberg eingeschrieben. Nach dem Baccalaureus (1485) hatte er in einer Lateinschule in Neustadt an der Weinstraße unterrichtet, um 1488 für sein Magisterexamen nach Heidelberg zurückzukehren, wo er zum Erzieher der Kinder des Pfalzgrafen ernannt wurde – eine Aufgabe, die später der sehr viel berühmtere Johannes Reuchlin übernehmen sollte. Hier hatte Werner die Möglichkeit, Mitglied der Sodalitas litteraria Rhenana um den Bischof von Worms, Johann von Dalberg,55 zu werden, und konnte so Kontakte zu wichtigen Humanisten seiner

|| 50 Vgl. Niclas von Wyle (Anm. 22), S. 248. 51 Vgl. DRÜCKE (Anm. 20), S. 256f. und 348–58. 52 Vgl. GERLACH, ANNETTE: Das Übersetzungswerk Dietrichs von Pleningen. Zur Rezeption der Antike im deutschen Humanismus, Diss. Münster 1991, Frankfurt a. M. [u. a.] 1993 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 25), S. 230. 53 Vgl. einführend WORSTBROCK 2013 (Anm. 46) mit früherer Literatur; vgl. auch DERS. 1998 (Anm. 46). Grundlegend sind weiterhin die Untersuchungen des Heidelberger Gymnasiallehrers Karl Hartfelder aus dem 19. Jahrhundert, vgl. HARTFELDER, KARL: Werner von Themar, ein Heidelberger Humanist, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 33 (1880), S. 1–101; DERS. (Anm. 46), S. 28–32; DERS.: Adam Werner von Themar, in: Zeitschrift für Vergleichende Litteraturgeschichte NF 5 (1892), S. 214–31; Nachdrucke dieser und anderer Werke finden sich in HARTFELDER, KARL: Studien zum Pfälzischen Humanismus. Zum 100. Todestag ausgewählt, eingeleitet und mit einem Register hrsg. von WILHELM KÜHLMANN/HERMANN WIEGAND, Heidelberg 1993. Vgl. auch DERSCH, WILHELM: Der Heidelberger Humanist Adam Werner von Themar und seine Beziehungen zur hennebergischen Heimat, in: Neue Beiträge zur Geschichte deutschen Altertums 27 (1916), S. 1–58. 54 Vgl. WORSTBROCK 2013 (Anm. 46), Sp. 1277. 55 Zur Rolle Dalbergs vgl. WALTER, PETER: Inter nostrae tempestatis pontifices facile doctissimus. Der Wormser Bischof Johannes von Dalberg und der Humanismus, in: BÖNNEN, GEROLD/KEILMANN, BURKARD

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Zeit pflegen. Von seinen Vorlesungen zu antiken Schriftstellern (Persius, Juvenal, Statius, Vergil und Horaz), die er seit 1489 an der Heidelberger Artistenfakultät hielt, haben wir direktes Zeugnis durch drei mit Aufzeichnungen von Studenten versehene Vergildrucke, die sich heute in Heidelberg, Tübingen und Mailand befinden.56 Gleichzeitig begann Werner sein Jurastudium, das er mit dem Baccalaureus (1492), dem Lizentiat (1495) und dem Doktorat (1503) abschloss. Als Jurist hatte er wichtige öffentliche Ämter inne, blieb aber der akademischen Welt verbunden, war 1504 und 1510 Rektor der Universität und von 1522 bis zu seinem Tod 1537 Dekan der juristischen Fakultät. Bei den erhaltenen Übersetzungen handelt es sich um vier Dialoge, die den remedia utriusque fortunae Petrarcas entnommen sind und 1516 auf 8 Blättern gedruckt wurden,57 sowie um sechs Texte aus den Jahren 1502–1503 (darunter auch Vom lebenn Der Grossen herrn), die den Mittelteil des Cpg 298 (fol. 76ar–132v)58 einnehmen und von einer Hand in Bastarda geschrieben wurden. Bei dieser handelt es sich – wie sich aus Vergleichen mit anderen Autographen ergibt – um jene Adam Werners selbst.59 Die Übersetzungstexte fallen bereits in die fortgeschrittene Phase seiner literarischen Tätigkeit, denn von den lateinischen Werken Werners sind 12 Briefe erhalten, die unter anderem an Johannes Trithemius, Jakob Wimpfeling und Konrad Celtis gerichtet sind, sowie fast 230 carmina aus der Zeit zwischen 1485 und 1514, wobei seine Produktivität seit 1495 zurückging. Hinzu kommen zwei Unterrichtswerke (eine ars versificandi und eine ars carminum), die für seine Schüler in Neustadt (1488) gedacht waren und 2001 wiederentdeckt wurden.60 Aus verschiedenen Schriften lässt sich entnehmen, dass Adam Werner, der Konrad Celtis als seinen Lehrer ansah,61 das huma-

|| (Hrsg.): Der Wormser Bischof Johann von Dalberg (1482–1503) und seine Zeit, Mainz 2005 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 117), S. 89–152. 56 Vgl. DE ANGELIS, VIOLETTA: Note inedite di Adamo Werner di Themar alle Georgiche di Virgilio, in: Acme 54/2 (2001), S. 75–99; DIES.: Un umanista alla corte di Massimiliano I: Adam Werner di Themar, in: DIES. (Hrsg.): Sviluppi recenti nella ricerca antichistica, Mailand 2002 (Quaderni di Acme 54), S. 179–201; SCHLECHTER, ARMIN: Eine weitere Inkunabel aus dem Umfeld von Adam Werner von Themars Heidelberger Vergil-Vorlesung aus den Jahren 1495/96, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 33 (2008), S. 63–75. 57 Ein Faksimile findet sich in KNAPE, JOACHIM: Die ältesten deutschen Übersetzungen von Petrarcas Glücksbuch. Texte und Untersuchungen, Bamberg 1986 (Gratia. Bamberger Schriften zur Renaissanceforschung 15), S. 293–308. 58 Vgl. die Handschriftenbeschreibung bei MILLER, MATTHIAS/ZIMMERMANN, KARIN: Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 182–303), Wiesbaden 2005 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 6), S. 432–40. 59 Vgl. DÜCHTING, REINHARD: Hrothsvita von Gandersheim, Adam Werner von Themar und Guarino Veronese, in: Ruperto-Carola 15 (1963), S. 77–89, hier S. 89, Anm. 41. 60 Vgl. BRINZING, ARMIN: Kleinüberlieferung mehrstimmiger Musik vor 1550 in deutschem Sprachgebiet, Bd. 5: Neue Quellen zur humanistischen Odenkomposition in Deutschland, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen I. Philologisch-historische Klasse 8 (2001), S. 515–65. 61 Vgl. WORSTBROCK 2013 (Anm. 46), Sp. 1277.

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nistische Programm der translatio studiorum nach Deutschland teilte (vgl. etwa die Ode Ut Apollo ad Germanos veniat).62 In der Forschung sind die Übersetzungen Adam Werners zunächst meist mit der pädagogischen Tätigkeit am pfalzgräflichen Hof in Verbindung gebracht worden,63 der derzeitigen Auffassung zufolge waren sie aber wohl eher an den Herrscher selbst gerichtet.64 In jedem Fall kann man die Auswahl der Werke im Cpg 298 aus dem Repertoire der damals in Deutschland verbreiteten ›humanistischen‹ Schriften im Zusammenhang mit einem Bildungsprogramm verstehen, das vorwiegend auf die Vermittlung guter Ratschläge für das Leben im Sinne einer Moralphilosophie abzielt, wie dies auch für andere zeitgenössische Übersetzungen ins Deutsche angenommen wird. So lässt sich die Übertragung der berühmten ›Schwätzersatire‹ (satura I,9) des Horaz (fol. 130r–32v)65 als Aufforderung zur Zurückhaltung verstehen. Die Übersetzungen der 8. und der 10. Ekloge Vergils (fol. 122ar–29v)66 behandeln dagegen die unerfüllte Liebe und deren Folgen, und auch der Abraham Hrotsviths von Gandersheim (fol. 100ar–22r)67 wie die Elegie über die Jungfrau Alda (fol. 76ar–79r),68 wohl fälschlich Guarino Veronese zugeschrieben,69 warnen jeweils vor den Gefahren der Liebe. Bei dem HrotsvithText handelt es sich um die Übersetzung eines 1501 von Konrad Celtis publizierten, als Zeugnis einer eigenen deutschen Kultur Aufsehen erregenden Neufundes,70 wie Werner sagt, von eyner Cristlichen poetin [...] uß teutzscher Nation (fol. 101r). Bereits aus dem Entstehungszusammenhang der Hieron-Übersetzung Adam Werners ergeben sich also deutliche Hinweise darauf, dass diese als Teil seiner ›humanistischen‹ Lehrtätigkeit aufzufassen ist. Die Übertragung passt zudem gut ins kulturelle Klima am Hof Philipps des Aufrichtigen, an dem kurz zuvor zwei Fürstenspiegel entstanden waren, nämlich die Agatharchia und die Philippica des Jakob

|| 62 Vgl. HARTFELDER 1880 (Anm. 53), S. 41, Nr. 67. 63 Vgl. ZAENKER, KARL A.: Eyn hübsche Comedia Abraham genant. Hrotsvits von Gandersheim Abraham in der Übersetzung des Adam Werner von Themar, in: Mittellateinisches Jahrbuch 17 (1982), S. 217–29, hier S. 218. 64 Vgl. BACKES, MARTINA: Das literarische Leben am kurpfälzischen Hof zu Heidelberg im 15. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gönnerforschung des Spätmittelalters, Tübingen 1992 (Hermaea NF 68), S. 144f., und WORSTBROCK 2013 (Anm. 46), Sp. 1287. 65 Vgl. HARTFELDER (Anm. 46), S. 30–32. 66 Vgl. HARTFELDER 1880 (Anm. 53), S. 99–101, und DERS. (Anm. 43), S. 28–30. 67 Vgl. ZAENKER (Anm. 63), S. 221–29. 68 Vgl. DÜCHTING (Anm. 59), S. 83–86. 69 Vgl. BERTALOT, LUDWIG: Humanistisches in der Anthologia Latina, in: Rheinisches Museum für Philologie NF 66 (1911), S. 56–80, hier S. 63. 70 Vgl. CARDELLE DE HARTMANN, CARMEN: Die Roswitha-Edition des Humanisten Conrad Celtis, in: HENKES, CHRISTIANE [u. a.] (Hrsg.): Schrift – Text – Edition. FS Hans Walter Gabler, Berlin/New York 2003 (Beihefte zur editio 19), S. 137–47.

506 | Karl Gerhard Hempel Wimpfeling, die ebenfalls das Thema des richtigen Herrschens behandeln.71 Als ›Fürstenspiegel‹ gibt sich auch die schon erwähnte französische Übertragung des Xenophon-Textes durch Charles Soillot, bei welcher der gelehrte Übersetzer, wie unter anderem die beigegebenen Illustrationen zeigen, gewissermaßen die Rolle des Simonides im Originaltext einnimmt.72 Eine Interpretation, die auf den fürstlichen Adressaten und sein Leben abhebt, legt außerdem bereits der oben zitierte Widmungstext nahe. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, inwieweit sich diese Tendenzen auch in der Hieron-Übersetzung selbst nachweisen lassen bzw. sich auf diese und auf die Darstellung des Tyrannis-Themas ausgewirkt haben, wobei zunächst die Übersetzungstechniken und dann die Behandlung des Tyrannenbegriffs selbst zu diskutieren sein wird.73 Eine systematische Untersuchung zu den Charakteristika der Übertragungen Adam Werners, von dem keine expliziten Aussagen zu seiner Übersetzungstätigkeit auf uns gekommen sind, steht noch aus.74 Gegenstand von Studien waren bisher überwiegend die Übersetzungen nachklassischer Werke, während zu denen antiker Schriftsteller vor allem die Ausgaben HARTFELDERs heranzuziehen sind, der die Horazund Vergilgedichte großenteils publiziert und kommentiert hat. Nicht recht einig ist sich die Forschung, was die Beurteilung der Übersetzungen betrifft, doch erlauben es die verschiedenen Bemerkungen zumindest, sich einen ersten Überblick über seine Übersetzungstechniken und -strategien zu verschaffen. So wurde zur 1516 publizierten Petrarca-Übertragung bemerkt, dass diese von der ›Übersetzersprache‹ lediglich die zweigliedrigen Paarformeln beibehält und nicht der Syntax des Lateinischen folgt, wohl aber die Informationsstruktur des Ausgangstextes wiederzugeben sucht und dabei außerdem zielkulturelle Anpassungen und Aktualisierungen vornimmt.75 Von Hrotsviths Abraham hat man gesagt, dass Adam Werner hier lebendige Dialoge schreibe und »zum Herzen seiner Leser«76 spreche, wobei er auf die Wiedergabe des Versmaßes und auf gelehrte Kommentare verzichte, so dass der Zieltext stilistisch an || 71 Vgl. SINGER, BRUNO: Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Bibliographische Grundlagen und ausgewählte Interpretationen: Jakob Wimpfeling, Wolfgang Seidel, Johann Sturm, Urban Rieger, München 1981 (Humanistische Bibliothek. Abhandlungen 34), S. 173–249. 72 Vgl. SCHOYSMAN (Anm. 49) S. 244–48. 73 Die hier vorgestellten Überlegungen beruhen für die deutsche Übersetzung Adam Werners auf meiner Analyse des bislang bis auf seine Widmung unpublizierten Hieron-Textes im Heidelberger Cpg 298, für die lateinische Übersetzung Leonardo Brunis auf einem Text, den Michele Bandini (Potenza) kollationiert und mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, wofür ihm an dieser Stelle herzlich gedankt sei, und für das griechische Original auf Xenophon, Opera omnia, Bd. V, Opuscula, hrsg. von EDGAR CARDEW MARCHANT, Oxford 1920. 74 Vgl. DÜCHTING (Anm. 59), S. 81: »[e]ine Untersuchung der Übersetzungskunst Werners ist dringend erwünscht«. 75 Vgl. KNAPE (Anm. 57), S. 67–69. 76 ZAENKER (Anm. 60), S. 220f.

Der Begriff des ›Tyrannen‹ in Übersetzungen aus der Humanistenzeit | 507

die zeitgenössischen ›Volksbücher‹ erinnere. Dieselbe Übersetzung wurde anderenorts auch als »in jeder Hinsicht angemessen«77 eingestuft. Weniger positiv sind die Kommentare zu den Übersetzungen antiker Werke, die HARTFELDER klarer und verständlicher erschienen als diejenigen von Jakob Wimpfeling und Johannes Reuchlin, allerdings ohne dass Adam Werner, »der in der deutschen Sprache ein noch wenig angewandtes und ungelenkes Medium hatte, auch den eigentümlichen Color des Ausdruckes bei den übersetzten Schriftstellern schon wiedergeben konnte«.78 In neuerer Zeit tut WORSTBROCK Adam Werners Gedichtwiedergaben denn auch recht harsch als »Prosaübersetzungen ohne Anspruch und Kunst«79 ab, ein Urteil, das später allerdings in gewisser Weise wieder abgeschwächt wird, wenn er dessen Übertragungen im Allgemeinen als »an Treue und Verständlichkeit ausgerichtete, doch auch flüssige Übersetzungen«80 charakterisiert. In der Tat entsprechen die in Werners Hieron-Übertragung zu beobachtenden Techniken weitgehend dem, was in der Forschung bisher zu seinen anderen Übersetzungswerken bemerkt worden ist. Der Satzbau folgt deutscher Syntax, insbesondere werden Partizipialkonstruktionen normalerweise aufgelöst, und auch der Accusativus cum infinitivo erscheint in der Übersetzung – wie im heutigen Deutsch – nur bei verba sentiendi. Bei der Lexik werden Latinismen vermieden, so dass im Text nur conspiratz, possess, summa, regiment und legion auftreten, und zwar jeweils nur einmal und meist in Verbindung mit einer Erklärung durch ein Wort germanischen Ursprungs im Rahmen einer Paarformel. Häufiger belegt ist nur jtem, das aber aus der Kanzleisprache stammt und auch gar nicht durch ein Auftreten desselben im Ausgangstext bedingt ist. Der Text zielt vornehmlich auf Klarheit, eine Tendenz, die sich unter anderem in expliziten Formulierungen zeigt, so etwa beim Aufbau der Dialoge, bei dem der Name des jeweiligen Sprechers eingesetzt wird, um dem Leser die Orientierung zu erleichtern und das Zwiegespräch lebhafter und persönlicher wirken zu lassen. Was die ›Realia‹ betrifft, also solche Ausdrücke, die eng mit der Geschichte bzw. Kultur des Ausgangstextes verbunden sind, so werden diese von Werner ziemlich brüsk an die zeitgenössische Situation angepasst, wobei die Aktualisierungen in manchen Fällen auf der Grundlage einer bereits zuvor von Bruni durchgeführten ›Romanisierung‹ erfolgen. Der größte Teil der Bezüge auf die heidnische Religion ist im deutschen Text getilgt, so etwa Gottesanrufungen wie ναὶ μὰ τὸν Δία (oder ähnlich), die etwa zehn Mal bei Xenophon zu finden sind und von Bruni fast durchgängig durch mehercle ersetzt wurden. Andererseits fügt Werner manchmal Zusätze ein, die offensichtlich auf das Christentum abheben, so etwa bei Dann gib got glück, das das volck jm krig synen fÿnden oblÿct [...] (fol. 86v), das als Übersetzung für das lateinische Populi enim,

|| 77 DÜCHTING (Anm. 59), S. 82. 78 HARTFELDER (Anm. 46), S. 10. 79 WORSTBROCK, FRANZ JOSEF: Art. Vergil, in: 2VL, Bd. 10 (1999), Sp. 247–84, hier Sp. 270. 80 WORSTBROCK 1999 (Anm. 46), Sp. 918; DERS. 2013 (Anm. 46), Sp. 1287.

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si quando prelio commisso fuderint hostes [...] (II,15) fungiert. Jeglicher Hinweis auf die Homosexualität der Griechen wurde bereits von Bruni selbst unterdrückt (vgl. I,29–36), insbesondere wenn er den von Hieron bevorzugten Geliebten Δαΐλοχος unter dem Namen Dialocha feminisiert. Eine deutliche Kulturanpassung zeigt sich auch bei der Beschreibung einer Stadt in ihren Teilen, die im Griechischen aus Mauern, Tempeln, Häusern und Häfen besteht (XI,2: τείχεσί τε καὶ ναοῖς καὶ παστάσι καὶ ἀγοραῖς καὶ λιμέσι), im Lateinischen dagegen, wie es sich für eine römische urbs gehört, mit menibus, templis, porticibus, foris curiisque ausgestattet ist und im Deutschen schließlich mit kirchen / maühhern / greben thürmen etc. (fol. 98v). Bei der Beschreibung der politischen Binnenstruktur der griechischen Polis spricht Xenophon von einer Einteilung der einzelnen Städte αἱ μὲν κατὰ φυλάς, αἱ δὲ κατὰ μόρας, αἱ δὲ κατὰ λόχους, καὶ ἄρχοντες ἐφ᾽ ἑκάστῳ μέρει ἐφεστήκασιν (IX,5), Bruni latinisiert dies durch alie per tribus divise sunt, alie per classes, alie per centurias, alie item aliter, et cuique parti suus preest magistratus, während Werner wohl nur über einen begrenzten Wortschatz für eine derart feine Gliederung der Bürgerschaft verfügt und daher zusammenfassend übersetzt: fyn vßgeteylt durch jr zünfft / vnd jglich hat jr öberkeit vnd zunfftmeister (fol. 96r). Eine besonders auffällige kulturelle Anpassung, bei der gewissermaßen die Perspektive der Gesprächspartner selbst aktualisiert wird, findet sich an einer Stelle, wo Hieron über die Isolation des Tyrannen lamentiert, denn dieser müsse am Ende ee vertraühhen den frembden dann den sÿnen / vnd ee den walen dann den teützschen (fol. 91r). Bei Xenophon und Bruni (VI,5) bestand der Gegensatz allerdings zwischen Barbaren und Griechen (ἔτι δὲ ξένοις μὲν μᾶλλον ἢ πολίταις πιστεύειν, βαρβάροις δὲ μᾶλλον ἢ Ἕλλησιν bzw. potius alienis committere quam suis et barbaris quam Grecis). Diese Beobachtungen zu Syntax, Lexik und kultureller Anpassung zeigen deutlich, dass wir es mit einer auf die Bedürfnisse des Adressaten ausgerichteten Übersetzungsstrategie zu tun haben, die darauf abzielt, dem intendierten Leser das Verständnis zu erleichtern und ihm Identifikationsmöglichkeiten anzubieten. Darüber hinaus wird der Text gelegentlich auch durch längere Hinzufügungen ausgebaut, die darauf abzielen, die beabsichtigte ›Lehre‹ deutlicher hervortreten zu lassen, wie etwa im folgenden Beispiel, das aus dem letzten Teil des Textes stammt, in dem die ›gute‹ Herrschaft beschrieben wird: Illud quoque te decet, o Hieron, ne recuses rem tuam propriam in comuni utilitate velle consumere. Nam ut mea quidem fert opinio, longe oportunius decentiusque expenditur a tyranno in rem publicam quam in privatam (XI,1). furbas o konig hieron wil ich dir noch eyn gut lere gebenn / Dü selt dich nit widernn / Dann eß zimbt sich auch / dastü alle dyn eygen gut vnd habe / wollest für den gemeynen nütz dar streckn vnd vßgeben / Dann mich bedünckt / Eß ist auch alßo / das der gemeyn nütz gar vil übertrifft den eygen sündern nütz / vnd das ein grosßer herr gar vil nützlicher / den gemeynen nütz / dann syn eygen zu vor hab (fol. 98r/v).

Ins Auge sticht hier zunächst, dass das unpersönliche decet im ersten Teil so erweitert wird, dass beide Sprecher explizit genannt sind (ich dir) und die ›pädagogische‹ Zielsetzung herausgestellt wird (eyn gut lere gebenn). Im zweiten Teil findet sich dagegen

Der Begriff des ›Tyrannen‹ in Übersetzungen aus der Humanistenzeit | 509

die auch im heutigen Deutsch in ähnlicher Form noch oft zitierte Maxime das der gemeyn nütz gar vil übertrifft den eygen sündern nütz, gewissermaßen eine Anleihe beim ›Volksmund‹, durch die aber auch die Verbindung zum Tyrannen-Diskurs hergestellt wird, denn die Orientierung am Gemeinwohl wird üblicherweise als entscheidendes Merkmal für die Unterscheidung zwischen ›guten‹ und ›schlechten‹ Herrschern angeführt, wie etwa in diesem Beispiel aus dem Jahre 1432: Das erst ist so ainer regniert der da gůtt dar zů ist, und den gemainen nutz sůcht mer den sein aygen nutz, und der hayßt ain küng. Aber wer da sůcht nun sein nutz und nit den gemainen, der 81 hayßt von recht nit ein küng, aber ein tyrann und ain wůthrich.

Auffällig ist zudem, dass Werner an Stellen wie dieser den Ausdruck grosßer herr verwendet, der bei anderen Übersetzern bisher nicht belegt, als Bezeichnung für Herrschende aber durchaus üblich ist.82 Dadurch wird einerseits die Bezeichnung tirann vermieden, andererseits aber auch ein Bezug zu Pfalzgraf Philipp hergestellt, der in der oben angeführten Widmung insgesamt drei Mal als Herr apostrophiert wird. Bei einer systematischen Durchsicht des Gesamttextes von Werners Hieron-Übersetzung und einem Vergleich mit den früheren Textversionen zeigt sich, dass das Auftreten von Belegen aus der Wortfamilie τυρανν-/tyrann-/tirann- in der Übersetzung Brunis zahlenmäßig in etwa dem bei Xenophon entspricht, diese in der deutschen Übertragung hingegen auf etwa ein Viertel reduziert erscheinen (siehe Tab. 1). Tab. 1: Xenophon: Hieron: Wortfamilie τυρανν-/tyrann-/tirann- – Anzahl der Okkurrenzen in den verschiedenen Textversionen des Hieron

Xenophon

Leonardo Bruni

Adam Werner

τύραννος: 76

tyrannus: 82

tirann: 21

τυραννίς: 8

tyrannis: 11

tiranney: 2

τυραννικός: 2

tyrannicus: 2



τυραννεῖν: 3 τυραννούμενοι: 1 τυραννευόμενοι: 1

– – –

– – –



tyrannicida: 1



|| 81 Benutzte Ausgabe: Das goldene Spiel von Meister Ingold, hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Straßburg 1882, S. 6. Vgl. auch Albrecht von Eyb (Anm. 18), S. 353–58. 82 So gibt es z. B. acht Belege in einem astromedizinischen Hausbuch von 1485: Gotha, Forschungsbibliothek der Universität Erfurt, Cod. Chart. B 1238, Digitalisat online unter: http://www.deutschestextarchiv.de/dtaq/book/show/nn_sammelhandschrift_1485 (Abrufdatum: 26.05.2020), vgl. etwa fol. 18r: so ist gut reden mit kunigen / vnd mit grossen herren; fol. 23r: werden sterben / die fursten / vnd die grossen herren.

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Dies bedeutet, dass Bruni für die verschiedenen Bezeichnungen mit dem Stamm τυρανν-, die er im griechischen Originaltext vorgefunden hat, praktisch durchgängig die bereits im klassischen Latein verbreiteten Fremdwörter tyrannus, tyrannis usw. benutzt, während Werner offenbar eine genuin germanische bzw. schon längere Zeit ins Deutsche eingebürgerte Lexik bevorzugt. Betrachtet man die in der deutschen Version für Brunis tyrannus gewählten Übersetzungen im Einzelnen (siehe Tab. 2), so zeigt sich, dass der bereits im soeben besprochenen Beispiel verwendete Ausdruck grosßer herr gewissermaßen als Standardübersetzung dient und manchmal auch ohne das Adjektiv (also nur als herr) auftreten kann. Gelegentlich wird er durch das Adjektiv gewaltig erweitert oder zusammen mit könig in einer Paarformel verwendet. Sehr viel seltener als (grosßer) herr tritt dagegen das Wort tirann auf, das allerdings manchmal auch wieder mit ersterem kombiniert werden kann. Tab. 2: Adam Werner: Xenophon: Hieron: Übersetzungen von tyrannus

großser herr

I,13; I,19; I,21; I,22; I,28; I,29; I,30; I,31; I,37; I,38; II,6; II,7; II,7; II,8; II,11; II,12; II,12; III,1; III,6; III,8; IV,1; IV,6; IV,7; IV,7; IV,8; IV,9; IV,9; IV,11; V,1; V,2; V,2; V,2; VII,2; VIII,2; VIII,8; XI,1

Herr

I,15; I,17; II,14; II,14; II,17; VII,2; XI,6; XI,6

gewaltiger großser herr

I,8; I,11

könig

I,1; I,2; VIII,10

könig und großser herr

I,7; I,14; IV,6

grosßer könig und herr

IV,6

gewaltiger könig und grosßer herr

I,11

Tirann

IV,5; V,3; V,3; VI,8; VI,8; VI,11; VI,11; VI,13; VI,15; VII,10

tirann ader grosser herr

VI,13 ; VI,13

tirann und grosser herr

VI,10

tirann und grosßer gewaltiger herr

VII,12

grosßer herr und tirann

IV,5

tiranney ader grosßer gewalt und herschafft (Übersetzung von esse tyrannum)

VII,11

nicht übersetzt

I,13; I,18; I,18; I,24; I,24; IV,9; VI,14; VII,5

Die Übersetzung von tyrannis erscheint im Text dagegen weniger stabil, doch lässt sich sagen, dass überwiegend herrschafft und gewalt auftreten, die meist wieder durch Adjektive erweitert werden oder gemeinsam in einer Paarformel erscheinen. Nur einmal belegt ist dagegen tyranney (siehe Tab. 3).

Der Begriff des ›Tyrannen‹ in Übersetzungen aus der Humanistenzeit | 511

Tab. 3: Adam Werner: Xenophon, Hieron: Übersetzungen von tyrannis und ähnlichem

grosse herschafft

I,9

großer gewalt

II,3

weltlich gewalt

II,4

tyranney

V,3

so ich ein grosßer herr bin (Übersetzung von in tirannide)

V,I,1

regiment

V,II,4

herschafft und gewalt

V,II,12

grosße gewalt und herschaft

V,III,1

grosßer herschender gewalt

V,III,1

(nicht übersetzt)

V,III,6

das königlich herrschende Leben (Übersetzung von vita tyrannica)

I,7

Für unsere Untersuchung ist die Verteilung der Ausdrücke im Text von besonderem Interesse, denn es lässt sich zeigen, dass die Okkurrenzen keineswegs zufällig sind, sondern mit semantischen Unterschieden in Zusammenhang gebracht werden können. So sticht sofort ins Auge, dass die Wörter tirann und tiranney im ersten Teil und im letzten Teil des Textes überhaupt nicht auftreten, sondern sich auf einige wenige Sätze im mittleren Teil (IV–VII) konzentrieren, in denen vor allem das mangelnde Vertrauen zwischen dem Tyrannen und seinen Untertanen bzw. seinen Leibwächtern thematisiert wird, die ihn auch umbringen könnten. Als besonders erhellendes Beispiel zitiert sei zunächst die Textstelle, an welcher der Begriff tirann zum erste Mal in der Übersetzung vorkommt und die auf den Tyrannenmord-Diskurs abhebt: τοῖς δὲ τυράννοις καὶ τοῦτο ἔμπαλιν ἀνέστραπται. ἀντὶ γὰρ τοῦ τιμωρεῖν αἱ πόλεις αὐτοῖς μεγάλως τιμῶσι τὸν ἀποκτείναντα τὸν τύραννον, καὶ ἀντί γε τοῦ εἴργειν ἐκ τῶν ἱερῶν, ὥσπερ τοὺς τῶν ἰδιωτῶν φονέας, ἀντὶ τούτου καὶ εἰκόνας ἐν τοῖς ἱεροῖς ἱστᾶσιν αἱ πόλεις τῶν τοιοῦτόν τι ποιησάντων. (IV,3) Tyrannis vero omnia contra. Primo enim pro penis quibus afficiuntur ii qui civem necarint premia proposita sunt tyrannicidis; pro pollutione sacrisque prohiberi statue in templis deorum immortalium collocantur. (IV,3) Diße ding synt gegen den Grosßen herrn vnd Tirannen gantz verkeret vnd widerwertig Dann ertödet eyner eyenen bürger / so wirt er hoch vnd schwere gestrafft Todet eÿner aber eynen Tirannen / So wirt er hoch begabt vnd zu ewigem gedechtnis wird Jm seüle jm tempel vffgericht (fol. 88r/v).

Der Tyrannenbegriff wird von Werner bezeichnenderweise mit einer Paarformel in den Text eingeführt, die einerseits das lexikalische Verständnis selbst sichert, andererseits aber auch den Zusammenhang mit dem bisher Gesagten herstellt und dieses erweitert: Der Leser erfährt hier, dass ein grosßer herr manchmal auch ein tirann sein

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kann. Besonders stark konzentriert treten Ausdrücke, die sich auf Tyrann und Tyrannis beziehen, an jener Stelle auf, die nach einigen Abschnitten auf die zuvor zitierte folgt und an der die Distanz des Tyrannen zu seinem Land beschrieben wird: ἔτι δὲ φιλόπολιν μὲν ἀνάγκη καὶ τὸν τύραννον εἶναι: ἄνευ γὰρ τῆς πόλεως οὔτ᾽ ἂν σῴζεσθαι δύναιτο οὔτ᾽ εὐδαιμονεῖν: ἡ δὲ τυραννὶς ἀναγκάζει καὶ ταῖς ἑαυτῶν πατρίσιν ἐνοχλεῖν. οὔτε γὰρ ἀλκίμους οὔτ᾽ εὐόπλους χαίρουσι τοὺς πολίτας παρασκευάζοντες, ἀλλὰ τοὺς ξένους δεινοτέρους τῶν πολιτῶν ποιοῦντες ἥδονται μᾶλλον καὶ τούτοις χρῶνται δορυφόροις. (V,3) Preterea, cum sine civitate nec florere nec salvus esse possit tyrannus, civitatis amatorem esse illum necesse est; tyrannis vero ipsa talis est, ut patriam quoque odio habere cogat: neque enim leto vultu aspicere potest tyrannus cives suos vel bene armatos vel magno ingenio preditos, sed extraneos quam cives prestantiores videre cupit, illosque ad sui corporis custodiam habet. (V,3) Furbas sag jch Dwÿl aber eyn Tirann on stadt vnd vnderthan nit syn noch blyben kan. Jst not das er sie lieb hab Nü ist Tirannÿ der art / das sie auch zwingt das vatterlandt zu hassen Es mag auch ein Tirann mit frolichem amplick syn burger wol gerüst vnd gewappet nit ansehen / der glychen auch die do synt grosßer vßbundiger vernünfft / Sonder begert fremde vslender vil lieber dann syn bürger also zü sehen / die selben bestellt er aüch vff synen lyap zü warten / (fol. 90r).

Die Beispiele zeigen, dass Adam Werner die Ausdrücke aus der Wortfamilie tiranngezielt dort einsetzt, wo im Text eindeutig die höchstmögliche Entfremdung des Alleinherrschers von seiner politischen Funktion dargestellt ist. Durchgängig verwendet werden diese Bezeichnungen allerdings nur in VI, ansonsten wechseln sie sich weiterhin mit grosßer herr und dessen Varianten ab, die ab VIII bis zum Ende des Textes wieder bevorzugt verwendet werden. Es hat daher den Anschein, dass tirann nur dann verwendet wird, wenn der Übersetzer sich durch den Textzusammenhang gewissermaßen dazu gezwungen sieht. Denkbar ist dabei auch, dass Werner, der – wie gelegentliche Korrekturen im Text zeigen – sukzessive übersetzt, den Begriff ursprünglich gar nicht einsetzen wollte und ihn dann im Zusammenhang mit dem Tyrannenmord benutzen musste. Das Gegenstück zu tirann scheint der – als Bezeichnung für Hieron aus historischer Sicht wohl eher problematische – Begriff könig darzustellen, der bei Werner niemals mit tirann zu einer Paarformel verbunden wird. Der Ausdruck kommt überwiegend am Anfang des Textes vor, so etwa dann, wenn Hieron zum ersten Mal eingeführt wird (I,1), außerdem manchmal beim Sprecherwechsel, aber auch in VIII,10, wo die gute Regierung behandelt und dem glücklichen Herrscher gegenüber fast schon panegyrische Töne angeschlagen werden. Betrachten wir die lexikalischen Übersetzungsentscheidungen Werners bei der Wiedergabe von Ausdrücken aus der Wortfamilie τύρανν- bzw. tyrann- in ihrem Gesamtzusammenhang, so lässt sich ablesen, dass er mehr oder weniger neutralen Bezeichnungen wie grosßer herr, herrschaft bzw. gewalt insgesamt den Vorzug gibt, vermutlich deshalb, weil diese eher interpretationsoffen sind und damit an den meisten Stellen im Text problemlos eingesetzt werden können. Diese Ausdrücke übernehmen

Der Begriff des ›Tyrannen‹ in Übersetzungen aus der Humanistenzeit | 513

damit in weiten Teilen die ambivalente Funktion von τύραννος/τυραννίς bzw. tyrannus/tyrannis bei Xenophon bzw. Bruni, die durch die deutschen Lehnwörter tirann oder tiranney nicht hätte ausgedrückt werden können. Darüber hinaus zeigt sich, dass in der Übersetzung dort von tirann bzw. tiranney die Rede ist, wo die Situation eines Herrschers beschrieben wird, der seiner Verzweiflung erliegt und damit seinen Aufgaben nicht mehr gerecht werden kann. Dies bedeutet, dass der Übersetzer in bestimmten Zusammenhängen eine Desambiguierung der Begrifflichkeit für erforderlich hält; gleichzeitig wird dadurch die eher negative Besetzung der Ausdrücke aus der Wortfamilie tirann- in der Zeit um 1500 indirekt bestätigt. Auffällig ist dabei aber auch, dass das Synonym wüterich im gesamten Text überhaupt nicht auftritt, möglicherweise deshalb, weil es sich durch eine noch eindeutiger negative Konnotation auszeichnet, die einer positiven Auffassung von Alleinherrschaft vielleicht abträglich gewesen wäre. An ausgewählten Stellen gezielt positiv eingesetzt wird dagegen könig. Schlussfolgern lässt sich also, dass Adam Werner von Themar sich als Übersetzer der Polyvalenz des Tyrannenbegriffs in Xenophons Hieron bewusst war und seine Lexik dementsprechend dem Text bzw. den jeweiligen Textstellen angepasst hat, gleichzeitig aber auch die Identifikationsbedürfnisse seines Adressaten im Auge behalten musste. Bei einem Übersetzungstext, der einem kurfürstlichen Gönner als Lehrstück dienen soll, wäre der Ausdruck etwa einer kritischen Haltung gegenüber monarchischer Herrschaft als solcher kaum denkbar gewesen, sondern eben nur die Unterscheidung zwischen glücklichen und unglücklichen Herrschern. Die Ambiguität des Tyrannenbildes im Originaltext bleibt damit im Wesentlichen auch in der Übersetzung erhalten, allerdings geht an manchen Stellen durch die differenzierte Wortwahl Werners der eigentliche Clou verloren, nämlich der Umstand, dass es eben stets derselbe ›Tyrann‹ ist, der entscheiden muss, wie er seine Herrschaft ausgestalten will.

4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Übersetzer, Tyrannen und Fürsten Am Anfang der hier vorgestellten Ausführungen stand die Problematik des polyvalenten Charakters des Begriffs des ›Tyrannen‹, der für den frühneuhochdeutschen Übersetzer konnotativen ›falschen Freunde‹ tyrannus/tyrannis bzw. τύραννος/τυραννίς usw. und deren übersetzerische Behandlung in der zweiten Hälfte des 15. und am Beginn des 16. Jahrhunderts. Aus den Analysen ergibt sich zunächst, dass tyrann bzw. tyrannei die übliche Wahl der Übersetzer darstellen (nicht selten wird auch wüterich benutzt), wobei in der Übertragung in der Regel eine pejorative Bedeutung hervortritt, die meist schon im Ausgangstext angelegt war, dem Übersetzer aber auch der auktorialen Positionierung dienen kann. Darüber hinaus werden tyrann, tyrannei und tyrannisch in Übersetzungstexten häufig auch dort in den Text eingefügt, wo in der Vorlage keine entsprechende verwandte Lexik auftritt. Ziel des Übersetzers ist in diesen

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Fällen, dem Leser durch eine eindeutige Wertung eine Verständnishilfe zu bieten. Hinzu kommt die Verwendung zur Wiedergabe anderer ausgangssprachlicher Begriffe als tyrannus/tyrannis bzw. τύραννος/τυραννίς, die aber stets auf die Grausamkeit von Alleinherrschern abheben. Dieser Befund zeigt, dass sich im untersuchten Zeitraum eine eindeutig negative Konnotation des Begriffs tyrann/tyrannei herausgebildet hat, deren sich die Übersetzer bewusst sind, so dass sie ihre Übersetzungsentscheidungen entsprechend ausrichten. Nur selten treten in den Übersetzungstexten dagegen andere, positive Begriffe als Übersetzungen für Begriffe aus der Wortfamilie tyrann-/τυρανν- auf (so etwa herrschung, gewalt, fürst), wobei sich insbesondere in Übersetzungen Matthias Ringmanns, die mit dem Leben Cäsars in Zusammenhang stehen, eine gezielte Vermeidung negativer Wertungen beobachten lässt, die der promonarchischen Gesamttendenz von Ringmanns Werk entspricht. In einer ausführlichen Fallstudie zu der Philipp dem Aufrichtigen gewidmeten Übersetzung von Xenophons Hieron durch den Heidelberger Humanisten Adam Werner von Themar (auf Grundlage der lateinischen Übersetzung Leonardo Brunis) konnte anschließend dargestellt werden, wie bei einem besonders komplexen Text, der gerade die Polyvalenz des ›Tyrannen‹-Begriffs in den Mittelpunkt rückt, eine hochdifferenzierte Behandlung der Lexik erforderlich ist, wobei der Übersetzer je nach Textzusammenhang von verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten Gebrauch macht. So wechselt Werner verschiedentlich zwischen Ausdrücken wie (grosßer) herr, könig und tyrann bzw. herschaft, gewalt und tyrannei, die auch miteinander kombiniert werden, um jeweils den entsprechenden Aspekt der Alleinherrschaft zu thematisieren. Damit zeigt sich, dass es für τύραννος/τυραννίς, wenn diese Begriffe denn in einem politisch-philosophischen Text der griechischen Klassik auftreten, der die vielschichtige Problematik des Lebens eines ›Tyrannen‹ zum Gegenstand hat, zumindest für das Frühneuhochdeutsche, das keinen wertneutralen Ausdruck für die Alleinherrschaft kennt, eben doch keine Standardübersetzungen geben kann. Daher ist der τύραννος letztlich ein tirann und grosßer gewaltiger Herr.

Johannes Klaus Kipf

Martin Luther und die Wortfamilie ›Tyrann(ei)‹ Die Geschichte der Wortfamilie ›Tyrann, Tyrannei, Tyrannis‹ in der deutschen Sprache ist für die Geschichte des Herrschaftskonzepts der Tyrannis in Mittelalter und Früher Neuzeit fraglos von zentraler Bedeutung, auch wenn die politische Theoriediskussion im engeren Sinne auch im 16. Jahrhundert vorwiegend in lateinischer Sprache stattfindet. Da Wort-, Begriffs- und Sachgeschichte in sämtlichen historischsemantischen Kontexten generell nur theoretisch, nie aber in der praktischen Untersuchung zu trennen sind,1 ist die Wortgeschichte in den unterschiedlichen Sprachen unmittelbar relevant für die Geschichte dieses politischen Konzepts. In der Frühen Neuzeit erlebt der Begriff ›Tyrannis‹ »einen fundamentalen Wandel«2 in der Folge des Aufkommens neuer politischer Kategorien wie der Souveränität und der Staatsräson im 16. Jahrhundert. Während das politische Denken in Antike und Mittelalter weitgehend der aristotelischen Definition der Tyrannis als einer Herrschaft, die weder durch Gesetze noch durch die Tugendhaftigkeit der Herrschenden eingeschränkt wird, folgt,3 negieren wichtige Theoretiker des Staates wie Jean Bodin oder Giovanni Botero einen nennenswerten Unterschied zwischen verschiedenen Formen der Herrschaft, so dass (etwa bei Thomas Hobbes) die Tyrannis letztlich zu einem Synonym der Souveränität werden kann.4 Luther steht in dieser Entwicklung fraglos auf der Seite der mittelalterlichen und aristotelischen Tradition, auch wenn er – wie wir sehen werden – dem Begriff neue Kontexte erschließt. Die Rolle des Begriffs bei einem Publizisten wie Martin Luther,5 der für den deutschen und den gesamten zentraleuropäischen Raum nicht nur in theologischen Fragen, || 1 Vgl. zum hier zugrundeliegenden Verständnis der historischen Semantik BUSSE, DIETRICH: Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987 (Sprache und Geschichte 13); DERS.: Begriffsgeschichte oder Diskursgeschichte? Zu theoretischen Grundlagen und Methodenfragen einer historischsemantischen Epistemologie. In: DUTT, CARSTEN (Hrsg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003 (Beiträge zur Philosophie, NF), S. 17–38. 2 SARACINO, STEFANO: Tyrannis und Tyrannenmord bei Macchiavelli. Zur Genese einer antitraditionellen Auffassung politischer Gewalt, politischer Ordnung und Herrschaftsmoral, München 2012 (Humanistische Bibliothek I, 62), S. 11. 3 Vgl. MANDT, HELLA: Art. Tyrannis, Despotie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6 (1990), S. 651–706, vor allem S. 662–64. Zu Aristoteles vgl. auch KAMP, ANDREAS: Die aristotelische Theorie der Tyrannis, in: Philosophisches Jahrbuch 92 (1985), S. 21–34. 4 Vgl. ebd., S. 13f. Zum weiteren Kontext vgl. TURCHETTI, MARIO: Tyrannie et Tyrannicide de l’Antiquité jusqu’à nos jours, Paris 2001 (Fondements de la politique. Série ›Essais‹). 5 Vgl. zu Luthers Rolle in der Geschichte der deutschen Sprache den souveränen Überblick bei BESCH, WERNER: Luther und die deutsche Sprache. 500 Jahre deutsche Sprachgeschichte im Lichte der neueren Forschung, Berlin 2014. https://doi.org/10.1515/9783110752373-022

516 | Johannes Klaus Kipf sondern auch im politischen Bereich von unabsehbarer Bedeutung ist,6 ist im vorliegenden Kontext, der Mittelalter und Frühe Neuzeit zugleich in den Blick nimmt, vor allem für die Geschichte der Lehnwortfamilie ›Tyrannei‹ in der deutschen Sprache von zentralem Interesse. Luther hat nämlich, ohne ein politischer Denker sein zu wollen, aufgrund der immensen politischen Auswirkungen der Reformation einen Beitrag zur politischen Theorie geleistet.7 Da Luthers öffentliche Wirksamkeit (1517–1546) jedoch v o r wichtigen Umbrüchen der politischen Theorie hinsichtlich der Tyrannislehre in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten des 17. Jahrhunderts liegt,8 ist seine Bedeutung für die Diskursgeschichte der Tyrannei in erster Linie im Transfer der traditionellen Begriffsverwendung in die Volkssprache zu sehen und nicht in der Neudefinition des Begriffs oder in einem genuinen Beitrag zur politischen Theorie. Bevor jedoch Luthers Gebrauch der Lehnwortfamilie näher betrachtet wird, soll die Einbürgerungsgeschichte der Wortsippe ›Tyrann(ei)‹ in der deutschen Sprachund Kulturgeschichte vor Luther skizziert werden, so dass der sprachhistorische Zustand, den Luther vorfand und an den er anknüpfen konnte, erkennbar wird. Auf diese Einleitung folgen in einem zweiten Abschnitt repräsentative Beispiele zu Luthers Verwendung der Wortfamilie. Ein Seitenblick auf weitere deutsche Autoren des Reformationsjahrhunderts neben und nach Luther wird andeuten, wie der Einbürgerungsprozess weiter verlief.

1 Zur Fremdwortfamilie ›Tyrannei‹ im Deutschen Unter ›Tyrann‹ wird im gegenwärtigen Sprachgebrauch ein Mensch verstanden, der Herrschaft oder eine andere Form von Gewalt unrechtmäßig oder unkontrolliert von Regeln wie Gesetzen oder der Verfassung ausübt, ein Gewaltherrscher oder Despot.9 Die Wortfamilie ›Tyrann, tyrannisch, Tyrannei, tyrannisieren‹ und Verwandtes be-

|| 6 Vgl. dazu etwa SCHMIDT, GEORG: Luthers Freiheitsvorstellungen in ihrem sozialen und rhetorischen Kontext (1517–1521), in: KORSCH, DIETRICH/LEPPIN, VOLKER (Hrsg.): Martin Luther – Biographie und Theologie, 2., durchges. und verb. Aufl., Tübingen 2017, S. 9–30. 7 Vgl. dazu zuletzt umfassend HECKEL, MARTIN: Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den ›Schwärmern‹, Tübingen 2016 (Jus ecclesiasticum 114), vor allem S. 489–755 (»Luthers Haltung zu den politischen Kräften und Konflikten seiner Zeit«). 8 Vgl. SARACINO (Anm. 2), S. 11–14. 9 Vgl. neben vielen Wörterbüchern der Gegenwartssprache vor allem Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von HANS SCHULZ, fortgeführt von OTTO BASLER, weitergeführt im Institut für deutsche Sprache, bearb. von ALAN KIRKNESS [u. a.], Bd. 5, Berlin/New York 1981, S. 565; MANDT (Anm. 3), vor allem S. 704–06.

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zeichnet eine Gruppe von Schlag- bzw. Stigmawörtern.10 Ihr Weg in die deutsche Sprache ist bisher nur in lexikographischen Erhebungen erforscht und nur in groben Zügen bekannt;11 eine detaillierte Wortgeschichte im Deutschen ist ein Desiderat.12 Bereits im klassischen Latein wurde der zunächst neutrale Begriff tyrannus in erster Linie als politisches »Schlagwort«13 gebraucht. »[A]llein in der schon im lat. vorherrschenden pejorativen bedeutung ›gewaltherrscher, despot‹«14 wurde der lateinische Begriff tyrannus mit seinen Derivaten in die europäischen Volkssprachen, darunter ins Deutsche, entlehnt.15 Dieser Entlehnungsprozess war um 1520, als Luther an die Öffentlichkeit trat und sehr rasch berühmt wurde, weitgehend abgeschlossen. Die frühesten Belege für die Entlehnung von tyrann(e) bzw. tyrannie setzen im 14., vielleicht schon im späten 13. Jahrhundert für die verschiedenen Lemmata der Wortfamilie ein. Der früheste bekannte Beleg für mhd. tyrann(e) findet sich bei Heinrich von Mügeln im Epimythion einer Fabelbearbeitung (um 1360).16 Das niederdeutsche Lehnwort tyranne findet sich erstmals bei Johannes von Brakel (vor 1361).17 Das Abstraktum tirannie ist ebenfalls zuerst niederdeutsch durch Gerhards von Minden Wolfenbütteler Äsop gesichert,18 in einem Text, der auf 1370 datiert wird.19 Nach 1400 nimmt die Belegdichte

|| 10 Vgl. zum Schlagwortbegriff in historischer Dimension DIEKMANNSHENKE, HANS-JÜRGEN: Die Schlagwörter der Radikalen der Reformationszeit (1520–1536). Spuren utopischen Bewußtseins, Frankfurt a. M. [u. a.] 1994 (Europäische Hochschulschriften I, 1445), S. 8–23. 11 Vgl. MANDT (Anm. 3) und GOEBEL, ULRICH [u. a.] (Hrsg.): Frühneuhochdeutsches Wörterbuch [FWB], Bd. 5/1, Berlin/Boston 2016, Sp. 1991–96, online unter: http://fwb-online.de/go/tyran.s.0m_1604921496 (Abrufdatum: 15.12.2020). 12 Den aktuell umfassendsten Überblick gibt KIPF, JOHANNES KLAUS: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses in die deutsche Sprache und Literatur (14.–17. Jahrhundert), in: KÄMPER, HEIDRUN/ KILIAN, JÖRG (Hrsg.): Wort – Begriff – Diskurs. Deutscher Wortschatz und europäische Semantik, Bremen 2012 (Sprache – Politik – Gesellschaft 7), S. 31–48. Die Ausführungen in diesem Abschnitt basieren auf den dort gesammelten Belegen. 13 MANDT (Anm. 3), S. 658. 14 ERBEN, JOHANNES: Art. Tyrann [etc.]. In: DWb, Bd. XI,1,2 (1952), Sp. 1967–96, hier Sp. 1967. 15 Vgl. STAMMLER, WOLFGANG: Politische Schlagworte in der Zeit der Aufklärung [1948], in: DERS.: Kleine Schriften zur Sprachgeschichte, Berlin [u. a.] 1954, S. 48–100, vor allem S. 67–72. 16 Benutzte Ausgabe: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln, hrsg. von KARL STACKMANN, 1. Abt.: Die Spruchsammlung des Göttinger Cod. philos. 21, 3 Bde., Berlin 1959 (DTM 50–52), hier Bd. 2, Buch IV, Nr. VIII, V. 15: die rîchen und tyrannen sint gerecht den armen selden. Ein früheres Zeugnis für den Gebrauch des lateinisch flektierten Fremdworts tyrannus in einem Anhang zu Ulrichs von Etzenbach Alexander erwähnt Mathias Herweg im vorliegenden Band. 17 Benutzte Ausgabe: Aegidius Romanus: De regimine Principum. Eine mittelniederdeutsche Version, untersucht und hrsg. von AXEL MANTE, Lund 1929, S. 7. 18 Benutzte Ausgabe: Die Fabeln Gerhards von Minden in mittelniederdeutscher Sprache, hrsg. von ALBERT LEITZMANN, Halle 1898, Nr. 19, V. 19f.: siner tirannien niht / he kan vorgeten, dat is slicht. 19 Zur Datierung von Gerhards von Minden unikal überlieferten Wolfenbütteler Äsop (im Magdeburger Äsop datiert auf 1370) vgl. demnächst KIPF, JOHANNES KLAUS: Gerhard von Minden und die Anfänge einer mittelniederdeutschen Literatur, erscheint in: Wolfram-Studien 28 (2021).

518 | Johannes Klaus Kipf dann rasch zu.20 Das Abstraktum tyranney dagegen ist im 15. Jahrhundert nur selten vertreten und findet sich erst ab 1520 häufiger.21 Das Adjektiv tyrannisch ist zuerst bei Anton von Pforr im Buch der Beispiele der alten Weisen (1477) bezeugt,22 mehrfach danach in Chroniken und historisch-politischen Einblattdrucken ab 1500, das Verb tyrannizieren zuerst in Johannes Paulis Schimpf und Ernst (postumer Druck 1522).23 Regelmäßig wird das Lehnwort in erklärende syn- oder homoionyme Paarformeln eingebettet.24 Bisweilen definieren die frühen Verwender das Fremdwort, wie Meister Ingold in seinem Goldenen Spiel von 1432.25 Auch werden Paarformeln und Definitionen gemeinsam verwendet, etwa bei Georg Spalatin in seiner Übersetzung der Institutio principis christiani des Erasmus von Rotterdam (1521), der den vnderschaid vnder dem fürsten vnd tyrann oder wütrich mit einem Vergleich zwischen dem gütigen vater vnd vnbarmherzigen herrn erläutert.26 Die Übersetzer waren sich offenbar bewusst, eine ungebräuchliche Vokabel einzuführen, die den Rezipienten erklärt werden musste. Auch in der Lexikographie des 14.–16. Jahrhunderts wird der Begriff häufig in Opposition zum rechtmäßigen König oder Fürsten (rex, princeps) und durch Angabe des Synonyms wüetrich erklärt, etwa bei Johannes Melber (um 1478), in der Gemma Gemmarum (1508) oder bei Petrus Dasypodius (1535).27 Die Lemmata in den Wörterbüchern zeigen, dass das Lehnwort um 1500 bereits eingebürgert ist: Es kann mit deutscher Flexion und deutschem Artikel als Interpretament des lateinischen Lemmas dienen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, etwa in Johannes Geilers von Kaysersberg Predigten über Sebastian Brants Narrenschiff (gehalten 1498; postumer Druck 1520) oder in der anonymen Historia von dem Kayser Friderich der erst seines namens (1519), ist tyrann bereits ein eingebürgertes Lehnwort, das nicht mehr notwendig der Erklärung bedarf.28

|| 20 Vgl. ERBEN (Anm. 14), Sp. 1974f. 21 Vgl. FWB (Anm. 11), Sp. 1994. 22 Benutzte Ausgabe: Anton von Pforr: Das Buch der Beispiele der alten Weisen, kritisch hrsg. von FRIEDMAR GEIßLER, 2 Bde., Berlin 1964–1974 (Institut für Orientforschung. Veröffentlichung 61), Bd. 1, S. 54, Z. 36. 23 Benutzte Ausgabe: Johannes Pauli: Schimpf und Ernst, hrsg. von JOHANNES BOLTE, 1. Tl.: Die älteste Ausgabe von 1522, Berlin 1924, S. 119, Z. 32. 24 Vgl. KIPF (Anm. 12), S. 37. 25 Vgl. ebd., S. 38. 26 Zitiert nach KIRKNESS [u. a.] (Anm. 9), S. 566. 27 Vgl. ERBEN (Anm. 14), Sp. 2524. 28 Vgl. Ein warhafftige historij von dem Kayser Friderich der erst seines namens, mit einem langen rotten bart, den die Walsen nenten Barbarossa, Augsburg: [Johann Schönsperger d. Ä.] 1519 (VD16 W314), Bl. Bv: ich hab an kaiser Fridrichen nit ainen veindt / nit ain Tirann gehabt. Vgl. dazu STAMMLER (Anm. 15), S. 67, Anm. 96a.

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2 Luther und seine Rolle im Prozess der Entlehnung der Fremdwortfamilie ›Tyrann(ei)‹ Luther, der Wittenberger Professor für Bibelexegese, der wider Willen zum Begründer einer neuen Konfession innerhalb der westlich-lateinischen Christenheit wurde, ist aus kirchengeschichtlicher Perspektive erforscht und dokumentiert wie keine Person vor ihm.29 Auch seine Bedeutung für die deutsche Sprach- und damit auch für die Wortgeschichte ist seit den Anfängen der Disziplin untersucht worden.30 Zusammenfassungen der gesamtgermanistischen Lutherforschung (unter Einschluss der Literaturgeschichte) sind allerdings älteren Datums;31 neuere Bestandsaufnahmen sind allenfalls punktuell zu finden,32 woran auch das Reformationsjubiläum nichts geändert hat.33 Luthers Rolle für die Einbürgerung der Fremdwortfamilie ›Tyrann(ei)‹ wurde noch nicht gesondert untersucht.34 Die bereits genannten Lexika und Wörterbücher bieten jedoch aussagekräftige Beispiele35 mit semantischen Differenzierungen und ersten Thesen.36 Die Verfügbarkeit des Luther’schen Gesamtwerks in digitalisierter Form ermöglicht einen Überblick über das Gros der relevanten Textstellen.37 || 29 Vgl. etwa BEUTEL, ALBRECHT (Hrsg.): Luther-Handbuch, 3. neu bearb. und erw. Aufl., Tübingen 2016. Zum Reformationsjubiläum erschienen zahlreiche Würdigungen vor allem aus theologischer und historischer Sicht; die beiden wichtigsten sind LEPPIN, VOLKER: Martin Luther, Darmstadt ³2017, und SCHILLING, HEINZ: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2016. 30 Vgl. BESCH (Anm. 5). 31 Vgl. z. B. WOLF, HERBERT: Martin Luther. Eine Einführung in germanistische Luther-Studien, Stuttgart 1980 (Sammlung Metzler 193). 32 Vgl. STOLT, BIRGIT: Martin Luthers Rhetorik des Herzens, Tübingen 2000 (UTB 2141); DIES.: »Laßt uns fröhlich springen!«. Gefühlswelt und Gefühlsnavigierung in Luthers Reformationsarbeit. Eine kognitive Emotionalitätsanaylse auf philologischer Basis, Berlin 2012 (Studium Litterarum 21). 33 Vgl. vor allem SOLMS, HANS-JOACHIM: Martin Luther, geb. Luder, und der volkssprachliche Aufbruch, in: SEIDEL, ANDREA [u. a.] (Hrsg.): Allein das Wort. Deutsche Literatur des Reformationsjahrhunderts in Sachsen-Anhalt, Sandersdorf-Brehna 2016, S. 18–35. Die beiden jüngsten Darstellungen über ›Luther als Schriftsteller‹ wurden nicht von Germanisten, sondern von Kirchenhistorikern verfasst, vgl. BRECHT, MARTIN: Martin Luther als Schriftsteller. Zeugnisse seines dichterischen Gestaltens, Stuttgart 2000 (entstanden als Nebenprodukt der monumentalen dreibändigen Biographie des Verfassers; vgl. ebd., S. 7f.), und BORNKAMM, HEINRICH: Luther als Schriftsteller, Heidelberg 1965 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 1965). 34 Vgl. jedoch KIPF (Anm. 12), S. 39f.; HECKEL (Anm. 7) verzeichnet im Sachregister keinen Eintrag unter dem Stichwort ›Tyrannei‹, jedoch zahlreiche, in 15 Spiegelstriche unterteilte Einträge zum ›Widerstandsrecht‹ (S. 987). 35 Siehe oben, Anm. 3, 9 und 11 und 14. 36 Vgl. FWB (Anm. 11), Sp. 1991: »Luther verwendet tyran häufig als legitimationsberaubendes Schimpfwort gegen den Papst und die katholische Kirche«. 37 Recherchiert mithilfe von: Luthers Werke auf CD-Rom. Weimarer Ausgabe [1883–2002], Ann Arbor 2001 (Zugriff über den CDRom-Server Bayern; 26.06.2020). Alle Zitate erfolgen nach der gedruck-

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Luther spricht bereits seit 1518, massiert dann in der Adelsschrift (1520) und anderen Streitschriften von der tyranney des Papsttums. Immer wenn es darum geht, dass der Papst für sich Kompetenzen und eine Machtvollkommenheit in Anspruch nimmt, die er nach Luthers Urteil nicht rechtmäßig besitzt, greift dieser zu dieser Vokabel. In der einzigen lateinisch abgefassten der drei reformatorischen Hauptschriften von 1520, De captivitate babylonica ecclesiae. Praeludium, in der Luther für ein gelehrtes Publikum in lateinischer Sprache erstmals seine revolutionäre Theorie von der missbräuchlichen Vorherrschaft des römischen Bischofs über die Kirche kirchengeschichtlich und -rechtlich begründet, spricht er von dem ›großen Aberglauben der römischen Tyrannei‹, in der er selbst, Luther, zwei Jahre zuvor noch befangen gewesen sei: Haerebam enim id temporis magna quadam superstitione Romanae tyrannidis, unde et indulgentias non penitus reiiciendas essse censebam [...] (WA 6, 497, 11–13: »Ich hing aber damals an diesem großen Aberglauben, der römischen Tyrannei, und meinte deshalb, dass der Ablass nicht gänzlich zu verwerfen sei«).38 Diese Schrift ist durchzogen von der Rede von der Romana tyrannis (WA 6, 507, 7) bzw. der tyrannis papalis (WA 6, 537, 28), die den Christen grundlegende Privilegien entzogen habe. Dass die Kirche den Christen den Kelch beim Abendmahl vorenthalte, sei »gottlos und tyrannisch« (WA 6, 506, 33: impium et tyrannicum); dergleichen könne kein Papst, kein Konzil und kein Engel im Himmel beschließen oder verbieten, da es den Worten Christi zuwider sei. Luther schreibt programmatisch: Quid tum? postquam Romanus Episcopus Episcopus esse desiit et tyrannus factus est, non formido eius universa decreta, cuius scio non esse potestatem articulos novos fidei condendi, nec Concilii quidem generalis. (WA 6, 508, 4–6) Warum dies? Nachdem der Bischof von Rom aufgehört hat, ein Bischof zu sein, und zum Tyrannen geworden ist, fürchte ich mich nicht vor seinen sämtlichen Dekreten. Denn ich weiß, dass es nicht in seiner Gewalt steht, neue Glaubensartikel einzuführen, ebensowenig in der Macht eines allgemeinen Konzils.

Hier wird an einer zentralen Stelle für Luthers Kirchenlehre und seine Auffassung von der Unrechtmäßigkeit der Herrschaft des Papstes mit dem Begriff tyrannus gearbeitet, der dem des episcopus, des legitimen Aufsehers über die anderen Geistlichen – so die Etymologie des ursprünglich griechischen Wortes – entgegengesetzt wird. Der Begriff tyrannus und seine Ableitungen werden zu einem Instrument der theologischen Argumentation, mit der Luther seine bibeltheologisch begründete Ablehnung des Papsttums zusätzlich kirchenhistorisch untermauern kann. Das ist in der theologischen Lutherforschung, die sich für diesen Aspekt auf die Identifizierung des Papstes

|| ten Ausgabe: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], Abt. 1–4, Bd. 1ff., Weimar 1883ff., zitiert als WA bzw. WADB (Abt. Deutsche Bibel). Im Einzelfall wurden aktuellere Einzelausgaben konsultiert. 38 Sofern nicht anders angegeben, hier und im Folgenden eigene Übersetzungen.

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mit der Antichrist-Figur aus der Johannes-Apokalypse konzentrierte,39 noch nicht näher untersucht. Man kann angesichts der Tatsache, dass die kritische Ausgabe der Schriften Luthers weit über 2000 Belege der Wortfamilie, davon über 1000 deutsche, enthält,40 davon sprechen, dass Repräsentanten der Begriffsfamilie ›Tyrann(ei)‹ sowohl im Lateinischen wie im Deutschen zu Luthers Vorzugswörtern gehören. Einige Beispiele aus verschiedenen Perioden mögen das belegen: Im Sermon von dem Neuen Testament, das ist von der Messe, der wie die drei sogenannten reformatorischen Hauptschriften von 1520 datiert, behauptet Luther, dass der Papst keineswegs die Macht habe, den Teilnehmern der Kommunion den Kelch vorzuenthalten, wo doch Christus seinen Jüngern Brot und Wein gleichermaßen gereicht und befohlen habe, es auch weiterhin so zu tun: Ich sag es sey ertichtet, er hat seyn nit ein harbreyt macht, was Christus gemacht hatt zu wandeln, und was er drynnen wandelt, das thut als ein Tyrann und wider christ (WA 6, 374, 29f.). Dort, wo der Papst oder ein anderer Inhaber kirchlicher Amtsgewalt von der Lehre Christi, so wie der Bibelprofessor Luther sie auslegt, abweicht, handelt er unrechtmäßig, und da er in der Kirche Macht ausübt, ist er in Luthers Augen ein unbefugt Macht Ausübender: ein Tyrann. In einer zweiten reformatorischen Hauptschrift von 1520 (An den christlichen Adel deutscher Nation. Von des christlichen Standes Besserung) spricht Luther nicht weniger als 22-mal von dem oder den Tyrannen oder einer Ableitung dieses Substantivs. In seiner im Juni 1520 fertiggestellten und allein in deutscher Sprache überlieferten Programmschrift41 wandte er sich erstmals nicht allein in seelsorgerischer Absicht, wie in seinen volkssprachigen Sermonen seit 1519, an ein exklusiv deutsch lesendes Publikum.42 In dieser Schrift spricht Luther in politischer Absicht den gesamten Reichsadel bis hinauf zum Kaiser an, der als symbolischer Adressat im Titulus der Schrift genannt ist. Luther fordert den Adel deutscher Nation auf, gegen die Missbräuche in der Kirche einzuschreiten. Ausnahmslos wird hier die Tyranney bzw. das tyrannische Betragen auf den Papst und seine Anhänger bezogen. Ein fast beliebig herausgegriffenes Beispiel kann die Argumentation verdeutlichen: Die weyl den solchs teuffelisch regiment nit allein ein offentlich raubery, triegerey und tyranney der hellischen pforten ist, szondern auch die Christenheit on leyp und seel vorterbet, sein wir hie schuldig allen vleisz furtzuwenden, solch jamer und zurstorung der Christenheit zuweren. (WA 6, 427, 13f.)

|| 39 Vgl. LEPPIN (Anm. 29), S. 147–51. 40 Siehe oben, Anm. 37. 41 Vgl. die kommentierte Ausgabe von KAUFMANN, THOMAS: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, Tübingen 2014 (Kommentare zu Schriften Luthers 3). 42 Vgl. zu Luthers volkssprachigen Sermonen, die durchgängig im Titel mit dem Lehnwort aus lateinisch sermo bezeichnet werden, JOHANNES SCHILLING: Erbauungsschriften, in: BEUTEL, ALBRECHT (Hrsg.): Luther-Handbuch, 3. neu bearb. und erw. Aufl., Tübingen 2016, S. 336–47, vor allem S. 340–42.

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Dort, wo in der Kirche und im Papsttum Willkür und Betrug, Bereicherung und andere Formen schlechter Regierung herrschen, müssen die weltlichen Machthaber, der christliche Adel deutscher Nation, einspringen und der geschundenen Religion wieder zu ihrem Recht verhelfen. Das folgende Textbeispiel steht für viele vergleichbare Sätze in der Adelsschrift: Die weil den disz stuck eytel gewalt und reuberey ist zu hyndernisse bischofflicher ordenlicher gewalt unnd zuschaden der armen seelen, ist der keyszer mit seinem adel schuldig, solch tyranney zuweeren und straffen. (WA 6, 433, 22–25)

Der weltliche Adel wird, sofern er sich als christlich begreift, aufgefordert, das Unrechtsregime innerhalb der geistlichen Gewalt aufgrund der eigenen Einsicht als Christ, an die der Theologe in der Volkssprache appelliert, zu beseitigen. In diesem Grundgedanken, der die Adelsschrift durchzieht, spielt die Vorstellung der unrechten Herrschaft eine zentrale Rolle. Ähnlich wie in der lateinischen Schrift von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche benötigt Luther auch hier eine Trennung von legitimer und illegitimer Machtausübung. Da diese Schrift jedoch die weltlichen Machthaber adressiert, erhält der Gedanke eine neue Pointe, indem die christlichen Adligen zum Eingreifen in den unrechtmäßig geführten geistlichen Bereich aufgefordert werden. Vergleichbare Argumentationsmuster finden sich in zahlreichen weiteren Schriften, besonders aus der formativen Phase der Reformation (1517–1525), in der Luther seine neuen Thesen gegen kirchliche und zunehmend auch weltliche Autoritäten entwickelte und durchsetzte. In einer Rechtfertigungsschrift gegen die Bannandrohungsbulle Exsurge domine von 1521 (Grund und Ursach aller Artikel, so durch die römische Bulle unrechtlich verdammt sein) heißt es mit sarkastischer Ironie nach einer Aufzählung vieler Untaten: Der Papst [i]st dennoch darümb keyn ketzer noch Turck, noch morder, noch tyrann Szondernn Christi statthallter vnnd gibt ablaß. sendet auß bottschafft. vnd Cardinal krieg widder den Turcken (WA 6, 433, 22–25). In der für sein Staatsverständnis zentralen und extrem wirkmächtigen Schrift Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523)43 verwendet Luther den Begriff in einer fiktiven Rede (sermocinatio), die er seinem Adressaten in den Mund legt, der von seinem Fürsten oder seiner Obrigkeit bedrängt wird, vom ›neuen Glauben‹ abzulassen oder verbotene Bücher herauszugeben, und folgendermaßen antworten soll: Lieber Herr! ich bynn euch schuldig zuo gehorchen mit leyb unnd guott, gepietet myr nach ewr gewalt maß auff erden, so will ich folgen. Heysst yhr aber mich gleben und buecher von myr thun, so will ich nicht gehorchen. Denn da seyt yhr eyn tyrann und greyfft zuo hoch, gepietet, da yhr widder recht noch macht habt etc. (WA 11, 267, 3–8)

|| 43 Vgl. HECKEL (Anm. 7), S. 557–83.

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Gleich im Anschluss gibt er seinen Lesern auch ein Exempel einer solchen tyrannischen Handlungsweise, das er explizit als solches ausweist: Als das ich des eyn Exempel gebe: Ynn Meyssen, Beyern und ynn der Marck und andern ortten haben die Tyrannen eyn gepott lassen auß gehen, Man solle die newe Testament ynn die empter hyn und her uberanttwortten. (WA 11, 267, 14–16)

Diesen Tyrannen – damit sind immerhin die amtierenden Landesherren in den benachbarten Herrschaften gemeint, nämlich im (albertinischen) Herzogtum Sachsen, der Mark Brandenburg und dem Herzogtum Bayern – solle man bei drohendem Verlust des Seelenheils nicht gehorchen, da derjenige, der solchen narren (WA 11, 268, 1) Raum gibt, selbst Gott verleugne. Wer ein deutsches Neues Testament ausliefere, der handele so, wie die jüdischen Autoritäten in der Passion Christi:44 der ubergibt Christum dem Herodes ynn die Hende (WA 11, 267, 19). Solch Tyrannen handelln wie weltlich fursten sollen (WA 11, 267, 24f.). Die Welt aber sei Gottes Feind und die Fürsten daher häufig die größten narren und buben (WA 11, 268, 1). Der Tyrannenbegriff wird also hier wieder in seinem ursprünglichen Geltungsbereich, der weltlichen Herrschaft, verwendet, nachdem Luther sich seiner zunächst in der Ekklesiologie und im Kontext der lateinischen theologischen Abhandlung bedient hatte. Auch auf die familiäre Sphäre überträgt Luther das Lehnwort rasch. In der von aktuellen Fragen hervorgerufenen Schrift Das Elltern die kinder zur Ehe nicht zwingen noch hyndern, Und die kinder on der elltern willen sich nicht verloben sollen (1524) heißt es von dem Vater, der seine Kinder zur ehe odder zu der person dringet, da es nicht lust zu hatt (WA 15, 165, 11f.): Denn das der vater daran unrecht und als eyn teuffel odder tyrann thut, nicht als eyn vater, ist leichtlich beschlossen und verstanden (WA 15, 165, 12f.). Allerdings führe das Gebot des Gehorsams gegenüber den Eltern hier zu einem Normenkonflikt, weil Christus in der Bergpredigt geboten habe, man solle dem Unrecht nicht widerstehen. Ein Christ müsse in diesem Fall der Gewalt weichen und sie dulden – im Unterschied zur Argumentation in der Obrigkeitsschrift von 1523 – und das Unrecht leiden, zu dem sie solch tyrannischer und unveterlicher vatter zwingt (WA 15, 165, 19f.). In dieser Gelegenheitsschrift überträgt Luther die Bezeichnung unrechter Herrschaft vom öffentlichen auf den privaten Bereich und argumentiert ebenso intensiv, allerdings mit anderer theologisch-ethischer Gewichtung als im politischen Feld. 1537 vergleicht Luther in einem Nachwort (Postfatio) zu der Schrift De monarchia papae disputatio des Giovanni Nanni die Tyrannei des Papstes mit anderen Tyrannen aus Geschichte und Gegenwart. Verglichen mit dem Papst, dem römischen Judas Iskariot, seien der Hunnenkönig Attila oder Tamerlan, der Tyrann der Skythen, nur ein

|| 44 Vgl. Lk 23,6–12.

524 | Johannes Klaus Kipf Schatten, ein Scherz bzw. seine Präfiguration gewesen,45 denn die politischen Tyrannen hätten jeweils nur kurze Zeit geherrscht, das Papsttum aber gebe es seit Hunderten von Jahren. Luther verwendet 1531 den Begriff auch im Titel einer gedruckten Predigt über das Wort »Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden« (Mt 5,10) unter dem Titel Ein tröstlicher Unterricht, wie man sich gegen die Tyrannen, so Christum und sein Wort verfolgen, halten soll (WA 34/I, 83–86). Erwägungen zum Widerstandsrecht gegen den tyrannen sind regelmäßig Gegenstand in Luthers ›politischen‹ Hauptschriften (Von weltlicher Oberkeit, 1523; Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können, 1526; Unterricht der Visitatorn, 1528).46 Häufig sind bei Luther Junkturen wie der geystlichen Tyrannen regiment und die Bezeichnung des Papstes als tyrann.47 Auch in der deutschen Bibel verwendet Luther – im Unterschied zu den voraufgehenden Bibelübersetzungen – das Lehnwort tyrann weit häufiger als die lateinische oder die griechische Bibel (33 Belege bei Luther, acht in der Vulgata),48 wofür die Forschung humanistischen Einfluss geltend gemacht hat.49 Da bei diesen Belegen (sämtliche aus dem Alten Testament) jeweils auch der Wortlaut der drei von Luther herangezogenen Vorlagen (Hebräisch, Griechisch, Lateinisch) mitzuberücksichtigen ist, können sie hier nicht eingehend diskutiert werden. Ein repräsentatives Beispiel ist die Wiedergabe des Abstraktums στήριγμα der Septuaginta (iniquitas in der Vulgata, qom im hebräischen Text) in Hes 7,11 durch das Nomen agentis ›der Tyrann‹ (WADB 11/I, 426).50 Auch in den Vorreden zu seiner Deutschen Bibel gebraucht Luther das Lehnwort regelmäßig, am häufigsten (viermal) in derjenigen zum Buch Daniel, wo er ausführt, dass ein König, der keinem Recht unterworfen sein will, überall als Tyrann gelte und dass dieser im Reich Christi, von dem Daniel rede, keine Autorität beanspruchen könne: Nu ist in allen Königreichen solcher König ein vnleidlicher Tyrann, Aber im Reich Christi (dauon er [Daniel, J. K. K] jtzt redet) da man Christo durch den glauben mus gehorsam sein, sol solcher Tyrann zu grund nichts sein. (WADB 11/II, 51, 13–53)

|| 45 Vgl. WA 50, 104, 4–6: Proinde si Romanum Ischariothem compares ceteris in orbe tyrannis, qui fuerunt, vel esse possunt, videbis illos fuisse pene umbras tyrannicas, corpus vere tyrannicum ipsum esse Romanum idolum, und ebd., 9f.: Sed hij figura et ludus fuerunt prae Curia Romana. 46 Vgl. HECKEL (Anm. 7), S. 557–638, und LOHSE, BERNHARD: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 333–44. 47 Vgl. MANDT (Anm. 3), S. 666f. 48 Im griechischen Neuen Testament kommt Tyrannos nur als Eigenname vor, in der Septuaginta gar nicht. 49 Vgl. VALLI, ERKKI: Über den Fremdwortgebrauch in der mittelhochdeutschen Bibelübersetzung, Helsinki 1954 (Annales Academiae Scientiarum Fennicae B 84), S. 641. 50 Ähnlich gibt Luther in Hes 28,7 und 30,11 fortissimi gentium bzw. λοῖμοι ἀπὸ ἐθνῶν (‘agizei gojim) mit die bzw. den Tyrannen der Heiden wieder (WADB 11/I, 496 und 504). An allen angeführten Stellen bietet die revidierte Lutherbibel von 1984 und 2017 andere Begriffe.

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Das gesamte Danielbuch wird so zu einem Exempel für den geistlich motivierten Widerstand aufrechter religiöser Menschen gegen die Unrechtsherrschaft eines Tyrannen, ein Beispiel, das Luther für seine eigene Gegenwart nurmehr für den religionspolitischen Widerstand (im Reich Christi) gegen die angemaßte religiös-politische Autorität des Papsttums anerkennt. Ähnliche, jedoch weniger programmatische Aussagen finden sich in den Vorreden zum Propheten Hesekiel und zu den Apokryphen Judit, Weisheit Salomos sowie zu den Makkabäerbüchern (WADB 11/I, 392, 33; 12, 7, 31; 12, 53, 5; 12, 57, 21; 12, 317, 12 u. ö.). In denjenigen Propheten- oder Geschichtsbüchern des Alten Testaments, in denen der religiös begründete Widerstand des Volks Israel gegen Formen der Fremdherrschaft geschildert oder gefordert wird, verwendet Luther den politischen Kampfbegriff bevorzugt, auch wenn dies nicht von den Vorlagen gefordert wird. In den Vorreden zur Deutschen Bibel reflektiert Luther diesen Begriffsgebrauch und nutzt ihn für seine Theologie des Widerstands gegen die angemaßte Autorität des Papsttums. Insgesamt lässt sich sagen, dass Luther den zu Beginn seiner publizistischen Tätigkeit bereits ins Deutsche eingebürgerten Begriff nutzt, um die ihm inhärente politische Semantik der unrechtmäßigen Herrschaft auf den theologischen Bereich zu übertragen. Auch wenn er nicht derjenige ist, der die Entlehnung der Wortfamilie ›Tyrannei‹ auslöst oder beendet, so verwendet er die Gruppe von Lehnwörtern doch geschickt für seine theologischen und religionspolitischen Zwecke und trägt damit einerseits erheblich zu einer Popularisierung bei, andererseits erschließt er der Wortfamilie neue Verwendungskontexte, die zur weiteren Ausweitung ihres metaphorischen Gebrauchs beigetragen haben werden.51

3 Zur Verwendung der Wortfamilie im 16. Jahrhundert neben und nach Luther In derselben Bedeutung wie bei Luther findet sich der Begriff auch bei den Schweizer Reformatoren wie Ulrich Zwingli oder Heinrich Bullinger, die jedoch stärker als Luther die Legitimität des Widerstandes gegen unrechtmäßige Herrschaft betonen.52 Durch die protestantische Geschichtsschreibung, besonders die Chronik des Johannes Sleidanus,53 wird die Vorstellung von der päpstlichen Tyrannei lebendig gehalten. Dabei sind die semantischen Differenzen des Begriffs, abhängig von den ideologischen

|| 51 Vgl. die Einführung einer eigenen semantischen Kategorie »für geistliche würdenträger, die ihre gewalt miszbrauchen«, bei ERBEN (Anm. 14), Sp. 1970. 52 Vgl. KIPF (Anm. 12), S. 41. 53 Vgl. KESS, ALEXANDRA: Johann Sleidan and the Protestant Version of History, Aldershot 2008, vor allem S. 119–48.

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Vorannahmen der Verfasser, nicht zu übersehen. In der Radikalen Reformation, etwa bei Thomas Müntzer, wird tyrann zu einem Synonym für ›Herrscher‹ jeder Couleur,54 der zudem von ihm stets als ›gottlos‹ gedacht wird.55 Die Luthergegner der ersten Stunde (etwa Johannes Cochlaeus und Hieronymus Emser) wenden den Begriff tyranney kritisch gegen Luther selbst: Cochlaeus wirft Luther in seiner Erwiderung gegen Luthers Schrift Wider die räuberischen Rotten der Bauern von 1525 vor, dass er durch die Gleichsetzung der Fürsten mit Tyrannen dem neyd, haß, [...] auffrur vnd allerley argerlist56 Vorschub geleistet habe. Eine wichtige Rolle spielt der Begriff des Tyrannen seit jeher in der politischen Idee des Widerstandsrechts.57 Durch den verstärkten Gebrauch der Volkssprache in theologischen und religionspolitischen Streitfragen durch und nach Luther wird auch die Diskussion über rechte und unrechte Herrschaft und damit über die Frage, ob ein Herrscher ein Tyrann ist, vermehrt in deutscher Sprache ausgetragen. Eine zentrale Station markiert dabei das (unter Führung des Lutherschülers Nikolaus von Amsdorf) verfasste Bekenntnis, Unterricht und Vermahnung der Pfarrherren und Prediger der christlichen Kirchen zu Magdeburg (1550), in dem im Kontext des Kampfs gegen das Augsburger Interim (1548) erstmals eine ausführliche politisch-theologische Diskussion über die Tyrannei in deutscher Sprache geführt wird.58 Dieser indirekte Effekt auf die politische Diskussion in der Volkssprache dürfte ideengeschichtlich noch größer sein als der ohnehin nicht geringe direkte Einfluss Luthers auf die Wortgeschichte durch seine Schriften und die Bibelübersetzung. Auch in der deutschsprachigen Literatur des Reformationszeitalters werden Merkmale und Bedingungen der Tyrannei diskutiert:59 Hans Sachs verwendet Repräsentanten der Wortfamilie allein zehnmal in Werktiteln, darunter finden sich sowohl Werke zur antiken Geschichte60 als auch ein Summarium über Die zwölff thyrannen des alten testaments (1531 und 1545).61 In der Flugschriftenliteratur über die osmanische Bedro-

|| 54 Vgl. SPILLMANN, HANS OTTO: Untersuchungen zum Wortschatz in Thomas Müntzers deutschen Schriften, Berlin/New York 1971 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker NF 41 [165]), S. 88: »Tyrannen werden die weltlichen Herren genannt, wenn allgemein von ihnen die Rede ist«. 55 Vgl. DIEKMANNSHENKE (Anm. 10), S. 136. 56 Johannes Cochlaeus: Wider die Reubischen vnd Mordischen rotten der Bauren die vnter dem scheyn des Heiligen Euangelions falschlichen wider alle Oberkeit sich setzen vnd empören Martinus Luther. Antwort [...], Köln: Peter Quentel 1525, fol. B iijr (VD16 L 7485); vgl. DIEKMANNSHENKE (Anm. 10), S. 137. 57 Vgl. MIETHKE, JÜRGEN: Art. Widerstand/Widerstandsrecht I. Alte Kirche und Mittelalter, in: TRE, Bd. 35 (2003), S. 739–50, hier S. 743–48 (»Begriff des Tyrannen«, »Tyrannenmord«). 58 Vgl. STROHM, CHRISTOPH: Art. Widerstand/Widerstandsrecht II. Reformation und Neuzeit, in: TRE, Bd. 35 (2003), S. 750–67, hier S. 753. 59 Vgl. den Überblick bei KIPF (Anm. 12), S. 41–43. 60 Vgl. CROCKETT, ROGER A.: Alphabetischer Registerband, in: Hans Sachs: Werke, hrsg. von ADELBERT VON KELLER/EDMUND GOETZE, Hildesheim/New York 1982, S. 56, 93–95, 186 und 188f. 61 Vgl. CROCKETT (Anm. 60), S. 184.

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hung wird diese Junktur, auch in Titeln, zum stehenden Begriff.62 Unrechtmäßig, so die Voraussetzung, ist jede Form der Herrschaft von Heiden über Christen. Im Drama des Reformationszeitalters wird Tyrannei besonders in der Dramatisierung antiker Geschichte thematisch. Der Lucretia-Stoff ist dabei sowohl in Hans Sachs’ erster Tragedi (1527) als auch in Heinrich Bullingers anonym gedruckter Version von 1533 (Ein schön spil von der geschicht der edlen Römerin Lucretiae und Wie der tyrannisch küng Tarquinius Superbus von Rhom vertriben),63 deren Titel bereits auf die Zugehörigkeit zum Tyrannei-Diskurs verweist, Vermittler des antiken Gründungsmythos der Republik an das Selbstbewusstsein frühneuzeitlicher Stadtbürger. Bullinger präsentiert die Geschichte in der Vorrede als ein byspil dafür, wie man die erobert fryheit behalten mög wider alle Tyranny und Oligarchy;64 Hans Sachs weist das Publikum seiner tragedi von 1527 darauf hin, dass auch heut zu disem tag / Vnrechter gwalt nicht bleiben mag / Wo er Tyrannisieret nur.65 Daneben bietet die Geschichte des Alten Testaments den Dramatikern der Reformationszeit Beispiele für das böse Ende von Tyrannen, die für die jeweilige Gegenwart Vorbildcharakter besitzen, etwa in den Bibeldramen Judith und Susanna des Sixt Birck.66

4 Fazit Die Forschung betont zu Recht, Luther habe besonders durch die Übernahme des Lehnworts Tyrann und seiner Ableitungen in seine Deutsche Bibel stark zu deren Verbreitung beigetragen;67 festzuhalten ist aber auch, dass der Begriff für Luther zu einem wirksamen Instrument, ja geradezu zu einem Schlüsselbegriff seiner politischen Theologie wird. Ein entscheidender Punkt für die Verwendung des Tyrannen-Begriffs durch die frühen Reformatoren, der in der kirchengeschichtlichen Forschung noch nicht gebührend berücksichtigt wurde, scheint zu sein, dass mit dem Lehnwort ›Tyrannei‹ im frühen 16. Jahrhundert ein Schlagwort existiert, das in polemischer Absicht gegen verschiedene Herrschaftsträger, besonders aber geistliche Autoritäten gewendet werden kann, ohne noch der Erklärung zu bedürfen. Daher ist die um 1520 abgeschlos|| 62 Vgl. KAUFMANN, THOMAS: »Türckenbüchlein«. Zur christlichen Wahrnehmung ›türkischer Religion‹ in Spätmittelalter und Reformation, Göttingen 2008, vor allem S. 54–60. 63 Benutzte Ausgabe: Heinrich Bullinger, Hans Sachs: Lucretia-Dramen, hrsg. von HORST HARTMANN, Leipzig 1973 (Forschungen zu Kirchen- und Dogmengeschichte 97), S. 39. 64 Ebd., S. 39, Z. 22–S. 40, Z. 2. 65 Ebd., S. 109, Z. 36–39. 66 Vgl. PFEIFFER, JUDITH: Christlicher Republikanismus in den Bibeldramen Sixt Bircks. Theater für eine ›neu entstehende‹ Bürgerschaft nach der Reformation in Basel und Augsburg, Berlin/Boston 2016 (Frühe Neuzeit 202), vor allem S. 285–89. 67 Vgl. etwa MANDT (Anm. 3), S. 666.

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sene Einbürgerung des Lehnworts im Deutschen eine entscheidende Voraussetzung für seine Wandlung zum politischen Kampfbegriff in der frühen Reformation.68 Ein Begriff, der erst noch erklärt werden muss, taugt nicht zum Schlagwort. Auf der anderen Seite stand – im Unterschied zum deutschen Stammwort ›Wüt(e)rich‹, das seit altersher als Synonym zum lateinischen tyrannus verstanden wurde,69 – für die lateinisch Gebildeten hinter der Lehnwortfamilie ›Tyrann(ei)‹ eine politische Theorie, die das Widerstandsrecht bis hin zum Tyrannenmord einschloss. Die von Luther vor allem seit den Programmschriften von 1520 entwickelte Vorstellung von der Unrechtsherrschaft der Papstkirche in weiten Bereichen des weltlichen, aber auch des geistlichen Lebens darf somit neben der (bekannten und gut erforschten) Identifizierung des Papstes mit dem Antichrist der Endzeit als eine zweite Voraussetzung für seinen unbedingten Kampf gegen diese Institution gelten. Der Weg der Lehnwortfamilie ›Tyrann(ei)‹ ins Deutsche beginnt in wenigen Erstbelegen mit einer Epoche des »vereinzelten Gastrechts« in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.70 In einer zweiten Phase der »erklärenden Einbürgerung«,71 in der der Lehnwortgebrauch häufig in Paarformeln oder mit erklärenden Nebensätzen erfolgt, bildet das 15. Jahrhundert die eigentliche Schlüsselepoche des Entlehnungsprozesses. Im 16. Jahrhundert, insbesondere in den Kontroversen der frühen Reformation um 1520, wird die Wortfamilie tyranney vom einzubürgernden Lehnwort zum verfügbaren Schlagwort. Diese Einbürgerung ist Voraussetzung für die Verwendung als Schlagwort durch Luther und andere Vertreter der Reformation. Luther ist nicht der erste, der in deutscher Sprache auf die Fremdwortfamilie zurückgreift,72 doch durch die immense Verbreitung seiner Schriften und den Einfluss seiner Argumente auf Nachfolger und Gegner73 hat er entscheidend zu ihrer Durchsetzung und Popularisierung beigetragen. Besonders durch die Verwendung in der Deutschen Bibel, in den reformatorischen Programmschriften von 1520 und seinen Hauptschriften zur Politik wird die Lehnwortfamilie ›Tyrann(ei)‹ im 16. Jahrhundert gesicherter Bestandteil des deutschen Wortschatzes, der vermehrt durch metaphorischen Gebrauch Ausweitungen seiner Verwendungsweisen erfährt. Wichtiger noch als die Rolle, die Luther für den Einbürgerungsprozess der Lehnwortfamilie ›Tyrann(ei)‹ in die deutsche Sprache spielt, dürfte die Bedeutung sein, die dieses Konzept für seine Theologie gewinnt. Mit dem Schlagwort der Tyrannei und

|| 68 Vgl. zur Verwendung der Fremdwortfamilie neben und nach Luther DIEKMANNSHENKE (Anm. 10), S. 135–39, und KIPF (Anm. 12), S. 40–42. 69 Vgl. ebd., S. 35f. 70 Vgl. zu dieser Periodisierung ebd., S. 43f., Zitat S. 42. 71 Ebd. 72 Dahingehend ist die Aussage MANDTs (Anm. 3), S. 665, »[z]ur Einbürgerung des Tyrannen-Begriffs im deutschen Sprachraum trug vor allem Luther bei«, zu relativieren. 73 Vgl. zur enormen Reichweite von Luthers Publikationen und programmatisch PETTIGREE, ANDREW: Brand Luther. 1517, Printing, and the Making of the Reformation, New York 2015, vor allem S. 87–166.

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seinen politischen Implikationen hat Luther eine rhetorische Waffe an der Hand, die es ihm ermöglicht, seine theologischen und religionspolitischen Ziele effektiv zu verfolgen. Die Bezeichnung des Papsts als ›Tyrann‹ ermöglicht ihm, die Autorität des Papstes in Zweifel zu ziehen. Der Begriff der Tyrannei tritt als politisches Konzept neben das religiös-apokalyptische der Antichrist-Vorstellung als ein zweites Mittel, um die Autorität des Papstes und der kirchlichen Amtsträger zu untergraben. Diese Verwendung des politischen Konzepts in theologischen Konflikten prägt den Begriffsgebrauch in der deutschen Sprache im Reformationsjahrhundert und darüber hinaus.